270 49 62MB
German Pages 1077 [1076] Year 1995
Henke· Die amerikanische Besetzung Deutschlands
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte Band 27
R. Oldenbourg Verlag München 1996
Klaus-Dietmar Henke
Die amerikanische Besetzung Deutschlands 2. Auflage
R. Oldenbourg Verlag München 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Henke, KIaus-Dietmar: Die amerikanische Besetzung Deutschlands / Klaus-Dietmar Henke. - 2. Aufl. - München: Oldenbourg, 1996 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 27) ISBN 3-486-56175-8 NE:GT
© 1995 R.Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: R.Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ISBN 3-486-56175-8
Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 25
Teill: Zum Rhein I. Am Vorabend der Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eisenhower...................................................... 2. "Germany first" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Katastrophenjahr 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Military Government: Was tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. "Das Leben im Westen ist schwer geworden" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 37 44 67 78 93 122
11. Die Amerikaner im westlichen Grenzgebiet Ende 1944. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kämpfe an der Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Guerillakrieg in "Transsylvanien"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Amerikaner fassen Fuß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fraternization....................................................
148 148 160 169 185
III. Winter 1944/45: Die Militärverwaltung zwischen politischen und militärischen Erfordernissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Militärverwaltung: Organisation, Personal, Ausbildung, Einsatzerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlstart in Aachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine Grundsatzdebatte: Weshalb kapitulieren die Deutschen nicht? . . . .
205 252 297
IV. Von der Ardennen-Offensive zur Rhein-Überschreitung. .... ............ 1. Die letzte deutsche Offensive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Besetzung des Rheinlandes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rhein-Überschreitung der Alliierten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312 312 343 377
205
6
Inhaltsübersicht
Teil 2: Ins Innere des Reiches V. Die Besetzung des Ruhrgebietes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Ruhrkessel ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Wirtschaft und Besetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
VI. Die Amerikaner an der Eibe.. . . ....... ...... ........ ... ........ . . . ... 1. Die Besetzung Mitteldeutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die rettenden amerikanischen Linien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Provisional Military Government in einem vorübergehend besetzten Gebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Abzug aus Sachsen und Thüringen.... . ...... . .............. . .. 5. "We take the brain" - Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker aus Mitteldeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und die Konsolidierung der Militärregierung .................................................... 1. Letzte Kämpfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus": Die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. "Kehraus" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Bedingungslose Kapitulation, Demobilisierung der Invasionsarmee, Konsolidierung der Militärregierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393 393 449 571 657 657 674 695 714 742
777 777 795 862 931 965
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1007 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Gedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
1009 1009 1014 1018 1047 1055 1064
Inhal tsverzei chnis Inhaltsübersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 25
Teil 1: Zum Rhein 1. Am Vorabend der Besetzung .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1. Eisenhower. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
London, Grosvernor Square, 16. Januar 1944 (37) - Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force (SHAEF) (37) - Stationen der Karriere: Von West Point nach Washington (38) - Vertrauensverhältnis zu George C. Marshall (39) - Kompetent und "middle of the road" (40) - Anfänger auf dem Schlachtfeld (40) - Nordafrika, Sizilien, Italien (41) - Die engsten Vertrauten bei der Operation "Overlord": Tedder, Smith, Bradley, Patton (42) - "Democracy is under direct threat" (43)
2. "Germany first" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
Der Weg in die Konfrontation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
Franklin D. Roosevelt und der "Weltbürgerkrieg" (44) - Die Vereinigten Staaten in Hitlers Kalkül (45) - "Land der Juden und des Jazz" (45) - Hitler als Bedrohung der Wirtschaftsordnung und des Gesellschaftssystems der USA (46) - Offensive Defensive (47) - "Vorwegnahme der Zukunft" (48) - Zwei Wege in die deutsch-amerikanische Konfrontation: Berlin, Tokio, Washington (48) - Zeitdruck beim Rußland-Feldzug (49) - Hoffnungen auf einen Sieg im Osten 1942 (51) - Entscheidungstage Anfang Dezember 1941 (52) - Die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vom 11. Dezember 1941 (52)
Mobilisierung gegen Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Deutschland bleibt auch nach Pearl Harbor Hauptgegner (53) - Die ,,Arcadia"-Konferenz (54) - "Erklärung der Vereinten Nationen" und ,,Atlantik-Charta" (54) - Ein liberal-demokratischer Kontrapunkt gegen die Ideologie der expansionistischen Staaten (56) - Die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation (58) - Eine wohlkalkulierte und zweckentsprechende Strategie (59) - Mobilisierung der Kriegswirtschaft, Aufrüstung (62) - Flugzeuge, Panzer, Lastkraftwagen (65) - Ein Millionenheer wird aus dem Boden gestampft (66)
3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eisenhowers Kreuzzugs-Geist (67) - "God, I hate the Germans!" (68) - Roosevelts Bild von Deutschland und vom "Hitlerismus": kontrollierte Abneigung (69) - Progressive Strömung und realpolitische Schule innerhalb der Administration (70) Gedankenspiele (71) - Hollywood und Hitler (72) - Sachliche Kriegspropaganda: "Projection of America" (73) - Ein "guter Krieg" (74) - Das Deutschlandbild der Bevölkerung (74) - Verhärtung der Einstellung 1944/45 (75) - Wie sieht G.I. Joe das Dritte Reich? (76) - Der "Pocket Guide to Germany" (77)
67
8
Inhaltsverzeichnis
4. Katastrophenjahr 1944 ............................................
78
"Kriegskrise" .......................................................
78
Stalingrad (78) - Vor der Invasion (79) - D-Day 6. Juni 1944 (79) - Desaster im Westen (80) - Desaster im Osten (80) - 20. Juli 1944 (81) - Terror und Durchhaltepropaganda (81) - "Totalisierung" des Krieges (82) - Bombenkrieg (83) - Evakuierungen (84) - Aufzehrung des Hitler-Mythos (86) - Das "Nadelöhr" zum Frieden (87)
In Erwartung der Amerikaner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Die deutsche Bevölkerung fürchtet die Amerikaner nicht (87) - Das Propagandabild von der U.S. Army (88) - Gleichsetzung von sowjetischer und amerikanischer Truppe; Anti-Morgenthau-Propaganda (89) - Volksmeinung: "Die Amerikaner sind gar nicht so schlimm" (90) - Goebbels in Argumentationsnöten (91)
5. Military Govemment: Was tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Eine ganz neue Dimension der Militärverwaltung (93) - "Military Government Division" (93) - Demokratisierung per Militärdiktatur? (94) - Militärverwaltung muß eine Angelegenheit des Militärs sein: mühselige Lehrzeit in Nordafrika und Italien (95) Einrichtung von G-5 Stäben (96) - Der Antagonismus von kurzfristigen militärischen Sicherungsaufgaben und langfristigen politischen Zielsetzungen (97) - Das Kriegsende von 1918 bestimmt die Perspektive (98) - Die "Kollaps"-Theorie (98) und die Doktrin der "indirect rule" (99) - Die Direktive CCS 551: Pragmatismus, Stabilisierung, Normalisierung (100) - Das "Handbook for Military Government of Germany" (101) - "Your main task is to get things running" (102) - Alle Vorbereitungen für die Besetzung sind getroffen (102) - In Erwartung des deutschen Zusammenbruchs (103) - Herbst 1944: die schockierende Erkenntnis, daß es zu einem Endkampf im Innern Deutschlands kommen wird (104) - Eisenhower schlägt Alarm: Die Militärregierung kann die Verantwortung für Kontrolle und Stabilisierung Deutschlands nicht übernehmen (104) - "Limited liability" (105) - Nicht Direktiven, sondern Tradition und Pragmatismus bestimmen den Kurs des Military Government (106) - Präsidenten-Schelte für das SHAEF-Handbook (106) - Henry Morgenthaus Rolle in der Besatzungs- und Deutschland-Planung; ,,Agrarisierung" (107) - "Lawless conspiracy against the decency of modern civilization" (108) Henry L. Stimsons Widerspruch (108) - Die Interessen der Army (110) - War Department und State Department (1l0) - Roosevelts Rückzieher (111) - Der Kampf umJCS 1067 (112) - 23. März 1945: Plazet des Präsidenten (114) - "A fairly good paper" (115) - Truman entledigt sich Henry Morgenthaus (116) - Eine Direktive ohne drakonische Konsequenzen (116) - Die Anweisungen für die Militärverwaltung vom Herbst 1944 (1l8) - Vollkommene Verfügungsgewalt bei maximaler politischer Entlastung (120) - Der Schritt über die Reichsgrenze (121)
6. "Das Leben im Westen ist schwer geworden" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verharmlosung der militärischen Lage (122) - Eine Flutwelle flüchtender Zivilisten und erschöpfter Soldaten (123) - "Nervöse Katastrophenstimmung" (124) - Stellungsbau (124) - "Westwall" und "Ostwall" (125) - Der Deutsche Volkssturm: Aufruf (128), Aufstellung (129), Zusammensetzung (131), Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung (133) - Psychological Warfare Division: "Ein Instrument der Partei" (136) - Umquartierungen und Evakuierungen (136) - "Rückführungen" aus dem Grenzraum (137) - Widerstand der Bevölkerung (139) - Gewaltsame Austreibung (140) - Hoffnungen auf baldigen Einmarsch der Amerikaner (141) - Die Army registriert aufmerksam die Widerspenstigkeit der Einheimischen (142) - Staatsräson und Betriebsinteresse: Die Räumung der Kunstfaserfabrik Oberbruch (143)
122
Inhaltsverzeichnis
9
11. Die Amerikaner im westlichen Grenzgebiet Ende 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148
1. Die Kämpfe an der Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148
"Victory Disease" im Lager der Alliierten (149) - Psychologische Vorteile des Verteidigers (150) - Wallendorf, Aachen (152) - Soldatische Zivilcourage, doppelbödige Befehlstreue, rhetorischer Heroismus: General von Schwerin und Oberst Wilck (154) - Die November-Offensive der Amerikaner bleibt liegen (158) - Das "Wunder im Westen" (159) 2. Guerillakrieg in "Transsy\vanien"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160
Beunruhigende Prognosen der alliierten Stäbe über einen bevorstehenden Partisanenkrieg in Deutschland (160) - Besorgnisse der Truppenkommandeure, ,,Automatie Arrest" (161) - Das unwiderlegliche Argument der "Military Necessity" (162) Hitler-Jugend voraussichtlich das Rückgrat des Guerillakrieges (162) - Die vermeintliche Bestätigung: "The treacherous Mary of Monschau" (163) - Das BDM-Mädchen Maria Bierganz in den amerikanischen Bedrohungsvorstellungen und in der NSPropaganda (163) - Aus dem Tagebuch der 17jährigen "Mary of Monschau" (166)Goebbels' WiderstandsheIdin warnt über Radio Luxemburg vor Guerillaaktionen gegen die Alliierten (169) 3. Die Amerikaner fassen Fuß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Die Besetzung Roetgens am 12. September 1944: Blumen und heißer Kaffee (169)"Even in Nazi Germany cows have four legs": Bericht von R.H.S. Crossman (170) Unproblematischer Beginn der Besetzung (171) - Enttäuschung in Berlin (172) - Die wichtigsten Proklamationen, Gesetze und Verordnungen der Militärregierung (174) - Tauschhandel, vom Military Govemment organisiert (176) - Nahrungsmittellieferungen der U.S. Army, Vergleiche zur Lage in den befreiten Ländern (176) - Die Einquartierungen ("Biletting") (178) - Die Deutschen fassen erstes Vertrauen zum Military Government (180) - Organisation und Praxis der Militärgerichtsbarkeit (181) - Die Army hilft (183) - Die Spannung zwischen militärischen und politischen Erfordernissen deutet sich an (184) 4. Fraternization. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Unwillen in Washington und Berlin über die Freundlichkeiten zwischen Besatzungssoldaten und Zivilbevölkerung (185) - Die Wurzeln der amerikanischen Anti-Fraternisierungspolitik (186) - Non-Fraternization als Demonstration der Verachtung durch die zivilisierte Welt (187) - Propagandakampagne gegen die "Fraternazi" (188) - Ein lebensfremder, unkluger und undurchführbarer Befehl (189) - "Sex starved soldiers" (193) - Frauen, Fraeuleins, ,,Amiflittchen": Verurteilungen, Unverständnis, Neid, Selbstjustiz (194) - Vergewaltigungen durch Soldaten der US. Army (200) Zerfall und Ende der Anti-Fraternisierungspolitik (203)
III. Winter 1944/45: Die Militärverwaltung zwischen politischen und militärischen Erfordernissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
1. Die Militärverwaltung: Organisation, Personal, Ausbildung, Einsatzerfahrungen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Organisation und Personal ...........................................
205
Das Ende der "Kollaps-Theorie" (205) - Organisationsstruktur, Stäbe (206) - Amerikanische und deutsche Verwaltung während der "combat phase" (206) - Quer-
10
Inhaltsverzeichnis schüsse der Besatzungstruppe (210) - Die European Civil Affairs Division (ECAD) (212) - Das Personal der Militärverwaltung: CA/MG Officers (213) - Der G-5 Stab der Third United States Army (215) - Kongreßmann Gores Bericht (216) - .Unteroffiziere und Soldaten des Military Government (217) - "Misfits": First Lieutenant Arthur B. Corino am Fürstensitz der von Schönburg-Waldenburgs (218) - Aderlaß Ende 1945 (219) Ausbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
220
Die School of Military Government in Charlottesville/Virginia 1942 (220) - Grundfragen des Militärregierens in der "combat phase" (221) - Erweiterung der Ausbildungskapazität Mitte 1943: Das Civil Affairs Training Program (223) - Fort Custer/ Michigan, Universitäten (223) - Carl J. Friedrich, James K. Pollock (224) - Fazit: Solide, aber unzureichend (226) - Verlegung nach Europa: Shrivenham/Berkshire (228) - Eisenhower: "Your time is coming!" (229) - Manchester 1944: Zusammenstellung der Detachments (230) - Ein Teppich mit wechselndem Muster (233) - Rochefort-en-Yvelines, Romilly sur Seine, Military Government Centers 1944/45: "Soul-searing experiences" (234) Einsatzerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
"Civii Affairs" vs. "Military Government" (235) - CA/MG Officer John J. Maginnis: Carentan, C2BI (236) - Department Ardennes, BIDI (238) - Mons/Belgium (238)Berlin Detachment AIAI (239) - Einsatzpläne für Deutschland, MG Detachments E, F, G, H, I (240) - Von Eupen nach Kulmbach: Spearhead Detachment H4B3 (241) - 11 Städte in 57 Tagen (242) - "Val-paks and foot-Iockers" (243) - Kontrolle und Kooperation (244) - "Pin point data" (245) - Major P. B. Lamson und H4B3 am Ziel: Kulmbach, Lichtenfels, Staffelstein (245) - Ein Routine-Job (246) - Regional Military Government Detachment EIC3 (246) - Am New York Boulevard in Chatres/France (247) - "Hitler misses Boat" (248) - Die Militärregierung von Württemberg-Baden im Wartestand: Ein halbes Land und keine Hauptstadt (249) - William W. Dawsons Kritik an der Ausbildung und der Doktrin der "indirect rule": "Tale of an idiot" (250) - Reinhold Maier (251) - Beginn in Stuttgart (251) 2.FehlstartinAachen ................................................
252
"Hilflose Außenstehende", Unterstützung durch das Counter Intelligence Corps ............................................................. ,
252
Die Aufgaben des CIC (253) - ,,Automatie arrest" (254) - Sabotage-Abwehr (254) Friedrich Gustav Rohlfings Einsatz als SO-Agent hinter den amerikanischen Linien (255) - "Don't kick them around!" (257) - "Zwischengewalten" (257) - Das 503rd CIC-Detachment sucht einen Landrat für den Kreis Aachen (258) - Konflikte zwischen CIC und Military Government (260) - Unterstützung für die Detachments (261) - "Edelweißpiraten", Kommunisten, Geistliche (263) - Furcht der deutschen Beamten vor Repressalien (264) Aachen Ende 1944: Besatzungsmacht, Katholische Kirche, Stadtverwaltung Oppenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. "Favorite city of Charlemagne" (266) - Das zerstörte Aachen (266) - "A dead city begins to live" (267) - Evakuierung durch die Army (268) - Das CIC erstellt ein politisches Meinungsprofil der Bevölkerung (269) - Die Schlüsselfigur Johannes Joseph van der Velden, Bischof von Aachen (271) - "I am a Catholic too!" (272) - Major Swoboda und der Bischof auf Oberbürgermeister-Suche (272) - Franz Oppenhoff (273) - Oppenhoffs Programm (275) - Die neue Aachener Stadtspitze (277) - Keine
266
Inhaltsverzeichnis
11
Beteiligung der Linken (278) - Erste Kritik: "Worüber man in Aachen spricht!" (280) - Politische Divergenzen innerhalb des Military Government Detachment F1G2 (281) - Das Memorandum von Major John P. Bradford (282) - MGO Hugh M. Jones reagiert nicht (283) Der ,,Aachen Scandal" und seine Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284
Saul K. Padovers Psychological Warfare Team (284) - Die Analyse: "Herrenclub, Faschisten, Ständestaat" (284) - Die Weltpresse entdeckt einen Skandal in Aachen (286) - Die Reaktion der Verwaltung Oppenhoff: Entlassungen, Annäherung an die Linke (287) - Major Jones zwischen politischen und militärischen Erfordernissen (288) - Ein politisches Beben erschüttert die Army (289) - Die Analyse von Robert Murphy (289) - "We cannot escape from responsibility" (290) - Das Dilemma des Military Government während des amerikanischen Einmarsches: Das Memorandum von Oberstleutnant Joseph C. Hickingbotham, Jr. (291) - Die Empfehlung des Political Advisor für die Militärverwaltung vom 4. Mai 1945 (292) - Verschärfung der Entnazifizierungsdirektiven (295) - "Edeltrout has nothing to do with fish" (295) Military Government gerät aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit (296) 3. Eine Grundsatzdebatte: Weshalb kapitulieren die Deutschen nicht? . . . ..
297
"Unconditional surrender" und die Deutschen (297) - Versuche einer Aufweichung der Casablanca-Formel durch die Militärs (298) - Das Plädoyer der deutschen sozialistischen Emigration in London (298) - Die Psychological Warfare Division (299) Die Themen (300) und das Personal (301) der PWD - Richard H. S. Crossman (303) - Die Kontroverse um die "Politik der Negation" (303) - Den Krieg mit Worten gewinnen helfen? (304) - Politische Eigenmächtigkeiten von SHAEF (304) - Robert Murphy alarmiert Washington (305) - "No promises!" (306) - Das Trauma von 1918 (306) - Die ,,13 Botschaften" und die Deklaration von Jalta (308) - "Vernichtung des Nationalsozialismus" oder "Vernichtung des deutschen Volkes"? Hitler redigiert eine Rede (308) - Churchill gegen eine Änderung der alliierten Propaganda-Linie (309) - PWD und die "unpolitische Politik" (310)
IV. Von der Ardennen-Offensive zur Rhein-Überschreitung. . .... .... .... ...
312
1. Die letzte deutsche Offensive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
312
Im Abschnitt des VIII. U.S. Corps (312) - Bedrohte Zivilbevölkerung: ,,A last hope for protection" (313) - Hitlers strategisches Kalkül (314) - Die Resonanz der Offensive in der Bevölkerung (315) und bei den Soldaten (318) - Die Offensive bleibt stekken (318) - Deutsche Soldaten in amerikanischen Uniformen: die "Panzerbrigade 150" (319) und die "Einheit Stielau" (320) - Amerikanische Gegenmaßnahmen (321) - Das Massaker von Malmedy (324) - Die amerikanische Presse spricht von einer neuen Qualität der deutschen Kriegsführung (328) "Civii Affairs/Military Government in retreat" Ein Schock für die Bevölkerung in den befreiten wie in den besetzten Gebieten: Stunde der Wahrheit für die Detachments (328) - Wiltz/Luxemburg (329) - 18G2 in Winterscheid, H5D2 in Manderfeld (332) - Gefährdete Emigranten (332) - Die Verwischung des Unterschieds zwischen Military Government und Civil Affairs (334) Furcht im amerikanisch besetzten Grenzgebiet (334) - Deutsche Beamte und amerikanische Militärregierung rücken zusammen (335) - Detachment I4G2 in Monschau (336) - Eine militärische Schlappe, aber ein Sieg der Militärverwaltung (337) - Keine Räumung Straßburgs (338 ) - Die Initiative geht wieder auf die Alliierten über (339) - Marshall und Stimson erörtern die möglichen Konsequenzen eines deutschen Sie-
328
12
Inhaltsverzeichnis ges in den Ardennen (339) - Der Preis der Schlacht (340) - "Der Krieg ist zu Ende" (341) - Die Winter-Offensive der Roten Armee (341) - Eine radikal veränderte Gesamtlage (342) - Die deutschen Reserven sind erschöpft (343)
2. Die Besetzung des Rheinlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
Mühseliger Start der alliierten Februar-Offensive (344) - "Veritable/Grenade" (345)Die Amerikaner am Rhein (345) - "Lumberjack" (346) - Die Brücke von Remagen (347) - Sauve qui peut im Saar-Pfalz-Dreieck (349) - Der Todesstoß für das Westheer (350)
Das Kriegsende im Linksrheinischen
350
Hans Albert Kluthes Bericht nach der Schlacht (350) - Abwanderung, Evakuierung, Flucht (351) - Selbstversorgung (352) - Schäden am Verkehrsnetz (352) - Verwüstete Städte (353) - Geringerer Zerstörungsgrad der Industrie (354) - Unterschiedliche Formen der Eroberung, Übergabe und Besetzung der Städte: Koblenz (354), Bad Godesberg (357), Mönchengladbach (362) - Auf den Spuren des Dr. Goebbels (363) - Wo sind die typischen Deutschen? (364)
Die Militärverwaltung in den ersten Wochen nach ,,Aachen"
364
Die Detachments verlassen das ,,Aachener Laboratorium" (364) - Die Lehren aus dem ,,Aachen Scandal" werden kaum beachtet (365) - Unterschiede zwischen den Armeen im Süden und denen im Norden (365) - Kein "Cologne Scandal": Die Militärverwaltung und die Einsetzung der Stadtverwaltung von Köln (367) - Adenauer (371) - Die bemerkenswerte Art der politischen Säuberung in der Domstadt (373)Kein Interesse mehr an Sensationsmeldungen über Military Government Detachments (376) - ,,Aachen" beinahe der Normalfall (377)
3. Die Rhein-Überschreitung der Alliierten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Der Rhein, eine ideale Verteidigungs-Barriere? (377) - "Haltet die Wacht am Rhein!" (378) - Amerikanische Betrachtungen zu "Europe's 01' Man River" (379)
Der Plan .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
380
Wiederaufleben der amerikanisch-britischen Strategie-Kontroverse (380) - Eisenhowers Kalkül (380) - Montgomery, das schwierigste Problem des Krieges (381) Entscheidung in Malta (382) - Positionsgerangel am Rhein (383) - Bradleys Plan: schrittweise Ausweitung des amerikanischen Engagements (384) - Der SHAEFBefehl vom 21. März 1945 (385)
Der Übergang bei Oppenheim und WeseI. ............ ...... .. ...... ... 22. März 1945,22 Uhr, Nierstein (386) - Hitler erkennt "die größte Gefahr" im Westen bei Oppenheim (386) - "Freudiges Grinsen" in Eisenhowers Hauptquartier (387) - Operation "Plunder" am Niederrhein (387) - "Feuerwerk" (388) - Das Ende der Beschlüsse von Malta (389) - "Hitler ist besiegt" (390)
385
Inhaltsverzeichnis
13
Teil 2: Ins Innere des Reiches V. Die Besetzung des Ruhrgebietes ......................................
393
1. Der Ruhrkessel ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393
Frühjahr 1945: Eine neue Phase der Besetzung. ........... .............
393
Das Memorandum des War Department über die voraussichtliche Entwicklung der Besetzung Deutschlands im April 1945 (393) - Niemand rechnet damit, daß Hitler kapituliert (394) - Die Herausforderung für die U.S. Army ist nicht länger das kämpfende, sondern das geschlagene Deutschland (395) - Die neuen Probleme (396) Military Government verschwindet aus den Schlagzeilen (397) - "Wet Autumn" und "Last Kilometer": ein anderer Krieg auch für die G.I.s (397) - Die Zäsur der letzten März-Woche (398) - Zur Kooperation verdammt (399) "Mopping up the Ruhr" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Die Umfassung des Ruhrgebietes (399) - 21 Divisionen, 320000 Mann in der Falle (400) - Strategische Erwägungen in Washington: Sofortige oder spätere Liquidierung des "Ruhrkessels"? (400) - Kriegsminister Stimsons Plädoyer für eine "weiche" Besetzung des Industriezentrums (401) - Eisenhowers Entscheidung (401) - Zerschlagung des Kessels binnen zweier Wochen (402) - "They are a beaten bunch" (403) Generalfeldmarschall Model im amerikanischen Urteil (403) - Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B beherzigt seine Opfer-Rhetorik (404) - Besetzung von Hamm, Dortmund (404), Gelsenkirchen, Essen (405), Düsseldorf (406) - Die Notbelegschaften: erste Erfahrung der Amerikaner 1944 im Aachener Kohlerevier (407) - Auch an der Ruhr unbedingte Entschlossenheit in den Belegschaften, ihre Betriebe funktionsfähig über das Kriegsende zu bringen (409) - "Weiche" Besetzung als Normalfall: Demag, Duisburg (410); Gießerei und Maschinenfabrik der Gutehoffnungshütte, Düsseldorf (411); Krupp-Gußstahlfabrik, Essen (411) - Umrisse des "Battle of the Displaced Persons" (412) "Verbrannte Erde" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenig zusätzliche Schäden bei der Zerschlagung des "Ruhrkessels" (421) - Die Amerikaner erkennen bald, daß sie eine Strategie der "Verbrannten Erde" nicht zu befürchten brauchen (422) - Frühe und eindeutige Zeugnisse für den Überlebenswillen der Wirtschaft: Zeche Carolus Magnus in Übach-Palenberg (422); Grube Anna in Alsdorf (423) - Keinerlei Untergangs-Heroismus auch in den Betrieben im Ruhrgebiet (424) und im Rheinland (425) - Gewaltsame Durchsetzung der Lähmungs- und Zerstörungsbefehle selten (427) - Die Politik der "Verbrannten Erde" ist nicht durchsetzbar (427) - Die Rolle Albert Speers und seine Selbststilisierung nach 1945 (427) - Eine spät auf den Plan getretene Galionsfigur (428) - Die Haltung Speers bis zum Januar 1945 (428) - Wendepunkt: zweite Hälfte des Januar 1945 (429) - Speers Aktivitäten von Februar 1945 bis Kriegsende (431) - Der unspektakuläre Normalfall örtlicher Koalitionen Ernüchterter und Besonnener (432) - Die Bevölkerung ist bei der "Rettung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes" nicht auf Hitlers Rüstungsminister angewiesen (433) - Speers kalkuliertes Risiko in der Konfrontation mit Hitler, demonstrative "innere Umkehr" vor dem Zusammenbruch des Regimes (434)
421
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Inhaltsverzeichnis
Das deutsche Industriezentrum im April 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
435
Das Ruhrgebiet hat seine wirtschaftliche Bedeutung lange vor der Besetzung eingebüßt (435) - Die Abriegelung aus der Luft (436) - Absinken der Frachtrate (437) "Ruhrstab" (438) - Der Status quo zum Zeitpunkt der amerikanischen Besetzung (439) - Schäden durch die Flächenbombardements (440) - Substanzverluste (442) Viele Industrieanlagen "praktisch unversehrt" (443) - Die Situation der Zechen und die Kohleförderung (444) - Die Lage der Eisen- und Stahlindustrie (445) - Die politische Zukunft des Ruhrgebiets in amerikanischer Perspektive (446)
2. Wirtschaft und Besetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
449
Die Industrie in der Endphase des Krieges: Substanzsicherung und Nachkriegsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Eine gespenstische Hitler-Rede vor führenden Rüstungsmanagern am 26. Juni 1944 (449) - Verfehlter Mobilisierungsversuch (450) - Speer als Anwalt der Privatindustrie (451) - Industrielle Substanzerhaltung und Friedensvorsorge (452) - Drei Phasen der Abkoppelung der Privatindustrie vom NS-Regime seit 1942/43 (453) - Zurückhaltung bei Rüstungsinvestitionen (454) - Der Handlungskatalog der Privatindustrie in der Endphase des Krieges (455) - Das Beispiel Siemens: Krisenstrategie seit Ende Januar 1945 (455) - Die Einrichtung von "Gruppenleitungen" (456) - Die Besetzung des Berliner Konzernsitzes durch die Rote Armee (457) - Die Verselbständigung der Gruppenleitungen im amerikanischen und britischen Besatzungsgebiet, scharfe Kontroversen mit Berlin (458) - Lohn der Firmentreue (460) - Das Beispiel Vereinigte Glanzstoff AG (460) - Zusammenhalten der Führungskräfte und der Stammbelegschaften (464) - Staatsräson und Betriebsinteresse (467)
In Erwartung der Amerikaner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
Unwägbarkeiten und Unsicherheiten (469) - Fünf Wirtschaftsführer und Experten spekulieren über ihre berufliche Zukunft (469) - Informationsstand und Erwartungshorizont von Industrie und Wirtschaftsverwaltung 1944 (470) - USA als "einziger Rettungsanker" (470) - Der ,,Arbeitskreis für Außenwirtschaftsfragen" (471) - Verhaltener Optimismus vor und sogar noch nach Jalta (471) - Distanz zur Vernichtungspropaganda des NS-Regimes (473) - Langfristige Perspektiven vs. kurzfristige Ängste und Besorgnisse (474) - Panikreaktionen und Selbstmorde einiger Stahlindustrieller (474) - Das Ende Albert Vöglers: Reflexion der eigenen Rolle und Freitod (476)
"The picture 1S disturbing": Die ersten Kontakte zwischen Besatzungsmacht und Industriellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Wie der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke, Walter Rohland, in Hohenlimburg das Kriegsende erlebte (480) - Die Amerikaner scheinen angenehm unaufgeregt vorzugehen (481) - Keine ernsthaften Belästigungen: Sohl, Henle (481), Kellermann, Stinnes (482) - Der Zugriff auf ein Symbol: Krupp (482) - Villa Hügel, Essen, 11. April 1945 (483) - "The little so-and-so" (484) - Familienschmuck und Hühnerdiebstahl (484) - Die Amerikaner, Alfried und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (485) - Erste Eindrücke der Amerikaner von der deutschen industriellen Elite (487) - "Limited compliance only" (487) - Selbstdarstellung, Selbstreflexion, Selbststilisierung (489) - Deutsche Kooperationsbegierde, amerikanische Kooperationsneigung (490) - Der braune Bolschewismus und die Ordnung der Arbeit (493) - Edouard Houdremont, Vorsitzender des Krupp-Direktoriums, erläutert der Besatzungsmacht die Rolle Krupps im Dritten Reich (494) - "Confidence must substitute distrust" (496)
480
I nhal tsverzeichnis Rasche Selbstorganisation und Einflußsicherung der Wirtschaftselite
15 496
Kontakte und Kooperation mit der Militärverwaltung (496) - Gleichklang der Interessen (497) - Erste Formen der Selbstorganisation und gegenseitigen Abstimmung, Duisburg (498) - Essen (500) - Der Koordinationskreis im westlichen Ruhrgebiet (500) - Die drängendsten Fragen: Verkehrsnetz, Energieversorgung (501) - Ernüchterung nach vier, sechs Wochen (502) - Der allgemeine Industriekreis um HansGünther Sohl (503) - Rückgriff auf vertraute Strukturen: Industrie- und Handelskammer Düsseldorf (505) - Engste Kooperation von IHK, Wirtschaft, Stadtverwaltung (506) - Der ehemalige Präsident der Gauwirtschaftskammer erteilt seinen Segen (506) - Kammern keine Vorbedingung effektiver Abstimmung zwischen den Industrieführern (507) - Kammerbildung in Krefeld, Wuppertal, Remscheid, Bochum, Dortmund (508) - Memoranden, Vorschläge, Strategien (510) - "Unpolitisches" Stabilisierungsbündnis (511) - Pragmatische Kooperation führt nicht zu politischer Absolution (512) Der Fall des Stahldiktators: Walter Rohland, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke, zwischen Rüstungsmobilisierung und Demontage der Schwerindustrie .................................................
513
Die Vorstands etagen der Montankonzerne werden von der amerikanischen Besetzung zunächst kaum tangiert (513) - Speers Stahldiktator Walter Rohland: Aufstieg (514), Rolle während des Krieges (515) - Als überengagierter, regimeloyaler Rüstungsantreiber verletzt Rohland den Komment der industriellen Elite im Revier (519) - Rohland fühlt sich auch nach der Kapitulation weiterhin als Primus der Stahlindustrie (520) - Versuch einer Ausrichtung und Einschwörung der Stahlkonzerne (521) - Walter Rohlands Denkschrift zu Vergangenheit und Zukunft der deutschen Großindustrie (522) - Skeptische Reaktionen (525) - Mißbrauch Ernst Poensgens als Galionsfigur und Entlastungszeuge: Die Denkschrift "HitIer und die Ruhrindustriellen" (525) - Ein Memorandum von Karl Jarres an die britische Militärverwaltung (527) - Keine bedingungslose Solidarisierung der Ruhr-Elite (529) - Die Stahl industriellen entledigen sich Rohlands als Führungsfigur (530) - Unbelastete nach vom: Günter Henle (532) Eisen und Stahl 1945: Das unverhoffte Ende des "Business as usual" Vorbereitungen der Firmen zur umgehenden Wiederaufnahme der Produktion (533) - Die Kriegsfolgen allein geben keinen Anlaß zu Mutlosigkeit (533) - Schäden bei den Vereinigten Stahlwerken: Dortmund-Hoerder Hüttenverein AG (534), Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation AG (534) - Hoesch, Gutehoffnungshütte, Krupp (535) - Die Militärverwaltung hat keine Richtlinien, wie sie den Stahlunternehmen gegenüberzutreten hat (537) - Vorläufige "Permits" (538) - Aufräumungs- und Notarbeiten (539) - Schrittweise und stillschweigende Produktionsaufnahme: fliegender Start aus der Rüstungsfertigung in die Friedensproduktion? (540) - Verstärktes Drängen auf Produktionsgenehmigungen (541) - Arbeitskräfte, Rohstoffe, Transportlage, Produktionsplanung, Auftragsbeschaffung (542) - Die "glücklichere" Kohlewirtschaft (545) - Erste Indizien, daß der anfängliche Optimismus unberechtigt gewesen sein könnte (551) - Erste Direktiven (552) - "Verweigerung der Ankurbelung der Eisenindustrie" (554) - Im Sommer 1945 wirft die hohe alliierte Politik ihre ersten Schatten (554) - Die vermeintliche Sabotage der amerikanischen WiederaufbauPolitik durch die Briten (555) - Der Schock der Potsdamer Deklaration (556) - Frostiges Klima ab Spätsommer 1945 (557) - Wechselbad von Gewährung und "Verweigerung" von Produktionsgenehmigungen (557) - Mit dem unverhofften Ende des "business as usual" ist der Tiefpunkt noch längst nicht erreicht: Die Zerschlagung der industriellen Führungsgruppen (560) - Erste sporadische Verhaftungen (560) Systematische Festnahmen großen Stils: Die Verhaftung der leitenden Persönlichkeiten des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats (561) - "Ein erstes allgemei-
533
16
Inhaltsverzeichnis nes Sturmzeichen": Die Festsetzung des Krupp-Direktoriums (562) - Mit der Verhaftung von 76 führenden Stahl industriellen am 1. Dezember 1945 ebnet die britische Besatzungsmacht die Areopage der Ruhr ein: "They nave no place in the new Germany" (563) - Das Schicksal von Sohl (565), Henle (566), Rohland (566) - Weitere Verhaftungs- und Entlassungsmaßnahmen (567) - Die Industrie-Elite auf der Talsohle ihrer Existenz (568) - "Gehetztes Wild" (569) - Eine brachiale, wirkungsvolle und folgenreiche Demonstration (570)
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571
Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung nach Hitler: Prognosen, Direktiven, Programme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
571
Kein "machtfreier Raum" in den Betrieben (571) - Nachträgliche Überforderung der Arbeiterschaft durch den Historiker (572) - Ein Grundsatzpapier des State Departments von Mai 1944: "Policy with Respect to Labor" (573) - Prognosen und Analysen der Research & Analysis Branch von OSS (574) - "Zentralregierung und Arbeiterräte" (574) - Die Schlüsselfunktion von Gewerkschaften (575) - Betriebsräte (575) - Wiederaufleben der alten Parteistruktur (576) - Die Rolle der Sozialdemokraten und der Kommunisten (577) - Direktiven für die Militärverwaltung (579) - Die Gefahr nationalsozialistischer Unterwanderung (580) - Erwartungen der Sozialisten in Exil und Widerstand (580)
Erste Begegnung mit der deutschen Arbeiterschaft im Aachener Steinkohlerevier im Herbst 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
581
Die Amerikaner im Steinkohlerevier (581) - Förderleistung und ,,Arbeitsmoral" (582) - Arbeitsverweigerung aus politischen Motiven? (583) - Die falschen und verzerrenden Analysen des OSS (584) - Das Alibi der "military necessity" (584) - Erste Ansätze zu einer politischen Säuberung (585) - Die erste provisorische Betriebsvertretung im besetzten Deutschland (586) - Ansichten der ,,Arbeiterprominenz" in Kohlscheid: Der Primat der Normalisierung im Privaten und der Rekonsolidierung des Betriebes (587) - Louis A. Wiesners Theorien über die Wirkungen des Nationalsozialismus auf die Arbeiterschaft (588) - Militärische Lage und politisches Betätigungsverbot (590) - Die Gründung des FDGB in Aachen im März 1945 (590) Keine Basis-Initiative (592) - Aachen als Berufungsgrund anderer Gründungsversuche (593)
Arbeiterinitiative 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf allen größeren Zechen bilden sich provisorische Belegschaftsvertretungen (594) - Zeche Westende in Duisburg (595) - "Die Nazis sind weg, die Trümmer sind geblieben" (595) - Gelsenkirchen-Buer (596) - Konfrontationen mit dem Leitungspersonal auf den Zechen Mont-Cenis in Herne (597), Mathias Stinnes I/Il (597), Ludwig (598) - Irrtümlicher Radikalismus der Kommunisten (599) - Konflikte um die Arbeitszeitregelung auf Schwerin (601), Herbede, Präsident (601), Concordia (602) Versuch zur Bildung überbetrieblicher Bergarbeiterorganisationen (603) - Ein Kommissar aus Moskau? (604) - Keine Erlaubnis zur Bildung überbetrieblicher Arbeiterorganisationen (605) - Arbeiterinitiativen in der Eisen- und Stahlindustrie : provisorische Betriebsräte (606) - Nicht-Radikalität und Kooperation (610) - "Positive Zusammenarbeit" (611) - Scharfe Reaktion der Stahlkonzerne auf "Einmischung von außen" (611) - Wunschdenken und mangelnde Bindung an die Arbeiterschaft (613) - Eine ,,Antifaschistische Einheitsfront" (613) - Die "Herren" sind selbst nicht Herr im Haus, besonnen und nicht-provokativ (615) - Anmaßende, schlecht legitimierte Initiativen (616) - Die SMAD läßt im Juni 1945 Parteien und Gewerkschaften zu (618) - Im Herbst 1945 sind die meisten Betriebsräte durch Wahlen legitimiert (619) - Die Motive des restriktiven Kurses der Militärverwaltung (619) - Nazistische Prägung der Arbeiterschaft? (620)
594
Inhaltsverzeichnis
"Die starke und schillernde Nachwirkung des Nationalsozialismus"
17
622
Ablösung der Vertrauens räte durch neue Belegschaftsvertreter (622) - Die alte Garde der Arbeiterfunktionäre bestimmt den Neuanfang (623) - "Durch Hitlers Propaganda ist der Gegensatz zwischen Kapital und Proletariat so verwaschen, daß die Masse ihn nicht mehr empfindet" (625) - Vier Hauptfaktoren: Terror, Propaganda, Sozialpolitik, Kriegssituation (625) - Fragmentierung der Arbeiterschaft (626) - Stilisierung des ,,Arbeiters der Faust", Zuwachs an Perspektive (626) - Sozial- und Lohnpolitik (627) - Patriotisches Arbeitsethos im Krieg (628) - Ausgeprägte Nicht-Radikalität, labile Basis (629)
OSS-Guides und Arbeiterführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
630
Die Einschleusung deutscher sozialistischer Emigranten in das Besatzungsgebiet (630) - OSS und die Londoner Emigration (631) - Planung des Unternehmens durch Ollenhauer, Eichler, Jahn, Gottfurcht: Handlanger der Besatzungsmacht oder sozialistische Kader? (632) - Die Militärverwaltung macht sich ein Bild (633) - Der Political Advisor interveniert (634) - Brüchiges Agreement zwischen OSS und State Department: das "Summary of Understanding" vom Februar 1945 (634) - Die OSSAktion beginnt (636) - Hans Jahn, Walter Auerbach (636) - Die Kontroverse zwischen OSS und State Department schwelt weiter (638) - Erste Bilanz Mitte April 1945: Enttäuschungen und Fehlschläge (638) - Kadertransfer (639) - Der Einsatz in Deutschland: ein "Trauerspiel" (640) - Werner Hansen in Köln, Robert Neumann (640) - Falsche Erwartungen und übertriebene Hoffnungen des Exils (642) - Das amerikanische Interesse an der Einschleusungsaktion erlahmt (643) - PWD, OSS und die Massenorganisation des Josef Kappius (643)
Der Schein der "Einheit der Arbeiterklasse" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
646
Kommunisten und Sozialisten (646) - Einheitsrhetorik, "schroffe Unversöhnlichkeit" (647) - Frühe Irritationen in Aachen, Köln, Solingen (649) - "Entfernung menschewistischer Elemente", Unvermögen, neues Vertrauen zu fassen, und Rekonstruktion der "Linie" (652) - Kommunisten als "trouble maker" (653) - Die Front verläuft zwischen "stabilisierenden" und "destabilisierenden" Elementen (653) - Die Arbeiterschaft im Urteil des Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte : Angebliche Gefahr einer Radikalisierung, Unternehmerischer Zweckpessimismus (653) ,,A dangerous surge towards communism"? (656)
VI. Die Amerikaner an der Eibe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
657
1. Die Besetzung Mitteldeutschlands. ..................................
657
Kein Treffen bei Kreinitz (657) - ,,American-Russian Linkup" bei Torgau am 25. April 1945 (658) - Eisenhowers Strategie für die alliierte Schlußoffensive (660) Das Telegramm an Stalin (661) - Britische Kritik und Interventionen (663) - Churchilis Faustpfand-Strategie (664) - ,,Amantium irae amoris integratio est" (666) Keine Eroberung Berlins (666) - "Das Rennen vom Rhein zu den Russen" (669) "Fluchtbenzin" und "Telefonaufklärung" (670) - 20 Städte in 20 Tagen (670) - 11. April 1945: Die Amerikaner an der Eibe (671) - "Enemy capabilities are in fact nil" (672) - Die Truman-Brücke bei Magdeburg (672)
2. Die rettenden amerikanischen Linien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Russenangst" (674) - Vorwürfe Stalins (676) - Einziges Ziel der Wehrmacht: Entkommen hinter die amerikanischen und britischen Linien (677) - Lieutenant William Toothmans Patrouille auf das rechte E1bufer (678) - Amerikanische Fluchthilfe: Die Übernahme der deutschen 12. Armee bei Tangermünde (679) - "Individual surrender" vs. "Mass surrender" (682) - Verdeckte Großzügigkeit der Alliierten auch in
674
18
Inhaltsverzeichnis Mecklenburg: Kapitulation im Nordraum (683) - Selbständige Übergabeinitiativen (General von Tippelskirch, General von Manteuffel) (683) - "We had never seen anything like it" (686) - Massenflucht der Zivilbevölkerung (687): an der Demarkationslinie Karlsbad-Pilsen-Budweis (688), in Mecklenburg (690), entlang Eibe und Mulde (691) - "The friendly side of the river" (693) - Sicherheitskontrollen (693)
3. Provisional Military Government in einem vorübergehend besetzten Gebiet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
695
Provision al Military Government Units für Mitteldeutschland (695) - 130 Aushilfseinheiten, wechselnde Kommandostrukturen (696) - Ein Gastspiel von 100 Tagen (697)
Die amerikanische Militärverwaltung und das Nationalkomitee Freies Deutschland, Leipzig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
701
Die bedeutendste Antifa-Bewegung im amerikanischen Besetzungsgebiet (701) Aktivitäten und Initiativen des NKFD (703) - Das Verbot des Nationalkomitees am 26. April 1945 (706) - Nachträgliche amerikanische Analysen des NKFD Leipzig (708) - Ein unausweichlicher Zusammenstoß (712) - Integration der NKFD-Aktivisten in die Stadtverwaltung (713) - Bürokratischer oder politischer Kontrollanspruch (714)
4. Der Abzug aus Sachsen und Thüringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
714
Die amerikanisch-britische Debatte ...................................
714
Bleiben oder abziehen? Der politische Entscheidungsprozeß um den Rückzug (714) - Churchill fordert eine härtere Gangart (715) - Stettinius warnt vor "ernsten Konsequenzen" (716) - Das britische Aide-Memoire vom 24. Mai 1945 (718) - Churchill weicht zurück (722) - Das Treffen der vier Militärgouverneure in Berlin am 5. Juni 1945 (723) - Die Empfehlungen von Eisenhower und Hopkins (724) - Trumans Entscheidung vom 1 1. Juni 1945 (726) - Keine verpaßte Chance (728)
Der Abzug ...................................................... . . .
729
Kommen die Russen? Gerüchte, Spekulationen, Vermutungen in Sachsen und Thüringen (729) - "Schwebezustand" (730) - Private Evakuierungsaktionen: Das Werk Elsterberg der Vereinigten Glanzstoff (731), Siemens (733) - Amerikanische Beschwichtigungsmanöver, Ungewißheit (736) - Der Abzug (738) - Die Russen kommen: "Ein Schock angenehmer Überraschung" (739) - Ellrich/Thüringen nach dem Besatzungswechsel (740)
5. "We take the brain" - Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker aus Mitteldeutschland .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marburg Detachment, 6871st DISCC, empfiehlt Menschenraub (742) - Die Jagd nach deutschen Fachleuten zur Unterstützung der Kriegsführung gegen Japan (743) - Die beteiligten Intelligence Stäbe (746) - Ertragreiche Jagdgründe in Thüringen und Sachsen (747) - Professor Dr. Herbert Wagner (748) - Die Initiativen der Army und der Army Air Forces in Deutschland (750) - Entscheidungsbildung in Washington (751) - Entscheidungsbildung bei SHAEF (753) - Die Zeit drängt (754) - Die Zwangsevakuierung beginnt: Siemens & Halske, Arnstadt (755) - Telefunken, Gesellschaft für drahtlose Telegraphie m. b. H. (758) - Siebel Flugzeugwerke Halle KG (758) - Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke AG (759) - Carl Zeiss, Jena (760) Aderlaß der gesamten Industrie Mitteldeutschlands (761) - Die Plünderung der Universitäten: Leipzig (762), Jena (763), Halle (764) - Der Zwangscharakter der amerikanischen Nacht-und-Nebel-Aktion (766) - 1500 Wissenschaftler, 5500 Personen (767)
742
Inhaltsverzeichnis
19
- Strandgut des Sieges (767) - "Overcast", "Paperclip" (767) - Ouo Hahn: "Es ist doch erschütternd, zu sehen ..." (769) - Erledigung eines lästigen Problems (770) Die Auseinandersetzung zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion über Zwangsevakuierungen (771) - Günstige Umstände für den Coup (772) - Verfügungsrnasse für Großmacht-Willkür (774)
VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und die Konsolidierung der Militärregierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
777
1. Letzte Kämpfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
777
Die totale Niederlage im totalen Krieg ist unabwendbar geworden (777) - Zusammenbruch auch der ferner liegenden Fronten (778) - Nebenkriegsschauplatz Süddeutschland (778) - Eine "befremdlich deplazierte" Verhärtung der Kämpfe zwischen Main und Neckar (779) - Unverantwortliche Kampfführung und bedenkenloses Soldatenturn im Bereich des XIII. SS-Armeekorps (780) - Der ,Jagst-NeckarBogen" und Heilbronn (781) - Die mißglückte Crailsheimer Operation der 10th Armored Division (783) - Ziviltote und Zerstörungen im Crailsheimer Einbruchsraum (784) - Zum Schrecken der eigenen Bevölkerung kehren Wehrmacht und Gestapo noch einmal zurück (785) - Rache und Repressalien (786) - Bilanz der sinnlosen deutschen Verteidigung: Terror, Tod und Zerstörung (789) - Die deutschen Soldaten müssen Eisen mit Blut aufwiegen (790) - Eisenhowers letzte operative Entscheidung im Krieg gegen Deutschland (790) - Drehung der Angriffsachse nach Südosten (791) - Letzte Kämpfe in Nordbayern (791) - Nach dem Fall Nürnbergs und Stuttgarts bricht der letzte deutsche Widerstand endgültig zusammen (793) Am 22. April 1945 beginnt der "Kehraus" (Patton) (794)
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus": Die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
795
Ein Krieg bis "fünf nach Zwölf". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
795
Hitler zieht keine Konsequenzen aus der hoffnungslosen militärischen Lage (795) Schon 1942 Erkenntnis, daß Kriegsziele mit Waffengewalt nicht mehr zu erreichen (796) - Militärische Erfolge Voraussetzung einer politischen Initiative (796) - Keine Alternativen zur Maxime "Weltmacht oder Untergang" (797) - Autosuggestion im engsten Führungskreis (798) - Die These vom Bruch der alliierten Koalition (798) Das Dogma von der bevorstehenden Vernichtung des deutschen Volkes (799) - Hitlers Zusammenbruch am 22. April 1945 (800) - Die hohe Generalität unternimmt nichts, um das Blutbad unter der eigenen Bevölkerung zu beenden (801)
Die Wehrmacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die nationalsozialistische Vision eines Schulterschlusses von Volk und Armee (802) - Beginnender "Defätismus", aber noch keine offene Desintegration der Streitkräfte (803) - Der qualitative Sprung zur inneren und äußeren Auflösung der Wehrmacht Ende Januar, Anfang Februar 1945 (804) - Amerikanische Analysen des Zustands der deutschen Armee (804) - "Die psychologischen Reserven sind erschöpft" (805) Verstärkte Indoktrination: Der Nationalsozialistische Führungsoffizier (806) - Parolen und Praxis eines NSFO-Stabes im Westen (807) - Verschärfter Terror gegen die Truppe (808) - Der Furor der Endphase schafft einen beinahe rechtsleeren Raum und beschleunigt den Zerfall der Wehrmacht (809) - Die Disziplinierungsbefehle zwischen August 1944 und April 1945 (809) - Selbstzersetzung der Armee (812)
802
20
Inhaltsverzeichnis
Bevölkerung und Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
813
Friedenssehnsucht (813) - Die Erschöpfungskrise bricht voll auf (814) - Zwei markante Schwellen des Niedergangs: Ende Januar und Ende März 1945 (814) - Fatalismus, Gleichgültigkeit, Dumpfheit (815) - Allgemeine Überzeugung, daß der Krieg verloren ist (816) - "Wunderwaffen"-Propaganda und "Wunderwaffen"-Glaube (816) - Ein Lügenszenario (819) - Ernüchterung (819) - Die Entfremdung zwischen Führung und Bevölkerung erfährt ab Januar 1945 eine rasante Beschleunigung (820) Immer geringere Durchsetzungsfähigkeit der NSDAP (821) - Die Pleite der Evakuierung im Gau Württemberg-Hohenzollern (822) - Die Reichsverteidigungskommissare (823) - Befehlswirrwarr im Heimatkriegsgebiet (824) - Die Stunde der Wahrheit für die "Hoheitsträger" der NSDAP (824) - Versagen bereits in Aachen (825) - Die "Goldfasane" sollen kämpfen (826) - Befehle zur "Selbstaufopferung" (827) - Vollständiger Bankrott und Zerfall der Partei: Massendesertion der Politischen Leiter im Westen (830) - Die Flucht der württembergischen Kreisleiter (831) und Ortsgruppenleiter (833) im April 1945 - Mancher örtliche NS-Funktionär stellt sich auf die Seite der Bevölkerung (835) - Die offenkundige Unwahrhaftigkeit und der erbärmliche Abgang der "Hoheitsträger" trägt mit zum Ruin der nationalsozialistischen Ideologie bei (838) - Willküraktionen der Besatzungstruppen gegen Parteifunktionäre (838) - "Wahnsinn und Verbrechen" einer sinnlosen Kriegsverlängerung (840) - Gleichlautende Beurteilung durch Besatzungsmacht und deutsche Führung: "Defätismus" allgemeine Volkserscheinung (841) - "Liberation from the horrors of war" (842) - Das Propaganda-Bild der Einheit von Volk und Führung zerbricht bei den Soldaten der Besatzungsarrnee (842) - Die Bürger-Initiativen zur Nicht-Verteidigung(842)
Nationalsozialistischer Durchhalteterror: Verbrechen der Endphase
844
Der Weg aus dem Krieg führt durch ein "Nadelöhr" (845) - Die Verordnung des Reichsministers der Justiz über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 (845) - Vernichtungsinstrumente in juristischer Drapierung (845) - Strukturen des nationalsozialistischen Endphase-Terrorismus (846) - "Festigung der Kampfkraft" als Vorwand willkürlichen Mordens (846) - Endphase-Verbrechen im Landkreis Heilbronn (847) - Selbstjustiz und Scheinjustiz: Das "Fliegende Standgericht Helm" (851) - Die Army registriert den Regime-Terror gegen die Bevölkerung (853) - Die "Freiheitsaktion Bayern" provoziert eine letzte große Mordwelle (854) - Ein unnötiges Fanal (858) - Die Rache des Regimes: München, Dachau, Götting, Landshut, Penzberg, AltöUing, Burghausen (858) - Die Amerikaner beenden die ,,Ära des Aufhängens und Totschießens" (861)
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
862
Die Endphase des Lagers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
862
Eine notorische Institution wird "entdeckt" (862) - General Max Ulich weigert sich, das Konzentrationslager zu verteidigen (863) - General McSherry, SHAEF, G-5, schlägt eine Luftlandeoperation zur Befreiung der Häftlinge vor (864) - Keine Luftlandung: "Dachau uncovered too soon" (866) - Die Räumung der Lager im Osten und die Überfüllung der Lager im Reichsinnern (867) - Das KZ Dachau in der Endphase des Krieges (868) - Spurentilgung in den Vernichtungslagern (871) - Erst die Evidenz der im April 1945 befreiten Konzentrationslager überzeugt die Welt davon, daß den Deutschen Verbrechen jeglicher Dimension zuzutrauen sind (872) - In Erwartung der Amerikaner (873) - Zeichen von Nervosität und Schwäche bei den Wachmannschaften (874) - "Prominenten-Transport" ins Pustertal: Die allmähliche Verkehrung des Machtverhältnisses zwischen Opfern und Tätern (875) - Feindlicher Freund, freundlicher Feind (881) - Die Dachauer Häftlinge zwischen "äußerstem Optimismus" und "schwärzestem Pessimismus" (881)
Inhaltsverzeichnis
Heinrich Himmlers Evakuierungs-"Politik" ............................
21 882
Himmler und die Evakuierung der Konzentrationslager im Inneren des Reiches (882) - Differenzen innerhalb der SS (883) - Die juden als "Trumpfkarte" bei Himmlers Bemühungen, mit den Westmächten ins Gespräch über einen Separatfrieden zu kommen (883) - Himmlers Kalkül (884) - Feilschen um das Leben jüdischer Überlebender (885) - Hitlers erste Intervention (886) - Februar 1945: Eine neue Phase der Himmlerschen Sonderbestrebungen (887) - Folke Bernadotte und Felix Kersten (887) - Das ,,Abkommen" Himmler-Kersten vom 12. März 1945 (889) Hintergründe des Nicht-Evakuierungs-Befehls des "Reichsführers-SS" (889) - Übergabe Bergen-Belsens, Evakuierung von Dora-Mittelbau und Buchenwald (891) - Die Unterredung Himmlers mit Norbert Masur vom jüdischen Weltkongreß (892) Himmlers Strategie der Nicht-Evakuierung von bekannten ,Judenlagern" erbringt keine politische Dividende (894) - Gegenläufige Impulse im Terror-Apparat (894)
Die Teil-Evakuierung des Lagers Dachau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
895
Die Evakuierungen der Konzentrationslager im April 1945 (895) - Räumung von Dora-Mittelbau, Buchenwald (896) und Flossenbürg (897) - Todesangst und Evakuierungs-Furcht in Dachau (898) - Die Evakuierungen beginnen am 22./23. April 1945 (899) - Die Räumung der Kauferinger und Mühldorfer Außenlager (899) Kaufering, Hurlach (900) - Güterzug aus Mühldorf, Massaker von Poing (901) - Befreiung in Tutzing (902) - Überall in Süddeutsch land trifft die Arrny auf Elendszüge von KZ-Häftlingen: ,,Augenfälliger Beweis für die unmenschliche deutsche Brutalität" (903) - 26. April 1945: Der Todesmarsch der Dachauer Häftlinge ins bayerische Oberland beginnt (904) - "Wer zurückbleibt, muß verrecken!" (906) - Richtung Starnberg, Wolfratshausen, Bad Tölz (906) - Ernst Wiechert: "Die Summe der vergangenen jahre" (907) - Brutalitäten gegen Namenlose (908) - "Die SS ist weg!" (910) - Die Bevölkerung und die Elendszüge (910) - Hilfe von der U.S. Army (912)Fassungslosigkeit bei den amerikanischen Soldaten (912) - 1000 Tote? (913)
Der 29. April 1945 ..................................................
913
Bankrott der Himmlerschen "Strategie" (913) - Zusammenbruch der Verschleppungs-"Politik" in Dachau (914) - Auflösung überall (914) - Vernichtung sämtlicher Häftlinge? (915) - Oskar Müllers Legende von dem entscheidenden Hinweis an die Amerikaner (916) - 157th Infantry Regiment, Lieutenant Colonel Felix L. Sparks (917) - Um den Ruhm, Befreier Dachaus zu heißen (918) - PR-Strategien und Legenden (919) - Die goldblond bzw. dunkelbraun gelockte Miss Higgins (919) "Plain fighting mad" (919) - Die Liquidierung deutscher Kriegsgefangener, frühe Hinweise auf Kriegsverbrechen der Army, von amerikanischer Seite (920), von seiten der Häftlinge (921) - Umrisse der Gefangenen-Liquidierung: Howard L. Buechner und Felix L. Sparks (922) - 1st Lieutenant Bushyheads Massaker? (923) - Vertuschung (925) - Amerikanische Kriegsverbrechen andernorts (926) - "Tränen des Hasses": Lynchjustiz der Häftlinge (927) - Kein Triumph des Edelmutes (928) "Mardi-gras", Begeisterungstaumel, leisere Töne (928) - Nur eine physische Befreiung (929) - Hilfsrnaßnahmen der U.S. Army (929) - "Dachau gives answer to why we fought" (931)
4. "Kehraus" . ........ .... .... .... .... ........ .... ................ ...
931
Von der Donau zu den Alpen.. .... . ........... .... .... .... ...........
931
Der 22. April 1945: Hitlers Nervenzusammenbruch in Berlin, Beginn des militärischen "Kehraus", Donau-Übergang der Amerikaner bei Dillingen (931) - "The war is very dull" (933) - Der Vormarsch zu den Alpen (933) - "Opera buffe" der 1. Französischen Armee (934) - "Enemy capabilities are nil" (935) - Linz, Karlsbad, Pilsen, Budweis, Sterzing, Obersalzberg/Berchtesgaden (935) - Eine Kaskade von Teilkapi-
22
Inhaltsverzeichnis tulationen der Wehrmacht zwischen 2. und 4. Mai 1945 (936) - 5. Mai: Kapitulation der Heeresgruppe G in Haar bei München (936)
"Kernfestung Alpen" und "Werwolf" ... . ..... ........ ....... .. ..... ...
937
Der Selbstmord Hitlers erspart Soldaten und Bevölkerung ein mörderisches Guerilla-Finale des Krieges (937) - Gauleiter Franz Hofers Pläne für eine Alpenfestung und der Führerbefehl vom 28. April 1945 (937) - "Reduit-Psychose" der amerikanischen Presse (938) - Die Perzeption der "Alpenfestung" im Alliierten Oberkommando und ihre Wandlungen (939) - Die Analyse des Joint Intelligence Committee, SHAEF vom 10. März 1945 (940) - Eisenhower und Bradley fielen nicht auf ein "Phantom" herein (942) - Die Proklamation der "Bewegung der nationalsozialistischen Freiheitskämpfer" vom 1. April 1945: Jeder alliierte Soldat "Freiwild" (943) Die Propagierung des "Werwolf" als Gipfel zynischer Verantwortungslosigkeit (944) - Nüchterne Einschätzung durch das Alliierte Oberkommando (944) - Die Spezialkommandos des SS-Obergruppenführers Prützmann, "Generalinspekteur für Spezialabwehr" (945) - Ideologische Selbstblockade (946) - Nicht wie die Fische im Wasser (946) - Eine Sabotage-Gruppe der SS im Raum Montabaur (947) - Die Wehrmachtssoldaten lehnen den "Werwolf" ab (947) - 12- bis 18jährige "troublemaker" (948) - Die kümmerlichen Ansätze zum "Werwolf" im Rechtsrheinischen (949) - "Werwolf" als Formel und geheimnisvolles Etikett (950) - Die nationalsozialistische Guerilla nach der Kapitulation (950) - "The right ear is the Werwolf ear" (952) - Entgegengesetzte Konzeption bei Himmler und Goebbels (952) - Hauptmotiv bei Hitler und Goebbels: Heraufbeschwörung eines Infernos (953)
Windstille beim Deutschen Volkssturm im Westen .....................
954
Der "Volkssturm" war für die Alliierten immer eine quantite negligeable (954) - Erste Berührung im November 1944 bei Metz (954) - Der "Volkssturm" im Saarland, am Oberrhein, im Rheinland und in der Pfalz (955) - Überall "verkrümeln" sich die Milizionäre (955) - Der Volkssturm als getreues Abbild einer kriegsmüden Bevölkerung (958)
Die Evidenz der Niederlage
958
1945 lehrt der Augenschein jedermann, daß die Wehrmacht keineswegs im Felde unbesiegt, sondern im Kampf zerschmettert ist (958) - Die "Deglorifizierung der Armee" (959) - "Haltungs mängel" der Truppe (959) - "Schlimmer können die Russen nicht hausen!" (960) - Das erschütternde Bild der zurückflutenden Armee (960) "Rußland 1812" (961) - Der Kontrast der U.S. Army: ,,An Avalanche of Steel" (961) - Humanität und Gelassenheit der neuen Herren (962) - Die Entlarvung der Goebbels-Propaganda über die amerikanischen "Gangster" (964) - Selbstmorde (964)
5. Bedingungslose Kapitulation, Demobilisierung der Invasionsarmee, Konsolidierung der Militärregierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
965
Die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 und die "Berliner Erklärung" vom 5.Juni 1945 ..............................................
965
Das Dönitzsche Konzept der Teilkapitulationen hat sich erschöpft (965) - Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Jodl in Reims (965) - Bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 (967) - V-E-Day (968) - "Mission fulfilled" (969) - Die "Berliner Erklärung" (969)
Auflösung der Invasionsarmee und des Alliierten Oberkommandos 4 Millionen Mann unter Eisenhowers Kommando (970) - Redeployment und Rückführung (970) - Die amerikanischen Streitkräfte in Europa verändern ihr Gesicht
970
Inhaltsverzeichnis
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radikal (971) - Rückzug auf die Besatzungszone (971) - Die Auflösung von SHAEF am 14.Juli 1945 (972) - Eastern and Western Military District (973)
Lucius D. Clay und der Aufbau der Militärregierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Kandidatensuche für das Amt des Chefs der amerikanischen Militärregierung (975)USGCC in Schieflage (975) - Clay (976) - Rivalität mit General Walter Bedell Smith (977) - "A little bit of a big head" (978) - Die Verankerung Clays in der Army-Organisation (978) - Frischer Wind für die amerikanische Kontrollrats-Gruppe (979) Der Machtkampf ist entschieden (981) - Neustrukturierung des Military Government in Germany (981) - "Turn it over to the Germans" (983) - OMGUS, OMGUSZ (984)
Der Primat des Pragmatismus ........................................
986
"Smash whatever remaining power Germany may have" (986) - Das Hauptziel der Besetzung ist bereits durch den Krieg selbst erreicht (987) - Keine Modifizierung von JCS 1067, Realismus und Pragmatismus der Army (987) - Die Hyndley/PotterEmpfehlungen: Kohlelieferungen aus Deutschland (989) - Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz (990) - Rekonstruktions-Politik in atemberaubendem Maßstabe: Die "Praduction Contral Agency" (991) - Das Abramowitz-Memorandum (993) Die "Economic Contral Agency" (996) - "The administration shall be firm, just and humane" (997)
Fehlschlag der "Policy of Civilianization" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
997
Militärs als Politiker? (997) - Eisenhower und Clay wollen die Verantwortung für die Besatzungsverwaltung abgeben (998) - "Not a job for soldiers" (999) - Patton/Schäffer-Krise (1000) - Eisenhower drängt Marshall (1000) - Truman billigt den Kurs des Militärgouverneurs (1001) - Debatte über die Weisheit der "Policy of Civilianization" (1002) - Die Position des State Department (1003) - Die Patterson-ByrnesVereinbarung von April 1946; Wiederaufleben der Debatte 1947 und 1948 (1004) Ein Zivilist wird Hoher Kommissar:JohnJ. McCloy (1005)
Nachwort ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1007 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Gedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
1009 1009 1014 1018 1047 1055 1064
Einleitung Dieses Buch beschreibt nur ein einziges Jahr, aber es ist ein Jahr wie selten eines in der Geschichte. Es begann im Sommer 1944, und es endete im Sommer 1945. Es brachte das Ende des "Weltbürgerkrieges" (Thomas Mann), in dem sich in Europa und Asien der Kampf um die Weltmacht entschied, und es sah die Vernichtung des prinzipiell menschheitsfeindlichen "Hitlerismus". Weltanschauung und Regime in Deutschland wurden von Franklin D. Roosevelt so bezeichnet, dessen historische Größe namentlich darauf beruht, daß er zum eigentlichen ideologischen und machtpolitischen Widersacher des deutschen Rassismus und Expansionismus wurde. Als Seele und Rückgrat der Anti-Hitler-Koalition rüstete er die Armeen der Allianz aus und warf schließlich selbst eine Streitmacht in die Waagschale, die entscheidend dazu beitrug, einen Schlußstrich unter die deutsche Diktatur und deutsches Weltmachtstreben zu ziehen. In diesem Epochenjahr der Geschichte berührten sich zwei Zeitalter: die überwundene Epoche des Faschismus, der Weltkriege sowie der Dominanz des Alten Kontinents und die heraufziehende Epoche der bipolaren Welt mit der amerikanischen Dominanz in der nichtkommunistischen Hemisphäre. Am augenfälligsten war diese Berührung auf dem Territorium der herausforderndsten Kraft, Hitler-Deutschlands, wo sich 1944/45 das Finale des Weltanschauungskrieges abspielte. Hier setzte die liberaldemokratisch, rechtsstaatlich orientierte amerikanische Großmacht ihre stärkeren Kräfte durch und erzwang als westliche Führungsrnacht diesseits des bald niedergehenden Eisernen Vorhangs eine nachhaltige und von den Betroffenen schnell akzeptierte und ratifizierte Umgestaltung von Staat und Gesellschaft. Viel mehr als eine bloße militärische Eroberung, erscheint uns die amerikanische Besetzung Deutschlands deshalb heute einerseits als die zeitliche und räumliche Verdichtung der globalen Auseinandersetzung zweier antagonistischer Prinzipien, zum anderen als die Kernzone jener durch die Symboldaten Stalingrad und Währungsreform markierten Katastrophen- und Transformationsphase, in der das Ende des mit unheilvollen Traditionsbeständen beladenen und an schwer überbrückbaren inneren Spannungen leidenden alten Deutschland und zugleich der Anfang eines moderneren, homogeneren und liberaleren neuen Deutschland im Westen beschlossen lagen. In dieser Zeit größter historischer Beschleunigung im Übergang vom Krieg zum Frieden erfuhr auch das Erleben der Menschen eine Verdichtung wie selten zuvor und selten danach. Angesiedelt zwischen dem Beginn der akuten Existenzkrise des Dritten Reiches im August 1944 und der allmählichen Konsolidierung der amerikanischen Besatzungsverwaltung nach der Konferenz von Potsdam im August 1945, versucht dieses Buch eine Gesamtansicht dieses Entscheidungsjahres deutscher Geschichte zu geben, und zwar gleicherweise aus deutschem wie amerikanischem Blickwinkel. Diese doppelte, vorwiegend auf die Interaktion von Siegern und Besiegten abgestellte Perspektive ist die einzige Möglichkeit herauszufinden, worin das Wesen dieser Besetzung bestand und worin die Bedeutung dieser Okkupation für die Menschen auf beiden Seiten, für
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Einleitung
beide Nationen und damit auch für die Zukunft, für die Geschichte der Beziehungen Westdeutschlands und der USA nach 1945 lag. Wegen der überragenden Bedeutung der Vereinigten Staaten für die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg lag es auf der Hand, Einmarsch und Besatzungsherrschaft der Uni ted States Army zu beschreiben und so der frühen deutsch-amerikanischen Erfahrungsbildung auf den Grund zu gehen. Diese Wahl bot zugleich die Möglichkeit, ein umfassendes Bild von der militärischen Eroberung des Deutschen Reiches zu geben, denn das Besetzungsgebiet der Amerikaner erstreckte sich zum Zeitpunkt der Kapitulation von Aachen bis Leipzig und von Wismar an der Ostsee bis nach Linz an der Donau. Vieles in diesem Buch dürfte wohl dem ähneln, was eine ähnlich angelegte Untersuchung eines Tages für die britische Besetzung Nordwestdeutschlands herausfinden könnte. Die Okkupation der südwestdeutschen Ecke durch französische Truppen, die dem Alliierten Oberkommando mehr formal als real unterstanden, trug bereits ihren eigenen, von der Bevölkerung dort gar nicht geschätzten Stempel. Und es bedarf nicht der Erwähnung, daß Ablauf und langfristige Folgen der ungeordneten, brutalen und blutigen Eroberung Ostdeutschlands durch die Rote Armee so gut wie nichts mit der berechenbaren, korrekten und prinzipiell humanen - "weichen" - Besetzung Deutschlands durch die amerikanischen Streitkräfte unter Dwight David Eisenhower und Omar Bradley gemein hatten, die am 11. September 1944 zwischen Aachen und der Schnee-Eifel begann. Die Beschreibung der amerikanischen Eroberung Deutschlands muß sich dem Zeitkontinuum der Besetzung unterordnen. Nur so kann der mehrmonatige Prozeß der Erfahrungsbildung und Routinisierung einer anfangs beinahe hilflos wirkenden Militärverwaltung nachgezeichnet werden. Auch die Soldaten der Besatzungsarrnee, die wenig mit Military Government zu schaffen hatten, das Bild "des Amerikaners" aber mindestens so stark bestimmten wie die Offiziere der Militärregierung und die deswegen in dieser Studie keine Nebenrolle spielen durften, benötigten eine lange Lehrzeit in "Transsylvanien" (wie das Alliierte Oberkommando in Erwartung des Schlimmsten Deutschland mitunter tatsächlich nannte), ehe sie sich sicher bewegten und ehe sie sich sicher sein konnten, vom Dschungel "Nazi Germany" nicht verschluckt zu werden. Neben der Entfaltung des Zeitkontinuums mit gelegentlichen kleineren sachthematischen Exkursen mußte sich das als Gesamtdarstellung angelegte Buch auch das Ziel stecken, nicht nur keinen Aspekt von Gewicht zu vernachlässigen, sondern auch die unterschiedlichen Methoden und Gegenstände der Diplomatie- und Politikgeschichte, der Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte, aber auch der Militär- und Wirtschaftsgeschichte so ineinanderzuweben und in ihrer Abhängigkeit voneinander vor Augen zu führen, daß die Chance bestand, für diese wahrhaftig nicht erstmalig beschriebenen Monate nicht allein eine neue Stufe historiographischer Authentizität das heißt: Präzision und Anschaulichkeit - zu gewinnen, sondern darüber hinaus auch zu vertieften Einsichten in die inneren Zusammenhänge dieses Schlüsseljahres zu gelangen. Daraus folgte das Gebot, alle Handlungsebenen aufzusuchen, vom Weißen Haus über die "European Advisory Commission" und die G-5 Stäbe der Armeen und Divisionen bis hinab zu den Military Government Detachments und zu "G.I. Joe" in Malmedy und München. Für die deutsche Seite war das ein besonders umfassendes
Einleitung
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Unterfangen, da nicht nur das gesamte Besetzungsgebiet der U.S. Army und die Handlungsebenen von Hitler bis hinab zum Ortsgruppen leiter der NSDAP oder dem Dorfbürgermeister, von Generalfeldmarschall Keitel bis zum einfachen Landser in die Betrachtung miteinbezogen werden mußten, sondern weil hier auch Schicksal, Handeln und Erfahrung verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen und Milieus zu beschreiben waren. Aus amerikanischer Sicht waren es zwei klar voneinander geschiedene, mit völlig verschiedenen Anforderungen und Eindrücken gekoppelte Etappen der Eroberung. Daran orientiert sich auch die Zweiteilung des Buches: Teil 1, "Zum Rhein", beschreibt die glanzlose und verlustreiche Winter-Kampagne 1944/45 mit ihrer schokkierenden Schlappe in den Ardennen, die erst mit dem Start der alliierten Schlußoffensive Ende Februar und endgültig dann mit dem Rhein-Übergang in der letzten Märzwoche 1945 ihren Abschluß fand. Der umfangreichere Teil 2, "Ins Innere des Reiches", schildert den elanvollen, praktisch unter Ignorierung der Wehrmacht vorgetragenen, von der Weltöffentlichkeit begeistert verfolgten Stoß in das Herz Deutschlands, der dem "Hitlerismus" binnen vier Wochen den Garaus machte. "Epic-making" nannten die Amerikaner den April 1945, in dem auch die beiden tödlich verfeindeten Gegenspieler an das Ende ihrer spätestens seit 1941 ganz aufeinander bezogenen Laufbahn gelangten. Roosevelt, der die Demokratie in der Welt gerettet hatte, starb Mitte des Monats, Hitler, der Bankrotteur, der das Faustrecht zum bestimmenden ethischen Prinzip hatte erheben wollen, erschoß sich am 30. April 1945 in Berlin. Neben ihrer Fixierung aufeinander blieben Denken und Strategie beider bis zu ihrem Ende geradezu manisch auf die historische Erfahrung von 1918 bezogen. Roosevelt hielt unbeirrbar daran fest, den Deutschen dieses Mal keinen Anlaß und keinen Vorwand zu liefern, ihre Niederlage neuerlich für eigentlich ungeschehen zu erklären oder dem "Verrat" eines amerikanischen Präsidenten zuzuschreiben. Er bestand darauf, daß die Geschichte sich nicht wiederhole. Hitler bestand ebenfalls darauf. Ein "zweites 1918" werde es nicht geben, war eines seiner wenigen "unabänderlichen" Dogmen, und er behielt bis zu seinem Selbstmord ausreichend Einfluß, um keine Abweichung davon zulassen zu müssen. Das führte zur Totalbesetzung des Reiches, die bis Ende 1944 in Deutschland wie in den USA eigentlich außerhalb des Vorstellungsvermögens gelegen hatte. Aus deutscher Perspektive sind es mehr als zwei, mindestens wohl drei, wenn man will sogar fünf voneinander zu scheidende Etappen des ,,Absturzes" (Speer) in die totale Niederlage. Wohlgemerkt, es ging seit Sommer 1944 für alle nicht verblendeten Menschen (auch für Hitler selbst) nicht mehr um den ad nauseam propagierten Endsieg, sondern immer nur um ein irgendwie glimpfliches Kriegsende. Wie illusorisch das sein mochte, die erste Etappe des deutschen Absturzes wird man jedenfalls im Sommer 1944 anzusetzen haben, als die Anzeichen einer Paralyse des Wirtschaftslebens unübersehbar geworden, die Kraft der Wehrmacht in den gigantischen Niederlagen östlich der Weichsel und in Frankreich weitgehend gebrochen war und als nach dem Attentat auf Hitler die Totalisierung der Kriegsanstrengung, die Brutalisierung der "Gegnerbekämpfung" und die Terrorisierung der erschöpften Soldaten und der kriegsmüden Bevölkerung eine neue Qualität gewannen. In der ersten Phase dieses Absturzes, die von August 1944 bis zur zweiten Januarhälfte 1945 reicht, setzte die deutsche Führung mit einer letzten, in der Ardennen-Of-
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fensive gipfelnden Anstrengung alles auf eine Karte, um doch noch einmal die militärische und damit vielleicht auch ein bescheidenes Maß an politischer Initiative zuriickzugewinnen. Dabei gelang es dem Regime in einem erstaunlichen Maße, die letzten Reserven von Armee und Bevölkerung zu mobilisieren; tatsächlich ging noch einmal ein "Ruck" durch das Land. Als aber spätestens in der zweiten Januarhälfte 1945 klar wurde, daß dieses Aufbäumen wirkungslos verpufft war, und dann auch noch hilflos mitangesehen werden mußte, wie die Rote Armee in zwei, drei Wochen Ostdeutschland bis zur Oder überrannte, waren die letzten psychologischen und materiellen Reserven der Nation erschöpft. Die zweite Phase des sich beschleunigenden deutschen Niederganges reichte von Ende Januar bis Ende März 1945. Während die allgemeine Desintegration einsetzte und der Terror gegen die eigene Bevölkerung eine neue Dimension gewann, hofften die verbliebenen Gläubigen in Volk und Führung noch immer auf irgendein militärisches oder politisches Wunder, setzten sie, oftmals wider bessere Einsicht, ihr letztes Vertrauen in die strategischen "Barrieren" des Rheins und der Oder und glaubten, es könne vielleicht bei einer feindlichen Besetzung der "Ränder" des Reiches bleiben. Aber auch diese Hoffnung der unbelehrbaren Hitler-Anhänger und der Masse derer, die als Patrioten keine Niederlage herbeiwünschen konnten, sollte sich als triigerisch erweisen. Die Rhein-Linie blieb militärisch bedeutungslos. In der dritten Phase des Kriegsendes in Deutschland, als die Westalliierten beinahe das gesamte Reichsgebiet zwischen Rhein, Eibe und Donau überrannten und die Wehrmacht nur noch Kraft zu einigen bedeutungslosen Gesten fand, begann jenes typische Rette-sich-wer-kann, wie wir es aus der Geschichte kennen, wenn der Moment des Untergangs einstmals mächtiger Reiche, großer Armeen und gefeierter Führer gekommen ist. Man könnte sogar noch zwei weitere, mit der steiler werdenden Talfahrt immer kürzere Abschnitte im Fall des Regimes benennen: als vierte Etappe die letzten Tage des April, beginnend mit Hitlers berühmtem Nervenzusammenbruch am 22. und dem "Eingeständnis", daß der Krieg verloren sei, dem "Verrat" Himmlers und Görings, der Einschließung Berlins, der Begegnung der Amerikaner und Russen an der Eibe, die am 25. die Aufspaitung des Restterritoriums brachte, und dem Selbstmord des Diktators am 30. April - Tage des Wartens, wann Hitler den Bann, in dem seine Gefolgsleute bis zum Schluß verharrten, endlich selber lösen würde. Faktisch war der Krieg am 30. April 1945 zu Ende. In der sofort danach einsetzenden fünften Phase des Absturzes begann mit einer Kaskade von Teilkapitulationen, dem Versuch, möglichst viele Soldaten und Zivilisten dem Zugriff der Roten Armee zu entziehen, bereits der 23 Tage währende Epilog des Dritten Reiches. Diese Etappen von Eroberung, Niedergang und Befreiung geben den äußeren und inneren Rahmen für unsere Betrachtung dieses einen Jahres zwischen Sommer 1944 und Sommer 1945. Sie bestimmen den Handlungshintergrund, denn der spezifische Charakter der beschriebenen Phasen definiert Erleben, Denken und Handeln von Deutschen und Amerikanern in den Monaten ihrer ersten Begegnung wesentlich mit, kurz: Ungleiches würde gleichgemacht, wollte man bei der Beurteilung beispielsweise der Mobilisierungsanstrengungen des Regimes oder der Strategie eines Industriekonzems im Oktober 1944 dieselbe Elle anlegen wie im Februar 1945. Und der Maßstab, der etwa an die Arbeit des Military Government und Counter Intelligence Corps im Herbst 1944 anzulegen ist, muß ein kategorial anderer sein als ein halbes Jahr später.
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Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Verfassung der deutschen Gesellschaft an der GelenksteIle zweier Zeitalter. Diese Gesellschaft und die auf sie einwirkenden "amerikanischen Impulse" galt es so genau wie möglich zu beschreiben. Dazu wird unter anderem der Zynismus der nationalsozialistischen Führungsdique vor Augen geführt und der Darstellung der einzigartigen Brutalität einiger Raum gegeben, mit der das Regime (das nur noch wegen einer kleinen Galgenfrist für sich selber weiterkämpfen ließ) gegen die eigene Bevölkerung raste, gegen Soldaten und Zivilisten, die in über fünf Jahren Krieg wahrlich genug Opfer auf sich genommen hatten. Diese waren zwar auch jetzt noch Appellen an ihre Opferbereitschaft zugänglich, nicht jedoch einem in ebenso obszöner wie peinlich archaisierender Opferrhetorik geforderten Masochismus der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung. Hier wird auch deutlich, wie unerhört dick und blutig der Trennungsstrich gewesen ist, den das Regime am Ende zwischen sich und dem deutschen Volk zog, und wie sich der Kämpferturn und Siegesgewißheit predigende Nationalsozialismus nicht nur durch beispiellose Erfolglosigkeit, sondern gerade auch durch die erbärmliche persönliche Feigheit und Kümmerlichkeit seiner "Elite" bei Annäherung des Feindes unwiderruflich diskreditierte und selbst zerstörte. Die Besatzungsmacht konnte schon sehr früh beobachten, wie es in der deutschen Diktatur mittlerweile um die Einheit von Volk und Führung wirklich bestellt war, wieviel weniger kadavergehorsam und nibelungentreu die meisten in der vermeintlich so verschworenen Kampfgemeinschaft tatsächlich waren. Das paßte schlecht zu ihrem Bild von Hitler-Deutschland mit dem die amerikanischen Soldaten über den Atlantik gekommen und nach "Transsylvanien" hineingegangen waren. Überhaupt fällt auf, welche enorme Kraft der Augenschein in diesen Umbruchs monaten 1944/45 entfalten konnte. Die Evidenz der geschlagenen und im eigenen Lande marodierenden Wehrmacht etwa trug maßgeblich dazu bei, das Militär zu "deglorifizieren" und den Bankrott des Militärischen in Deutschland allgemein zu annoncieren. Die Evidenz der Leichenhaufen und der auf den Tod ausgezehrten überlebenden Häftlinge in den "entdeckten" Konzentrationslagern ist es gewesen, die die fremden Soldaten, die Menschen in den Siegerländern und oft genug auch die Deutschen selbst davon überzeugte, daß man dem untergegangenen Regime buchstäblich alles, auch den Völkermord, zutrauen mußte. Und es war schließlich die Erfahrung mit einer insgesamt nachgerade beschämend fairen, humanen und unmilitärischen Besatzungsarmee, die bei manchem Zweifel darüber aufkommen ließen, ob Fairness tatsächlich vor allem ein Indiz für Schwäche sei, ob Humanität vornehmlich Dekadenz signalisiere und militärische Schlagkraft wirklich nicht ohne Drill und eine unbarmherzige Standgerichtsbarkeit zu haben sei. Einsichten wie diese haben die deutsche Wendung zum Westen vielleicht mehr gefördert als manche spätere Reform und manches Umerziehungsprogramm der Militärregierung. Überraschend war überhaupt, wie stupend gering in der Schlußphase dieses Krieges der Ideologien die Reichweite ideologisierter Politik und Kriegführung noch gewesen ist und wie auf bei den Seiten (von Hitler und seinen Jüngern in Armee, Partei und Staat abgesehen) in aller Regel Augenmaß und Pragmatismus die Oberhand behielten. Dieser Triumph der Besonnenheit in einer Situation, in der das Unterste zuoberst gekehrt war, ist nicht nur bei den amerikanischen Soldaten und Offizieren der Militärregierung festzustellen - sie waren immerhin auf einen "Kreuzzug in Europa" (Eisenhower) geschickt -, sondern in abgewandelter Form auch bei der mit gnadenlosem
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Durchhalte-Terrorismus überzogenen deutschen Gesellschaft. Denn die planlose Raserei eines delegitimierten Regimes machte die Menschen nicht nur temporär und zumindest potentiell zu Vogelfreien - nichtigste Anlässe konnten den Tod bedeuten -, sie schuf auch hunderttausend anarchische Konstellationen, für einige Monate einen letztlich rechtsleeren Raum, in dem Zivilcourage, Eigeninitiative und Augenmaß um so leichter und wirkungsvoller zu ihrem Recht kamen. Niemand wollte mit in den Untergang des Regimes gerissen werden, jeder besann sich jetzt auf sein ureigenes Interesse. Unter anderem am Beispiel der Wirtschaftselite wird verdeutlicht, wie massiv die in anderen gesellschaftlichen Bereichen ganz ähnlichen Anstrengungen gewesen sind, das Eigene zu bewahren, wie hinter der Fassade von Regimetreue immer üppiger ein verdeckter "Defätismus" grassierte und schließlich die lautlose, aber endgültige Aufkündigung jeglicher Loyalität erfolgte: spätestens ab Januar 1945 eine bedingungslose Orientierung an den Eigeninteressen statt an der von Hitler definierten Staatsräson. Das läßt schon ahnen - um ein Beispiel herauszugreifen -, wie verkehrt die gängige Vorstellung ist, ausgerechnet dem erst spät gegen die Hitlersche "Politik" der Verbrannten Erde auftretenden Albert Speer komme das maßgebliche Verdienst zu, die "Lebensgrundlagen des deutschen Volkes" für die Nachkriegszeit erhalten zu haben. In Wahrheit ist es seit dem Sommer 1944, als der Minister die deutsche Rüstungswirtschaft noch ganz im Sinne Hitlers zu äußerster Kraftanstrengung trieb, das Hauptmerkmal innerbetrieblichen Handelns in jeder einzelnen deutschen Fabrik gewesen, die Substanz des Betriebes unter allen Umständen (und oftmals im Zusammenspiel mit örtlichen Stellen von Staat und Partei) über die kritischen Wochen und Monate des Kriegsendes zu retten. Trotz und gerade wegen des sich überschlagenden Terrors wuchs in der Bevölkerung und in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren ein immer stärker werdender, von der administrativen "Verinselung" begünstigter Wille zur Eigenbestimmung. Die deutsche Gesellschaft hatte sich nicht nur der Ideologie, sondern auch dem Regime des Nationalsozialismus schon weitgehend wieder entzogen, als mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 dessen Bankrott ratifiziert, ein Wendepunkt deutscher Geschichte erreicht war und in Westdeutschland die Nachkriegsära mit ihren Hauptmerkmalen der ,,Amerikanisierung" und der Integration in die westliche Welt ihren Anfang nahm. Neben Beobachtungen wie diesen kommt die Betrachtung der wenigen Monate im Zentrum der deutschen Katastrophe von 1945 zu dem Befund, daß manche Urteile _ über den Charakter der Zusammenbruchskrise und das Wesen der amerikanischen Besetzung oberflächlich sind. Einige sind in positiver oder negativer Mystifizierung aus Wunsch- oder Zweckdenken entstanden, andere wurden vom gekränkten nationalen Narzißmus des Besiegten getrübt, wieder andere nach der raschen Annäherung von Deutschen und Amerikanern als störend über Bord geworfen. Es war beispielsweise mitnichten die "berüchtigte" Direktive JCS 1067, die Geist und Praxis der amerikanischen Besetzung prägte, General Clay mußte bei seiner Ankunft in Deutschland im April 1945 auch nicht das Steuer herumwerfen und auf einen konstruktiven Kurs in seinem Besatzungsgebiet gehen. Die Soldaten der Army und die Military Government Offiziere hatten sich vom ersten Tage der Besetzung an trotz des "emotional thinking" eines Morgenthau niemals anders verhalten. Unter dem Primat des Pragmatismus und im Zeichen "positiver Kontrolle" handelten sie ungeachtet etwa anders-
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lautender Direktiven immer nach ihrem eigenen Verantwortungsgefühl und in der Tradition der Streitkräfte, wonach Besatzungsverwaltung strikt, aber human und gerecht zu sein habe. Das taten die Soldaten nicht zuletzt deshalb, weil sie als "hilflose Außenstehende", die sie anfangs waren, die Kooperationsbereitschaft der Zivilbevölkerung wahren und fördern wollten, ohne die auf längere Sicht selbst die U.S. Army und ihre Militärregierung zum Scheitern verurteilt gewesen wären; sie begründeten so eine Kontinuität der Konstruktivität, an die Clay anknüpfen konnte. Sieger und Besiegte waren, so wird man pointiert sagen können, aufeinander angewiesen. Dabei gelang es der Army wenigstens zu Beginn trotzdem recht gut, zwischen Zusammenarbeit und inopportuner, die politische Dimension der Besetzung verwischender Vereinnahmung von deutscher Seite zu unterscheiden. Auch die Legende vom "Kollektivschuld-Vorwurf" erweist sich bei näherem Zusehen als dieselbe Chimäre wie die Vorstellung, das amerikanische Besatzungspersonal sei schlecht auf seine Aufgaben vorbereitet gewesen, es seien bei der militärischen Eroberung des Reiches strategische Möglichkeiten vergeben und damit politische Chancen vertan worden. Die "unpolitische Politik" der beständig zwischen militärischen und politischen Erfordernissen balancierenden Militärregierung hat deutsche politische Initiativen nicht wirklich gelähmt - oder doch nur in dem keineswegs schädlichen Sinne der Stigmatisierung nationalsozialistischer, national-agitatorischer oder den Besatzungsmächten feindlich gesonnener Kräfte. Von einer "Unterdrückung der Linken" kann ebenfalls keine Rede sein, allerdings aber von einem gerüttelten Maß an Skepsis gegenüber sporadischen und im übrigen nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch von der breiten, prononciert nicht-radikalen Arbeiterschaft isolierten Aktivitäten von Altkommunisten, die - wie in ihrer Hochburg im Ruhrgebiet - wesentlich aus Unkenntnis der geänderten Generallinie der Partei bis zum Frühsommer 1945 einem (wie man sagen möchte) irrtümlichen Radikalismus frönten; die Kommunisten wurden nicht nur von der Besatzungsmacht, sondern auch von den eigenen Landsleuten in aller Regel als "troublemaker" eingestuft. Es ist ferner ein klarer Befund, daß das Gros der deutschen Bevölkerung in den Tagen der Besetzung, wo jeder einzelne durch ein "Nadelöhr" (Reinhold Maier) vom Krieg zum Frieden mußte, dem pragmatisch-nüchternen amerikanischen Militärregime näherstand als dem offen verbrecherischen NS-Regime. Es fiel den meisten Menschen schwer, es sich einzugestehen oder gar auszusprechen, aber es ist ihnen sehr wohl bewußt gewesen, daß es der Feind war, der sie vom Joch der eigenen Landsleute befreit und die Monate des "Aufhängens und Totschießens" (wie sie der Bürgermeister von Aalen nannte) beendet hatte. Andererseits ist in der vorliegenden Arbeit auch auf einige schwerwiegende, im Zeichen deutsch-amerikanischer Freundschaft nie recht zur Kenntnis genommene und ungesühnt gebliebene amerikanische Übergriffe aufmerksam zu machen, Kriegsgefangenenerschießungen zumeist, die vor allem im April 1945 verübt wurden, als Joseph Goebbels zum Guerillakrieg gegen die Invasoren aufrief und die offenbar gewordenen Greuel in den Konzentrationslagern einige G.I.s die von der amerikanischen Armee normalerweise beachteten Gepflogenheiten korrekten Soldatentums vergessen ließen. Diese Morde, mehrere Dutzend vielleicht, waren wirkliche Übergriffe, was sich von den deutschen Morden an den eigenen Landsleuten und Zwangsarbeitern in der Endphase des Regimes wahrhaftig nicht sagen läßt. Eine genauere Betrachtung der
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deutschen "Endphase-Verbrechen", die nach Abertausenden zählen - es handelte sich um Staatsmorde und notdürftig bemäntelte willkürliche Vernichtung -, zeigt recht gut, daß das "Strafziel" der Festigung des Widerstandswillens in der Regel nicht Motiv, sondern Alibi dieser massenhaften Verbrechen gewesen ist. So offenbarte sich in ihrer Endphase für jeden unwiderleglich der nihilistische Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, den ihr hellsichtige Beobachter schon in den Anfängen attestiert hatten. Die Geschichte kennt nicht allzu viele Beispiele für eine Staatsführung, die ihre destruktiven Energien derart ungezügelt gegen die eigene Nation schießen ließ. Es wäre zu viel gesagt, die Art der amerikanischen Besetzung Deutschlands 1944/45 habe die deutsch-amerikanische Annäherung erst ermöglicht. Ganz gewiß aber sind durch sie - in scharfem Kontrast zur Okkupation Ostdeutsch lands - keine unübersteigbaren Barrieren errichtet worden und keine unüberwindlichen Traumata entstanden, die eine rasche Annäherung beider Nationen unmöglich gemacht hätten. Gerade der stechende Kontrast zwischen den Feindbildern, die beide Seiten kultivierten, und der positiven Erfahrungsbildung von Deutschen und Amerikanern in den Monaten der Besetzung widerlegte nicht nur das deutsche Regime und seine Propaganda ein weiteres Mal, er ließ auch die Besatzungsmacht ziemlich bald die in den USA grassierenden Klischees vom deutschen Wesen beiseite legen. Angesichts von hunderttausend örtlichen Stabilisierungsbündnissen zwischen Okkupationsarmee, Verwaltung und Bevölkerung, die seit September 1944 überall entstanden und die den Siegern nicht weniger nützten als den Besiegten, fragt man sich sogar, wer damals über diesen, für die Erben des NS-Staates gewiß unverdient glimpflichen Start eigentlich mehr erleichtert gewesen ist: Deutsche oder Amerikaner? Bei der Schilderung dieses einen Jahres 1944/45 hätte nichts böser in die Irre führen müssen, als der Versuchung nachzugeben, Erklärungen, Direktiven, Reportagen oder Geheimdienst-Berichte für die Realität, politische Entschließungen für politische Praxis zu nehmen, Deklamation mit Implementation zu verwechseln. Unter Heranziehung der erreichbaren Quellen - es ist ein Irrglaube, für die Umbruchsmonate stünde dem Forscher nicht genügend klassisches, schriftliches Quellenmaterial zur Verfügung - bedurfte es vielmehr der geduldigen minutiösen Rekonstruktion typischer Ereignisse, Konstellationen, Strukturen, Meinungen, Irrtümer (auch Empfindungen), soweit sie sich eben fassen ließen. Kriterien für die Beurteilung, ob eine eher typische oder eine eher untypische Konstellation vorliege, konnten ihrerseits nur auf der Basis eines möglichst umfassenden Überblicks über die Quellen amerikanischer und deutscher Provenienz gewonnen werden, die uns für dieses Epochenjahr zur Verfügung stehen. Die Rekonstruktion und Bewertung typischer Konstellationen zwingt namentlich in der Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte (auf die ein kräftiger Akzent gelegt wurde) zu Konzentration auf ein überschaubares Feld: auf ein Dorf in Nordwürttemberg etwa, auf ein amerikanisches Pionierbatallion, ein Standgericht der Wehrmacht, einen Summary Court der Militärregierung, den Gefechtsstand eines Stadtkommandanten, eine School of Military Government, ein Provisional Military Government Detachment, auf eine Familie in Altötting, ein BDM-Mädchen in Monschau, eine Textilfabrik in Mitteldeutschland, auf die Gruppenleitungen eines Elektro-Konzerns, auf eine Bad Godesberger Nichtverteidigungs-Initiative, auf ein Konzentrationslager bei München, eine Düsseldorfer Handelskammer, ein Antifa-Komitee in Leipzig, auf
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die so gegensätzlichen Entscheidungen des Generals Max Ulich und des Generals Max Simon, auf die Instruktionen des G- 5 Stabes der Twelfth Army Group, auf die in seinem Tagebuch festgehaltenen Empfindungen von Dwight D. Eisenhower aus Abilene/Kansas und auf manches andere mehr. Es entsteht dabei eine Vielzahl von Miniaturen; als pars pro toto verstandene Fallbeispiele verschiedenster Ebenen und Milieus werden anderen an die Seite gestellt, miteinander kombiniert, als Ganzes arrangiert, in das zeitliche Kontinuum eingebettet und mit politischen oder militärischen Entwicklungen verknüpft, die oftmals selbst Gegenstand der Analyse sein müssen. Man kann diese Mosaiksteinchen und Bildpunkte einzeln betrachten, man kann diese Einzelelemente wie jede andere sachthematisch eingegrenzte Analyse auf ihre Validität hin prüfen, eine authentische und plausible Gesamtansicht des Übergangs vom Krieg zum Frieden aber ergibt sich erst aus der Zusammenschau aller Elemente. Diese Gesamtansicht zu geben, war das eigentliche Ziel des Buches. Neben der Vorlage konkreter Ergebnisse möchte diese Darstellung aber auch von weniger unmittelbar Greifbarem, jedoch nicht weniger Überliefernswertem sprechen. Krieg, Eroberung und Besetzung, Sturz der Diktatur und Sieg der Demokratie, Rettung und Vernichtung am Ende einer Epoche sind auch ein menschliches Drama und, im nachhinein betrachtet, ein historisches Epos gewesen, dem Rechnung zu tragen wenigstens der Versuch gemacht werden mußte. Dieses Geschehen darf nicht bloß analysiert, es muß auch lebendig gemacht und zur Anschauung gebracht werden. Anschaulichkeit aber erzwingt Ausführlichkeit, Authentizität verlangt Atmosphäre in Zitat und Präsentation, verlangt manchmal nichts weiter als Beschreibung und keinen unmittelbaren wissenschaftlichen "Zweck" verfolgende Erzählung. Nach Abschluß des Buches fand sich spät ein Zitat zu der anfangs eher unbestimmten und unsicheren und deshalb ebenso entmutigenden wie beflügelnden Vorstellung davon, wie ein einziges Jahr abzubilden sei. Es stammt von Quintilian und sagt: ,,Anschaulichkeit ist in der Erzählung ein großer Vorzug, indem etwas Wahres nicht nur ausgesprochen, sondern gewissermaßen vorgeführt zu werden verdient."
Teill
Zum Rhein
I. Am Vorabend der Besetzung 1. Eisenhower Am Vormittag des 16. Januar 1944 liegt der Londoner Nebel so dicht über Grosvenor Square, daß die kleine Gruppe amerikanischer Soldaten, die dort ihren Limousinen entsteigt, zwei ihrer Leute sofort wieder aus den Augen verliert. Da man die gefährlich steilen Kellerabgänge hier kennt, muß sich ein Soldat zur Eingangstür des Hauses Nr. 20 vortasten. Der amerikanische Offizier, der den Befehl dazu erteilt, ist erst am Vortage auf dem schottischen Flugplatz Prestwick gelandet, seine Ankunft wird in England noch geheimgehalten. 1 Mit dem Gebäude unweit Hyde Park (es beherbergt das Hauptquartier der amerikanischen Truppen in Europa) ist der General seit dem Juni 1942 vertraut, als er, beinahe ein Anonymus, den Oberbefehl über die Streitkräfte der Vereinigten Staaten im damals lediglich die britischen Inseln, Island und Grönland umfassenden European Theater of Operations übernommen hatte. Inzwischen ist der 53jährige Dwight David Eisenhower aus Abilene in Kansas eine Beriihmtheit. Am 12. Februar 1944 erhält er den Auftrag: "Sie haben sich Zutritt zum europäischen Festland zu verschaffen und zusammen mit anderen alliierten Nationen Operationen durchzuführen, die gegen das Herz Deutschlands gerichtet und auf die Vernichtung der deutschen Streitkräfte abgestellt sind."2 Den Auftakt dazu soll die Operation "Overlord", die Landung der Alliierten in der Normandie, geben. Mit der Ernennung Eisenhowers zum Supreme Commander3 und seiner Ankunft in Großbritannien trat die Vorbereitung der Invasion in ihr letztes Stadium. Mitte Februar wurde die oberste Kommandobehörde für den Feldzug in Nordwest- und Mitteleuropa gebildet, die Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force (SHAEF)4 - bis zu ihrer Auflösung Mitte Juli 1945' die höchste Autorität in den von den Westmächten befreiten und eroberten Gebieten. SHAEF, das seine Befehle vom gemeinsamen britisch-amerikanischen Generalstab, den Combined Chiefs of Staff (CCS), erhielt, leitete nicht nur die militärischen Operationen, die Nachschubversorgung, den Einsatz der taktischen Luftstreitkräfte und Marineeinheiten, sondern unterhielt daneben auch einen Verbindungsstab zu den Repräsentanten der befreiten Länder und verfügte über eine Generalstabsabteilung für ,,Angelegenheiten der ZivilDiese Episode aus Dwight D. Eisenhower, At Ease: Stories I Tell to Friends, London 1967, S. 269. Direktive der Combined Chiefs of Staff an General Eisenhower v. 12.2. 1944; zit. nach Forrest C. Pogue, The Supreme Command, Washington 1954, S. 53. 3 Siehe hierzu die Eisenhower-Studien: Stephen E. Ambrase, The Suprerne Commander: The War Years of General Dwight D. Eisenhower, Garden City 1969, S. 295 ff. Stephen E. Ambrase, Eisenhower, Bd. I: Soldier, General of the Army, President-Elect 1890-1952, New York 1983, S. 27off. David Eisenhower, Eisenhower: At War 1943-1945, New York 1986, S. 43 H. Das maßgebliche, in fünf Bänden edierte Quellenwerk zu Eisenhowers Kriegsjahren: Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. III-V: The War Years, Baltimore 1970. 4 Hierzu das Standardwerk von Pogue, Suprerne Command, S. 56 ff. Dort auch zum folgenden. , Vgl. Teil VII, Kapitel 5 (künftig: VII/5). 1
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I. Am Vorabend der Besetzung
bevölkerung" ("Civil Affairs") mit dem britischen General Sir Arthur E. Grasset an der Spitze. Hinzu kamen Einrichtungen wie etwa der lntelligence- und Propagandastab ("Psychological Warfare Division") oder die "Public Relations Division", die für die militärische Pressezensur und die Nachrichtenpolitik verantwortlich war. Allein hier waren Anfang 1945 mehr als 400 Mann beschäftigt. Als das Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte Anfang 1944 seine Tätigkeit aufnahm, arbeiteten dort etwa 1500 Briten und Amerikaner, im Sommer waren es über dreimal so viele, im Februar 1945 dann nicht weniger als 16000 Mann, knapp 10000 von ihnen Soldaten der United States Army. Schon bald war das expandierende Hauptquartier an den Rand von London verlegt worden und bezog in Bushy Park, wo auch der Stab der amerikanischen Luftstreitkräfte lag, ein wenig komfortables Zelt- und Barackenlager. Bei seiner Ankunft in London am 16. Januar 1944 hatte Generalleutnant Dwight D. Eisenhower bereits eine dreißigjährige, entnervend perspektivlose Laufbahn als Berufsoffizier und einen nicht einmal zwei Jahre währenden fulminanten Aufstieg zum prominentesten und beliebtesten Heerführer der Alliierten hinter sich. 6 Soldat seit 1911 und West Point-Absolvent des Jahrgangs 1915, hatten ihm seine mäßigen Karrierefortschritte in den zwanziger und dreißiger Jahren zu keinerlei Hoffnungen auf eine herausgehobene oder gar führende Rolle in den Streitkräften der Vereinigten Staaten Anlaß gegeben. Als Fünfzigjähriger hatte er es noch immer nicht weiter als bis zum Oberstleutnant gebracht. Zwei Dinge (über die er sich an sich nicht hätte zu beklagen brauchen) waren es vor allem, die ihm den General's Star zu verwehren schienen: Er hatte kaum Truppen- und keine Kriegserfahrung, und er war ein allzu fähiger Stabsoffizier. Eisenhowers besondere Qualifikationen waren spätestens seit 1926 unübersehbar, als er die Generalstabsausbildung als bester von 275 Kursteilnehmern absolvierte. Fachlich glänzend, sehr umgänglich und augenscheinlich unbegrenzt belastbar, war er der ideale "Führungsgehilfe", wie man in der deutschen Armee gesagt hätte, und so blieb dem Unentbehrlichen eine Kommandoposition, in der er eigenverantwortlich hätte tätig sein und sich bewähren können, bis zum Juni 1942 - als er zum Kommandierenden General des European Theater of Operations (ETO) berufen wurde - versagt. Andererseits waren es dann doch gerade auch seine spezifischen Erfahrungen und die an den einzelnen Stationen seiner Laufbahn geschlossenen Kontakte, die ihn in diese Stellung brachten. "lke", wie er in Verkürzung seines Nachnamens von Kindesbeinen an genannt wurde, war seit 1920 kontinuierlich enger Mitarbeiter der vier herausragenden Gestalten der jüngeren amerikanischen Militärgeschichte gewesen. Nach seiner Abordnung als Executive Officer zu General Fox Conner, dem legendären Chef der Operationsabteilung der amerikanischen Expeditionsstreitkräfte in Frankreich 1917/18, arbeitete er als eine Art Redakteur bei General John J. Pershing selbst, der nach seiner Zeit als Stabschef der U.S. Army als Heros des Ersten Weltkrieges noch einige Zeit lang als Oberhaupt der "Battle Monuments Commission" amtierte. Danach wurde Douglas McArthur (seit 1930 Chief of Staff der Armee) auf den ins Kriegsministerium versetzten Major Eisenhower aufmerksam. Er diente dem General als persönlicher Referent und ging mit McArthur (von dem er schlicht als "bester Of6
Das folgende hauptsächlich nach Ambrose, Eisenhawer, S. 43 ff.
1. Eisenhawer
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fizier in der Army"7 bezeichnet wurde) vier "entsetzlich frustrierende" Jahre lang auf die Philippinen. Als Hitler Polen überrannte, saß Oberstleutnant Eisenhawer noch immer in Manila. Doch mit dem Krieg kam die Karrierechance. Während der zwei, drei Jahre, in denen die amerikanische Armee im Eiltempo von einigen zehntausend auf mehrere Millionen Mann gebracht wurde, erlebten fast alle altgediente Berufsoffiziere, so auch Eisenhower, einen rasanten Durchgang durch immer gewichtigere Positionen. "Ike" träumte von einem Kommando über ein Panzerregiment unter seinem Freund George S. Patton, doch sein Ruf als herausragender Stabsoffizier brachte ihn zu seiner schieren Verzweiflung zunächst weiterhin nur in Stabsstellungen. Als die Wehrmacht in die Sowjetunion einfiel, war Eisenhower Stabschef der Third Uni ted States Army, und einen Tag nachdem Hitler den Vereinigten Staaten am 11. Dezember 1941 den Krieg erklärt hatte, wurde der frischgebackene Brigadegeneral ins War Department nach Washington befohlen, wo er auf Betreiben von Generalstabschef George C. Marshall binnen zweier Monate zum Chef des Nervenzentrums der Armee, der Operations Division, aufstieg. 8 Unter MarshalI, dem "eigentlichen Organisator des Sieges" (Churchill)9 und größten Soldaten, den die Vereinigten Staaten hervorgebracht haben, plante und koordinierte Eisenhower nun sämtliche größeren Militäraktionen und gewann tiefe Einblicke in die modeme Kriegführung. Das war der Beginn der mehr als drei Jahre währenden alliierten Anstrengung zur Niederwerfung der Aggressoren in Europa, Afrika und Asien. Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 benannte der inzwischen mit fünf Sternen geschmückte General of the Army in einem Telegramm an Marshall die Grundlage seiner Siege in Nordafrika, Italien, Frankreich und Deutschland: "Seit dem Tag, an dem ich erstmals nach England ging, ja seit meiner ersten Meldung bei Ihnen im Kriegsministerium, ist die stärkste Waffe, die ich stets in meiner Hand hatte, ein sicheres Gefühl gewesen, daß Sie meinem Urteil vertrauten, von der Sachlichkeit meiner Behandlung eines jeden Problems überzeugt und dazu bereit waren, bis zur äußersten Grenze Ihrer materiellen Möglichkeiten und Ihrer enormen moralischen Hilfe alles zu unterstützen, was wir für notwendig hielten, um die Niederlage des Feindes herbeizuführen." War dieses unbeirrbare Vertrauen Marshalls in den Obersten Befehlshaber die Grundlage seines Tuns, so brachte Eisenhower auch selbst eine Vielzahl bemerkenswerter, über bloße Fachkompetenz hinausreichender Eigenschaften mit, die den amerikanischen Generalstabschef und Präsident Roosevelt dazu bewogen, gerade ihn mit der Vernichtung der Wehrmacht und der Eroberung Deutschlands zu beauftragen. Eisenhower war nicht nur ein prächtig funktionierender Routinier, sondern zugleich auch ein ideenreicher Kopf mit eigenen Vorstellungen. Zusammen mit dem einige Jahre älteren Patton tüftelte er, ähnlich wie LiddelI Hart in England, bereits in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs und noch Anfang der zwanziger Jahre an Theorie und Praxis einer modemen beweglichen Kriegführung, in deren Mittelpunkt der Panzer mit seinen revolutionären Möglichkeiten stand. Damit waren die beiden ihrer Zeit 7 8
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Ebenda, S. 93. Das folgende Zitat eben da, S. 104. Ray S. Cline, Washington Command Post: The Operations Division, Washington 1951, S. 84. Winston Churchill in seinem Telegramm an Marshall v. 30.3. 1945; zit. nach Forrest C. Pogue, George C. Marshall: Organizer of Victory 1943-1945, New York 1973, S. 585. Das im folgenden zitierte Telegramm Eisenhowers an Marshall v. 8. 5. 1945 ebenda, S. 584.
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freilich weit voraus, wie das förmliche Verbot ihrer vorgesetzten Dienststellen zeigt, sich weiterhin mit derart traditionswidrigen Irrlehren zu befassen. Eisenhower war in der kurzen Zeit, die er während des Krieges im War Department verbrachte, auch der erste gewesen, der erkannte, wie entscheidend die künftigen amerikanischen Operationen an einer ausreichenden Produktion von Landungsbooten hingen. Im Frühjahr 1942 formulierte er auch bereits die strategische Idee einer Invasion Nordfrankreichs von der Basis der britischen Inseln aus. Und sein Handikap, unter den alliierten Kommandeuren einer ohne Weltkriegserfahrung zu sein, dürfte ihm letztlich zum Vorteil gereicht haben, war seine Vorstellung vom Krieg so doch frei vom prägenden Erlebnis der Materialschlachten und des Stellungskrieges, das manchen Veteranen in seiner operativen Phantasie einengte. Als einzigartig wird gemeinhin Eisenhowers Befähigung gepriesen, im Team zu arbeiten, und vor allem schwierige Teams, wie sie in den national gemischten Stäben einer Kriegskoalition die Regel sind, zum Arbeiten zu bringen. lo Einige sehen die Wurzeln dieser Tugend in seiner langjährigen Erfahrung als football-coach, einer Leidenschaft von ihm, andere betonen mehr seine von keinerlei Allüren getrübte, den einfachen Soldaten geradezu im Sturm erobernde unprätentiöse Art des "middle-ofthe-road"-Amerikaners. Diesem einfachen und gewinnenden Habitus verdankte er es vor allem, daß seine mit den exaltiertesten Primadonnen in britischer, französischer und amerikanischer Generalsuniform reich gesegnete Truppe einerseits das Ziel der gemeinsamen Unternehmung nie völlig aus den Augen verlor, andererseits aber trotzdem genügenden Auslauf zu nationaler oder persönlicher Profilierung behielt. Mit seinem ausgeprägt sachorientierten und diplomatisch-verbindlichen Führungsstil paarte sich ein genialer Sinn für den Umgang mit der Presse - für den Oberkommandierenden von Streitkräften demokratischer Nationen gewiß nicht weniger wichtig als seine in den Jahren in Washington und Manila erworbene Fähigkeit, mit politischen Führern umgehen zu können; sogar General de Gaulle kam mit dem Befreier Frankreichs zurecht. Nun war Dwight D. Eisenhower, der geradezu das Gegenbild eines Militaristen genannt werden muß, nicht nur kein sonniges Allround-Genie - die Briefe an seine Frau ll und sein Tagebuch l2 zeigen, wie er unter den persönlichen Entbehrungen, den militärischen Rückschlägen und politischen Zumutungen zu leiden hatte und verzweifeln konnte -, verglichen mit seinen großen Gegnern und Partnern, einem Gerd von Rundstedt etwa, einem Georgi Schukow und auch einem Bernard Law Montgomery, war "Ike" ein Greenhorn. General Eisenhowers "Erziehung"13 zum Heerführer begann im Sommer 1942 (als ihn die Combined Chiefs of Staff zum Oberbefehlshaber der Landung in Nordafrika ernannten) und kostete ihn und die Alliierten viel Lehrgeld. Seit 27 Jahren Offizier, fand sich Eisenhower mit der am 7./8. November beginnenden Invasion ("Torch")14 zum ersten Mal in seinem Leben in Kriegsgebiet, und das sofort als Oberkommandierender der ,,Allied Force Headquarters" (AFHQ) 1m 10 II
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Vgl. Pogue, Suprerne Cornrnand, S. 33 f. John S. D. Eisenhower (Hrsg.), Dwight D. Eisenhower. Letters to Marnie, Garden City 1978. Robert H. Ferrel! (Hrsg.), The Eisenhower Diaries, New York 1981. So Joseph Patriek Hobbs, Dear General. Eisenhower's Wartirne Letters to Marshal!, Baltirnore 1971, S. 3. George F. Howe, Northwest-Afriea: Seizing the Initiative in the West, Washington 1957, S. 97 H. Aueh Leo J. Meyer, The Deeision to Invade North Afriea (Toreh), in: Kent Roberts Greenfield (Hrsg.), Cornrnand Deeisions, Washington 1960, S. 173 ff.
1.
Eisenhower
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Mittelmeerraum. In Afrika zeigten sich bei den Amerikanern nicht nur alle Kinderkrankheiten einer aus dem Boden gestampften Armee, der Oberbefehlshaber selbst offenbarte bei seiner Operationsführung statt Inspiration Zögerlichkeit, Unsicherheit und dogmatisches Denken. Bei seinen politischen Machinationen mit Vichy-treuen Militärs erschien er von allen guten Geistern verlassen, und in seiner ersten Schlacht (im Februar 1943 am Kasserine-Paß, wo Rommel Hunderte von Panzern zerstören und den Amerikanern einige tausend Mann Verluste beibringen konnte) gab er eine "miserable Vorstellung" 15. Ohne den Rückhalt, den er bei Marshall und Kriegsminister Henry 1. Stimson genoß, wäre ein rasches Ende von Eisenhowers Karriere als Schlachtenlenker wohl unvermeidlich gewesen. Auch nach ersten Erfolgen bei Bizerta und Tunis, wo das deutsche Afrikakorps im Mai 1943 eingeschlossen und vernichtet wurde, waren die amerikanischen Landtruppen, ihre Kommandeure und ihr Oberbefehlshaber noch keineswegs "mündig" (Eisenhower)16 geworden. Es bedurfte noch weiterer Großoperationen im Mitteimeerraum, der Invasion Siziliens im Juli und der Landung bei Salerno Anfang September 1943 17 , ehe nicht nur Eisenhower selbst allmählich sicherer und selbstbewußter wurde, sondern auch die mit modernsten Waffen, massiver Unterstützung aus der Luft und von See her sowie mit unversiegbarem Nachschub gesegneten Divisionen mit dem weißen Stern ausreichend Kampferfahrung erworben hatten, um in Nordfrankreich mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg das Wagnis einer Landung eingehen zu können. Auch die amerikanischen Kommandeure aller Ebenen und die gemeinsame Stabsorganisation der amerikanisch-britischen Allianz waren nach diesem ausgiebigen "Training" - außer den Japanern besaß inzwischen niemand vergleichbare Erfahrung mit amphibischen Operationen - so gut es ging für das zentrale strategische Unternehmen der Westmächte auf dem europäischen Kriegsschauplatz gerüstet: die Landung in Nordfrankreich am 6.Juni 1944. Ende 1943 gab Eisenhower den Oberbefehl im Mittelmeerraum und in Italien (wo das Jahr 1944 über in mühseligen Kampagnen ein "vergessener Krieg" geführt wurde 18) an den britischen General Wilson ab. Zu seiner eigenen Überraschung war ihm nämlich von dem aus Teheran zurückkehrenden Roosevelt persönlich eröffnet worden, er sei dazu ausersehen, auch die alliierte Landung in der Normandie und den Vorstoß nach Deutschland hinein zu befehligen. 19 1944 konnte Eisenhower mit ungleich größerer Zuversicht an seine Aufgaben herangehen als noch zwei Jahre zuvor. Er hatte, nicht eben triumphal und auch mit Glück, die strategischen Ziele der Westmächte im Mittelmeerraum ein entscheidendes Stück fördern können, hatte seine Fähigkeit zur Leitung militärischer Operationen größten Stils letztlich doch unter Beweis gestellt und bei Politikern wie Soldaten - dies sein dickster Posten auf der Habenseite - ein beträchtliches Vertrauenskapital ansammeln können. Außerdem verfügte der Supreme Commander nun über einen Befehlsapparat, der das "Ergebnis
" Ambrose, Eisenhower, S. 231. Dwight D. Eisenhower, Kreuzzug in Europa, Arnsterdarn 1948, S. 193. 17 Siehe Albert N. Garland, Howard McGaw Smyth, Sicily and the Surrender of Italy, Washington 1965. 18 Vgl. hierzu die Darstellung von Mark W. Clark, Calculated Risk, New York 1950. 19 Siehe Ambrose, Suprerne Cornrnander, S. 295 ff., insbes. S. 309. Vgl. Eisenhower, Kreuzzug, S. 252. Zum folgenden auch "Epilogue: Eisenhower on the Eve of Overlord" bei Ambrose, Suprerne Comrnander, S.319ff. 16
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I. Am Vorabend der Besetzung
eines Entwicklungsprozesses"2o eines ganzen Jahres war. Eisenhower zögerte nicht, den Stellen plan des AFHQ rücksichtslos durchzukämmen und sich die besten Leute für SHAEF und das Unternehmen "Overlord" zu sichern. Neben dem britischen Air Chief MarshaI Sir Arthur W. Tedder, der im MitteImeerraum Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte gewesen war und im Januar 1944 zum Stellvertreter Eisenhowers ernannt wurde, und dem amerikanischen General Carl Spaatz, der in Nordafrika als Tedders Stellvertreter und während der Invasion als Oberbefehlshaber der Uni ted States Strategie Air Force in Europe fungierte, hatte es Eisenhower verstanden, sich drei Schlüsselfiguren für "Overlord" zu sichern, mit denen er bereits in Nordafrika und Italien aufs engste zusammengearbeitet hatte: Walter Bedell Smith, Omar N. Bradley und George S. Patton. Eisenhower sah in Smith 21 , der im Herbst 1941 Sekretär des amerikanischen Generalstabs, im Februar 1942 U.S. Secretary bei den Combined Chiefs of Staff, im September desselben Jahres ETO-Generalstabschef und bald darauf Chief of Staff beim Obersten Befehlshaber geworden war, den "perfekten Stabschef", empfand ihn als ein "Geschenk des Himmels" und arbeitete mit ihm nach eigenem Zeugnis auch beim Feldzug in Nordfrankreich und Deutschland in vollkommener Harmonie zusammen. Jeder, der zu Eisenhawer wollte, mußte den Weg über Smith, sein Alter ego, nehmen. Für seine Untergebenen war das Rauhbein "Beetle" - er litt an Magengeschwüren und konnte entsprechend giftig sein - ein Mann von unerträglicher Bärbeißigkeit, der drohte, fluchte und schrie; ein "Terrorist im Büro". General Smith war es dann, der im Alliierten Hauptquartier in Reims in Eisenhowers Auftrag die Gespräche mit Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Jodl führte, die am 7. Mai 1945 zur Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde führten 22 ; das Dokument trägt seine "im Namen des Obersten Befehlshabers" geleistete Unterschrift. Von entgegengesetztem Naturell war General Omar N. Bradley, ein ausgeglichener und besonnener Mann, den seit den gemeinsamen Jahren in West Point eine enge Freundschaft mit Eisenhower verband. 23 Bradley war ein in allen Belangen herausragender Soldat mit ausgeprägtem Blick für die große strategische Linie. Er stieß Anfang Februar 1943 zum AFHQ und hatte als Kommandierender General des Ir. Corps kurz darauf bei der Einschließung des deutschen Afrika-Korps eklatante Erfolge vorzuweisen. Eisenhower, der Marshall geschrieben hatte, es gebe keine Position in der U.S. Army, für die Bradley sich nicht eigne, übertrug seinem bewährten Freund bei der Invasion den Oberbefehl über die First Uni ted States Army und vom 1. August 1944 an den über die Twelfth Army Group, dem Kraftzentrum der Expeditionsstreitkräfte. Im Frühjahr 1945 besetzten die drei Armeen Omar Bradleys (der später amerikanischer Generalstabschef werden sollte) den größten Teil des Reichsgebietes. Der beste General im Lager der Alliierten war nach deutschem Dafürhalten George S. Patton. 24 Auch Eisenhower, der ihn seit Ende des Ersten Weltkrieges und dem geEisenhower, Kreuzzug, S. 253. Die Charakterisierung nach Ambrase, Eisenhower, S. 187, und Eisenhower, Kreuzzug, S. 262. " Vgl. hierzu VII/5. 23 Das folgende nach: Eisenhower, At Ease, S. 261. Ambrase, Eisenhower, S. 47, S. 233 und S. 237. Eisenhower, Kreuzzug, S. 259. Vgl. auch: Omar N. Bradley, A Soldier's Story of the Allied Campaigns fram Tunis to the Eibe, London 1951. Omar N. Bradley, Clay Blair, A Genera!'s Life, New York 1983. 24 Die folgende Skizze nach: Ambrase, Eisenhower, S. 70, S. 237 und S. 290. Ambrase, Supreme Commander, S. 314. Eisenhower, At Ease, S. 172. Eisenhower, Kreuzzug, S. 260 und S. 269f. Siehe auch: George S. Pat-
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mein samen Aufbau der "Infantry Tank School" zu seinen Freunden zählte, bestritt nicht, daß Patton, der die amerikanischen Truppen bei der Landung auf Sizilien befehligt hatte, für kühne Kampfeinsätze großen Stils der beste Soldat sei, den die Vereinigten Staaten jemals hervorgebracht hätten. Gleichzeitig aber sicherte er Marshall zu, seinen Freund niemals für eine höhere Aufgabe als die eines Armee-Oberbefehlshabers in Vorschlag zu bringen. Denn George S. Patton, aus reicher, aristokratischer Familie stammend, war in Sprache, Kleidung und Manieren ein extrem exaltierter, impulsiver Mann und redete sich zum Kummer Eisenhowers, der ihn immer wieder stützen mußte, mit Stammtisch tiraden, rechtsradikalen und antisemitischen Ausfällen regelmäßig um Kopf und Kragen. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, Untergebene zu schlagen, was natürlich die stürmischsten Reaktionen innerhalb und außerhalb der Army provozierte. Aber auf dem Schlachtfeld war er unersetzlich. Das stellte er mit seiner legendären Third United States Army sowohl in Nordfrankreich als auch in Süddeutschland während des Frühjahrs 1945 zur Genüge unter Beweis. Krieg war sein Leben, und es spricht nichts dafür, daß er sich, wäre er nicht im Dezember 1945 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, im Frieden mit irgendeiner Position in den Streitkräften wirklich hätte anfreunden können. 2 > Als der Supreme Commander im Januar 1944 am Grosvenor Square in London eintraf, waren - seit Private First Class Milburn H. Henke aus Hutchinson, Minnesota, am 26.Januar 1942 am Dufferin Quay in Belfast als "erster G.I. in Europa" von Bord gegangen war 26 - ungefähr 750000 Mann aus den Vereinigten Staaten nach England verlegt worden. Jeden Monat kamen jetzt zwei neue Divisionen zu den Armeen der Alliierten hinzu, die zur Vernichtung des Nationalsozialismus bereitgestellt wurden. Schon einige Wochen vor seiner Ernennung zum Supreme Commander, Allied Expeditionary Force, hatte Eisenhower gegenüber einem Kameraden einige einfache, würdige Worte darüber gefunden, weshalb der Kampf geführt und gewonnen werden mußte: "Berufssoldaten werden nicht gerne allzu sentimental bei Dingen wie Fahne und Vaterlandsliebe", schrieb er. "Aber es ist wesentlich, daß jeder Soldat klar erkennt, daß das privilegierte Leben, das er in unserer Demokratie geführt hat, unmittelbar bedroht ist. Sein Recht, seine Meinung zu sagen, einen Beruf seiner Wahl zu ergreifen, jeder Konfession anzugehören, an jedem Ort zu leben, wo er für sich und seine Familie den Lebensunterhalt verdienen kann, fairer Behandlung sicher zu sein, wenn er eines Verbrechens angeklagt werden sollte - all das würde dahin sein, wenn die Kräfte, die uns gegenüberstehen, durch unsere Nachlässigkeit oder Überheblichkeit diesen Krieg gewinnen sollten."27
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ton, Krieg, wie ich ihn erlebte, Bern 1950. Martin Blumenson (Hrsg.), The Patton Papers, 1940-1945, Boston 1974. Robert S. Allen, Lucky Forward, The History of Patton's Third U.S. Army, New York 1947. Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 464. Norman Longmate, The G.l.'s. The Americans in Britain 1942-1945, London 1975, S. 1. Schreiben Eisenhowers an William L. Lee v. 29. 10.1943; in: Eisenhower-Papers, III, S. 1537.
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1. Am Vorabend der Besetzung
2. "Germany first" Der Weg in die Konfrontation General Eisenhowers Bekenntnis spiegelte in jedem Wort die Grundüberzeugung Franklin D. Roosevelts. Der amerikanische Präsident hatte immer verkündet und es fraglos immer auch so empfunden, daß es sich bei der Auseinandersetzung mit den expansionistischen Staaten in Europa und Asien - in Sonderheit bei dem Krieg gegen Hitler-Deutschland - nicht bloß um einen machtpolitischen Konflikt traditionellen Musters, sondern um einen "Weltbürgerkrieg"28, einen epochalen Kampf zweier unvereinbarer Grundprinzipien handle: auf der einen Seite der demokratisch-freiheitliche, rechtsstaatliche Gesellschaftsentwurf mit christlich-humanistisch fundiertem Menschenbild und privatkapitalistischer Wirtschaftsordnung, auf der Gegenseite die menschheitsfeindliche, rassistisch-totalitäre Willkürdoktrin der NS-Diktatur - letztlich nichts weniger als ein Ringen zwischen "Gut und Böse"29. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges beherrschte diese dichotomische Sicht beide verfeindeten Lager. Roosevelt und Hitler, die beide Anfang 1933 an die Spitze ihrer Staaten gelangten, beide Anfang 1945 starben und die beide das Schicksal ihrer Länder und den Lauf der Weltgeschichte beeinflußt haben wie wenige vor oder nach ihnen, schienen die im Widerstreit miteinander liegenden Prinzipien denn auch am eindringlichsten zu verkörpern und zu symbolisieren. In den ersten Jahren ihrer Regierungszeit spielte im politischen Kalkül Roosevelts wie Hitlers die jeweils andere Macht nur eine untergeordnete Rolle. Trotz einer in der Öffentlichkeit bald einsetzenden Kritik an den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes und trotz deutlicher Worte gegenüber den Aggressoren in Übersee, insbesondere im Herbst 1937 und im Frühjahr 1939, besaß der amerikanische Präsident - in dieser Phase "Internationalist als Isolationist"30 - angesichts der innenpolitischen Riesenaufgabe des "New Deal" und des Übergewichts des isolationistischen Lagers kaum außenpolitischen Handlungsspielraum zu wirkungsvoller Intervention in die Händel der Alten Welt. Hitler seinerseits wandte sich zunächst der Ausrichtung von Wehrmacht, Wirtschaft und Gesellschaft auf den kommenden Krieg zu und wußte parallel dazu mit scheinbar revisionistischen Schritten die deutsche Machtbasis in Mitteleuropa so zu verbreitern, daß er am 1. September 1939 relativ risikolos in Polen einfallen konnte. Auf seinem Weg in den europäischen Krieg hatte er den USA so gut wie keine Beachtung geschenkt und tatsächlich auch kaum Anlaß gehabt, diesem Machtfaktor Aufmerksamkeit zu widmen. Waren die Vereinigten Staaten nicht in der Lage gewesen und hatten sie auch wenig getan 3" um den Ausbruch der zunächst wie ein "europäischer Hegemonialkrieg"32 wirkenden Auseinandersetzungen auf dem Alten 28
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So Thomas Mann in seiner Rede bei der Trauerfeier für Roosevelt in Santa Monica am 13.4. 1945, in: Roosevelt spricht. Kriegsreden des Präsidenten, Stockholm 1945, S. 8. Jahresbotschaft Roosevelts an den Kongreß v. 6. 1. 1942; zit. nach: Roosevelt spricht, S. 237. Als sehr klaren komprimierten Abriß hierzu: DetlefJunker, Kampf um die Weltmacht. Die USA und das Dritte Reich 1933-1945, Düsseldorf 1988, S. 34ff. Dort auch ein Überblick über die wichtigste Literatur. Robert Dallek, Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932-1945, New York 1979, S. 99f. Paul W. Schröder, Die Rolle der Vereinigten Staaten bei der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, in: Klaus Hildebrand, Jürgen Schmädeke, Klaus Zernack (Hrsg.), 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System, Berlin 1990, S. 215 ff. Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg. Kriegführung und Politik, München 71982, S. 140. Für die hier
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Kontinent zu verhindern und jene "wunderlichen Leute, denen nichts heilig ist" (so Roosevelt Ende 1939 33), zu stoppen, so änderte sich das nun rasch. Das kriegführende nationalsozialistische Deutschland entwickelte sich binnen zweier Jahre zu ,,Amerikas Weltproblem und Feind Nr. 1"3\ dem mit aller Macht entgegenzutreten war. Aus der Perspektive Hitlers spitzte sich der schlummernde Antagonismus zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb der sechsundzwanzig Monate zwischen der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland am 3. September 1939 und der deutschen Kriegserklärung an die USA vom 11. Dezember 1941 mit genau derselben Rasanz zu. Amerika wurde in dieser Phase für Hitler "geradezu zum Angelpunkt seiner Weltkriegsstrategie"35. Wie sehr Hitler in seiner Beurteilung der Vereinigten Staaten auch schwankte, unterschätzt 36 hat er die USA als Machtfaktor nie. Beherrschte ihn zu Anfang seiner politischen Laufbahn die Vorstellung, daß die amerikanische Intervention 1917/18 den Ausschlag gegeben und der "Verrat" Präsident Wilsons Deutschland in die Niederlage getrieben hatte, so machten diese Reminiszenzen und Ressentiments in seinem 1928 niedergelegten "Zweiten Buch" einer ausgesprochenen Wertschätzung der amerikanischen Nation "als junges, rassisch ausgesuchtes Volk" Platz. 37 Nur eine "bewußt völkische" Rassepolitik könne Europa davor bewahren, ins Hintertreffen zu geraten. Aufgabe gerade der NS-Bewegung sei es, Deutschland innen- und außenpolitisch so in Form zu bringen und "rassisch zu heben", daß es Nordamerika eines Tages "die Stirne bieten" könne. Dieser Kampf um die Weltmacht würde freilich die Sache der Generationen nach ihm sein. 38 Den amerikanischen Kontinent mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen oder gar zu unterwerfen, das wußte er, würde zu seinen Lebzeiten unmöglich sein. 39 Die katastrophalen Folgen der Großen Depression gerade in den USA führten Hitler dann zu weniger positiven Urteilen 40 , und während des Krieges erging er sich fast nur noch in hohnvollen Tiraden und ignoranten Beleidigungen - ihn zeichnete eine "totale"41 Unkenntnis der angelsächsischen Welt aus - gegenüber dem "Land der Juden und des Jazz"42. Bezeichnend hierfür ist, daß Hitler einen Beitrag über Nordamerika im "Völkischen Beobachter" vom Januar 1942 als den besten Aufsatz lobte, den er jemals zu diesem Thema gelesen habe, welcher zu folgendem Resümee gekommen war: "Namenloses Elend und brutale Ausbeutung hinter sozialen Phrasen, geistige behandelten Zusammenhänge siehe auch Lothar Gruchmann. Völkerrecht und Moral. Ein Beitrag zur Problematik der amerikanischen Neutralitätspolitik 1939-1941, in: VfZ 8 (1960), S. 384ff. 33 Roosevelt in einer Botschaft an Königin Wilhelmina von Holland v. 19. 12. 1939; zit. nach Brooks van Everen, Franklin D. Roosevelt and the German Problem: 1914-1945, Diss., University of Colorado 1970, S.198. H Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 14. " Andreas Hillgruber, Hitler und die USA 1933-1945, in: Otmar Franz (Hrsg.), Europas Mitte, Göttingen 1987, S. 126. ,6 So Gerhard L. Weinberg, Hitler's Image of the United States, in: The American Historical Review LXIX (1964), Nr. 4, S. 1006 ff. 37 Hillgruber, Hitler und die USA, in: Franz (Hrsg.), Europas Mitte, S. 127. Zitate aus dem "Zweiten Buch" ebenda. Ja Andreas Hillgruber, Der Faktor Amerika in Hitlers Strategie 1938-1941, in: APuZ B 19/1966, S. 4. '9 Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 41 f. 40 Weinberg, Hitler's Image of the United States, S. 1010. 41 Van Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 199. 42 Robert Edwin Herzstein, Roosevelt and Hitler. Prelude to War, New York 1989, S. 32.
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Verkommenheit hinter protzenden Kulissen, moralischer Sumpf hinter scheinheiliger Arroganz, plutokratisches Verdummungsspiel und abgefeimter Gewissenszwang hinter pseudo-demokratischem Hokuspokus - das sind die ,vier Freiheiten', das ist in Wahrheit die ,amerikanische Lebensart'."43 Keinen seiner großen Widersacher verfolgte der "Führer" mit giftigeren Anwürfen und unflätigeren Beschimpfungen als seinen "Todfeind"44 Roosevelt. Diese mit den amerikanischen Erfolgen noch zunehmenden Ausfälle spiegelten die ohnmächtige Wut und die Hilflosigkeit Hitlers, der nur einen rhetorischen Schleier vor seine Erkenntnis gezogen hatte, daß es zuallererst die Amerikaner waren, die ihm den Weg zum Herrn über Europa verlegen konnten. Was er sich und seinen Gefährten über die amerikanische Dekadenz auch einreden wollte, Tatsache war, daß er seine ganze Blitzkrieg-Strategie darauf abgestellt hatte, Kontinentaleuropa zu unterwerfen, ehe Amerika (in dem er insgeheim den Idealtypus einer modernen autarken Großmacht sah 45 ) erneut sein Gewicht für die Demokratien in die Waagschale werfen konnte. Generaloberst Beck hatte bei seinem Rücktritt im Sommer 1938 nachdrücklich vor dessen Potenz gewarnt 46 , und 1939 war dem Kanzler vom Wirtschaftsstab des OKW prophezeit worden, in zwölf bis achtzehn Monaten werde die Rüstung der USA der aller anderen Staaten überlegen sein. 47 Ende 1940 stellte Hitler selber die Maxime auf, im Jahre 1941 müßten sämtliche kontinentaleuropäischen Probleme gelöst sein, da Amerika ab 1942 in der Lage sein würde, in den Konflikt einzugreifen. Auch Roosevelt faßte den Kurs seines Gegenspielers als tödliche Bedrohung auf. Nach Ansicht des Präsidenten stand für die Vereinigten Staaten bei der von ihm ebenso dramatisch empfundenen wie bewußt dramatisch gezeichneten Konfrontation mit Deutschland 48 nichts weniger auf dem Spiel als das amerikanische System selbst. Gewarnt durch die verheerenden Auswirkungen des Zusammenbruchs des Welthandels in der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre und alarmiert durch die deutschen und japanischen Bestrebungen, in Europa und Asien planwirtschaftlich orientierte, autarke Zonen einer strikt kontrollierten "Großraumwirtschaft"49 zu schaffen, war es sein Ziel, diese Abschottung zu verhindern, von der ihm die Gefahr eines neuerlichen Zusammenbruchs des Außenhandels und damit auch die Gefahr einer Zerstörung der Wirtschaftsordnung und des Gesellschaftssystems der Vereinigten Staaten selbst auszugehen schien. Es galt deshalb, die Weltmärkte zu öffnen bzw. offenzuhalten und die liberalen weltwirtschaftlichen Prinzipien zu verteidigen. 50
Das geht aus einem Brief des Gesandten Hewel an Paul Schmidt v. 15. 1. 1942 hervor. Abgedruckt in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie E: 1941-1945, Bd. I: 12. Dezember 1941 bis 28. Februar 1942, Göttingen 1969, S. 233. " Hillgruber, Hitler und die USA, in: Franz (Hrsg.), Europas Mitte, S. 140. " Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 24. 46 Siehe Saul Friedländer, Auftakt zum Untergang. Hitler und die Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 1965. " Vgl. Hillgruber, Faktor Amerika, S.8. Die folgende Äußerung Hitlers gegenüber Jodl v. 17. 12. 1940 eben da, S. 15. 48 Die einzelnen Stadien der Konfrontation sind nachgezeichnet bei Manfred Jonas, The Uni ted States and Germany. A Diplomatie History, lthaca 1984, S. 236 ff. 49 Hans-Jürgen Schröder, Deutschland und die Vereinigten Staaten 1933-1939. Wirtschaft und Politik in der Entwicklung des deutsch-amerikanischen Gegensatzes, Wiesbaden 1970, S. 286. '0 Siehe auch Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt 1985, S. 38 f.
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Die Entschlossenheit zur Sicherung des "unteilbaren Weitmarktes"S! gegen die Aggressoren in Europa und Asien war in dem globalistischen Ansatz des Rooseveltschen "progressiven Internationalismus"s2 zugleich "untrennbar mit der unteilbaren Sicherheit und der unteilbaren Freiheit verbunden"S3. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als Amerika sich auf sich selbst zurückgezogen hatte und zum Isolationismus zurückgekehrt war, sollten die Prinzipien des Völkerrechts und das Selbstbestimmungsrecht gerade auch von den Vereinigten Staaten mit durchgesetzt werden, gewaltsame Veränderungen des Status quo, wie sie in Europa und Asien in den dreißiger Jahren beinahe gang und gäbe geworden waren, im Sinne der Stimson-Doktrin nirgendwo auf der Welt anerkannt werden. Militärisch verlangte die Konzeption der "One World" mehr als nur eine Verteidigung des Territoriums der Vereinigten Staaten selbst. Eine solche Selbstbeschränkung allein auf die westliche Hemisphäre erschien den Internationalisten nachgerade "selbstmörderisch". Schutz und Kontrolle der Weltmeere würden nur möglich sein, wenn es den autoritären und totalitären Regimen nicht gelang, Europa und Asien in Hegemonialsphären zu verwandeln. Den angegriffenen und besetzten Ländern dort war deshalb nicht zuletzt deswegen zu Hilfe zu eilen, weil sie in ihrem Kampf gegen Deutschland, Italien und Japan nach internationalistischem Verständnis auch die Vereinigten Staaten mitverteidigten. Präsident Roosevelt, der die amerikanische Außenpolitik der Kriegsjahre als "seine sehr persönliche Politik"S4 zu gestalten verstand und geradezu in ein "Selbstverständnis als ,Messias' der Demokratie in bewußtem Kontrast zu Hitler"ss hineinwuchs, unterstrich deshalb schon lange vor der deutschen Kriegserklärung wieder und wieder, daß es ihm nicht um die Durchsetzung abstrakter idealistischer Prinzipien, sondern um die ureigensten Interessen der USA gehe. Im Juli 1941 etwa schrieb er: "Daß die Nazis neutrale Länder angriffen und in diese einfielen, daß sie alle Grundsätze des Völkerrechts verletzten, daß sie besetzte Länder der Verfolgung durch ihre Geheimpolizei und deren Brutalität überantworteten, daß sie sich rücksichtslos zum Herrn kleiner und wehrloser Nationen machten, all das hat klar gezeigt, daß die Nazis mit einem festen Programm der Weltherrschaft begonnen hatten, das eine direkte und ernsthafte Bedrohung der Vereinigten Staaten und der Westlichen Hemisphäre darstellte."s6 Mit solcher Einsicht stand er nicht allein; für den Präsidenten war der Kampf gegen die isolationistische Opposition aber vor allem deshalb so schwierig zu führen, weil die Vereinigten Staaten damals die einzige Macht von Rang waren, die sich (anders als China, Großbritannien, Frankreich oder die Sowjetunion) den Luxus gestatten konnten, ausgiebig darüber zu debattieren, ob sie nun von Deutschland ernstlich bedroht waren oder nicht. 57 Obwohl die Mehrzahl der Amerikaner nicht darDetle! Junker, Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 19331941, Stuttgart 1975, S 283. " Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949, 2. erweiterte Auflage, Stuttgart 1980, S.41. 53 Junker, Unteilbarer Weltmarkt, S. 283. Das folgende vorwiegend nach Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 381.; Zitat ebenda, S. 38. " Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 42. Hervorhebung im Original. " Detle! Junker, Franklin D. Roosevelt. Macht und Vision: Präsident in Krisenzeiten, Zürich 1979, S. 121. 56 Einleitung Roosevelts zu Bd. VIII seiner "Public Papers", S. XXXIX, von Juli 1941; zit. nach Van Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 263 I. 57 Jonas, United States and Germany, S. 236. 51
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an zweifelte, daß Hitler letztlich auch die USA erobern wollte 58 , behaupteten nicht einmal die Interventionisten ernstlich, die Wehrmacht sei zu einer erfolgreichen Invasion des nordamerikanischen Festlands in der Lage. Da die territoriale Integrität der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg offenkundig ungefährdet 59 war und daher von einem existentiellen und unmittelbaren Zwang zur Selbstverteidigung nicht gesprochen werden konnte, ist zu Recht hervorgehoben worden, daß die "Vorwegnahme der Zukunft", die Furcht vor den Konsequenzen eines Sieges der Achsenmächte für die Stellung der Vereinigten Staaten, das "entscheidende, reale Motiv für die Politik Roosevelts vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg" gewesen ist. 60 Daß sich der Zwang zur Selbstverteidigung und zur Wahrung der amerikanischen Interessen, wie der Präsident sie verstand, mit den "altüberkommenen Ideen eines von messianischem Selbstbewußtsein beflügelten Liberalismus" verknüpfen und zu einer "volkstümlichen Kriegsideologie"61 bündeln ließ, war auch im Hinblick auf die seit 1939 eher noch gewachsene mächtige isolationistische Strömung für einen Mann wie Roosevelt ebenso naheliegend und verlockend wie innenpolitisch notwendig. Zwischen dem Beginn der Feindseligkeiten in Europa, bei dem Amerika seine Neutralität erklärte, und der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten gelang es dem in seiner Handlungsfreiheit juristisch und politisch stark eingeschränkten Präsidenten, seine Nation mit allen ihm zu Gebote stehenden, von der einfachen Lüge über die "gröbliche Entstellung der wahren Vorgänge"62 bis zur kunstvollen Verschleierung reichenden Mitteln Schritt für Schritt näher an die Seite der bedrohten europäischen Demokratien zu führen. Zum eigentlichen Alarmsignal wurde für ihn der Fall Frankreichs 63 , und es war wesentlich Roosevelts persönliche, mit den Empfehlungen der eigenen Militärs nicht immer harmonisierende Entschlossenheit, Großbritannien unbedingt im Kampf gegen Hitler zu halten 64 , die nicht bloß den Wechsel Amerikas von der Neutralität in den Status der "Nichtkriegführung"65 beschleunigte, sondern "den ganzen weiteren Verlauf und den Ausgang des Krieges"66 bestimmte. Die "Strategie einer globalen Vorwärtsverteidigung", bei der sich der Unterschied zwischen offensiv und defensiv bis zur Unkenntlichkeit verwischte 67 , kam in einer Vielzahl direkt gegen die Achse gerichteter Schritte zum Ausdruck, die nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion (die UdSSR kam seit November 1941 in den Genuß des "Lend-Lease"-Programmes) noch einmal forciert wurden. Aus dem ,,Arsenal der Demokratie" floß nicht nur ein Strom dringend benötigter Waffen und Kriegsmaterialien Detlef Junker, Roosevelt und das nationalsozialistische Deutschland, in: Franz (Hrsg.), Europas Mitte, S. 152. '9 Herzstein, Roosevelt and Hitler, S. 412. 60 Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 37. Siehe auch Van Everen, Roosevelt and the German Problem, S.250. 61 Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 43. 62 Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, München 61978, S. 228. 6' Siehe Robert E. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, Hamburg 1950, S. 110f. 64 Im einzelnen Horst Boog, Die Anti-Hitler-Koalition, in: Horst Boog, Wemer Rahn, Reinhard Stumpf, Bemd Wegner, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6: Der globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990, S. 7 H. 6' Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 143. Ebenda, S. 140, auch ein konziser Überblick über die einzelnen Schritte Roosevelts von der amerikanischen Neutralität im Herbst 1939 bis zum faktischen Kriegszustand mit den Achsenmächten im Herbst 1941. 66 Hillgruber, Faktor Amerika, S. 11. 67 So Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 32; Zitat ebenda. 58
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nach Übersee, die Vereinigten Staaten schoben die von ihnen beanspruchte Sicherheitszone nach und nach über die Mitte des Nordatlantiks nach Osten vor, hielten geheime Stabsbesprechungen mit Großbritannien ab, führten (zum ersten Mal in ihrer Geschichte) die allgemeine Wehrpflicht ein, froren die deutschen und italienischen Guthaben in den USA ein und landeten - von den Deutschen als besondere Provokation empfunden - am 7.Juli 1941 in Island. Roosevelts "Schießbefehl" von Mitte September, die entschiedenste amerikanische Maßnahme "short of war", die ein offensives Vorgehen gegen Schiffe der Achse erlaubte, gilt gemeinhin als der Beginn des faktischen, wenn auch noch unerklärten Kriegszustandes zwischen Deutschland und den USA. 68 Dennoch bleibt fraglich, ob es dem Präsidenten trotz schwerer bewaffneter Zwischenfälle im Atlantik gelungen wäre, die Nation in den Kampf gegen die Aggressoren in Übersee zu führen, wenn die Japaner nicht im Pazifik losgeschlagen hätten, denn die Isolationisten waren am Vorabend von Pearl Harbor rühriger denn je. Senator Vandenberg notierte sich über den 7. Dezember 1941, an dem die Brandherde des Krieges in Europa und Asien ineinanderzuschlagen begannen 69 , in sein Tagebuch: "Dieser Tag hat für jeden Realisten dem Isolationismus ein Ende gesetzt."70 Der Weg des Deutschen Reiches in den Krieg mit Amerika führte ebenfalls über Pearl Harbor. Da Hitler ihn trotz oder gerade wegen der Rooseveltschen Vorwärtsstrategie im Westen aus freien Stücken beschritt, waren es "zwei Wege"71, auf denen die beiden Großmächte in die direkte Konfrontation zogen. Das strategische Interesse Hitlers nach der Niederwerfung Frankreichs war es, die Vereinigten Staaten um beinahe jeden Preis aus seinem Eroberungskrieg in Europa herauszuhalten. Zum überragenden Kalkül wurde diese Strategie der ,,Abschreckung" der USA seit dem im Sommer 1940 gefaßten Entschluß, im nächsten Jahr die Sowjetunion zu überfallen, diese ebenfalls in einem Blitzkrieg auszuschalten und damit Großbritannien, das sich dem Reich nicht beugen wollte, den russischen "Festlandsdegen" aus der Hand zu schlagen. Hitler und sein Außenminister Ribbentrop ließen deshalb nichts unversucht, den Vereinigten Staaten klarzumachen, daß sie bei einem militärischen Eingreifen in Europa das Risiko eines Zweifrontenkrieges liefen - die politische Botschaft des deutschitalienisch-japanischen Dreimächtepaktes vom September 1940. Um die bestehende eigene Front im Westen und die im Juni 1941 eröffnete Front im Osten zu entlasten, tat die deutsche Führung zugleich alles, den japanischen Bündnispartner zu einem aktiven Vorgehen gegen die britischen Besitzungen in Ostasien und dann vor allem zu einem Angriff auf die Sowjetunion von Osten her zu bewegen. Tokio, dessen Expansionismus in den pazifischen Raum zielte, blieb freilich aus wohlerwogenem Eigeninteresse sehr darauf bedacht, gegenüber der Sowjetunion strikte Neutralität zu wahren. Der steigende amerikanische Druck im Atlantik, der Feldzug gegen die Sowjetunion und die bedrohliche Aussicht einer Verständigung zwischen Japan und den Vereinigten Staaten über einen modus vivendi in Asien bei den im Frühjahr 1941 aufgenommenen Verhandlungen ließen das Gewicht des fernöstlichen Partners (mit dem es nie zu einer wirklichen Abstimmung des politischen oder militärischen Vorgehens 68
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Friedländer, Auftakt zum Untergang, S. 198. Zum folgenden eben da, S. 215. Siehe auch Van Everen, Roosevelt and the Gerrnan Problem, S. 207. Robert A. Divine, Roosevelt and World War IJ, Baltimore 1969, S.45. Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 171. Zit. nach Manfred Jonas, Isolationism in America 1935-1941, lthaca 1966, S. 273. Jonas, United States and Germany, S. 240.
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gekommen ist) für Deutschland beständig größer werden. Ohne eine Verwicklung der Amerikaner in einen Krieg in astasien schien es auf Dauer weder möglich, die im Atlantik immer aktiver werdenden USA weiterhin von einem Eingreifen auf dem europäischen Kriegsschauplatz abzuschrecken, noch - wenn die Abschreckung versagen sollte - einen wenigstens halbwegs aussichtsreichen Krieg gegen die Vereinigten Staaten zu führen, in dem es nicht um deren "Besiegung" gehen konnte (so realitätsblind war Hitler 1941/42 nicht), wohl aber darum, den Amerikanern den Zutritt zu einem vollständig von Deutschland beherrschten Kontinent dauerhaft zu verwehren. Als der Führung in Tokio im Herbst 1941 deutlich wurde, daß die Verhandlungen mit Washington (die ausschließlich der Durchsetzung ureigener japanischer Interessen dienten und nicht etwa auch das komplizierte Kalkül des deutschen Verbündeten mitberücksichtigten) nicht nur zu keinem Ergebnis führen würden, sondern Japan faktisch vor die Wahl gestellt war, seine Hegemonialbestrebungen aufzugeben oder sehr schnell militärisch alles auf eine Karte zu setzen, erlebte das labile Zweckbündnis zwischen den Aggressoren der östlichen und der westlichen Hemisphäre plötzlich einen mächtigen Aufschwung. Ohne die Deutschen über die dramatische Verschlechterung des japanisch-amerikanischen Verhältnisses oder gar die eigenen Angriffsabsichten auf die pazifischen Stützpunkte der USA (und Großbritanniens) zu informieren, holte sich Tokio im November 1941 in Berlin die bereitwillig gegebene Zusicherung, daß Deutschland im Falle eines japanisch-amerikanischen Konflikts keinen Sonderfrieden mit den Vereinigten Staaten schließen würde. 72 Hitler und Ribbentrop kam die nun offensichtlich viel entschlossenere Haltung Tokios, um die sie sich seit Monaten vergebens bemüht hatten und die sie jetzt nicht durch ein Zögern ihrerseits gefährden durften, sehr entgegen, denn nach Lage der Dinge schien mit den von Roosevelt seit Sommer 1941 getanen Schritten ein Kriegseintritt der Vereinigten Staaten in Europa wahrscheinlicher als deren militärisches Engagement in Fernost. Die neuen Signale aus Tokio zerstreuten einige der mit gutem Grund lange gehegten Zweifel Hitlers, ob es je gelingen werde, Japan in den Konflikt zu ziehen und auf diese Weise den Hauptfeinden des Reiches - Großbritannien, der Sowjetunion und den USA ebenfalls einen Kampf an zwei Fronten zu bescheren, in dem sich Deutschland seit seinem Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 befand. Die wachsende Besorgnis über die Haltung der Vereinigten Staaten leitete sich natürlich aus dem Angelpunkt aller strategischen Überlegungen Hitlers ab, dem Feldzug gegen die Sowjetunion. Die längerfristige Bedeutung und das Gewicht des Faktors USA für die gesamte Kriegsplanung hingen in seinen Augen direkt von der militärischen Entwicklung im Osten ab. Der angestrebte schnelle Sieg über die Rote Armee würde die alleinige deutsche Herrschaft über den Kontinent und auch schon fast die Gewähr einer schließlichen Niederwerfung Großbritanniens bedeuten. Die meisten deutschen und alliierten Militärs rechneten angesichts der enormen Erfolge der Wehrmacht während des Sommers 1941 auch mit einem raschen Zusammenbruch der Sowjetunion, doch im Herbst mehrten sich die Anzeichen dafür, daß diese Prognosen wahrscheinlich voreilig gewesen waren. Hitler selbst, letzte und unangefochtene In72
Im einzelnen hierzu Eberhard Jäckel, Die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten von 1941, in: Friedrich J. Kroneck, Thomas Oppermann (Hrsg.), Im Dienste Deutschlands und des Rechtes. Festschrift für Wilhelm G. Grewe zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 1981, Baden-Baden 1981, S. 117fl., insbes. S. 124ff. Detailliert dazu Gerhard Krebs, Deutschland und Pearl Harbor, in: HZ 253 (1991), S. 313ff.
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stanz bei allen operativen und strategischen Entscheidungen, begann im Laufe des November 1941 nach und nach die Hoffnung zu verlieren, vor Wintereinbruch den erwarteten Blitzsieg im Osten doch noch erzwingen zu können. Die Perspektive, den Feldzug in Rußland wohl erst nach einer ausgedehnten "Winterpause", im Sommer 1942, erfolgreich abschließen zu können, und die erfreulichen Signale aus Tokio führten nun "binnen weniger Wochen zu einem Umschwung der Hitlerschen Amerikapolitik"B Die Strategie der Abschreckung der USA schien durch das Verfehlen des deutschen Kriegsziels im Osten weitgehend erschöpft, und die Wahrscheinlichkeit eines amerikanischen Eingreifens auf seiten Englands vor einem siegreichen Ende des Krieges gegen die Sowjetunion war sehr stark angestiegen; das war angesichts des "Schießkrieges" im Atlantik eine plausible Annahme. Die größte Chance, in der kritischen Lage im Osten die Westfront von britischem und amerikanischem Druck zu entlasten und "wenigstens einen Teil des angelsächsischen Kriegspotentials" nach Fernost abzulenken, sah Berlin in der kräftigen Ermunterung Japans, den militärischen Druck gegenüber den angelsächsischen Mächten im ostasiatischen Raum entscheidend zu verstärken. Diese Bemühungen lagen in der Kontinuität einer gegenüber Tokio seit langem verfolgten deutschen Politik, auch wenn sich deren Vorzeichen hinsichtlich der USA nun gewandelt hatten. Das aufgrund des 1941 ausgebliebenen Sieges über die Sowjetunion veränderte Kalkül des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht wurzelte keineswegs in der Überzeugung, nunmehr etwa an die Peripetie des Krieges gelangt zu sein und die eigenen Kräfte definitiv überspannt zu haben, sondern sie basierte im Gegenteil auf der Annahme Hitlers, "im Jahre 1942 doch noch im Osten einen vollen Sieg erzwingen zu können"74. Mit dieser Annahme stand der "Führer" Ende 1941 nicht allein, und sie war auch weniger verwegen, als sie im Licht der weiteren Entwicklung später manchem erschienen ist. Zwar hatte die Wehrmacht im Osten bislang ungekannte Verluste hinnehmen müssen, zwar hatte das Scheitern des Blitzkriegskonzeptes vor Moskau die deutsche politische und strategische Handlungsfreiheit erheblich beschnitten, zwar begann der Zeitfaktor nunmehr eine immer wichtigere Rolle in der Kriegsplanung des Reiches zu spielen, doch das eigentliche Ziel Hitlers, ein von Deutschland beherrschter, unangreifbarer Kontinentalblock Europa, konnte Ende 1941 noch nicht als verfehlt oder unerreichbar gelten. Hitler und die von der eigenen Leistungsfähigkeit überzeugte Wehrmachtsführung wußten, daß sie diese Befestigung Europas erreichen mußten, ehe die Vereinigten Staaten ihr Potential voll in die Waagschale werfen konnten, d.h. spätestens 1942/43. Sie wußten auch, daß die Sicherung einer solchen "Festung Europa" nur durch einen nach der "Winterpause" 1941/42 neu aufgenommenen, zweiten Feldzug gegen die scheinbar ausgeblutete und vor dem Kollaps stehende Sowjetunion erreicht werden konnte, der zumindest einen vorläufigen Abschluß des Ostkrieges zu bringen hatte. Trotz mancher warnender Stimmen herrschte im deutschen Lager, namentlich im OKW, insgesamt denn auch ein gewisses Maß an-
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Bemd Wegner, Hitlers Strategie zwischen Pearl Harbor und Stalingrad, in: Horst Boog, Wemer Rahn, Reinhard Stumpf, Bemd Wegner, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 99. Hervorhebung von mir. Nach dieser überzeugenden Analyse auch das folgende. Nachfolgendes Zitat ebenda, S. 100. Hillgruber, Hitler und die USA, in: Franz (Hrsg.), Europas Mitte, S. 138. Ebenso Wegner, Hitlers Strategie, in: Horst Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 111.
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Optimismus und Zuversicht darüber, noch vor dem entscheidenden Auftreten der Amerikaner in Europa "zur Abrundung", so der Wehrmachtsführungsstab Mitte Dezember 1941, "eines wirtschaftlich lebensfähigen und militärisch und politisch verteidigungsfähigen Machtbereichs" zu kommen. 75 Die Ereignisse, die zur Globalisierung des Krieges 76 führten, hatten sich in der ersten Hälfte des Dezember 1941 überschlagen. Ohne zu ahnen, daß der Befehl zum Angriff auf Pearl Harbor am 1. Dezember in Tokio ergangen war, aber in dem klaren Bewußtsein, daß ein amerikanisch-japanischer Krieg nicht mehr fern war, kam Hitler nach entsprechenden japanischen Sondierungen vermutlich am 4. Dezember77 zu dem Entschluß, bei einem Angriff Japans gegen die Vereinigten Staaten den USA seinerseits den Krieg zu erklären. 78 Am 5. Dezember trat im Osten die Rote Armee zu ihrer Gegenoffensive an, die ihr strategisches Ziel, die Vernichtung der deutschen Armeen, nicht zuletzt wegen der ebenfalls in der ersten Dezemberhälfte ergangenen Halte-Befehle Hitlers aber nicht erreichte. 79 Am selben Tag kam die Nachricht vom japanischen Überfall auf die amerikanischen und britischen Stützpunkte in astasien, und am Nachmittag des 11. Dezember 1941 (nachdem Japan, Deutschland und Italien die gegenseitige Verpflichtung eingegangen waren, nicht einseitig einen Sonderfrieden mit den USA zu schließen) erklärte Hitler, der sich der Bedeutung des amerikanischen Gewichts in einem längeren Krieg genau bewußt war 80 , in einer Reichstagsrede den Vereinigten Staaten den Krieg. Innerhalb des Horizonts Hitlerschen Denkens war das durchaus kein "rätselhafter"81, sondern in der Tat ein "zweckentsprechender Schritt", mit dem er vor allem seinem überragenden Ziel näherkommen wollte, nämlich den Krieg gegen die Sowjetunion "zusammen mit Japan trotz allem"82 zu gewinnen. War der für 1942 ins Auge gefaßte zweite Anlauf, die UdSSR endgültig in die Knie zu zwingen, auch das überragende Ziel, dem Hitler mit der Kriegserklärung an die USA am besten näherzukommen meinte, so spielte bei dem folgenreichen Schritt vom 11. Dezember 1941 noch eine Reihe weiterer Motive und Überlegungen mit. Die offene Konfrontation mit Amerika ermöglichte es der deutschen Marine, den Seekrieg im Atlantik endlich (wie sie es seit Monaten immer dringlicher gefordert hatte) in vollem Umfang aufzunehmen, so zu einer wirksameren Blockade der britischen Inseln zu kommen und dabei möglichst viel bei einem Invasions-Versuch dann vielleicht fehlenden amerikanischen Schiffsraum zu versenken. 83 Der deutsche Befehl zur uneingeschränkten Bekämpfung aller Schiffe der USA erging denn auch bereits zwei
" Zit. nach eben da, S. 103. 76 Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 172. 77 Jäckel, Deutsche Kriegserklärung, in: Kroneck, Oppermann (Hrsg.), Im Dienste Deutschlands, S. 131. 78 Krebs, Deutschland und Pearl Harbor, S. 348 ff. 79 Jürgen Förster, Das Unternehmen "Barbarossa" - eine historische Ortsbestimmung, in: Horst Boog,Jürgen Förster, Joachim Hoffmann, Ernst K1ink, Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 1086. 80 Friedländer, Auftakt zum Untergang, S. 215. 81 Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 32. 82 Jäckel, Deutsche Kriegserklärung, in: Kroneck, Oppermann (Hrsg.), Im Dienste Deutschlands, S. 137. Hervorhebung von mir. 83 Gerhard L. Weinberg, Germany's Declaration of War on the United States: A New Look, in: Hans L. Trefousse (Hrsg.), Germany and America: Essays on Problems of International Relations and Immigration, New York 1980, S. 65.
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Tage vor der offiziellen Kriegserklärung. Ferner mag man in Berlin gehofft haben, bei einem zügigen Fortschreiten der japanischen Expansion im Pazifik und bei gleichzeitigen überzeugenden Erfolgen der deutschen Sommeroffensive 1942 in Rußland werde sich Tokio vielleicht doch noch dazu entschließen, wenn schon nicht die Sowjetunion von Osten her anzugreifen 84 , so doch wenigstens die alliierten Lieferungen via Wladiwostok zu unterbinden. Ein tiefer liegendes, für Hitler insgeheim vielleicht sogar das überragende Motiv für den spektakulären Entschluß vom Dezember 1941, der treffend auch als eine aus bereits eingeschränkter Handlungsfreiheit heraus angetretene "Flucht nach vorn"85 charakterisiert wurde, war der propagandistische Effekt, der sich auf dem Höhepunkt der Winterkrise in Rußland und im Augenblick des Scheiterns der Blitzkriegstrategie gegenüber der eigenen Bevölkerung, gegenüber den Militärs und gegenüber den verbündeten Staaten erzielen ließ. Nur mit einer solchen Demonstration von Zuversicht und Kühnheit waren in Hitlers Augen wohl neben den für nötig gehaltenen strategischen auch die erforderlichen psychologischen Voraussetzungen für den 1942 im Osten zu unternehmenden letzten Versuch zu schaffen, doch noch, wie AlfredJodl später sagte, "das Schicksal zu wenden"86. Der Jubel und die Erleichterung in der deutschen Führungsspitze über die vermeintlich kühne Herausforderung der Vereinigten Staaten 87 zeigten, daß der Oberste Befehlshaber die Gemütsverfassung seiner Mitarbeiter und Anhänger richtig beurteilte. Seit 1941/42 standen in der Tat immer mehr Entscheidungen des Diktators unter "seinem ,kategorischen Imperativ' von der unbedingten Gewinnbarkeit des Krieges"88 und unter "Defaitismus-Tabu"89. Das der Kriegserklärung an die USA vom 11. Dezember 1941 zugrundeliegende Kalkül erschließt sich freilich auch ohne Heranziehung dieser beiden zentralen Handlungsmaximen des zunehmend stärker in Bedrängnis geratenden Diktators.
Mobilisierung gegen Hitler Das Desaster von Pearl Harbor und die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten brachten den Isolationismus zum Schweigen, befreiten Roosevelt von seinen innenpolitischen Fesseln und gaben ihm endlich die Handhabe, das Gewicht der USA voll zugunsten der alliierten Sache in die Waagschale zu werfen. Die Bedrohung in Ostasien änderte nichts daran, daß der Präsident weiterhin Hitler als Hauptfeind betrachtete und als erstes Deutschland militärisch niedergeworfen sehen wollte. Die Strategie des "Germany first" entsprach ganz der in den amerikanischen Streitkräften vorherrschenden, bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückreichenden Denktradition, nach der sich die Vereinigten Staaten in einem möglichen Zwei-Ozean-Krieg zuerst auf den Atlantik zu konzentrieren hätten ("Bekämpfe zuerst die starke Atlantik-
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Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 171. Wegner, Hitlers Strategie, in: Boog U.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 98. Zit. nach Hillgruber, Faktor Amerika, S. 21. Vgl. Krebs, Deutschland und Pearl Harbor, S. 357. Wegner, Hitlers Strategie, in: Boog U.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 115. Ders., Der Krieg gegen die Sowjetunion 1942/43, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 803.
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macht'VO Dieses strategische Grundprinzip war bereits im Februar und März 1941 in den unter strengster Geheimhaltung geführten amerikanisch-britischen Stabsbesprechungen 91 für den Fall bekräftigt worden, daß die USA in den Krieg eintreten und die beiden angelsächsischen Mächte eine militärische Allianz bilden würden. Diese Strategie kam Großbritannien und dann der Sowjetunion natürlich sehr entgegen, entsprang zuallererst aber ureigenen amerikanischen Interessen. Die Kontrolle der atlantischen Seewege war seit jeher vitales Element der Verteidigungsdoktrin der Vereinigten Staaten gewesen. Die Konzentration auf den Krieg im Atlantik und in Europa ermöglichte eine Bündelung der Kräfte, erlaubte Operationen in relativer Nähe des Mutterlandes und bot darüber hinaus die Chance, mit den britischen Inseln die Ausgangsbasis für eine spätere Invasion der "Festung Europa" zu verteidigen und auszubauen. Zugleich war die Strategie des "Germany first" das beste Mittel gegen den Versuch Hitlers, 1942 doch noch die Arrondierung und uneingeschränkte Kontrolle eines von See her dann wohl kaum noch zu erobernden Kontinentalimperiums zu erreichen. Die sofort nach der Ausweitung des europäischen Krieges zum Weltkrieg nach Washington einberufene erste amerikanisch-britische Kriegskonferenz (,,Arcadia") sie tagte vom 22. Dezember 1941 bis zum 14. Januar 1942 - brachte ungeachtet mancher skeptischer Stimmen die Bekräftigung der ein Jahr zuvor ins Auge gefaßten strategischen Grundorientierung durch Roosevelt und Churchill. 92 Zwischen den führenden alliierten Militärs wie General Marshall und Admiral Harold R. Stark auf amerikanischer sowie Feldmarschall Sir John Dill und Admiral Sir Dudley Pound auf britischer Seite bestand kein Dissens darüber, daß Deutschland die dominierende Macht der Achse und damit trotz des Kriegseintritts Japans der "Hauptfeind" der Alliierten und "seine Niederlage der Schlüssel zum Sieg"93 sei. Mit den Combined Chiefs of Staff (CCS) - eine Idee Marshalls - wurde auf dieser Konferenz auch gleich ein Hauptinstrument der angelsächsischen Kriegskoalition geschaffen. Das amerikanischbritische Komitee der Vereinigten Stabschefs, das bereits am 9. Februar 1942 das erste Mal tagte, hatte maßgeblichen Anteil an den militärischen Erfolgen der Allianz im Kampf gegen die Achsenmächte; zwischen diesen war es niemals auch nur zu annähernd vergleichbaren Anstrengungen einer strategischen und operativen Koordination gekommen. Nicht nur wegen der Fülle wichtigster militärischer Beschlüsse und strategischer Übereinkünfte, sondern auch in politischer Hinsicht war die ,,Arcadia"-Konferenz in Washington ein Meilenstein auf dem Wege der angelsächsischen Kriegskoalition und ihrer Verbündeten zum Sieg in Europa und Asien. Denn am 1. Januar 1942 unterzeichneten die Vereinigten Staaten, Großbritannien, die Sowjetunion, China und 22 weitere Staaten die "Declaration by United Nations". In dieser Erklärung, der bis 90
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Forrest C. Pogue, George C. Marshall: Ordeal and Hope 1939-1942, London 1968, S. 123. Im Detail hierzu Louis Morton, Germany First: The Basic Concept 01 Allied Strategy in World War II, in: Kenl Roberts Greenfield (Hrsg.), Command Decisions, Washington 1960, S. 1 I ff. Im einzelnen Maurice Madolf, Edwin M. Sn eIl, Strategie Planning for Coalition Warfare 1941-1942, Washington 1953, S 32 ff. Zu ,,Arcadia" siehe: Pogue, Marshall: Ordeal and Hope, S. 261 ff. Madoff, SneIl, Strategie Planning, S. 97ff. DaIlek, Roosevelt, S. 318ff. ,,American-British Grand Strategy", Memorandum der amerikanischen und britischen Stabschefs v. 31. I 2. 1941; FRUS, Conferences at Washington, 1941-1942, and Casablanca, 1943, S. 210. Siehe auch Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 354 f.
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"Germany first"
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Kriegsende noch zwanzig weitere Nationen beitraten, verpflichteten sich die Signatarstaaten, ihre ganze Kraft gegen den gemeinsamen Feind einzusetzen und nicht durch einen Waffenstillstand oder einen Separatfrieden aus der Front der Alliierten auszuscheren. 94 Ähnlich wie die Bekräftigung der "Germany first"-Strategie durch Roosevelt und Churchill, die auf beinahe ein Jahr zurückliegende amerikanisch-britische Absprachen zurückging, bezog sich auch die Erklärung der Vereinten Nationen explizit auf eine Plattform politisch-militärischer Zielsetzungen und völkerrechtlich-moralischer Wertvorstellungen, die Amerikaner und Briten mit der ,,Atlantik-Charta" ebenfalls schon vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten geschaffen hatten. Das erste Gipfeltreffen 95 zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem britischen Premierminister, das vor Neufundland stattfand und als dessen greifbares Ergebnis diese "Gemeinsame Erklärung" vom 14. August 1941 96 durch die Presse ging, diente neben einer allgemeinen Aussprache über die Weltlage und der Koordination des politischen und enger werdenden militärischen Zusammenspiels 97 insbesondere der Erörterung der amerikanischen Hilfslieferungen und der amerikanischen Unterstützung für das bedrängte Großbritannien im Atlantik. Wenn auch das greifbare politisch-militärische Engagement der Vereinigten Staaten hinter den britischen Hoffnungen und Erwartungen zurückblieb, so ging, was die amerikanische Position anbelangte, von Placentia Bay dennoch ein eminentes Signal aus, und zwar sowohl vom Charakter des Treffens wie auch von Sprache und Inhalt der ,,Atlantik-Charta"98 her. Denn in der Tat war es ziemlich "auffällig"99, daß der Präsident der formell neutralen Vereinigten Staaten auf dem umkämpften Atlantik mit dem Regierungschef des kriegführenden Großbritannien zusammentraf und sich dabei öffentlich und völlig unmißverständlich das Ziel der militärischen Niederwerfung des Deutschen Reiches zu eigen machte. Daran konnte nach der "Gemeinsamen Erklärung" der beiden Staats- und Regierungschefs, die eine Friedensordnung - so wörtlich - "nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei" skizzierte, kein Zweifel bestehen: Mussolini sagte Ende August 1941 denn auch zu Hitler, die Haltung der USA sei "von nun an völlig klar'Hoo. Die ungeheure Folgewirkung der in der ,,Atlantik-Charta" niedergelegten allgemeinen Leitlinien und politischen Prinzipien, die nicht nur die Substanz der "Declaration by United Nations" vom 1. Januar 1942 bildeten, sondern 1945 auch zum Kernstück der UNO-Charta und damit zur "Keimzelle"101 der Vereinten Nationen wurden, war zum Zeitpunkt ihrer Verkündung weder vorauszuahnen noch beabsichtigt. Die von Roosevelt seit dem Sommer 1940 wiederholt herausgestellten "Vier Freihei94 9' 96
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"Deelaration by United Nations", 1. Januar 1942; FRUS 1942, I, S. 25 ff. So Theodore A. Wilson, The First Summit: Roosevelt and Churchill at Placentia Bay 1941, Boston 1969. ,Joint Statement by President Roosevelt and Prime Minister ChurchiIl, August 14, 1941"; FRUS 1941, I, S. 367 H. So Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 23, der sich eingehend mit der Atlantik-Konferenz vom 9. bis 12. 8. 1941 und der "Atlantik-Charta" befaßt; dort auch Literaturhinweise. Siehe Jonas, United States and Germany, S. 250. Angermann, Vereinigte Staaten, S. 226. Unterredung Hitler-Mussolini am 25.8. 1941 im Führerhauptquartier in Ostpreußen; zit. nach Friedländer, Auftakt zum Untergang, S. 182. Hervorhebung von mir. Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 173.
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I. Am Vorabend der Besetzung
ten"I02 aufnehmend und über sie hinausweisend, entwarf die amerikanisch-britische Erklärung nichts weniger als eine künftige Weltordnung. Nach der Versicherung, selbst keine territorialen Zugewinne anzustreben und Gebietsänderungen nicht billigen zu können, denen die davon Betroffenen nicht frei zugestimmt hätten, führten beide Regierungen jene allgemeingültigen Prinzipien an, auf denen sie ihre "Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt" gründeten: Selbstbestimmungsrecht der Völker; freier und gleicher Zugang zum Welthandel und zu den Rohstoffen der Welt für alle Staaten; internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit; Schaffung von Verhältnissen, in denen die Menschen aller Länder "frei von Furcht und Not" leben könnten; Freiheit der Meere; Gewaltfreiheit und Abrüstung, zuvor jedoch (bis zur Etablierung eines umfassenden und dauerhaften Sicherheitssystems) Entwaffnung der aggressiven Mächte - "im wesentlichen die klassischen Zielsetzungen liberaler Außenpolitik"lo3. Mit ihren hohen Tönen und "hochfliegenden Zielen"'04 zielte die gemeinsame Erklärung, die weder geltendes Recht umriß noch irgendwelche bemerkenswerten unmittelbaren Auswirkungen zeitigte, in propagandistischer Absicht natürlich sehr stark auf die Weltöffentlichkeit und auf die amerikanische Bevölkerung (die genauer wissen wollte, wofür die Lend-Lease-Mittel ausgegeben wurden). Die Deklaration wies manches Defizit und manche inneren Widersprüche auf, aber mehr noch verblüffte ihr augenfälliger Kontrast zu Politik und Lebenswirklichkeit des britischen Commonwealth, in dem z.B. Präferenzzölle den Handel prägten, zu jenen der USA, in der z.B. nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit und Massenelend herrschten, oder zu jenen der Sowjetunion, die z.B. nicht daran dachte, etwa ihre im Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 erzielten Gebietsannexionen in Frage stellen zu lassen, und sich deshalb auch nur unter Vorbehalt zu den proklamierten Prinzipien bekannte. 'o > Dies machte die ,,Atlantik-Charta" einerseits zwar zu einem Reibungspunkt innerhalb des Bündnisses gegen Hitler und zu einem gefundenen Fressen für die Goebbelssche Propaganda, andererseits entfaltete das Neufundland-Dokument als Kriegszielerklärung, als Darlegung der Prinzipien der Weltpolitik nach dem Kriege und als "Leitstern" ihrer Zeit 106 nach und nach erhebliche integrierende wie ideologische Kraft und eine ständig wachsende Attraktion auf die noch neutralen wie auf die zum Lager der Alliierten gehörenden Nationen. Zuallererst aber war die gemeinsame Erklärung des britischen Premierministers und des amerikanischen Präsidenten ein überaus eindrucksvoller "Kontrapunkt"107 zu den Ordnungs entwürfen der Achsenmächte für Europa und Asien. Roosevelt persönlich dürfte, anders als Churchill, an die schließliche Realisierbarkeit der maßgeblich von ihm mitbestimmten, gegen den "Hitlerismus" gerichteten Kriegs- und Friedensziele tatsächlich geglaubt haben. lOB Auch wenn sich dann die sperrigen Realitäten den kühnen Entwürfen nicht beugen wollten, so liegt das eigentliche und bleibende Ver102
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Hierzu Van Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 233 H. Siehe insbes. Botschaft des Präsidenten an den Kongreß am 6.1. 1941, in: Roosevelt spricht, S. 124ff., insbes. S. 129. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 43. John Lewis Gaddis, The United States and the Origins of the Cold War, 1941-1947, New York 1972, S. 12. Ebenda, S. 3. Angermann, Vereinigte Staaten, S. 227. Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog U.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 27. Gaddis, Cold War, S. 12.
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dienst Churchills und namentlich des amerikanischen Präsidenten gerade darin, die an die Tradition Woodrow Wilsons anknüpfende "progressive amerikanische Ideologie"I09 als Norm und Wert nachdrücklich in das Bewußtsein der Welt eingepflanzt zu haben. Zugleich hat Roosevelt damit bereits auf dem Höhepunkt des Weltkonfliktes und noch vor dem amerikanischen Kriegseintritt den von den Achsenmächten überrannten oder tödlich bedrohten Nationen Hoffnung geben und ihnen als Alternative zur "Pax Germanica" die "Pax Americana" vor Augen stellen können. Letztlich umschreibe die von ihm und Winston Churchill unterzeichnete Grundsatzerklärung, sagte der Präsident nach seiner Rückkehr von dem Gipfeltreffen der Presse, die Umrisse einer "Zivilisation", die anzustreben sich lohne; es sei "schwierig, gegen sie zu sein", ohne sich zugleich auf einen Komprorniß mit dem "Nazitum" einzulassen. llo Die Charta vom 14. August 1941 wird inzwischen längst nicht mehr als schönrednerisches Dokument und bloße einseitige Erklärung hoher Prinzipien, sondern als "eine schließlich von vielen Regierungen getragene Grundsatzdeklaration von allgemeingültigem Charakter"lll angesehen. In ihr verbanden sich liberal-demokratischkapitalistische Zielsetzungen mit dem universellen, von Selbstbewußtsein und Sendungsbewußtsein getragenen Führungsanspruch der Vereinigten Staaten - "Machtstreben und Vision eng vermischt, wie es die amerikanische Politik seit langem auszeichnete". Bei Kriegsende waren es 46 Nationen, die sich zu den Ideen der ,,AtlantikCharta" bekannten. Wie weit im Sommer 1941 der außenpolitische Kurs des amerikanischen Präsidenten und die innenpolitischen Realitäten noch auseinanderklafften, zeigt die Tatsache, daß der Kongreß am selben Tag, an dem die Konferenz in der Placentia Bay zu Ende ging, das Gesetz über die Verlängerung des Wehrdienstes von 12 auf 18 Monate nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit passieren ließ. "Die Amerikaner sind komische Leute", berichtete damals ein amerikanischer Reporter aus London über die typische Reaktion der Briten: "Den einen Tag kündigen sie an, sie wollen Freiheit und Gerechtigkeit für jedermann in der ganzen Welt garantieren. Den nächsten Tag beschließen sie mit nur einer Stimme Mehrheit, daß sie noch weiter 'ne Armee haben wollen." I 12 Keine fünf Monate später, nach Pearl Harbor, als sich Churchill und Roosevelt auf der ,,Arcadia"-Konferenz in Washington erneut begegneten, war die Kluft zwischen Innen- und Außenpolitik der USA geschlossen, die Strategie des "Germany first" beschlossene Sache und die ,,Atlantik-Charta" zum Kernstück der Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 geworden. Ebensowenig wie die öffentlichen Äußerungen Roosevelts seit dem Fall Frankreichs im Juni 1940 ließen die im Sommer 1941 und im Winter 1941/42 verabschiedeten Grundsatzdokumente, feierlich unterzeichneten multilateralen Erklärungen und in strengster Geheimhaltung gefaßten strategischen Entschlüsse irgendeinen Zweifel daran zu, daß der amerikanische Präsident als Führer der westlichen Allianz die Auseinandersetzung zwischen der Welt der totalitären und der demokratischen Staaten (zu der die UdSSR nolens volens gerechnet werden mußte) nicht anders als durch die 109 L 10
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Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 43. Presseerklärung Roosevelts nach seinem Treffen mit Premierminister Churchill; zit. nach Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 237. Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 24. Auch zum folgenden. Zitat eben da, S. 30. Hervorhebung von mir. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 289.
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1. Am Vorabend der Besetzung
Vernichtung der feindlichen Regime und insbesondere der nationalsozialistischen Diktatur beenden wollte. Dem ideologischen Charakter des als Kampf zwischen Gut und Böse verstandenen Ringens entsprechend und in Reaktion auf die aggressive und menschheitsfeindliche Natur des Hitler-Regimes und dessen klar zutage liegende Ambitionen, durch die Beherrschung Europas zur führenden Weltmacht mit dem Endziel der Weltherrschaft aufzusteigen, des weiteren schließlich in direkter Entsprechung zu der von Hitler unermüdlich herausgestellten Entschlossenheit, bis zu einem siegreichen Ende zu kämpfen und niemals zu kapitulieren, kam auch für den Präsidenten niemals etwas anderes als ein "Kampf bis zum Ende"ll3 in Betracht. Unmißverständlichen Ausdruck hatte diese Haltung bereits in der ,,Atlantik-Charta" gefunden, in der von der "endgültigen Zerstörung der Nazi-Tyrannei" und der Entwaffnung aggressiver Staaten gesprochen wurde. Die Achsenmächte, allen voran HitlerDeutschland, waren und blieben für Roosevelt "geächtete Nationen", mit denen auf dem Verhandlungswege niemals ein dauerhafter Friede erreichbar sein würde. Die berühmte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation dieser Staaten, die in Washington auf Expertenebene bereits Monate vor ihrer Verkündung formuliert worden war, ist so kein neues Element gewesen, sondern gab der Politik des Präsidenten lediglich ihren adäquaten, "wahren Ausdruck" 1 14. In einem Unterausschuß des vom State Department eingerichteten ,,Advisory Committee on Post-War Foreign Policy", dem Roosevelts Freund Norman H. Davis vorsaß, war man sich Anfang Mai 1942, keine vier Monate nach der ,,Arcadia"-Konferenz, sehr rasch darüber einig geworden, daß im Falle Deutschlands und Japans "nichts anderes als eine bedingungslose Kapitulation (unconditional surrender) akzeptabel" sei. 115 Zwar wurde dieser Grundsatz vom State Department oder einer anderen maßgeblichen Instanz in Washington niemals offiziell angenommen oder mißbilligt, aber als Davis diesen Gedanken am 20. Mai 1942 dem Präsidenten vortrug, hatte ernicht verwunderlich - den Eindruck, dieser denke in ganz ähnlichen Bahnen. Wie häufig, stimmte Roosevelt den Beratungsergebnissen des Subcommittees aber weder zu, noch erhob er Einspruch dagegen. Ohne daß sich das Jahr 1942 über das mindeste an der Entschlossenheit des Präsidenten geändert hätte, im Kampf gegen den "Hitlerismus" aufs Ganze zu gehen, tauchte der Gedanke, den Krieg nur nach einer bedingungslosen Kapitulation des Feindes zu beenden, erst zu Beginn des Jahres 1943 in den internen Erörterungen Roosevelts mit seinen militärischen Beratern und im Meinungsaustausch mit dem britischen Verbündeten wieder auf. Am 6. Januar hatte er in seiner Botschaft an den Kongreß gesagt, er erschauere bei dem Gedanken, "was der Menschheit und uns allen passieren wird, wenn dieser Krieg mit einem zweideutigen Frieden" ende, 116 und tags darauf konfrontierte er seinen Generalstabschef überraschend mit der dann aber nicht realisierten Idee, es wäre vielleicht nützlich, wenn dieser Moskau besuche, um dort auf dem Höhepunkt der Schlacht von Stalingrad die "russische Moral" zu stärken und den sowjetischen Generalissimus wieder etwas näher an die angelsächsische Koalition 113
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Jonas, United States and Germany, S. 262. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 570. FRUS, Conferences at Washington, 1941-1942, and Casablanca, 1943, S. 506, Anm. 2. Siehe hierzu auch Pogue, George C. MarshalI, S. 32. Jonas, Uni ted States and Germany, S. 263. Roosevelt spricht, S. 287. Das Datum der Botschaft hier irrtümlich mit 7. 1. 1943 angegeben.
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heranzuführen: "Der Präsident sagte, er werde mit Mr. Churchill darüber sprechen, ob es nicht ratsam sei, Mr. Stalin zu unterrichten, daß die Vereinten Nationen bis zum Erreichen Berlins fortfahren und daß ihre einzigen Bedingungen in der bedingungslosen Kapitulation bestehen sollten.'''!7 Die Besprechung mit den Joint Chiefs of Staff, auf der Roosevelt diese Idee in die Debatte warf, galt der Vorbereitung des Treffens mit Winston Churchill, das vom 14. bis 24. Januar 1943 in Casablanca stattfand und vor allem der Festlegung der weiteren gemeinsamen Strategie diente. In einer Sitzung am fünften Konferenztag, an der die beiden Staats- und Regierungschefs und die Combined Chiefs of Staff teilnahmen, kam es zu einem Gedankenaustausch über die Kapitulationsforderung der Westmächte. Dabei machte Churchill, der dafür die Zustimmung des War Cabinet einholte, unter Verwendung des Terminus "unconditional surrender" den Vorschlag, eine Erklärung herauszugeben, daß die Vereinten Nationen den Krieg bis zu seinem "bitteren Ende" führen und in ihren Anstrengungen so lange nicht nachlassen würden, bis Deutschland und Japan bedingungslos kapituliert hätten.!!8 Öffentlich verkündet wurde diese wohlerwogene und innerhalb des westlichen Bündnisses genau abgestimmte Formel am 24. Januar 1943 wie en passant in der gemeinsamen Pressekonferenz Roosevelts und Churchills zum Abschluß ihres Treffens in Casablanca.!!9 In historischer Reminiszenz an den amerikanischen Bürgerkrieg und launiger Anspielung auf General U. (Ulysses) S. (Sirnpson) Grant, ",Unconditional Surrender' Grant", sagte Roosevelt, der das Treffen in Marokko gerne als" ,Unconditional Surrender' Meeting" apostrophiert wissen wollte!20, das Ziel der Eliminierung des deutschen, italienischen und japanischen Kriegspotentials verlange die bedingungslose Kapitulation dieser Staaten: "Das bedeutet eine leidliche Sicherung des künftigen Weltfriedens. Es bedeutet nicht die Vernichtung der Bevölkerung Deutschlands, Italiens oder Japans, jedoch bedeutet es die Zerstörung jener Philosophien in diesen Ländern, die auf Eroberung und Unterwerfung anderer Menschen aus sind." Diese eindeutige Klarstellung ist von Roosevelt später vielfach wiederholt und präzisiert worden. 121 Die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation insbesondere des Dritten Reiches war weder ein unvermittelter Einfall, noch war sie eine gigantische Fehlentscheidung!22, sondern sie ist ein ebenso wohl kalkulierter wie zweckentsprechender Schritt gewesen, den die angelsächsischen Mächte und Roosevelt ganz persönlich aufgrund einer Fülle historischer, politischer, psychologischer, propagandistischer und militärischer Erwägungen getan haben. Ebenso wie Hitler waren die Westmächte fest ent117
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,Joint Chiefs of Staff Minutes of a Meeting at the White House" am 7. l. 1943; FRUS, Conferences at Washington, 1941-1942, and Casablanca 1943, S. 505ff., Zitat S. 506. "Meeting of the Combined Chiefs of Staff with Roosevelt and Churehill,January 18, 1943, 5 :00 P.M., President's Villa"; ebenda, S. 627 ff., Zitat S. 635. Wortlaut der Erklärung Roosevelts und Churehills auf der Pressekonferenz in: ebenda, S. 725ff. Die "Uneonditional Surrender"-Passage S. 727. Mauriee Matloff, Strategie Planning for Coalition Warfare 1943-1944, Washington 1959, S. 39. Vgl. Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 318ff. Aus der Fülle der Literatur, in der sich die Bewertung der "Uneonditional Surrender"-Forderung im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt hat, nur: Reimer Hansen, Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, Stuttgart 1966, S. 16ff. Gruehmann, Zweiter Weltkrieg, S. 356ff. A. E. Campbell, Franklin Roosevelt and Unconditional Surrender, in: Richard Langhorne (Hrsg.), Diplomacy and Intelligence during the Second World War. Essays in Honour of F. H. Hinsley, Cambridge 1985, S. 219ff. Boog, Anti-HitlerKoalition, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 82 ff. Paul Kecskemeti, Strategie Surrender: The Politics of Victory and Defeat, Stanford 1958.
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I. Am Vorabend der Besetzung
schlossen, kein zweites 1918 zuzulassen. Sowohl das Kriegsende wie die Gestaltung des Friedens sollten diesmal prinzipiell anders aussehen. Die Erfahrungen mit dem angeblich "im Felde unbesiegten" Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der brüchigen Friedensordnung, dem Aufstieg der radikalen Hitler-Bewegung, die jetzt einen zweiten, die gesamte westliche Zivilisation bedrohenden Weltkrieg ausgelöst hatte, um damit auch die Folgen und das Trauma des "Betrugs der 14 Punkte Wilsons" und des "Diktats von Versailles" aus der Welt zu schaffen, machten in den Augen Roosevelts eine unzweideutige Lektion erforderlich. Neben die Absicht, diese Lehre der Geschichte zu beherzigen, trat der Wunsch, nach der Niederwerfung des Dritten Reiches völlige Handlungsfreiheit zu besitzen, um nicht nur das NS-Regime zerschlagen, deren Protagonisten für Völkermord und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen und eine völlige Entwaffnung durchführen zu können, sondern auch um die anscheinend von unbezähmbarer Aggressivität getränkte deutsche Gesellschaft von Grund auf umbauen zu können - alles Maßnahmen, ohne die ein dauerhafter Friede in der Welt unmöglich schien. Daneben gab es für die öffentlich erhobene Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands, Japans und auch Italiens im Januar 1943 eine Reihe kaum weniger wichtig erscheinender aktueller Beweggründe. Sie zogen sowohl die damalige Lage der Anti-Hitler-Koalition wie die Tendenzen der öffentlichen Meinung in den Demokratien in Betracht. Ganz im Sinne der Ausführungen Roosevelts und Churchills im Kreise ihrer Berater konnte auf diesem Wege dem sowjetischen Verbündeten, der in dem gemeinsamen Krieg seit eineinhalb Jahren so viel schwerere Opfer brachte, Mut gemacht und die Zuversicht vermittelt werden, daß sich Großbritannien und die USA auf keinerlei Komprorniß mit Hitler einlassen würden - ein Signal, das um so nötiger war, als nach Casablanca feststand, daß die Westmächte auch 1943 nicht die von Stalin dringlich geforderte Zweite Front errichten würden. Mit der "Unconditional Surrender"-Formel ließen sich zugleich die Wogen glätten 123 , die in England und Amerika nach dem "Handel" Eisenhowers mit den Vichy-Franzosen in Nordafrika sehr hoch geschlagen waren. Eine politisch ähnlich verheerende Kungelei mit hochgestellten Persönlichkeiten des feindlichen Lagers aus Gründen militärischer Zweckmäßigkeit würde sich nicht wiederholen, lautete die Botschaft 12 \ die nach dem Urteil Marshalls tatsächlich einen "großen psychologischen Effekt"125 in der eigenen Bevölkerung hatte. Das schlichte Kriegsziel der bedingungslosen Kapitulation, das mit absehbarem Ende des Krieges die in der ,,Atlantik-Charta" niedergelegten, die Feindstaaten freilich zunächst nicht einbeziehenden Friedensziele mehr und mehr überlagerte, bot zudem den Vorteil, daß die Militärs ihre Operationen ohne politische Vorgaben führen konnten. 126 Die drei Hauptalliierten konnten damit rechnen, daß keines ihrer jeweiligen Kriegsziele im Prozeß der Kriegsbeendigung geopfert würde und daß die AntiHitler-Koalition sich vor allem nicht dadurch selbst schwächte, weil sie sich bereits während des Krieges auf ein unausweichlich konfliktgeladenes Tauziehen um die Ab-
'" Diesen Aspekt betont besonders Campbell, Roosevelt and Unconditional Surrender, S. 226 H. Vgl. Ambrase, Eisenhower, S. 210. 125 Pogue, George C. MarshalI, S. 34. 126 Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog U.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 83.
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stimmung der divergierenden Kriegsziele einzulassen hatte. 127 Mit seinem Tagesbefehl vom 1. Mai 1943 machte sich auch Stalin formell die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation der Achse zu eigen. 128 In seiner eigenen Administration war der Kurs Roosevelts bis 1944 weitgehend unumstritten, und erst nach der Invasion kam im Alliierten Oberkommando und bei Eisenhower selbst die fixe Idee auf, die Wehrmacht würde im Westen vielleicht etwas weniger hartnäckig kämpfen, wenn die alliierte Propaganda den Deutschen deutlicher machen könne, daß mit der bedingungslosen Kapitulation nicht auch die Vernichtung des deutschen Volkes gemeint sei. 129 Für Hitler war die "Unconditional Surrender"-Forderung "völlig bedeutungslos"130. Kapitulation hatte immer außerhalb seines persönlichen Handlungsrahmens gelegen, für sein Regime und für die nationalsozialistische Ideologie wäre sie einer "Selbstvernichtung" 13 I gleichgekommen. Die Tatsache, daß nun Roosevelt, der eigentliche historische Gegenspieler des Diktators, in eine Formel faßte, was er seit über zwei Jahren immer wieder verkündet hatte, änderte selbstverständlich nicht das geringste an Strategie und Kriegführung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht. Die Aufrufe und Maßnahmen zu einer "Totalisierung" des Krieges lassen sich ebenfalls mitnichten auf die Ereignisse des 24. Januar 1943 zurückführen. 132 Die auf beiden Seiten zunehmende Verhärtung ging nicht auf Worte, sondern auf das Faktum zurück, daß die zweite Hälfte des Jahres 1942 die Kriegswende zu ungunsten der Achse gebracht hatte: Anfang Juni waren die Japaner bei Midway gestoppt worden, im Oktober schlugen die Briten Rommel bei EI Alarnein, Anfang November hatten sich die Amerikaner in Nordafrika festgesetzt, Ende November waren bei Stalingrad 23 Divisionen Deutschlands und seiner Verbündeten eingekesselt; eine Woche nach Casablanca gingen die Überlebenden in sowjetische Gefangenschaft. Ein gutes Vierteljahr später fiel Tunis; über 250000 Mann, die Hälfte davon Deutsche, gerieten in alliierte Kriegsgefangenschaft. Ab 1943, als den Westmächten deutlich vor Augen stand, daß sie die Territorialforderungen ihres sowjetischen Verbündeten und damit eine gravierende Veränderung der ostmitteleuropäischen Landkarte auf deutsche Kosten hinnehmen und mittragen mußten, war es - unter dem Aspekt der Wirkung auf Deutschland und die Deutschen - ohnehin untunlich geworden, die neue Friedensordnung öffentlich genau zu umreißen. Dem war in den letzten beiden Kriegsjahren dann doch die Aufrechterhaltung des vagen Ziels der bedingungslosen Kapitulation vorzuziehen - falls man im amerikanischen und britischen Lager ernstlich gehofft oder damit gerechnet hätte, Deutschland könne sich vielleicht zu einem vorzeitigen Einlenken und zu substantiellen Friedensschritten entschließen. l33 Auch den hohen deutschen Militärs, der einzigen Gruppe, die Hitler rechtzeitig hätten ausschalten können, legte Casablanca keine Fesseln auf, denn zu wohlerwogenen und wohlbegründeten Versuchen von Wehrmachtsoffizieren, die "Nazi-Tyrannei" 127 128
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Jonas, United States and Germany, S. 263. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 23. Siehe hierzu III/3. Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 358. Franz Halder, The Significance to the Germans During World War II of the Allied Term "Unconditional Surrender" (Foreign Military Study P-202), S. 34; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 85. Vgl. Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 357. Vgl. auch Campbell, Roosevelt and Unconditional Surrender, S.234.
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- um im Wortlaut der ,,Atlantik-Charta" zu bleiben - zu beseitigen, kam es vor dem 24. Januar 1943 und nach dem 24. Januar 1943.John W. Wheeler-Bennett hat früh erkannt, daß die Casablanca-Formel der deutschen Generalität nach 1945 als ein recht willkommenes Alibi für ihr Verhalten vor 1945 diente: "Erst sehr viel später", schrieb er 1953, "griffen die Generale die Formel von Casablanca auf, um die Verantwortung für ihren Mangel an Initiative von den eigenen Schultern auf die der Alliierten abzuwälzen, und aus diesem Vorgang kristallisierte sich die reine Ausflucht erst heraus, nachdem viele deutsche Generale in britischer oder in amerikanischer Gefangenschaft reichlich Zeit gehabt hatten, sich die Sache rational zurechtzulegen."134 Und ob die ,,Ausstrahlungskraft"135 der Widerstandsbewegung auf schwankende Teile der Bevölkerung und unschlüssige Generale ohne die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation tatsächlich größer gewesen wäre, wird eine umstrittene Frage bleiben, ganz zu schweigen davon, welche Konsequenzen ein Umsturz in Deutschland 1943 oder 1944 innen- wie außenpolitisch nach sich gezogen hätte. Will man sich nicht völlig ins Reich der Spekulationen begeben, spricht wenig dafür, daß diese Forderung den Krieg gegen Deutschland verlängert hat - und ehe Hitler nicht am Ende war, konnten es weder der britische Premierminister noch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika verantworten und gegenüber ihren Nationen vertreten, diesen Krieg zu beenden. Als Roosevelt Anfang 1943 öffentlich die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte erhob, waren bereits auf allen Kriegsschauplätzen die Auswirkungen des beispiellosen amerikanischen Rüstungs- und Mobilisierungsprogrammes fühlbar geworden. Neben dem Beharrungsvermögen der Sowjetunion sollte sich dies schließlich als ein Hauptfaktor des Sieges der Anti- Hitler-Koalition erweisen. Ihr Rohstoffreichtum, ihr industrielles Potential und ihr Menschenreservoir erlaubten es den USA, nicht nur große Land- und Luftstreitkräfte sowie eine starke Marine aufzustellen und optimal zu versorgen, sondern auch ein Produktionsniveau bei Waffen und anderen Kriegsmaterialien zu erreichen, dem Deutschland als wirtschaftlich potenteste Achsenmacht trotz rücksichtsloser Ausbeutung der besetzten Länder schon 1942 nichts mehr entgegenzusetzen hatte. l36 Die Amerikaner konnten es sich sogar leisten, Großbritannien, die Sowjetunion und die anderen Verbündeten mit einem beständigen Strom an Waffen und Ausrüstung aus ihrem ,,Arsenal der Demokratie" zu versorgen. 13 7 Die amerikanischen Verteidigungsausgaben in der isolationistischen Zwischenkriegszeit waren aus der Sicht von Navy und Army immer jammervoll dürftig gewesen. Als General George C. Marshall am 1. September 1939 das Amt des Generalstabschefs übernahm, zählte das armselige Instrument der Uni ted States Army und Army Air Force knapp 200000 Berufssoldaten, etwa 1800 größtenteils veraltete Flugzeuge 138 und einige Handvoll museumsreifer Panzer; unter den Streitkräften der Welt
John W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power. The German Army in Politics 1918-1945, London 1953, S. 537. 135 Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 358. 136 Alan S. Milward, Der Zweite Weltkrieg. Krieg, Wirtschaft und Gesellschaft 1939-1945, München 1977, S.106l. m James A. Huston, The Si news of War: Logistics 1775-1953, Washington 1953, S. 441 ff. 138 Milward, Zweiter Weltkrieg, S. 72. 134
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nahm das Heer Rang 17 ein. 139 Im Frühjahr und Sommer 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf seine Nachbarn im Norden und Westen, beschloß der Kongreß in "veränderter Atmosphäre"140 die ersten substantiellen Aufrüstungsmaßnahmen. Nach der Verabschiedung des Lend-Lease-Gesetzes im März 1941 erfolgte der allmähliche Übergang der Friedens- zur Kriegswirtschafe 41 , aber erst nach Pearl Harbor schlugen die USA den Weg unbegrenzter Mobilmachung und "äußersten Einsatzes ihres ökonomischen Potentials"142 ein. Das konnte unter ungleich günstigeren Voraussetzungen geschehen als in allen anderen großen kriegführenden Ländern, denn die amerikanische Wirtschaft verfügte über ausreichend Rohstoffe im eigenen Lande oder war mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Kautschuk in der Lage, diese ungehindert einzuführen; in allen Sektoren der Wirtschaft gab es genügend Arbeitskräfte, darunter Millionen hochqualifizierter Facharbeiter, und zugleich konnte eine ausreichende Anzahl von Soldaten eingezogen werden; die Industrie verfügte sowohl über riesige Kapazitäten als auch eine sehr hohe Produktivität. Hinzu kam, daß die moderne Infrastruktur des Landes ebenso wie der Produktionsprozeß selbst jeder direkten Feindeinwirkung entzogen war, daß es die Roosevelt-Administration verstand, effektive kriegswirtschaftliche Steuerungsorgane zu schaffen, und daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien für die Dauer des Krieges einen "Produktionsverbund" eingingen und eine "gemeinsame Wirtschaftsplanung" vornahmen, durch die sich die beiden Volkswirtschaften wirkungsvoll ergänzen konnten. 143 Ganz anders als in Deutschland schließlich, wo die den Prämissen des "B1itzkrieges" unterworfene Rüstungsproduktion laufend den Wechsel strategischer Prioritäten zu verkraften hatte, konnte sich die "totale Kriegswirtschaft"144 der USA vier Jahre lang relativ stetig entfalten: "Die amerikanische Produktionsanstrengung war ganz darauf abgestellt, die Produktion des Feindes zu übertreffen. Die wirtschaftliche Mobilmachung war nicht an strategische Pläne gebunden, ihr lag vielmehr die Absicht zugrunde, ein Arsenal von Material aufzubauen, mit dem Divisionen und Geschwader ausgerüstet werden konnten, die dann für die Verwirklichung künftiger strategischer Pläne zur Verfügung standen."145 Nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie 1941 und dem mißlungenen Versuch Hitlers, 1942 den europäischen Kontinent doch noch "blockadefest" zu machen, gerieten die Achsenmächte - obwohl es jetzt auch in Deutschland zu einer unerhörten, bis 1944 verdreifachten Produktionssteigerung kam - rasch aussichtslos ins Hintertreffen. Es genügt, daran zu erinnern, daß sich der Schätzwert der Hauptkategorien des amerikanischen Gesamtkriegsprogrammes zwischen 1940 und 1944 auf über 90 Milliarden Dollar verdreißigfachte. 146 Schon 1943 war der Wert der amerikanischen Rüstungsproduktion ungefähr doppelt so groß wie der Deutschlands und Japans zu-
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Pogue, Marshall: Ordeal, S. 6. Ebenda, S. 32. Harold G. Vatter, The U.S. Economy in World War 11, New York 1985, S. 3 und S. 1l. Milward, Zweiter Weltkrieg, S. 77. Ebenda, S. 96 und S. 115. Vatter, U.S. Economy, S. 14. Huston, Sinews of War, S. 424. Milward, Zweiter Weltkrieg, S. 90.
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sammengenommen. 147 Bereits 1942 hatten die USA, die bei Stahl traditionell eine etwa zweieinhalbfache Überlegenheit besaßen, in einer aus dem Boden gestampften Industrie bei dem hochwichtigen Leichtmetall Aluminium eine doppelt so große Menge produzieren können wie Deutschland, das bei Kriegsbeginn hier der größte Hersteller der Welt gewesen war; bei der Gummisynthese lagen die amerikanischen Zahlen 1944 achtmal höher als die deutschen. Im selben Jahr kamen 40 Prozent der Weltrüstungsproduktion und 60 Prozent der alliierten Kampfmunition 148 aus den Vereinigten Staaten. Die amerikanische Erzeugung übertraf die deutsche jedoch nicht nur absolut um etwa das Dreifache, sondern auch relativ, da auch die Pro-Kopf-Leistung der Industrie beinahe dreimal so groß war wie in den deutschen Fabriken. 149 1944 erzeugten innerhalb der Anti-Hitler-Koalition (die über etwa 80 Prozent der Weltrohstoffe geboe 50 ) Großbritannien, das Commonwealth und die Vereinigten Staaten allein vier- bis fünfmal soviel wie die Achsenmächte. 151 Die enorme Ausweitung der amerikanischen Kriegsproduktion binnen kürzester Frist entsprach dem ab 1940 entstehenden gewaltigen Bedarf: Damals war eine "ZweiOzean-Flotte" zu bauen, die Atombombe zu konstruieren (Stirnson: "Die größte Errungenschaft der vereinten Anstrengungen von Wissenschaft, Industrie und Militär in der ganzen Geschichte"152), den Verbündeten unter die Arme zu greifen sowie ein riesiges Heer aufzustellen und auszurüsten - und zwar sofort. Als Roosevelt Anfang Juli 1941 auf dem Höhepunkt der deutschen Erfolge in Rußland die Frage stellte, wie groß Army und Navy etwa sein müßten, um die Feinde Amerikas zu schlagen, waren die SA formell noch neutral und besaßen keinerlei Vorstellungen davon, wie der Krieg ablaufen würde, falls die Vereinigten Staaten in ihn verwickelt würden, geschweige denn, wie er zu gewinnen sei. Das War Department behalf sich bei der Aufstellung seines Bedarfsplans deshalb mit einer ebenso einfachen wie wahrhaft luxuriösen Berechnungsgrundlage. Vom Gesamtpotential an Wehrfähigen wurde der Bedarf an Kräften abgerechnet, die in Industrie, Landwirtschaft, Verwaltung und in der Marine benötigt werden würden: Aus dem verbleibenden "Rest" von beinahe neun Millionen Mann war, so die Kalkulation, eine bis zum l.Juli 1943 einsatzbereite, 215 Divisionen starke Streitmacht aufzustellen. I53 Die Planzahl für Divisionen wurde (ohne deswegen die Rüstung zu drosseln) in den beiden nächsten Jahren - als sich zeigte, daß die Rote Armee der Wehrmacht standhielt - nach und nach auf 89 Divisionen (1945) reduziert; von den in den USA insgesamt für den Kriegsdienst mobilisierten 14 Millionen Männern und Frauen (UdSSR: 22 Millionen, Großbritannien: 12 Millionen) standen im Mai 1945 mehr als 8 Millionen unter Waffen. 154 Die Kalkulationen des War und Navy Department vom Sommer 1941 waren der Ausgangspunkt der bald "Victory Program" genannten amerikanischen Rüstungs147
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Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog U.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 49. Die Angaben zu Aluminium und synthetischem Gummi ebenda. Milward, Zweiter Weltkrieg, S. 93 und S. 96. Huston, Sinews of War, S. 490. Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, S. 444. Boog, Anti-Hitler-Koalition, in: Boog u.a., Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 6, S. 48. Angermann, Vereinigte Staaten, S. 245. Zit. nach Huston, Sinews of War, S. 486. Madoff, Snell, Strategie Planning, S. 58 ff. Biennial Report of The Chief of Staff of The U.S. Army, General George C. Marshall Quly 1, 1943 to June 30, 1945) To the Secretary of War, Washington 1945, S. 101.
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und Mobilisierungsanstrengung. Präsident Roosevelt verstärkte den Impuls zu der gigantischen Aufrüstung entscheidend dadurch, daß er der Industrie zum Zeitpunkt der amerikanisch-britischen ,,Arcadia"-Konferenz in Washington öffentlich ganz bewußt geradezu phantastisch anmutende Produktionsziele setzte. In seiner Jahresbotschaft an den Kongreß am 6. Januar 1942 sagte er, um Hitler und seine "italienischen und japanischen Schachfiguren" niederzuwerfen, müßten die Vereinten Nationen nicht bloß eine gewisse, sondern eine erdrückende Überlegenheit an Kriegsmaterial haben - "so erdrückend, daß die Achsenmächte niemals mehr hoffen können, uns einzuholen"; nur eine "totale" Produktion werde den "endgültigen totalen Sieg" bringen. So forderte der Präsident für 1943 unter anderem die Herstellung von 125000 Flugzeugen und 75000 Panzern. 155 Nach dem eben abgelaufenen Jahr 1941, in dem hochgerüstete Länder wie Deutschland und Großbritannien je etwa 5000 Panzer sowie ungefähr 11000 bzw. 20000 Flugzeuge produziert hatten 156, wurden diese weit gesteckten Vorgaben von den militärischen und zivilen Behörden in Washington und den Hauptstädten der Bundesstaaten "gleichermaßen mit Spott und in einigen Fällen mit Verzweiflung" aufgenommen; andere waren außerstande, derart "unmögliche Ziffern humoristisch zu nehmen"I57. Die vom Präsidenten weniger als Plan ziffern denn als AnstacheIung von Administration und Volkswirtschaft ausgegebenen Größenordnungen wurden 1943 zwar nicht erreicht, die Rüstungszahlen bis 1945 aber dennoch in bis dahin unvorstellbare Höhen getrieben. Über 300000 Flugzeuge bauten die USA in fünf Jahren; 96318 allein 1944 158 (Deutschland: 39807 159). Auch die Panzerproduktion von fünf Jahren lag wesentlich höher als die in Deutschland nach zehn Jahren Rüstung. Zur beinahe kompletten Motorisierung der U.S. Army stellte die moderne amerikanische Autoindustrie einen unerschöpflichen Fuhrpark unterschiedlichster Typen zur Verfügung. Der Ausstoß an Kraftfahrzeugen war so gewaltig, daß davon in Lend-Lease-Lieferungen allein 1944 zusätzlich noch 132000 Lastkraftwagen und 20000 Jeeps in die Sowjetunion gehen konnten 160; die LKW-Erzeugung in Deutschland belief sich im seIben Jahr auf 77000 StüCk. 161 Der Gesamtwert der amerikanischen Lend-Lease-Lieferungen bis Ende 1945 belief sich auf knapp 50 Milliarden Dollar. Davon flossen an die UdSSR seit dem November 1941 Kriegsmaterialien im Wert von 11 Milliarden Dollar, an Großbritannien und die Staaten des Commonwealth von über 36 Milliarden Dollar. 162 Nach einer Berechnung General Marshalls entsprachen allein die zwischen Sommer 1943 und Sommer 1945 an die Alliierten gelieferten Güter einem Gesamtwert, der ausgereicht hätte, um 2000 Infanterie-Divisionen amerikanischen Musters auszurüsten. 163 Und dennoch hatte die amerikanische Kriegswirtschaft ihre maximale
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Zitate nach: Roosevelt spricht, S. 227, S. 229, S. 232 und S. 230. Zahlen nach: Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd. 11: 19411943, Berlin 1985, S. 336 und S. 340. Milward, Zweiter Weltkrieg, S. 120. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 375. Huston, Sinews of War, S. 481. Eichholtz, Kriegswirtschaft, 11, S. 340. Huston, Sinews of War, S. 449. Eichholtz, Kriegswirtschaft, 11, S. 338. Huston, Sinews of War, S. 454. Biennial Report of General MarshalI, S. 98.
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l. Am Vorabend der Besetzung
Leistungskraft keineswegs ausgeschöpft, als Deutschland und Japan die Waffen strekken mußten. 164 Als Hitler die Sowjetunion überfiel, verfügten die Vereinigten Staaten über ein Heer, das den Armeen der Verbündeten wie natürlich auch der Wehrmacht an Stärke, Ausrüstung und an Erfahrung hoffnungslos unterlegen war. Am 1. Oktober 1941 gebot die U.S. Army erst über eine einzige einsatzfähige Infantry Division und zwei kampfbereite Bomber Squadrons. 165 Das bedeutete, daß die USA (auch wenn bis Ende 1941 bereits 1,6 Millionen Mann eingezogen waren 166) ohne funktionsfähige Armee in den Krieg gehen mußten. Aus der Perspektive der Briten war diese Tatsache kein schwerwiegendes Handikap, denn sie waren der Auffassung - daran hielten sie bis ins Jahr 1943 hinein fest -, eine großangelegte Invasion des Kontinents zur Niederwerfung Hitlers (und damit auch die Aufstellung einer starken amerikanischen Landstreitmacht) sei nicht zwingend erforderlich. 167 Der Stabschef der U.S. Army war genau gegenteiliger Auffassung und setzte daher im Einklang mit Roosevelt und Kriegsminister Stimson nach einer radikalen Umorganisation des War Department alles in Bewegung, um binnen kürzester Frist ein möglichst schlagkräftiges Heer und eine einsatzbereite Luftwaffe aufzustellen. Ende 1942, als in Nordafrika der erste Einsatz erfolgte, standen in der Army bereits 5,4 Millionen Mann unter Waffen; Ende 1943, als die Amerikaner auf dem italienischen Festland Fuß gefaßt und die Mobilisierung ihrer Armee im wesentlichen abgeschlossen hatten, knapp 7,5 Millionen Mann. Als Deutschland kapitulierte, waren es insgesamt 8,29 Millionen Soldaten, die in Heer und Luftwaffe der USA Dienst taten. 16B Parallel zu Aufstellung und Ausrüstung der Army verlief die stetige Verlegung von Truppen auf den europäischen Kriegsschauplatz, worin ebenfalls die Strategie des "Germany first" zum Ausdruck kam. Sofort nach "Arcadia" hatte Roosevelt ein erstes Kontingent nach Übersee geschickt. Etwa 20000 G.l.s waren es, die im Februar 1942 in Großbritannien standen. 169 Ende des Jahres waren 377000, Ende 1943 schon 1,4 Millionen und im Mai 1944, am Vorabend der Invasion, 1,57 Millionen Soldaten in Bereitstellung gegen die Wehrmacht gebracht. 170 Als die Truppen Eisenhowers im September 1944 die Westgrenze des Deutschen Reiches überschritten, befehligte der Supreme Commander 2,05 Millionen, als Hitler sich erschoß, 3,06 Millionen amerikanische Soldaten im European Theater of Operations. 171
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Vatter, U.S. Eeonomy, S. 21. Pogue, Marshall: Ordeal, S. 159. Matloff, Snell, Strategie Planning, S. 350. Pogue, MarshalI: Ordeal, S. 144. Genau hierzu Roben Palmer, Ground Forees in the Army, Deeember 1941 - April 1945. A Statistieal Study, in: Kent Robens Greenfield, Roben R. Palmer, Bell I. Wiley, The Organization of Ground Combat Troops, Washington 1947, S. 159ff. Matloff, Snell, Strategie Planning, S. 147 f. Matloff, Snell, Strategie Planning, S. 392. Huston, Sinews of War, S. 435. Ebenda, S. 555.
3.
"Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen
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3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen General Eisenhower, ein Nachfahre rheinländischer Mennoniten, die Mitte des 18.Jahrhunderts nach Pennsylvania gekommen waren und noch Anfang des 19.Jahrhunderts deutsch sprachen, wußte wenig von dem Land, gegen das er jetzt seine Armee führte. Nach seinen Vorstellungen über die Behandlung der vermutlich in wenigen Monaten besiegten deutschen Nation befragt, mußte er in einem Gespräch mit Finanzminister Morgenthau noch im Sommer 1944 einräumen, darüber habe er sich noch keine rechten Gedanken gemacht, aber es sei sicher gut, wenn die Deutschen in der ersten Zeit nach der Kapitulation energisch angepackt würden und Deutschland "im eigenen Saft koche"[72. Gefühlsregungen und Bekundungen wie diese waren nach zweieinhalb Jahren Krieg gegen Hitler keine Marotte des politisch noch recht einfach denkenden NurSoldaten Eisenhower. Sie entsprachen in diesem Krieg, dessen ideologischer Charakter von Roosevelt wie von Hitler immer mit Nachdruck herausgestrichen wurde, vielmehr ganz und gar, so Robert Murphy, "den Gefühlen von Millionen Amerikanern"[7j "Tag für Tag im Verlauf des Krieges wuchs in mir die Überzeugung", schrieb Eisenhower noch 1948 in seinen Erinnerungen, "daß diesmal wie nie zuvor in einer Auseinandersetzung vieler Völker die Streiter für Menschlichkeit und Recht einer vollkommen bösen Verschwörung gegenüberstanden ... Der Krieg wurde für mich ein Kreuzzug im eigentlichen Sinne des oft mißbrauchten Wortes."[74 Diese anti-deutschen Gefühle entsprangen nicht irgendweichen Ressentiments oder Vorurteilen, sondern hatten sich aus seiner Konfrontation mit Wesen, Politik und Kriegführung des "Hitlerismus" heraus entwickelt. Wie bei seinen Kameraden in der Armee und in der amerikanischen öffentlichen Meinung auch, war die Verbitterung über das offenkundig jenseits von Kultur und Gesittung stehende nationalsozialistische Regime, aber zum Teil auch gegen die deutsche Bevölkerung und die Wehrmachtssoldaten, die offenbar in strikter Loyalität zu Hitler standen, zwischen Sommer 1944 und Frühjahr 1945 am größten. Es war in diesen Monaten der amerikanischen Besetzung Deutschlands, als er in den Briefen an seine Frau einige deutliche Sätze über den Feind verlor. Frustration über die Aussicht, nicht mehr im Herbst 1944, sondern vielleicht erst nach dem Winter den Feldzug beenden zu können und deswegen noch schwere Verluste in Kauf nehmen zu müssen, mischte sich mit tief empfundener Abscheu vor den immer wieder angetroffenen deutschen Brutalitäten gegen die Zivilbevölkerung besetzter Länder und vor den Massenmorden der Nationalsozialisten im Osten, die ab Sommer 1941, spätestens ab Sommer 1942 in ihren Umrissen zu erkennen waren. [75 Einige französi-
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Vermerk Morgenthaus v. 18.8.1944 über seine Gespräche unter anderem mit Eisenhower am 12. August in: Morgenthau Diary (Germany), Bd. I, hrsg. v. Subcommittee to Investigate the Administration 01 the Internal Security Act and Other Internal Security Laws 01 the Committee on the Judiciary, United States Senate, Washington 1967, S. 415. Siehe auch: Eisenhower, Kreuzzug, S. 339f. Gaddis, Cold War, S. 118. Robert Murphy, Diplomat unter Kriegern. Zwei Jahrzehnte Weltpolitik in besonderer Mission, Berlin 1965, S. 346. Eisenhower, Crusade in Europe, S. 157. Siehe David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Ismaning 1986, S. 28 und S. 35.
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I. Am Vorabend der Besetzung
sche Städte im Kampfgebiet seiner Truppen, schrieb Eisenhower am 13. September 1944 an "Mamie", seien vollständig dem Erdboden gleichgemacht: "Ich bin immer traurig, wenn ich mich der Notwendigkeit gegenübersehe, die Heime meiner Freunde zu zerstören! Der Deutsche ist eine Bestie!" Eine Woche später, kurz nach Beginn der fehlschlagenden Luftlande-Operation am Niederrhein im Raum Nimwegen-Arnheim, prophezeite er, "der Job hier" werde noch viele Opfer kosten: "Bei Gott, ich hasse die Deutschen!" Am heftigsten war seine Reaktion nach der Besichtigung der ersten befreiten Konzentrationslager. "Kürzlich besichtigte ich ein ,deutsches Internierungslager''', schrieb er am 15. April nach Hause. "Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es auf dieser Welt solche Grausamkeit, Bestialität und Barbarei tatsächlich geben kann. Es war schrecklich."[76 Drei Wochen später weigerte er sich, die von Großadmiral Dönitz entsandten Emissäre zu empfangen, und fertigte Jodl am 7. Mai erst dann mit ein paar Sätzen ab, als dieser seine Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde gesetzt hatte. 177 "Warum die Deutschen die Sache so weit gehen ließen, wie sie das getan haben, ist mir völlig unbegreiflich!", heißt es fünf Tage danach in einem Brief, in dem er seiner Frau das verwüstete Deutschland beschrieb. [78 Unverständnis über den politischen und militärischen Kurs und Empörung über die Verbrechen des NS-Regimes und die dazwischen immer wieder aufschießenden Haßgefühle auf alles Deutsche verdichteten sich bei Eisenhower wie den meisten seiner amerikanischen Zeitgenossen freilich nie zu einem deutlicher konturierten oder gar durchdachten Deutschland-Bild. Auch Präsident Roosevelt selbst, dessen Meinung über den "Hitlerismus" spätestens seit Kriegsausbruch unumstößlich feststand, der aber nicht viele Dokumente hinterlassen hat, die zu seinem Denken über Deutschland und die Deutschen authentisch Aufschluß geben könnten, hatte Momente ebenfalls im Sommer 1944 -, in denen er sich von scharfen Tiraden forttragen oder sich im Gespräch mit seinem Finanzminister zu Haßausbrüchen hinreißen ließ. Einmal soll er laut Morgenthau sogar gesagt haben, man müsse alle Deutschen kastrieren oder jedenfalls so mit ihnen verfahren, daß sie nicht länger Nachkommen zeugen könnten, die genauso weitermachten wie die Generationen vor ihnen.[79 Aber das waren verbale Exzesse, wenn die beiden Freunde sich gegenseitig in Hitze redeten und einer den anderen an Radikalität zu übertrumpfen suchte. Die Meinung des Präsidenten über Deutschland hatte sich nach all dem, was er aus dem Machtbereich der Deutschen erfuhr, gegen Kriegsende hin verhärtet. [80 Er erlaubte es sich aber nicht, sein subjektives Urteil oder gar seine Emotionen zur Grundlage der amerikanischen Deutschland-Politik zu nehmen. [S[ Außerdem machte er sich insgesamt "weder extreme Auffassungen von unwandelbar und unverbesserlich
Briefe Eisenhowers an seine Frau v. 13.9. 1944, 19.9. 1944 und 15.4. 1945; in: J. Eisenhower (Hrsg.), Eisenhower. Letters to Mamie, S. 209, S. 210 und S. 248. m Vgl. unten VII/5. 178 Brief Eisenhowers an seine Frau v. 12.5. 1945; in: J. Eisenhower (Hrsg.), Eisenhower. Letters to Mamie, S.254. 179 Gespräch Roosevelts mit Morgenthau am 19.8. 1944; zit. nach John Morton Blum, Deutschland ein Akkerland? Morgenthau und die amerikanische Kriegspolitik 1941-1945. Aus den Morgenthau-Tagebüchem, Düsseldorf 1968, S. 215. 180 Gaddis, Cold War, S. 119. 181 John L. Snell, Wartime Origins 01 the East-West Dilemma over Germany, New Orleans 1959, S. 32.
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3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen
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destruktiven und militaristischen Zügen des deutschen Volkscharakters zu eigen, noch setzte er generell NS-Regime und Bevölkerung gleich"182. Roosevelt hatte bessere Kenntnisse über Deutschland als die Präsidenten vor ihm und selbst als ein Großteil seiner Mitarbeiter. Er sprach Deutsch, konnte Hitler-Reden am Rundfunk verfolgen, und bereits im Jahre 1933 notierte er in seinem Privatexemplar der englischen Ausgabe von "Mein Kampf", diese Version sei derart bereinigt, daß sich ein völlig falsches Bild von dem ergebe, was Hitler wirklich sage. 183 FrankIin D. Roosevelts Meinung über Deutschland scheint schon früh festgestanden zu sein. Als Kind war er mit seinen Eltern häufig dorthin gefahren, hatte hier auch am Volksschulunterricht teilgenommen, das Land bereist und dabei eine gründliche Abneigung gegen jede Art von wilhelminischem Dünkel entwickelt. Aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen kultivierte er zeitlebens eine "kräftige Abneigung gegen deutsche Arroganz und gegen den deutschen Militarismus"184. Bereits während des Ersten Weltkrieges - 1913, mit Amtsantritt Woodrow Wilsons, wurde Roosevelt 31 jährig Assistant Secretary of the Navy - gehörte er zu den entschiedensten Befürworte rn einer Intervention gegen das Kaiserreich (sie wäre ihm früher lieber gewesen). Schon damals sah er in dem ihm provinziell und über die Maßen von militärischen Wertvorstellungen getränkt erscheinenden Deutschland eine Gefahr für die Zivilisation l85 , empfand er dieses Land überhaupt als "gräßliche Nation"186. In der Radikalisierung des politischen Lebens während der Weimarer Zeit, insbesondere aber im Aufstieg der Massenbewegung des kleinbürgerlichen, antisemitischen, antidemokratischen, militaristischen und fanatisch nationalistischen Adolf Hitler und in dessen Ernennung zum Reichskanzler fand Roosevelt sein Bild von Deutschland und den Deutschen nur bestätigt. Diese Ansichten und Erfahrungen setzten ihn in den Stand, schon sehr früh zu erkennen, mit welchem Gewaltregime er es in innen- wie außenpolitischer Hinsicht zu tun bekommen würde. Von den Deutschen, die dies nicht nur zuließen, sondern auch noch begeistert feierten, hatte er bis zu seinem Tod insgesamt keine besonders gute Meinung, auch wenn er deswegen noch lange nicht zu einem "Feind der Deutschen" oder gar zu einem jener "emotionalen Deutschenhasser" wurde, "die während der NS-Zeit ihre Gefühle in Artikeln, Broschüren und Büchern entluden"187 Aber daß diese Nation, die diesem Führer anscheinend gläubig und unbeirrbar bis zum Ende folgte, nach der Kapitulation nicht mit Samthandschuhen angefaßt zu werden brauchte, das war dem Präsidenten so selbstverständlich wie der Masse der Bevölkerung in den 46 Ländern der Kriegskoalition. Die Frage war nur, wie "harter" und "weicher" Friede konkret definiert würden. Die Wurzel der "querelIes allemandes" im 20. Jahrhundert waren für Roosevelt Militarismus und ein Preußen turn, die ihre Stützen für ihn in den Junkern, der hohen Bürokratie, der Großindustrie und dem Generalstab hatten. Es ist strittig, ob er neben diesen "alten Kräften" genügend oder überhaupt erkannt hat, in wie starkem Maße
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Albrecht Tyrell, Die amerikanische Deutschlandplanung - Konzeptionen und Kontroversen 1941-1945, in: Oswald Hauser (Hrsg.), Das geteilte Deutschland in seinen internationalen Verflechtungen, Göttingen 1987, S. 51. Vgl. Herzstein, Roosevelt and Hitler, S. 78. Gaddis, Cold War, S. 99. Herzstein, Roosevelt and Hitler, S. 69. Zit. nach Snell, Wartime Origins, S. 31. Herrnann Graml, Die deutsche Frage, in: Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart 1983, S. 288.
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I. Am Vorabend der Besetzung
der "Hitlerismus" auch und vor allem ein Phänomen neuer Kräfte, eines neuartigen Ideologie-Konglomerats und neuer, "moderner" Methoden war. 188 Wie dem gewesen sein mag, wichtig war für ihn zuallererst, die Fehler von 1918 nicht zu wiederholen und es diesmal jedem Deutschen, von der Reichsregierung bis hinab zum Mann auf der Straße, unwiderleglich zu beweisen - und das bedeutete: unmittelbar vor Augen zu führen -, daß das Reich und seine Armee diesmal vollständig besiegt waren. Zum anderen pochte er darauf, den Militarismus - und das hieß für ihn: Preußen - auf alle Zeiten hinaus unschädlich zu machen und auch in den Augen der Deutschen selbst nach Möglichkeit auf Dauer zu diskreditieren. 189 Sehr viel mehr als diese bei den "Schlüsselelemente" finden sich in seinem Bild von Deutschland nicht. Es hing viel davon ab, welche Vorschläge ihm für die amerikanische Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland vorgelegt wurden und welche davon, dies vor allem, für seine beiden großen Verbündeten in Europa akzeptabel waren. Innerhalb der Roosevelt-Administration gab es im Krieg über die allen gemeinsame Verachtung des "Hitlerismus" hinaus sehr unterschiedliche Auffassungen über die deutsche Diktatur und die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu ihr. Ohne daß damit alle Strömungen in Washington abgedeckt wären, ergibt sich aus der Unterscheidung von zwei Denkschulen doch ein "Grundmuster" von genügender Orientierungskraft: auf der einen Seite die auch als "Linke" (oder "nationalistische Liberale"190) bezeichnete progressive Strömung, die einen "Karthago-Frieden" ansteuerte, auf der anderen das Lager der "realpolifischen Schule'~ die wirtschaftliche Vernunft vorwalten lassen wollte und der es um eine "Sicherung des deutschen Potentials" zu tun war. 191 Die Progressiven, deren Hauptprotagonist Henry Morgenthau gewesen ist und zu der Männer wie Sumner Welles, Henry Dexter White und auch Harry Hopkins zu zählen sind, konnten den Präsidenten selbst zu ihren "Sympathisanten" rechnen. Bei den "Realpolitikern" wie John J. McCloy, CordeIl Hull und den meisten hohen Beamten des State Department war Kriegsminister Stimson eindrucksvollste Persönlichkeit und wirkungsvollster Sprecher. Diese beiden Denkschulen beeinflußten das jeweilige, mehr oder weniger fest gefügte Deutschlandbild und die daraus resultierende Formulierung der amerikanischen Nachkriegsziele erheblich. Ähnlich wie Roosevelt selbst, empörten sich die Progressiven vor allem darüber, daß Eliten wie Bevölkerung einen Mann wie Hitler hatten groß werden lassen und ihm bis "fünf nach Zwölf" die Stange hielten. Aber wesentlich dezidierter und radikaler als der Präsident machten die "Chaos-Boys" (wie sie mitunter apostrophiert wurden) um Morgenthau und ihr Anhang in Wissenschaft und Öffentlichkeit als eine der Hauptursachen der Aggressivität Deutschlands die über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hinweg entstandene "deutsche Ideologie" und noch mehr das deutsche Wesen aus. Dieses weise eine gefährliche Konzentration von Autoritätsgläubigkeit, Untertanengeist, Aggression und Sadismus auf. 192 Hinzu kam Preußen als Hauptschuldiger an der gefährlichen deutschen Unruhe sowie der einem New Dealer unschwer einleuchtende verheerende gesellschaftliche Einfluß von Trusts und 188 189 190 191
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Vgl. die Überlegung bei Van Everen, Roosevelt and the German Problem, S. 461 ff. Gaddis, Cold War, S. 100. Das folgende Zitat ebenda. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 1982, S. 34. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 92ff.; Zitate S. 92 und S. 97. Hervorhebung von mir. Das folgende vor allem nach diesem Werk. Siehe ebenda, S. 92f. Das folgende ebenda, S. 93ff.; Zitate S. 93, S. 94 und S. 101.
3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen
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Großkonzernen. Aus der Einsicht in die "Verderbtheit" des deutschen Charakters und die "Verderblichkeit" der Rolle von Militarismus und Großkapital folgte als Rezept zur dauerhaften Niederhaltung Deutschlands neben einer tiefgreifenden politischen Säuberung und radikalen Zwangsreedukation der Bevölkerung die Zerschlagung Preußens (vielleicht sogar des Reiches) ebenso wie die des großen Kapitals. Die "Realpolitiker" hingegen ließen sich weder auf die damals modischen psychologisierenden Erklärungsansätze ein, noch nahmen sie die idealistische Kriegsideologie ihres Präsidenten allzu wörtlich. Für sie waren die Deutschen, cum grano salis, ein Volk wie jedes andere, das letztlich selbst von einem verbrecherischen Regime, einer Bewegung von Usurpatoren und Außenseitern ("outlaws"193), ins Elend geführt worden war; die Identifizierung von Deutschland und Nationalsozialismus war für sie eine unpolitisch-emotionale Vereinfachung. Gleichwohl stellten sie nicht in Abrede, daß es in der NS-Diktatur einen gewissen Grad der Übereinstimmung zwischen Volk und Führung gab, daß das Regime die Armee zum Instrument seiner Aggression gemacht hatte und daß auch andere gesellschaftliche Gruppen und Bereiche partiell mit Hitler kooperierten. Daraus folgte für die Gemäßigten die Notwendigkeit, die Regime-Spitzen zu beiseitigen und Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation zwar strenger Kontrolle zu unterwerfen, aber seine Struktur keineswegs so drastisch zu verändern, daß es aus dem Kreis der Industriestaaten ausschied. Besonders wenig leuchtete den Vertretern der realpolitischen Schule, unter denen sich viele einflußreiche Wirtschaftsmanager fanden, die Theorie ein, das deutsche "big business" sei der eigentliche SteigbügeihaIter und der Hauptkomplice Hitlers. Was sie nach dem Sieg Eisenhowers vorhatten, zielte auf scharfe Kontrolle und eine pragmatische Stabilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hin. Damit wollte das in traditionelleren machtpolitischen Kategorien denkende "antiprogressive" Lager (Hans-Peter Schwarz) innerhalb der Roosevelt-Administration dem zerstörten Europa das dringend benötigte deutsche Potential erhalten und einer sowjetischen HegemonialsteIlung in Mitteleuropa wenigstens nicht auch noch selbst Vorschub leisten. Diese Art des Pragmatismus, die sich trotz der unvermeidlichen Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion keinerlei Illusionen über Regime und Ideologie des Kommunismus machte, verband sich mit dem genuin humanen Impetus, die deutsche Bevölkerung nicht mit Methoden, die sich die Nationalsozialisten hätten einfallen lassen können, mutwillig der Verelendung preiszugeben. Als Henry Morgenthau im Spätsommer 1944 seine berühmten Pläne zur "Deindustralisierung" Deutschlands vorlegte, reagierte Kriegsminister Stirnson, Republikaner und Kopf der "Realpolitiker", augenblicklich und mit unmißverständlichen Wendungen auf die moralische VerächtIichkeit solcher Gedankenspiele 194 - Gedankenspiele deshalb, weil diese Ideen zwar allerhand Aufregung in die Planung der Deutschlandpolitik brachten, sich schließlich auch in einigen Elementen in einigen Direktiven wiederfinden sollten, bei der Besetzung Deutschlands durch die U.S. Army 1944/45 und der dann verfolgten Politik aber genausowenig ins Gewicht fielen wie die vielen spektakulären, die Öffentlichkeit auch lebhaft beschäftigenden Überlegungen und aktionistischen Unternehmungen etwa der berüchtigten, im Dezember 1943 gegründe193 194
Niethammer, Mitläuferfabrik, S. 34. Vgl. 1/5.
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ten "Gesellschaft zur Verhinderung des Dritten Weltkriegs"195; wüste Pläne l96 von "Ausrottern"197 vom Schlage des Außenseiters Theodore N. Kaufman l98 und anderer Phantasten wurden niemals ernsthaft diskutiert. Andererseits endeten aber auch Organisationen wie das Anfang 1944 gebildete, linkssozialistisch geprägte "Council for a Democratic Germany", das sich für eine "kreative"199 und konstruktive Politik gegenüber Nachkriegsdeutschland einsetzte, in "Frustration und Scheitern"20o. Es gelang ihm nicht, das Ohr der Öffentlichkeit, geschweige denn die Unterstützung der Regierung der Vereinigten Staaten zu erreichen. Die deutschen Emigranten, die sich als Repräsentanten des "anderen Deutschlands" verstanden, hatten es 1944/45 in der amerikanischen Debatte über den "Hitlerismus", die deutsche Wesensart und die Zukunft des Deutschen Reiches freilich auch nicht leicht, denn allenthalben trafen sie auf Klischees und groteske Stereotypien. Mit das größte Kapital zog Hollywood aus der Chance, nun dick in Schwarz und Weiß auftragen zu können. Beginnend zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges und dann massiv seit 1939 bzw. 1941, beschäftigte sich die Filmmetropole zunehmend mit dem nationalsozialistischen Regime, wobei deutschen Emigranten wie Fritz Kortner, Fritz Lang, Douglas Sirk oder Billy Wilder eine führende Rolle zufiel. Neben eindringlichen Spielfilmen, höchst unterhaltsamen Streifen ("Casablanca") oder glänzenden Satiren ("Der Große Diktator") standen allerdings platteste Machwerke, in denen die Deutschen meist als "Heinis", "Krauts" und "Nazis" auf die Leinwand kamen. Sie sprachen mit gutturaler Stimme, waren hinterlistig und böse, ebenso lüstern wie verklemmt und konnten das Zusammenschlagen der Hacken nicht unterdrücken. 201 Die amerikanische Filmindustrie, die überwiegend internationalistisch eingestellt war und sich vor allem mit dem deutschen Gegner befaßte (die ]apaner waren in den USA ohnehin verhaßt, die Italiener galten als harmlos), drehte während des Krieges etwa 150 Spielfilme mit antideutscher Tendenz. Wegen des starken deutsch-amerikanischen Bevölkerungsanteils war das durchaus eine heikle Aufgabe, die vorwiegend, aber nicht durchweg einseitig erledigt wurde. Es gab aber auch andere Akzente, den 195
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Joachim Radkau, Die Exil-Ideologie vom "anderen Deutschland" und die Vansittartisten. Eine Untersuchung über die Einstellung der deutschen Emigranten nach 1933 zu Deutschland, in: APuZ B2/1970, S. 31 ff. Siehe auch Wulf Köpke, Die Bestrafung und Besserung der Deutschen. Über die amerikanischen Kriegsziele, über Völkerpsychologie und Emil Ludwig, in: Thomas Koebner, Gert Sautermeister, Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 79 ff. Snell, Wartime Origins, S. 8 f. Günter Moltmann, Amerikas Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg. Kriegs- und Friedensziele 19411945, Heidelberg 1958, S. 21. Siehe dazu Wolfgang Benz,Judenvernichtung als Notwehr? Die Legenden um Theodore N. Kaufman, in: VfZ 29 (1981), S. 614ff. Wemer Link, German Political Refugees in the Uni ted States during the Second World War, in: Anthony Nicholls, Erich Matthias (Hrsg.), Gerrnan Democracy and the Triumph of Hitler, London 1971, S. 253. Ebenda, S. 253. Von der "Einflußlosigkeit", der Frustration und dem "Scheitern" deutscher Intellektueller im OSS berichtet Alfons Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht. Deutsche Emigranten im amerikanischen Staatsdienst 1942-1949, in: Koebner, Sauterrneister, Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler, S. 136 ff. Im Krieg entstanden auch eine Fülle von Theaterstücken und Romanen, die nicht viel stärker differenzierten. Upton Sindair etwa beschrieb in seiner 1944 erschienenen Novelle "Presidential Agent" die Auseinandersetzung zwischen den USA und Deutschland als Kampf von Gut und Böse schlechthin. Die Deutschen, besonders die Jugend, waren darin von den Gewaltideen Hitlers durchweg fanatisiert. Deswegen, so das Fazit, das der Agent dem Präsidenten schließlich unterbreitet, gebe es keinen anderen Ausweg, als diese "Monster und Verrückten" zu töten. Vgl. John M. Blum, V was far Victory. Politics and Culture during World War II, New York 1976, S. 52.
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Film "Das Siebte Kreuz" von Fred Zinne mann nach dem Roman von Anna Seghers beispielsweise, in dem der aus dem Konzentrationslager entkommene Georg Heisler (Spencer Tracy) nur gute Deutsche trifft, die ihm bei der Flucht helfen. Insgesamt nehme sich die amerikanische Spielfilm produktion dieses Genres nach Meinung eines Kenners jedoch "als Addition finster komischer Klischees" aus, an deren Propagandawirkung im Rückblick ernstlich zu zweifeln sei. 202 Stießen die Spielfilme, namentlich wenn sie Starbesetzung aufwiesen, wenigstens auf ein breites Publikumsinteresse, so war bei den in offiziellem Auftrag gedrehten, ästhetisch vorzüglich gemachten Dokumentarfilmserien (etwa "Warum wir kämpfen" von Frank Capra 203 ) nicht einmal das der Fall. Ein umfassendes sozialpsychologisch orientiertes Forschungsprojekt, das vom War Department finanziert wurde, kam jedenfalls zu dem Ergebnis, daß solche Streifen die Kriegsursachen zwar in leicht faßlicher Form mitteilten, diese Information dem Zuschauer aber nur kurz im Gedächtnis haftenbliebe. Ihr Hauptziel, nämlich die Kampfbereitschaft des Soldaten zu steigern, verfehlten die dokumentarisch angelegten Propagandastreifen jedenfalls gründlich, so das Fazit der Untersuchung. 204 Die amtliche Kriegspropaganda der USA blieb im Zweiten Weltkrieg weitgehend sachlich. Sie vermied bewußt die grotesken Übertreibungen und Simplifizierungen, wie sie in der freien künstlerischen Arena gang und gäbe waren. Das "Office of War Information" (OWI), das im Sommer 1942 eingerichtet worden war, um das amerikanisehe Engagement in Europa und Asien ins rechte Licht zu setzen, bemühte sich, einen hysterischen Propagandastil wie im Ersten Weltkrieg nicht wieder aufkommen zu lassen. 205 Damals war gegen alles "Teutonische" gerast worden. Den "Krauts" hatte man angedichtet, sie hätten die Gewohnheit, dem erlegten Feind das Fett auszubraten und Schwangere mit dem Bajonett ans nächste Scheunentor zu spießen; "Hamburger" wurden zu "Salisburg steak", "Sauerkraut" in "Iiberty cabbage", Freiheitskohl, umgetauft. Diese Hunnen-Propaganda gegen Deutschland, die nach 1919 auch in Amerika scharfe Kritik gefunden hatte, war den meisten noch in guter Erinnerung. Nichts davon nahm das Kriegsinformationsamt unter dem Publizisten Eimer Davis wieder auf. Das OWI verkaufte vor allem das optimistisch überhöhte Bild des ,,American Way of Life". Durch diese Selbstdarstellung ("Projektion von Amerika"206) sollte sich dem Betrachter der Kontrast zu einem Leben in der Diktatur von selbst erschließen. Die Broschüren, Filme, Plakate, Rundfunkbeiträge handelten von "apple pie" und "baseball", technischen Glanzleistungen und lokalpolitischen Debatten in irgendeinem Nest in Wisconsin, von vielköpfigen Familien im Grünen, vom "working man", der am Sonntag den Gottesdienst besuchte, kurz: das Idealbild und Idyll einer selbstbewußten Gesellschaft und funktionierenden Demokratie. Für jedermann wurde un-
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So Hans Christian Blumenberg in seiner instruktiven Skizze "Hollywood und Hakenkreuz", in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 1971, Nr. 6. Vgl. Pogue, George C. Marshall, S. 91 f. Alice Goetz, Bemerkungen zum "Zeitgeist", in: Hollywood und die Nazis. Filme, die Hollywood gegen Hitler-Deutschland drehte, Broschüre, Hamburg 1977, S. 18. Hierzu Allan M. Winkler, The Politics of Propaganda. The Office of War Information 1942-1945, New Haven 1978. Hierzu Siegwald Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda gegen das Deutsche Reich in den Jahren 1944/45, Diss., Wien 1978, S. 253 H.
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I. Am Vorabend der Besetzung
mittelbar einsichtig, daß die Verteidigung dieses Landes und dieser Gesellschaft lohnenswert war und der alliierte "Kreuzzug in Europa" jeden einzelnen anging. 207 In den USA zweifelte nach 1941 kaum jemand daran, daß die Nation einen gerechten Kampf, einen "guten Krieg"208, führe. Ein Vierteljahr nach Pearl Harbor waren beinahe zwei Drittel der Bevölkerung der Auffassung, die Vereinigten Staaten kämpften für "ein Ideal"209. Ungefähr die Hälfte der Amerikaner hatte freilich keine Vorstellung davon, worum genau es in diesem Krieg letztlich ging. Die Prinzipien der im Sommer 1941 verkündeten ,,Atlantik-Charta"2!O waren dem Mann auf der Straße praktisch unbekannt. 211 Daran, daß die USA den Feldzug gegen die Achsenmächte gemeinsam mit ihren Alliierten letztlich für sich entscheiden würden, gab es für den Durchschnittsamerikaner nie ernstliche Zweifel. 1942 wie 1944 zeigten sich ungefähr 85 Prozent der Bevölkerung gleichbleibend zuversichtlich. Die öffentliche Kritik an den Barbareien des NS-Regimes war schon zwei, drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung hart und eindeutig gewesen. 2!2 Spätestens 1937 war der ,,Anti-Nationalsozialismus" praktisch zum Grundtenor der öffentlichen Meinung geworden. 213 ImJahr 1939 waren ständig zwischen 82 und 94 Prozent der Amerikaner davon überzeugt, daß Berlin den Krieg wolle. Trotz der eindeutigen Ablehnung Hitlers und des Nationalsozialismus galt den meisten Amerikanern aber nicht Deutschland, sondern Japan als der "eigentliche Feind der Nation", wie der britische Botschafter Lord Halifax im Sommer an das Foreign Office schrieb. 2!4 Der Überfall auf Pearl Harbor hatte ihnen nur ein verbreitetes, rassistisch eingefärbtes Vorurteil gegen die Japaner bestätigt. ,,A Jap is a Jap", ging die Rede; gleichgültig, ob amerikanischer Staatsbürger oder nicht, Japanern sei von Natur aus nicht zu trauen. Solche Töne waren gegenüber Deutschen noch lange nach dem amerikanischen Kriegseintritt selten zu vernehmen. In ihrem Bericht für das zweite Quartal 1943 vermerkte die britische Botschaft in Washington sogar noch, es bestehe gegenüber Deutschland relativ wenig Antipathie in der Bevölkerung, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die 30 Millionen deutschstämmige Amerikaner eine geachtete Bevölkerungsgruppe seien. Dies komme unter anderem in der überwiegenden Ablehnung der strategischen Entscheidung des "Germany first" zum Ausdruck. Von einer Identifizierung der deutschen Bevölkerung mit der Politik des NS-Regimes war bis 1943 ebenfalls wenig zu verspüren. Meinten 1939 etwa zwei Drittel aller Amerikaner, die Deutschen stünden nicht wirklich hinter Hitler, so glaubte noch Anfang 1944 die überwiegende Mehrheit, das deutsche Volk würde ihre Führung am liebsten loswerden, habe aber keine Möglichkeit dazu. Die starke Präsenz vansittartistischer Ideen in den Medien fand in der Einstellung der amerikanischen Bevölkerung 207 208
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Zur Propagandakonzeption der Psychological Warfare Division von SHAEF siehe III/3. Neben zahllosen Umfragen ergab dies eindeutig auch die große Oral History Studie von Studs Terkels, "The Good War". An Oral History of World War Two, New York 1984. Michael Leigh, Mobili2ing Consent. Public Opinion and American Foreign Policy, 1937-1947, Westport 1976, S. 80. Siehe oben [/2. Hadley Cantril (Hrsg.), Public Opinion 1935-1946, bearb. von Mildred Strunk, Princeton 1951, S. 1077. Die folgenden Zahlen ebenda, S. 1083. Vgl. Junker, Kampf um die Weltmacht, S. 19f. Herzstein, Roosevelt und Hitler, S. 113. Die folgenden Zahlen ebenda, S. 114f. Bericht von Botschafter Lord Halifax nach London v. 31. 8.1943; in: Confidential Dispatches. Analyses of America by the British Ambassador, 1939-1945, Evanston 1973, S. 98. Auch zum folgenden.
3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen
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nur schwache Resonanz. Anders als in Großbritannien, hing in den USA nur eine kleine Minderheit solchen Vorstellungen ernstlich an. Während den ganzen Krieg hindurch mindestens die Hälfte der Engländer "das deutsche Volk" als ihren Feind betrachtete, erreichte dieser Anteil in den USA (von November 1944 abgesehen) nie die 20-Prozent-Marke. Eine allmähliche Versteifung solcher Einstellungen schlug sich 1942/43 darin nieder, daß sich der Prozentsatz derer, die nicht nur die deutsche Führung, sondern die deutsche Bevölkerung als Gegner empfanden, beinahe verdoppelte. Zugleich halbierte sich bei Meinungsumfragen der Anteil derjenigen, die meinten, das deutsche Volk sei "nicht anders als jedes andere auch"215. In den Berichten der britischen Botschaft tauchten erste Hinweise auf einen Wandel des amerikanischen Urteils über Deutschland und die Deutschen Ende 1943 auf, wobei die negativen Auswirkungen des "deutschen Vandalismus in Italien" hervorgehoben wurden. 216 Das Bild begann sich nun zu verdüstern. Ende des Sommers 1944 faßte die diplomatische Vertretung Großbritanniens die allgemeine Stimmung in den USA gegenüber Deutschland so zusammen: "Die steigenden amerikanischen Verluste beim Kampf gegen die Deutschen in Frankreich, Italien und anderswo haben zu einer Verhärtung der Meinung gegenüber Deutschland beigetragen. Berichte aus allen Konsularbezirken haben auf diese Tendenz für die zurückliegenden Monate hingewiesen. Während der Morgenthau-Plan einer Umwandlung Deutschlands in ein Ackerland allgemein als zu hart oder wenigstens undurchführbar kritisiert worden ist und zu bitteren Ausbrüchen der deutschsprachigen Presse geführt hat, gab es keinen Zweifel daran, daß das Verlangen nach einer härteren Behandlung, die bekanntermaßen auch von der Regierung befürwortet wird, angewachsen ist."217 Zu diesem Zeitpunkt billigte bereits eine überwältigende Mehrheit sowohl die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation wie eine Totalbesetzung Deutschlands. 2lB Die Erklärung von Jalta von Mitte Februar 1945 wurde "außerordentlich günstig" aufgenommen. 219 Mit dem Ende des Krieges in Europa war in den USA auch das Meinungsklima gegenüber Deutschland und den Deutschen so rauh wie nie zuvor und nie danach. Unmittelbare Ursache dafür war der Schock über die von den amerikanischen und britischen Truppen befreiten Konzentrationslager im Innern des Deutschen Reiches. Erst durch die von niemandem zu leugnende Evidenz der Barbarei wurden die Menschheitsverbrechen des "Hitlerismus" eine für jedermann unbezweifelbare Realität. 220 "Im Augenblick", urteilte die britische Vertretung in ihrer Analyse vom 6. Mai 1945, "ist das Gefühl des Horrors und der Empörung mindestens so stark wie das zuvor nur von den Japanern erregte, das sehr tief ging: Es sieht so aus, als ob auch dieses Gefühl eine unheilbare Wunde hinterlassen wird."22I Dennoch: Als die Photographien aus den Konzentrationslagern um die Welt gingen, waren in den Vereinigten Staaten trotzdem nicht mehr als 13 Prozent der Bevölkerung dafür, Deutschland im Sinne der 215 216 217 218
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Cantril, Public Opinion, S. 1075. Bericht der Botschaft vom 21. 2. 1944; Confidential Dispatches, S. 139. Zusammenfassender Bericht der Botschaft für das dritte Quartal 1944 v. 27. 11. 1944; ebenda, S. 204. Anthony J. Nicholls, American Views of Germany's Future during World War 11, in: Lothar Kettenacker (Hrsg.), Das ,,Andere Deutschland" im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive, Stuttgart 1977, S. 78. Wochen bericht der britischen Botschaft v. 17.2. 1945; in: H. G. Nicholas, Washington Dispatches 19411945. Weekly Political Reports from the British Embassy, London 1981, S. 515. Siehe dazu VII/3. Wochen bericht der britischen Botschaft v. 6. 5. 1945; in: Washington Dispatches, S. 553.
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I. Am Vorabend der Besetzung
Vorstellungen von Henry Morgenthau J r. in ein vorwiegend agrarisches Land zu verwandeln. 222 Bei den Soldaten einer Millionenstreitmacht wie der U.S. Army dürfte sich das Meinungsbild im Verlauf des Krieges ähnlich entwickelt haben wie in der Bevölkerung. Von den Deutschland-Debatten hatten die allermeisten G.I.s sicher keine Kenntnis. Einiges über den "Hitlerismus" wußten sie aus den für sie gedrehten Propagandafilmen des War Department, ein paar oberflächliche Informationen über Deutschland und die Deutschen konnten sie in ihren Ausbildungsbroschüren finden. Einen nachhaltigen Eindruck gewannen sie erst 1943 und insbesondere seit der Invasion in der Normandie im Juni 1944, nachdem sie unmittelbar mit den "Krauts" der Wehrmacht konfrontiert waren. Die steigende Zahl eigener Gefallener und die Gerüchte und Berichte über das Verhalten der Deutschen in den besetzten Ländern, die die amerikanischen Befreier von der Zivilbevölkerung zu hören bekamen, hinterließen bei den G.I.s einen starken Eindruck. Sogar die britische Botschaft in Washington wies in einem ihrer allgemeinen Lageberichte im Herbst 1944 ausdrücklich auf diese Tendenz in amerikanischen Soldatenbriefen hin. 223 Ein vielleicht extremes Beispiel dafür ist der Brief, den ein hochgebildeter, aus bürgerlichem Hause stammender 39jähriger Leutnant der Second Armored Division im Sommer 1944 aus dem schwer umkämpften Raum von Caen nach Hause schrieb. Eine französische Familie habe ihm "viele interessante Geschichten aus den vier Jahren unter deutscher Knute erzählt", berichtete er. "Die Soldaten waren im großen und ganzen ,tres correct'. Doch dies gute Benehmen ging Hand in Hand mit den wildesten Grausamkeiten, und dann wunderten sie sich, warum alle sie (die ,Boches') nicht mochten. In einem Dorf, so haben sie mir erzählt, wo eine Eisenbahnbrücke wiederholt vom Maquis gesprengt worden war, befahl ein deutscher Offizier, daß jeder im Bahnhof (ganz gleich, was er dort machte) erschossen werden sollte; dann holte er den Bürgermeister, den ,Cure' und die Honoratioren des Dorfes zusammen, ließ sie vor den Augen der übrigen Bevölkerung erschießen und ließ dann alle übrigen Männer, Frauen und Kinder in die Kirche marschieren, schloß sie dort ein, goß Benzin an das Gebäude und zündete es an. Etwas ganz Ähnliches passierte in einem Dorf nicht weit von hier."224 Wie repräsentativ oder auch nur typisch dieses Zeugnis ist oder wie intensiv antideutsche Tendenzen weiterwirkten, die bei vielen amerikanischen Soldaten im Laufe der Kämpfe in Frankreich aufkamen, läßt sich schwer abschätzen. Im Lichte des späteren Verhaltens der G.I.s in Deutschland wird man den Grad vorgefaßter Animositäten eher als gering ansehen müssen. Die amerikanischen Soldaten, die mit ihren Einheiten Anfang September 1944 gegen die Reichsgrenze vorrückten, befanden sich schwerlich in permanenter Kreuzzugsstimmung. Genau wie nur irgendein Soldat sonst, sorgten sie sich zuallererst darum, heil wieder nach Hause zu kommen, zumal der Krieg jeden Tag zu Ende zu gehen schien.
222 Cantril, Public Opinion, S. 1116. '" Bericht der britischen Botschaft für das dritte Quartal 1944; in: Confidential Dispatches, S. 218. 224 War LeIters of Morton Euslis 10 His MoIher. February 6, 1941 to August 10, 1944, Washington 1945,
S.227.
3. "Hitlerismus", Deutschland und die Deutschen
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Wahrscheinlich ist ein kleines Büchlein, der "Pocket Guide to Germany"2ZS, die Hauptquelle gewesen, aus der die meisten amerikanischen Soldaten unter General Eisenhowers Kommando ihre Deutschlandkenntnisse bezogen. Die handliche Schrift von knapp fünfzig Seiten Umfang war nicht von SHAEF, sondern unter Federführung von John J. McCloy in der Morale Services Division des Kriegsministeriums verfaßt worden. 226 Im November 1944 gab es auf dem europäischen Kriegsschauplatz schon zwei Millionen Exemplare davon 227 , und es hat wohl kein G.I. gegen Hitler gekämpft, der den Guide nicht irgendwann einmal in Händen gehalten hätte. Neben Hinweisen wie: "Deutschland ist nicht so groß wie Texas, aber es hat eine abwechslungsreiche Landschaft", stand darin alles, was der Soldat über den Feind wissen sollte. Zunächst fand der G.I. sich selbst mit den Deutschen verglichen, und zwar ganz im Stile der Propaganda, wie sie vom Office of War Information betrieben wurde. Mit "Du weißt" oder "Du hast gelernt" begann die Aufzählung amerikanischer Vorzüge und Tugenden. Dem Amerikaner sind im Wettkampf unfaire Methoden ein Greuel, nach einer Niederlage reicht er dem Bezwinger stets die Hand; er ist als "freier und gleicher Mensch geboren", lebt in einer Demokratie mit von ihm selbst bestimmten Repräsentanten an der Spitze, "wo nur die persönlichen Fähigkeiten die Grenze des Erfolges bestimmen". Die Deutschen konnten da nicht mithalten, besonders den jüngeren unter ihnen, so der Leitfaden, gelte das Prinzip des fair play gar nichts; keiner habe Bedenken, sein Wort zu brechen, wenn es ihm vorteilhaft erscheine. Außerdem seien die Deutschen selbstgerecht und larmoyant. Sie ließen es an jeder Regung des Bedauerns für die Millionen von Opfern der deutschen Aggression fehlen, sie seien nur betrübt, wieder einmal einen Krieg zu verlieren. Für den Fall einer etwaigen Nachfrage aus der deutschen Bevölkerung nach den Eigenschaften der Deutschamerikaner wurde dem G.I. die Antwort empfohlen, bei jenen handele es sich um die Nachfahren der Auswanderer von 1848, die bekanntlich "die Freiheit liebten und die Tyrannei haßten". Trotz seiner unamerikanischen Züge und seinem Hang zur Unaufrichtigkeit wurde der Deutsche aber nicht in vansittartistischer Manier als unheilbar deformiert geschildert, auch von einem aggressiven, auf Eroberung gestimmten Nationalcharakter war nirgends die Rede. Selbst die fanatische deutsche Jugend, so der Guide, sei lediglich indoktriniert, "Opfer des größten Erziehungsverbrechens der Weltgeschichte". Der Hauptvorwurf an die Adresse der deutschen Bevölkerung lief darauf hinaus, daß diese in ihrer Gesamtheit wissentlich ein Gewaltregime unterstützt habe. In diesem Zusammenhang ergaben sich aber Argumentationsprobleme. Um die Beweisführung nicht durch übertriebene Differenzierung zu stören, wurden dem in Demokratie erfahrenen G.I. zwei ebenso einleuchtende wie unzutreffende Belege genannt: "Vergiß nicht, daß vor elf Jahren eine Mehrheit des deutschen Volkes die Nazi-Partei mit ihrer Stimme an die Macht gebracht hat ... Die ganze deutsche Bevölkerung hatte Hitlers ,Mein Kampf' gelesen. Sie wußte, was Hitler den Minderheiten und der Welt antun würde." Studierte der G.I. das Büchlein wirklich aufmerksam, dann mußten ihm freilich rasch Zweifel am Enthusiasmus der deutschen Bevölkerung und an ihrer Regime-Treue 22'
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Packet Guide to Gennany, hrsg. von den Anny Services Forces, U.S. Anny, Infannation Braneh, Was hington 0.]. (1944). Vgl. das Schreiben des Direktors der Civil Affairs Division des War Department, General John H. Hilldring, an den Stellvertretenden Stabschef von SHAEF, General Julius C. Holmes, Y. 23.6. 1944; NA, RG 331, General Staff, G-5, International Affairs Branch, Conduct of Allied Troops. Schreiben Robert Murphys an das State Department v. 27. 11. 1944; NA, RG 84, Polad 826/15.
I. Am Vorabend der Besetzung
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kommen. In der kleinen Schrift stand nämlich auch, die Nazi-Partei habe jegliche oppositionelle Regung unterdrückt, Hunderttausende in die Konzentrationslager gesteckt, die Propaganda sei allgegenwärtig. Es herrsche eine absolute Bevormundung, die Nazis hätten ein ungeheures Netzwerk der Kontrolle über die Gesellschaft gespannt, ihre Augen und Ohren seien überall. Der Druck und der Terror, dem die Bevölkerung ausgesetzt sei, könne überhaupt nicht beschrieben werden, kurz: die Menschen in Deutschland seien die "Sklaven des Staates"228.
4. Katastrophenjahr 1944 "Kriegskrise"
Nach den exponentiell gewachsenen Kriegsanstrengungen der Anti-Hitler-Koalition hatte sich das Blatt auf den anfänglich von Deutschland, Italien und Japan dominierten Schlachtfeldern rasch gewendet. In der zweiten Jahreshälfte 1942 überschritten die Aggressorstaaten, zuerst in Ostasien, überall den Kulminationspunkt ihrer Machtentfaltung. Für das Deutsche Reich kam mit dem Jahr 1943 der Verlust der strategischen Initiative an allen Fronten. Zum Symbol der Kriegswende 1942/43 wurde das Desaster von Stalingrad, die "erste vernichtende Niederlage"229 des Ostheeres an der für den Ausgang des Krieges entscheidenden deutsch-sowjetischen Front. Mit dem offiziellen Eingeständnis der Katastrophe durch die deutsche Führung, vor allem in der Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943, erhielt die deutsche Bevölkerung zum ersten Mal auch von "ganz von oben eine Bestätigung für den Ernst der Situation, den unterdessen doch fast alle empfanden"2Jo. Mit "Stalingrad" war zugleich jene Entscheidungsphase vorüber, die Hitler - das stand diesem auch klar vor Augen - hätte nutzen müssen, um den Krieg im Osten zu beenden, bevor die Westalliierten ihr volles Gewicht zum Tragen bringen konnten und die gefürchtete "zweite Front" im Westen eröffnen würden; nach der Vernichtung der 6. Armee gab es keine begründete Hoffnung mehr auf einen deutschen Sieg im Osten. 'J ! Im Herbst 1943 war die ausgeblutete Wehrmacht bereits hinter den Dnjepr zurückgedrängt. Zu gleicher Zeit entstand in folge des Zusammenbruchs des italienischen Achsenpartners nach der Landung der Alliierten in Sizilien und südlich Roms eine neue, zäh umkämpfte Front. Das Hauptaugenmerk Hitlers galt neben dem Krieg im Osten freilich nicht der neuen Front in Italien, sondern der eigentlichen zweiten Front, der seit Ende 1943 erwarteten Großinvasion des Kontinents durch die Engländer und Amerikaner. Sie würde Deutschland mit seinen industriellen Zentren im Westen viel unmittelbarer und gefährlicher bedrohen als die immer noch weit entfernten feindlichen Armeen im Süden und Osten. Hitler, der Anfang November dem westlichen Kriegsschauplatz hinsichtlich materieller und personeller Rüstung Priorität vor dem Osten eingeräumt 218 219
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231
Hervorhebung im Original. Bemd Wegner, Hitlers zweiter Feldzug gegen die Sowjetunion. Strategische Grundlagen und historische Bedeutung, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989, S. 66l. Norbert Frei, Der totale Krieg und die Deutschen, in: Norbert Frei, Hermann Kling (Hrsg.), Der nationalsozialistische Krieg, Frankfurt 1990, S. 293. So Wegner, Hitlers zweiter Feldzug, S. 664.
4. Katastrophenjahr 1944
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hatte 232 , sah in der drohenden Invasion zugleich aber auch die größte verbliebene Chance, dem Krieg durch eine erfolgreiche Abwehr der Landung doch noch eine andere Wendung zu geben. "Wenn sie im Westen angreifen", sagte der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht Ende Dezember 1943 zu seinem Stab, "dann entscheidet dieser Angriff den Krieg."233 Gegenüber Goebbels gab sich Hitler Mitte April 1944 davon überzeugt, die Wehrmacht werde die Invasoren "in hohem Stil zurückschlagen"234. Und vier Wochen vor der Invasion vertrat General jodl die Auffassung, eine Abwehr der Alliierten im Westen böte die letzte verbliebene Möglichkeit, die "militärische und politische Lage von Grund auf zu ändern"235. Die nationalsozialistische Propaganda machte gleichfalls keinen Hehl aus der Tragweite der bevorstehenden Schlacht. Endlich sei die Möglichkeit gegeben, den Armeen Roosevelts und Churchills ihre vernichtende Niederlage zu bereiten. Auch die Bevölkerung war anscheinend eher zuversichtlich gestimmt: "Eine Angst vor der Invasion ist kaum festzustellen", berichtete jedenfalls der SD im Mai 1944. "Man nimmt vielmehr eine schwere Niederlage für den Gegner an."236 Die Wehrmachtsführung war sich bis zuletzt über Tag und Ort der Invasion im unklaren. Unzweifelhaft war aber, daß die ersten Tage und Wochen nach der Landung entscheidend sein würden, weil die Alliierten, behaupteten sie erst einen festen Brükkenkopf, ihre materielle Überlegenheit mit jedem Tag stärker ins Spiel bringen konnten. Hitler appellierte deshalb am Tag der Invasion, am 6. juni 1944 - Goebbels nannte ihn in seinem Tagebuch den "entscheidenden Tag des Krieges"237 -, in einem schon Mitte Mai vorbereiteten Aufruf an die Soldaten im Westen, den Feind gar nicht erst Fuß fassen zu lassen. Doch eben dies konnte weder das an der normannischen Küste liegende LXXXIV. Armeekorps unter General Erich Marcks noch die bald herangeführte Verstärkung vereiteln. Bis Mitternacht des "D-Day" hatten die zwischen der Orne-Mündung und der Halbinsel Cotentin gelandeten acht alliierten Divisionen drei große Brückenköpfe gebildet. Als erste Amerikaner setzten die Soldaten der 1st und der 4th Infantry Division den Fuß auf französischen Boden. Die "Big Red One", im Ersten Weltkrieg von dem legendären john J. Pershing kommandiert, hatte bereits die Feldzüge in Nordafrika und Sizilien mitgemacht und sollte in der Folge schließlich über Bonn und durch Thüringen bis auf tschechoslowakisches Gebiet vorrücken. Die noch kampfunerfahrenen Soldaten der 4. Infanterie-Division waren erst vier Monate vor der Invasion aus South Carolina in Liverpool angekommen; sie drangen nach den Kämpfen in Frankreich dann über Worms und Rothenburg bis nach Bad Tölz in Oberbayern vor 238 . Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg, S. 245. Lagebesprechung vermutlich v. 20. 12. 1943, in: Helmut Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, Stuttgart 1962, S.444. 234 Tagebuchaufzeichnung von Goebbels am 18.4. 1944; zit. nach Elke Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944. Aus den Tagebüchern des Reichspropagandaministers, in: VfZ 38 (1990), S. 214. m Zit. nach Dieter Ose, Entscheidung im Westen 1944. Der Oberbefehlshaber West und die Abwehr der alliierten Invasion, Stuttgart 1982, S. 94, der die Entscheidung in der Normandie aus deutscher Sicht darstellt. Aus amerikanischer Perspektive: Gordon A. HaITison, Cross-Channel Attack, Washington 1951. Martin Blumenson, Breakout and Pursuit, Washington 1961. 236 Bericht v. 4. 5.1944; in: Meldungen aus dem Reich. Auswahl aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939-1944, hrsg. v. Heinz Boberach, Neuwied 1965, S. 509. 237 Tagebuchaufzeichnung v. 6.6. 1944; zit. nach Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944, S. 216. 238 Vgl. H. R. Knickerbocker u.a., Danger Forward. The Story of the First Division in World War 11, Atlanta 1947. Vgl. auch Fourth Infantry Division, Baton Rouge 1962. 232
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1. Am Vorabend der Besetzung
Nachdem die Alliierten binnen zweier Wochen über eine halbe Million Mann mit fast 100 000 Fahrzeugen in der Normandie an Land gebracht hatten, verflogen in Deutschland die hochgesteckten Erwartungen. War die Nachricht von der alliierten Landung noch "teilweise mit großer Begeisterung" aufgenommen worden, wie der SD berichtete, so fand Anfang Juli "die Ungeduld, die das Ausbleiben eines kriegsentscheidenden Ereignisses hervorrief", so der Sicherheitsdienst jetzt, "ihren Ausdruck in dem Gerücht, die Kämpfe im Westen verliefen nicht nach unseren Wünschen"239. Das Desaster der Wehrmacht in Frankreich bahnte sich sieben Wochen nach "DDay" an, als am Vormittag des 14. Juli 1944 das VII. und VIII. Corps der U.S. Army unter General Bradley bei dem etwa 30 Kilometer landeinwärts gelegenen Städtchen St. La den Westflügel der deutschen Abwehrfront durchbrachen und eine Woche später, nach einem Vorstoß von ungefähr 60 Kilometern, Avranches erreichten. Schon am Tag nach dem entscheidenden Schlag Bradleys hatte Feldmarschall Rommel Hitler gemeldet, der ungleiche Kampf neige sich dem Ende entgegen. Anfang August stieß dann die Third Army unter George S. Patton tief in das französische Hinterland vor; in der letzten Augustwoche wurden allein im Kessel von Falaise 14 deutsche Divisionen vernichtet. Inzwischen war in Südfrankreich obendrein die Seventh United States Army unter General Patch gelandet, die sich durch das Rhane-Tal nach Norden kämpfte. Als die Amerikaner in der zweiten Septemberwoche die Reichsgrenze zwischen Aachen und Trier erreichten, war das Westheer entscheidend getroffen, 40 der ursprünglich 58 im Westen liegenden deutschen Divisionen waren zerschlagen, beinahe 300000 deutsche Soldaten gingen in Gefangenschaft, waren verwundet oder tot. Die Alliierten hatten ebenfalls beträchtliche Verluste hinnehmen müssen, doch im Gegensatz zu den Streitkräften des Dritten Reiches konnten sie ihre Ausfälle alsbald voll ersetzen. Ein noch gewaltigeres Desaster erlebte die Wehrmacht im Sommer des Katastrophenjahres 1944 im Osten. Hier zertrümmerte die am 22. Juni losbrechende Großoffensive der Roten Armee auf einer Breite von über 1000 Kilometern die Heeresgruppe Mitte und stürzte damit das Ostheer in eine noch "weitaus schwerere Katastrophe" als bei Stalingrad. 240 Unmassen unersetzlichen Materials und ungefähr 350000 Mann gingen verloren. Ende Juli hatten die Russen die Weichsel bei Warschau erreicht und zugleich die Heeresgruppe Nord im Baltikum abgeschnitten; Mitte Oktober auf ostpreußisches Gebiet vorgedrungene Einheiten konnten noch einmal zurückgeworfen werden. In den Krieg in Italien war nach dem Zusammenbruch des deutschen Verteidigungssystems in Süditalien ebenfalls wieder Bewegung gekommen. Zwei Tage vor der Landung in der Normandie zogen die Alliierten in Rom ein, Ende des Jahres standen sie am Apennin. Bis zum Jahreswechsel 1944/45 hatten sich die ehemals verbündeten Staaten vom untergehenden Deutschen Reich gelöst und diesem meist nun ihrerseits den Krieg erklärt. Längst war die Periode der Blitzsiege in einen Abnutzungskrieg eingemündet, den die Achse niemals für sich entscheiden konnte. Mit der unerwarteten Versteifung des sowjetischen Widerstandes war für die Wehrmacht und bald auch für die Zivilbevölkerung, die mit den steigenden Verlustziffern, der wachsenden Bedrohung aus der 239
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Berichte v. 8.6.1944 und "ca. 2. Juli 1944", in: Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich, S. 511 und S.518. Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg, S. 253.
4. Katastrophenjahr 1944
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Luft und zunehmenden Einschränkungen im täglichen Leben die Konsequenzen der deutschen Aggression immer direkter und härter zu fühlen bekam, die zwei Jahre währende Phase des bequemen Krieges vorüber. Die Verluste der Streitkräfte hatten bis zum Sommer 1944 ein erschreckendes Ausmaß angenommen. 3,7 Millionen Soldaten waren verwundet, 900000 gefangen oder vermißt und 1,6 Millionen gefallen, zehnmal so viele wie im Kriegsjahr 1940/4l. 241 Allein an der Ostfront erlitt die Wehrmacht binnen eines halben Jahres, zwischen Juni und November 1944, ein Drittel sämtlicher Kriegsverluste. Nach dem nicht mehr zu verkraftenden Aderlaß der Armee mußte mit jeder neuen Niederlage auch die Kampfmoral nachlassen. Es war nur normal, daß die haushohe Überlegenheit der Gegenseite bei den Soldaten allmählich das Gefühl der Vergeblichkeit allen Einsatzes aufkommen ließ. Ab Sommer 1944 häuften sich bei ihnen Anzeichen von Demoralisierung. 242 "Absolutes Vertrauen auf den Endsieg", so die Einschätzung der ZensursteIle der Wehrmacht an der Ostfront, kam im Herbst 1944 nur noch in zwei Prozent aller Feldpostbriefe zum Ausdruck. Nach dem Desaster in Frankreich und der Flucht hinter den "Westwall" sah es im Westheer nicht besser aus. 243 In die rasche Abschwächung des letzten, mit der Hoffnung auf eine erfolgreiche Abwehr der Invasion verbundenen "Zwischenhochs«244 der Stimmung in Deutschland in der Endphase des Krieges war am 20. Juli 1944 die Nachricht von dem mißglückten Attentat auf Hitler geplatzt. Wenn der Anschlag von der Mehrheit der Bevölkerung ablehnend und empört kommentiert wurde, und zwar - wie der Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg Anfang August berichtete - vielfach "auch von denen, die keine ausgesprochenen Nationalsozialisten sind", so wahrscheinlich auch deshalb, weil zahlreiche Menschen noch immer glaubten, "daß nur der Führer die Lage meistern kann"245. Nach dem gescheiterten Umsturzversuch erfuhr der polizeistaatliche Terror in Deutschland seine letzte Steigerung. Nicht nur den Verschwörern und ihren Angehörigen setzten die Häscher nach, im Rahmen der "Aktion Gewitter" wurden erneut auch Tausende von ehemals prominenten Mitgliedern nicht-nationalsozialistischer Parteien vorsorglich für mehrere Wochen in die Konzentrationslager eingewiesen. Vor allem aber gegen "Wehrkraftzersetzung" in jeglicher Form wurden die Zugriffsmöglichkeiten der Polizei und Justiz zunehmend ausgeweitet. Aus einer harmlosen Bemerkung konnte im Handumdrehen ein todeswürdiges Verbrechen werden. Stand im Jahr 1933 noch auf drei Tatbeständen die Todesstrafe, so waren es 1944 derer 46. Verhängte die "ordentliche" Gerichtsbarkeit zwischen 1934 und Kriegsausbruch ungefähr 700 Todesurteile, so waren es zwischen 1940 und 1944 über 12000. Ein Drittel der Todesurteile gehen auf das Konto des Volksgerichtshofes, der unter Roland Freisler allein 1944 über 2000 Angeklagte zum Tode verurteilte. 246 Vgl. Hans-Adolt Jacobsen, 1939-1945, Darmstadt 1%1, S. 64 und S. 553. Siehe zur Verfassung der Armee im Westen 1944/45 unten IV/1/2 und VII/2. 243 Vgl. hierzu OIaf Groehler, Die Auswirkungen der Niederlagen im Sommer 1944 auf die Kampfmoral der faschistischen Streitkräfte in Westeuropa, in: Militärgeschichte 15 (1976), S. 422. 24' Ian Kershaw, Der Hit/er-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 186. '" Bericht des OLG-Präsidenten v. I. 8. 1944; zil. nach eben da, S. 187. 246 Vgl. Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974, S. 805. Als Abriß auch Ulrich Heinemann, Krieg und Frieden an der "inneren Front". Normalität und Zustimmung, Ter241
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Das Gegenstück zur Verschärfung des Terrors war die neuerliche Steigerung der Durchhaltepropaganda, die die Bevölkerung seit der Katastrophe von Stalingrad bis zum Überdruß zu hören bekam. Himmler und Goebbels, die Garanten für Terror und Propaganda, erreichten nach dem Anschlag auf Hitler den Gipfel ihres Einflusses. Heinrich Himmler, schon seit Sommer 1943 - der Zeitpunkt, als der Führerstaat "in sein letztes Stadium, in eine Phase des Verfalls und der Agonie" einzutreten begann 247 - auch Innenminister, wurde am Tage des Attentats zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Damit unterstanden ihm nicht nur SS, SD, Gestapo und die gesamte Polizeiorganisation, sondern jetzt auch die Ersatztruppen auf deutschem Boden. Eine knappe Woche nach dem 20. Juli wurde Goebbels "Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz". Seine neue Position gab ihm die Möglichkeit, seinen Appellen - wenn auch vielfach eingeschränkt - Weisungen folgen zu lassen. Kurz zuvor, in einer Denkschrift für Hitler vom 18. Juli 1944 248 , hatte er prophezeit, früher oder später werde die Koalition der Kriegsgegner auseinanderbrechen. Es gelte deshalb, Zeit zu gewinnen und alle Kräfte gegen einen Feind zu mobilisieren, der Deutschland "zahlenmäßig überhaupt unerreichbar, materialmäßig und technisch fast unerreichbar überlegen" sei. Deshalb müsse das zivile Leben endlich "aus seinem zum Teil noch vorhandenen Friedenszustand in den echten Kriegszustand" übergeführt werden. Wie in der Sowjetunion schon lange, müsse auch in Deutschland "mit eiserner Hand" durchgegriffen werden. 249 Das war in der Praxis dann freilich nicht der Fall, und die Kriegsmobilisierung der Bevölkerung in Deutschland erreichte auch nach dem Sommer des Katastrophenjahres 1944 nie einen Grad wie etwa in Großbritannien. Real mehr oder weniger ein "Fehlschlag"250, hatte die von Goebbels initiierte "Totalisierung" des Krieges immerhin auf Teile der Bevölkerung wohl den propagandistischen Effekt, die Härten des Krieges seien nun etwas gerechter verteilt als vordem. Als Hauptgewinner der neuerlichen Verschärfung des Regimedrucks nach innen spiegelte sich Goebbels Anfang Dezember 1944, als sich die militärische Lage vorübergehend ein wenig stabilisiert hatte, in seinem Tagebuch selbst vor, der 20. Juli sei nicht nur "der tiefste Tiefpunkt unserer Kriegskrise, sondern der Stichtag unserer Wiedererhebung gewesen"251. Tatsächlich hatte es das NS-Regime - vor allem Hitler selbst - bis in das fünfte Kriegsjahr hinein wohlweislich vermieden, der Zivilbevölkerung allzuviel zuzumuten. Das Trauma der Revolution von 1918 saß tief.25 2 Die Revolutionsfurcht veranlaßte das Regime nicht
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ror und Opposition im Dritten Reich, in: Christoph Kleßmann (Hrsg.), Nicht nur Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, Düsseldorf 1989, S. 37 ff. Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, S 22. Peter Longerich, Joseph Goebbels und der Totale Krieg. Eine unbekannte Denkschrift des Propagandaministers vom 18.Juli 1944, in: VfZ 35 (1987), S. 289ff. Zum Zusammenhang siehe: Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944, S. 195 ff. Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, S.512ff. Zur Rolle Goebbels' bei den Versuchen einer Totalisierung der Kriegsanstrengungen vgl. vor allem Herbst, Totaler Krieg, S. 202 ff. Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, S. 523. Tagebucheintragung v. 4.12. 1944, zit. nach Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944, S. 209. Hervorhebung von mir. Dazu namentlich Timothy W. Mason, Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Carola Sachse, Hasso Spode, Wolfgang Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismus im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 11 ff.
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nur zu einer Verstärkung von Terror und Propaganda, sondern auch zu einer sehr vorsichtigen Dosierung kriegsbedingter Einschränkungen. Im Vergleich zu England konnte in Deutschland der Arbeitseinsatz von Frauen geringer und die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gegenständen des täglichen Gebrauchs lange auf einem höheren Stand gehalten werden. Das war nach Hitlers Auffassung mitentscheidend für die innere Stabilität des Regimes. Immer mehr Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene wurden in der Rüstungswirtschaft verschlissen, immer stärker wurde der Hunger aus Deutschland in die besetzten Länder exportiert. 1944 aber brachen die Voraussetzungen der für die deutsche Bevölkerung noch relativ günstigen Versorgungslage zusammen. Auch die Rüstungsproduktion, die seit 1942 unter dem Kommando Albert Speers trotz des verschärften Bombenkrieges immer neue Rekordergebnisse erzielt hatte, stieß 1944 - nachdem sie im Juli ihren Höhepunkt erreichte - an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und versackte ab Herbst dramatisch. Die Produktionsleistung, die binnen zweier Jahre zum Beispiel eine Vervierfachung der Waffen- und eine Versechsfachung der Panzererzeugung erbracht hatte, war freilich nicht zuletzt deshalb erzielt worden, weil das Heer der meist gewaltsam ins Reich verbrachten "Fremdarbeiter" 1944 auf nicht weniger als 7,6 Millionen Menschen angewachsen war 253 - etwa 20 Prozent des deutschen Arbeitskräftepotentials. Trotzdem blieb das Dilemma unauflöslich, dem Heer immer mehr Soldaten und der Rüstungswirtschaft immer mehr Arbeitskräfte zuführen zu müssen. Es hatte bis 1944 gedauert, ehe die verheerende Wirkung des Luftkrieges voll auf die deutsche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durchschlug. Wesentlichen Anteil daran hatte die amerikanische Luftstrategie, die von Anfang an auf die Zerstörung von Industrie- und Verkehrsanlagen in präzisen Tagesangriffen abgestellt war. Ihre ersten Einsätze gegen Nordwesteuropa hatte die Eigth U.S. Army Air Force schon im Sommer 1942 geflogen, bis Mitte 1943 blieb ihre Aktivität aber begrenzt. Doch danach begann von den über vierzig Basen in Südengland aus die in Casablanca beschlossene "Combined Bomber Offensive" gegen Deutschland. 254 Allein die größte der sechzehn deutschen Hydrieranlagen, die Leuna-Werke in der Nähe Merseburgs, wurde bis Kriegsende zwanzigmal von den Amerikanern angeflogen und dadurch schließlich völlig zerstört. Am 12. Mai 1944 griffen zweihundert Bomber der Army Air Force die Werke zum ersten Mal an. Nach zehn Tagen waren die Anlagen notdürftig zusammengeflickt und begannen wieder zu produzieren. Nach sechzehn Tagen erfolgte der nächste amerikanische Anflug auf Leuna. Es waren diese laufend wiederholten Attacken auf die Hydrieranlagen, die die deutsche Treibstoffproduktion schließlich zum Erliegen brachten. So half es wenig, daß die deutsche Flugzeugproduktion 1944 ihren Höchststand erreichte, zu gleicher Zeit die Produktion von Flugbenzin aber drastisch sank. Die Gesamterzeugung in den knapp zehn Mona-
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Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985, S. 11. Vgl. hierzu Wesley F. Craven,James L. Cate (Hrsg.), The Anny Air Forces in World War 11, Bd. 3: Europe: Argument to V-E Day,january 1944 to May 1945, Chicago 1951; zur Luftoffensive der Royal Air Force Sir Charles Webster, Noble Frankland, The Strategie Air Offensive against Gennany 1939-1945,4 Bde., London 1961.
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ten von Juli 1944 bis zum Ende des Krieges belief sich auf nicht viel mehr als eine einzige Monatsproduktion in der Zeit vor den amerikanischen Angriffen. Schon 1943 hatte die Reichsregierung die Konsequenzen aus der Luftbedrohung zu ziehen versucht und mit der Verlagerung einiger Produktionsstätten in weniger "luftgefährdete" Gebiete des Reiches begonnen. 1944 wurden unter Mitwirkung einer tatsächlich so genannten "Höhlenverteilungsstelle" eine Anzahl von Betrieben unter Tage installiert. Die unterirdische Fertigung konnte allerdings niemals auch nur einen Bruchteil der Produktionsausfälle ausgleichen, die durch die Bombardierungen entstanden. Die meisten dieser Vorhaben kamen nicht über das Planungsstadium hinaus. Die größte unterirdische Fabrik war das "Mittelwerk", das in einem zwei Quadratkilometer großen Tunnelareal im Kohnstein bei Nordhausen im Harz untergebracht war und vor allem Raketentriebwerke und Düsenmotoren herstellte. Im Katastrophenjahr 1944 waren auch die Auswirkungen der alliierten Bombardements auf Stimmung und Verfassung der städtischen Bevölkerung nicht länger zu übersehen. Anders als die amerikanischen Luftstreitkräfte, hatte die Royal Air Force, deren Offensive schon 1942 einsetzte, ihre Angriffe vor allem während der Nacht auf "Flächenziele" - Wohngebiete - konzentriert. Einen der entsetzlichsten Erfolge erzielten die britischen Bomberkommandos Ende Juli 1943 in Hamburg. Fast 45000 Menschen starben in Feuerstürmen, die mit Temperaturen bis 1000 Grad die sommerliche Stadt durchrasten. Viele erstickten am Kohlenoxydgas, Tausende verbrannten, Tausende unter den Trümmern ihrer zusammenstürzenden Häuser begraben. Ähnlich schreckliche Bombenangriffe folgten, doch Mitte 1944 stand der deutschen Zivilbevölkerung das Schlimmste noch bevor. 70 Prozent aller Bomben fielen erst nach dem letzten Kriegssommer auf Deutschland. Die Bevölkerung, die noch die. prahlerischen Versprechungen Görings im Ohr hatte, war über das scheinbar mühelose Eindringen der feindlichen Bomberflotten in den deutschen Luftraum anfangs noch schockiert, doch bald schon bestimmten die Luftschutzsirenen vielerorts den Lebensrhythmus. Hatte im April 1942, als nach einem gänzlich unerwarteten britischen Angriff auf die Messerschmitt-Werke in Augsburg in der Stadt elf Todesopfer zu beklagen waren, der Kreisleiter in seiner Gedenkrede diese Opfer mit den "Blutzeugen der Kampfzeit': der NSDAP verglichen, derer hinfort jedes Jahr gedacht werden solle, so war das angesichts des Ausmaßes, das der Luftkrieg inzwischen angenommen hatte, 1944 längst aufgegeben worden. Für die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Zivilbevölkerung waren nach den Untersuchungen des U.S. Strategic Bombing Survey aus dem Jahre 1945 die Bombenangriffe die einschneidendste Kriegserfahrung überhaupt. 255 Der Luftkrieg löste bei den Betroffenen nicht nur Hoffnungslosigkeit, Fatalismus und eine allgemeine Erschöpfung aus, er untergrub auch den Nimbus von Führung und Partei. Die Bombardements trugen wesentlich dazu bei, die "Volksgemeinschaft" in jene "Notgemeinschaft der Erschöpften und Verzweifelten"256 der zweiten Kriegshälfte zu verwandeln. Zugleich mit der Kritik an der hilflosen deutschen Luftabwehr wuchs in der Bevölkerung aber auch die Erbitterung gegenüber den "anglo-amerikanischen Luft255
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United States Strategie Bombing Survey, Overall-all Report (European War), S. 95 ff. Frei, Der totale Krieg und die Deutschen, S. 296. Zur Wirkung des Bombenkrieges auf die Bevölkerung siehe auch: Kershaw, Hitler-Mythos, S. 17611.
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gangstern", die Goebbels weidlich zu nutzen wußte. Höhepunkt einer seit längerem laufenden Kampagne war sein Beitrag im Völkischen Beobachter Ende Mai 1944, in dem er dazu aufforderte, abgesprungene Bomberpiloten so zu behandeln, "wie sie es verdienen". Es heiße, so Goebbels, zu viel von der deutschen Polizei verlangen, die Piloten vor der aufgebrachten Bevölkerung auch noch zu schützen. 257 Es ereignete sich denn auch eine Vielzahl von Lynchjustiz-Fällen. Während eines Großangriffes auf München am Vormittag des 13. Juni 1944 etwa war die Besatzung eines abgeschossenen "Liberator"-Bombers in der Nähe der Ortschaft Sillertshausen im Landkreis Freising mit dem Fallschirm abgesprungen. Drei der sieben amerikanischen Besatzungsmitglieder, gegen die auch die zusammengeströmte Dorfbevölkerung eine feindselige Haltung einnahm, wurden unter Beteiligung eines örtlichen NS-Führers ermordet; einer der amerikanischen Flieger durch Hammerschläge in der Arrestzelle eines kleinen Gendarmeriepostens. Ein an den Morden beteiligter NS-Funktionär scheute sich nicht, in Versammlungen auch danach noch dazu aufzurufen, abgesprungene Piloten "mit Mistgabeln und Dreschflegeln niederzumachen"258. Die Bomben auf Deutschland zerstörten ein Fünftel des gesamten Wohnraumes und machten über sieben Millionen Menschen obdachlos. Die Evakuierung führte zu einer wahren Völkerwanderung aus zerstörten Städten und "luftbedrohten Gebieten". Die ersten staatlichen Evakuierungsmaßnahmen waren im Frühjahr 1943 angelaufen. Zunächst ließ sich ein geregeltes Verfahren mit ,,Aufnahme- und Entsendegauen" noch aufrechterhalten; viele Saarländer etwa kamen nach Franken, viele Essener nach Württemberg-Hohenzollern. Ende Mai 1944 waren beispielsweise 240000 Umquartierte aus dem Gau Westfalen-Süd in Baden untergebracht. Fast nur Nichtberufstätige wurden zum Verlassen ihrer Städte aufgefordert und versuchten, bei Bekannten oder Verwandten unterzukommen. Am schmerzlichsten war für die meisten die Trennung von den Angehörigen, insbesondere den Kindern. Allein aus München waren Ende 1943 im Rahmen der "Kinderlandverschickung" 40000 Kinder evakuiert worden. Mit der Ausweitung des Bombenkrieges wurde die behördliche Überwachung der Evakuierung immer schwieriger, in der Endphase des Krieges vollends illusorisch. In Dortmund etwa kam es schon im Herbst 1943 zu einer die Behörden alarmierenden Zunahme unautorisierter Rückwanderung evakuierter Familienangehöriger. In der Arbeiterschaft mehrten sich die Stimmen, die offen bekannten, daß die Arbeitsbereitschaft erst dann wieder steigen werde, wenn ihre Angehörigen in die Stadt zurückkehren könnten. Obgleich Zwangsevakuierungen 259 nach Möglichkeit vermieden wurden und die Partei sich die Betreuung der Evakuierten sehr angelegen sein ließ, waren auf dem Lande Reibereien zwischen der eingesessenen Bevölkerung und den Fremden aus der Stadt keine Seltenheit. Neigten die Einheimischen dazu, in den Evakuierten, die in der Regel keine feste Arbeit hatten, Müßiggänger zu sehen, so fehlte es den Zugezogenen, die in der Erwartung einer baldigen Rückkehr lebten, normalerweise an der Bereitschaft, in der neuen Umgebung wirklich Fuß zu fassen. In der Provinz wurden sie als ein Element der Unruhe und der Verunsicherung empfunden: "Die Stim257 258
259
Völkischer Beobachter, 27. 5. 1944. Vgl. das Gerichtsurteil zu diesem Fall in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1%6, bearbeitet v. Adelheid Rüther-Ehlermann u.a., Band X, Amsterdam 1973, S. 171ff. Hierzu siehe 1/6.
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mung ist sehr von den Evakuierten aus Hamburg beeinflußt worden, die hier eingewiesen sind und ihre Erlebnisse im Luftkrieg erzählen", schrieb beispielsweise der Regierungspräsident von Mainfranken in einem Bericht vom August 1943. ,,Augenzeugen berichten von einer halben Million Toten. Sie sagen auch, die Regierung tue nicht genügend für die Sicherheit der Bevölkerung. Auf diese Weise bekommen die Einwohner in unserer Gegend den Eindruck, daß sie den anglo-amerikanischen Bombenangriffen wehrlos ausgeliefert sind."260 Die offenkundige Hilflosigkeit der Staats führung gegenüber der feindlichen Übermacht in der Luft war neben der immer deutlicher werdenden Kriegskrise im Innern und auf den noch entfernt liegenden Schlachtfeldern eine Hauptursache für den Verlust ihres Nimbus, den sie sich vor 1939 und in den beiden ersten triumphalen und zudem "unblutigen" Kriegsjahren bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erworben hatte. Schon Mitte 1943, als die Agonie des Dritten Reiches und damit auch das Ende eines noch leidlich geregelten privaten und öffentlichen Lebens begann, hatte die Ernennung Himmlers zum Innenminister das "rigorose Umschalten von der inneren Verwaltung, auf die innere Sicherheit" markiert. Dies war bereits das offene Eingeständnis, daß sich die Herrschaft Hitlers inzwischen nicht mehr "auf die begeisterte Zustimmung der Massen gründen ließ"261. 1944 hatte auch die nationalsozialistische Propaganda ihre Glaubwürdigkeit endgültig verloren. 262 Die NSDAP mit ihren "kleinen Hitlern" und ihren vielfach einem fröhlichen Bonzenturn huldigenden "Goldfasanen" hatte ihren Kredit bei der Bevölkerung schon zu Beginn des Krieges weitgehend verloren gehabt. Immer schon, und seither erst recht, war das Charisma des scheinbar unfehlbaren und "guten" Führers, der Hitler-Mythos, eine wesentliche psychologische Klammer der Gesellschaft und "ein entscheidender Integrationsrahmen des Regimes"26J gewesen. Dieser Mythos begann schon im Laufe des Jahres 1942 brüchig zu werden, als sich noch vor Stalingrad abzeichnete, daß Hitler mit seiner Prophezeiung einer raschen Niederwerfung Rußlands den Mund zu voll genommen hatte, als sich zeigte, daß die Zeit der "kostenlosen" Siege vorbei war und nun Opfer zu bringen sein würden, mit denen eine durch Erfolgsmeldungen und relative Prosperität verwöhnte Bevölkerung niemals gerechnet hatte. Mit jedem weiteren Rückschlag zehrte sich der Hitler-Mythos und damit auch die von ihm ausstrahlende Identifikations-, Glaubens- und Leidensbereitschaft im Volk auf. Ernüchterung befiel eine einstmals in nationaler Betrunkenheit schwelgende, inzwischen aber zunehmend kriegsmüde Bevölkerung. So begann ein Großteil der Gesellschaft ihren "inneren
Bericht des Regierungspräsidenten von Mainfranken v. I!. 8. 1943; BayHStA 106695. Die Evakuierungsmaßnahmen während des Zweiten Weltkrieges bedürfen noch der genaueren Untersuchung. Vgl. hierzu: Erich Lampe, Der Zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt 1963, S. 417ff. Die Dokumente deutscher Kriegsschäden. Evakuierte, Kriegssachgeschädigte, Währungsgeschädigte, hrsg. v. Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bd. I, Bonn 1958, S. 69ff. David Macisaac (Hrsg.), The Uni ted States Strategie Bombing Survey, Bd. 4: The Effects of Strategie Bombing on German Morale, London 1976, Teil 2, S. 66ff. Paul Erker, Revolution des Dorfes' Ländliche Bevölkerung zwischen Flüchtlingszustrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel, in: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 377ff. 261 Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, S. 500. '6' VgI. Kershaw, Hitler-Mythos, S. 185. Auch zum folgenden. '6, Ebenda, S. 132. '60
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Rückzug"264 aus dem Dritten Reich - nach dem Aufglimmen eines letzten Hoffnungsfunkens zu Beginn der Ardennen-Offensive Mitte Dezember 1944 265 - lange bevor die Armeen der Anti-Hitler-Koalition das Land besetzten und das Regime des Nationalsozialismus vernichteten. Die unerhörte Brutalisierung eines militärisch bankrotten Systems, das sich zwischen dem 20. Juli 1944 und dem 8. Mai 1945 in beständig steigender Bedenkenlosigkeit gegen die eigene Bevölkerung wandte 266, ließ jeden neuerlichen Versuch, diese Führung doch noch abzuschütteln, als aussichtslos erscheinen. In allen Bereichen der Gesellschaft fehlte inzwischen nicht nur die Kraft, sondern auch die Möglichkeit dazu, dem Krieg doch noch aktiv ein Ende zu bereiten. Vorherrschend war "die Hinnahme des anscheinend nicht mehr zu Vermeidenden"267. Erschöpfung, Resignation, Apathie mischten sich mit einer oft trotzdem nicht abhanden gekommenen Einstellung patriotischer Pflichterfüllung, der man sich im Krieg nicht entziehen wollte, mischten sich dazu mit der Verweigerung der Einsicht, alle Opfer umsonst gebracht zu haben, und bei einigen wenigen auch mit schierem Wunderglauben. Über allem stand freilich der einzige Gedanke, nur jetzt nichts mehr zu riskieren, zwar "weiterzumachen", aber unnötige Risiken nicht mehr einzugehen, zu überleben, "übrigzubleiben"268. Dies scheint beim Gros der von Friedenssehnsucht erfüllten Bevölkerung einhergegangen zu sein mit einer "Wiederentdeckung des Privaten und individueller Interessen nach der übermäßigen Politisierung in der Hitlerzeit, nach dem Exzeß selbstvergessener Aufopferung und Veräußerung eigenständiger Überzeugungen und der privaten Lebenssphäre"269. Als die sichere Niederlage nahte und dann auch noch die niemals für möglich gehaltene Besetzung des gesamten Reichsgebietes im Kampf drohte, galt es, den richtigen Augenblick zu nutzen, um das Abenteuer Drittes Reich unwiderruflich hinter sich zu lassen: Denn für jeden Soldaten, der in der Wehrmacht kämpfte, und für jeden einzelnen Zivilisten kam zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 der Moment, in dem er durch ein "Nadelöhr" (Rein hold Maier) vom Krieg zum Frieden wechselte.
In Erwartung der Amerikaner Zur "Russenangst", die viele Deutsche im Osten dazu brachte, sich dem Regime nolens volens bis zum Ende zur Verfügung zu stellen oder sich diesem jedenfalls nicht entgegenzustellen, gab es im Westen bekanntlich kein Pendant: Man fürchtete die Amerikaner nicht und man unterschätzte sie auch nicht, sosehr die NS-Propaganda sich auch mühte. Goebbels tat sich zunehmend schwerer, die USA als plutokratischdekadentes, moralisch tiefstehendes und leistungsschwaches "Rassegemisch" zu zeichnen, nachdem die Wirkung der amerikanischen Kriegsanstrengungen auf den Schauplätzen Asiens und Europas immer fühlbarer wurde. 264
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Vgl. Martin Broszat, Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: Martin Broszat, Horst Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 63. Siehe hierzu IV/I. Siehe hierzu V1I/2. Frei, Der totale Krieg und die Deutschen, S. 298. So der treffende Titel der Studie von Wolfgang Franz Wem er, "Bleib übrig." Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1983. Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. XXVII.
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Nach dem schnellen Vorstoß der Panzerverbände General Pattons von Avranches bis nach Verdun, die Hitler in der Lagebesprechung am 1. September 1944 bei aller Bestürzung mit einer gewissen Bewunderung zur Kenntnis nahm ("Die sind ja gerast!"270), wandelte sich auch an der Spitze der Wehrmacht die Einschätzung der Leistungsfähigkeit der amerikanischen Truppen. Während der Feldzüge in Nordafrika ging noch die abfällige Rede von den "Italienern der Alliierten" um. Ende 1942 meinte Göring bei der Schilderung einer amerikanischen waffen technischen Neuheit noch zu Rommel: "Das ist unmöglich! Die Amerikaner wissen nur, wie man Rasierklingen herstellt."271 Der General war zurückhaltender, weil er wußte, daß die Amerikaner in Tunesien viel Erfahrung gesammelt hatten. Mitte Februar 1943 notierte er sich, die G.I.s hätten "extrem gut gekämpft ... Die Amerikaner waren fantastisch gut ausgerüstet, und wir hatten in organisatorischer Hinsicht eine Menge von ihnen zu lernen."272 Nach der Landung des VI. U.S. Corps südlich von Rom im Januar 1944 meldete Generalfeldmarschall Kesselring an das OKW, der "Feind kämpfe zäh und verbissen um jeden Fußbreit Boden". Die Aussichten auf einen durchschlagenden deutschen Erfolg seien gering, da der Gegner "in der Erkenntnis der militärischen und politischen Bedeutung des Kampfes auch weiterhin erbitterten Widerstand leisten werde"273. Zu dieser Zeit war im Führerhauptquartier die Zuversicht noch groß gewesen, daß die in Westeuropa erwarteten amerikanischen Divisionen zu unerfahren seien und deshalb scheitern würden. Ein gutes halbes Jahr später aber war auch diese Hoffnung dahin. Noch 1943 hatte es in einer tendenziösen Schrift über das Wesen der U.S. Army geheißen, sie sei eine ,,Armee ohne Banner"; der amerikanische Soldat wisse im Unterschied zum deutschen Landser nicht, wofür er kämpfe, und verfüge deswegen nur über eine "mangelnde ideelle und moralische Kriegsrüstung"274. Den gleichen Tenor hatte auch eine in der Wehrmacht weitverbreitete "Tornisterschrift" des OKW aus demselben Jahr. Selbst wenn die USA materiell tatsächlich überlegen sein sollten, so sei es doch der Mensch, der über den Sieg in der Schlacht entscheide. 275 Bis in das Jahr 1942 hinein bestritt die deutsche Propaganda, kam die Rede auf die Vereinigten Staaten, dieses Thema mit verschiedenerlei Variationen vom "amerikanischen Bluff". Goebbels selbst sprach in seinen Aufzeichnungen von "Material prahlereien" der Amerikaner. 276 In Wirklichkeit seien diese überhaupt nicht in der Lage, wirksam in den Krieg in Europa einzugreifen, vielmehr führten sie als typische Kriegsgewinnler von ihrem unerreichbaren Kontinent aus einen billigen "Krieg ohne Risiko". Mit der These vom Bluff der USA versuchte man freilich nicht zuletzt, die wachsenden Bedenken der Verbündeten zu zerstreuen. Der italienische Außenminister Ciano notierte sich beispielsweise im Frühjahr 1942 nach Besprechungen mit Ribbentrop und Hitler: "Amerika ist ein großer Bluff. Dieser Slogan wird von allen 270
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Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen, S. 647. Basil H. LiddelI Hart (Hrsg.), The Rommel Papers, London 1953, S. 295. Ebenda, S. 404. Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtsführungsstab), eingeleitet und erläutert von Percy Ernst Schramm, Band IV: I.Januar 1944 - 22. Mai 1945, Frankfurt 1961, S. 158. Helmut Mehringer, Die Armee ohne Banner, Dresden 1943, S. 145. Colin Ross, USA. Tornisterschrift des OKW (Allgemeine Wehrmachtsabteilung - Abt. Inland), Heft 77, 1943; HZ-Archiv, Da 33.18. Tagebucheintragung vom 24. 1. 42;Joscph Goebbels Tagebücher 1924-1945, hrsg. v. Ralph Georg Reuth, Bd. 4, S 1743.
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wiederholt, von den Großen und Kleinen, in den Konferenzzimmern und den Vorräumen. Es ist beunruhigend zu denken, was die Amerikaner tun könnten, und sie werden es tun, aber die Deutschen schließen die Augen, um nichts zu sehen. Das schließt jedoch nicht aus, daß die ehrlichsten und intelligentesten doch denken, was Amerika leisten kann, und es läuft ihnen eine Gänsehaut den Rücken hinunter."277 Schon Ende 1942 hielt der SD in seinen Meldungen aus dem Reich fest, viele seien nicht länger bereit, "die Amerikaner für die militärischen Dilettanten zu halten, als die sie bisher mehrfach bezeichnet wurden,mB. Als 1943 selbst Goebbels nicht mehr vom amerikanischen Bluff sprechen konnte, schaltete die NS-Propaganda um: Aus den bisher eher belächelten G.I.s wurde nun dieselbe brutale Soldateska gemacht, als die die sowjetische Armee schon immer galt. Die jetzt einsetzenden Greuelkampagnen gaben die Differenzierung zwischen den AngloAmerikanern (denen zuvor immerhin noch ein "germanischer Rassekern" zugebilligt worden war) und den "bolschewistischen Untermenschen" auf. Die amerikanischen und britischen Soldaten galten nunmehr ebenfalls als ruchlose Kämpfer ohne Mora1. 279 Höhepunkt der Bemühungen der nationalsozialistischen Propaganda zur Verteufelung des amerikanischen Gegners bildete die Ausschlachtung der im Herbst 1944 bekanntwerdenden Vorstellungen des amerikanischen Finanzministers Morgenthau zur Aufteilung und ,,Agrarisierung" Deutschlands. Anfang Oktober berichtete der Völkische Beobachter, die amerikanischen Pläne liefen darauf hinaus, 30 Millionen Deutsche dem Hungertod preiszugeben. Der Plan des ,Juden Morgenthau" wurde mit dem 1941 erschienenen Pamphlet eines gewissen Theodore N. Kaufman in eine Reihe gestellt, der die Sterilisierung eines Teils der deutschen männlichen Bevölkerung vorgeschlagen hatte. Kaufman war ein gänzlich unbekannter, exzentrischer Einzelgänger, der auch in der amerikanischen Öffentlichkeit nichts als Ablehnung erfahren und keinerlei Einfluß in Regierungskreisen, geschweige denn auf den Präsidenten selbst hatte. 2Bo Goebbels aber stilisierte die Schrift Kaufmans schon damals zum persönlichen Deutschland-Plan Roosevelts hoch und veranlaßte, sie in einer kommentierten Dokumentation mit dem Titel "Das Kriegsziel der Weltplutokratie" in Millionenauflage unters Volk zu bringen. Damit war bereits die Tonlage angeschlagen, die in der Schlußphase des Krieges die Propaganda gegen die USA und die U.S. Army bestimmte. Sie sollte der Bevölkerung in Deutschland weismachen, daß ihr Schicksal unter der britischen und amerikanischen Besatzung kaum weniger schrecklich sein werde als unter russischer. Dieser Versuch mißlang bekanntlich durch und durch. In Wirklichkeit verdichtete sich das Bild des Amerikaners in der letzten Phase des Krieges "zum humanitären Gegenpol des bolschewistischen Terrors"2Bl. Auch wenn sich "der durchschnittliche Volksgenosse" nach dem Eindruck des SD von Anfang 1944 mit den USA als Gegner 277 278
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Galeazzo Ciano, Tagebücher 1939-1943, Bern 1947, Eintragung v. 30.4. 1942. SO-Meldung Nr. 338 v. 26. 11. 1942; zit. nach Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich, S. 323. Ernst Kris, Hans Speier, German Radio Propaganda, London, New York, Toronto 1944, S. 231. Horst Hano, Die Taktik der Pressepropaganda des Hitler-Regimes 1943-1949, Diss., München 1963, S. 47ft. und S.90ff. Vgl. Wolfgang Benz,Judenvernichtung als Notwehr? Die Legenden um Theodore N. Kaufman, in: VfZ 29 (1981), S. 614ff. So Marlis G. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. 592.
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"weltanschaulich und politisch noch kaum auseinandergesetzt"282 hatte, wußte er doch recht gut, wie er sich Einmarsch und Besetzung durch die Amerikaner vorzustellen hatte. So meldete der SD aus dem Westen des Reiches denn auch bereits Ende 1943 als vorherrschende Meinung: "Wenn wir den Krieg verlieren, dann kommen die Amerikaner zu uns, und dann wird es uns nicht viel schlechter gehen als früher."283 Ansichten wie diese waren nicht nur in Westdeutschland zu vernehmen. Im fränkischen Kitzingen berichtete beispielsweise die SD-Außenstelle schon im Sommer 1943 von den dortigen "primitiv denkenden Bauern", die der Meinung seien, den Krieg gewönnen die Amerikaner. Außerdem sei zu hören: "Die Amerikaner machen doch nicht ,alle 80 Millionen Deutsche kaputt', zu essen brauchen sie auch und damit die Bauern, wie im ,vorigen' Krieg."284 Die Amerikaner "seien gar nicht so schlimm", gab die SDAußenstelle Lohr und Marktheidenfeld die Auffassung eines Teils der Bevölkerung wieder. 28s Auch ein Jahr später, als die ersten amerikanischen Einheiten die Reichsgrenze schon überschritten hatten, stand deren prinzipiell humane Haltung nach wie vor außer Zweifel. "Der Glaube ist weit verbreitet", meldete etwa der Landrat von Bad Aibling und Rosenheim im Oktober 1944 an das Regierungspräsidium in München, "daß die Engländer und Amerikaner im Falle der Besetzung weniger brutal vorgehen würden als die Ostvölker ... Manche ergehen sich geradezu in behaglichen Schilderungen der angelsächsischen ,Höflichkeit'."286 In ganz ähnlichen Worten teilte der Gendarmerie-Kreisposten Mühldorf dem Landrat einen Monat später dieselbe Beobachtung mit. 287 Die Analytiker der U.S. Army und des Alliierten Oberkommandos, insbesondere die Offiziere der Psychological Warfare Division (PWD), fanden bereits in ihren ersten Untersuchungen deutliche Hinweise auf eine Haltung insgesamt gelassener Erwartung bei den Deutschen. Auch wenn sich ihre Analysen lediglich auf erste Erfahrungen im GrenzgebierZ s8 und auf die Befragung von Kriegsgefangenen stützen konnten, die Grundtendenz war eindeutig: "Bemerkenswertes Fehlen von Feindschaft gegen die oder Furcht vor der amerikanisch-britischen Besetzung" hielt Psychological Warfare Mitte Januar 1945 nach der Befragung von 450 deutschen Kriegsgefangenen als Fazit fest. 289 Einen Monat später kam der Chef der Intelligence Section von PWD nach einer ähnlichen Untersuchung zu dem identischen, seit Ende 1944 unveränderten Befund: "Unabhängig von ihrer politischen Einstellung hat die Mehrheit der Kriegsgefangenen keine besonderen Befürchtungen, weder hinsichtlich des Verhaltens der amerikanisch-britischen Besatzungstruppen noch hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen, die in einem Deutschland unter amerikanischer und britischer Besatzungsherrschaft zu erwarten sind."290 282
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Bericht v. 7. 2. 1944; zit. nach Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich, S. 483. Bericht v. 22. 1l. 1943; zit. nach ebenda, S. 459. Bericht der SO-Außenstelle Kitzingen v. 2.8. 1943; HZ-Archiv, Fa 396/3. Bericht der SO-Außenstelle Lohr und Marktheidenfeld v. 13.9.1943; HZ-Archiv, Fa 396/5. Monatsbericht des Landrates von Bad Aibling und Rosenheim an den Regierungspräsidenten in München v. l. 10. 1944; StA München, LRA 113 813. Monatsbericht des Gendamerie-Kreispostens Mühldorf an den Landrat von Mühldorf v. 29. 11. 1944; StA München, LRA 135 117.
Vgl. 11/3. SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 16 v. 13. l. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Executive Section, Decimal file 1944-45, Entry 87. PWD, Intelligence Section, "Expectations of Anglo-American Occupation of Germany", Studie v. 14.2. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWO, 061.2 Public Opinion.
4. Katastrophenjahr 1944
91
Die Bevölkerung im westlichen Grenzgebiet des Reiches wurde nach dem Heranrücken von Eisenhowers Armeen an den "Westwall" zur speziellen Zielgruppe der Propaganda gegen die Amerikaner. Goebbels selbst begab sich Anfang Oktober 1944 nach Köln und hielt dort eine Rede, in der er unter anderem zu verdeutlichen suchte, daß der "barbarische westliche Feind" um "kein Jota etwa besser oder menschlicher sei als die bolschewistischen Massen"29I . Mitte Oktober gab das Propagandaministerium eine Empfehlung mit Sprachregelungen an die Propagandaämter heraus. Darin hieß es unter anderem: "In den Argumenten ist neben der Tatsache, daß den Angloamerikanern in den bis jetzt von ihnen besetzten Gebieten stets der Kommunismus, d.h. das Chaos auf dem Fuß gefolgt ist, besonders hervorzuheben, daß das kapitalistische System der Angloamerikaner unweigerlich eine Arbeitslosigkeit von ungeahntem Ausmaß bringen würde. Eine weitere Folge wäre - verursacht durch die unkontrollierbare Ausgabe von Geldnoten - eine neue Inflation. Chaos, Arbeitslosigkeit, Inflation, Hunger und Elend wären die Trabanten der Angloamerikaner, wenn es ihnen gelänge, ins Reich einzudringen. Diese Geißeln hat unser Volk aber noch zu sehr in Erinnerung."292 In Flugblättern wurden jetzt auch Soldaten der Wehrmacht aufgefordert, der Zivilbevölkerung im Westen "die Wahrheit" nicht vorzuenthalten und zu sagen, "was Du gesehen und erlebt hast". Denn "so maßlos wie ihr Kontinent" seien die Amerikaner "in ihrer Rache und ihrem Haß!" Die Notwendigkeit einer solchen Aktion begründete der Verfasser in seinem Flugblatt gleich selbst. Noch immer gebe es nämlich Volksgenossen, die glaubten: "Da kann ja nichts geschehen, denn ich lebe ja im Westen und käme - gegebenenfalls - in die ,sichere Obhut' der amerikanischen Besatzung."293 Auf der Tagung der Propagandaleiter des Westens Anfang Oktober in der Nähe von Neuwied ging der Beauftragte des Ministeriums noch einen Schritt weiter. Er machte den Vorschlag, die "anfallenden" amerikanischen Kriegsgefangenen müßten zu "größeren Transporten zusammengestellt und dann im Fußmarsch durch die deutschen Ortschaften geführt werden, vor allem Neger und sonstige Farbige. Es empfiehlt sich, die Gefangenen zunächst mehrere Tage lang sich nicht waschen und rasieren zu lassen. Sie werden dann nach einem längeren Fußmarsch auf die Bevölkerung keinen guten Eindruck machen." Im übrigen, so der Berater aus Berlin, sei immer auch darauf hinzuweisen, daß "die Franzosen mitkommen"294. In der Argumentationsnot der deutschen Führung war sogar ein einfacher Leserbrief an eine britische Zeitung willkommen, in dem als Rezept gegen Deutschland angeblich gefordert wurde, deutsche Kinder zwischen drei und vierzehn Jahren auf das Commonwealth zu "verteilen". Dieser Einfall wurde als anglo-amerikanischer Nachkriegs plan ausgegeben und "zur entsprechenden Verwertung in der Mundpropaganda" an die Kreisleitungen geschickt. 295 Ein Höhepunkt dieser Kampagne war zweifellos ein "Vorgang", der Ende Oktober mit dem "Material für Propagandisten" aus Berlin kam und diesen zur Beachtung empfohlen wurde. Der Londoner Rundfunk habe gemeldet, in besetzten deutschen Gebieten hätten sich alle Männer zwischen 12 291 292 293 294
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Völkischer Beobachter, 6. 10. 1944. Rundspruch v. 11. 10. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 763. Ebenda. Tagung am 9. 10. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 763. Schreiben des Gaupropagandaleiters Baden/Elsaß, undatiert, vermutlich von Anfang Oktober 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 763.
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1. Am Vorabend der Besetzung
und 65 Jahren bei der alliierten Militärverwaltung zu melden; sie würden "als Arbeitskräfte für den Bau der Sudan bahn von Kairo nach Aden eingesetzt". Und weiter hieß es: "Wenn sie mit der Arbeit in Afrika fertig wären, werde man sie den Sowjets zur weiteren Verwendung übergeben."296 All diese sorgsam beschriebenen Schrecknisse sollten an der Westgrenze die gleiche Furcht wecken, die im östlichen Grenzgebiet - vor allem nach dem ersten Einbruch der Roten Armee in Ostpreußen Mitte Oktober - in der Bevölkerung tatsächlich herrschte. Aber diese Rechnung ging nicht auf. Glaubte man im Propagandaministerium Mitte Oktober, eine gewisse Wirkung beobachten zu können, so mußte man zugleich doch einräumen, die Volksgenossen im Westen seien noch immer "voreingenommen", die "Meinung von der Menschenfreundlichkeit der Amerikaner" nach wie vor weit verbreitet. 297 Deshalb wurde im Ministerium vorgeschlagen, die Propaganda gegen die Amerikaner noch zu verstärken und ihr durch "Berichte einzelner Volksgenossen mit Namens- und Wohnungsangabe" mehr Durchschlagskraft zu geben. 298 All das half wenig. Noch Mitte November 1944 vermerkte Gottlob Berger, Chef des SSHauptamtes, in einem Schreiben an Himmler über seine Erfahrungen in den westlichen Kriegsgebieten jene bei der Bevölkerung vorherrschenden "ausgesprochen optimistischen Erwartungen gegenüber Engländern und Amerikanern"299. Auf weite Kreise des Bürgertums wirkte der jetzt so herausgestellte geistig-ideologische Gegensatz zu den Westmächten künstlich. Wenige zweifelten wohl wirklich daran, daß die Amerikaner das mittelständische Privateigentum unangetastet lassen, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland wieder durchsetzen, in jedem Falle aber eine kommunistische Umwälzung von Staat und Gesellschaft verhindern würden. Dazu verfaßte ein Referent beim Chef des Propagandastabes bereits Mitte September eine bemerkenswerte Einschätzung: "In bürgerlichen Kreisen hoffe man", hieß es da, "daß eine Besetzung Deutschlands durch die Angloamerikaner uns den Bolschewismus vom Halse halten werde. Diese Kreise rechneten zwangsläufig mit einer Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes, an dessen Stelle wieder Regierungsformen wie vor 1933 treten würden, ohne daß Deutschland zugrunde gerichtet und das Bürgertum eine wesentliche Einbuße erleiden würde. In den Westgauen warte das Bürgertum jetzt ab, höre englische Sender und fürchte weniger das Einrücken der Angloamerikaner als die eventuelle Herrschaft des Mob in der Zwischenzeit - ein Zeichen dafür, daß diesem Bürgertum immer noch weniger an dem Bestand des deutschen Volkes als an der Sicherung seines Besitzes liege. Vielfach werde geäußert, daß es nach dem Einrücken der Amerikaner nicht so schlimm kommen werde und unsere Propaganda auch in diesem Falle übertreibe."30o Die Bauern zeichnete ohnehin Nüchternheit und Pragmatismus aus. Die Gauleitung Baden konnte in ihrem Überblick über die Lage in der Landwirtschaft vom September 1944 denn auch nicht umhin, an die Parteikanzlei das Auftreten eines aus ihrer Sicht nachgerade defätistischen Geschäftssinnes zu melden. Zwar bezog sich die-
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Rundspruch Nr. 223 v. 26. 10. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 764. Bericht des Chefs des Propagandastabes an Goebbels v. 10. 10. 1944; BA, R 55/601. Bericht v. 17.10. 1944; BA, R 55/601. Schreiben v. 17.11. 1944; BA, NS 19 neul751. Vgl. auch die Schilderung in der Leserzuschrift aus dem Saarland an das SS-Organ "Das Schwarze Korps" v. 15.9.1944; HZ-Archiv, MA 452, 2/531 988ff. Bericht des Chefs des Propagandastabes an Goebbels v. 19.9.1944; BA, R 55/601.
5. Military Government: Was tun?
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ser Bericht auf Tendenzen im Elsaß, doch waren die dortigen Bauern gewiß nicht die einzigen, die sich um die verstärkten Bemühungen der NS-Propaganda wenig kümmerten. Ein Großteil der Bauern, erfuhr die Parteikanzlei, habe es mit dem "Frühdrusch und anschließender Getreideablieferung nicht sehr eilig. Viele von diesen setzten bereits auf die amerikanische Karte, um dann auch gegen Dollar verkaufen zu können."301
5. Military Government: Was tun? Unter den drei Millionen amerikanischen Soldaten, die 1944/45 insgesamt in Mitteleuropa eingesetzt waren, befand sich ein kleines Kontingent - nie mehr als 11000 Mann 302 -, dessen Hauptaugenmerk nicht den feindlichen Streitkräften, sondern der Zivilbevölkerung galt. Solange die Kämpfe andauerten, hatten sie in erster Linie dafür zu sorgen, daß die Bewegungsfreiheit der Truppe weder in den befreiten Ländern noch auf dem Territorium des besetzten Deutschlands durch nicht-militärische Angelegenheiten gefährdet wurde. In feindlichem Gebiet mußten sie hinter der Front die Anordnungen des Obersten Befehlshabers durchsetzen, Ruhe und Ordnung herstellen, die wichtigsten Verwaltungsfunktionen aufrechterhalten und, ganz generell, alle Maßnahmen ergreifen, die im Zivilbereich aus militärischen Gründen erforderlich wurden. Nach dem Ende der Kämpfe war es an der Militärregierung, die Verwaltung des besetzten Territoriums zu übernehmen und dort die in Washington und auf den alliierten Konferenzen beschlossene Politik umzusetzen. Die Einrichtung von Militärverwaltungen - Military Government - war in der amerikanischen Geschichte kein Novum, aber im Zweiten Weltkrieg ging es um eine ganz neue Dimension. Schon aus der Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation des Reiches ergab sich im Vergleich zu früheren Einsätzen in Kuba und den Philippinen um die Jahrhundertwende und insbesondere im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit einer ungleich umfassenderen Präsenz und Kompetenz der Militärverwaltung, und zwar unabhängig davon, ob Hitler kapitulierte, bevor die Truppen der Alliierten die Reichsgrenze überschritten, oder ob er einen Entscheidungskampf auf deutschem Boden führen wollte. In beiden Fällen war es eine gigantische Sicherungsaufgabe, die auf die Offiziere des Military Government wartete. Für Sicherungsaufgaben dieser Art war in der V.S. Army traditionell die Militärpolizei zuständig. 303 Deshalb begann sich seit der Jahreswende 1941/42, als Deutschland noch im Zenit seiner Macht stand, auch der Chef der Military Police im War Department darum zu kümmern. Der kleine Stab in der "Military Government Division", der damals nicht weiter behelligt und nicht weiter beachtet mit seinen Planungen begann, konnte aus Rechenschaftsberichten über frühere amerikanische Erfahrungen mit der Militärverwaltung besetzter Gebiete unter anderem die Empfehlung entneh'01 '02
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Bericht der Gauleitung Baden an die Parteikanzlei v. 9.9. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 22. Siehe dazu USFET, General Board Study Nr. 32, Civil Affairs and Military Govemment Organizations and Operations, S. 100; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, General Board Reports, Box 4. Das folgende vor allem nach dem Standardwerk von Earl F. Ziemkc, The U.S. Army in the Occupation of Germany, 1944-1946, Washington 1975, S. 3 ff. (ohne das es schwieriger gewesen wäre, Orientierung in dem Dschungel von Planung und Praxis der amerikanischen Besatzungsarmee zu finden), und Harry L. Coles, Albert K. Weinberg (Hrsg.), Civil Affairs: Soldiers Became Governors, Washington 1964, S. 14ff.
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I. Am Vorabend der Besetzung
men, daß das Personal von Militärverwaltungen bei etwaigen neuerlichen Besetzungen wesentlich besser ausgebildet sein müsse und wenigstens ein Minimum an Kenntnissen über das Land ihres Einsatzes und der Landessprache mitbringen solle. Das War Department nahm diese Mahnung ernst und begann im Mai 1942 mit dem entsprechenden Schulungsprogramm in einer eigens dafür eingerichteten "School of Military Government".304 Grundlage der Ausbildung war eine 1940 erschienene Dienstvorschrift der Armee, das "Basic Field Manual on Military Government", in dem niedergelegt war, was in puncto Militärverwaltung Tradition hatte. So war vorgeschrieben, daß die Militärregierung in besetzten Ländern strikt, aber gerecht, human und tunlichst auch milde zu sein habe. Die verantwortlichen Offiziere sollten stets das "Wohl der Regierten" im Auge haben und einen Verwaltungsstil pflegen, mit dem man sich "aus Feinden Freunde mache". Von einem Krieg der Weltanschauungen wußte dieses Handbuch mit seinen geradezu ritterlichen Grundsätzen noch nichts, und so blieb es auch nicht lange unentdeckt, daß die neue Vorschrift im Kampf gegen den "Hitlerismus" nicht mehr up to date war. In der politischen Administration in Washington war man auch sonst nicht damit einverstanden, wie traditionell und "unpolitisch" sich die Army auf ihre Aufgabe in den Feindstaaten vorbereitete. Aus den anfangs routinemäßigen Vorbereitungen wurde rasch ein Politikum. Zunächst zog die Presse wegen des angeblich rechtslastigen Personals über das Ausbildungsprogramm der "School of Gauleiters" her, und Ende 1942 ging Innenminister Ickes, engagierter New Dealer und verdienter Mitstreiter Roosevelts aus den Tagen seiner Präsidentschaftskandidatur 1932, mit dem War Department scharf ins Gericht. Öffentlich warf er die Grundsatzfrage auf, ob denn in einem Krieg, in dem Weltanschauungen gegeneinander stünden, ausgerechnet Militärs geeignete Herolde der demokratischen Botschaft Amerikas seien, ob ausgerechnet die Army das richtige Instrument sei, in den faschistischen und imperialistischen Diktaturen den Militarismus auszurotten. Die von missionarischer Zielsetzung nicht angekränkelten Vorbereitungen der Streitkräfte erweckten auch das Mißtrauen der liberalen und linksliberalen Mitglieder der Administration. Saul K. Padover (Unterstaatssekretär im Innenministerium und später schonungsloser Kritiker des Military Govemment in Deutschland 305 ) bemerkte, vom demokratischen Standpunkt aus seien die Vorbereitungen auf die Besatzungszeit verwirrend. Ernste Zweifel seien angebracht, schrieb er an Ickes, ob die Armee die Verwaltung der besetzten Gebiete bewältigen könne, "insbesondere, wenn diesen Gebieten die ,essentials' einer demokratischen, sozialwirtschaftlichen Struktur eingepflanzt werden sollen". Auch Roosevelt meinte auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen zivilen und militärischen Stellen in einem Brief an den Kriegsminister, die Verwaltung besetzter Länder sei "sicherlich vielgestaltig, aber in den meisten Fällen ist es eine zivile Aufgabe". Im übrigen machte der Präsident einige ungnädige Bemerkungen darüber, daß er über die Vorbereitungen der Armee nicht von Anfang an informiert worden sei. 306
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Im einzelnen hierzu III/ I. Siehe III/2. Schreiben Roosevelts an Kriegsminister Stimsan v. 29. 10. 1942; in: Coles, Weinberg (Hrsg.), Civil AHairs, S. 22. Zum folgenden ebenda, S. 21 H.
5. Military Government: Was tun?
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Es ging bei diesem Disput 307 nur am Rande um die politologische Seminarfrage, ob Demokratisierung überhaupt per Militärdiktatur möglich sei. Den Auseinandersetzungen in Washington lag vielmehr ein handfester Interessenkonflikt zwischen Politikern und Militärs zugrunde. Er wurde akut, als mit den ersten Erfolgen auf dem Schlachtfeld aus dem theoretischen Problem ein praktisches zu werden begann. Die Armee wehrte sich mit Argumenten militärischer und organisatorischer Praktikabilität massiv gegen eine Einmischung ziviler Stellen. Bei zu starker Beteiligung von Zivilisten sah sie die Gefahr einer Politisierung der Truppe und wandte sich deshalb gegen ein "politisches Kommissarwesen". Im übrigen habe die Einschaltung ziviler Stellen, so das War Department, schon immer zu "teuren, demoralisierenden und lächerlichen Resultaten" geführt. Die zivilen Behörden in Washington, die sich über ihre Kompetenzansprüche untereinander allerdings selbst nicht einig wurden, ließen sich damit nicht abspeisen. Sie wollten ihren Einfluß in den besetzten Ländern gewahrt wissen, weshalb dieser Konflikt früher oder später eine politische Lösung finden mußte. Roosevelt beauftragte William C. Bullit, einen seiner versiertesten Diplomaten (er war vor Kriegsausbruch Botschafter in Moskau und Paris gewesen), damit, für ihn zu klären, ob die Vorwürfe gegen das Militärregierungsprogramm berechtigt seien. Der Botschafter fand heraus, daß es anfangs in der Tat Schwächen bei der Personalrekrutierung gegeben habe, die Kritik an der Schule als eines Horts engstirnigen Denkens aber jeglicher Grundlage entbehre. Der Präsident solle aufhören, "sich um die Schule zu sorgen"308. Damit war die grundsätzliche Frage nach der zivilen oder militärischen Zuständigkeit für die Militärverwaltung aber noch nicht entschieden. Dieses Problem löste sich bald darauf jedoch beinahe von selbst. Das Interesse der zivilen Behörden an einer maßgebenden Rolle in der Militärverwaltung erlahmte nämlich schnell, als ihnen die Kämpfe in Nordafrika 1942/43 vor Augen führten, daß das Management der ,,Angelegenheiten der Zivilbevölkerung" ("Civii Affairs") in der Praxis anders aussah als in der Theorie. Auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz hatten zwar noch eine Reihe nicht-militärischer Behörden ein Mitspracherecht gehabt, die Durchführung ihrer Entscheidungen fiel aber regelmäßig der Truppe zu, und zwar einfach deshalb, weil die Armee als einzige Organisation auch praktisch in der Lage war, all die Pläne der Washingtoner Ämter - beispielsweise die Versorgung der Zivilbevölkerung mit monatlich 30000 Tonnen Nahrungsmitteln - auch durchzuführen. So erwies sich schon beim ersten Test eine Teilung der Verantwortung zwischen Army und Zivilbehörden als unpraktikabel. Das Durcheinander der Zuständigkeiten in Nordafrika war bei Prüfung des Haushaltsansatzes für 1944 auch dem Direktor des "Bureau of the Budget" aufgefallen und von diesem in einem Schreiben an den Präsidenten scharf gerügt worden. Die Rivalitäten zwischen den Behörden, meinte er Anfang Mai 1943, verwirrten die eigenen Verbündeten und spielten im Effekt dem Feind in die Hände - der schwerste Vorwurf, der die Regierung im Krieg treffen konnte. Diese massive Kritik beschleunigte die Klärung der Zuständigkeiten für die Angelegenheiten der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern. Im
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Den Streit um die Vorbereitungen für die Militärverwaltung schildern aus ihrer Perspektive Henry L. Stimsan, McGeorge Bundy, On Active Service in War and Peace, New York 1948, S. 553ff. Schreiben von Botschafter Bullit an den Präsidenten v. 30. 12. 1942, in: Coles, Weinberg (Hrsg.), Civil Affairs, S. 25.
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November 1943 schrieb Roosevelt, den näherrückenden Termin der Invasion Nordfrankreichs vor Augen, einen Brief an seinen Kriegsminister, in dem er einräumte, es sei offenkundig geworden, daß nur dann vernünftige Resultate zu erwarten seien, wenn in den besetzten Ländern anfänglich die Army die Verantwortung übernehme. Zwar bezog sich diese Entscheidung zunächst nur auf die "befreiten Länder", doch die Weichen waren gestellt. 309 Der schweren Geburt in Nordafrika folgte eine mühselige Lehrzeit in Italien. Sie machte vor allem deutlich, daß es nicht ratsam war, neben dem üblichen Befehlsweg der Truppe noch einen eigenen militärischen Verwaltungszug für "Civii Affairs" zu unterhalten. Unter dem Gesichtspunkt militärischer Effizienz erwies es sich als unumgänglich, den Kommandeuren der militärischen Verbände auch die Verantwortung für die Angelegenheiten der Zivilbevölkerung zu übertragen. Folglich wurde im Oberkommando der Alliierten Invasionsstreitkräfte Anfang 1944 ein eigener "Civii Affairs"-Stab unter dem britischen General Grasset eingerichtet. Die neue Stabsabteilung firmierte als G-5 (G-l bis G-4 befaßten sich traditionell mit Personalfragen, Feindaufklärung, Operationsführung und Nachschub). Es bestanden jetzt von der Spitze bis hinunter zu den Divisionen jeweils eigene Stäbe, die sich um die Militärverwaltung kümmerten. Das hatte aus der Sicht der Militärregierung nach den schlechten Erfahrungen in Nordafrika, Sizilien und anfänglich auch auf dem italienischen Festland den entscheidenden Vorzug, daß die Truppenkommandeure bei ihrer Planung immer auch die Bedürfnisse der Militärverwaltung mitzuberücksichtigen hatten; Military Government war kein Stiefkind mehr. Die neue Regelung erhöhte zwar den Stellenwert und das Prestige von Civil Affairs/Military Government, andererseits aber wurde die Militärverwaltung nun noch stärker unter dem Blickwinkel militärischer Erfordernisse gesehen. Aber immerhin, die Army hatte rechtzeitig vor der Invasion ihr Ziel erreicht: Alleinzuständigkeit für die Militärverwaltung während der ersten Phase der Besatzungszeit, in der hauptsächlich Sicherungsmaßnahmen zu exekutieren waren. Klar war aber auch, daß die U.S. Army nicht den Anspruch erhob, in den besetzten Gebieten Politik zu machen, sondern daß es ihr, im Gegenteil, gerade darauf ankam, nicht in "die Politik" hineingezogen zu werden. 3lO Deshalb war vom Kriegsministerium schon in Memoranden aus dem Jahre 1942 betont worden, daß die Zuständigkeit der Armee für die Besatzungsverwaltung einzig und allein für die Phase des Einmarsches und die allererste Zeit nach der Kapitulation Hitlers beansprucht würde.31I Der Theorie nach war das eine einleuchtende Arbeitsteilung zwischen War Department und State Department, die von dem Tag, an dem der erste amerikanische Soldat seinen Fuß über die deutsche Reichsgrenze setzte, bis in eine unbestimmte Zukunft hinein die Verantwortung für Deutschland zu tragen haben würden. Im State Department hatte die Deutschland-Planung schon bald nach Pearl Harbor begonnen, im War Department intensiver eigentlich erst nach Errichtung der Civil Affairs Division
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Memorandum des Director of the Budget an Roosevelt v. 3. 3. 1943; Schreiben Roosevelts an Stimson v. 10.11. 1943, beide in: Coles, Weinberg (Hrsg.), Civil AHairs, S. 60 und S. 108. Sofort nach der deutschen Kapitulation lebte die Debatte über die Rolle der Army in Deutschland wieder auf. Vgl. VII/5. Siehe hierzu auch Stirnson, Bundy, On Active Service, S. 554.
5. Military Government: Was tun?
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unter General John H. Hilldring im März 1943. 312 In beiden Ministerien war man sich darüber im klaren, daß es bei der Formulierung der langfristig angelegten Besatzungsund Deutschlandpolitik der USA durch das State Department und bei der Festlegung der Sicherungsmaßnahmen, die die Army nach den Plänen des War Department während der Okkupation des Reichsgebietes und für eine sehr kurze Periode danach zu ergreifen hatte, zu einem Minimum an Abstimmung kommen mußte. In diesem Zwang zum Arrangement lag zugleich das "Hauptkonfliktpotential"313 zwischen War Department und State Department. Denn darüber, in welchem Maße die Durchsetzung der langfristigen Ziele in Deutschland erst einmal hinter den kurzfristigen Sicherungsmaßnahmen zurückzustehen hatte, konnte man sehr verschiedener Auffassung sein. Dabei hatte die Armee den Vorteil, daß mit dem Hinweis auf militärische Erfordernisse ("military necessity") anfangs praktisch alles durchzusetzen war. Andererseits barg ein unbedachter oder falscher Start die Gefahr, die langfristigen politischen Ziele der Vereinigten Staaten ernstlich zu tangieren, im schlimmsten Falle ihre Durchsetzung sogar zu gefährden. Die Offiziere im Alliierten Oberkommando kennzeichneten das mit den einfachen Worten: "Wir müssen mit dem richtigen Fuß losgehen."314 Der Wunsch, die Sicherungsmaßnahmen der Army mit den längerfristigen politischen Zielen "so spannungsfrei wie nur möglich miteinander zu verbinden"315, ließ sich jedoch schon deswegen nicht verwirklichen, weil es bis zur Konferenz von Potsdam kein alliiertes und - trotz mehr als dreijähriger intensiver Planungsarbeit im State Department - auch kein vom Präsidenten autorisiertes politisches Programm der USA für die Zukunft des besiegten und besetzten Deutschland gab. Selbst die Billigung einiger allgemeiner Grundsätze durch Roosevelt ließ bis zum 23. März 1945 auf sich warten. Die endgültig ausformulierte, aber auch nur für die allererste Zeit nach dem Ende der Kampfhandlungen geltende Anweisung, die berühmte Direktive JCS 1067, erreichte General Eisenhower erst eine Woche nach der deutschen Kapitulation. 316 Die Offiziere der Military Government Stäbe nannten die Phase, in der die ganze Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Okkupationsgebiet auf den Schultern des Obersten Befehlshabers der Invasionsarmee (und damit auch auf ihren Schultern) ruhen würde, "rough and tumble period"J17 - die FreistilMonate. Damit meinten sie die im vorhinein unmöglich abzuschätzende Zeitspanne zwischen dem Einmarsch und der Konsolidierung der Besatzungsverwaltung, jene Phase also, bevor die Militärregierungen in den Zonen fest etabliert waren und ein gemeinsames alliiertes Kontrollorgan für ganz Deutschland seine Arbeit aufnahm. Im 312
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Ziemke, U.S. Anny, S. 14 ff. Paul Y. Hammond, Directives for the Occupation of Germany: The Washington Controversy, in: Harold Stein (Hrsg.), American Civil-Military Decisions. A Book of Case Studies, Birmingham 1963, S. 326. Diese Studie ist bis heute die maßgebliche Analyse zur Entstehung der politischen Direktiven für die Besatzungsarmee in Deutschland. So etwa der Stellvertretende Chef der Operations Branch von SHAEF, G-5, General Heyman, in einem Memorandum an den Stabschef von SHAEF, G-5, v. 26.10. 1944; enthalten in der Übersicht "SHAEF Policy for Military Govemment", 0.0. (Ende 1944); NA, RG 332, ETO, Historical Division Programs File, SHAEF, Planning for the Occupation. Tyrell, Amerikanische Deutschlandplanung, in: Hauser (Hrsg.), Das geteilte Deutschland, S. 53. Vgl. l/5. Geläufiger Terminus, verwandt u.a. in der Übersicht über die Planungsarbeit des Oberkommandos der Expeditionsstreitkräfte, "SHAEF Policy for Military Govemment", o. D. (Ende 1944); NA, RG 332, ETO, Historical Division Programs File, SHAEF, Planning for the Occupation.
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I. Am Vorabend der Besetzung
Sommer 1943, als in der Stabsorganisation in London, die die militärische Planung der Invasion durchzuführen hatte - "Chief of Staff to the Supreme Allied Commander" (COSSAC) unter dem britischen General Frederick E. Morgan -, auch die ersten Vorarbeiten für die Besetzung Deutschlands begannen 31B , konnte freilich niemand voraussehen, welchen Charakter die rough-and-tumble Periode haben und unter welchen Bedingungen die Okkupation eines Tages erfolgen würde. Bei den britischen und amerikanischen Offizieren bildete sich angesichts der für Deutschland schon 1943 immer aussichtsloser werdenden Gesamtlage früh die Auffassung heraus, die Kapitulation Hitlers oder der Zusammenbruch des Reiches werde wahrscheinlich in dem Augenblick erfolgen, wenn die deutsche Führung einsehe, daß die Fortführung des Kampfes sinnlos geworden sei, spätestens aber dann, wenn die deutschen Ressourcen schlicht nicht mehr ausreichten, um den Krieg fortzuführen. Die meisten der an objektiven Daten orientierten und nach den orthodoxen Kriterien einer fachlichen Lageeinschätzung urteilenden alliierten Militärs hielten den "Bruchpunkt" des Feindes bereits im Spätsommer 1943 für erreicht. Generalleutnant Morgan selber stellte um diese Zeit fest, die Summe der inzwischen auf Deutschland einwirkenden Faktoren ähnele ziemlich genau jener, "die 1918 zum Zusammenbruch führte"319. Im Sommer 1944 galt die Faustregel, das Deutsche Reich werde ungefähr zwei Monate nach "Overlord" zusammenbrechen. 320 Dieser ganz von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges bestimmten Sicht kam ungefähr ein Jahr lang, bis in den Spätsommer 1944 hinein, beinahe das Gewicht eines Axioms zu. Selbst wenn die maßgeblichen Offiziere in den alliierten Stäben die unablässig herausgestrichene Ankündigung Hitlers, niemals ein zweites 1918 zuzulassen, nicht für bloße Durchhaltepropaganda gehalten und darüber hinaus auch noch die unbedingte Entschlossenheit des deutschen Diktators, tatsächlich nach dieser Maxime zu verfahren, frühzeitig als das entscheidende Hindernis einer rationalen Entscheidung - nämlich rechtzeitig vor der völligen Verwüstung des Landes die Waffen zu strecken - erkannt hätten, so konnten sich die alliierten Offiziere doch nur schwer vorstellen, daß Wehrmacht, Bevölkerung und Kriegswirtschaft den immer härter werdenden Schlägen der Anti-Hitler-Koalition sehr lange würden standhalten können. Kapitulierte Hitler nicht, so würde das Reich dennoch früher oder später kollabieren: Die "Kollaps-Theorie"321 war geboren. Die Annahme, Berlin werde sich letztlich vielleicht doch vernünftig verhalten, und die Gewißheit, es werde der deutschen Staatsführung jedenfalls unmöglich sein, den Zusammenbruch zu verhindern, ließen auf alliierter Seite wenig Raum für die Vorstellung, die Invasionsarmee werde nicht nur in Frankreich landen, die Wehrmacht dort vernichten, sondern sie werde sich auch bis tief ins Innere des Deutschen Reiches vorkämpfen müssen, um den Krieg zu entscheiden. Niemand hielt es bis zum Herbst 1944 für möglich, daß es vor der Kapitulation zu einer vollständigen Besetzung des
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Zur Planung während der COSSAC-Phase vgl. Ziemke, U.S. Army, S. 24 ff. Detailliert dazu auch: Eucom, Office of the Chief Historian, Planning for the Occupation of Germany, Frankfurt 1947; HZ-Archiv, Fg 38/ 15. Eucom, Planning for the Occupation, S. 9 ff., Zitate S. 9 und S. 10. Joseph R. Starr, U.S. Military Govemment in Germany: The Planning Stage, Karlsruhe 1950, S. 50; HZ-Archiv, Fg 40/6. Ebenda, S. 6 ff.
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gesamten deutschen Territoriums kommen könnte. Das Äußerste, womit Military Government Offiziere und weitsichtige Planer bei SHAEF während der Kampfphase rechneten, war die Okkupation kleinerer Gebietsteile in Westdeutschland, die im Zuge der Verfolgung der Wehrmacht an die Alliierten fielen. Allenfalls dort würde eine Militärverwaltung im rückwärtigen Gebiet der Army für Ruhe und Ordnung zu sorgen haben. Aus der "Kollaps-Theorie" folgten mehrere Grundannahmen, auf denen die Planung des Military Government aufbaute; sie stellten sich aber im Herbst 1944, als plötzlich deutlich wurde, daß der Krieg 1944/45 so völlig anders enden würde als 1918, größtenteils als irrig heraus. Nach der kampflosen Inbesitznahme des deutschen Reichsgebietes, so einer der Leitgedanken, würden die Alliierten dort eine relativ intakte wirtschaftliche, administrative und soziale Struktur vorfinden, auf der das Military Government aufruhen konnte. Die Militärregierung brauchte nur die Schaltstellen der deutschen Gesellschaft zu überwachen und würde sich mit verhältnismäßig bescheidenem Personalaufwand ganz auf eine indirekte Verwaltung ("indirect rule") eine weitere zentrale Denkfigur in der Planungsphase - ihres Besatzungsgebietes beschränken können. Im Einklang mit solchen Vorstellungen wurde denn auch bis Anfang 1944 beispielsweise viel Phantasie darauf verwandt, wie die Rückführung der nach der Kapitulation oder nach dem Zusammenbruch weit außerhalb Deutschlands stehenden Wehrmachtseinheiten am besten zu kontrollieren sei. Ferner gab es detaillierte Pläne ("Rankin", "Talisman"322) für die schnelle Sicherung strategisch wichtiger deutscher Regionen, in die sofort alliierte Truppen verlegt werden sollten. Und noch im März 1944 ging der zuständige Planungs stab im Oberkommando von der Annahme aus, daß nach dem unvermittelt erfolgenden Kollaps des Reiches "Militärregierungsoffiziere nach Berlin geflogen würden, um von dort aus ihren Anweisungen Geltung zu verschaffen"323. War die alliierte Generalstabsplanung hinsichtlich der Technik und des Verfahrens der Besetzung und der anschließenden Militärverwaltung Deutschlands schon recht weit fortgeschritten, als General Eisenhower im Januar 1944 nach London kam, so verfügte er andererseits aber über keinerlei inhaltlich-politische Richtlinien für die Militärverwaltung. Charakter und Ziele der Besetzung waren Anfang 1944 noch nahezu "unbekannt"324. Die Hoffnungen des Obersten Befehlshabers, der eher nebenher auch noch oberste Autorität des Military Government war, richteten sich anfangs auf die "European Advisory Commission" (EAC), die in der britischen Hauptstadt zum gleichen Zeitpunkt ihre Beratungen aufnahm, als auch Eisenhower dort zur Vorbereitung der Invasion eintraf. Diese Hoffnung trog aber, weil die von den drei Führungsrnächten der Anti-Hitler-Koalition im Herbst 1943 eingesetzte Kommission sich wegen der dilatorischen Haltung Washingtons und Moskaus 325 nicht zu einer Instanz entwickelte, die neben zentralen organisatorisch-technischen Vereinbarungen (Zoneneinteilung, Kapitulationsbestimmungen, Organisation des Alliierten Kontrollrats) J22
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Detailliert hierzu Eucom, Planning for the Occupation, S. 1 H. und S. 48 H. Starr, Planning Stage, S. 64. Ziemke, U.S. Arrny, S. 58. Hierzu: Gaddis, Cold War, S. l05ff. Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989, S. 238 ff.
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I. Am Vorabend der Besetzung
auch politische Vorgaben für die alliierte Besatzungsverwaltung hätte verabschieden können. Eisenhower und sein Stabschef Bedell Smith merkten rasch, daß sie nicht abwarten durften, ob sich die EAC zu einem funktionierenden Organ entwickeln würde und in der Lage war, die dringlicher werdende politische Orientierung zu geben. Im März signalisierte John J. McCloy (Staatssekretär im Kriegsministerium und Vorsitzender des "Combined Civil Affairs Committee") dem Oberkommandierenden in Bushy Park, daß einstweilen nicht mit politischen Richtlinien der Europäischen Beratenden Kommission zu rechnen sei und SHAEF deshalb bald eine Direktive der Combined Chiefs of Staff zugehen werde. 326 Das geschah am 28. April 1944 auch tatsächlich - für die ziemlich orientierungslosen Stabsoffiziere in London (die auf amerikanischer Seite nichts anderes in der Hand hatten als das allgemein gehaltene, nicht auf die Aufgaben in Deutschland zugeschnittene "Manual of Military Government and Civil Affairs" von Ende 1943) ein "Ereignis von größter Bedeutung"327. Die Anweisung der Combined Chiefs of Staff war mit dem Aktenzeichen CCS 551 versehen und trug den Titel "Directive for Military Government in Germany Prior to Defeat or Surrender"328. Sie war Eisenhowers "Charta"329 für die Errichtung der Besatzungsverwaltung und blieb bis zur Auflösung von SHAEF Mitte Juli 1945 in Geltung. CCS 551 beinhaltete alles andere als ein umfassendes politisches Programm, aber die Direktive nannte einige fundamentale Prinzipien, an die sich die alliierte Militärverwaltung zu halten hatte. Die Richtlinien vom 28. April 1944 übertrugen Eisenhower sämtliche Vollmachten der Legislative, Exekutive und der Rechtssprechung, ganz im Sinne des inzwischen nicht mehr umstrittenen Prinzips, daß die Besatzungsverwaltung während der Kämpfe und in der allerersten Zeit nach der Kapitulation oder nach dem Zusammenbruch eine Militärregierung zu sein hatte. Zwar ließ die Direktive keinen Zweifel daran, daß die Militärverwaltung in erster Linie den Zweck hatte, die militärischen Operationen zu unterstützen und die Sicherheit der Truppe zu gewährleisten, zugleich wies sie den Obersten Befehlshaber aber an, im Okkupationsgebiet stabile Verhältnisse zu schaffen und die einheimische Bevölkerung gerecht und human zu behandeln. Weitere Punkte waren die Auflösung der nationalsozialistischen Organisationen, die Aufhebung von NS-Gesetzen, die Festsetzung Hitlers sowie die Verhaftung, Internierung oder Entlassung von Nationalsozialisten aus führenden Positionen sowie die Bestrafung von Kriegsverbrechern; hinzu kamen verschiedene Anweisungen zur Entmilitarisierung. Die Direktive zog außerdem eine deutliche Trennlinie zwischen Volk und Führung und zielte auf eine möglichst rasche Normalisierung der Verhältnisse für die Masse der deutschen Bevölkerung. Dazu wurde eine umfassende Indienstnahme von Wirtschaft und Verwaltung ins Auge gefaßt, bei der sich die Militärverwaltung strikt an das Prinzip einer bloßen Überwachung der deutschen Stellen, die gewissermaßen als verlängerter Arm der Besatzungsmacht fungieren sollten, zu halten hatte. Diese Art der indirekten Verwaltung ("indirect rule") würde praktisch überall Platz greifen, bei der Lohn- und Preisüberwachung wie bei der Lebensmittel-Rationierung, bei der InduZiemke. V.S. Army, S. 59. Starr, Planning Stage, S. 18 ff.; Zitat eben da, S. 20. m Abgedruckt in: FRVS 1944, I, S. 218ff. 329 Ziemke, U.S. Army, S. 59. 326 327
5. Military Government: Was tun?
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strieproduktion wie beim Außenhandel, den die Alliierten nach der Besetzung eines relativ intakten Deutschlands noch vorzufinden glaubten; Lebensmittellieferungen für die Bevölkerung waren erlaubt, um Krankheiten und Unruhen ("disease and unrest") vorzubeugen. Die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung sollten, wenn es die militärische Situation erlaubte, gewährleistet werden. Politische Betätigung war zunächst zwar untersagt, die Bildung von demokratischen Gewerkschaften sollte jedoch keinen Einschränkungen unterworfen sein. Das deutliche Bestreben dieser Politik, möglichst rasch zu normalen Lebensverhältnissen zu finden, oder, wenn das nicht möglich war, wenigstens alles zu unterlassen, was einer baldigen Erholung des Landes entgegenstand, war unübersehbar, auch wenn die militärischen Notwendigkeiten anderen Erfordernissen und Zielen naturgemäß vorgingen. Augenmaß und Pragmatismus, von der die Bestimmungen der Direktive CCS 551 geprägt wurden, waren den amerikanischen Offizieren durchaus vertraut, entsprach der bestimmte, aber ruhige Ton der Charta der Militärverwaltung in Deutschland doch ganz dem in Jahrzehnten gewachsenen Verständnis der amerikanischen Armee von der Regierung besetzter Länder; seit jeher hatte sie strikt, aber human und gerecht zu sein. 330 Die Direktive der Combined Chiefs of Staff gab endlich auch der "German Country Unit", einem Anfang 1944 gebildeten Spezialstab von SHAEp3\ eine solide Grundlage. Dieser aus ungefähr 150 alliierten Offizieren bestehende Stab, von denen die Mehrzahl der U.S. Army zugehörte, war ursprünglich als amerikanisch-britische Militärverwaltung für die kurze Übergangszeit vom Ende der Kampfhandlungen bis zur Errichtung eines amerikanisch-britisch-sowjetischen Kontrollorgans gedacht gewesen, war aber im Sommer 1944, als sich die Strukturen der künftigen alliierten Kontrollorganisation herauszukristallisieren begannen, aufgelöst worden. Ein Teil der Offiziere wurde in die Schulungszentren für Civil Affairs/Military Government abkommandiert, der Rest kam in den nationalen Kontrollrats-Gruppen Großbritanniens und der USA unter; deren amerikanischer Nukleus, die "U.S. Group Control Council (Germany)" (USGCC) unter General Cornelius W. Wickersham, wurde am 9. August 1944 gebildet. 332 Da der "German Country Unit" in ihrer nur etwa halbjährigen Existenz eigentlich keine rechte praktische Funktion zugefallen war, hatten sich deren Mitglieder ab März 1944 ganz auf die Detailplanung der Militärverwaltung in Deutschland geworfen. Das am 15. August 1944 in der Endfassung für den Druck vorliegende, in Abstimmung mit der "European Advisory Commission" entstandene Produkt ihrer intellektuellen Bemühung war das beinahe 300 Seiten starke "Handbook for Military Government of Germany"3B Es versuchte die Richtlinien von CCS 551 in praktische Handlungsanleitungen umzuwandeln und vor allem möglichst konkrete Antworten auf die Fragen zu geben, die sich dem Militärregierungsoffizier im Besatzungsgebiet stellen würden. Das Kompendium enthielt also eine detaillierte Beschreibung der Verhältnisse im J30
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Einzelheiten zu CCS 551 bei Hammond, Directives, S. 327 H. Starr, Planning Stage, S. 78 H. Planning for the Occupation, S. 44H. Albrecht Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 19411945, Frankfurt 1987, S. 263 ff. Siehe Starr, Planning Stage, S. 32 ff. Siehe auch Ziemke, U.S. Army, S. 80 H. Siehe "United States Group Control Council (Gerrnany), November 1943 - April 1945"; NA, RG 260, USGCC 44-45/1- 3. Im einzelnen Ziemke, U.S Army, S. 91 H. Zum "Handbook" vgl. Starr, Planning Stage, S. 138 ff.
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1. Am Vorabend der Besetzung
Reichsgebiet, gab für jedes einzelne Fachgebiet der Militärverwaltung konkrete Empfehlungen und war mit einer Sammlung von Proklamationen und Gesetzen versehen, die in Deutschland bekanntzumachen waren. Obwohl die "German Country Unit" ihren umfangreichen Leitfaden natürlich nicht als eine Direktive, sondern lediglich als eine praxisorientierte Erläuterung der CCS 551 verstand, waren die Offiziere von ihrem eigenen Ehrgeiz doch weit über den ihnen gesetzten Rahmen hinausgetragen worden. Sie hielten sich nicht nur nicht an die Limitierung ihres Auftrags auf die Zeitspanne vor Zusammenbruch oder Kapitulation, sondern sie bezogen das Handbuch schon durch seine ganze Anlage "zumindest in Ansätzen auf eine politisch-ökonomische Gesamtverantwortung der Militärregierung für die Reorganisation des zivilen Lebens in den besetzten Gebieten"334 General Wickersham selbst versorgte Washington, nicht ohne Bewunderung für die gediegene Arbeit der Country Unit, mit Memoranden, in denen es hieß, das Handbuch lasse sich "auf die Post-surrender-Phase der Militärregierung fraglos genauso gut anwenden wie auf die Pre-surrender-Periode"335. Ganz in der "Kollaps"-Theorie und der Doktrin der "indirect rule" befangen und im Geiste eines auf die zügige Normalisierung der Verhältnisse ausgerichteten Pragmatismus abgefaßt, lautete die politische Kernanweisung des Handbuches für die Offiziere der Militärregierung: "Ihre hauptsächliche und unmittelbare Aufgabe zur Erfüllung Ihrer Mission besteht darin, die Dinge in Gang zu bringen, die Scherben aufzusammeln, so schnell wie möglich die Tätigkeit der deutschen zivilen Behörden wieder anzukurbeln ... Erstes Anliegen der Militärregierung wird es sein, dafür zu sorgen, daß die Maschine arbeitet und daß sie effizient arbeitet."336 Damit fand sich das Handbuch von SHAEF nicht nur in vollkommenem Einklang mit der Tradition der U.S. Army, sondern auch mit dem vom 15. August 1944 datierenden Entwurf einer Direktive der Civil Affairs Division des Kriegsministeriums, die für die amerikanische Militärregierung nach dem Ende der Feindseligkeiten gelten sollte. Darin wurde Eisenhower angewiesen, eine "strikte, gerechte und humane" Verwaltung in Deutschland zu errichten und "so rasch wie möglich normale Lebensverhältnisse der Bevölkerung wiederherzustellen"337. Mitte August 1944, vier Wochen bevor die ersten amerikanischen Soldaten deutschen Boden betraten, bestand für die Politiker und die Militärs, die an den Besatzungsplanungen mitgewirkt hatten, einiger Anlaß, mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Mit einer gewissen Berechtigung konnten die Streitkräfte (die freilich vor allem auf ihre Handlungsfreiheit pochten und - um das mindeste zu sagen - nichts dazu beitrugen, dem State Department seine Aufgaben zu erleichtern 338) zugleich der Meinung sein, nicht sie hätten es in erster Linie zu vertreten, daß es auf der politischen Ebene in Washington, auf den internationalen Konferenzen und vor allem in der 'H
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Tyrell, Amerikanische Deutschlandplanung, in: Hauser (Hrsg.), Das geteilte Deutschland, S. 56. Ähnlich Starr, Planning Stage, S. 139. Ähnlich auch Ziemke, U.S. Army, S. 84. Das ergibt sich aus einem Memorandum des Obersten Befehlshabers v. 19.6. 1944; zir. nach Starr, Planning Stage, S. 138. "Handbook for Military Government of Germany", Version vom Sommer 1944; zit. nach Hammond, Directives, S. 355. "Directive for Military Govemment in Germany (Post-Surrender)" v. 15.8. 1944; zir. nach Ziemke, U.S. Army, S. 85. Vgl. Hammond, Directives, S. 346 f. Vgl. auch - wohl überpointiert - Gaddis, Cold War, S. 102 H. und S. 112 H.
5. Military Govemment: Was tun?
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Europäischen Beratenden Kommission in London trotz des jeden Tag zu erwartenden Zusammenbruchs des Dritten Reiches nicht recht vorwärts zugehen schien und daß es noch vollkommen offen war, welche Organe in welchen Teilen Deutschlands während der "eigentlichen", sofort nach einer ersten Konsolidierung der Lage einsetzenden Besatzungsherrschaft welche Politik machen sollten. Die Streitkräfte jedenfalls fühlten sich gerüstet und standen Gewehr bei Fuß. Und falls sich die nächsten Monate so entwickelten, wie sie sich nach menschlicher Voraussicht entwickeln mußten, dann würde es auch keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten, nach Deutschland "hineinzugehen" ("walk in") - so die Standardwendung dieser Tage - und dort im Zeichen des "indirect rule" für einige wenige Monate eine mit Autorität und, wo nötig, auch streng auftretende, aber humane Besatzungsverwaltung zu installieren. Doch noch bevor der August vorüber war, stürzte dieses auf "Wunschdenken"339 errichtete Gebäude in sich zusammen. Nach den gewaltigen Erfolgen der alliierten Invasionsarmee im Westen und der Roten Armee im Osten während des Sommers 1944 wurde in Großbritannien und den Vereinigten Staaten in einem allgemeinen Freudentaumel damit gerechnet, der Krieg gegen Deutschland werde noch vor Einbruch des Winters zu Ende gehen. Berufene und Unberufene stellten Vergleiche mit der deutschen Lage im Herbst 1918 an, und zwei Drittel der Amerikaner erwarteten Ende August V-E ("Victory in Europe") Day innerhalb von ein bis drei Monaten. 34o In den Vereinigten Staaten, berichtete der britische Botschafter aus Washington, herrsche die Auffassung, daß die militärischen Erfolge die politischen Planungen weit überflügelt hätten. 341 "Die Armeen waren den Politikmachern weggelaufen."342 Vor dem grassierenden Optimismus, der in Amerika und England nach dem Desaster der Wehrmacht, dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 und dem Abfall der deutschen Verbündeten herrschte, waren auch die Fachleute in den Stäben von SHAEF nicht gefeit, zumal viele von ihnen immer mit einem frühzeitigen "Kollaps" des Dritten Reiches gerechnet hatten. Das "Combined Intelligence Committee" schrieb Anfang September 1944 in einer Analyse für das bevorstehende Treffen Roosevelts und Churchills in Quebec, mit organisiertem deutschen Widerstand über den 1. Dezember 1944 hinaus sei kaum zu rechnen. Generalstabschef Marshall war noch optimistischer. Er rechnete mit einem Ende der Kämpfe gegen Deutschland zwischen dem 1. September und dem 1. November 1944. Eisenhower selbst war vorsichtiger und sah sich sogar veranlaßt, eine Pressekonferenz einzuberufen, um, wie sein Marine-Adjutant Harry Butcher notierte, etwas gegen die "überoptimistische Stimmung in der Heimat" zu tun. 343 Der Supreme Comander verwies auch darauf, daß ein anhaltend schnelles Vorgehen der Alliierten selbst gegen geringen Widerstand aus logistischen Gründen kaum noch möglich sein werde. Nicht einmal einen langwierigen blutigen Kampf auf deutschem Boden wollte er ausschließen. Am klarsten beurteilte der Chef des G-2 Stabes der Third U.S. Army, deren spektakuläre Panzerraids durch Nordfrankreich Tagesgespräch waren, die Lage. Oberst 339
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Starr, Planning Stage, S. 64. Cantril, Public Opinion, S. 1091. Im März 1944 rechneten die meisten Amerikaner mit einer noch ungefähr einjährigen Kriegsdauer in Europa. Bericht der britischen Botschaft in Washington für das dritte Quartal 1944; in: Confidental Dispatches, S.218. Stimson, Bundy, On Active Service, S. 566. Harry S. Butcher, Drei Jahre mit Eisenhower, Bem 1946, S. 681; Eintragung v. 31. 8. 1944.
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I. Am Vorabend der Besetzung
Koch schrieb Ende August 1944 nämlich: ,,Alle Indizien sprechen dafür, daß die Nazis fest entschlossen sind, um jeden Preis bis zum äußersten zu kämpfen. Man muß sich ständig vergegenwärtigen, daß der Feind im wesentlichen auf Zeit spielt. Bald wird das Wetter und das Gelände sein stärkster Verbündeter sein ... Abgesehen von einem Umsturz und der noch vageren Möglichkeit eines Aufruhrs in der Wehrmacht, kann damit gerechnet werden, daß die deutschen Streitkräfte weiterkämpfen werden, bis sie vernichtet sind oder in Gefangenschaft gehen."344 Es hatte lange gedauert, ehe sich auch auf der Ebene der Generalität die bei Roosevelt und Churchill schon länger vorhandene Erkenntnis durchzusetzen begann, daß es nicht ausreichte, das Verhalten der deutschen Führung allein mit dem gesunden Menschenverstand und historischen Parallelen erfassen zu wollen. Diese im Spätsommer 1944 immer plausibler werdende Einsicht kam für die allermeisten Militärs als eine schockierende Erkenntnis, die im besonderen Maße auch für Planung und Praxis des Military Government von entscheidender Konsequenz war. General Eisenhower, der nach seinen großen Siegen in Frankreich zu Churchill gesagt hatte, wenn Hitler den kleinsten Rest von Verstand habe und die völlige Zerstörung Deutschlands vermeiden wolle, sei es höchste Zeit für die Kapitulation 34 5, ist es persönlich gewesen, der jetzt mit Blick auf die kommenden, plötzlich unlösbar erscheinenden Probleme der Militärverwaltung sofort die Alarmglocke läutete. Der Anstoß zu seinem dramatischen Schritt kam vom Stellvertretenden Stabschef, SHAEF, G-5. Der amerikanische General Julius C. Holmes wandte sich am 21. August 1944 mit einem Memorandum an Bedell Smith und machte ihn darauf aufmerksam, daß die Grundvoraussetzungen der Art von Militärverwaltung, wie sie die Direktive CCS 551 vorsah, offenbar überhaupt nicht gegeben sein würden. Die Army war nie auf den Gedanken verfallen, Tausende von Quadratkilometern feindlichen Gebietes, halb Deutschland, hinter der eigenen Front stabilisieren zu müssen, aber genau danach sah es jetzt aus: "Es ist nun wohl wahrscheinlich", lautete der Schlüsselsatz in dem Memorandum von Holmes, "daß wir es nicht mit der Kapitulation der deutschen Armee als Ganzes zu tun haben werden und daß wir das Land höchstwahrscheinlich in einem chaotischen Zustand ohne nationale Autorität, ob zivil oder militärisch, vorfinden. Angesichts solcher Verhältnisse wäre es die größte Torheit, sollten wir versuchen, die wirtschaftliche Struktur des Landes zu kontrollieren; ihr Zusammenbruch wäre sicher, trotz allem, was wir tun würden, um das zu verhindern. Wir glauben daher, daß wir unsere Verantwortlichkeit auf solche Aktionen beschränken sollten, die aus militärischen Gründen für notwendig und möglich gehalten werden."346 Die übrigen Stabsabteilungen des Oberkommandos stimmten diesen Gedankengängen zu. Bedell Smith erkannte die Brisanz des Memorandums sogleich, und General Eisenhower handelte sofort. Schon am 23. August wandte er sich an die Combined Chiefs of Staff in Washington. Die Direktive CCS 551 basiere offenbar auf der Erwartung, daß es zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe der Kämpfe gegen Hitler zu einem Kapi344 Lageanalyse v. 28. 8. 1944; zit. nach Pogue, Supreme Command, S. 245. ", Eisenhower, At Ease, S. 274. 346 Memorandum von Brigadier General Julius C. Holmes, Stellvertretender Stabschef von SHAEF, G-5, an General Bedell Smith, Stabschef des Alliierten Oberkommandos, v. 21. 8. 1944; NA, RG 331, General Staff, G-5 Division, 25. Germany Nation Papers by the Joint Historieal Research Seetion of Contral Commission (Br.), Jacket I!. Hervorhebungen von mir.
5. Military Government: Was tun?
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tulationsakt oder zu einer rechtzeitigen Massenkapitulation der Wehrmacht kommen würde, bemerkte Eisenhower eingangs: "Das ist nun aber doch sehr unwahrscheinlich, und es kann gut sein, daß die deutsche Armee als Ganzes nie richtig kapitulieren und das Land keine kontrollierende Zentralbehörde haben wird, folglich eine chaotische Situation, vermutlich mit Guerillakämpfen und möglicherweise sogar Bürgerkrieg in bestimmten Bezirken." Unter solchen Umständen werde sich die Besetzung Deutschlands als nichts anderes als eine "Fortführung militärischer Operationen" darstellen. Eine Drei-Mächte-Kontrolle werde erst eingerichtet werden können, wenn ganz Deutschland unter sichere Kontrolle gebracht sei. "Falls sich die Verhältnisse in Deutschland so erweisen sollten wie beschrieben", fuhr er fort, "wird es völlig unmöglich sein, die wirtschaftliche Struktur des Landes wirksam zu kontrollieren oder zu retten. Diese Struktur wird unweigerlich zusammenbrechen, und wir meinen, wir sollten die Verantwortung für ihre Stützung und Kontrolle nicht übernehmen."347 Das war der Anfang vom Ende der "Kollaps"-Theorie. Die Alliierten mußten sich zu dem Gedanken einer "Besetzung vor der Kapitulation"348 bequemen, und spätestens im Oktober, November 1944 war der alte Glaube an einen baldigen Zusammenbruch oder eine frühe Kapitulation des Deutschen Reiches dahin; Military Government würde eine sehr undankbare Knochenarbeit werden, die Theorie von der "indirect rule" konnte begraben werden. Drei Wochen vor dem Überschreiten der Grenze nach Deutschland begann die Army erstmals mit der Kehrseite der von ihr angestrebten maximalen Machtfülle - der Alleinverantwortung für die besetzten Gebiete - Bekanntschaft zu machen. Das aber lief völlig der Strategie der Streitkräfte zuwider, in ihren Okkupationsgebieten nur ein Minimum an politischer Verantwortung zu übernehmen ("Iimited liability"349). Da sich eine schwerere Bürde kaum denken ließ als das Military Government des "völlig ausgebrannten Wracks"350 des eroberten Hitler-Staates - und das auch noch ohne jede Aussicht, in absehbarer Zeit eine politische Direktive des Präsidenten oder ein gleichwertiges politisches Grundsatzdokument der Großen Drei in Händen zu haben -, drängte Eisenhower nachdrücklich auf eine Entlastung der Armee. Die Combined Chiefs of Staff weigerten sich aber, ihre Richtlinien vom April 1944 wesentlich zu modifizieren, vor allem, weil die Briten die Perspektiven nicht so düster sahen wie Eisenhower. SHAEF solle versuchen, so der gute Rat, die neue Lage mit der alten, ja durchaus dehnbaren Direktive CCS 551 zu meistern. 351 Diese gelassene Reaktion war nicht das eigentliche Motiv, vielleicht aber mit ein Anstoß zu einer der glänzendsten Leistungen, die die U.S. Army bei der Eroberung Deutschlands 1944/45 trotz einer wachsenden Kreuzzugsstimmung in den Medien und bei manchem Politiker und Soldaten vorzuweisen hatte: nämlich einerseits Direktiven von höchster Stelle zu haben, sie zu würdigen, sie bei Bedarf hervorzuziehen und sie manchmal auch buchstabengetreu zu befolgen, im allgemeinen aber so zu 347
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Telegramm Eisenhowers an die Combined Chiefs of Staff v. 23.8. 1944; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, Walter Bedell Smith's Colleetion of World War II Doeuments. Vgl. Pogue, Supreme Command, S. 354. Starr, Planning Stage, S. 151. Walter L. Dorn, The Debate over Ameriean Oeeupation Poliey in Germany 1944-45, in: Politieal Seienee Quarterly 72 (1957), S. 481 ff. Ziemke, U.S. Army, S. 100. Im einzelnen hierzu: Starr, Planning Stage, S. 153 f. Ziemke, U.S. Arrny, S. 101.
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I. Am Vorabend der Besetzung
handeln, wie es die Lage jeweils erforderte, das heißt: die Direktiven nach Belieben zu dehnen und freimütig gegen sie zu verstoßen, wenn dies Gerechtigkeitsgefühl, Pragmatismus oder Eigeninteresse geraten erscheinen ließen. Beinahe gleichgültig, was ihre Manuals, Handbooks, Guides und Direktiven auch vorsahen, entscheidend blieb für die Offiziere des Military Government, aber auch anderer Teile der Army zwischen dem Herbst 1944 und dem Frühjahr 1945 immer, sich die ohnehin schon immens komplexe und komplizierte Aufgabe im Besatzungsgebiet nicht auch noch selbst zu erschweren. Wo die Vorschriften - immerhin Befehle - dem gesunden Menschenverstand zuwiderliefen, da verloren sie temporär eben ihre Verbindlichkeit. Nichts führt deswegen mehr in die Irre, als aus den Befehlen, mit denen die amerikanische Besatzungsmacht nach Deutschland hineinging, irgend etwas über die Besatzungswirklichkeit herauslesen zu wollen. Als Eisenhower am 23. August um Modifizierung der Richtlinie CCS 551 bat, war SHAEF eben dabei, das so sorgfältig erarbeitete, aber weithin auf der "Kollaps"-Theorie und der Doktrin der "indirect rule" aufbauende "Handbook for Military Governme nt of Germany" den neuesten Erkenntnissen über den völlig unerwarteten Charakter der Besetzung anzupassen. 352 Dieser Aufgabe konnten die Stabsoffiziere des Oberkommandos freilich nicht in der gewohnten fachmännischen Routine nachgehen. Kein Geringerer als der Präsident der Vereinigten Staaten warf nämlich just zur selben Zeit höchstpersönlich einen Blick in das vor Insatzgabe stehende Kompendium der "German Country Unit". Er fand es "ziemlich schlecht" {"pretty bad")353. Man schrieb den 26. August 1944. Das Echo in der Army und in der Administration war ungeheuer. Es lief durch die Stäbe und Ministerien, und auch die amerikanisch-britischen Organe der gemeinsamen Kriegführung und Nachkriegsplanung wurden von dem nun aufbrechenden Konflikt um die Besatzungs- und Deutschlandpolitik nachhaltig berührt. Ende August, Anfang September 1944, so mußte es den Offizieren der künftigen Besatzungsverwaltung vierzehn Tage vor der Besetzung des Reichsgebietes erscheinen, war das Unterste zuoberst gekehrt. Die organisatorisch-technischen Pläne waren obsolet, die Grundannahmen der gesamten Planung erwiesen sich als verfehlt, und das wenige, was die "unpolitischen" Direktiven und Handbücher an politischer Aussage enthielten, hatte nun auch noch den Zorn des Präsidenten selbst auf sich gezogen - ein klassischer Fehlstart. Zu oft, als daß es hier erneut wiederholt werden müßte, ist schon beschrieben worden, wie Finanzminister Henry Morgenthau auf seiner Europareise im August 1944 dem Alliierten Oberkommando einen Besuch abstattete, wie er dabei auf das "Handbook for Military Government" stieß, das allen Vorstellungen von der künftigen Behandlung Deutschlands, wie er sie des öfteren vom Präsidenten selbst vernommen hatte, Hohn zu sprechen schien, wie er dieses Beutestück mit nach Washington zurückbrachte und wie er es mit zum Anlaß nahm, sich nun massiv in die bislang vom Außenministerium und vom Kriegsministerium betriebene Deutschlandplanung einzuschalten. 354 Als Morgenthau am 25. August Roosevelt traf, brachte er das SHAEF-
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Gaddis, Cold War, S. 117 und S. 122.
'53 Memorandum Roosevelts für Kriegsminister Stimson v. 26.4. 1944, in: FRUS 1944, I, S. 544ff. ," Aus der Fülle der Darstellungen sei nur genannt: Hammond, Directives, S. 348 fi. Siehe auch Blum,
5. Military Government: Was tun?
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Handbuch und ein Memorandum 355 dazu gleich mit, in dem er diejenigen Textpassagen aneinandergereiht hatte, die dem Präsidenten gewiß gegen den Strich gehen würden. Anders als Roosevelt, mit dem zusammen sich Henry MorgenthauJr. privatim und am Rande der Dienstgeschäfte regelmäßig in deutsch-feindliche Wallungen zu versetzen verstand, verfügte der Finanzminister nicht in dem Maße wie jener über die Fähigkeit, subjektive Neigungen letztlich jederzeit hinter der staatspolitisch notwendigen Selbstbeherrschung der Gefühle zurückstellen zu können. Ein starkes Mißtrauen gegen Deutschland herrschte in Morgenthaus Familie mindestens seit der Zeit vor, als sein Vater während des Ersten Weltkrieges Botschafter in der Türkei gewesen war j56 Hinzu kam, daß in der Treasury generell (auch schon gegenüber Italien) die wenig professionelle Vorstellung virulent war, außenpolitische Probleme könnten bei entsprechendem Zugriff ein für allemal gelöst werden. Daß die Empörung Morgenthaus (der Jude war) über den nationalsozialistischen Völkermord als ein Hauptmotiv hinter seinen Karthago-Visionen stand, gilt nicht als sehr wahrscheinlich. 357 Vielleicht hat die Erbitterung über diese Verbrechen die Skrupel des Finanzministers aber gemindert. Morgenthau war in der Regierung der USA die entschiedenste Triebkraft hinter den Rettungsrnaßnahmen für von der Vernichtung bedrohte europäische Juden gewesen 358 , und als ihm Ende August 1944 unmittelbar vor dem Beginn seiner politischen Kampagne für eine harte Behandlung Deutschlands und der Deutschen bereits Kritik von seiten Stimsons begegnete, gab er zurück: "Na ja, das ist noch lange nicht so schlimm, wie sie in die Gaskammer zu schicken."359 Das Programm des amerikanischen Finanzministers bezog sich nun nicht etwa auf die ersten Schritte der Army im Besatzungsgebiet, wie man aus der Tatsache ableiten könnte, daß sich der politische Streit in Washington im Ergebnis auf die Anweisung JCS 1067 kaprizierte, die ja nur für eine kurze Zeitspanne - höchstens wenige Monate - Gültigkeit haben sollte. Im Gegenteil, was Henry Morgenthau im Herbst 1944 vorlegte, war nichts weniger als ein umfassendes Szenario langfristiger Politik, ein geschlossenes "Programm zur Verhinderung der Auslösung eines Dritten Weltkrieges durch Deutschland". Neben den sehr weitgehenden Zerstückelungs- und Internationalisierungsplänen zielte es im Kern auf die Entindustrialisierung, ja ,,Agrarisierung" des Landes und die Schaffung eines machtpolitischen Vakuums in Mitteleuropa "Reflex eines irrationalen Hasses auf einen grausamen und hartnäckigen Feind, wie er in Kriegszeiten entsteht"360. Weder das State Department noch das War Department stimmten der Sache nach mit den in der Treasury selbst nicht uneingeschränkt befürworteten 361 Ideen der "hard peace"-Verfechter um Morgenthau überein, auch wenn es in dem mehr als siebenmonatigen interministeriellen Tauziehen zeitweise zu wechselnden taktischen Allianzen kam.
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Deutschland, S. 204 ff. Dokumente in: Committee on the Judiciary, Morgenthau Diary (Germany), I, S.413ff. Memorandum Morgenthaus für Roosevelt v. 25.8. 1944, in: Committee on the Judiciary, Morgenthau Diary (Germany), I, S. 440 ff. Hammond, Directives, S. 348. Sn eil, Wartime Origins, S. 77. Vgl. etwa Wyman, Unerwünschtes Volk, S. 280 und S. 434. Diktat Morgenthaus über eine Unterredung mit Stimson und McCloy v. 24.8. 1944, in: Committee on the Judiciary, Morgenthau Diary (Germany), I, S. 425 ff.; Zitat S. 427. Gaddis, Cold War, S. 121. Siehe Hajo Holborn, Germany and Europe: Historical Essays, Garden City 0.]., S. 259.
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1. Am Vorabend der Besetzung
Als der Präsident das Memorandum seines Finanzministers gelesen und sich auch das SHAEF-Kompendium näher betrachtet hatte, erhielt das Pentagon aus dem Weißen Haus die schwerste Breitseite seit langem. Das "ziemlich schlechte" Handbuch war Roosevelt gerade recht gekommen, um in einem ätzenden Schriftsatz seinen bitteren Empfindungen gegenüber Deutschland freien Lauf zu lassen und zugleich mit den vermeintlichen "soft peace"-Neigungen der Army ins Gericht zu gehen; wer das Handbuch geschrieben habe, wer es gebilligt habe, wollte er wissen, und wenn es noch nicht an die Truppe verteilt sei, dann sei es von den Streitkräften zu überarbeiten. Der Präsident hatte selbstverständlich keinerlei Vorstellung vom Kontext, in dem dieser Leitfaden entstanden war. Er wußte gewiß auch nicht um die traurige Existenz der "German Country Unit". Im übrigen war er höchstpersönlich dafür verantwortlich, daß - wofür Roosevelt aus übergeordneten Gesichtspunkten gute Gründe hatte kein autorisiertes Programm für die amerikanische oder alliierte Besatzungs- und Deutschlandpolitik vorlag. Andererseits war Roosevelts Eindruck, daß hier irgendein untergeordneter Stab recht unbekümmert und politisch nicht wirklich gedeckt ein großes konstruktives Programm entfaltet hatte, so verkehrt nicht. Außerdem paßten ihm der Ton und die ganze Richtung des Handbook nicht: "Es vermittelt mir den Eindruck", kritisierte er, "daß Deutschland ebensoweit wie die Niederlande oder Belgien wiederhergestellt und die Bevölkerung Deutschlands so schnell wie möglich in ihren Lebensstandard der Vorkriegszeit zurückversetzt werden soll." Demgegenüber strich er ein Hauptziel des Krieges heraus, das nach seiner innersten Überzeugung auch darin bestand, diesmal jedem Deutschen klarzumachen, daß Deutschland eine "besiegte Nation" sei. Er wolle die Bevölkerung dort keineswegs zu Tode darben lassen, aber dreimal täglich eine Suppe aus der Armeeküche müsse reichen für sie, falls sie nicht selber für sich sorgen könne; das werde das deutsche Volk lehren, nicht noch einmal einen Krieg anzufangen. Und so ging es fort in dem Memorandum, in dem Roosevelt wieder einmal seine ganze Verachtung für den "Hitlerismus" und auch das Volk ausgoß, das diese aggressive Diktatur ermöglicht hatte und immer noch stützte: "Zu viele Leute hier und in England sind der Ansicht, daß das deutsche Volk als Ganzes nicht für das verantwortlich ist, was geschehen ist - daß nur ein paar Naziführer verantwortlich sind. Das beruht leider nicht auf Tatsachen. Dem deutschen Volk als Ganzes muß eingetrichtert werden, daß die ganze Nation sich auf eine illegitime Verschwörung gegen die Anständigkeit der modernen Zivilisation (lawless conspiracy against the decency of modern civilization) eingelassen hat."362 Das war klassischer Roosevelt. Stimson kannte das und wußte, daß solche Ausbrüche nicht als politische Direktiven mißverstanden werden durften, sondern in erster Linie als Startschuß für die Auseinandersetzung mit dem für die Deutschlandplanung an sich nicht zuständigen - Morgenthau sah das selbst so - Freund des Präsidenten aufgefaßt werden mußte. Der politisch schwergewichtige und klar urteilende Henry Stimson fand bereits in der Geburtsstunde der drakonischen Deutschland-Strategien eine gültige Antwort auf sie. Er legte sie am 5. September 1944 nach der ersten gemeinsamen Erörterung der Pläne mit Morgenthau, CordeIl Hull und Harry Hopkins mit historischen Worten in einem Memorandum nieder: "Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein solches Vorhaben ,,,, Memorandum Roosevelts an Stimson v. 26.8. 1944; zit. nach Hammond. Directives. S. 355.
5. Military Government: Was tun?
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möglich oder effektiv ist, und ich sehe enorme Übelstände kommen, wenn versucht werden sollte, es so durchzuführen." Seit achtzig Jahren sei Deutschland eines der wichtigsten Länder für Wirtschaft und Industrie in Europa. "Ich kann mir das Bemühen vorstellen, den Mißbrauch, den Deutschland zuletzt mit dieser Produktion getrieben hat, durch ein kluges Kontroll- oder Treuhandsystem oder sogar durch Eigentumstransfer zu anderen Nationen auszugleichen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, ein solches Geschenk der Natur in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Krieg ist Zerstörung. Dieser Krieg hat mehr als jeder frühere gigantische Zerstörungen gebracht. Der Bedarf an kräftigender Ausnutzung der Produktivität ist in der ganzen Welt heute sichtbarer denn je. Um gar nicht von Deutschland und nicht einmal von seinen Satelliten zu reden, es sind unsere Verbündeten in Europa, die den Bedarf an der Ausnutzung derartiger Produktivität spüren werden, sollte man sie zerstören." Es sei geboten, den wirtschaftlichen Wiederaufbau raschest voranzutreiben, um "gefährliche Konvulsionen" zu vermeiden, schrieb er. "Mein Grundeinwand gegen die vorgeschlagenen Methoden der Behandlung Deutschlands, die heute vormittag diskutiert wurden, ist", wie der in seiner Ansicht von John J. McCloy bestärkte 363 Stimson seine Überzeugung zusammenfaßte, "daß sie einem System präventiver und erzieherischer Bestrafung auch noch die gefährliche Waffe totaler wirtschaftlicher Unterdrückung hinzufügen würden. Solche Methoden sind, nach meiner Meinung, nicht kriegsverhindernd; sie sind geeignet, Krieg zu züchten." Zehn Tage später schrieb er an Roosevelt: "Wir können eine Nation von siebzig Millionen, die seit vielen Jahren in Kunst und Wissenschaft herausragt und die hoch industrialisiert ist, nicht auf einen Stand der Armut zurückdrücken." Und unmißverständlich fügte der Secretary of War hinzu: "Es wäre genau so ein Verbrechen, wie es die Nazis an ihren Opfern zu verüben hofften - es wäre ein Verbrechen gegen die Zivilisation selbst."364 Das Besondere an dieser Krise auf höchster Ebene war, daß das SHAEF-Handbuch ironischerweise gerade in dem Augenblick in die Schußlinie geriet, als die Army angesichts des in Deutschland drohenden Chaos' aus eigenem Antrieb eben darangegangen war, den noch der "Kollaps"-Doktrin verhafteten Kurs mit seinem Übermaß an politischer Eigenverantwortung aufzugeben und damit auch die ganze "Philosophie" der Direktive CCS 551 hinter sich zu lassen. Doch erst einmal herrschte im kritisierten Oberkommando schreckliche Verwirrung und Ratlosigkeit. Als Eisenhower Ende August der Befehl erreichte, das "Handbook" zurückzuziehen, telegrafierte er dem Chef der Civil Affairs Division im Kriegsministerium, er sei mit den ganzen Military Government Angelegenheiten "nicht wirklich eng vertraut", die Army stehe jetzt aber unmittelbar vor dem Einmarsch nach Deutschland und deshalb könne er der Militärverwaltung jetzt nicht einfach ihre Grundlagen entziehen. 365 Ganz so kunstlos war der Sturm aus Washington zwar nicht abzuwettern, aber es gelang den Militärs letztlich doch sehr gut, sich von der Politik nicht allzusehr beeinträchtigen zu lassen. Insbesondere die Auswirkungen der von Morgenthau ausgelösten Turbulenzen konnten In Europa so gedämpft werden, daß der zwischen September 1944 und Mai 1945 in
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Edward N. Peterson, The American Occupation of Gennany - Retreat to Victory, Detroit 1978, S. 28 f. Memoranda Stimsons v. 5.9.1944 und 15.9. 1944; zit. nach Hammond, Directives, S. 366, und Ziemke, V.S. Army, S. 103. Telegramm Eisenhowers an Hilldring v. 30.8.1944; NA, RG 331, General Staff, G-5 Division, 25.31 Germany, Military Government Operations World War 11.
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Washington ausgefochtene "deutschlandpolitische Grabenkampf"366 die Army und die Militärverwaltung während der Besetzung Deutschlands praktisch unberührt ließ. Was das Verständnis der von Morgenthau ausgelösten Debatte zwischen dem Kriegsministerium, dem State Department und dem Finanzministerium um die Besatzungspolitik für die Monate zwischen dem Kriegsende und der Einrichtung einer politischen Instanz für ganz Deutschland so erschwert, ist das auf den ersten Blick paradoxe Faktum, daß Kriegsminister Henry L. Stimson (der einräumte, im Handbuch sei nicht der richtige Ton getroffen) sich nach dem Bekanntwerden der Absichten Morgenthaus augenblicklich in imposanten Erklärungen gegen den "Rache-Frieden"367 wandte, daß die an der Reichsgrenze stehende Army nach ihrer Fehlkalkulation mit der "Kollaps"-Theorie die Intervention Morgenthaus andererseits aber aus taktischen Gründen wie gerufen kam. Den Militärs gefiel es nämlich nicht schlecht, daß der amerikanische Finanzminister genau im richtigen Augenblick sein "Hände weg!"368 predigte und empfahl, den deutschen Trümmerhaufen mehr oder weniger liegenzulassen. Von einer politischen Direktive diesen Tenors versprach sich die Militärverwaltung eine "bequeme Entschuldigung"369 und die hochoffizielle Rückendekkung dafür, daß sie sich nun von der politischen Verantwortung für das plötzlich zur ungeheuren Bürde gewordene Besatzungsgebiet zurückzuziehen begann. Je weniger Verpflichtungen der Armee für die Besatzungsverwaltung von der Politik aufgegeben waren, desto weniger vorwerfbare Fehltritte konnten ihr unterlaufen. Ganz klar sah Staatssekretär Patterson im War Department schon Mitte Oktober 1944 voraus, daß es wegen der "Politik" der Army bei der Besetzung des Reiches ("eine der größten Herausforderungen aller Zeiten für das War Department") absolut sicher zu erheblichem Ärger mit der kritischen Öffentlichkeit kommen mußte. 370 War Department und State Department waren seit den Anfängen der Deutschlandplanung 1942/43 natürlicherweise von unterschiedlichen Denkansätzen und Ressortinteressen ausgegangen, die nicht immer leicht zu harmonisieren waren. Dem Kriegsministerium war es in erster Linie darum zu tun, freie Hand im Besatzungsgebiet und bei der Festlegung der auf kurze Frist nötigen Maßnahmen zu behalten. Es wollte deswegen aus praktischen Gründen möglichst wenig Mitsprache VOn amerikanischen oder alliierten Instanzen hinnehmen müssen, die mit langfristiger Politik-Planung befaßt waren, um so mehr oder weniger ungestört die Exekution der militärisch gebotenen Sicherungsmaßnahmen zu gewährleisten. Das State Department mußte einen anderen Denkansatz haben, wenn es seiner Rolle gerecht werden wollte. Daß es diese Aufgaben infolge der Rooseveltschen "Politik der Vertagung"37I, die nicht als Läßlichkeit abgetan werden kann, sondern der starken Position der USA durchaus adäquat war, nur sehr schwer erfüllen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Das Außenministerium hatte weit über den Zusammenbruch und die militärische Eroberung des Deutschen Reiches hinauszublicken und über eine geeignete, keine
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Tyrell, Amerikanische Deutschlandplanung, in: Hauser (Hrsg.), Das geteilte Deutschland, S. 48. Gaddis, Cold War, S. 131. John H. Backer, From Morgenthau to Marshall Plan, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls, S. 156. Gaddis, Cold War, S. 121. Memorandum Pattersons an Stimson v. 17. 10. 1944; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, PrePresidential Files, Box 75. Snell, Wartime Origins, S. 14ff.
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fortdauernden Ressentiments heraufbeschwörende Politik nachzudenken, mit der Deutschland in eine "friedliebende Demokratie" verwandelt werden konnte, die eines fernen Tages einen Platz in der freihandelsorientierten "Gemeinschaft der Völker" haben sollte. Bis in das Jahr 1944 hinein war der Kurs gegenüber Deutschland zwischen den beiden maßgebenden Ministerien in der Substanz nicht wirklich umstritten, auch wenn das State Department sehr darauf hinzuwirken versuchte, daß die kurzfristigen Sicherungsaufgaben und die Autonomietendenzen der Army weder die langfristigen Perspektiven amerikanischer Politik noch eine interalliierte Kooperation in Deutschland negativ berührten. Die ebenso vernünftigen wie praktikablen Bestimmungen der Direktive CCS 551 vom April 1944 waren durchaus dazu angetan, einer Umkehr der Deutschen und der Reintegration eines vom Nationalsozialismus gereinigten Deutschland in die von Roosevelt angestrebte, nach den Prinzipien der AtlantikCharta funktionierenden "One World" nicht schon im Ansatz durch eine brutale Besetzung oder irreparabel unsinnige Maßnahmen den Riegel vorzuschieben. Henry L. Stimson hatte sein Urteil auf dem Höhepunkt der Erfolge Morgenthaus gefällt und den Gegensatz von "Repression und Rehabilitation"372 in der Deutschlandpolitik sofort aufs Äußerste zugespitzt. Der scheinbar so triumphale Sieg des amerikanischen Finanzministers auf der Konferenz von Quebec, wo Roosevelt und Churchili einige der Vorschläge des Finanzministers am 15. September 1944 immerhin paraphiert hatten - die einzige, kurzfristige, Abweichung Roosevelts von seiner "Politik der Vertagung" -, entpuppte sich umgehend als Scheinsieg. Der Präsident, von dem allein das Schicksal des Karthago-Plans abhing, zog sich angesichts der sofort aufflammenden internen und öffentlichen Mißbilligung rasch von dem dubiosen Schriftstück zurück. Winston Churchill, der in seinem Kabinett ebenfalls unter Beschuß geriet, verbreitete sogleich die Deutung, er habe mit dem "O.K. W.S.C." nur zum Ausdruck bringen wollen, daß er den Vorschlag Morgenthaus zu prüfen gedenke. 373 Schon zwei Wochen nach Quebec teilte Roosevelt seinem Außenminister mit, niemand wolle aus Deutschland einen Agrarstaat machen. Vier Tage danach stellte er bei einem Lunch mit Stimson die unerfreuliche Episode als einen "Schnitzer" seines Freundes hin und sagte, er sei über den Tenor des Quebec-Dokuments selbst verblüfft und habe keine Ahnung, wie er es mit seinen Initialen habe versehen können. 374 Innenpolitisch wurde Roosevelt die Morgenthau-Plan-Affäre während des Wahlkampfes um seine vierte Präsidentschaft deshalb lästig, weil sein Konkurrent Dewey einen Zusammenhang zwischen den Karthago-Plänen des Finanzministers und der sich abzeichnenden, in erster Linie auf Nachschubprobleme zurückgehende Stagnation des Vormarsches in Europa zu konstruieren begann. Der Morgenthau-Plan sei genau das, was die Nazi-Propagandisten brauchten, sagte der republikanische Kandidat: "Das war so gut wie zehn frische deutsche Divisionen." In seinen Wahlkampfreden vom Herbst 1944 äußerte sich Roosevelt denn auch überaus
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Gaddis, Cold War, S. 95 H. Hierzu: Dallek, Roosevelt, S. 472ff. Harry G. Gelber, Der Morgenthau-Plan, in: VfZ 13 (1965), S. 372ff. Hermann Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941-1948, Frankfurt 1985, S. 25 f. Siehe auch Warren F. Kimball, Swords or Ploughshares? The Morgenthau Plan for Defeated Nazi Germany, 1943-1946, Philadelphia 1976. Zur britischen Position siehe Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 423 ff. Hammond, Directives, S. 381 f.; das folgende Zitat S. 384.
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moderat zum Schicksal Deutschlands nach dem Krieg. 375 Der heftig gebeutelte Morgenthau tat dem Kriegsminister inzwischen schon leid. In einem Privatbrief versicherte er seinem Kabinettskollegen, die Attacken des republikanischen Kandidaten immerhin Stimsons Parteifreund - entbehrten jeder sachlichen Grundlage. Anfang November 1944 steckte das "Treasury" seinen schärfsten Pfeil selbst wieder in den Köcher. Von der ,,Agrarisierung" Deutschlands war nicht mehr die Rede; diese Waffe hatte im eigenen Lager mehr Schaden angerichtet als beim Gegner. Doch selbst wenn Henry Morgenthau und die amerikanische "hard peace"-Fraktion ihre Vorstellungen ohne Abstriche und in unbeirrbarer Konsequenz verfolgt hätten, selbst wenn die Verfechter eines karthagischen Friedens in der inneramerikanischen Debatte größere Durchschlagskraft hätten entfalten können, die Chance, daß Morgenthaus Ideen zur Politik der Vereinigten Staaten gegenüber dem besiegten Deutschland hätten werden können, wäre trotzdem sehr gering gewesen. Jede langfristige Politik in Deutschland hatte, jedenfalls aus der Perspektive von 1944/45, den Konsens der Siegermächte zur Voraussetzung. Aber welchen positiven Aspekt sollte Stalin, der auf die Nutzung der deutschen industriellen Ressourcen zum Wiederaufbau der verwüsteten Sowjetunion angewiesen war, einem Deindustrialisierungsplan abgewinnen können? Wie groß konnte das Interesse Englands an einer im geschleiften Ruhrgebiet - britisches Besatzungsgebiet - verelendenden Bevölkerung sein? Welchen Nutzen durfte Frankreich von geschlossenen Saar-Gruben erwarten? Morgenthau verfocht eine Deindustrialisierungspolitik für industrielle Zentren, die außerhalb der amerikanischen Zone lagen. Selbst ein äußerst unwahrscheinlicher Alleingang der Amerikaner in ihrer Zone hätte wenig Objekte für ein Karthago nach dem Geschmack der "hard peace"-Verfechter vorgefunden. Doch solche Erwägungen sind müßig, Morgenthau strandete mit seinen hochfliegenden Plänen bereits in Washington. Schon im Vorfeld der ersten Sitzung eines eigens zur Abstimmung der Deutschland- und Besatzungspolitik eingerichteten Kabinettskomitees wurden den Plänen des Finanzministers irreversible Grenzen gezogen. Treibende Kraft dabei war Staatssekretär McCloy vom War Department. Er drängte darauf, zunächst unbedingt eine interimistische, lediglich auf die "anfängliche Periode nach der Niederlagc'"' bezogene Richtlinie für den amerikanischen Oberbefehlshaber zu erarbeiten. Diese Anweisung sollte nach der deutschen Kapitulation die "pre-surrender"-Direktive CCS 551 ablösen und nur so lange gültig bleiben, bis die Siegermächte sich auf höchster Ebene oder auch in der EAC auf eine gemeinsame Politik geeinigt hätten. 376 So wurde verfahren, und der harmlos klingende, aber in tieferer Absicht unterbreitete Vorschlag McCloys zu Prioritäten und Procedere der interministeriellen Abstimmung in Washington erwies sich tatsächlich als ein überaus wirksames Mittel zur drastischen Verkürzung der Reichweite des Morgenthauschen Szenarios. Am 22. September 1944 lag bereits ein erster Entwurf der Direktive vor 377 , zwei Tage später erhielt sie als JCS 1067 das Plazet der amerikanischen Joint Chiefs of Staff. 37j 376 377
Jonas, United States and Germany, S. 271. Vgl. Hammond, Directives, S. 362 und S. 371. "Directive to SHAEF Regarding the Military Government of Germany in the Periode Immediately Following the Cessation of Organized Resistance (Post-Defeat)" v. 22.9. 1944, in: FRUS, Conferences of Malta and Yalta, S. 143 ff.
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Den Deutschen müsse klargemacht werden, hieß es in dieser ersten Fassung (in der sich die Handschrift Morgenthaus deutlicher bemerkbar machte als in den bald folgenden Revisionen), daß alles unternommen werde, sie von einem dritten Versuch abzuhalten, die Welt zu erobern. Zugleich hieß es aber auch schon: "Bis zum Erhalt von Direktiven mit langfristiger Zielsetzung müssen Ihre Maßnahmen kurzfristiger und militärischer Natur sein, um die später beschlossene endgültige Politik nicht zu präjudizieren." Der Washingtoner Komprorniß formulierte eine ganze Reihe weitgehend unumstrittener Bestimmungen zur Entmilitarisierung, Entnazifizierung oder Dezentralisierung Deutschlands, die später in abgewandelter Form auch in die Potsdamer Vereinbarungen der Großen Drei eingingen. Der Wirtschaftsteil der Anweisungen stellte die Interessen der Besatzungsmacht ganz in den Vordergrund. Die Deutschen sollten bis zur Festlegung der längerfristigen Ziele der Siegermächte mehr oder weniger im eigenen Saft schmoren. In Washington galt schon diese Fassung von JCS 1067 entgegen der Fama keineswegs als Sieg Morgenthaus, sondern als eine brauchbare "Lückenbüßer-Leitiinie"37B für General Eisenhower, die nichts positiv oder negativ präjudizierte. Für Henry Morgenthau, der in der ,,Atmosphäre des Triumphes" von Quebec noch glaubte, seine Ideen bereits auf höchster alliierter Ebene verankert zu haben, war die Direktive vom 22. September 1944 nicht deswegen akzeptabel, weil sie seinen Plan enthalten hätte, sondern deshalb, weil darin nichts festgeschrieben war, was geeignet gewesen wäre, die schließliehe Umsetzung seiner Vorstellungen zu verhindern. J79 Aber Morgenthaus Stern war schon im Sinken. International blieb dem Dokument JCS 1067 die Zustimmung immer versagt. Es blieb bereits an der ersten Hürde hängen, denn die Combined Chiefs of Staff lehnten es am 3. Oktober 1944 ab, JCS 1067 als Nachfolgeanweisung ihrer "pre-surrender"-Direktive CCS 551 vom April des Jahres zu akzeptieren. Die Briten waren der Ansicht, die amerikanischen Richtlinien gingen im Effekt letztlich zu Lasten der Besatzungsmächte und würden die langfristige Deutschlandpolitik von vornherein zu sehr beiasten. JBO Damit standen die Chancen Morgenthaus, daß seine Ideen tatsächlich zur Grundlage westalliierter Politik wurden, ziemlich schlecht. Zur ersten Revision der JCS-Direktive kam es bereits zu Jahresbeginn 1945. Sie gestand dem Militärgouverneur etwas mehr Eingriffsmöglichkeiten in das deutsche Wirtschaftsleben zu, wenn militärische Gründe dies erforderten, und versuchte, auch die Abgrenzung der Befugnisse von Alliiertem Kontrollrat (einer Instanz internationaler Kooperation, die dem State Department besonders am Herzen lag) und Zonenbefehlshaber (auf dessen größtmöglicher Handlungsfreiheit das War Department bestand) näher zu bestimmen. Doch kaum war sie verabschiedet, da beauftragte Roosevelt das Außenministerium schon damit, den Entwurf der "post-surrender"-Direktive den Mitte Februar 1945 in Jalta gefaßten Beschlüssen anzupassen. Der Vorschlag des State Department, der die maßgebende Rolle des Kontrollrats als Entscheidungsorgan stark herausstellte und in seinen Bestimmungen hinsichtlich der Stabilisierung und Kontrolle der deutschen Wirtschaft sehr moderat ausfiel, wurde aber sofort wieder 378 379 380
Hammond, Directives, S. 376; das folgende Zitat ebenda, S. 371. Ziemke, U.S. Anny, S. 105. Tyrell, Amerikanische Deutschlandplanung, in: Hauser (Hrsg.), Das geteilte Deutschland, S.66. Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung, S. 309 H.
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verworfen. Er stieß auf den Widerstand des War Department, das die Autonomie und den Entscheidungsspielraum der Army in ihrer Zone unbedingt gewahrt wissen wollte. Außerdem erregte er den heftigen Widerspruch des Treasury, das mit dem relativ "weichen" Wirtschaftsteil überhaupt nicht einverstanden war. Erneut mußten die drei Ministerien nach einer Kompromißformel suchen. Nach intensiven Verhandlungen fand man sie in der wesentlich vom War Department - wieder von McCloy also entworfenen "Summary of U.S. Initial Post-Defeat Policy Relating to Germany". Damit war das monatelange Tauziehen in Washington beendet, die amerikanische politische Position für die Anfangsmonate der Besatzungszeit gefunden. Am 23. März 1945, dem Tag, an dem die alliierten Armeen den Rhein auf breiter Front überschritten und zum Vorstoß ins Innere des Reiches ansetzten, versah der Präsident das Dokument mit seinen Initialen. 38l Das Schriftstück war die Grundlage für die endgültige Fassung von JCS 1067. Es war das erste bescheidene Ergebnis amerikanischer Deutschlandund Besatzungsplanung, die letzte und zugleich eingehendste Aussage Franklin D. Roosevelts zur Behandlung Deutschlands in den ersten Monaten nach der Kapitulation; er verstarb am 12. April 1945. Das Kompromißpapier erkannte einerseits die Autorität des Kontrollrats in Angelegenheiten an, die Deutschland als Ganzes betrafen, räumte dem Zonenbefehlshaber aber andererseits die oberste politische Gewalt in allen Fragen ein, die vom Control Council nicht einvernehmlich geregelt werden konnten. Die deutsche politische Struktur sollte dezentralisiert, die Wirtschaftseinheit und überregionale ökonomische Koordination aber gewahrt bleiben. In bezug auf die Kontrolle der Wirtschaft, die mittels deutscher Behörden gewährleistet werden sollte, wurde ebenfalls eine höchst interpretationsfähige Übereinkunft erzielt. Kontrollrnaßnahmen waren gestattet, wenn sie dem Abbau der Kriegsindustrie, der "industriellen Entwaffnung" oder der Durchführung von Reparationslieferungen dienten. Ebenfalls zulässig waren Eingriffe - und das erwies sich als eine außerordentlich dehnbare Bestimmung -, "um die Produktion und Instandhaltung von Gütern und Dienstleistungen zu sichern, die zur Befriedigung des Bedarfs der Besatzungstruppen und der Displaced Persons in Deutschland gebraucht werden und die zur Verhinderung von Hungersnöten oder solcher Krankheiten und zivilen Unruhen (disease or civil unrest) erforderlich sind, von denen die Sicherheit der Besatzungstruppen gefährdet werden könnte". Dies durfte aber nicht dazu führen, "den durchschnittlichen Lebensstandard in Deutschland auf einem höheren Niveau zu halten als in einer der benachbarten Vereinten Nationen". Die Bedeutung der "Seuchen- und Unruhe"-Formel für die Entscheidungsfreiheit der Militärregierung blieb niemandem verborgen. Und es war genau diese Formel, die bald zur Grundlage der Lieferungen im Rahmen der "Government Aid and Relief in Occupied Areas" (GARIOA) werden sollte, deren Volumen in Deutschland höher gewesen ist als das des Marshall-Plans. 382 John McCloy hatte die Versuche des Treasury vereitelt, die Formel enger zu fassen. 383 Die übrigen Punkte, die Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Restitutionen und die Verhaftung und Bestrafung von NS-Funktionären und
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3"
Text in PRUS 1945, III, S. 471 H. Wemer Abelshauser, Wiederaufbau vor dem Marshall-Plan. Westeuropas Wachstumschancen und die Wirtschaftsordnungspolitik in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, in: VfZ 29 (1981), S. 567. Hammond, Directives, S. 373.
5. Military Government: Was tun?
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Kriegsverbrechern betrafen, waren kaum umstritten gewesen. Kriegsminister Stimson war zufrieden: "Ein ziemlich gutes Papier", notierte er in sein Tagebuch. 384 Ein Paragraph fiel allerdings völlig aus dem sachlich gehaltenen Schriftstück heraus. 38 > Er lautete: "Deutschlands rücksichtslose Kriegführung und der fanatische Nazi-Widerstand haben die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht. Die Deutschen können der Verantwortung für das, was sie sich selber eingebrockt haben, nicht entgehen." Das klang wie klassischer Morgenthau. Es war aber der Präsident gewesen, der diese Passage dem Text angefügt hatte, doch keiner der an der Ausarbeitung des Grunddokuments Beteiligten - auch Morgenthau nicht - wußte zu sagen, wer die beiden Sätze formuliert hatte, die in der Direktive dann unter den "grundlegenden Zielen" der Militärregierung an erster Stelle standen. McCloy vermutete, John Boettiger, Beamter in der Civil Affairs Division des Kriegsministeriums, notabene Schwiegersohn Roosevelts, habe sie sich ausgedacht, und bemerkte, sie seien "recht gute Propaganda", aber nicht mehr - eine Auffassung, die Henry Morgenthau mit ihm teilte. Das sogenannte "Informal Policy Committee on Germany" war noch über einen Monat lang damit beschäftigt, die Endfassung der Direktive auf der vom Präsidenten autorisierten Grundlage auszuarbeiten. Die "hard peace"-Fraktion um den Finanzminister, deren Einfluß bereits unter Roosevelt stark zurückgegangen war und der nach dessen Tod rasch erlosch, war inzwischen schon so sehr in die Defensive geraten, daß sie während der Redaktionsarbeiten vornehmlich, aber meist vergeblich darum bemüht war, die Auslegungsfähigkeit der Anweisung an Eisenhower in engen Grenzen zu halten, "Schlupflöcher für Nachsicht"386 zu stopfen. Unter anderem bekämpfte sie scharf einen Passus, worin dem Oberbefehlshaber aufgetragen wurde, die deutschen Behörden zur Aufsicht über Preise und Löhne, die Lebensmittelrationen für die Zivilbevölkerung und die industrielle Produktion zu veranlassen. Die "chaos boys" um Morgenthau nahmen zu Recht an, eine Kontrolle der deutschen Wirtschaft müsse unweigerlich zu deren Stabilisierung führen. Doch auch in diesem Punkt zogen sie den kürzeren. Am 28. April 1945 genehmigten die Joint Chiefs of Staff das Dokument, das zwar vorwiegend Negativbestimmungen enthielt, aber dennoch die "Verantwortung des Siegers für den Besiegten" nicht aus den Augen verlor. 387 Eine Maßgabe zur radikalen Verringerung der Schwerindustrie, die Hauptforderung Morgenthaus, enthielt sie nicht. Einige Tage nach dem Erlaß der Richtlinie reichte Washington eine letzte kleine Änderung nach, die das politische Desaster des Finanzministers recht deutlich spiegelte. Vom europäischen Kriegsschauplatz war nämlich die Warnung der Army eingetroffen, wenn das Produktionsverbot für gewisse, von den Streitkräften dringend benötigte Grundstoffe nicht aufgehoben werde, müßten diese - letztlich auf amerikanische Kosten - nach Deutschland eingeführt werden. Die Joint Chiefs of Staff kamen den Wünschen der Truppe nach und erteilten die Erlaubnis zur Aufrechterhaltung der (in der Direktive vom 28. April noch verbotenen) Produktion von synthetischem Gummi, Öl, Magnesium und Aluminium in deutschen Anlagen. Trotz lebhafter Pro384 385 386 J87
Stirnson, Bundy, On Active Service, S. 582. Zum folgenden Ziemke, U.S. Anny, S. 213 f. Hammond, Directives, S. 424. Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands, S. 50.
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I. Am Vorabend der Besetzung
teste des Treasury, das darin nicht zu Unrecht eine weitere Aufweichung seines "hard peace"-Kurses erblickte, sah der neue Präsident Harry S. Truman keinen Anlaß, den Wunsch Eisenhowers abzuschlagen. Er genehmigte die beinahe wie ein Signal wirkende Änderung umgehend. Am 14. Mai 1945 ging die Endfassung von JCS 1067 an den Oberbefehlshaber, in der kaum noch Spurenelemente des einstigen Morgenthau"Plans" enthalten waren. 388 Der Finanzminister glaubte freilich noch immer, mit der Direktive sei wenigstens die Chance gewahrt geblieben, seinen Vorstellungen eines Tages doch noch Geltung zu verschaffen. Er wußte auch, daß einige seiner Vorschläge zur langfristigen Ausschaltung Deutschlands, wie etwa die radikale Entindustriealisierung des Landes, nicht in ein Dokument aufgenommen werden konnten, das nur für die allererste Zeit der Besetzung bestimmt war. Deshalb lag dem Finanzminister sehr daran, als Mitglied der amerikanischen Delegation mit nach Berlin zu fahren, wo die Siegermächte über die künftige Behandlung Deutschlands befinden wollten. Doch Truman, der gar nichts von der Philosophie Morgenthaus hielt, sah keinen Grund, den Finanzminister zur Konferenz von Potsdam mitzunehmen. Als der auf seiner "unerläßlichen" Teilnahme bestand und mit Rücktritt drohte, sagte Truman: "Schön, wenn das Ihre Auffassung ist, nehme ich hiermit Ihre Demission an."389 Daß die Erinnerung an Morgenthaus rigoroses Konzept, die deutsche Frage ein für allemal zu lösen, im deutschen öffentlichen Bewußtsein über Jahrzehnte hinweg so lebendig geblieben ist, mag mit der von Goebbels damals in Szene gesetzten Propagandakampagne zusammenhängen. Der Plan des ,Juden Morgenthau" schien die gegen die Vereinigten Staaten mobilisierten Vorurteile sogar noch zu übertreffen. Doch deswegen allein hätten die Morgenthau-Plan-Legenden ihre bemerkenswerte Zählebigkeit kaum entfalten können. Ihr nachhaltiger Reiz lag wohl in dem "tu quoque", in der entlastenden Möglichkeit, mit dem Zeigefinger auf den Feind von gestern und den mit wechselnder Schärfe und Berechtigung kritisierten späteren Verbündeten deuten und diesem ohne weiteres mindestens als Absicht das unterstellen zu können, was Deutschland in vielfach brutalerer Form über seine Nachbarn gebracht hatte. Von dort war es nur ein kleiner Schritt, der amerikanischen Besatzungsmacht im nachhinein die moralische Berechtigung zu bestreiten, über die deutschen Verbrechen zu Gericht gesessen zu sein und in Umerziehung und Umgestaltung in das Leben und das politisch-soziale Gefüge des geschlagenen Feindes eingegriffen zu haben. Niemand wird inzwischen noch bestreiten können, daß - gemessen an ihrer realen Wirkung - von der berühmten, manchmal auch als "berüchtigt" titulierten Direktive JCS 1067 ("Directive to Commander in Chief of United States Forces of Occupation regarding the Military Government of Germany"390) definitiv zu viel Aufhebens gemacht worden ist. Manchmal wurde bei deren Analyse übersehen, daß sie als rein amerikanisches Dokument überhaupt erst nach der Auflösung des alliierten Oberkommandos am 14.Juli 1945 in Kraft trat, ein andermal nicht darauf geachtet, daß sie 3" Eine eingehende Analyse der Direktive JCS 1067/8 bei Hammond, Directives, S. 427. 389 390
Harry S. Truman, Memoiren, Bd. 1: Das Jahr der Entscheidung, Bern 1955, S. 316. "Directive to Commander in Chief of Uni ted States Forces of Occupation regarding the Military Government of Gerrnany" v. 28.4.1945, in: FRUS 1945, III, S. 484ff. Deutsch in: Wilhelm Corni des, Hermann Volle (Hrsg.), Um den Frieden mit Deutschland, Oberursel1948, S. 58ff. Die maßgebliche Darstellung der Entstehungsgeschichte bei Hammond, Dircctives, S. 348 H. Siehe auch Ziemke, U.S. Army, S. 98 ff. und S.208ff.
S. Military Govemment: Was tun?
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nur für die kurze Zeitspanne zwischen dem Ende der Kämpfe in Deutschland und der Errichtung des Alliierten Kontrollrats ("initial post-defeat period") konzipiert war. Manchmal wurde nicht erkannt, daß JCS 1067 durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz wesentlich modifiziert wurde, in ihrer Endfassung also überhaupt nur 14 Tage in Geltung stand, nämlich zwischen dem 14. Juli (Auflösung von SHAEF) und dem 2. August 1945 (Veröffentlichung der "Potsdamer Erklärung"). Besonders weit von den Realitäten entfernte sich in seinem Urteil - wenn auch in konstruktiver politischer Absicht - der 1933 in die USA emigrierte einflußreiche deutsche Nationalökonom Gustav Stolper. In seinem gefeierten Buch "German Realities" bezeichnete er Ende der vierziger Jahre die von Clay de facto sofort seinen Bedürfnissen als Chef der amerikanischen Militärregierung angepaßte, de jure aber erst 1947 außer Kraft gesetzte Direktive 39l als Instrument zur Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Roosevelt habe sich, so sein gründlich verfehltes Urteil, die Ideen Morgenthaus als Leitprinzip amerikanischer Deutschlandpolitik zu eigen gemacht. Nie zuvor in der Geschichte sei das heiligste Erbe eines Landes so verraten worden, "wie Amerikas geistiges Erbe in diesem Dokument verraten" wurde. "Was Hitlers Verbrechen und Wahnsinn verschont hatte", behauptete Stolper in gutgemeinter Demagogie, "das wurde durch diese Direktive zerstört."392 In Wahrheit führten diese Richtlinien in der Praxis, wie McCloy rückschauend treffend diagnostizierte, nirgendwo zu wirklich "drastischen oder drakonischen" Konsequenzen. 393 Für die U.S. Army in Deutschland, die das Land zwischen dem 11. September 1944 und dem 8. Mai 1945 besetzte, war eine Direktive, die in ihrer definitiven Fassung als JCS 1067/8 erst am 14. Mai 1945 vorlag und erst weitere vier Wochen später in Kraft trat, naturgemäß kein wesentliches Schriftstück, und für den Oberbefehlshaber der Invasionsarmee, der das Land erst noch erobern mußte, für das in Washington jetzt alle möglichen gebetenen und ungebetenen, oftmals "ahnungslosen" Leute ihre Pläne einreichten (wie McCloy schon im Herbst 1944 sarkastisch an Eisenhower geschrieben hatte 394 ), stand der Kampf der Denkschulen im fernen Washington erst recht nicht im Vordergrund des Interesses. Anders als für den vergleichsweise sehr kleinen Kreis der G-5 Offiziere im Generalstab von SHAEF, deren Arbeit und Prestige in der Handbuchkrise mit einem Schlag ruiniert schien, mußten für Eisenhower vor dem Einmarsch nach Deutschland letztlich nur zwei Hauptpunkte garantiert sein: SHAEF durfte nicht orientierungs los dastehen, wenn es mit der Exekution von Military Government im besetzten Gebiet begann, und zweitens mußte die Armee durch eine entsprechende Erklärung der Politik so eindeutig gedeckt sein, daß ihr Oberster Befehlshaber der politischen Verantwortung wenigstens formal so weit wie möglich enthoben war j95
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Zum Umgang Eisenhowers und Clays mit der Direktive JCS 1067 maßgebend John Gimbel, Amerikani· sehe Besatzungspolitik in Deutschland 1945-1949, Frankfurt 1968, S. 16 ff. Gustav Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, Hamburg 1949, S. 29 und S. 34 f. John J. McCloy, From Military Government to Self-Govemment, in: Robert Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls. United States Military Govemment in Germany and Japan, 1944-1952, Carbondale 1984, S.120. Persönliches Schreiben McCloys an Eisenhower v. 25. 10. 1944; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/ Kansas, Pre-Presidential Files, Box 75. Vgl. Hammond, Directives, S. 358 f.
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1. Am Vorabend der Besetzung
Aus ersterem Grunde hatte Eisenhower es Ende August 1944 abgelehnt, das inkriminierte SHAEF-Handbuch in toto zu verwerfen. 396 Er war sich dabei seiner überragend starken Position in der entscheidenden Phase des Krieges voll bewußt. Letztlich würde er bis zur Kapitulation des Feindes der Mann bleiben, dessen Entscheidungsspielraum in den befreiten und besetzten Territorien Europas nicht allein auf militärischem, sondern auch auf dem im Vergleich dazu zunächst zweitrangigen Feld des Military Government so gut wie unangefochten war. Da allmählich höchste Eile geboten war - die First United States Army war drauf und dran, nach Deutschland hineinzustoßen -, gelang es Anfang September 1944 auch, innerhalb weniger Tage zwischen War Department, Combined Chiefs of Staff und SHAEF zu klären, wie mit dem Entrüstungssturm in Washington umgegangen werden sollte und welche praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen waren. 397 Der amerikanisch-britische Generalstab in Washington akzeptierte Eisenhowers Meinung, daß es unmöglich sei, das "Handbook" ganz zurückzuziehen oder auch nur dessen Passagen zu "recovery and rehabilitation" zu eliminieren 398 Der Stein des Weisen wurde rasch in einem Beiblatt ("fly leaf") gefunden 399 , das der gedruckten und zur Verteilung gelangenden Ausgabe voranzustellen, gewissermaßen "einzulegen" war. Darauf fanden sich in starken Worten formuliert drei an den Tenor der MorgenthauVorschläge erinnernde Prinzipien, an denen sich die alliierte Militärverwaltung orientieren mußte - eine genial einfache Lösung, die den Unmut höchster Stellen nicht ignorierte und die bevorstehende Arbeit in Deutschland kaum behinderte. Die drei allen anderen Bestimmungen vorgehenden Leitsätze lauteten: "I. Keine Schritte zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands werden unternommen, außer solchen, die zur Unterstützung militärischer Operationen sofort notwendig sein können. 2. Keine Hilfsgüter sollen über das Minimum zur Verhinderung von Krankheiten und solcher Unruhen, die militärische Operationen gefährden oder behindern könnten, hinaus importiert werden. 3. Unter keinen Umständen dürfen aktive Nazis oder glühende Sympathisanten in einem Amt gehalten werden, darf irgendeiner Nazi-Organisation aus Gründen administrativer Bequemlichkeit oder Nützlichkeit die weitere Existenz erlaubt werden."40o Dieser Text erweckte den Anschein einer fundamentalen, auf die Intervention der "hard peace"-Fraktion in Washington zurückgehenden Wandlung des traditionellen Selbstverständnisses von Military Government, wie es die Army und ihre Offiziere bis dato gepflegt hatten. Am Handbuch-Text selbst, dessen Drucklegung man nach den Morgenthau-Turbulenzen aufgeschoben hatte 40 t, wurde im Oktober und November dann doch noch in aller Eile gefeilt ("rush revision"). Die Vorgabe dabei lautete, daß die im Handbuch genannten stabilisierenden Maßnahmen nicht mehr automatisch, sondern nur dann 396 397
398
399
400 401
Siehe oben in diesem Kapitel. Dazu vor allem Starr, Planning Stage, S. 154 H. Generell zur Revision der Direktiven der Militärverwaltung in letzter Minute Pogue, Supreme Command, S.355f. Die Entwicklung dorthin in: .. SHAEF Policy for Military Government", undatierter Überblick von Anfang 1945; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, SHAEF, .. Planning for the Occupation", Policy for Military Government in Germany. Zit. nach Starr, Planning Stage, S. 164. Hierzu und zum folgenden die nicht betitelte, undatierte und nicht gezeichnete interne Übersicht über die Entwicklung in den Akten von SHAEF von Ende 1944; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 25.31 Germany, Military Government Operations, World War 11.
5. Military Government: Was tun?
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ergriffen werden sollten, wenn die militärische Lage es erforderlich machte. 402 Diese Operation unter der Federführung des britischen Generals Grasset, der als Eisenhowers G-5 Stabschef fungierte und den Autoren ihr Opus einfach aus der Hand genommen hatte, war in der letzten Novemberwoche abgeschlossen, so daß das Kompendium im Dezember 1944 gedruckt werden und in 6000 Exemplaren an die Truppe hinausgehen konnte. Sehr viel mehr Gewicht als dem Handbuch kam der knappen Interim-Direktive für die Militärverwaltung - de jure ein Befehl - zu, die das Oberkommando am 10. September 1944, einen Tag vor der Überschreitung der Reichsgrenze durch die ersten amerikanischen Soldaten, an die Armeegruppen hinausgegeben hatte. 403 Sie war vor allem eine Warnung an die Military Government Offiziere, daß sie sich jetzt mit einer neuen Auffassung von Militärverwaltung anzufreunden hatten. 404 Obgleich diese Anweisung lediglich ein Notbehelf und nur acht Wochen lang in Kraft war, trug sie der härter werdenden Haltung Washingtons bereits Rechnung. Die Direktive bestimmte unter anderem, daß der Lebensstandard im Besatzungsgebiet den in den befreiten Ländern nicht übersteigen dürfe und Lebensmittelimporte vOn der Armee nur dann vorgenommen werden sollten, wenn sie der Erreichung der Ziele des alliierten Feldzuges dienten. 405 Vor allem aber war in der Interim-Direktive nochmals klargestellt, daß in allen Angelegenheiten des Military Government der Oberste Befehlshaber (der diese Kompetenzen in vollem Umfang an die Armeegruppen delegierte) die alleinige Autorität war. Damit behielt Eisenhower bei maximaler politischer Entlastung nach außen alle Verfügungsgewalt nach innen. Den meisten Offizieren wird schon hier klargeworden sein, daß es nicht Washington und nicht London, in Wahrheit auch nicht die Combined Chiefs of Staff waren, die den Charakter der alliierten Besetzung Deutschlands bestimmten, sondern letztlich einzig und allein General Eisenhower und seine Offiziere in den untergeordneten Stäben und den Military Government Detachments, jenen kleinen operativen Einheiten 406 , über deren Einsatz die Armeegruppen zu wachen hatten. Die Interim-Direktive wurde am 9. November 1944 durch die ebenfalls an die Army Groups gehende "Directive for Military Government oi Germany, Prior to Defeat or Surrender" des Oberkommandos ersetzt. 407 Sie blieb, gewissermaßen als nähere Definition der nach wie vor geltenden CCS 551 vom April 1944, ebenso wie diese bis zur Auflösung von SHAEF Mitte Juli 1945 in Kraft. In diese grundlegende Richtlinie waren wiederum einige neuere Elemente der Washingtoner Debatte eingeflossen. Daß darin aber trotzdem nicht die aktuelle "Philosophie" der gerade kursierenden Version vonJCS 1067 inkorporiert werden konnte, war klar, da die Briten dieser Anfang Oktober ja bereits eine definitive Absage erteilt hatten. In der SHAEF-Direktive vOn Mitte November 1944 waren die berühmten drei Generalgesichtspunkte, die dem "Handbook" voranstanden, als jene Grundprinzipien verankert, nach denen in Deutschland - das "als ein besiegtes und nicht als ein befreites Land" behandelt werden sollte - vorzugehen war. Sieben Hauptziele ("primary '02
'03
'0' '05 '06 '07
Vgl. Starr, Planning Stage, S. 155. Einzelheiten zur Interim-Direktive von SHAEF v. 10.9. 1944 bei Starr, Planning Stage, S. 165 ff. Planning for the üecupation, S. 97. Starr, Planning Stage, S. 168. V gl. Ill/1. NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Braneh, 11.505 Gerrnan Country Unit, Entry 54.
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1. Am Vorabend der Besetzung
objectives") des Military Government waren es, die in der von Bedell Smith gezeichneten, fast 100 Seiten starken November-Direktive genannt waren: ,,1. Auferlegung des Willens der Alliierten auf das besetzte Deutschland. 2. Versorgung, Kontrolle und Repatriierung der den Vereinten Nationen angehörenden Displaced Persons und das Minimum an Versorgung, das zur Kontrolle von Flüchtlingen und Displaced Persons aus Feindländern notwendig ist. 3. Festnahme von Kriegsverbrechern. 4. Beseitigung von Nazi-Faschismus, deutschem Militarismus, der Nazi-Hierarchie und ihrer Kollaborateure. 5. Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung, soweit es die militärische Situation zuläßt. 6. Schutz von Vermögen der Vereinten Nationen, Kontrolle bestimmten Vermögens und Sicherung deutscher Devisenbestände. 7. Erhaltung und Errichtung einer angemessenen Zivilverwaltung, soweit sie zur Erreichung der obengenannten Zwecke erforderlich ist." Soweit der Buchstabe. Keinem Kenner konnte freilich entgehen, daß es selbst mit noch so elaborierten Direktiven nicht gelingen konnte, dem Oberbefehlshaber vorzuschreiben, welchen Kurs er - und in der Praxis hieß das: die Military Government Offiziere vor Ort - im Besatzungsgebiet einzuschlagen hatte. Letztlich war niemand wirklich in der Lage zu beurteilen, ob dieser der deutschen Verwaltung nun zu viel oder zu wenig Spielraum einräumte. Genausowenig war es irgend jemandem möglich zu sagen, ob Eisenhower beim Import von Nahrungsmitteln für die deutsche Bevölkerung die "Seuchen- und Unruhe"-Formel zu lax oder zu scharf handhabte, und zwar nicht deswegen, weil sich dies per se einer Beurteilung entzogen hätte, sondern deswegen, weil beides an die übergeordnete Bewertung der "militärischen Erfordernisse" gebunden blieb, die nur der Oberste Befehlshaber allein vornehmen konnte. Auch darüber, was noch durch militärische Notwendigkeiten gedeckt war, konnte man an sich trefflich debattieren: Da es aber Eisenhower war, der die Verantwortung für das Gelingen des Feldzuges gegen Hit/er trug, war es einzig an ihm zu entscheiden, wo und in welcher Maßnahme er eine "military necessity" sehen wollte oder nicht. Der Hinweis, er habe den Krieg zu gewinnen, war schlechterdings unanfechtbar, auch wenn es in den folgenden acht Monaten der Besetzung - insbesondere zu Anfang 408 noch mehr als einmal über Anwendung und Auslegung des "militärische Erfordernis"-Prinzips zu erregten öffentlichen Debatten kommen sollte. Die "chaos boys" um Morgenthau hatten schon früh bemerkt, daß es die faktische Alleinzuständigkeit und Verantwortung des Obersten Befehlshabers war, die die Grundlage für eine "weiche" Besatzungspolitik legte. 409 Dagegen ließ sich - insbesondere bei einer Armee, die sich einer zivilisierten und humanen Tradition verpflichtet wußte - bis zur Kapitulation des Dritten Reiches aber wenig unternehmen. Das hat gewiß auch der Chef des G-5 Stabes von SHAEF, der britische General Grasset, ein pragmatischer und verantwortungsvoller Offizier, nicht übersehen. Trotzdem nahm er sich die Freiheit, dies seinen Militärregierungsoffizieren indirekt auch noch einmal vor Augen zu stellen. Er tat das bereits am 9. Oktober 1944 - die CCS hatten den amerikanischen Direktivenentwurf eben zurückgewiesen - mit der harmlosen Anweisung, das Maß der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Besatzungsgebiet habe sich danach zu richten, was militärisch erforderlich sei. 410 Die Treasury versuchte ver408 409
410
Vgl. 1II/2. So Hammond, Directives, S. 371. Ebenda, S. 395; zur folgenden Bemerkung ebenda, S. 406.
S. Military Government: Was tun?
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geblich, gegen den Kurs Grassets anzugehen. Ende November stellte General Bedell Smith der Endfassung des SHAEF-Handbuches denn auch einen "covering letter" voran, in dem er schrieb, bei jeder Entscheidung, die von der Militärverwaltung zu treffen sei, hätten Gesichtspunkte militärischer Praktikabilität und der militärischen Erfordernisse vorrangig bedacht zu werden.411 Die Turbulenzen in Washington und Europa unmittelbar vor dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen und all die hektischen Aktivitäten mit InterimDirektiven und fliegenden Vorsatzblättern verursachten in der Army anfangs zwar Aufregung und Bestürzung, durch die aufgewühlte Oberfläche drangen sie aber letztlich nicht in die tieferen Schichten einer in Jahren gewachsenen und komplexen Organisation der Besatzungsarmee. Manchem Offizier in den Detachments und in den G-5 Stäben von SHAEF bis zu den Divisionen hinunter mag die politische Erschütterung des Spätsommers um die Prinzipien der Besatzungsverwaltung, falls er sie überhaupt bemerkte, ziemlich akademisch vorgekommen sein, ahnten die Offiziere doch, daß die Erwartung gänzlich unrealistisch war, die Militärregierung würde vor der Kapitulation in der Lage sein, "ein Deutschland nach irgendeinem ehrgeizigen Plan zu schaffen"412. Aber es gab noch einen viel wichtigeren Grund, die Karthago-Ambitionen einflußreicher Politiker und Beamter gelassen zu betrachten: Man würde sich in der Army zu ihrer Exekutierung einfach nicht hergeben. John J. McCloy, der die Streitkräfte kannte wie wenige, hat das gewußt, und es hat vielleicht zu seiner überlegenen Haltung in der Auseinandersetzung um die Besatzungspolitik für Deutschland beigetragen. Im September 1944, nachdem er die Schreckensnachricht aus Quebec vernommen hatte, sagte der Staatssekretär im Kriegsministerium nämlich zum Secretary of the Navy, James Forrestal: "Die Rolle der Armee in jedem derartigen Programm wäre außerordentlich schwierig, weil die Armee, au/grund von Ausbildung und Instinkt, ganz natürlich die baldmögliche Wiederherstellung der Ordnung anstreben würde, während sie doch nach dem Morgenthau-Plan offenbar das Gegenteil fördern SOIl."413 McCloy stellte diese kluge Diagnose und (wie sich erweisen sollte) uneingeschränkt zutreffende Prognose wenige Tage nachdem die First United States Army unter General Courtney H. Hodges, die etwa zwischen Maastricht und Trier an die "Siegfriedlinie" herangerückt war, ihren Angriff gegen den deutschen Westwall begann. Am 12. September 1944 nahm das VII. Corps unter Lawton Collins als ersten deutschen Ort das 2000 Einwohner zählende Roetgen im Landkreis Monschau und brach im Norden im Raum Aachen und Stolberg sowie bei Monschau durch den Westwall. Das V. Corps von General Gerow am südlichen Frontabschnitt durchstieß in der SchneeEifel bei Bitburg und Prüm die ungenügend gedeckte deutsche Befestigungslinie. Schon am 11. September hatten Spähtrupps der 28th und der 4th Infantry Division die Grenze nach Deutschland überschritten. Die Patrouille der 4. Division war bei Hemmeres in der Nähe von Winterspelt im Landkreis Prüm über die Grenze gegangen. Als Trophäe hatte sie eine Mütze, einen Sack voll Erde und einige Münzen mit
"I 412
413
Auf Initiative von General Grasset von Bedell Smith am 30. 11. 1944 gezeichneter Begleitbrief zum Handbuch; siehe "SHAEF Policy for Military Government", undatierter Überblick von Anfang 1945; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, SHAEF, Planning for the Occupation, Policy for Military Government in Germany. Hajo Holborn, American Military Government, Washington 1947, S. 34. Zit. nach Thomas A. Schwartz, America's Germany. John J. McCloy and the Federal Republic of Germany, Cambridge/Mass. 1991, S. 21. Hervorhebung von mir.
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I. Am Vorabend der Besetzung
zurückgebracht. Den Ruhm, als erste G.I.s nach Deutschland eingedrungen zu sein, mußte sie aber dem siebenköpfigen Spähtrupp des 2. Zuges (Kompanie B) des 85. Aufklärungsbattailons der 5th U.S. Armored Division überlassen. Unter der Führung von Sergeant Warner W. Holzinger, der gut Deutsch sprach, erreichten William McColligan, Ralph E. Diven, Coy T. Locke, George F. McNeal, Jesse Stevens und der französische Dolmetscher Lionel A. DeLille am späten Nachmittag des 11. September 1944 bei Stolzenbourg, einige Kilometer nördlich des luxemburgischen Vianden, das Westufer des Grenzflüßchens Our. Die schmale Brücke über den Fluß war gesprengt, die Soldaten konnten aber trotzdem gut hinübergelangen. Auf der deutschen Seite, wo ein unbemannter, als Scheune getarnter Bunker stand, mußten die Männer des Spähtrupps eine kleine Böschung hinaufklettern. Bald machten sie einen Bauern aus, der auf seinem Feld arbeitete. "Er sagte uns", so berichtete Sergeant Holzinger später, "daß wir, wenn wir den Weg den kleinen Hügel hinauf gingen, hinter seinem Gehöft die erste Bunkerlinie einsehen könnten. Also gingen Leutnant DeLille, Gefreiter McColligan, der deutsche Bauer und ich ungefähr eineinhalb Meilen nach Deutschland hinein. Von da hatten wir eine guten Überblick. Wir beobachteten die Bunker mit unseren Feldstechern genau. Keiner war besetzt."414
6. "Das Leben im Westen ist schwer geworden" Der Bauer, der an der Our sein Feld bestellte und dem amerikanischen Spähtrupp am Nachmittag des 11. September 1944 den Weg wies, hat jene Eigenschaften anscheinend nicht besessen, die Joachim von Ribbentrop in jedem Deutschen vermutete, nämlich sich "zehnmal lieber totschlagen" zu lassen, als "dem Feind auch nur einen Meter deutschen Boden preiszugeben". Auch die leeren Bunker an diesem Abschnitt des "Westwalls" sprachen nicht für die Auffassung des Außenministers und seine Rundfunkrede von Ende September 1944, wonach die Festung Deutschland "immer uneinnehmbarer"415 werde. Als Ribbentrop (unter Mißhandlung des Komparativs) diese Prognose abgab, hatte die Einnahme der Festung Deutschland im Bereich des V. Corps südlich Aachens bereits begonnen. 416 Die politische und militärische Krise nach dem Kollaps der Wehrmacht in Frankreich hatte "zu einem in den vergangenen fünf Kriegsjahren noch nie dagewesenen Tiefstand in der Stimmungsbildung" geführt, wie die Beamten im Propagandaministerium den einlaufenden Berichten entnehmen konnten. 417 Die Bevölkerung im Westen war plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, daß die "Westfront" jetzt ihr Heimatgebiet war. Entsprechend schwer taten sich Wehrmacht und Staatsführung, dies den Menschen dort nahezubringen. Mitte September sprach das Oberkommando der Wehrmacht gewunden von feindlichen Einbrüchen in "Vorfeldstellungen des Westwalles"418. Einem Bürger, dem das Abhören von Feindsendern zu gefährlich war, erschloß sich aus dieser Meldung nicht, 414
41' 416 417 418
"Unit history" der 5th Arrnored Division: Paths of Arrnor. Norrnandy, Northem France, Ardennes, Alsace, Rhineland, Central Europe, Atlanta 1950, S. 115. Völkischer Beobachter, 28.9. 1944. Vgl. 11/1. Tätigkeitsbericht des Chefs des Propagandastabes an Goebbels v. 5.9. 1944; BA, R 55/601. Bericht v. 15.9. 1944; zir. nach Erich Murawski, Der deutsche Wehrmachtsbericht 1939-1945, Boppard 1962, S. 276.
6. "Das Leben im Westen ist schwer geworden"
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daß amerikanische Truppen bei dieser Gelegenheit immerhin die Westgrenze des Deutschen Reiches überschritten hatten. Keine Verrenkung war zu kühn, um die Bekanntgabe der Hiobsbotschaft zu kaschieren oder hinauszuzögern. So wurde beispielsweise das im Mai 1942 in das "Großdeutsche Reich" eingegliederte Luxemburg plötzlich wieder als Ausland geführt. Der Feind, so der Völkische Beobachter, dränge auf breiter Front gegen "die Grenzflüsse zwischen Luxemburg und dem Deutschen Reich"419. Erst am 21. September 1944 konnten aufmerksame Leser in einer beiläufigen Wendung auf der dritten Seite des Parteiblattes einen Hinweis auf den Einbruch der Amerikaner nach Deutschland finden. In dem Artikel "Montgomerys Front soll ,geradeziehen'" hieß es nämlich schamhaft: "Wenn General Eisenhower in der letzten Woche die Westfront auf der Karte betrachtete, so sah er zwei seiner Armeen unmittelbar an und bereits über der Reichsgrenze." Ribbentrop bemühte im Rundfunk Ende des Monats noch die Möglichkeitsform: "Sollte es einem Gegner aber vorübergehend gelingen, irgendwo auf deutschem Boden Terrain zu gewinnen ... "420 Mochte sich Berlin von der Verharmlosung und Verschleierung der Lage mit Blick auf die Bevölkerung in den weiter östlich gelegenen Teilen des Reiches etwas versprechen, im Westen wußte man längst, daß beispielsweise die Kreisstadt Monschau inzwischen "amerikanisch war". Damit dürfte die Glaubwürdigkeit von offiziellen Verlautbarungen längs der Westgrenze auch bei denen einen kräftigen Stoß erhalten haben, die noch nicht soweit waren, solchen Meldungen von vornherein mit Mißtrauen zu begegnen. Nicht weniger Erstaunen mögen die Betrachtungen von Joseph Goebbels in der Wochenzeitung "Das Reich" ausgelöst haben. Seine Feststellung, es sei von "weniger entscheidender Bedeutung, ob wir an bestimmten Frontstellungen gezwungen sind, auch noch so wichtigen Raum aufzugeben, als ob es dem Feind gelingt, unsere kämpfenden Verbände zu zerschlagen"42\ war unter militärischen Gesichtspunkten vernünftig. Damit war ihm zwar die Verharmlosung der deutschen militärischen Katastrophe in Frankreich geglückt, doch setzte er sich mit dieser Feststellung zugleich in Widerspruch zur gegenteiligen Auffassung und militärischen Führungspraxis Hitlers, mit der jedermann in Deutschland nicht erst seit der Invasion bestens vertraut war. Die scheinbar rationale, offensichtlich unglaubwürdige Betrachtungsweise des Pro pagandaministers mündete überdies nicht selten ins Abwegige. So habe, dozierte er jetzt, die deutsche Expansion der letzten Jahre auch viele Nachteile gehabt, überdehnte rückwärtige Linien und zersplitterte Kräfte z. B.; nunmehr könne sich die Armee auf die "innere Verteidigungslinie" zurückziehen. Der Abfall einstiger Bundesgenossen erlaube es endlich, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen 422 - und so ging es fort. Die Segnungen dieser neu errungenen Vorteile waren Anfang September 1944 im westlichen Grenzgebiet schwerlich zu erkennen. Von einem kalkulierten Rückzug konnte nicht die Rede sein, vielmehr schwappte jetzt eine Flutwelle flüchtender Zivilisten und erschöpfter Soldaten auf das Territorium des Reiches. Aus Lothringen, Eupen und Malmedy begab sich zwar nur ein kleiner Teil der Bevölkerung auf die LKW419 410
421 421
Völkischer Beobachter, 15.9. 1944. Ebenda, 28.9. 1944. Das Reich, 10. 9. 1944. Vgl. Völkischer Beobachter, 6. 9. 1944. Vgl. auch Das Reich, 17.9. 1944.
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I. Am Vorabend der Besetzung
Trecks und Bahntransporte in Richtung Osten, doch Kollaborateure aus Frankreich, Belgien und Holland suchten nun in wachsender Zahl in Deutschland Schutz. Oft brachten sie ihre Frauen und Kinder mit. Dann zog schon die "französische Etappe", marschierten die demoralisierten und abgerissenen Landser durch. Worauf sollten Politische Leiter und andere lokale Propagandisten ihre aufmunternden Reden jetzt noch stützen? Anfang September beschrieb die Kreisleitung der NSDAP in Straßburg die Lage so: "Einen Augenblick herrschte richtige Panikstimmung. Abgesehen von dem Vormarsch der Anglo-Amerikaner über Paris hinaus, trug dazu maßgeblich bei das Zurückfluten der Soldaten, das man sich einfach nicht erklären konnte. Vergleiche mit der Auflösung des französischen Heeres 1940 wurden überall gezogen. Am schlimmsten wirkten die defaitistischen Berichte und Schwätzereien einzelner Soldaten."423 Gauleiter Grohe schrieb an Bormann, die durchziehenden Truppen trügen "eine sehr erhebliche Beunruhigung in die Bevölkerung"424. Das Rückfluten der Geschlagenen, die allgemeine Erwartung, die Front werde in Kürze mit Not, Tod und Zerstörung über die Städte und Dörfer hinweggehen, lösten im Westen "nervöse Katastrophenstimmung" aus. Allerlei überstürzte Verteidigungsaktivitäten und Mobilisierungsanstrengungen taten dazu das Ihre. 425 Durch Führerbefehl war inzwischen angeordnet, an den Ein- und Ausgangsstraßen aller Städte und Dörfer Panzersperren zu errichten. Zu diesem gigantischen Vorhaben, das zudem "in allen Orten schlagartig und gleichzeitig" beginnen sollte, erließ die NSDAP organisatorische und technische Instruktionen. Darunter auch so kluge Ratschläge an die Ortseinwohner und örtliche Handwerksbetriebe wie den, es sei "unzweckmäßig", Holz "in faulendem Zustand zu verwenden", "da hiermit keine Widerstandsfähigkeit gewährleistet ist"426. Der militärische Nutzen von Straßensperren gegen amerikanische Panzer war in eindrucksvollen Skizzen demonstriert. Kaum überwindliche Bollwerke verriegelten da das linksrheinische Gelände, dessen topographisches Hauptmerkmal offenbar Hohlwege, Straßenkreuzungen auf Dämmen, eng an Sümpfen vorbeiführende Wege und für Straßenschlachten wie geschaffene Ortseinfahrten waren. 427 Die Einheimischen waren damit vom Sinn der Sperrrnaßnahmen nicht zu überzeugen. Schließlich hatte jedes Kind in der Wochenschau sehen können, daß Panzerverbände nicht die Hauptstraße entlangfahren, um ein Dorf zu nehmen. Hauptgrund für das geringe Interesse der Bevölkerung beim Panzersperrenbau war freilich die Überzeugung, daß ein verbarrikadiertes und verteidigtes Dorf im Handumdrehen ein zerstörtes Dorf sein würde. Bedauerlicherweise, schrieb der Gauinspekteur im Gau Moselland Anfang Oktober 1944 an die Kreisleitungen, habe er sich davon überzeugen müssen, daß beim Sperrenbau "nur in einigen Kreisen mit der Arbeit begonnen" worden sei. Auch die Zusammenarbeit mit den örtlichen militärischen Dienststellen, die nach Anweisung der Partei "im engsten kameradschaftlichen Einvernehmen" erfolgen '" Bericht v. 8. 9. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 23. 424 Bericht v. 28.9. 1944; BA, R 58/976. 425 So die NSDAP-Kreisleitung im elsässischen Molsheim in einem "allgemeinen stimmungsmäßigen Überblick" v. 1. 9. 1944; GLAK, Bestand 465d, Nr. 22. 416 Schreiben des Beauftragten des Gauleiters Moselland für Wehrmachtsfragen an die Kreisleitungen v. 2. 10. 1944; LHA Koblenz, Bestand 662,5, Nr. 102. 427 Vgl. die Anlagen zu den Weisungen der Gauleitung in Straßburg über den Bau von Panzersperren von Anfang Oktober 1944; LA Saarbrücken, Mischbestand NSDAP-Westmark, Nr.2.
6. "Das Leben im Westen ist schwer geworden"
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sollte, war nicht sehr fruchtbar. Die Soldaten wußten genau, daß die Sperren und die in letzter Minute begonnenen Schanzarbeiten untauglich waren, um die amerikanischen Truppen aufzuhalten, deren Kampfkraft viele von ihnen eben in Frankreich kennengelernt hatten; Witzeleien machten die Runde. Vielfach wurden Arbeitskräfte von den Soldaten wieder nach Hause geschickt, "wobei ihnen zum Teil erklärt wurde, es habe doch keinen Zweck mehr weiterzuarbeiten"428. Die Kreisleitung in Freiburg suchte einen Schuldigen und befand im Oktober: "Teilweise haben die militärischen Stellen ... mit ihrem dummen Gerede und ihrer Interesselosigkeit das einfältige Geschwätz mitverschuldet, daß die Schanzerei sowieso keinen Wert habe, weil einbrechende Panzer doch nicht aufgehalten werden."429 Anfang September 1944 hatte Hitler außerdem Befehl gegeben, "mit den Mitteln eines Volksaufgebotes" die "Verteidigungsbereitschaft" des sogenannten Westwalles herzustellen. 430 Das bedeutete vor allem: Schußfelder vor den Bunkern freimachen, Kampfstände errichten, Splittergräben ausheben. Doch um den 1938/39 befestigten Westwall - ein über 600 Kilometer langer, von Basel bis Kleve reichender Verteidigungsgürtel mit beinahe 10000 Bunkern - stand es schlecht im Herbst 1944. Auch geeignetere Mittel als ein Volksaufgebot hätten aus dieser Verteidigungslinie kein ernsthaftes Hindernis für eine moderne Armee machen können. Nach dem Sieg über Frankreich waren die Bunkeranlagen desarmiert worden und befanden sich inzwischen in miserablem Zustand. Waffen und Ausrüstungsgegenstände hatten anderweitig Verwendung gefunden, Wasser- und Telefonanschlüsse waren häufig defekt. Manchmal ließen sich gar die Schießscharten nicht mehr öffnen, weil die Abdeckungen verrostet waren. Das Schußfeld war überwuchert, einige Bunker dienten als Abstellplatz oder Privatwohnung. Die NS-Propaganda behandelte das Thema "Westwall" vorsichtig. Zu frisch war noch die Erinnerung daran, daß sich vor gerade einem Vierteljahr mit dem vielgepriesenen ,,Atlantikwall" schon einmal ein Wall als wenig nützlich erwiesen hatte. Von "Westverteidigungssystem" oder "Sicherheitslinie im Westen" war deshalb nur die Rede. Anfang September faßte das Propagandaministerium die aus allen Teilen des Landes eingegangenen Stimmungsberichte so zusammen: "Immer wieder komme die Öffentlichkeit im Rahmen der deprimierenden Ereignisse im Westen auf die seinerzeit behauptete Unüberwindlichkeit des Atlantikwalls" zurück. Man befürchte in der Bevölkerung, daß "der Westwall für die angreifenden Feinde genau so wenig ein Hindernis sein werde, wie die Maginotlinie für uns im Jahre 1940"431. So anachronistisch sie waren, die Schanzarbeiten und der Stellungsbau wurden von der Partei zu einer regelrechten Massenmobilisierung und -disziplinierung genutzt. Die Gauleiter, zugleich Reichsverteidigungskommissare, hielten im Westen überall die gleichen flammenden Reden. Der badische Gauleiter Wagner etwa appellierte an seine "deutschen Männer und Frauen": "In den entscheidenden Wochen unseres Kampfes um die deutsche Zukunft haben wir unsere unbeugsame Einsatzbereitschaft erneut unter Beweis zu stellen. Die gestellte Aufgabe dient unserem unmittelbaren Schutz. Hier gibt es kein Zögern und Zagen, sondern nur entschlossenes Mitanpak428 429
430 43\
Bericht von Gauleiter Groh'
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11. Die Amerikaner im westlichen Grenzgebiet Ende 1944
gesagt, daß er eben keine unmoralische Unterhaltung suchen solle - daß er seine Zeit beim Roten Kreuz verbringen solle, im Kino oder im Konzert; Tatsache ist, daß er dies nicht immer tUt."160 Diese Einstellung der meisten Soldaten änderte sich nicht, als die ersten von ihnen im Herbst 1944 die Grenze nach Deutschland überschritten. Weshalb, so fragte sich der G.I., sollte er hier lassen, was ihm den Aufenthalt in England oder die Feldzüge in Italien und Frankreich erträglicher gemacht hatte? Zudem entging es ihm nicht, als er die Grenze nach Deutschland überschritt, daß die "Fräuleins" in Deutschland nichts mit den gefährlichen Nazi-Heroinen gemein hatten, die in den Anti-Fraternisierungskampagnen der Armee vorgeführt wurden. Es ist müßig, an den abgeschmackten voyeuristischen Spekulationen über die "Leichtigkeit" der deutschen Mädchen teilzunehmen oder das Urteil eines Besatzungsoffiziers über deren Zugänglichkeit ("Es gibt sonst nichts dergleichen diesseits von Tahiti")161 nachträglich etwa zu bestätigen oder zu widerlegen. Ebenso ist es unmöglich und auch unnötig, vom Bratkartoffelverhältnis bis zur zärtlichen Verbindung alle Varianten von Verletzungen des Fraternisierungsverbotes zu beschreiben oder gar generalisierende Auskünfte zum Thema Nr. 1 von G.I. Joe geben zu wollen. Das soll die Aufgabe sogenannter "Sittengemälde der Besatzungszeit" bleiben, die gerne zeigen, wie die von ihnen gleichwohl farbig dargebotene "Sittenlosigkeit schier unerträgliche Ausmaße erreichte"162. An deren Adresse ist eher der Hinweis angebracht, daß die große Mehrzahl der Frauen und Mädchen in Deutschland keine Beziehungen zu amerikanischen Soldaten unterhielten. Viele hatten keine Gelegenheit, ein Verhältnis anzubahnen, weil die Besatzungstruppen schon nach ein paar Wochen wieder abzogen, vielen war - besonders auf dem Lande - der Druck sozialer Kontrolle durch die Nachbarn und Angehörigen zu stark, für sehr viele kam die Liaison mit einem ,,Ami" von vornherein nicht in Betracht. Für einen Teil junger Frauen vom Typ der Maria Bierganz aus Monschau 163 , die noch ganz in ihrem jugendlichen nationalen Idealismus befangen waren, war Verbrüderung mit dem Feind ein Zeichen von Charakterlosigkeit und Verrat am Vaterland. Sehr vielen Ehefrauen und Verlobten von Soldaten, die gefallen oder noch nicht auS dem Krieg zurück waren, kam es gar nicht erst in den Sinn, ihren Männern etwa untreu zu werden. Dennoch sind die Zeugnisse Legion, daß es eine große Anziehungskraft zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen Frauen gegeben hat und daß das Bedürfnis nach Zerstreuung, Zärtlichkeit und sexuellem Abenteuer nicht einseitig gewesen ist. Die Verbrüderung der amerikanischen Besatzungssoldaten mit den Töchtern des Landes begann mit dem Tag des Einmarsches. Sie war im unmittelbaren Kampfgebiet wohl eingeschränkt, aber die Tatsache, daß der Feind noch nicht besiegt war und das Reich noch nicht kapituliert hatte, schmälerte die private Abenteuerlust kaum. Im Anfang März besetzten Köln machte Daniel Lerner die generelle Beobachtung: "Die Mädchen in dem jüngst besetzten Gebiet machen anscheinend kein Hehl daraus, daß 160
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General Board Study Nr. 84 "The Military Offender in the Theater of Operation" von Ende 1945, S. 13; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, General Board Reports, Box Nr. 9. Das Urteil findet sich bei Cedric Belfrage, Seeds of Destruction. The Truth about the V.S. Occupation of Germany, New York 1954, S. 67; zit. nach Lutz Niethammer, Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikaniseher Besatzung, Frankfurt 1972, S. 140. So etwa Mare Hillel, Die Invasion der Be-Freier, Hamburg 1983, S. 180. Vgl. 11/2.
4. Fraternization
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sie der Mangel an jungen Männern in Deutschland in eine recht empfängliche Stimmung versetzt hat."164 A. J. Duplantier Jr., Wirtschaftsprüfer aus New Orleans, der in einem Field Artillery Battalion der 99th Infantry Division gegen die Wehrmacht kämpfte, wußte in den Briefen an seine Familie natürlich eine gewisse Zurückhaltung an den Tag zu legen. Gleichwohl schrieb er im April aus Unterfranken nach Hause: "Die Mädchen hier sind alle drall. Vielleicht liegt es daran, daß ich so lange von zu Hause weg bin, aber sie kommen mir alle hübsch vor. Es ist uns verboten zu fraternisieren, aber ich schätze, sie haben nichts dagegen, wenn wir einen Blick riskieren. In jedem Ort, den ich gesehen habe, sind sie sich alle gleich, eine kokette Gesellschaft."165 In seiner Leidenschaft für die deutsche Freundin unterschied sich der einfache Soldat naturgemäß nicht von seinem Vorgesetzten. Zuweilen erhob sich bei den G.I.s aber ein Murren darüber, daß hier keine völlige Chancengleichheit zwischen Offizieren und Mannschaft bestehe. Der Offizier ging mit einem Liebesverhältnis zwar ein höheres Risiko ein als der Gefreite - Nichtbeachtung des Anti-Fraternisierungsbefehls und Aburteilung durch ein Militärgericht konnte das Ende seiner Karriere bedeuten -, doch standen ihm diskretere Wege offen, sich in Deutschland einer Frau zu nähern. Ein Untersuchungsbericht der Armee von 1944 vermerkte beispielswiese, es sei auffallend, daß in den besetzten Städten die hübschesten Mädchen meist als Sekretärinnen oder Haushaltshilfen bei den Detachments der Militärregierung angestellt seien. 166 Die Bevölkerung sprach deshalb an statt von "Military Government" mitunter von "Mistress Government".167 Der einfache Soldat argwöhnte in seiner Frustration auch schon einmal, die Anti-Fraternisierungsbestimmung habe allein den Sinn, den Offizieren den Vortritt zu sichern ("to give the brass the first crack on all good looking women").168 Der G.I. stand ihnen an Findigkeit aber in nichts nach. Wurde er von einer MP-Streife mit seinem deutschen "Fräulein" ertappt, so lautete eine beliebte Auskunft gerne: "Sie ist eine Displaced Person", denn die Verbrüderung mit befreiten Zwangsarbeiterinnen war erlaubt. Der Tatbestand, daß die Attraktivität der Besatzungssoldaten damals ihre Wirkung auf manche Frau in Deutschland nicht verfehlte, hat sich in den Quellen häufig in den Klagen der örtlichen moralischen Instanz, meist des Pfarrers, niedergeschlagen. Das evangelische Dekanatsamt im württembergischen Künzelsau berichtete beispielsweise an den Oberkirchenrat: "Leider ist immer wieder schmerzlicher Anlaß, die Straßenkinder wegen würdelosen Bettelns um Schokolade & die Mädchen & jungen Frauen wegen z. T. empörenden Anbiederns mit den feindlichen Soldaten zurechtzuweisen. Offenbar geht besonders den Evakuierten aus dem Rheinland der Sinn für Anstand & 164
16,
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"Relations Between V.S. Soldiers and German Civilians", Bericht Lerners an Oberstleutnant Gurfein, den Intelligence-Chef der Psychological Warfare Division von SHAEF, v. 20.3.1945; NA, RG 331, SHAEF, General Staff, G-1 Division, Deeimal File 1944-45, 250/2-6. Looting and Relations with Civilian Population. Briefsammlung von A. J. Duplantier Jr., "The Most Memorable Year of My Life"; [fZ-Archiv, Material Henke. Nur als Witz kann die Feststellung betrachtet werden, die die 3. US-Armee in ihrem Historical Report für April 1945 zur Fraternisierung machte. Dort hieß es: "The non-fraternization rule prevailed - not without misgivings and infractions in many quarters - and throughout April the gulf between U.S. troops, including Military Government Officers, and German Civilians was socially impassable." NA, RG 331, SHAEF, G-5, 17.10. Vgl. Starr, Fraternization, S. 24. Beobachtung von Saul K. Padover, zit. nach HilleI, Invasion der Be-Freier, S. 178. Zit. bei Ziemke, V.S. Arrny, S. 324.
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11. Die Amerikaner im westlichen Grenzgebiet Ende 1944
Würde der deutschen Frau im Verkehr mit unseren Feinden z. T. vollständig ab. Wiederholte ernste & sehr deutliche Mahnungen & Warnungen in den Kanzelverkündigungen haben leider nicht viel Erfolg, zumal die, die es angeht, meist nicht in der Kirche sind."169 Ein "besonderes Thema" sei "das Kapitel ,Soldat und Weib'" gewesen, schrieb das Bürgermeisteramt Welzheim im Landkreis Waiblingen 1948 im Rückblick auf den amerikanischen Einmarsch: "Wie auch anderwärts in deutschen Gauen gab es auch hier genug Weiber, die sich in die intimsten Verhältnisse mit den Soldaten einließen. Fremdländisches lockte, Alkohol spielt mit, Leckerbissen wie Schokolade ziehen an, gutes Essen in diesen Zeiten war etwas Feines."17o Heinrich Köhler, 1927/28 Reichsfinanzminister und nach 1945 stellvertretender Ministerpräsident von Württemberg-Baden, erlebte den Einmarsch der Amerikaner Ende März 1945 in Mudau im nordbadischen Landkreis Buchen. Ihr Verhalten sei insgesamt tadellos gewesen, notierte er sich: "Kaum waren die fremden Soldaten da, als auch schon verschiedene deutsche Mädchen alle Würde und allen Anstand vergaßen und sich anbiederten. Und nach wenigen Tagen schon konnten mit Namen solche genannt werden, die nachts entweder bei den Soldaten oder bei denen nachts im eigenen Hause Soldaten zur Tür oder durchs Fenster zu kurzem oder längerem Besuch eingegangen waren. Nicht nur sogenannte Evakuierte aus der Stadt, sondern auch Einheimische beteiligten sich an diesem abstoßenden Tun. Auch verschiedene Warnungen des Pfarrers von der Kanzel nützten offensichtlich nur wenig. Und jetzt gar, da die USA-Soldaten durch solche aus Mittelamerika ersetzt sind, hübsche braunfarbige Jungen mit schönen Zähnen und lustigem, oft mehr an große Kinder, denn an achtungsfordernde Soldaten erinnerndem Gehaben, nehmen die Mädchen-Prozessionen vor dem Quartier der Angeschwärmten innerhalb der Ausgehzeit kaum ein Ende. Ein Glück, daß von abends 8 Uhr ab Ausgehverbot für die Bevölkerung besteht."171 Viele Berichte waren von dem Bemühen getragen, die am meisten verderbten Elemente unter den im Bombenkrieg evakuierten Frauen auszumachen. Diese waren ohnehin nicht überall gerne gesehen und konnten sich der sozialen Kontrolle in den kleineren Gemeinden oftmals tatsächlich leichter entziehen als die Dorfmädchen. Die meisten Schilderungen räumten schließlich aber doch ein, daß auch die einheimischen Mädchen keine Engel seien. Das Bürgermeisteramt von Hausen an der Zaber (Landkreis Heilbronn) stellte fest, die Amerikaner hätten "schnell ihre ,Freundinnen' gefunden", "besonders unter den lockeren Duisburgerinnen", um dann bedauernd anzufügen, leider aber "auch unter schokoladenhungrigen Schwäbinnen"172. Den Urteilen folgten die Verurteilungen. In den Berichten der Bürgermeister und Geistlichen, in denen so gut wie nie auf die Nöte und Motive der Frauen, die sich einen amerikanischen Freund nahmen, eingegangen wurde, waren Verdikte wie
Bericht des Dekanats Künzelsau v. 26.6.1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-1945, Altregistratur. Bericht des Bürgermeisteramts Welzheim v. 20.9. 1948 auf eine Umfrage des Württembergischen Statistischen Landesamtes hin; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20. m Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878-1949, hrsg. v. Jose! Becker, Stuttgart 1964, S. 350. 172 Am 5. 11. 1948 auf die Rundfrage des Württembergischen Statistischen Landesamtes hin vom Bürgermeisteramt Hausen an der Zaber verfaßte "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. Vgl. auch den Bericht des Pfarramtes Schmalfelden/Krs. Crailsheim v. 11. 6. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1945.
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4. Fraternization
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"Schamlosigkeit" und "Würdelosigkeit" schnell bei der Hand. 173 In Künzelsau wurde am 15. April 1945, vier Tage nach der Besetzung der Stadt, eine Kanzelverkündigung verlesen, in der die Bevölkerung zunächst gemäß Römer 13 (,Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat") zu Korrektheit und würdiger Haltung gegenüber der Besatzungsmacht aufgefordert war, und die dann fortfuhr: "Es sollte in einer Christengemeinde nicht extra nötig sein, aber es ist Anlaß vorhanden, die Frauen und Mädchen von hier und von auswärts ernstlich daran zu erinnern, daß die deutsche Frau allezeit und in der schmerzlichen Lage des Krieges heute ganz besonders ihre Ehre darin sucht, die Würde der Frau zu wahren und den fremden Soldaten mit vornehmer Zurückhaltung zu begegnen. Den Eindruck, den die amerikanischen Truppen von der deutschen Frau und vom deutschen Mädchen mitnehmen und das Urteil, das sie über uns nach dem Krieg in ihrer Heimat weitergeben, hängt in der Hauptsache davon ab, was sie in unseren Städten und Dörfern sehen und erleben. Hier hat jeder deutsche Mann, jede deutsche Frau und jedes deutsche Mädchen dem Vaterlande gegenüber eine große und heilige Verantwortung."174 Da die Epoche der Appelle an die heiligen vaterländischen Pflichten gerade eben sang- und klanglos zu Ende gegangen war, nahmen sich Dekan Kiesers Ermahnungen besonders hohl aus. Den Frauen, die sich aus Neugier oder Not, Sehnsucht oder Verzweiflung jetzt einen Freund unter den Soldaten der Siegermacht suchten, war diese Tatsache vermutlich deutlicher bewußt als dem Künzelsauer Geistlichen, der der Bevölkerung in den kritischen Tagen vor der Besetzung zur Stärkung "Hindenburgs Lieblingspsalm"175 anempfohlen hatte. Worin lag wohl die offenbar starke Anziehungskraft der amerikanischen Besatzungsoldaten ? Dietrich Güstrow, der die Besetzung in Thüringen erlebt und sie so anschaulich beschrieben hat wie sonst kaum jemand, spürte bald eine kräftige Quelle dieser Art weiblicher Geneigtheit auf. "Es sollten nur wenige Tage vergehen", berichtet er, "bis wir die Entdeckung machten, daß nichts erotisch so mobilisiert wie die Macht."'76 In anderen deutschen Zeugnissen der Zeit ist dagegen auffällig oft die Rede von der Packung Lucky Strike und einem Paar Nylonstrümpfen, vom Lippenstift aus dem PX und der Tafel Cadbury als billigem amerikanischen Entgelt für eine gemeinsame Nacht. Doch das verrät wohl auch, daß den Männern, die die Berichte über die "Verfehlungen" der Frauen bei Kriegsende verfaßt haben, der Gedanke nicht leicht gefallen ist, daß selbstverständlich auch unter den amerikanischen Soldaten viele attraktive Männer waren. Mit hinein spielte die "sexuelle Konkurrenz"'77 und damit auch eine gehörige Portion von Neid bei der abschätzigen Qualifizierung der ,,Amiflittchen". Auch an wohlwollenden, aber ebenso verfehlten Dramatisierungen zur Skizzierung der Lage und des Verhaltens der Frauen nach dem Einmarsch fehlte es nicht. So schrieb etwa FrankIin M. Davis Jr., ehemals Offizier bei der Besatzungsarmee, in seinem Buch "Come as a Conqueror": "Eine sehr große Zahl deutscher 173
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Vgl. den Bericht des Stadtpfarramtes Mergelstetten im Dekanat Heidenheim v. 18.6. 1945; LKA Stuttgart Bestand 311a, 1945. Anhang zum Bericht Dekan Kiesers an den Oberkirchenrat v. 12.4. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-1945, Altregistratur. Bericht Dekan Kiesers an den Oberkirchenrat v. 31. 3. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-1945, Altregistratur. Dietrich Güstrow, In jenen Jahren. Aufzeichnungen eines .. befreiten" Deutschen, München 1983, S. 34. Lutz Niethammer, Privat-Wirtschaft. Erinnerungsfragmente einer anderen Umerziehung, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), .. Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist." Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983, S. 32.
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11. Die Amerikaner im westlichen Grenzgebiet Ende 1944
Frauen stand vor einer elementaren Wahl - langsames Verhungern mit intakter Tugend auf der einen Seite und auf der anderen Nahrung, Komfort und die Annehmlichkeiten des Lebens unter dem Schutz des Eroberers."178 Solche gutgemeinten Übertreibungen verfehlten die Realität beinahe noch weiter als die landläufigen moralisierenden Attacken. Zweifellos stand keine "sehr große Zahl" von Frauen und Mädchen 1945 vor der Alternative Tugend oder Hungertod, auch wenn es Fälle gegeben haben mag, in denen Mutter und Tochter durch ihre Liaison mit einem Amerikaner nichts als Abwechslung auf den Speisezettel der Familie bringen wollten. Die dramatisierenden Deutungen sind ebenso unzureichend wie die moralisierenden, übersehen beide doch vor allem, daß viele Frauen und Mädchen schon lange vor 1945 freizügigere Lebensgewohnheiten angenommen hatten. Der Nationalsozialismus hatte auch in diesem Bereich "das moralische Wächteramt der alten Eliten und Instanzen"179 stark erschüttert. Die weitgehende Zerrüttung normal-bürgerlichen Lebens durch den Abbruch fester Bindungen und das Aufbrechen des Familienverbandes durch Mobilisierung und Evakuierung der Frauen insbesondere in der zweiten Hälfte des Krieges trug zweifellos zu erhöhtem "unmoralischen Verhalten deutscher Frauen" bei, wie es der SD in einer Studie vom Frühjahr 1944 nannte. Dort hieß es, daß das Absinken der Moral nicht mehr als Einzelerscheinung betrachtet werden könne, "sondern daß ein großer Teil der Frauen und Mädchen in immer stärkerem Maße dazu neige, sich geschlechtlich auszuleben"180. Die Gelegenheit dazu verbesserte sich mit dem Einmarsch der fremden Soldaten erheblich; Zärtlichkeit und intimer Kontakt waren leicht zu haben. Viele Frauen wollten nun darauf nicht mehr verzichten. Neugier auf die Männer eines sagenhaft reichen und mächtigen Landes kam hinzu, die sich schon äußerlich angenehm von den abgerissenen und ausgemergelten, oft allzu ernsten Landsern unterschieden, die jetzt von der Front und bald aus den Gefangenenlagern heimkehrten. Das Flair der Sorglosigkeit, einer smarten Jungenhaftigkeit, auch ein "Element des Coolen, Lässigen und Optimistischen"18\ das vielen G.I.s anhaftete, dürfte ebenso aufmunternd wie anziehend gewirkt haben. Manches Mädchen empfand das lebhafte Interesse eines Soldaten einfach als schmeichelhaft und als Gradmesser eigener Attraktivität. In Berlin nannte eine junge deutsche Journalistin einem amerikanischen Beobachter noch ein weiteres Motiv weiblicher Fraternisierungsbereitschaft: "Wissen Sie, was einige unserer Frauen jetzt sagen? Sie sagen zu den Männern: ,Sechs Jahre wart ihr fort in fremden Ländern, habt Neues gesehen und Dinge getan, über die ihr uns nichts erzählt, während wir zu Hause geblieben sind und gearbeitet haben. Schön! Jetzt sind wir dran!"3o, den er am 2./3. Februar 1945 vorlegte, faßte er das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen. Es entfesselte in den höheren amerikanischen Stäben "Pandämonium und Panik", wie WaIter L. Dorn sich später erinnerte. 231 Padovers Bericht war einseitig, voller Übertreibungen, Verzerrungen und Ungerechtigkeiten gegenüber Militärregierung wie Stadtverwaltung, dazu gespickt mit Reizwörtern, die ihre Wirkung in Washington und der westlichen Öffentlichkeit nicht verfehlen konnten. Nach Padovers Analyse war Franz Oppenhoff ein "Faschist". Der zielbewußt agierende, antidemokratische "Herrenclub" um den Aachener Oberbürgermeister verfolge einen fein ausgeklügelten "Basic Plan", den man zur richtigen Beurteilung der politi229
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Griffith, Denazifieation Program, S. 40. Siehe auch Padovers Selbstporträt in Daniel Lerner, Sykewar. Psyehologieal Warfare against Germany. D-Day to VE-Day, New York 1949, S. 84ff. [n voller Länge abgedruckt bei David Lerner (Hrsg.), Propaganda in War and Crisis, New York 1951, S. 434ff. Vgl. auch Padover, Experiment in Germany, S. 218ff. Dom, Unfinished Purge, Kap. VI, S. 23; IfZ-Archiv, ED 127.
2. Fehlstart in Aachen
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schen Situation in der Stadt kennen müsse. Er laufe darauf hinaus, in Deutschland einen klerikal-autoritären, auf Eigentümer und Manager mittlerer Betriebe und eine "Facharbeiteraristokratie" gestützten Ständestaat zu errichten - einen Staatstypus, "den selbst die Nazis verworfen" hätten. Hinter allem stehe die katholische Kirche, in Aachen personifiziert in der "mächtigen Figur" des Bischofs. Diese eng mit der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie verflochtene "tyrannische" Clique des Oberbürgermeisters und seiner neun Helfer wirtschafte zudem in die eigene Tasche und beschäftige nach wie vor eine beträchtliche Anzahl von "Nazis" in der Stadtverwaltung. Oppenhoff, so das Fazit der Untersuchung, werde bei Verwirklichung seines ausgeklügelten politischen Planes der alliierten Sache schweren Schaden zufügen, denn sollte der Plan bekanntwerden, dann werde er die entschlossene Opposition einer bereits argwöhnischen Arbeiterklasse herausfordern, "die in Deutschland immer eine unerhörte politische Kraft entfaltet habe" und die, so schloß der Bericht, "für ihre Rechte kämpfen werde". Der Schlußsatz von Padovers Analyse kontrastierte nicht nur mit seiner an anderer Stelle zum Ausdruck gebrachten Auffassung von der "verhängnisvollen und moralisch gesehen kriminellen Passivität" der Linken während der NS-Zeie 32 , auch die Behauptung der Existenz eines "Basic Plan" ließ sich nur schlecht mit seinem gleichzeitigen Befund vereinbaren, daß die Männer der Oppenhoff-Clique politisch in jeder Hinsicht sehr unerfahren seien. Padovers immanentes Fazit schließlich, in Aachen herrschten wegen der Machenschaften Oppenhoffs und des Bischofs im Grunde noch die gleichen Verhältnisse wie unter der Herrschaft der Nazis, wurde am Palmsonntag, dem 25. März 1945, auf tragische Weise ad absurdum geführt. Am Abend dieses Tages ermordete nämlich im Auftrag Himmlers und des Höheren SS- und Polizeiführers West, Karl Gutenberger, ein kleiner Trupp von "Werwölfen" den Aachener Oberbürgermeister auf der Kellertreppe seines Hauses in der Eupener Straße 251. 233 Die Mordtat, die so gar nicht zu seinen Theorien passen wollte, konnte sich Padover noch 1946 in seinem Buch "Experiment in Germany" nur mit der armseligen Annahme erklären, der Anschlag auf den Oberbürgermeister sei in Wirklichkeit von seinem zwei Häuser weiter wohnenden Kollegen, Bürgermeister Heinrich Faust, inszeniert worden, und zwar deshalb, weil Oppenhoff sich nach dem ,,Aachen Scandal" um ein besseres Verhältnis zur Linken bemüht habe. 234 Padovers überspitzter und einseitiger Untersuchungsbericht entfaltete seine durchschlagende Wirkung vor allem deshalb, weil er ihn sogleich der Presse zuspielte. Zuerst nahmen Daily Express und Daily Worker in London, zwei Wochen später das linksliberale New Yorker Blatt PM, bei dem Padover schon seit längerem politischer 232
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Padover, Experiment in Gennany, S. 132. Zum Mord an Franz Oppenhoff vgl. die Akten des Strafverfahrens vor dem Landgericht Aachen gegen Hennemann U.a. vom 17.10.-22.10.1949; HZ-Archiv, MB-8. Vgl. auch Trees, Whiting, Unternehmen Karneval. Über die Situation der von der Militärregierung bestellten Beamten generell und Oberbürgermeister Oppenhoffs im besonderen stand im Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 14 des Alliierten Oberkommandos v. 30.12.1944 zu lesen: "There can be little doubt that should the Nazis return, some of them would be killed as ,examples'. One reporter noted that ,most were alarmed at the possibility of repraisals', but despite their fears there has been no tendency to evacuate. A case in this point is the Mayor of Aachen, ,obviously very frightened', who said that he and his associates were risking their lives by staying on but were glad to do so because it was the only way to rebuild Gennany" Der Prozeß gegen die Oppenhoff-Mörder zeigte die Gegenstandslosigkeit dieser Behauptung. Vgl. auch die Informationen von Frau Irmgard Oppenhoff im Gespräch am 14.6. 1984.
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III. Winter 1944/45
Kommentator war, die Zustände im besetzten Aachen aufs Korn. Laurence Wilkinson, der auch in PM schrieb, berichtete am 1. Februar 1945 im Express unter knalliger Schlagzeile ("Gebt dem Mann, der Himmler bewirtete, einen Job, fordert Aachens Bürgermeister") von einem Aachener NSDAP-Mitglied, das angeblich Himmlers letzten Besuch in der Stadt Mitte September 1944 organisiert hatte und nun im Wasserwerk angestellt werden sollte. Außerdem habe, was von SHAEF sogleich dementiert wurde, der Chef des amerikanischen Detachments in Aachen erklärt: ,,Als General Eisenhower in Nordafrika einrückte, hat er aus militärischen Gründen, die er über politische Gesichtspunkte stellte, mit Admiral Darlan verhandelt. Bis zu einem gewissen Grade machen wir hier Darlan-Politik." Tags darauf berichtete der Daily Worker unter der Schlagzeile ,,Alliierte verwenden Nazis zur Beherrschung Aachens - amtliches Schweigen" von "sensationellen Berichten von Kriegsberichterstattern" über unhaltbar gewordene politische Verhältnisse in der Stadt. 235 Max Lerner schrieb im New Yorker PM, es sei eine falsche Behauptung, in Aachen regierten die Nazis, es sei eigentlich viel schlimmer, denn die Verhältnisse lägen viel komplizierter. Die Stadtspitze sei eine fähige und clevere reaktionäre Clique, deren Politik die Demokraten in der Stadt entmutige: "Die ganze Gruppe ist von der Idee durchdrungen, daß sie ein neues, autoritäres, paternalistisches Gesellschaftssystem aufbauen kann, in dem jede Klasse den ihr zugewiesenen Platz einnimmt und diesen nicht verläßt, so ziemlich wie im Mittelalter. Sie übernimmt Facharbeiter nur dann, wenn sie in das Schema passen, fürchtet und haßt Arbeitermassen und verachtet das gewöhnliche Volk."236 So verzeichnet der Untersuchungsbericht des Psychological Warfare Combat Teams über Militärregierung und Stadtverwaltung in Aachen und erst recht einige Berichte in der Presse als Ganzes zweifellos gewesen sind 237 , so enthielten sie doch mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Beispielsweise stimmte es, daß in der Stadtverwaltung eine ganze Reihe ehemaliger NSDAP-Mitglieder beschäftigt waren, keines hatte der Partei aber schon vor 1933 angehört. Das verstieß nicht gegen die amerikanischen Bestimmungen. Oppenhoff wußte das und machte aus der Beschäftigung von "Nominellen" auch kein Geheimnis. Im Gegenteil, es war geradezu eine Bedingung seiner Amtsübernahme gewesen, daß er in seiner Verwaltung "Nominelle" weiterbeschäftigen dürfe, und zwar jene, wie der Oberbürgermeister damals sagte, "die 1933 zwar überzeugt waren, später aber ihre Meinung änderten", und jene, "die aus irgendwelchen Gründen, aber ohne innere Überzeugung der Partei beitraten"238. Die britischen und amerikanischen Kriegsberichterstatter, die auf "saftige Reportagen"239 aus waren, machten daraus eine Sensation. Überhaupt überdeckte die Frage der Weiterbeschäftigung von Pgs in der öffentlichen Verwaltung in der Folgezeit den Kern des Problems, das in Aachen zutage getreten war. Nicht um Parteigenossen in der Verwaltung ging es Padover in erster Linie, sondern darum, "daß linke Gruppen so unerwünscht sind, 235 236
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Daily Worker, 2.2. 1945, und PM, 30. 1. 1945. PM, 19.2. 1945. Vgl. auch die Artikel v. 18.2. 1945,6.3. 1945 und 26. 3. 1945. Siehe ebenfalls New York Times, 17.3. 1945 und 26.3. 1945. Die amerikanische und britische Pressekritik veranlaßte auch llja Ehrenburg in dem in London erscheinenden Soviet War News Weekly zu einem scharfen Kommentar. Vgl. das Memorandum von Brewster H. Morris, USGCC, für Robert Murphy v. 7.2. 1945; NA, RG 59, 740.00119 Contral (Germany), 2-245. Saul K. Padover, The Political Situation in Aachen, in: Lerner (Hrsg.), Propaganda in War and Crisis, S. 441 f. Vgl. auch den Runderlaß Oppenhoffs an seine Bürgermeister v. 21. 11. 1944; Stadtarchiv Aachen, Stadtverwaltung, A 17 (Ordnungsamt), Nr. 13265. Zink, American Military Government, S. 135.
2. Fehlstart in Aachen
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wie sie in der Verwaltung unrepräsentiert sind"240. Das war in der Tat ein fatales Faktum, erklärbar zwar, aber dennoch ein Affront nicht nur für die Linke, sondern auch für jeden politisch Bewußten in der Stadt, der sich nicht der besseren Gesellschaft von Aachen zugehörig fühlte. Die Oppenhoff-Verwaltung und das Military Government Detachment FIG2 gerieten nach dem Aufsehen in der Presse und, wie Cedric Belfrage es nannte, den "Erschütterungen höheren Orts"241 rasch in die Defensive. In einer Welle von Entlassungen zwischen Anfang Februar und Ende März 1945 verloren fast alle nominellen NSDAP-Mitglieder ihre Anstellung in der Stadtverwaltung 242 , am 28. Februar mußten Heinrich Faust, Bürgermeister für das Wirtschaftswesen, und Matthias Op de Hipt, der Leiter des Personalamtes, den Schreibtisch wegen ihrer Beziehungen zur Industrie räumen, wie es im Historical Report des Detachments F1G2 hieß. 24 3 Jetzt wehte ein scharfer Wind in Aachen, und der über Nacht hereingebrochene politische Rauhreif ließ die kollegial-einvernehmlichen Beziehungen zwischen der Militärregierung und der Aachener Führungsschicht erkalten. Der Chef des amerikanischen Detachments mußte die Stadtspitze nun weit über seine Neigung hinaus brüskieren, und Oppenhoff wurde sich in den Turbulenzen des Februar und März selbst darüber klar, daß die Etablierung einer noch so fachmännisch und aufopfernd arbeitenden Verwaltung es dennoch nicht rechtfertige, ja daß es ein Fehler war, diejenigen von der Mitbestimmung der Geschicke der Stadt auszuschließen, die nach dem Ende der NS-Diktatur mit guten Gründen von sich sagen konnten, historisch recht behalten zu haben. Die Linke war bei Etablierung der Stadtverwaltung zwar noch schwach gewesen, aber spätestens im Laufe des Dezember und Januar hätte der eine oder andere Sozialdemokrat und Kommunist mit Sicherheit zur Mitarbeit zur Verfügung gestanden, wenn man ihn nur gerufen hätte. Der Oberbürgermeister "ist ein ernüchterter Mann", notierte Cedric Belfrage Anfang März im Tagebuch des Aachener Press Control Teams 244 , "verglichen mit seiner früheren zuversichtlichen und beinahe trotzigen Attitüde; er hat die Notwendigkeit eingesehen, Sozialdemokraten und andere, die jetzt noch nicht repräsentiert sind, in die Verwaltung hineinzunehmen". Oppenhoff begann sich in den letzten Wochen vor seiner Ermordung unter dem Druck der Kritik, aber auch aus politischer Einsicht tatsächlich der Linken zu nähern. Er lud Gewerkschafter und bekannte Vertreter der Arbeiterschaft, darunter auch Heinrich Hollands, dessen ,,Aachener Nachrichten" der Stadtspitze lange Zeit ein Dorn im Auge gewesen waren, zu politischen Konsultationen ein. Das Arbeitsamt übernahm nun ein alter Gewerkschafter, stellvertretender Leiter des Wohlfahrtsamtes wurde niemand anderes als Arbeitsamtsdirektor a. D. Remmel, der im Dezember die Verwaltung öffentlich so scharf angegriffen hatte. 245 Zum "Freien Deutschen 140
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Lerner (Hrsg.), Propaganda in War and Crisis, S. 45l. Tagebuch des Press Control Teams in Aachen, Eintragung v. 12./13.2. 1945; NA, RG 260, 8/154-2/15. Vgl. die Aachener Nachrichten, 7.2. 1945, 7.3. 1945 und 4.4. 1945. Siehe Aachener Nachrichten, 7. 3. 1945. Personalakte Faust; Stadtarchiv Aachen. Historical Report des Detachments FIG2 für Februar 1945; NA, RG 331, 627. ECAD, 2nd ECAR, Co G,Jacket Nr. 3. Vgl. auch das Schreiben Oppenhoffs an Major Bradford v. 6. 3. 1945; Stadtarchiv Aachen, Stadtverwaltung, A 10 (Hauptamt), Nr. 1112l. Tagebuch des Press Control Teams Aachen, Eintragung v. 6. 3. 1945; NA, RG 260,8/154-2/15. Vgl. den Historical Report des Detachments FIG2 für März 1945; NA, RG 331,627. ECAD, 2nd ECAR, Co G,Jacket Nr. 3. Vgl. auch das Schreiben Oppenhoffs an die Militärregierung v. 14.3. 1945; Stadtarchiv Aachen, Stadtverwaltung, A 17 (Ordnungsamt), Nr. 13265.
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111. Winter 1944/45
Gewerkschaftsbund", der sich am 18. März 1945 in Aachen konstituierte 246 , versuchte Oppenhoff ebenfalls ein gutes Verhältnis herzustellen. So wandte er sich schon zwei Tage nach dessen Gründung an das amerikanische Detachment mit der Bitte, das 1933 beschlagnahmte, inzwischen unter "Property control" stehende Gewerkschaftsvermögen an den FDGB zurückzugeben und ihm die Benützung eines ehemaligen DAF-Hauses zu gestatten 247 Die Entscheidung der Militärregierung hat ihn nicht mehr erreicht. An die Witwe des fünf Tage später ermordeten Oberbürgermeisters richtete der Gewerkschaftsbund am 29. März 1945 ein Schreiben, in dem es hieß: ,,Auch wir werden das Wohlwollen des Verstorbenen vermissen und werden seiner stets mit Hochachtung gedenken."248 Für das 56köpfige Detachment F1G2, das ursprünglich für die Verwaltung des Regierungsbezirkes Niederbayern und Oberpfalz vorgesehen war, hatte der Fehlstart in Aachen die Konsequenz, daß ihm nach dem Weiterrücken der Front nur noch der Stadt- und Landkreis Würzburg anvertraut wurde. 249 Diese Entscheidung von SHAEF, die erzieherisch wirken und der Besänftigung der Presse dienen sollte, war darüber hinaus wohl auch sachlich nicht unangebracht. Denn noch in seiner Stellungnahme zu den Vorgängen in Aachen zeigte Major Jones recht deutlich, daß er ein umgänglicher Mann sein mochte, die Fähigkeit zu politischer Analyse aber nicht zu seinen Stärken zählte. Das Memorandum, in dem schon auf der ersten Seite nicht weniger als fünfmal die als Generalentschuldigung gedachte Formel der "military necessity" fiel, geriet ihm zu einem seltsam unpräzisen und rechthaberischen Dokument. Er schien die eigentliche Ursache des ,,Aachen Scandal", nämlich die Installierung und - trotz kritischer Stimmen - Beibehaltung einer politisch einseitig zusammengesetzten Stadtverwaltung, noch immer nicht recht verstanden zu haben, sonst hätte er sich kaum in erster Linie in der Beschreibung der amerikanischen Maßnahmen zur politischen Säuberung der Aachener Stadtverwaltung ergehen können. Die Militärverwaltung unter seinem Kommando verlange von den Stadtbediensteten mehr als Nichtmitgliedschaft in der NSDAP, schrieb Jones Anfang April 1945 emphatisch, die Beamten in wichtigen Positionen müßten auch mit demokratischen Prinzipien vertraut sein, zu deren Verteidigung die U.S. Army angetreten sei. 250 Damit gab er nur die Überzeugung wieder, die ihm sein Stellvertreter ein Vierteljahr zuvor vergeblich nahezubringen versucht hatte. Jetzt, fünf Monate, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, klangen die Ausführungen unglaubwürdig, wie aus einem der Pressekommentare zum "Aachen Incident" entlehnt. Seine erstaunliche Wandlung dürfte Major Jones' Glaubwürdigkeit bei seinen Vorgesetzten nicht sehr förderlich gewesen sein. Wenn der Chef der Aachener Militärregierung nun die "militaristischen und autoritären" Ideen der Oppenhoff-Clique geißelte, wirkte er nicht wie ein Geläuterter, sondern wie ein Geschlagener. Zur Ehrenretttung von Major Jones, der trotz allem bald zum Oberstleutnant befördert wurde, muß aber angeführt werden, 246 247
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Vgl. V/3. Schreiben Oppenhoffs an Major Jones v. 20.3. 1945; Stadtarchiv Aachen, Stadtverwaltung, A 10 (Hauptamt), Nr. 11121. Privatbesitz von Frau Irmgard Oppenhoff. Vgl. den Inspection Report über das Detachment A-210 v. 21. 7. 1945 (NA, RG 260, CO 443/1) und den "Historical Report" des Detachments für 1945/46 (Bay HStA, Bestand NA, RG 319, OCMH 175-1) sowie Herbert Schott, Die Amerikaner als Besatzungsmacht in Würzburg (1945-1949), Würzburg 1985. "Statement by Major Hugh M. Jones, M.G.O. of Aachen" (o.D.), wohl v. 1. 4. 1945; NA, RG 331, 627. ECAD, 2nd ECAR, Co G, Jacket Nr. 3.
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daß es bis zu den schmerzlichen Erfahrungen in Aachen in den höchsten Stäben der Invasionsarmee keinen Offizier gab, der sein Mißfallen an der konservativen Ernennungspraxis der Detachments geäußert hätte - mit einer Ausnahme: Ausgerechnet der mürrische Haudegen General Walter Bedell Smith, Eisenhowers Stabschef, der an sich mit anderen Dingen ausgelastet war, hatte sich gelegentlich über das Vorgehen der Militärregierung mokiert. 251 Der Eklat in Aachen löste ein Beben aus, das sämtliche amerikanischen Military Government-Stäbe erschütterte. Bei SHAEF in Reims ebenso wie im War Department in Washington suchten zahllose Denkschriften die Ursachen des Fehlstarts in Aachen zu ergründen, nicht weniger zahlreich waren die Papiere, die sich mit den erforderlichen Konsequenzen befaßten. Zunächst versuchte sich das Counter Intelligence Corps einen Reim darauf zu machen, wie es zu den Pannen in der ersten amerikanisch besetzten Großstadt in Deutschland kommen konnte. 252 Der Abschirmdienst der Army erkannte als den Hauptfehler, "daß Oppenhoff bei der Personalauswahl für seine Stadtverwaltung vollkommen freie Hand gegeben" worden war. Es sei nur natürlich gewesen, daß er vor allem Männer mit ähnlichen politischen Auffassungen ausgewählt habe. Zwar sei die politische Vergangenheit der einzelnen Kandidaten genau geprüft worden, man habe es aber versäumt, auf die Zusammensetzung der Gruppe als Ganzes zu achten, so CIC selbstkritisch. Im übrigen habe Oppenhoff eine erstaunlich starke Stellung besessen. Habe das Counter Intelligence Corps die Ablehnung eines seiner Kandidaten angekündigt, so habe sich der Oberbürgermeister einfach an das Military Government gewandt, meist seine Ansicht auch durchsetzen und damit CIC oft ausmanövrieren können. In Zukunft dürfe einem Oberbürgermeister die Auswahl seiner engsten Mitarbeiter nicht mehr allein überlassen bleiben, riet CIC und machte sich aus sehr praktischen und eigennützigen Gründen für die ausgewogene politische Zusammensetzung künftiger deutscher Verwaltungen stark: "In einer Verwaltung mit widerstreitenden Anschauungen und Interessen werden die normalen Eifersüchteleien der Führer jeden bereiter stimmen, dem CIC Informationen über die anderen zu liefern." Robert Murphy, der politische Berater des amerikanischen Militärgouverneurs in Deutschland, hatte schon zwei Wochen nach den Angriffen des Daily Express, des Daily Worker und im New Yorker PM das State Department auf einige Punkte hingewiesen, die die Panne in Aachen verständlicher machen konnten. 253 Zunächst bedauerte Murphy, daß Brigadegeneral Frank J. McSherry, stellvertretender Chef des G-5 Stabes von SHAEF, den Untersuchungsbericht des Psychological Warfare Teams erst erhalten habe, als die Presse schon eingehend dessen Ergebnisse debattierte. Ferner beanstandete Murphy, daß der für die Psychological Warfare Division zuständige General McClure seine eigene Political Intelligence pflege und "diese Herren die Zustände im Aachener Gebiet untersuchen ließ", ohne das Alliierte Oberkommando, wie es seine Pflicht gewesen wäre, vorher davon zu unterrichten. Murphy betonte aber ausdrücklich, es sei richtig gewesen, die Lage in Aachen unter die Lupe zu nehmen. In Dom, Unfinished Purge, Kap. VIII, S. 9. CIC-History, Kap. XVI, S. 22; U.S. Army Intelligence and Security Cornrnand, Fort George G. Meadel Maryland. 25' Schreiben an den Leiter der Mitteleuropa-Abteilung des State Departrnent, Jarnes W. Riddleberger, v. 16.2. 1945; NA, RG 59, 740.00119 Control (Germany), 2-1645. 251
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dem praktischen Realismus, der diesen erstrangigen Analytiker auszeichnete, schob der politische Berater General Eisenhowers sodann die im Umlauf befindlichen Verschwörungstheorien beiseite und kam auf die gänzlich unspektakulären Gründe der unzulänglichen Amtsführung des amerikanischen Detachments F1G2 unter Major Hugh M. Jones zu sprechen. Murphy erkannte, daß die meisten Mitglieder der Militärverwaltung von den täglichen praktischen und politischen Problemen in Deutschland überfordert wurden: "Die Aufgabe mag die Fähigkeiten einer guten Anzahl dieser amerikanischen Offiziere übersteigen, die nicht besonders dafür qualifiziert sind, ein so komplexes Problem wie die Administration feindlichen deutschen Territoriums zu bewältigen. Ich weiß, daß G-5 große Schwierigkeiten hatte, sowohl den richtigen Typ von Offizier wie die erforderliche Anzahl davon zu rekrutieren. Das ist außerordentlich wichtig, da unsere Politik, wie gut sie auch sein mag, nicht verwirklicht werden wird, wenn wir keinen effizienten Apparat zu ihrer Umsetzung haben." Und dann warnte er davor, in die schwache Vorstellung des Detachments tiefere politische Motive hineinzuinterpretieren. "Uninformierte", räumte Murphy ein, könnten allerdings versucht sein, "Ineffektivität als bewußten Mißbrauch von Politik" zu deuten. In einem bemerkenswerten Memorandum des G-5-Stabes für General Frank J. McSherry vom 11. März 1945 wurde ebenfalls zunächst der Stil der Padoverschen Untersuchungsführung kritisiert. 254 Die Deutschen, die von einer Gruppe von Amerikanern, die gar nicht zur Militärverwaltung gehörten, so eingehend über Organisation, Personalverhältnisse und Politik der Militärregierung befragt worden seien, hieß es darin, "müßten sich ein sehr seltsames Bild von der Bedeutung des Satzes von General Eisenhower ,Wir kommen als Eroberer' machen". Das Papier stellte zugleich selbstkritisch fest, wie jammervoll ungenügend die Organisation der Berichterstattung zur Lage im besetzten Gebiet über G-5 Kanäle sein müsse, wenn die von Padovers Team aufgedeckten Zustände über Monate hinweg von keinem einzigen Military Government Report erwähnt wurden. Dennoch, gerade Padovers Untersuchungsbericht habe eines ganz deutlich gezeigt, so die Einsicht im G-5 Stab des Alliierten Oberkommandos: "Wir können der Verantwortung für das, was geschieht, nicht dadurch entgehen, daß wir ein paar Nazis entfernen und ,alles andere den Deutschen überlassen'." Gegenwärtig entferne man lediglich die Nazis, halte sich ansonsten aber von Politik fern: "Da die effizientesten Nicht-Nazis konservative Elemente aus dem Geschäftsleben, den technischen und den freien Berufen gewesen sind und wahrscheinlich auch weiterhin sein werden", fuhr das Memorandum fort, "wird man uns mit ziemlicher Sicherheit beschuldigen, solche Elemente zu begünstigen, indem wir sie auf Kosten der Arbeiterschaft, der Kommunisten, der Sozialisten usw. an die Macht bringen. Wie schon oben dargetan, ist alles, was im besetzten Deutschland geschieht, von der Militärregierung abhängig. Daher können wir der Verantwortung für das Geschehen nicht entgehen", hieß es nochmals mit Nachdruck. Wie konnte eine Neuauflage des ,,Aachen Scandal" verhindert werden, vor der auch Donald Heath, der stellvertretende Direktor der politischen Abteilung von USGCC (des Nukleus der späteren amerikanischen Militärregierung), eindringlich warnte?2;; Darauf war vorerst keine verbindliche Antwort zu finden, denn es gab bis
25.
Memorandum des Planning Committee Staff, SHAEF, G-5, für General McSherry v. 11. 3. 1945; NA, RG 260, USGCC 44/45, 1-1. '" Memorandum Heaths für General Wickersham, Direktor von USGCC; NA, RG 84, Polad 731/14.
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zum Ende des Krieges keine verbindlichen Direktiven der Combined Chiefs of Staff, in denen klargestellt war, wie sich die Detachments im besetzten Deutschland politisch zu verhalten hatten. In keinem Dokument kommen die politischen Probleme, die sich in der Anfangsphase der amerikanischen Besetzung Deutschlands ergaben, klarer zum Ausdruck, als in einem "Field Survey" genannten Inspektionsbericht von SHAEF, in dem Oberstleutnant ]oseph C. Hickingbotham, ]r. die Beobachtungen zusammenfaßte, die er bei seinem Aufenthalt im amerikanisch besetzten linksrheinischen Deutschland gemacht hatte, kurz bevor die Invasionsstreitkräfte in der letzten Märzwoche 1945 den Rhein auf breiter Front überschritten. 256 Robert Murphy, der die Analyse an den Außenminister übermittelte, bezeichnete sie als "höchst treffend". "Das potentiell schwierigste und komplexeste Problem, mit dem die Militärregierung konfrontiert ist, ergibt sich aus den sehr prägenden und weitreichenden politischen Implikationen, die alle Handlungen der Militärregierung in unterschiedlichen Graden enthalten", schrieb der Oberstleutnant. "Es ist verständlich, aber höchst unglücklich, daß zu dieser vitalen Frage nur eine so magere Anleitung zur Verfügung gestellt worden ist, weil dies dazu führt, daß die Verantwortung für die Entwicklung einer politischen Linie jenen übertragen wird, die dazu am wenigsten imstande und dafür am wenigsten geeignet sind, den Militärregierungs-Detachments vor Ort. Es ist darauf hinzuweisen, daß es nicht befriedigend ist, das Problem bloß zu erkennen, obwohl von vielen oft sogar bestritten worden ist, daß es das Problem überhaupt gibt, und zwar mit der Begründung, die Armee habe nichts mit Politik zu schaffen. Eine gewisse Anleitung, wenn auch noch so vage und vornehmlich negativer Natur, ist eine dringende Notwendigkeit, wenn unheilvolle Resultate in der nicht allzu fernen Zukunft vermieden werden sollen. Wenn man es analysiert, scheint eine politische Leitlinie zwei generelle Aspekte zu haben, einen negativen, der besagt, was nicht getan werden soll, und einen positiven, der besagt, was getan werden soll. Die politische Anleitung, die den Armeen in Gestalt einer Direktive zugegangen ist, war ausschließlich negativer Natur, sie ging nämlich dahin, daß Nazismus und Militarismus zerstört und beseitigt werden müssen ... Aber wenn wir bei der Realisierung dieser negativen Politik halbwegs erfolgreich sind, bleibt immer noch die Frage zu beantworten, wie der andere Aspekt aussehen soll, der sich für die Militärregierung wohl als das erstrangige Problem erweisen wird. Ein politisches System zu beseitigen und auszutilgen, ist ja noch nicht genug; es muß etwas an seine Stelle gesetzt werden, wenn nicht vollständige Anarchie und Chaos die Folge sein sollen. Auch wenn politische Aktivität untersagt ist, so wird der lokalen Verwaltung doch einfach schon durch die Ernennung selber ein politisches Muster oder eine politische Färbung gegeben, und diese Färbung mag für die Entwicklung eines politischen Trends in der Zukunft eine enorme Bedeutung haben. Angesichts des totalen Mangels an konstruktiver Anleitung haben sich die befehlshabenden Offiziere der Detachments zu einem erheblichen Teil auf den Rat repräsentativer und einflußreicher Mitglieder der Kirche verlassen und sich auf ihre eigenen politischen Sympathien und Abneigungen gestützt. Angesichts der nahezu vollständigen Zerstörung der Städte des 2>' "Field Survey Twelfth Army Group, First, Third, Ninth Armies, 12-22 March 1945", Bericht von Oberstleutnant Joseph C. Hickingbotham für den stellvertretenden Stabschef von SHAEF, G-5, v. 4. 4. 1945; NA, RG 59,740.00119 Control (Germany), 4-1245. Murphys Urteil in seinem Schreiben an General McSherry v. 8. 4. 1945; eben da.
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Reichs, von der die Bevölkerung in einen Zustand politischer Apathie geschickt wurde, ist es kein Wunder, daß der Einfluß der Kirche, insbesondere im überwiegend katholischen Rheinland, beträchtlich ist, wenn sie nicht sogar die stärkste einzelne Kraft darstellt. Doch muß gesehen werden, daß dieser Einfluß reaktionärer und konservativer Art ist." Der stellvertretende Chef des G-5 Stabes im Alliierten Oberkommando sah die Kernpunkte der in Aachen so drastisch zutage getretenen Schwierigkeiten ähnlich wie Hickingbotham. Dem amerikanischen General, bei OMGUS dann Direktor der Manpower Division, war wohl bewußt, daß seine Offiziere "auf eine ,effiziente' Administration" erpicht waren, "ohne sich um einige der politischen Implikationen von Military Govemment in Deutschland zu bekümmern". Er bemühe sich sehr darum, sie "umzuerziehen", schrieb er Ende März 1945 an Robert Murphy und bat ihn um möglichst konkrete politische Empfehlungen dazu, nach welchen Gesichtspunkten die Detachments bei der Besetzung wichtiger Positionen in Deutschland vorgehen sollten. Er sehe durchaus ein, so McSherry an den politischen Berater von General Eisenhower 257 , daß eine politische Direktive des Oberkommandierenden "untunlich sein könne, weil es unsere Militärverwaltungen gewissen politischen Gruppierungen verpflichten könne". Um so wichtiger sei es für den G-5 Stab deshalb, von Murphy in dieser ebenso wichtigen wie komplizierten Angelegenheit wenigstens informelle Hinweise und Empfehlungen zu erhalten. Es verstrichen einige Wochen, ehe Robert Murphy seine Ratschläge für das politisch zweckmäßigste Vorgehen bei der Besetzung von Verwaltungspositionen in Deutschland übermittelte. Der Meinungsaustausch zwischen ihm und General McSherry über eine solche Kardinalfrage war eine delikate Angelegenheit, denn verantwortlich für die Politik im besetzten Deutschland war allein General Eisenhower, der Oberkommandierende der Alliierten Invasionstreitkräfte. Seine Weisungen erhielt er von den Combined Chiefs of Staff bzw. vom War Department in Washington. Der politische Berater General Eisenhowers mußte immer auf der Hut sein, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, das State Department wolle sich mittels seines "Political Advisor" über Gebühr in die Angelegenheiten der Besatzungsarmee einmischen. Die Praxis lief zwar durchaus genau darauf hinaus, doch lag das mindestens ebenso an der im ,,Aachen Incident" hervorgetretenen politischen Hilflosigkeit der Army wie an dem verständlichen Interesse des amerikanischen Außenministeriums, die Aktivitäten des Military Govemment in Deutschland im Auge zu behalten und, wo nötig, zu korrigieren. Robert Murphy machte den stellvertretenden Stabschef von SHAEF, G-5, in seinem Schreiben von Anfang Mai 1945 zunächst darauf aufmerksam, daß sich in Washington inzwischen, am 23. März 1945, die drei an der Planung der Deutschland- und Besatzungspolitik beteiligten Ministerien, Außen-, Finanz- und Kriegsministerium, endlich auf eine vom Präsidenten gebilligte politische Direktive an den amerikanischen Militärgouverneur geeinigt hätten, die für die Zeit zwischen Kapitulation und Etablierung einer alliierten Kontrollkommission für ganz Deutschland gelten sollte. 258 2S7 Schreiben General McSherrys v. 31. 3. 1945; NA, RG 59, 740.00119 Control (Gerrnany), 5-745. '" Das Schreiben an General McSherry v. 4. 5. 1945, in dem Murphy McSherrys Bitte um politische Richtlinien vom 31. März 1945 nachkommt, liegt als Anlage beim Schreiben des Political Advisor an den Secretary of State v. 7. 5. 1945; NA, RG 59,740.00119 Control (Gerrnany), 5-745.
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Sie gebe zwar einige Richtlinien zur politischen Säuberung, doch enthalte sie für den Militärregierungsoffizier, der nicht nur wissen wolle, wen er nicht, sondern wen er um das Wiedererstarken demokratischer Kräfte zu fördern und ermutigen - für ein Verwaltungsamt ernennen solle, keinerlei positive Anhaltspunkte. Danach kam der politische Berater Eisenhowers als erstes auf die Rolle der beiden Kirchen in Deutschland während der NS-Zeit und in den ersten Monaten der Besetzung zu sprechen: "Die protestantische Kirche", so schrieb er in einer seiner eindringlichsten Analysen der Situation in Deutschland, die hier in besonderer Ausführlichkeit zitiert sei, "hat zwar einige hervorragende Führer des Widerstands gegen die Nazis hervorgebracht, aber große Teile von ihr sind, besonders in den späteren Jahren, dem Druck der Nazis ziemlich vollständig erlegen. Es wäre folglich außerordentlich gefährlich und unrealistisch, als generelle Regel festzulegen, daß in vorwiegend protestantischen Gebieten der Rat protestantischer Pastoren von den Offizieren der Militärregierung gesucht und befolgt werden müsse. Auf der anderen Seite ist es durchaus richtig, daß in manchen Regionen und in einigen individuellen Fällen kein besserer Anti-Nazi-Rat zu bekommen ist als der von bestimmten protestantischen Führern. Ein hervorragendes Beispiel ist, wie ich glaube, Bischof Wurm von Württemberg. Es ist ebenso schwierig, ein Urteil abzugeben, das auf die katholische Kirche insgesamt zutrifft. Alles in allem war die katholische Kirche in Deutschland, auf Grund ihrer festeren Organisation und ihrer Verbindung zu einer souveränen auswärtigen Macht (Vatikan) fähig, eine geschlossenere und stabilere Front gegen die Nazis zu halten als die protestantische Kirche. Dennoch ist das Gesamtbild außerordentlich flekkig. Es gibt herausragende Beispiele tapferer Anti-Nazis wie Bischof Graf Preysing in Berlin, Kardinal Faulhaber in München, Bischof Graf Galen in Münster und andere. Ihrem Vorbild folgten viele der unteren Kirchenmänner und Kleriker. Andererseits nahmen zahlreiche ihrer Kollegen nicht die gleiche kompromißlose Haltung ein, und es gibt keine Rechtfertigung dafür, deren Rat als Rat verläßlicher Anti-Nazis einzuholen. Kurzum, man wird sich zu einem guten Teil auf die Fähigkeit des einzelnen Militärregierungsoffiziers zu verlassen haben, das Verhalten der Kirchenbehörden in seinem Bereich festzustellen und sich davon leiten zu lassen. Zweifellos sollte noch eine weitere Mahnung zur Vorsicht hinzugefügt werden, ehe man allzuviel Vertrauen in den politischen Rat von Kirchenmännern setzt. In der Regel wird ein solcher Rat auf eine konservative politische Anschauung gestützt sein, und von Kirchenmännern empfohlene Ernennungen werden wahrscheinlich, wie Sie gesagt und wie unsere Erfahrungen, so glaube ich, in etlichen Orten bereits gezeigt haben, das Gewicht der ,konservativen' Elemente verstärken. Wenn wir uns zu sehr oder gar ausschließlich von kirchlichem Rat leiten lassen, würden wir uns also dem Vorwurf aussetzen, ,rechtsgerichtete' und ,reaktionäre' politische Bewegungen und Haltungen auf Kosten mehr ,liberaler' Kräfte zu begünstigen. Wir müssen ständig im Auge behalten ... , daß viele der rechten und konservativen Elemente zwar anti-nazistisch waren, zugleich aber sehr nationalistisch und durchdrungen von der deutschen militaristischen Tradition. Unser Ziel ist nicht nur die Zerstörung des Nazismus (negativ), sondern das Finden und Fördern von Elementen, die wahrhaft demokratisch gewesen sind oder werden können (positiv)." Dann stellte Murphy in seinem Memorandum einige Überlegungen dazu an, in welchen Kreisen demokratisch gesinnte Deutsche zu suchen seien: ,,Alte politische
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und organisatorische Etiketten sind Hinweise, wenn auch nicht schon entscheidend. So ist es eine Annahme, daß ehemalige Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei, Unabhängige Sozialdemokraten und viele Mitglieder der Zentrumspartei leidlich pro-demokratisch und anti-nazistisch sind. Parteien rechts von der früheren Zentrumspartei (Deutschnationale Partei, Deutsche Volkspartei) mögen anti-nazistisch gewesen sein, waren aber so erfüllt von deutschem Nationalismus, Militarismus und konservativem Traditionalismus, daß ihre Mitglieder praktisch unbrauchbar sind. In vielen Fällen sind die Mitglieder dieser rechtsgerichteten Parteien nur etwas weniger gefährlich als die Nazis selbst. Ehemalige Mitglieder des Zentrums müssen sorgfältig geprüft werden, weil diese Partei zwei unterschiedliche Flügel hatte, der eine einigermaßen demokratisch, der andere nicht. Gewicht ist zu legen auf sorgfältige Prüfung des Werdegangs eines jeden, der für eine Ernennung in Betracht gezogen wird. Kein zwölf Jahre altes Etikett ist schlüssig. Man sollte sich bemühen, die Ernennungen, im Rahmen der verfügbaren Personen, auf mehrere Gruppen zu verteilen. Auf diese Weise werden wir leichter den Vorwurf vermeiden, die eine oder andere Gruppe unter den pro-demokratischen anti-nazistischen Deutschen zu favorisieren. Bei den Ernennungen sollte besonders vermieden werden, zu viele Elemente der extremen Linken oder der extremen Rechten aus dem anti-nazistischen Teil der Bevölkerung zu holen. Das ist wichtig, um der Beschuldigung aus dem Wege zu gehen, es werde eine allzu radikale oder allzu konservative Politik begünstigt, und außerdem um die Gefahr der Ernennung von Personen zu verringern, die nicht wirklich pro-demokratisch sind, obschon sie in den letzten Jahren anti-nazistisch gewesen sein mögen. Die Offiziere der Militärregierung sollten auch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Bezirks studieren und berücksichtigen, damit die Ernennungen einigermaßen repräsentativ für die lokale Bevölkerung ausfallen. So wird man in einer überwiegend katholischen Örtlichkeit mehr Katholiken, ehemalige Zentrumsmitglieder usw. ernennen als in einer protestantischen Industriestadt, wo frühere Sozialdemokraten und Gewerkschafter repräsentativer sind." Mit diesen bedeutsamen informellen Empfehlungen Murphys an die Militärverwaltung war die durch die Vorkommnisse in Aachen ausgelöste Debatte über die amerikanische Besatzungspolitik zunächst abgeschlossen. Sie wurde erst im Sommer 1945, nach Auflösung des Alliierten Oberkommandos und nach Konsolidierung der Militärregierung für die US-Zone 259 , wieder aufgenommen. Immerhin war das Military Government im Frühjahr 1945 gewahr geworden, daß es nicht ratsam war, jede Empfehlung von kirchlicher Seite unkritisch zu übernehmen. Die schmerzlichen Erfahrungen in Aachen gaben ferner den Anstoß zu der bald in allen Bereichen amerikanischer Besatzungspolitik beobachtbaren Tendenz, mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattete deutsche Gremien - seien es die Kommunalverwaltungen oder seien es die Herausgeberkollegien einer Tageszeitung - nach Möglichkeit ausgewogen und "paritätisch" zu besetzen. Drittens versuchte die Militärregierung seit dem Frühjahr 1945 bei der Berufung von Deutschen in verantwortliche Positionen dem jeweiligen politisch-sozialen und konfessionellen Milieu in etwa Rechnung zu tragen und, obgleich das längst nicht immer glückte, eine Oktroyierung von Außenseitern zu vermeiden. 2>9
Vgl. VII/5.
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Schwerwiegende und gleichsam unwillkürliche Konsequenzen ergaben sich aus dem Fehlstart in Aachen für die gesamte weitere Entnazifizierungspolitik der amerikanischen Besatzungsmacht. Unwillkürliche Konsequenzen deshalb, weil sich viele Military Government-Offiziere und die meisten Journalisten zwar nie recht klar darüber wurden, daß die einseitige Zusammensetzung der Oppenhoff-Verwaltung und nicht die Weiterbeschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder die Hauptursache des Eklats in Aachen gewesen war, die verantwortlichen G-5 Offiziere andererseits aber spürten, daß - gleichgültig, wie die Dinge nun genau liegen mochten - die hochgehenden Wogen am besten durch einschneidende und in scharfer Sprache angekündigte Entnazifizierungsdirektiven zu glätten waren. Also wurden von den Stäben des Alliierten Oberkommandos, der Armeegruppen und Armeen im Frühjahr 1945 nicht weniger als vier Anweisungen zur politischen Säuberung herausgegeben, die nicht einmal notdürftig aufeinander abgestimmt waren und die einander an Radikalität zu übertreffen suchten. Den Vogel schoß dabei die Twelfth Army Group (in deren Verantwortungsbereich sich der ,,Aachen scandal" ereignet hatte) mit einer wahrhaft "phantastischen Direktive" (Walter L. Dorn)260 ab. Von seinem Befehlshaber, Generalleutnant Omar Bradley, angehalten, etwas Wirkungsvolles zu unternehmen, ordnete der Chef des G-5 Stabes der Army Group, Brigadegeneral Cornelius E. Ryan, am 11. März 1945 an, zukünfig nicht nur alle Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen, sondern auch aller angeschlossenen Verbände aus ihren Stellungen in Wirtschaft und Verwaltung zu entlassen. Damit hätte praktisch jeder Angehörige des öffentlichen Dienstes in Deutschland seine Stellung verloren. Die Undurchführbarkeit der Direktive zeigte sich sofort, und es konnte nicht überraschen, daß, wie Walter Dorn später schrieb, "sich die Mehrzahl der Detachments damit behalf, sie mehr oder weniger zu ignorieren". Die unsinnige und unpraktikable Ausweitung des amerikanischen Entnazifizierungsprogrammes mit all ihren schwerwiegenden Folgen für die politische Säuberung in Deutschland nahm hier ihren Ausgang. Die Briten blieben realistisch. Im Bereich der 21st Army Group bestand keine Bereitschaft, diesen Schritt mitzugehen. Die als politische Reaktion auf den ,,Aachen Incident" gedachten wirklichkeitsfremden Entnazifizierungsdirektiven waren zugleich ein Indiz für die in den Stäben der alliierten Besatzungsarmee herrschende profunde Unsicherheit darüber, welcher Personenkreis in Deutschland als gefährliche Nazis zu gelten hatte, wo die Grenze zu den harmlosen Mitläufern verlief und welche Kriterien es überhaupt gab, eingefleischte Nationalsozialisten zu identifizieren. Im Bemühen, den Besatzungssoldaten einfache und praktikable Kriterien an die Hand zu geben, traten mitunter die tollsten Theorien in seriösem Gewand auf. Dazu ein zwar extremes, aber keineswegs satirisch gemeintes Beispiel: Unter der Überschrift "Was sagt ein Name?" bedauerte der G-2 Stab der Third U.S. Army zunächst "unsere Unfähigkeit, die Nazis aus der Masse der uns umgebenden Deutschen herauszufischen", und empfahl seinen Soldaten dann, einmal genauer auf die Vornamen der Deutschen zu achten, mit denen sie es zu tun hatten: "In der Wolle gefärbte Nazi-Eltern hätten ihren Sprößlingen niemals so degenerierte Namen wie Hans oder Fritz oder einen so niedrigen Namen wie Hermann gegeben. Sie warfen sich mit Vorliebe auf solche Zungenbrecher wie Kunigunde (Mädchen) und Giselher Ounge). Ein Giselher kann als Nazi '60
Dorn, Unfinished Purge, Kap. VI, S. 23. VgL auch Griffith, Denazification Program, S. 41.
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vermerkt werden, noch bevor er sagt, daß er nie mit seinem Gewehr auf amerikanische Soldaten geschossen hat ... Auf der weiblichen Seite sind die richtigen Nazinamen noch größere Plagegeister. Unna gehört zu den beliebtesten und ist am wenigsten bronchial. Hitlerike bedarf keines Kommentars. Brunhilde war die blonde und vollbusige Heldin der Siegfried-Geschichten. Kriemhilde war die brünette Sportskanone in der gleichen Sage: Sie hat immer das Speerwerfen gewonnen. Edeltrout hat nichts mit Fisch [trout] zu tun, sondern bedeutet reine Treue."26\ So schmerzlich und lehrreich die politischen Erfahrungen auch waren, die das Military Government im ,,Aachen Scandal" machen mußte, so prägnant die Linie künftigen Vorgehens von Robert Murphy auch gezogen sein mochte, mit dem 23. März 1945, dem Tag, an dem die Verbände von Omar Bradleys 12. Armeegruppe bei Worms und Oppenheim und die Truppen Montgomerys am Niederrhein zu ihrem Großangriff in das Innere des Reiches ansetzten 262 , verstummten öffentliche Kritik und interne Debatten augenblicklich. Wen interessierten jetzt noch die Ungeschicklichkeiten eines glücklosen Detachments im deutschen Grenzgebiet? Die Kapitulation des Deutschen Reiches, das Hauptziel der Kriegsanstrengungen der Vereinigten Staaten seit 1941, war mit den großen Siegen im März und April 1945 in greifbare Nähe gerückt. Die amerikanische Besetzung Deutschlands änderte nun mit einem Schlag ihr Gesicht. Die fünfmonatige Okkupation einiger Landkreise und ein mühseliger Abnutzungskrieg wurden von einem beispiellosen Sturmlauf abgelöst, der die alliierten Divisionen binnen sechs Wochen nach Wismar, nach Torgau, Chemnitz, Pilsen, nach Linz und über den Brenner führte. Die Military Government Detachments hatten Mühe, den Kampftruppen zu folgen, ganz neue, unlösbar scheinende Anforderungen warteten auf sie. Massenprobleme waren es, die für Besatzungsarmee und Militärregierung nun ganz im Vordergrund standen, die Versorgung und Repatriierung von Millionen "Displaced Persons" beispielsweise, die Sistierung von Hunderttausenden deutscher Kriegsgefangener, die Internierung Zehntausender NS-Funktionäre und Kriegsverbrecher, die Befreiung und Betreuung von vielen tausend politischen Häftlingen oder etwa die Notversorgung der Zivilbevölkerung in den Ballungsgebieten des Ruhrgebiets und Mitteldeutschlands. In dem Augenblick also, als die verantwortlichen Offiziere im Alliierten Oberkommando und in den Stäben der unterstellten Verbände ihre Lehren aus dem politisch verunglückten Start in Deutschland gezogen hatte, als sich die Administration in Washington auf eine gemeinsame Linie der Besatzungspolitik geeinigt und das Plazet des Präsidenten dafür erhalten hatte, als ein gewisses Maß an Sicherheit über die politischen Implikationen der amerikanischen Besetzung Deutschlands gewonnen war, in eben diesem Moment änderte sich der Charakter der Besetzung von Grund auf. Doch die bitteren Erfahrungen des Win261
262
Third U.S. Army, G-2 Information Bulletin Nr. 40 v. 9.4. 1945, in: SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 9 v. 19.4. 1945; NA, RG 331, 131.11. SHAEF, G-5, Information Branch, Entry Nr. 54. Hervorhebungen von mir. Die Briten standen ihren Verbündeten kaum nach. In einem Memorandum des War Office, Directorate of Army Psychiatry, vom Oktober 1944 hieß es z. B. über die äußeren Erkennungsmerkmale eines in der Wolle gefärbten Nationalsozialisten: "Young Nazis can not infrequently be diagnosed on their arrogant, hard, cynical expression and bearing, their rather steely, unpleasant, fanatical ,reptilian' eyes, often very pale blue or grey. With it goes a certain smartness, of the sporting type, and a certain effeminate (,pansy') sort of elegance and conceit. Another sort is dark, swarthy, with crinkly hair ... " Research Memorandum 45/03/11 von Oberstleutnant H. V. Dicks; NA, RG 331, SHAEF, PWD, The German Deserter, etc., Research Papers by Lt.Co!. Dicks. Vg!. IV/3.
3. Weshalb kapitulieren die Deutschen nicht?
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ters 1944/45, die eine amerikanische Militärregierung im Zwiespalt von militärischen und politischen Erfordernissen hatte machen müssen, waren nicht vergebens gewesen, und auch die Debatte über die Lehren nicht, die daraus zu ziehen waren. Sie wurden nur für kurze Zeit verdeckt. Der Jubel in den Hauptstädten der Siegermächte nach dem Sieg über Hitler war kaum verklungen, da begann in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands für die Militärregierung schon der politische Alltag, der ähnliche Probleme aufwarf wie seinerzeit in Aachen. Hier erwiesen sich die Erfahrungen aus den Anfängen der Besatzungszeit als ein wertvolles Kapital, auf das zurückzugreifen sich lohnte.
3. Eine Grundsatzdebatte: Weshalb kapitulieren die Deutschen nicht? Ausschlaggebendes Gewicht gewann Robert Murphy, Vertreter der Politik im Stab der Invasionsstreitkräfte, noch in einer anderen, hohe Wellen schlagenden Grundsatzdebatte des Alliierten Oberkommandos, die im Herbst 1944 entbrannte und um die sinnvollste Interpretation der Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" des Deutschen Reiches und der davon unmittelbar bestimmten Propaganda gegenüber der deutschen Bevölkerung kreiste. Damit lebte die Kontroverse um die Weisheit der "unconditional surrender"-Formel wieder auf, die in den Reihen der Alliierten seit dem 24.Januar 1943, dem Tag, an dem Präsident Roosevelt sie in Casablanca verkündet hatte, nie ganz verstummt war; nach der Auffassung mancher Kritiker war diese Politik für den erstaunlichen Widerstandsgeist der Zivilbevölkerung und die scheinbar ungebrochene Kampfmoral der Wehrmacht mitverantwortlich. Die ersten Versuche, eine Nuancierung oder wenigstens eine autorisierte Interpretation des "Slogans"263 des amerikanischen Präsidenten zu erreichen, gingen Anfang 1944 von den alliierten Stäben in London aus, die mit der Planung der Invasion befaßt waren. Sie waren der Ansicht, ein militärischer Erfolg der bevorstehenden Landung in der Normandie könne politisch besser genutzt werden, wenn die kompromißlose Kapitulationsforderung durch differenziertere Erklärungen abgeschwächt oder ergänzt würde. Auch die amerikanischen Joint Chiefs of Staff machten sich die Auffassung zu eigen, der nationalsozialistischen Propaganda, die die bedingungslose Kapitulation Deutschlands umstandslos mit der Vernichtung des deutschen Volkes gleichzusetzen pflegte, müsse Wind aus den Segeln genommen werden. Die Stabschefs wandten sich deshalb zwei Monate vor der Invasion an Roosevelt und baten ihn, in einer mit den Verbündeten abgestimmten öffentlichen Erklärung noch einmal ausdrücklich zwischen dem deutschen Volk und dessen nazistischen "gangster overlords" zu unterscheiden. Das State Department und der Geheimdienst OSS264 unterstützten den Vorstoß. Der Präsident verschloß sich diesen Wünschen aber und verwies darauf, daß er wiederholt - das erste Mal bereits in Casablanca - deutlich gemacht habe, daß eine 26'
264
Maurice Matloff, Strategie Planning for Coalition Warfare 1943-1944, Washington 1959, S. 40. Zum folgenden vgl. ebenda, S. 428 ff.; Zitate S. 430 und S. 431. Vgl. das Memorandum des stellvertretenden Direktors von ass "Genmany: Reaction to Allied Psychologieal Warfare" an das Außenministerium v. 31. 3.1944; FRUS 1944, I, S. 506.
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"bedingungslose Kapitulation" keineswegs die Vernichtung des deutschen Volkes einschließe. 265 Sehr deutlich und in ganz ähnlicher Weise wie ein halbes Jahr später auch Robert Murphy, nahm der für die besetzten Gebiete verantwortliche Unterstaatssekretär im War Department John J. McCloy zu der Ansicht Stellung, die "unconditional surrender"-Formel sei eine wichtige Ursache deutschen Widerstandsgeistes. Er meinte, der verbissene Kampfeswille der Deutschen sei viel eher aus ihrer Furcht vor der Roten Armee zu erklären: "Es ist mehr dieses Schreckgespenst, das sie nicht aufgeben läßt, als irgendeine Phrase, die auf einer Konferenz geprägt worden ist. Ich würde ihnen aber nicht", fügte der spätere Hohe Kommissar in Deutschland hinzu, "durch das Angebot eines leichten Auswegs den Gedanken nehmen, daß sie in jeder Generation ihre Verwüstungen anrichten können, ohne auch selbst etwas davon abzubekommen."266 Auch der Leiter der Zentraleuropa-Abteilung des Außenministeriums,James W. Riddleberger, schaltete sich in die Diskussion ein und machte auf die Tatsache aufmerksam, daß die deutsche Propaganda den Begriff "bedingungslose Kapitulation" nur selten gebrauche. 267 Einige Wochen nach der Intervention der Vereinigten Stabschefs stießen die beiden für die militärischen Operationen auf dem Kontinent unmittelbar verantwortlichen Offiziere, General Eisenhower und sein Stabschef Walter Bedell Smith, die die Strategie des "unconditional surrender" ebenfalls für einen Fehler hielten 268 , über Staatssekretär Stettinius noch einmal energisch nach. Schließlich wollten sie vierzehn Tage vor der Landung in der Normandie nichts unterlassen, was den deutschen Widerstand zu lähmen versprach. Diesmal zeigte sich der amerikanische Präsident zugänglicher. Er ließ sogar eine Erklärung vorbereiten, in der es unter anderem hieß, die Alliierten wollten nicht das deutsche Volk, sondern die Philosophie jener vernichten, "die verkündet haben, sie könnten sich die Welt unterwerfen"269. Diese Botschaft, deren "freundschaftlicher Ton" das britische War Cabinet sehr irritierte, unterblieb aber nach einem Einspruch Churchills; auch Stalin riet davon ab. Wiederholte Vorstöße in derselben Richtung während des Sommers 1944 trafen nun regelmäßig auf das Veto des Präsidenten. Ein von Stettinius vorgelegter Aufruf "Soldiers of Germany, attention!" ("konzipiert, um den deutschen Widerstandswillen zu schwächen", wie es in dem begleitenden Memorandum hieß) fand ebenfalls nicht die Billigung Roosevelts und wurde zu den Akten genommen. Die deutsche sozialistische Emigration in Großbritannien, die über verschiedene Kanäle zu amerikanischen und britischen Behörden und Stäben verfügte 17 0, bemühte sich in den Monaten vor und nach der Invasion gleichfalls intensiv darum, die Alliierten zu einer Abschwächung ihrer Kapitulationsforderung und zu konstruktiveren
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Memorandum Roosevelts an die Joint Chiefs of Staff v. 1. 4. 1944; ebenda, S. 502. Zit. nach Matloff, Strategie Planning, S. 429. Memorandum für Stettinius v. 26.5. 1944; FRUS 1944, I, S. 518. Zum folgenden eben da, S. 507f1. Vgl. auch Pogue, Supreme Command, S. 3401. Zum Gespräch von Stettinius mit Eisenhower und Smith Anfang April 1944 vgl. Stephen E. Ambrase, The Supreme Commander: The War Years of Dwight D. Eisenhower, New York 1969, S. 390. Schreiben Roosevelts an Churchill v. 18. 5. 1944, mit dem der Erklärungsentwurf übersandt wurde; FRUS 1944, I, S. 514. Die negativen Antworten Churchills und Stalins ebenda, S. 517 und S. 519. Der Aufruf an die "Soldaten Deutschlands" findet sich auf S. 520. Vgl. V / 3 ("OSS-Guides und Arbeitsführer").
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Erklärungen über das deutsche Schicksal nach dem Krieg zu bewegen.27I Im Hinblick auf die "bevorstehenden militärischen Großoperationen im Westen" legten die deutschen Sozialisten, die damit auch sich selbst als politische Kraft ins Spiel bringen wollten, in London Ende März 1944 ein umfangreiches Memorandum VOr. 272 Sie seien davon überzeugt, schrieben Gottfurcht, Ollenhauer und Vogel darin, daß ein sorgfältig erwogener Plan einer "positiven politischen Kriegführung" wesentlich zum Erfolg des Feldzuges beitragen und die Niederlage Hitler-Deutschlands beschleunigen könne: "Die Propaganda nach Deutschland sollte eine politische Kampagne starten, um der Nazi-Theorie zu begegnen, die Niederlage Hitler-Deutschlands würde das Ende des deutschen Volkes und die Vernichtung seiner nationalen Existenz bedeuten." Deshalb komme es nun darauf an, der deutschen Bevölkerung die ,,Aussicht auf eine tragbare Existenz zu geben - als Nation wie als Individuen". Innerhalb des Alliierten Oberkommandos entspann sich im Oktober 1944 eine scharfe Auseinandersetzung über die Frage, ob die feindliche Kampfmoral geschwächt und der Krieg abgekürzt werden könne, wenn den Deutschen von der alliierten Propaganda endlich unmißverständlich klargemacht werden dürfe, daß der Kapitulation des Reiches nicht die von Goebbels ausgemalte Apokalypse folgen werde. Die hochfliegenden Siegeshoffnungen des Sommers waren im Lager der Alliierten mittlerweile erstorben. 273 Das Deutsche Reich hatte auch nach den schweren Niederlagen der Wehrmacht im Osten und im Westen nicht kapituliert; der Bombenkrieg schien die deutsche Kampfkraft kaum zu beeinträchtigen. Der Schwung der alliierten Offensive war nach den großen Erfolgen in Frankreich erlahmt, die Kämpfe an der Grenze gestalteten sich unerwartet hart und verlustreich. Zur selben Zeit bescherte auch noch der Morgenthau-Plan, der die Vernichtungsabsichten Churchills und Roosevelts unwiderleglich unter Beweis zu stellen schien, der deutschen Propaganda willkommene Argumente. In diese von Rückschlägen und Enttäuschungen geprägten Monate des Herbstes und Winters 1944/45 fiel also der Versuch, endlich über die starre Handhabung der "unconditional surrender"-Formel hinwegzugelangen. 274 Es war der eigenwilligste und ideenreichste Stab von SHAEF, der jetzt seinen Plan zu einer Neuorientierung der alliierten Propaganda gegenüber Deutschland vorlegte: die Psychological Warfare Division unter Brigadegeneral Robert A. McClure. 275 Der im April 1944 im Zuge der Vorbereitung der Invasion etablierte Stab für psychologische Kriegführung hatte den Auftrag, den Widerstandswillen von Wehrmacht und deutscher Bevölkerung zu schwächen. In der riesenhaften, weltweit operierenden Propagandamaschinerie der Westmächte war "PsyWar" nur ein kleines, aber doch 171
272
273
174
275
Vgl. etwa Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes (!JB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim 1964, S. 318 ff. Von Hans Vogel, Erich Ollenhauer, Victor Schiff und Hans Gottfurcht gezeichnetes Memorandum v. 25.3. 1944; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444, Secre!. Vgl. I1!1. Auch der Manchester Guardian meinte am 19.10. 1944 beispielsweise, es sei an der Zeit, "das deutsche Volk darüber aufzuklären, daß keine Absicht bestehe, es zu vernichten"; zit. nach Neue Zürcher Zeitung, 20.10. 1944. Die beste Darstellung zu Organisation und Funktion der Psychological Warfare Division ist noch immer das Buch ihres ehemaligen Mitarbeiters Daniel Lerner, Sykewar. Vgl. auch: Pogue, Supreme Command, S. 84 ff. Ziemke, U.s. Army, S. 173 ff. Harold Hurwitz, Die Stunde Null der deutschen Presse, Köln 1972, S. 22 ff., sowie den After Action Report von PWD "The Psychological Warfare Division, S.H.A.E.F. An Acount of its Operation in the Western European Campaign 1944-1945"; NA, RG 260, 5/242-2/38.
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wichtiges Rad. Nach der Landung der Alliierten auf dem Kontinent kontrollierte PWD als Sprachrohr Eisenhowers dort die meisten technischen Mittel der Propaganda-Offensive gegen Deutschland. Die Division gestaltete mehrere Rundfunkprogramme, entwarf viele hundert Flugblätter, gab alliierte Nachrichtenblätter in deutscher Sprache heraus, rief im besetzten Gebiet Zeitungen ins Leben, führte Einsätze mit mobilen Frontlautsprechern durch und organisierte zahlreiche verdeckte, "graue" und "schwarze" Sonderunternehmungen, zum Beispiel die Operation "Capricorn" Ende Februar 1945, mit der über Rundfunk die Existenz einer anti-nationalsozialistischen Untergrundbewegung in Deutschland vorgespiegelt wurde. Die "weißen", eindeutig als alliierte Propaganda identifizierbaren Aktionen 276 waren die bei weitem wichtigste Form der Einwirkungsversuche auf Deutschland. Sie hatten sich eine "Strategie der Wahrheit", die Unterlassung von Falschinformationen, auf die Fahnen geschrieben. Ebenso wie die British Broadcasting Corporation (BBC), deren deutsches Programm zu drei Vierteln aus Nachrichtensendungen bestand, trachtete auch "PsyWar" vor allem danach, die von den Nationalsozialisten über Deutschland verhängte Nachrichtenblokkade aufzubrechen. Der erst an zweiter Stelle rangierenden politisch-psychologischen Einflußnahme durch Propaganda im engeren Sinne wurden gleichwohl gewaltige Anstrengungen gewidmet. Allein zwischen Invasion und Kapitulation warfen die Alliierten mehr als drei Milliarden Flugblätter ab. 277 Trotz der durch die "unconditional surrender"-Formel eng gesteckten Grenzen war die Themenvielfalt noch immer erstaunlich, sprachliche und graphische Gestaltung von großer Virtuosität. Hauptthema der alliierten Propaganda war die These von der Unvermeidlichkeit der deutschen militärischen Niederlage. Sie wurde durch die Betonung der gewaltigen materiellen Überlegenheit der Alliierten immer wieder unterstrichen ("Tapferkeit allein kann in diesen Materialschlachten den Mangel an Panzern, Flugzeugen und Artillerie nicht wettmachen!"). Den Soldaten wurde als vernünftigste Alternative zu dem sinnlos gewordenen Widerstand der Weg in die Gefangenschaft empfohlen ("Du stehst keinen Barbaren gegenüber!"). Die Propaganda erzielte bei den Soldaten der Wehrmacht denn auch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. In den ersten Wochen nach der Invasion zweifelten noch etwa ein Drittel der Kriegsgefangenen an deren Wahrheitsgehalt, Anfang August 1944 nicht einmal mehr ein Zehntel. Die deutsche Bevölkerung wurde zu individuellen Aktionen der Verweigerung, zu Umgehung und Mißachtung von Anordnungen der Partei aufgerufen ("Die Lehre von Aachen - Wer sich evakuieren läßt, flieht in den Krieg!"), außerdem wurde ihr nahegelegt, nicht durch Pflichtbewußtsein im Volkssturm oder durch eine Verteidigung von Dörfern und Städten das Kriegsende hinauszuzögern. Das auf einem Flugblatt reproduzierte Foto einer völlig zerstörten Ortschaft trug die Bildunterschrift: "Diesem Dorf hätte die Vernichtung erspart bleiben können - aber es wurde von Fanatikern zum Widerstandsnest ausgebaut!" Daneben stellte PWD die Aussicht auf ein Leben unter der "strengen, aber gerechten" Militärregierung dem Leben im Bombenkrieg und unter nationalsozialistischer 276 277
Das folgende im wesentlichen nach Lerner, Sykewar, S. 164 H. Vgl. den Abschlußbericht von SHAEF, PWD, "Leaflet Operations, Western European Theatre, 19441945" v. 2.7. 1945; Fort Leavenworth/Kansas, Archives Section, Nr. R-17414.2. Vgl. auch James M. Erdmann, USAAF Leaflet Operations in the ETO during the Second World War, Diss., University of Colorado 1970.
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Willkür gegenüber. Während Himmler, Göring, Ley oder allgemein "die Parteibonzen" des öfteren Gegenstand von Kritik und Spott waren, vermied es die Psychological Warfare Division (im Unterschied zum amerikanischen Office of War Information), die Person Hitlers offen anzugreifen. Alle verfügbaren Informationen deuteten nämlich darauf hin, daß die Loyalität zum "Führer" auch nach den schweren deutschen Rückschlägen kaum erschüttert war. Deshalb hieß es in den Richtlinien für die Propaganda gegen die Wehrmacht vom Juni 1944, die in diesem Punkt, aber auch bei der psychologischen Kriegführung gegenüber der Zivilbevölkerung bis zum Kriegsende genau beachtet wurden: "Zur Zeit ist der durchschnittliche Soldat, trotz des Bewußtseins, daß der ,Führer' schwere Fehler gemacht hat, nicht geneigt, Hitler die Schuld zu geben, wie das die Generäle und andere informierte Personen bereits tun. Hitler ist noch immer sein glückbringender Talisman."278 Damit trug PWD der verbreiteten Neigung, Hitler als unantastbares nationales Symbol zu betrachten, in kluger Weise Rechnung. Es machte sich bezahlt, daß "PsyWar" über eine eigene IntelligenceAbteilung verfügte, die über die Lage in Deutschland und die Stimmung in der Wehrmacht während der alliierten Besetzung im allgemeinen besser orientiert war als andere Institutionen wie beispielsweise das Office of Strategie Services. Der politisch sensible Auftrag der Psychological Warfare Division, deren Drähte von den vordersten Frontlinien bis zu den höchsten Stellen in Washington und London liefen, prägte ihre organisatorische Struktur und personelle Zusammensetzung. General McClure wurden nicht weniger als vier Stellvertreter beigegeben. Zwei Amerikaner vertraten das Office of War Information und das Office of Strategie Services, zwei Briten das Political Intelligence Department des Foreign Office und das Ministry of Information - alles große, selbständig operierende nationale Institutionen, die ihren Einfluß auf die Deutschland-Propaganda gewahrt wissen wollten. Dadurch wurden die leichten Divergenzen noch betont, die zwischen den Amerikanern und den auf diesem Felde erfahreneren Briten natürlicherweise bestanden. Auf der anderen Seite herrschte in der Psychological Warfare Division aber auch ein ausgeprägter, von einer mehr oder weniger bewußten Abgrenzung gegenüber den Militärs herrührender Teamgeist. Auch nach Überstreifen der Uniform waren die meisten Mitarbeiter von "PsyWar" eingefleischte Zivilisten geblieben. Ein hoher Prozentsatz der etwa 120 im Alliierten Oberkommando und der insgesamt vielleicht tausend bei den Armeegruppen und Armeen Tätigen kam aus geistigen Berufen, es waren Intellektuelle, Wissenschaftler, Schriftsteller, Lehrer, Journalisten, Werbefachleute oder Künstler. In der Psychological Warfare Division fand sich auch der höchste Prozentsatz von Emigranten aus Deutschland. Die etwa zehn führenden Positionen blieben ihnen zwar versperrt, worauf die Army genau achtete, doch eine ganze Reihe wichtiger Funktionen lag größtenteils in den Händen von ehemaligen Deutschen in amerikanischer Uniform: die Auswertung von Dokumenten etwa, die Textgestaltung von Radioprogrammen und Mitteilungsblättern oder die Befragung Hunderttausender deutscher Kriegsgefangener. Der schon vor dem Krieg erfolgreiche Theatermann und Musiker Benno Frank beispielsweise war 1939 in die USA gekommen und leitete jetzt die Rundfunkpropaganda der Twelfth Army Group. Der aus Ungarn stammmende Hans Habe, der in Wien als Journalist bekannt geworden und im zweiten Kriegsjahr 178
"Standing Directive for Psychological Warfare against Members of the German Armed Forces",juni 1944; zit. nach Lerner, Sykewar, S. 408.
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in die Vereinigten Staaten geflohen war, gab die deutschsprachigen Mitteilungsblätter dieser Armeegruppe heraus. Martin F. Herz, ein Journalist, der bei PWD die meisten taktischen und den Großteil der an die Zivilbevölkerung gerichteten Flugblätter verfaßte, stammte aus New York, hatte seine Kindheit und Jugendjahre aber in Wien verbracht. Saul K. Padover, der das kleine Team führte, das mit seinen Analysen aus dem besetzten Aachen Aufsehen erregt hatte 279 , war Österreicher gewesen, aber schon als Kind, 1920, in die Vereinigten Staaten gekommen. Er hatte eine Hochschulkarriere und einige Jahre als persönlicher Referent des amerikanischen Innenministers hinter sich, ehe er im Juni 1944 die Uniform der U.S. Army anzog. Oder der Berliner Ullstein-Journalist Hans Wallenberg; er war 1938 in die Vereinigten Staaten emigriert und gehörte, ehe er ab Sommer 1945 in Berlin die Allgemeine Zeitung herausgab, zur Psychological Warfare Branch der 7th U.S. Army. Die genaue Kenntnis der Verhältnisse in Deutschland, der landsmannschaftlichen Eigenarten und Dialekte gaben den Texten dieser Männer oft erst die nötige Authentizität und Überzeugungskraft. Die Personalverhältnisse in der Intelligence Section, PWD, waren ähnlich. Eine anerkannt erfolgreiche Einheit war zum Beispiel das sieben köpfige, nach ihrem Hauptmann "Kampfgruppe Rosenberg" benannte Team, das Befragungen von Kriegsgefangenen durchführte. Alle sieben stammten aus Deutschland oder aus deutschsprachigen Teilen Europas. 28o Nach dem Urteil des Leiters der nachrichtendienstlichen Abteilung von "PsyWar" hätte seine Abteilung, vielleicht sogar die gesamte Psychological Warfare Division, ohne deutsche Emigranten nicht funktionieren können. Die ausgezeichnete Arbeit von Psychological Warfare konnte wenig daran ändern, daß viele Offiziere der Invasionsstreitkräfte, darunter auch Eisenhowers Stabschef Bedeli Smith, wenig für einen noch so einfallsreich geführten Krieg der Worte übrig hatten. Ihnen galt Bob McClures Abteilung einfach als undisziplinierte Crew von Exzentrikern und Primadonnen, als die "verrückte Randgruppe" von SHAEF. 281 Oberstleutnant Murray]. Gurfein, im Zivilleben Staatsanwalt und Herausgeber der Harvard Law Review, bei PWD Chef der Intelligence-Abteilung, deutete das schillernde Image des Stabes an, als er einige Jahre nach dem Krieg schrieb, schon dessen Bezeichnung habe bei manchem Soldaten die Vorstellung von "unsoldatischen Zivilisten geweckt, die meist einen Haarschnitt nötig hatten und damit beschäftigt waren, den Feind zu hypnotisieren". Freilich waren es nicht nur die beinahe natürlichen Animositäten zwischen Militärs und zu Extravaganz und Individualismus neigenden Zivilisten in Uniform, nicht allein die wohl unvermeidlichen Vorurteile gegen eine neuartige Sondereinheit (ähnliche Erfahrungen mußte auch die erst Anfang 1944 geschaffene G-5 Stabsabteilung machen), die Skepsis gegenüber den Aktivitäten der Psychological Warfare Division wurde auch dadurch genährt, daß angesichts der turmhohen Überlegenheit der alliierten Armeen an Ausrüstung, Waffen und Munition bei vielen Soldaten einfach das Gefühl vorherrschte, es sei überflüssig, gegen Deutschland auch noch psychologisch Krieg zu führen. Und was, so die nicht unberechtigte Frage, konnten die Männer der PWD denn schon ausrichten, die dem Feind nichts Attraktiveres 279 280
28!
VgL III/2. Lerner, Sykewar, S. 77. Das folgende Urteil zit. nach ebenda, S. 72. VgL auch die Erinnerungen von Walter Hasenclever, Ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen, München 1975. Lerner, Sykewar, S.69. Das folgende Zitat ebenda, S. 91, Anm. 1. VgL die gründliche Dissertation von Siegwald Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda gegen das Deutsche Reich in den Jahren 1944/45, Wien 1978, S. 113 ff.
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anzubieten hatten als die "bedingungslose Kapitulation". Gerade diese Beschränkung war es, die der Stab für psychologische Kriegführung nun im Herbst 1944 mit einem energischen Vorstoß durchbrechen wollte. Führender Kopf der Psychological Warfare Division und eigentlicher Widersacher von Robert Murphy im Herbst und Winter 1944/45 war der 37jährige Richard H. S. Crossman 282 , einer der beiden britischen Stellvertreter General McClures. Wegen seiner allseits anerkannten überragenden propagandistischen Fähigkeiten hatte er schnell maßgeblichen Einfluß erlangt und bestimmte in weitgehender Unabhängigkeit die Propagandalinie des Oberkommandos der alliierten Invasionsstreitkräfte. Crossman war bis 1937 Dozent für Philosophie in Oxford gewesen. Seit seinen regelmäßigen Aufenthalten in Deutschland, wo ihn bald eine Freundschaft mit dem kommunistischen Reichstagsabgeordneten und Leiter der KPD-Propaganda Willi Münzenberg verband, traten seine ursprünglich mehr ästhetisch-poetischen Neigungen mehr und mehr hinter dem Interesse an politischen Dingen zurück. Er begann für BBC über das nationalsozialistische Deutschland zu berichten und ging noch vor Kriegsausbruch als Führer der Labour-Fraktion im City Council von Oxford in die praktische Politik. Zugleich wurde der junge Intellektuelle stellvertretender Herausgeber der sozialistischen Wochenschrift "New Statesman and Nation". Nach der Bildung der Koalitionsregierung unter Churchill wurde er mit der Deutschland-Abteilung der Psychological Warfare Executive, der maßgeblichen Institution britischer Propagandapolitik, betraut. In dieser Eigenschaft profilierte er sich als Reorganisator des deutschen Programmes der BBC, das bis zum Kriegsende die schärfste Waffe der Alliierten im Äther war. Seit der Landung in Nordafrika gehörte Crossman zu den führenden und ideenreichsten Persönlichkeiten im Psychological Warfare Stab Eisenhowers. (Nach dem Krieg stieg der bald prominente Unterhausabgeordnete der Labour Party, der 1946/47 die "Keep Left"-Gruppe anführte, bis zum Minister im Kabinett Harold Wilsons auf.) Wie viele seiner Parteigenossen verabscheute er, den gewiß auch die Argumentation der emigrierten deutschen Sozialisten nicht unbeeindruckt gelassen hatte, das ebenso populäre wie pauschale Anti-Deutschtum eines Vansittart. Mit manchem hochrangigen britischen Offizier, so mit Eisenhowers stellvertretendem Stabschef Generalleutnant Sir Frederick E. Morgan, teilte er die Abneigung gegen die, wie Morgan an Murphy einmal schrieb, "Politik der Negation"2B3, die sich nach beider Ansicht aus dem kompromißlosen Beharren auf der "unconditional surrender"-Formel ergab. Das maßgeblich von Richard H. S. Crossman inspirierte, an General Morgan gerichtete achtseitige, von Robert A. McClure unterzeichnete Memorandum mit dem Titel "Policy to German Civilians" trug das Datum vom 7. Oktober 1944. 284 Darin waren die Vorstellungen der Psychological Warfare Division noch in etwas verklausulierter, auf Absicherung bedachter Form vorgetragen. Da Deutschland entgegen den ursprünglichen Annahmen nun offenbar Zug um Zug niedergekämpft werden müsse, sei es von größter Bedeutung, die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung in den schon besetzten Gebieten zu gewinnen und zugleich den Wehrmachtssoldaten wie den im nationalsozialistischen Einflußbereich lebenden Deutschen deutlich zu machen, daß der Einmarsch der Alliierten nicht das 282
28' 284
Vgl. Richard H. s. Crossman, Autobiographieal Sketch, in: Lerner, Sykewar, S. 78 ff. Schreiben Morgans an Murphy v. 24.4. 1945; NA, RG 84, Polad 458/77. Memorandum MeClures v. 7. 10. 1944; NA, RG 84, Po lad 826/34.
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von Goebbels prophezeite schreckliche, ja überhaupt kein ungewisses Schicksal bringen würde. Vor allem der Zivilbevölkerung müsse dieser Gedanke nahegebracht werden, schrieb PWD. Denn anders als der Soldat, der in amerikanische oder britische Gefangenschaft gehe und auf eine Behandlung gemäß der Genfer Konvention vertrauen könne, so McClure an Morgan, müsse sich der Zivilist "gänzlich schutzlos" fühlen, ihm seine Zukunft unter fremder Herrschaft vollkommen ungesichert erscheinen. Der Bevölkerung müsse die Furcht vor einer ungewissen Zukunft durch das Beispiel eines streng rechtlichen Regiments der Militärregierung und vor allem durch die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung und eines hohen Beschäftigungsniveaus in den deutschen Gebieten unter alliierter Herrschaft genommen werden. Schon kleinere Hilfsmaßnahmen der Army würden von den Deutschen im besetzten, aber auch im noch unbesetzten Reichsgebiet als bedeutende Akte der Humanität angesehen werden. Schlage die Militärregierung jedoch einen allzu harten Kurs ein, leite sie nicht nur Wasser auf die Mühlen der NS-Propaganda, sondern dann bestehe auch die große Gefahr, daß bei den Deutschen die Greueltaten der Gestapo in Vergessenheit gerieten und sie an die Nazi-Herrschaft wie an ein verlorenes Paradies zurückdächten. Eine Woche nach Vorlage des Memorandums fand unter Vorsitz des Stellvertretenden Stabschefs General Morgan im Alliierten Oberkommando eine Besprechung über die Vorschläge der Psychological Warfare Division statt 285 ; dabei wurde die Stoßrichtung der Vorschläge noch deutlicher. Neben General Grasset, dem Chef des G-5 Stabes, und anderen hohen Offizieren nahm auch Robert Murphy an der Sitzung teil, auf der General McClure sagte, seine Abteilung müsse jetzt endlich wissen, was sie den Deutschen über die alliierte Politik sagen solle. Die deutsche Propaganda verlange nach einer sofortigen und wirkungsvollen Replik. Dann wurde Robert Murphy, der erst seit September 1944 dem Hauptquartier der Invasionsarmee zugeordnet war, Zeuge, wie die für die Militärregierung und für die Propaganda gegenüber Deutschland verantwortlichen Offiziere von SHAEF den Versuch machten, sich ohne viel Aufhebens der Fesseln zu entledigen, die ihnen durch die Strategie des "unconditional surrender" angelegt waren. Das Protokoll der Besprechung über die Vorschläge von Crossman und McClure hielt nämlich fest, daß die hochrangigen Teilnehmer der Sitzung darin übereinstimmten, daß die "Politik, die hier zur Entscheidung stehe, positiv und nicht negativ sein muß und daß die Verantwortung für sie allein bei SHAEF liege und es keiner Rückfrage bei den Combined Chiefs of Staff bedürfe". Das hieß nicht mehr und nicht weniger, als daß das Alliierte Oberkommando auf dem Höhepunkt der Morgenthau-Kontroverse ohne Rücksprache mit dem gemeinsamen amerikanisch-britischen Generalstab und ohne Konsultation der Regierungen in Washington und London gegenüber Deutschland nunmehr so zu verfahren gedachte, wie es ihm zweckmäßig schien. Der britische Oberst Henn, Leiter der Operationsabteilung des G-5 Stabes von SHAEF, der ebenfalls an dieser Besprechung teilgenommen hatte, faßte das bei den maßgeblichen Offizieren grassierende Unbehagen zwei Wochen später noch einmal in die prägnanten Worte: "Wir verkünden, den Nazismus-Militarismus auszureißen, aber wir haben nichts, was an dessen Stelle gesetzt werden könnte.
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Stabsbesprechung im Alliierten Oberkommando am 13. 10. 1944; NA, RG 84, Polad 826/34.
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Wir bieten keine Hoffnung an, keine Ideale wie Demokratie oder Weltbürgerschaft und keine Aussicht auf eine wirtschaftliche Zukunft."286 Soviel politische Eigeninitiative von Offizieren, die nicht die Aufgabe hatten, über Deutschlands künftiges Schicksal zu befinden, sondern lediglich den Auftrag, dessen "bedingungslose Kapitulation" mit Waffengewalt zu erzwingen, ließ den Political Advisor des Alliierten Oberkommandierenden aufhorchen und augenblicklich aktiv werden. 287 Der ranghöchste Zivilist im Hauptquartier, der Eisenhower als politischer Berater zugeteilt war und nun zum politischen Kontrolleur und Wächter wurde, schlug sofort nach der Stabsbesprechung beim Außenminister Alarm; er konnte dies, ohne daß SHAEF davon erfuhr, auf eigenem Berichtswege tun. In einem ersten Telegramm 288 hob er besonders die Absicht des Oberkommandos hervor, der deutschen Bevölkerung Zusicherungen über ihr Schicksal unter alliierter Besatzung zu machen. "Ich drängte darauf", so schrieb Murphy an CordeIl Hull, "keine Rundfunksendungen oder Ankündigungen zu machen, die auch nur im entferntesten als allgemein verbindlich oder langfristig verpflichtend aufgefaßt werden könnten." Der Außenminister legte dieser Meldung aus dem Hauptquartier in Europa solches Gewicht bei, daß er sofort das Weiße Haus einschaltete. Murphy ließ seinem Telegramm eine umfassende Bewertung der Bestrebungen in Eisenhowers Umgebung folgen, die ihn einmal mehr als Meister der politischen Analyse zeigte. 289 Die von Crossman inspirierten Vorschläge, so schrieb er, beruhten in mehrfacher Hinsicht auf falschen Vorstellungen, einige der gemachten Vorschläge empfinde er als "verfehlt und potentiell gefährlich". Murphy hielt die Auffassung für falsch, die ungewissen Zukunftsaussichten unter alliierter Besatzung seien die entscheidende Ursache für den deutschen Widerstandsgeist und die angeblich mangelnde Kooperationsbereitschaft der Zivilbevölkerung in den schon besetzten Gebieten. "Nach den zugänglichen Informationen", so der Political Advisor, "scheinen für das deutsche Verhalten mindestens fünf Faktoren wichtiger zu sein als dieser vorgebliche ,Mangel an einer garantierten Lebensform', nämlich: Angst vor dem Regime, insbesondere vor der Gestapo; simple Unfähigkeit, sich den Befehlen der Nazi-Behörden zu widersetzen; nervliche, emotionale und physische Erschöpfung, was neben anderen Dingen Apathie und Unterwürfigkeit verursacht; natürliche, patriotische F~indselig keit gegen eine eindringende feindliche Armee; und Furcht vor Tod und Verwüstung, wie sie mit Feindseligkeiten verbunden sind." Aus dieser Feststellung zog er eine einfache Schlußfolgerung, indem er schrieb: "Wenn letztere Auffassung richtig ist, dann kann mit dem Angebot einer garantierten Lebensform relativ wenig getan werden, um den Gehorsam der Deutschen gegenüber Nazi-Befehlen zu verhindern oder um das Zögern der Deutschen vor der Kooperation mit unseren Armeen zu überwinden." Anschließend nahm er die Argumentation des Präsidenten selbst auf: "Wenn sich die Deutschen mit Verhältnissen abfinden müssen, die definitiv und unzweifelhaft schlechter sind als die Verhältnisse, in denen sich die alliierten Völker befinden, so werden die Deutschen, wie ich glaube, zu der Folgerung bereit sein, daß sie den Krieg tatsächlich verloren haben, daß die Alliierten weder weichherzig noch schwachköpfig 286 287 288
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Zit. nach Ziemke, U.S. Army, S. 108, der eine etwas abweichende Darstellung der Kontroverse gibt. Vgl. auch die sehr zurückhaltende Darstellung bei Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 292 f. Telegramm Murphys an Außen minister Cordell Hull v. 17.10. 1944; FRUS 1944, I, S. 560. Schreiben Murphys an Außenminister Hull v. 18.10. 1944; NA, RG 84, Polad, 826/34.
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sind, daß sich der Krieg nicht ausgezahlt hat und daß es notwendig sein wird, bei jedem Versuch des Revisionismus Vorsicht walten zu lassen." Er sei im Unterschied zur Psychological Warfare Division überhaupt nicht davon überzeugt, "daß die Deutschen auf die Nazi-Ära wie auf ein ,verlorenes Paradies' zurückblicken würden, wenn sie unter alliierter Herrschaft einige Härten zu erdulden hätten". Dann zog der politische Berater Eisenhowers sein Fazit und beschrieb in klaren Worten die bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches gültige politische Haltung der Vereinigten Staaten, des amerikanischen Military Government und der alliierten Propaganda. "Es wäre ein Fehler", so seine Überzeugung, "Versprechungen zu machen oder Garantien zu geben, die als allgemein verbindlich oder langfristig verpflichtend aufgefaßt werden könnten. Nur wenige Deutsche würden solchen Versprechungen glauben. Ihr Wille, den Alliierten Widerstand zu leisten, würde durch solche Versprechungen vermutlich eher gestärkt als geschwächt. Versprechungen würden als Anzeichen alliierter Schwäche erscheinen - wenn du nicht schwach bist, warum dann Versprechungen machen? Außerdem würde die Abgabe solcher Versprechungen die seit langem bestehende Überzeugung der Deutschen zu bestätigen scheinen, daß die Alliierten das Reich schon das letzte Mal durch einen Trick zur vorzeitigen Aufgabe verleitet hätten und daß sie es nun mit dem gleichen Trick noch mal versuchen wollten. Die Abgabe solcher Versprechungen würde den Deutschen die Grundlage dafür liefern, auch nach diesem Krieg, wie nach dem letzten, zu behaupten, daß sie nicht geschlagen worden seien, sondern die Waffen nur zu bestimmten Bedingungen niedergelegt hätten, daß diese Bedingungen von den Alliierten nicht eingehalten worden seien und daß daher das Reich nicht gehalten sei, die Konsequenzen der Niederlage zu akzeptieren, sondern im Gegenteil moralisch berechtigt - und sogar gezwungen - sei, die Konsequenzen zurückzuweisen." Selten sind die Argumente für ein konsequentes Festhalten an der Forderung nach der "bedingungslosen Kapitulation" des Deutschen Reiches deutlicher formuliert worden als in Robert Murphys Berichten aus dem Hauptquartier der Invasionsarmee. Sie zeigen auch, daß es nicht nur auf deutscher Seite ein tief sitzendes Trauma von 1918 gab. Der Präsident, das Kriegsministerium, das Außenministerium und das Office of War Information waren derselben Auffassung wie der Political Advisor Eisenhowers. Das State Department, das in dieser Frage inzwischen ebenso zu einer strikten Haltung gelangt war, ließ es sich nicht nehmen, das Eingreifen seines Vertreters beim Oberkommando in einer im dienstlichen Verkehr ganz ungewöhnlichen Weise hervorzuheben. Stettinius telegrafierte an Murphy: "Das Department zollt Ihnen für Ihr Vorgehen in dieser Sache Lob."290 Mit der Alarmierung Washingtons hatte Robert Murphy den Bestrebungen des Alliierten Oberkommandos, einen aus militärischen Gründen erwünscht scheinenden politischen Kurs gegenüber Deutschland einzuschlagen, den Riegel vorgeschoben, den Primat der Politik auch in einer militärisch angespannten Lage deutlich gemacht. Der Psychological Warfare Division brachte Murphy eine Niederlage bei, die dieser den geringen eigenen politischen Spielraum schmerzlich vor Augen führte. Er war bei seiner vernichtenden Kritik der PWD-Pläne andererseits vornehm genug, die im Grunde guten Absichten des Stabes von General McClure zu betonen. Die Division versuche in dieser Phase des Krieges eben alles, 290
Telegramm von Stettinius an Murphy v. 3. 11. 1944; FRUS 1944, I, S. 562.
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"um den feindlichen Widerstand zu schwächen und zu tun, was sie kann, um den Druck und die Härten zu lindern, denen die alliierten Soldaten an der Westfront ausgesetzt sind"291. Die inhaltlich längst entschiedene Debatte zwischen dem Political Advisor, dem Stab für psychologische Kriegführung und den zumeist britischen Befürwortern einer "positiveren" Politik bei SHAEF zog sich in Nachhutgefechten bis in das Frühjahr 1945 hinein. Noch vierzehn Tage vor der deutschen Kapitulation hielt es Murphy beispielsweise für angezeigt, General McClure und General Morgan von einem T elegramm des State Department Kenntnis zu geben, in dem es hieß: "Die Politik der bedingungslosen Kapitulation ist von dieser Regierung seit der Casablanca-Konferenz unbeirrt aufrechterhalten, nie in irgendeiner Weise geändert oder modifiziert worden, und man darf nicht zulassen, daß sie nun in den Endphasen der militärischen Operationen gegen Deutschland verwässert wird."292 Eine unmittelbar nach Kriegsende vom Uni ted States Strategie Bombing Survey in Deutschland angestellte große Befragung kann immerhin als Indiz dafür gelten, daß von der alliierten Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" für die deutsche Bevölkerung nicht dieser Schrecken ausging, den Richard H. S. Cross man und die Mehrzahl der Mitarbeiter der Psychological Warfare Division zu erkennen glaubten; die Casablanca-Formel dürfte deshalb auch für die deutsche Propaganda kein wirkliches Plus gewesen sein. 54 Prozent der in Städten unterschiedlichen Zerstörungsgrades Befragten bekundeten nämlich im Mai 1945 ihre persönliche Bereitschaft, die "bedingungslose Kapitulation" zu akzeptieren, weitere 19 Prozent hielten sie für unumgänglich, 16 Prozent hatten dazu keine klare Meinung, und nur 11 Prozent der Befragten wollten sie nicht akzeptieren. Auch die deutschen Soldaten in amerikanischer Kriegsgefangenschaft waren von den Perspektiven der bevorstehenden Besetzung keineswegs ernstlich beunruhigt. Zwei Drittel bis drei Viertel von ihnen glaubten im Herbst 1944 nicht daran, daß die Amerikaner nach dem Krieg "rachsüchtige Maßnahmen" gegen die deutsche Zivilbevölkerung ergreifen würden. 293 Die politische Entscheidung in der Kontroverse um die sogenannte "Politik der Negation" war am 20. Oktober 1944, drei Tage nach der Intervention Robert Murphys, gefallen. Im Alliierten Oberkommando, dem keine Kenntnis vom Einschreiten des Political Advisor gegeben wurde 294 , traf eine Direktive aus Washington ein, die der Propaganda gegenüber Deutschland einen engen Rahmen steckte. 295 Danach konnte den Deutschen die Beseitigung der NS-Herrschaft, eine politische Säuberung, die Wiederherstellung religiöser Freiheiten und die Zulassung von Gewerkschaften in Aussicht gestellt werden; erlaubt war auch ein Hinweis darauf, daß die alliierten Truppen nicht aus dem Lande leben würden. Zugleich sollte PWD vor einer Strategie der Verbrannten Erde warnen, da Deutschland für den Wiederaufbau nach dem Krieg sel291
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Schreiben Murphys an des State Department v. 18. 10. 1944; NA, RG 84, Po lad 826/34. Memorandum Murphys tür die Generäle Morgan und McClure v. 20.4. 1945; NA, RG 84, Polad 458/77. Vgl. zur vorhergegangenen Debatte auch NA, RG 84, Polad 32/35 und NA, RG 59, 740.00119 Control (Germany), 1-2945. Vgl. Lerner, Sykewar, S. 221. Vgl. auch M. I. Gurfein, Morris Janowitz, Trends in Wehrmacht Morale, in: The Public Opinion Quarterly 10 (1946), S. 81. Telegramm des State Department an Murphy v. 3. 11. 1944; FRUS 1944, I, S. 562. Vgl. hierzu Pogue, Supreme Command, S. 3441. Ziemke, U.S. Army, S. 107. Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda, S. 673 H. Die Verfasser gehen nicht auf die Hintergründe ein, die zu den restriktiven Richtlinen aus Washington führten.
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ber ZU sorgen habe. Generell sollte die Propaganda, wie John J. McCloy an Bedell Smith schrieb, nicht über die Zusage hinausgehen, daß der Durchschnittsbürger unter alliierter Besetzung in Frieden leben könne, wenn er den Anordnungen der Militärregierung Folge leiste. McCloy empfahl deshalb die Verbreitung von "sachlichen und farbigen Nachrichten über einen gesitteten Alltag im alliierten Besatzungsgebiet, solche Dinge wie die Geburt von Kindern oder Frauen, die die Wäsche aufhängen"296. Die Ende November, Anfang Dezember 1944 über Rundfunk ausgestrahlten "Dreizehn Botschaften"297 der Militärregierung machten dann auch keinen Versuch, die Härten der militärischen Okkupation zu verbergen, gaben andererseits aber zu erkennen, daß sich die Alliierten bei der Besetzung an die "Gebote von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Zivilisation"298 halten würden. Die Dreizehn Botschaften waren nur kurzlebig. Sie wurden während der ArdennenOffensive abgesetzt und danach "stillschweigend fallengelassen"299. Maßgebliche politische Richtschnur der Propaganda wurde Mitte Februar 1945 die Erklärung der "Großen Drei" auf der Konferenz von Jalta, in der es nach Ankündigung zahlreicher Eingriffe in die politische und gesellschaftliche Ordnung Deutschlands hieß: "Es ist nicht unsere Absicht, das deutsche Volk zu vernichten; doch nur dann, wenn Nazismus und Militarismus ausgerottet sind, besteht für die Deutschen Hoffnung auf ein ordentliches Leben und einen Platz in der Gemeinschaft der Nationen."30o Es ist bemerkenswert, wie sogar Hitler persönlich genauestens darauf bedacht war, die erklärten Absichten der Alliierten zu vertuschen. An einem Rede-Entwurf Hermann Essers, der ihm Ende Februar 1945 zur Durchsicht übersandt wurde und mit dem er "sehr einverstanden" war, änderte er nur eine einzige Formulierung. Jedesmal wenn Esser sagen wollte, in Jalta sei die "Vernichtung des Nationalsozialismus" beschlossen worden, änderte er die Passage in "Vernichtung des deutschen Volkes" ab. 30' Bald nach dem gescheiterten Versuch eines Alleinganges bemühte sich das Alliierte Oberkommando ein letztes Mal um Schützenhilfe der Politik. Die enttäuschend verlaufenden Operationen im deutschen Grenzgebiet veranlaßten diesmal General Eisenhower selbst dazu, sich erneut an Washington zu wenden. Die deutsche Kampfmoral, so telegrafierte er am 20. November 1944 an die Combined Chiefs of Staffs 302 , zeige gegenwärtig "kein Zeichen des AbbröckeIns". Es sei deshalb von entscheidender Bedeutung, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den deutschen Widerstandswillen auch mit anderen als militärischen Mitteln zu schwächen. Wiederum hätte sich der amerikanische Präsident auf das Drängen seines Oberkommandierenden hin zu einer, seine bisherigen Äußerungen allerdings nur wiederholenden gemeinsamen alliierten Erklärung bereitgefunden. Obwohl vor allem die britischen Offiziere im Stab von SHAEF am vehementesten auf eine Abschwächung der "unconditional surrender"Telegramm McCloys an Bedell Smith v. 7. 11. 1944; zit. nach Ziemke, U.S. Army, S. 108. Vgl. Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda, S. 674 H. 298 Erklärung eines Sprechers des Military Govemment v. 25. 11. 1944; zit. nach Pogue, Supreme Command, S.345. 299 Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda, S. 679. '00 "Report of the Crimea Conference" v. 12.2. 1945; FRUS, Conferences at Malta and Yalta, S. 971. '0' Schreiben der Partei-Kanzlei der NSDAP an Staatssekretär Esser v. 24.2. 1945; Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Nr. 28 604. '02 Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. IV: The War Years, Baltimore 1970, S. 2312. 296
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Formel drängten, war es ironisch erweise erneut Winston Churchill, der aus übergeordneten Gesichtspunkten jeden an Deutschland gerichteten politischen Appell ablehnte. 303 Das War Cabinet wie die britischen Stabschefs, ließ er Roosevelt Ende November wissen, hätten schwere Bedenken, zum jetzigen Zeitpunkt die bekannte Haltung der Anti-Hitler-Koalition zu wiederholen und den Deutschen erneut öffentlich zu versichern, daß es nicht in der Absicht der Alliierten liege, das deutsche Volk zu vernichten. Als deutscher Soldat oder General würde er eine solche Erklärung als ein Zeichen von Schwäche und als Ermutigung ansehen, weiterhin verzweifelten Widerstand zu leisten. Er beurteilte die Motive des hartnäckigen deutschen Widerstandes ganz ähnlich wie John J McCloy und Robert Murphy. "Ich denke nicht", schrieb der Premierminister nach Washington, "daß die Deutschen große Angst vor der Behandlung haben, die ihnen seitens der britischen und amerikanischen Armeen und Regierungen zuteil werden wird. Was sie fürchten, ist eine russische Besetzung und daß ein großer Teil von ihnen weggebracht wird, um sich in Rußland oder, wie sie sagen, in Sibirien zu Tode zu arbeiten. Nichts, was wir sagen können, wird diese tiefsitzende Furcht auslöschen." Worte spielten seiner Ansicht nach in diesem Stadium des Krieges keine Rolle mehr. Churchill schnitt noch andere Punkte an, die den Westmächten, selbst wenn sie anders hätten handeln wollen, die Hände banden. Jede derart hoch politische Erklärung bedürfe einer Abstimmung mit der Sowjetunion, der doppelt so viele deutsche Divisionen gegenüberstünden wie den Westalliierten, schrieb er. Man könne überdies wegen Stalins Plan, zwei bis drei Millionen Zwangsarbeiter wegzuführen - "man wird kaum sagen können, daß er im Unrecht ist" -, keinerlei beruhigende Zusicherungen abgeben. (Bei seiner Absage an Roosevelt ein halbes Jahr zuvor hatte der britische Premierminister im gleichen Zusammenhang übrigens auch auf die Härten hingewiesen, die Deutschland aus der geplanten "Westverschiebung" Polens erwachsen mußten. 304) Mit diesen Beispielen, denen er noch weitere hätte hinzufügen können, deutete Churchill das Dilemma an, in dem die alliierte Propaganda sich in der Endphase des Krieges befand: Versuchte sie, die Konsequenzen der "bedingungslosen Kapitulation" des Deutschen Reiches realitätsgerecht zu erläutern, mußte sie den deutschen Widerstandswillen eher stärken als schwächen; bemühte sie sich dagegen, die einschneidenden Folgen der militärischen Niederlage zu beschönigen, so legte sie den Keim zu politischen Legenden, deren Sprengkraft nach 1918 hinreichend deutlich geworden war. Der britische Premierminister fand in seinem Telegramm an Roosevelt ein beziehungsreiches Schlußwort. Jede Erklärung der Großen Drei, "die nach Appeasement aussieht", würde der gemeinsamen Sache nur schaden, schrieb er; er lasse sich gerne korrigieren, doch bis dahin verharre er dort, wo die "unconditional surrender"-Formel des Präsidenten ihn festgenagelt habe. Dabei blieb es bis zur Konferenz von Jalta, daran änderte sich auch bis zum 7. Mai 1945,2 Uhr 41, nichts, als Generaloberst Jodl in Reims seine Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde setzte. Ende Februar 1945, nach dem Zwischenspiel der Schlacht in den Ardennen, nach dem durchschlagenden Erfolg des sowjetischen Vorstoßes von der Weichsel zur Oder und nach dem glänzenden Verlauf der Schluß-Offensive der Invasionsstreitkräfte im Westen, war die 303
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VgL das Telegramm Roosevelts an Churchill v. 22. 11. 1944 und dessen Antwort v. 24. 11. 1944; PRUS 1944, I, S. 564 ff. Telegramm Churchills an Roosevelt v. 25.5.1944; PRUS 1944, I, S. 517.
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hitzig geführte Debatte ohnehin obsolet. Die Sprache der Waffen erschien dem Alliierten Oberkommando wieder deutlich genug. Die Pläne der Psychological Warfare Division vom Herbst 1944 waren auch ein Versuch gewesen, der "unpolitischen Politik" entgegenzuwirken, auf die das Military Government in Deutschland festgelegt war, und den Boden für einen stärkeren Rückgriff auf politisch links und linksliberal orientierte Personen und Gruppen bei der Verwaltung des Besatzungsgebietes zu bereiten. Dieses Motiv klang während der großen Debatte über die angemessene Propagandalinie des Oberkommandos nur schwach an. Saul K. Padover berichtet aber von einer Diskussion mit führenden Mitarbeitern der Psychological Warfare Division (darunter Michael Balfour, Richard H. S. Crossman und Murray Gurfein) im Hauptquartier von SHAEF zu Weihnachten 1944. 305 Diese sei im wesentlichen zu dem Ergebnis gekornmen, daß die eingeschlagene "harte Politik" falsch und gefährlich sei, weil sie alle Deutschen über einen Kamm schere. Mit dem vertraulichen Memorandum, um das ihn seine hochrangigen Kollegen schließlich baten, plädierte er dann für eine entschiedene Ermutigung der "guten Deutschen". Padover schrieb: "In ganz Deutschland gibt es zahlreiche Sozialisten und Christliche Sozialisten und Liberale, die das Hitler-Regime hassen. Diese Leute sind verstreut, führerlos und unorganisiert. Sie sind unsere besten Freunde tatsächlich die einzigen Freunde, auf die wir uns in Deutschland verlassen können ... Zellen antifaschistischer Männer und Frauen sind geblieben. Wir müssen ihnen Hilfe und Ermutigung geben." Da die Politik des "unconditional surrender", wie zutreffend gesagt wurde, "eine Vereinbarung zwischen den Alliierten über eine Politik des No-policy-commitmentsuntil-surrender" gewesen sei 306 , war es der Militärverwaltung, wenigstens offiziell, gänzlich unmöglich, den von Padover skizzierten und von PWD favorisierten Kurs einzuschlagen. Doch trotz dieses Grundsatzes war diese "unpolitische Politik" in der Praxis keineswegs so starr oder einseitig orientiert, wie es die damaligen und späteren Kritiker des Military Government wahrhaben wollten. Die amerikanischen und britischen Detachments haben bis Kriegsende und darüber hinaus nicht nur Tausende von nicht-nationalsozialistischen Deutschen - Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Konservative - mit verantwortlichen Stellungen betraut, sie haben, gleichsam inoffiziell, sogar manchen bürgerlichen Selbsthilfegruppen und manchem Antifa-Komitee lokalen Einfluß eingeräumt und so den Deutschen selbst die Möglichkeit zur maßgeblichen Mitwirkung an der Beseitigung und Überwindung der Kriegsfolgen gegeben. Ende Februar 1945, als die mittlerweile akademisch anmutende Debatte über den rechten Umgang mit der Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" noch fortgeführt wurde, hatte mittlerweile auch die Psychological Warfare Division ihre Versuche eingestellt, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eine entscheidende Abkürzung des Krieges herbeizuführen. Robert McClures Stab wurde (nicht zuletzt auch wegen der von Saul K. Padover praktizierten unkonventionellen, innerhalb von SHAEF auf harte Kritik stoßenden Art, tatsächliche und vermeintliche Fehler der amerikanischen Militärregierung in Aachen zu einer internationalen Sensation zu machen) mittlerweile "im Hinblick auf mögliche Versprechen und ,commitments' gegen'05 306
Padover, Experiment in Germany, S. 215 f. Lerner, Sykewar, S. 32.
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über Deutschland streng überwacht"307. Die Psychological Warfare Division war nicht nur mit ihren Vorschlägen, sondern auch in ihren Analysen merklich zurückhaltender geworden. Bereits Anfang Februar 1945 schätzte sie beispielsweise die Durchsetzungsfähigkeit der NS-Organe gegenüber der Bevölkerung ähnlich hoch ein wie Robert Murphy schon im Herbst 1944. 308 Hinsichtlich der Gewinnung der Kooperationsbereitschaft der Deutschen in den besetzten Gebieten - knapp vier Monate zuvor noch ein zentraler Punkt ihrer Strategie - hatte PWD inzwischen ebenfalls tiefere Einsichten gewonnen. Es war General McClures Stab nicht entgangen, und er hatte es in eigenen Analysen mittlerweile auch hinreichend belegt, daß ein solches Programm in Wirklichkeit überflüssig war. Gemessen an den anfänglichen Befürchtungen, ließ das Verhalten der Deutschen unter amerikanischer Besetzung wenig zu wünschen übrig. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Military Government Detachments in den Städten und Landkreisen schon von sich aus alles taten, um keine Tumulte und andere Unzuträglichkeiten in ihrem Kontrollgebiet zu riskieren. 309
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Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda, S. 671. SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary of Psychologieal Warfare Nr. 19 v. 3. 2.1945; NA, RG 331, PWD, Deeimal File, Entry Nr.87. Von einer Inspektionsreise nach Europa im August 1945 zurückgekehrt, hielt General Hilldring, der Chef der Civil Affairs Division im War Department, in einem undatierten internen Memorandum fest, es habe sich als vollkommen richtig erwiesen, daß die Army an ihrer nüchternen Propagandalinie festgehalten habe; HZ-Archiv, MA 1409/8, BI. 1139 H.
IV. Von der Ardennen-Offensive zur Rhein-Überschreitung 1. Die letzte deutsche Offensive Am 29. September 1944 verließ Leutnant A. J. Duplantier, Jr. aus New Orleans auf der U.S.S. Argentina den Hafen von Boston. Nach einer ungemütlichen Überfahrt und beschwerlichen Märschen durch Regen und Schneetreiben traf er sechs Wochen später mit dem 372. Field Artillery Battalion der 99th Infantry Division an seinem Bestimmungsort unweit der deutschen Grenze, in dem tiefverschneiten belgischen Dörfchen Krinkelt, ein. Mit einigen Soldaten seiner Batterie quartierte er sich auf dem Hof von drei älteren Bauersleuten ein und traf seine Vorbereitungen für die bevorstehende wohlverdiente Erholungspause. Am 14. Dezember notierte Leutnant Duplantier zufrieden: ,,Alles läuft jetzt glatt. Der Oberst hat mir eine Ruhepause gegeben. Hab nichts zu tun, sondern bleib im warmen Haus und zensier die Post, mach Brotzeiten und quatsch herum. Das Haus ist fast so komfortabel wie zu Hause, bloß fehlen fließendes heißes Wasser und Innentoilette."l Besser hätten es A. J. Duplantier und seine Kameraden kaum treffen können. Sehr lieb war ihnen zudem, daß ihr Frontabschnitt im Bereich des V. Corps der First United States Army als ruhig galt; schließlich verfügten sie noch über keinerlei Kampferfahrung. Südlich von ihnen, am linken Flügel des VIII. Corps, das den unmittelbar bevorstehenden Hauptstoß der deutschen Armeen in den Ardennen auszuhalten hatte, lag die 106th Infantry Division von Generalmajor Alan W. Jones, die wohl unerfahrenste an der ganzen Westfront. Sie bestand hauptsächlich aus achtzehnjährigen Wehrpflichtigen, die ebenfalls gerade erst angekommen waren und noch nicht einmal ihre Ausbildung beendet hatten. Als die Soldaten nach langem Transport über vereiste belgische Straßen ihre Unterstände am Westwall bezogen (aus denen ihre Vorgänger auch noch die Öfen ausgebaut und mitgenommen hatten), war ein Fünftel von ihnen krank. Man schrieb den 12. Dezember 1944, die Moral der jungen G.I.s hatte ihren Tiefpunkt erreicht. In den ersten Tagen der deutschen Großoffensive sollten sie von zwei ebenfalls nicht sonderlich kampferprobten deutschen Volksgrenadier-Divisionen einfach überrannt werden. Die im Mittel- und Südabschnitt des VIII. Corps stehende 28th und die berühmte 4th Infantry Division, die am ersten Tag der Invasion am "Utah"-Beach gekämpft hatte, waren dagegen zwei erfahrene Einheiten. In den Herbstkämpfen am Westwall hatten sie aber mehr als 10000 Mann Verluste erlitten, und General Hodges hatte sie deshalb von den Brennpunkten des Krieges abgezogen, um ihnen an diesem ruhigen Frontabschnitt in den Ardennen eine Atempause zu gönnen. So hielt eine , Brief- und Tagebuchsammlung von A. J. Duplantier, Jr.: "The Most Memorable Year of My Life", Eintragung v. 14. 12. 1944; IfZ-Archiv, Material Henke.
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"Mischung von Kindergarten und Altersheim"2 die dünn besetzte, etwa 120 Kilometer lange amerikanische Frontlinie zwischen Monschau im Norden und Echternach im Süden, an der am Morgen des 16. Dezember 1944 die Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall Walter Model zur letzten deutschen Offensive antrat. Leutnant Duplantier wurde an diesem Morgen von einer Wache aus dem Schlaf geholt, die das ungewöhnlich starke Artilleriefeuer nicht recht zu deuten wußte. Er war zunächst nicht sonderlich beunruhigt, merkte aber bald, daß es nicht der übliche ferne Geschützdonner war, der den Posten alarmiert hatte. "Die Granaten pfiffen über das Haus wie bei einer Neujahrsfeier", notierte er später, "und zu allem Übel krepierten sie allenthalben um das Haus. Wir liefen zum Eingang des Hauses (immer noch dunkel) und konnten Blitze sehen und aus jedem Winkel und jeder Ecke des kleinen Orts Explosionen und Granaten heulen hören." Den Soldaten des 372nd Field Artillery Battalion blieb nichts anderes übrig als in den eiskalten Keller zu flüchten, in dem auch die Bauersleute die Beschießung abwarteten. Den jungen Leutnant Duplantier aus Louisiana, der das siegesfreudig gestimmte Boston noch nicht lange hinter sich gelassen hatte und jetzt in Dunkelheit und Kälte unter einem belgisehen Bauernhaus hockte, mochte die plötzliche Wendung des Kriegsglücks, die sich hier eine Woche vor Weihnachten anzukündigen schien, ratlos stimmen. Ein noch schlechteres Los aber hatte die Zivilbevölkerung beiderseits der Grenze gezogen. Sie hatte geglaubt, den Krieg endgültig überstanden zu haben, jetzt kehrte er zurück - wie lange würde es dauern, bis die Gestapo wieder an die Tür pochte? Leutnant Duplantier hat an diesem Morgen im Keller in Krinkelt offenbar gespürt, daß die Rückkehr der Wehrmacht für alle, für die Zivilbevölkerung noch mehr als für die Amerikaner, ein Alptraum war: "Vor allem taten mir die alten Leute leid", schrieb er, "die uns erwartungsvoll und ängstlich anschauten, als ob unser Schutz ihre letzte Hoffnung wäre."3 General Eisenhower, der Oberbefehlshaber der 12. Armeegruppe Omar Bradley und die Kommandierenden Generäle der vier amerikanischen Armeen waren von der Rundstedt-Offensive, wie sie von ihnen bald genannt wurde, ebenso überrascht wie die Truppenkommandeure des V. und VIII. Corps. Sie hatten den drei deutschen Armeen, die in ihrem Abschnitt mit überlegenen Kräften anrannten, anfangs wenig entgegenzusetzen. Die schwache Deckung der Eifel-Front war ein "kalkuliertes Risiko" (Bradley)4 gewesen, da Anfang Dezember 1944 im Alliierten Oberkommando kaum jemand glaubte, die Wehrmacht sei noch zu einem wuchtigen Gegenschlag imstande. Außerdem hatten die Deutschen den Ansatzpunkt der Offensive geschickt verschleiert, so daß die Überrumpelung des Gegners in den Ardennen glückte. Nach dem Krieg haben Militärhistoriker eine Fülle von vermeintlichen oder tatsächlichen Versäumnissen der alliierten Feindaufklärung genannt und auf zahlreiche Anzeichen verwiesen, aus denen die Armeeführung auf den bevorstehenden Großangriff hätte schließen können. Gern werden insbesondere die Ausführungen von Oberst Koch, Pet er Elstob, Hitlers letzte Offensive, München 1972, S. 51. Auf diese gut lesbare Studie, auf das Standardwerk von Hugh M. Cole, The Ardennes: Battle of the Bulge, Washington 1965, und auf das große Werk VOn CharIes B. MacDonald, Tbe Battle of the Bulge, London 1984, stützen sich die Angaben zum militärischen Verlauf der Offensive in erster Linie. Vgl. auch Herrnann Jung, Die Ardennen-Offensive 1944/45, Göttingen 1971. , Brief- und Tagebuchsammlung von A. J. Duplantier, Jr.: "The Most Memorable Year of My Life", Eintragung v. 18. 12. 1944; HZ-Archiv, Material Henke. • Omar N. Bradley, A Soldier's Story of the Allied Campaigns !rom Tunis to the EIbe, London 1951, S. 464. 2
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G-2 im Stab der 3. US-Armee, unmittelbar vor dem Angriff zitiert, die der Sorge Ausdruck gaben, die deutsche Panzermassierung im Westen diene vermutlich einer großangelegten Gegenoffensive. Kenneth Strong, der britische Chef von Eisenhowers G-2 Stab, hat später zu Recht bemerkt, die "Ardennen-Episode" halte manche Lektion für Intelligence Offiziere bereit, "aber keine, die erklären könnte, wie die taktische Überraschung der Deutschen hätte vermieden werden können"). Das Überraschungsmoment war der stärkste Trumpf, den Hitler Ende 1944 noch ausspielen konnte. Nur wenn es gelang, die amerikanische Twelfth Army Group in den Ardennen zu überrumpeln und zu schnellen durchschlagenden Erfolgen zu kommen, konnte der politische Effekt erzielt werden, den sich Hitler von seiner letzten großen militärischen Initiative versprach. Ein Verharren in der Defensive an allen Fronten, so sein Kalkül, konnte die Niederlage und Besetzung des Reiches zwar hinauszögern, aber letztlich nicht mehr abwenden. Die einzige Chance, nicht etwa den nach wie vor propagierten Sieg zu erringen, sondern "eine günstige Beendigung des Krieges"6 zu erreichen, bestand demnach darin, aus einem Aufsehen erregenden Erfolg der Wehrmacht auf dem Schlachtfeld politisches Kapital zu schlagen. Ein strategischer Coup von spektakulärem Ausmaß war aber nur an der Westfront denkbar. italien und der Balkan waren Nebenkriegsschauplätze. Eine im Osten angesetzte Offensive von der Ende des fünften Kriegsjahres noch möglichen Größenordnung mußte bei der Länge der Front, der Stärke der Roten Armee und vor allem wegen des Fehlens eines strategischen Zieles verpuffen. Im Westen dagegen bestand eine winzige Chance, mit einem überrraschenden Vorstoß zum Hauptnachschubshafen Antwerpen das Koalitionsheer der Westalliierten zu spalten, die britische 21. Armeegruppe und einen Teil der amerikanischen Verbände abzuschneiden und ihnen schwere Verluste zuzufügen. In einer Ansprache vor Divisionskommandeuren wenige Tage vor Beginn des "Unternehmens Herbstnebel" (wie der Deckname der Operation schließlich lautete) erläuterte Hitler in seinem Gefechtsstand ,,Adlerhorst" bei Bad Nauheim die politische Notwendigkeit, die militärische Initiative im Westen zurückzugewinnen. Dabei zeichnete er ein düsteres Bild vom inneren Zustand der Feindkoalition: "Wenn hier noch ein paar ganz schwere Schläge erfolgen, so kann es jeden Augenblick passieren, daß diese künstlich aufrechterhaltene gemeinsame Front plötzlich mit einem riesigen Donnerschlag zusammenfällt."7 Stellt man Hitlers politisches Axiom in Rechnung, nach dem Deutschland "niemals, niemals" kapitulieren werde - wie er seinen Kommandeuren noch einmal einhämmerte -, und betrachtet man die militärische Lage, in die er sein Land hineinmanövriert hatte, so war das strategische Kalkül, das hinter seinem Befehl zum Großangriff im Westen stand, keineswegs so abwegig oder irrational, wie häufig gesagt wurde. 8 Es ist letztlich müßig, darüber zu spekulieren, ob Hitler der Gedanke eines Auseinanderfallens des gegnerischen Bündnisses, den er im August
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Kenneth Strang, Geheimdienstchef in Krieg und Frieden, Wien 1969, S. 224. Albert Speer, Erinnerungen, Frankfurt 1969, S. 423. Ansprache Hitlers vor Divisionskommandeuren am 12.12. 1944 im ,,Adlerhorst" in Ziegenberg, in: Helmut Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, Stuttgart 1962, S. 713ff. Vgl. etwa Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 191 ff. Siehe aber Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt 1973, S. 982.
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immerhin noch als "naIV abgetan hatte 9 , bei seiner Entschlußbildung bald darauf plausibler erschien. Denn so falsch seine Vorstellungen vom tatsächlichen Zustand der Anti-Hitler-Koalition auch waren, der vorzeitige Bruch dieser nicht allzu fest gefügt erscheinenden Allianz war innerhalb des Horizonts der deutschen Führung die einzige Chance, die Ende 1944 überhaupt noch geblieben war, einen glimpflichen Kriegsausgang zu erreichen. Hitler hatte Goebbels schon bald recht detailliert in seine Pläne zu einer großen Winteroffensive eingeweiht, von der er sich, wie er seinem Propagandaminister Ende Oktober am Telefon sagte, "außerordentlich viel" verspreche. lO An der Westfront müsse man, so Hitler, "jetzt die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen"; sogar das Wort "Cannae" fiel. Generaloberst Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes, der den Ablauf der Ardennen-Offensive maßgeblich geplant hatte, beschrieb ein halbes Jahr vor seiner Hinrichtung das Kalkül Hitlers einleuchtend mit den Worten: "In einer verzweifelten Lage kann nur ein verzweifelter Entschluß vielleicht noch helfen."ll Auch der Generalstab der Twelfth Army Group versuchte Hitlers Strategie zu deuten. Unmittelbar nach deren Scheitern kamen die Intelligence Offiziere General Bradleys zu dem Schluß, das politische Ziel des Großangriffes sei es wohl gewesen, die Spannungen zwischen den Alliierten zu verschärfen "und für Deutschland bessere Friedensbedingungen zu erreichen als eine bedingungslose Kapitulation"l2. Hitlers Heerführer waren gegen eine Operation mit so weitreichender Zielsetzung. Sie plädierten für eine "kleine Lösung", einen begrenzten Gegenstoß im Raum Aachen, weil sie ihren Truppen mit guten Gründen keine durchschlagende Großoffensive mehr zutrauten. Die "kleine Lösung" war militärisch vernünftig, aber politisch uninteressant. Hitler hielt deshalb - aus seiner Sicht ebenfalls mit gutem Grund - an seinen seit August 1944 reifenden Plänen fest. Er wollte jetzt noch einmal alles auf eine Karte setzen. So enthielt der Tagesbefehl, der von Generalfeldmarschall v. Rundstedt am 16. Dezember 1944 ausgegeben wurde, mehr als nur die übliche Aufmunterung der Truppe vor dem Angriff. Der Oberbefehlshaber West gab genau Hitlers Kalkül wieder, wenn er seine Soldaten mit den Worten anfeuerte: "Es geht ums Ganze!"lJ Aus Gründen der Geheimhaltung erfuhr die deutsche Bevölkerung erst mit zwei Tagen Verzögerung vom Beginn der Offensive in den Ardennen, auf die die deutsche Führung nach Goebbels' Worten die "größten Hoffnungen"l4 setzte. Der Wehrmachtsbericht sprach von einer "großen Angriffsschlacht", der Völkische Beobachter kündete in großer Schlagzeile von der "Deutschen Offensive im Westen"l5. Die Begleitmusik der Propaganda blieb aber verhalten, denn zu oft hatte sie schon übertriebene Erwartungen bei der Bevölkerung geweckt, die dann einer nur um so größeren Enttäuschung Platz machten. Zum ersten Mal seit langem bot sich in der Vorweih9 10
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Heiber (Hrsg.). Hitlers Lagebesprechungen, S. 614. Goebbels-Tagebücher, Eintragung v. 28.10. 1944. Die bei den folgenden Zitate finden sich in einer noch nicht genau zu datierenden Eintragung von Anfang November 1944; HZ·Archiv, EO 172. Randnotiz Jodls v. 21.3. 1946 zu einer militärgeschichtlichen Studie; zit. nach Jung, Ardennen-Offensive, S. 20l. Twelfth Army Group, G·2, Weekly Intelligence Summary Nr. 22 v. 9. l. 1945, Annex Nr. 3; NA, RG 331, Hqs Twelfth Army Group, G-2, Intelligence Branch, Entry 176. Der Befehl ist abgedruckt bei Jung, Ardennen-Offensive, S. 35l. Goebbels-Tagebücher, Eintragung v. 17.12. 1944; HZ-Archiv, EO 172. Wehrmachtsbericht v. 18. 12. 1944; Völkischer Beobachter, 19.12. 1944.
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nachtswoche 1944 für Goebbels' Propagandisten, die lange von der Hand in den Mund gelebt hatten, die Gelegenheit, eine vermeintlich uneingeschränkt positive Nachricht zu präsentieren; da erschien ein selbstbewußter, aber nüchterner Ton am Platze. Alle "Überschwänglichkeiten" wollte der Propagandaminister deshalb vermieden wissen. t6 Die Bewohner des amerikanisch besetzten Grenzgebietes, in deren Nachbarschaft die Schlacht jetzt tobte, erfuhren von der Offensive später als die Bevölkerung in den übrigen Reichsgebieten. Im Besatzungsgebiet waren die Rundfunkgeräte beschlagnahmt, die Nachrichtenblätter der Alliierten erschienen unregelmäßig. In Aachen etwa wußte man bis zum 20. Dezember nichts von den Kämpfen, im Landkreis Saarburg erreichten "Gerüchte über eine große deutsche Gegenoffensive" die Bevölkerung erst einen weiteren Tag später. 17 Die sensationelle Nachricht von der Westfront verfehlte ihre Wirkung nicht. Weniger Jubel als Verwunderung und ungläubiges Staunen darüber, daß die Wehrmacht "zu einer solchen Operation überhaupt in der Lage" sei, bestimmte nach den Meldungen der Reichspropagandaämter den Tenor der ersten Reaktionen. tB In der Zusammenfassung von Stimmungsberichten aus allen Teilen des Reiches für Minister Goebbels stand beispielsweise zu lesen, oft sei in diesen Tagen der Satz zu vernehmen gewesen: "Welch ein schönes Weihnachtsgeschenk!" Oder es hieß, die Nachricht von der Westoffensive könne in ihrer Auswirkung auf die Haltung der Volksgenossen nur mit einem "reichlichen Regenfall nach langer Trockenheit" verglichen werden, sie habe die Stimmung der Bevölkerung "ruckartig hochgerissen"19. Der SD schrieb ein Vierteljahr später rückblickend, die Offensive habe um die Weihnachtszeit 1944 noch einmal ein "großes Aufleuchten"20 bewirkt. Joseph Goebbels hielt kurz nach Beginn der Offensive in seinem Tagebuch den Eindruck fest, das Volk sei "auf das tiefste beglückt", daß die Wehrmacht wieder die Initiative übernommen habe: "In Berlin wird am Abend die gesamte Weihnachts-Schnapszuteilung verkonsumiert." In der Nacht vom 18. zum 19. Dezember erreichte den Propagandaminister der Anruf Hitlers aus dem ,,Adlerhorst", der nach dem Eindruck von Goebbels infolge des guten Starts im Westen "eine grundlegende Wandlung seiner ganzen Mentalität durchgemacht" habe. "Der Führer gibt der Meinung Ausdruck, daß die 1. USA-Armee als völlig zerschlagen angesehen werden könne."2! Auch in vielen anderen überlieferten Aufzeichnungen und Briefen ist ein vorübergehendes Aufflackern mindestens der Hoffnung auf einen erträglichen Kriegsausgang zu bemerken. Der Lyriker und Erzähler Emil Barth in Haan bei Solingen etwa notierte unter dem 18. Dezember in sein Tagebuch: "Noch einmal eine deutsche Gegenoffensive im Westen: und sofort erscheint Unzähligen das 16 17
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Goebbels-Tagebücher, Eintragung v. 17.12.1944; HZ-Archiv, ED 172. Vgl. Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 13 v. 23. 12. 1944; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Entry 87. Bericht des Military Governrnent Detachments 15G2 für Dezember 1944; NA, RG 331, 627. ECAD, 2nd ECAR, Jacket I!. Zusammenfassender Bericht des Propagandastabes für Goebbels v. 19.12. 1944; BA, R 55, Nr. 601. Vgl. auch Marlis G. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. 527 H. Zusammenfassender Bericht des Propagandastabes v. 19. 12. 1944 und v. 28. 12. 1944; BA, R 55, Nr. 601. Vgl. als Beispiele für die Berichterstattung auf mittlerer Ebene den Monatsbericht des Regierungspräsidenten in Würzburg für Dezember 1944 v. 9. I. 1945 oder den Bericht des Regierungspräsidenten von Mittelfranken v. 10. I. 1945; Bay HStA, MA 106 695. Zusammenfassender Bericht des SO von Ende März 1945 (0.0.); zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 575. Goebbels-Tagebücher, Eintragung v. 19.12.1944; HZ-Archiv, ED 172.
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Unmögliche wieder möglich."22 Für den Betriebsleiter der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken A.G., der seit vielen Wochen in fieberhafter Tätigkeit die Evakuierung seines nördlich Aachens gelegenen Oberbrucher Kunstfaserwerkes organisierte 23 , schien sich ebenfalls über Nacht alles verändert zu haben. Es bewahrheite sich wieder einmal, "daß unser Führer das hält, was er gesagt hat", schrieb er zu Weihnachten an den Vorstandsvorsitzenden der Glanzstoff. 24 Am 19. Dezember hatte er bereits eine Unterredung mit dem Kreisleiter gehabt "und bei dieser Gelegenheit auch die Frage der Wiederaufnahme des normalen Lebens in unserem Kreise eingehend besprochen"25. In den weiter entfernt liegenden Teilen des Reiches, wo selbst ein durchschlagender Erfolg der Offensive keine sofortige Erlösung von dem immer unerträglicher werdenden Bombenkrieg versprach, scheinen die Nachrichten von der Front weniger elektrisierend gewirkt zu haben. Die Beamten in den kleinen Gendarmerieposten oder den SD-Außenstellen und auch die Landräte blieben trotz des deutschen Paukenschlages im Westen recht nüchtern. Die kleine Gendarmeriestation Buchbach im oberbayerischen Landkreis Mühldorf etwa meldete zwei Tage nach Bekanntgabe des Angriffs: "Die neue Offensive der Deutschen an der Westfront hat nur im ersten Augenblick etwas Mut und Aufgeschlossenheit geschaffen, ist aber im allgemeinen schon wieder abgeflaut. Man steht abwartend dieser neuen Entwicklung gegenüber. Die Bevölkerung auf dem Land ist an sich nicht bösartig eingestellt, aber umso mehr ängstlich ist sie und besonders die vielen und immer schwerer werdenden Terrorangriffe nehmen der Landbevölkerung noch die letzte Hoffnung."26 Der Landrat im benachbarten Bad Aibling erwähnte die Ardennen-Offensive in seinem Dezemberbericht an das Regierungspräsidium in München überhaupt nicht. Er leitete sein Schreiben mit dem Satz ein: ,,Alle Gedanken und Sorgen der Bevölkerung kreisen um den Luftkrieg", es herrsche mittlerweile ein "Gefühl fast völliger Schutzlosigkeit'7 Vgl. Roth, Der Weg zum guten Stern des "Dritten Reichs", in: Das Daimler-Benz-Buch, S. 318. 251
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fort, "werden bei den anderen Werken die Verhältnisse nicht so liegen, namentlich nicht bei der MAN, obwohl ich immer wieder darauf gedrängt habe, mit den Reichsbehörden abzurechnen, was nur abzurechnen war."258 Ebenfalls zur unternehmerischen Existenzsicherung im Umbruch gehörte es bei den insbesondere auf ihre Innovationskraft angewiesenen Konzernen, lebenswichtige Forschungs- und Fertigungsunterlagen sowie unersetzliche Geräte in Sicherheit zu bringen. Die Vereinigte Glanzstoff AG reagierte dabei beinahe seismographisch auf die Entwicklung der militärischen Lage. Das absolut unverzichtbare Überlebenskapital der VGF waren Tausende aus einer Gold/Platin-Legierung hergestellte Spinndüsen. Fielen sie den Bomben oder beutemachenden G.I.s zum Opfer, stand die Existenz des ganzen Unternehmens auf dem Spiel. Schon bei der Evakuierung des an der Westgrenze gelegenen Werkes Oberbruch im Herbst 1944 hatte der Betriebsführer die 4000 Spinndüsen wie seinen Augapfel gehütet und als erste nach Wuppertal zurückgeführt. 259 Auch in den anderen VGF-Werken galt das Augenmerk vor allem der Rettung der Düsen. Im November 1944 kamen die Düsen des aufgegebenen Kolmarer Betriebes in Obernburg am Main an, im Februar wurden die Breslauer Düsen auf abenteuerlichem Wege nach Mitteldeutschland gebracht, im März wurde beschlossen, die Düsen aus dem sächsischen Raum "möglichst schnell weiter nach Westen" zu verbringen. So gelang es der Glanzstoff AG, die Masse ihrer Spinndüsen über den Zusammenbruch zu retten. Bereits Mitte April 1945 lagerten die meisten an sicherem Ort, in den Safes von Banken und Sparkassen, in werkseigenen Tresoren, 65.000 Stück waren in der Wohnung eines Werksdirektors versteckt. Der Goldschatz der Glanzstoff hatte ein Gewicht von nicht weniger als sieben Zentnern, doch überstieg sein Wert für die Firma, als die Produktion nach dem Krieg wieder begann, den Materialwert um ein Vielfaches. 260 Als die Alliierten sich in der dritten Märzwoche zur Überschreitung des Rheins anschickten, sah auch der Siemens-Vorstand in Berlin den Augenblick gekommen, das geistige Eigentum der Firma und wichtige Spezialgeräte in Sicherheit zu bringen. Als willkommener Vorwand ihres Abtransports zu den Gruppenleitungen im Süden diente das im Januar proklamierte Rüstungsnotprogramm. Die konzernintern als geheim deklarierte Aktion sah als "Sofort-Maßnahmen" unter anderem die Verfrachtung folgender Gegenstände vor: ,,Alle Zeichnungsunterlagen für unsere Stammgeräte", "sämtliche Schaltunterlagen", "auch alle Fertigungsunterlagen wie Fertigungspläne", "alle Werkzeug- und Lehrenzeichnungen, Zeichnungen von Spezialmaschinen", "Spezialwerkzeuge", "Werkzeugmaschinen", "Spezialwerkstoffe", "Gebrauchswerkzeuge" und "hochwertige Werkzeuge", aber auch "Fachspezialisten, wie Ingenieure und Facharbeiter, in ausreichender Zahl". Abschließend hieß es in der Betriebsanordnung: "Für die zur Durchführung der vorstehenden Maßnahmen notwendigen Transporte, die einen verhältnismäßig großen Umfang haben werden, sind alle nur irgendwie möglichen Wege zu beschreiten und Mittel aufzuwenden."261
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Schreiben Hermann Kellermanns v. 26.5. 1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Zur Evakuierung des VGF-Werkes in Oberbruch vg!. die einschlägigen Unterlagen im VGF-Archiv. Siehe auch 1/6. Vermerk "Unterbringung der Spinndüsen, Stand 14. April 1945". Zitat in einer Aktennotiz des Vorstands v. 2.3. 1945; VGF-Archiv, o. Sign. ,,Aktenvermerk" v. 19.3. 1945; Siemens-Archiv, l1/Lg 690, von Buo!.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Neben der Sicherung von unentbehrlichen Verfahrensunterlagen und wertvollen Produktionsmitteln war die möglichst vollständige Beibehaltung der Stammbelegschaft und der Führungskräfte ein weiteres erstrangiges Anliegen der Konzerne. Ein qualifizierter Mitarbeiterstamm war die Voraussetzung jeglicher Nachkriegsproduktion, wie bescheiden sie auch immer sein mochte. Die großen Unternehmen unterschieden nun sehr genau, welche Mitarbeiter dafür entbehrlich waren und welche nicht. Genau wie alle anderen Unternehmen, stand die VGF in der Phase der Drosselung und des Auslaufens der Produktion gegen Kriegsende vor der Aufgabe, hier einen betriebswirtschaftlich gangbaren und zugleich sozial verträglichen Weg oder besser: eine Lösung zu finden, die sich durchsetzen ließ, ohne daß es dabei - insbesondere nach dem Fall des Regimes - in der Belegschaft zu gefährlichen Eruptionen kam. Als allgemeinen Grundsatz formulierte der Vorstand der VGF Mitte März 1945 dazu: "Die Glanzstoff-Familie muß die wirklichen Familienmitglieder, d. h. die Stammgefolgschaften, auch in schlechten Zeiten nach Möglichkeit durchhalten."262 Um die Entlassung von langjährigen Betriebsangehörigen zu vermeiden, boten sich verschiedene Notlösungen an. Die Unternehmensleitung konnte zur Abwicklung des Tarifurlaubs aufrufen und unbezahlten Urlaub gewähren, sie konnte meist schon seit langem anstehende Instandsetzungsarbeiten oder die Beseitigung von Kriegsschäden am Werk vornehmen lassen, schließlich konnte der Betrieb zur Senkung des Lohnkontos bei Teilen der Belegschaft beispielsweise auch eine Dienstverpflichtung durch das Arbeitsamt (das dann eine geringe Unterstützung zahlte) vornehmen lassen. Den eigenen Mitarbeiterstamm auf Staatskosten zusammenhalten zu lassen, war in den letzten Kriegmonaten aber kein ungefährliches Spiel, wo während der wiederholten Auskämmaktion überall der "Heldenklau" auf Männer lauerte, die eingezogen werden sollten. Um die Einberufung kriegsverwendungsfähiger Arbeiter zu verhindern, war es deshalb ratsam, eine etwa bevorstehende Stillegung möglichst lange zu verschleiern. Wenn es sich einigermaßen glaubhaft machen ließ, sprach man am besten von "vorübergehender Produktionseinschränkung". Solche Fiktionen, die der Armee die dringend gesuchten Soldaten vorenthielten, waren freilich meist nicht unbegrenzte Zeit aufrechtzuerhalten. Wesentlich eleganter und wirkungsvoller war es in dieser Lage, als riistungswichtiger Betrieb eingestuft zu werden oder in irgendeinem kriegswichtigen Sonderprogramm, in dem erwähnten Notprogramm etwa, unterzukommen. Genauso wie sein Kollege Fritz Lüschen als Leiter des Hauptausschusses Elektrotechnik hatte auch Generaldirektor Vits bewiesen, daß er dank seiner Stellung als Präsident der Reichsvereinigung Chemische Fasern in der Lage war, seinem Betrieb sachlich nicht gerechtfertigte, aber überaus dienliche Dokumente aus dem Rüstungsministerium zu verschaffen. Daß Vits in der Endphase des Krieges sich bei allem äußeren Mittun kaum noch um die Erfordernisse des "totalen Krieges" scherte, sondern sich inzwischen ganz an den Interessen seines Konzerns orientierte, zeigt seine Behandlung eines Vorfalls, der die Konzernleitung im März 1945 beschäftigte. Es ging um die Frage, ob der Werksleiter im sächsischen Elsterberg sich richtig verhalten hatte, als er - um die Belegschaft zusammenzuhalten - gegenüber dem örtlichen Arbeitsamt die wirkliche Lage seines Betriebes verschleiert und dabei auch finanzielle Nachteile in 262
"Notiz Vits an den Vorstand" v. 6.3. 1945; zit. nach Vaubel, Zusammenbruch, S. 238. Zum folgenden siehe auch die Notiz des Leiters der Arbeitsverwaltung des Konzerns für den Vorstand "Stillegung der Werke; Grundsätze für den Arbeitseinsatz" v. 19.2. 1945; VGF-Archiv, o. Sig.
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Kauf genommen hatte. Der Werksleiter habe sich "absolut richtig verhalten", stellte der Vorstandsvorsitzende Vits dazu klar. "Wenn er, bevor die Eingruppierung ins Führernotprogramm erfolgt war, dem Arbeitsamt eine Mitteilung über die Stillegung gemacht hätte, so wäre sofort der gesamte Apparat zerschlagen worden. [Der Betriebsleiter] mußte daher zunächst Zeit gewinnen. Es war richtiger, deshalb mit dem Arbeitsamt nur vorläufige Absprache zu treffen, auch wenn dadurch finanzielle Nachteile entstanden."263 Das Werk Elsterberg, das vor der Stillegung stand, betrieb seine Aufnahme in das "Führernotprogramm" von Ende Januar 1945 also offenkundig keineswegs deshalb so energisch, um sich in die letzten Kriegsanstrengungen des untergehenden Regimes einzureihen, sondern es bediente sich vielmehr eines vom Betriebsinteresse diktierten einfachen Tricks - ein weiteres Beispiel in der langen Kette von Belegen dafür, wie intensiv sich die Industrie am Ende der NS-Ära auf die Zeit nach Hitler einstellte. Was die Lohnfortzahlung in den nächsten Krisenmonaten anging, so hatte der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Josef Abs dem Vorstandsvorsitzenden der Glanzstoff schon im Februar 1945 das Plazet gegeben, Löhne und Gehälter sogar bei völliger Drosselung der Produktion "möglichst weitgehend" weiterzuzahlen. Die nicht beschäftigten Schlüsselkräfte erhielten, wenn nötig, auch über längere Zeit hinweg, eine "Notstandsbeihilfe" bis zu einer Höhe von monatlich 260 RM. Vits betonte vor und nach der Kapitulation wiederholt, trotz größter Sparsamkeit müsse das Unternehmen "natürlich die soziale Seite berücksichtigen" und "die arbeitswilligen Gefolgschaftsmitglieder möglichst bald wieder einsetzen"264. Das Zusammenrücken von Firmenleitung und Stammbelegschaft in den Umbruchsmonaten beruhte auf handfestem gegenseitigen Interesse: Erhaltung des angestammten Arbeitsplatzes hier, Erhaltung des Produktionsfaktors Arbeitskraft dort. Doch das war es nicht allein. Selbst wenn man das Wort von der "Glanzstoff-Familie" nur für paternalistische Schaumschlägerei hielte, sind - ebenso wie bei Siemens und anderen Konzernen - der ausgeprägte Zusammenhalt innerhalb der Betriebe und zwischen den einzelnen leitenden Persönlichkeiten in den oberen Etagen des Konzerns, die emotionale Betriebsbindung in der Zeit akuter Bestandsgefährdung beinahe mit Händen zu greifen und ein unbestreitbares Faktum. Es führt deshalb in die Irre, davon zu sprechen, die Konzerne hätten in der Endphase des Krieges versucht, den Facharbeiterstamm "an sich zu ketten"265. Das gewissermaßen übertariflich erbrachte Engagement gerade in den Monaten, wo die meisten Anordnungen der Konzernleitungen einfach als "undurchführbar", "unerreichbar", "unmöglich" hätten deklariert werden können, gründete gewiß mit in der ganz persönlich empfundenen Verpflichtung, seinen Teil zur Bewahrung der Substanz der Firma beizutragen; diese Einstellung ist durchaus auch bei einfachen Arbeitern und Angestellten zu beobachten. Die Bedeutung dieser Tatsache für den weiteren Weg des Unternehmens hat der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten GlanzstoffFabriken, auf seine Schlüsselkräfte gemünzt, 1955 rückschauend in einer Aufsichts-
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"4 26'
Notiz des Vorstandsvorsitzenden für den Leiter der Arbeits- und Sozialabteilung der Hauptverwaltung v. 16.3. 1945; VGF-Archiv, 02-6-1-2. Schreiben von Vits an Abs v. 26.5. 1945; VGF-Archiv, Chronikmappe. Siehe hierzu auch die Aufzeichnungen des Chef justitiars der VGF v. 12.3. 1945; VGF-Archiv, B6-10-9. Piskol, Konzeptionelle Pläne, S. 312.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ratssitzung besonders hervorgehoben. Durch die "Bewährung einer Notgemeinschaft", sagte Vits, "schafften wir die psychologische Voraussetzung für den Wiederaufbau"266. Auch wenn sich zehn Jahre nach der Kapitulation das Bild von der Bewährung der "Glanzstoff-Familie" im Krieg bereits ein wenig rosa eingefärbt hatte, ist es richtig, daß das Klima bei der VGF und in anderen Industriebetrieben während des Umbruchs mehr von Kooperation als von Konflikt bestimmt war und in starkem Maße einen notgemeinschaftlichen Akzent trug. Diese "Notgemeinschaft", von der Vits in der Aufsichtsratssitzung sprach, war bei Kriegsende vor allem eine durch vielfältige persönliche und kollegiale Bindungen untermauerte Notgemeinschaft der Führungskräfte gewesen. Was sich dagegen zwischen Belegschaft und Firmenleitung in den kritischen Umbruchsmonaten herauskristallisierte, war eine ausgeprägte Betriebssolidarität bei naturgemäß weiterbestehenden Interessengegensätzen. In welcher Weise der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital nach dem Fall des Regimes aufbrechen würde, war ungewiß. Auch wenn keinerlei Anzeichen etwa auf eine revolutionäre Stimmung der Belegschaft hindeuteten, konnten die Betriebsleitungen sich in den letzten Kriegsmonaten gleichwohl nicht sicher sein, daß es nicht doch - wie 1918 - zu radikalen Aktionen und revolutionärer Agitation unter den Arbeitern kommen würde. Die Vorstände in den Industrieunternehmen waren sich der politischen Gefahren, die nach dem Zusammenbruch drohten, bewußt und taktierten entsprechend vorsichtig, wie noch zu zeigen sein wird. 267 In vielen Großunternehmen ist eine ganz ähnliche Personalpolitik zu beobachten wie bei der Vereinigten Glanzstoff. Der Vorstand des Kali-Giganten Salzdetfurth AG beispielsweise beschloß im Februar 1945, der Stammbelegschaft die Arbeitsplätze unabhängig von Rentabilitätserwägungen nach Möglichkeit zu erhalten: "Die Betriebe müssen in dieser ernsten Zeit", schrieb der Vorstandsvorsitzende in einem Rundschreiben an seine engen Mitarbeiter, "sich als feste Ordnungsblocks bewähren und nach dem Grundsatz ,Treue um Treue' handeln."268 Recht bestimmt verfuhr offenbar die I.G. Farbenindustrie bei der Formierung ihrer Nachkriegsbelegschaft. In ihrem Uerdinger Werk war nach der Besetzung durch die Amerikaner sämtlichen Beschäftigten gekündigt worden. Dazu befragt, erläuterte ein Vertreter der Betriebsleitung der bereits wieder konstituierten Krefelder Handelskammer die Politik des I.G.-Werkes: "In dem Werk", sagte er, "seien sehr viele Ausländer, Halbtagsfrauen und Dienstverpflichtete beschäftigt gewesen, die er nicht im eigentlichen Sinne zur Gefolgschaft rechnen könne und von denen das Werk sich lösen wolle. Er habe die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, in der Kündigung gesehen." Der Betrieb werde aber selbstverständlich, so hob der I.G.-Manager hervor, für seine Stammbelegschaft sorgen. Da er damit rechne, daß die chemische Industrie "ziemlich schnell" wieder in Gang kommen werde, wolle er aber vermeiden, "daß sich an das Werk Leute anhängen, die nicht hineingehören"269. Es wird ins einzelne gehender Studien zu unterschiedlichen Branchen und Betriebsgrößen bedürfen, um die Charakteristika der Personalpolitik in industriellen Unternehmen während der Umbruchsmonate genauer zu bestimmen. Im266
267
,6' 269
"Die Entwicklung von Glanzstoff von 1945 bis 1955". Bericht für die Aufsichtsratssitzung am 27.6. 1955; VGF-Archiv, o. Sign. Vgl. V/3. Rundschreiben v. 14.2. 1945; zit. nach Herbst, Totaler Krieg, S. 407. Protokoll der "Sitzung der Fachvertreter" am 20.3. 1945; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 2517-1. Herrn Dr. Weise danke ich für die Unterstützung meiner Recherchen.
2. Wirtschaft und Besetzung
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merhin ist klar, daß die Konzerne in dieser kritischen Phase keineswegs allein nach vordergründigen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten verfuhren, sondern jedenfalls hinsichtlich ihrer deutschen Belegschaftsmitglieder einen fürsorgerisch-attentistischen Kurs für besser und politisch klüger hielten. Ganz auf der Linie der in der Schlußphase des Krieges bewiesenen Findigkeit bei den Maßnahmen zur Existenzsicherung und Substanzerhaltung lagen Virtuosität und Hartnäckigkeit, mit der die großen Unternehmen normalerweise sämtliche Hebel in Bewegung setzten, Wehrmachtseinheiten davon abzubringen, dem einmarschierenden Feind in Firmennähe oder gar auf dem Werksgelände selbst entgegenzutreten. Bei der Vereinigten Glanzstoff war diese Haltung schon während der ersten unmittelbaren Feindbedrohung des an der Westgrenze gelegenen Werkes Oberbruch im Herbst 1944 zutage getreten. Damals hatte sich der Betrieb sehr beunruhigt darüber gezeigt, daß die Wehrmacht "leider auch in unmittelbarer Nähe des Werkes" ein Geschütz in Stellung gebracht hatte 270 Nicht weniger alarmiert reagierte Mitte März 1945 der Gruppenleiter West von Siemens in Mülheim an der Ruhr, als sich in Firmenbüros Wehrmachtspersonal einzuquartieren begann. Sofort setzte er "alle Hebel in Bewegung", wie er nach Berlin schrieb, "um das Militär wieder herauszubekommen". Nicht ohne Erfolg, denn kurz darauf konnte er die Firmenräume als "militärfrei" melden.27I Mit genau dem gleichen Problem hatte sich die Betriebsleitung des VGF-Werkes in Obernburg am Main herumzuschlagen. Hier löste bereits ein Antrag einer Panzerinstandsetzungskompanie schlimmste Befürchtungen aus. Die Einheit wollte eine Werkshalle belegen, in der etwa 35 uniformierte Mechaniker Panther-Motoren austauschen und überholen sollten. Der Antrag der Wehrmachtseinheit wurde erst einmal abgelehnt, und zwar unter Hinweis auf die unter Dringlichkeitsstufe stehende eigene Fertigung, "die nicht durch auffällige Wehrmachtsfertigung gefährdet werden" dürfe 272 Auch wenn sich das Werk Obernburg damit vermutlich nicht behauptet hat, so ist hier wie bei den anderen Beispielen weniger der Ausgang dieser alltäglichen Episoden von Interesse als die Haltung der Betriebsleitungen, die dabei zum Ausdruck kam. Hundert andere Beispiele könnten belegen, daß sich andere Unternehmen genauso verhielten wie VGF und Siemens. Alle übergeordneten nationalen Anstrengungen, wie Wehrmacht, Staat und Partei sie in der Endphase des Krieges forderten, wurden in der nüchternen Einschätzung, daß sie letztlich fruchtlos bleiben würden, entschlossen konterkariert, sobald sie mit den Betriebsinteressen kollidierten. Gemessen an den Forderungen und Erwartungen der Staatsführung und gemessen an den Zwängen und Strapazen, die die Bevölkerung, sei es in der Armee, im Betrieb oder zu Hause in den letzten Kriegsmonaten auf sich zu nehmen hatte, war die Entscheidung des Werkes Obernburg beispielsweise reiner Defaitismus gewesen. Denn wer wollte jetzt, wo die Amerikaner am Rhein standen, bestreiten, daß die rasche Reparatur von Panzern wichtiger war als die Herstellung von Kunstfaserprodukten, die keinerlei Aussicht mehr hatten, noch in die Endverarbeitung zu gelangen? Diese Art des verdeckten Defaitismus, der lautlosen, aber endgültigen Aufkündigung der Loyalität gegenüber einem Regime, dem man immerhin einiges zu verdanken hatte, das einen nun aber 270 271
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Schreiben eines Belegschaftsmitgliedes an den Vorstand v. 19.9. 1944; VGF-Archiv, Chronikmappe. Schreiben des Gruppenleiters West an Siemensstadt v. 14.3. 1945; Siemens-Archiv, 11.43/Lm 394, von Witzleben. Notiz des technischen Vorstandsmitgliedes für seine Kollegen v. 13. 3. 1945; VGF-Archiv, o. Sign.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
mit in den Untergang zu reißen drohte, beruhte auf dem nüchternen Kalkül, das den klugen Unternehmer auszeichnet. Der "Selbsterhaltungstrieb" gebot den Defaitismus geradezu. Trotz gelegentlicher späterer Stilisierung hatte solches Verhalten mit prinzipieller Opposition gegen das Regime nicht das geringste zu tun - selbst wenn es von diesem natürlich so aufgefaßt werden mußte und häufig auch entsprechend geahndet wurde. Das ehedem imponierende Schiff sank jetzt, und gerade die Männer der Wirtschaft waren umsichtig und vernünftig genug, sich so rechtzeitig und unauffällig von Bord zu begeben, daß es dem Kapitän und seinen letzten Getreuen normalerweise verborgen blieb. Es gab freilich auch vereinzelt Wirtschaftsführer, die in den letzten Kriegsmonaten nicht merkten oder nicht bemerken wollten, worauf es mittlerweile allein noch ankam. Mitunter sind uneinsichtige oder als politisch nicht verläßlich eingestufte leitende Angestellte darüber von der Unternehrnensleitung auch bis zuletzt im unklaren gelassen worden. Einer dieser Unwissenden war der Werksleiter der zum Krupp-Konzern gehörenden Friedrich Alfred-Hütte im linksrheinischen Rheinhausen. Kern des kaum noch zu entwirrenden Knäuels von Vorwürfen und Gegenvorwürfen zwischen dem Hüttendirektor (der auch sonst kein einfacher Mitarbeiter gewesen zu sein scheint) und der Unternehmensleitung in Essen war die Tatsache, daß dieser sich kurz vor der amerikanischen Besetzung Rheinhausens Anfang März 1945 auf das andere Rheinufer abgesetzt und damit seinen Betrieb (sei es entgegen ausdrücklicher Weisung aus Essen, sei es aufgrund mißverständlicher Anweisungen oder sei es aus Gehorsam gegenüber den Anordnungen des Rüstungskommandos) nach Ansicht der Konzernleitung im Stich gelassen hatte. Gegen diesen - wie er es empfand - ihm angehefteten "Makel", der seiner weiteren Karriere, typischerweise, ziemlich hinderlich gewesen zu sein scheint, kämpfte der Direktor 1948 in einer zur Philippika gesteigerten Rechtfertigungsschrift heftig an. Aber darin offenbarte der anscheinend tief verletzte frühere Hüttendirektor noch immer auffallend wenig Einsicht in die Existenzsicherungsstrategie seiner Firma, in das, wie er schreibt, "damals plötzlich zu Tage tretende Grundmotiv des Handelns der Konzernleitung". Sein Hauptvorwurf zielte drei Jahre nach Kriegsende noch immer auf die mangelnde Gradlinigkeit des Direktoriums bei der Führung eines Konzerns, der Generationen hindurch doch "regierungstreu" gewesen und 1945 durch "plötzliches Umschwenken" sich selbst untreu geworden sei; das sei kein Ruhmesblatt gewesen: "Verbunden mit diesen Vorgängen", so schreibt er weiter, "war wieder die Untreue durch Preisgabe der Männer aus den eigenen Reihen, die von diesem heimlichen Flaggenwechsel nichts wußten und den alten Kurs einhielten."273 Entweder gehörte der Werksleiter der Friedrich Alfred-Hütte in Rheinhausen unter den führenden Männern der Wirtschaft zu der seltenen Spezies, die bis zum Frühjahr 1945 - ob aus Weltfremdheit oder politischer bzw. patriotischer Betriebsblindheit bleibe dahingestellt - nicht bemerkt hatten, welche Haltung die Unternehmensinteressen mittlerweile erforderten, oder aber das Krupp-Direktorium hatte es für geraten gehalten, ihren Hüttendirektor nicht in vollem Umfang ins Vertrauen zu ziehen. Das eine spräche so wenig für ihn wie das andere.
273
"Niederschrift über die Vorgänge um die Stillegung der Friedrich Alfred-Hütte Rheinhausen im Frühjahr 1945" v. 20.1. 1948; Krupp-Archiv, WA VII f 1134. Hervorhebung von mir.
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In Erwartung der Amerikaner Unvermeidlich ruft die historiographische Verdichtung den Eindruck einer erstaunlichen Stringenz des Handeins der industriellen Elite bei der von ihr betriebenen Substanzsicherung und Friedensvorsorge hervor. Einigen der genannten DDR-Arbeiten der sechziger und siebziger Jahre wurde dies geradezu zum Ausdruck unbeirrbaren kapitalistischen Kalküls. Wie für fast alle Menschen waren die Umbruchsmonate in Wirklichkeit aber natürlich auch für die Wirtschaftsführer von zahlreichen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten bestimmt. Das mag eine kleine, von Theodor Eschenburg überlieferte Szene 274 verdeutlichen, wie sie sich 1944/45 in ähnlicher Weise oft abgespielt haben wird. In der ersten Etage einer vor dem Ersten Weltkrieg für Hjalmar Schacht erbauten Villa in Berlin saßen im Frühsommer 1944 fünf Männer in angeregtem Gespräch zusammen, die sich seit längerem kannten. Drei von ihnen lebten in diesem Haus. Ihre Familien waren evakuiert. Im Parterre wohnte Herbert Rohrer, Vorstandsvorsitzender von Osram, im oberen Stockwerk Karl Guth, Hauptgeschäftsführer der Reichsgruppe Industrie, gleich nebenan in einem Appartement Theodor Eschenburg, damals Syndikus der Knopfindustrie. Karl Blessing, Leiter eines großen Erdölunternehmens, wohnte auf der gegenüberliegenden Seite dieser ruhigen Seitenstraße. Auf Besuch war ferner Ludwig Erhard, der Leiter des "Institut für Industrieforschung" genannten, von der Reichsgruppe Industrie gestützten Fürther Ein-Mann-Betriebes. Seine Dienstreisen führten ihn häufiger nach Berlin, wo er gewöhnlich bei seiner mit Guth verheirateten Schwester zu übernachten pflegte. Des öfteren war dieser kleine Kreis realitätsorientierter, nicht-nationalsozialistischer Wirtschaftsexperten in Bombennächten schon so zusammengesessen, hatte "gute, um nicht zu sagen erlesene Weinsorten" getrunken, geplaudert, die aussichtslos scheinende Kriegslage erörtert und über praktische oder theoretische Fragen der Ökonomie debattiert. An diesem Abend fragte nach der Erinnerung Eschenburgs einer aus der Runde, "wovon wir nach dem Krieg leben würden". Karl Guth, der bei Bad Reichenhall ein Zollbeamtenhäuschen mit großem Grundstück besaß, antwortete auf diese Frage, er wolle dort mit seinen beiden Söhnen "Rüben und Kartoffeln anbauen, Ziegen und Kaninchen, vielleicht auch Hühner halten". Rohrer, der aus Bayern stammte, gedachte in einem bayerischen Städtchen einen Laden mit Glühlampen und Elektrozubehör aufzumachen, das er dank seiner Beziehungen zu den Wirtschaftsbehörden günstig zu bekommen hoffte. Blessing, Aufsichtsratsvorsitzender des größten deutschen Fischereiunternehmens, trug sich mit dem Gedanken, in seiner württembergischen Heimat ein Fischgeschäft zu eröffnen. Ludwig Erhard meinte, er "werde schon was finden", und Theodor Eschenburg erntete den Spott der Runde, als er bekannte, er würde sich am liebsten als Exportberater im Schwäbischen niederlassen. Export, so mußte er sich von den drei erfahrenen Wirtschaftsmanagern sagen lassen, sei nach dem Krieg erst einmal "gestrichen". Diese pessimistische Bemerkung zum künftigen deutschen Außenhandel konnte sich im Sommer 1944 noch auf kaum mehr als auf Spekulationen und Befürchtungen gründen. Wir wissen noch nicht sehr viel darüber, wie weit der Horizont der deut'74
Vgl. den Erinnerungsbericht von Theodor Eschenburg in: Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, S. XV H.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
sehen Wirtschaftselite hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Behandlung Deutschlands durch die Alliierten, insbesondere durch die Amerikaner, damals wirklich reichte. Sichtbar sind immerhin die Konturen der Erörterung, die darüber in der Reichsgruppe Industrie und damit im engeren Zirkel der Spitzenmanager geführt wurde. Bekannt waren dort 1944 die Elemente der alliierten Diskussion und die wirtschaftspolitischen Beschlüsse der Kriegsgegner, wie sie sich in den ausländischen Wirtschaftsblättern niederschlugen. Zugang zu diesen Informationen verschaffte sich die Industrie vor allem durch Verbindungen zu Finnen, Verbänden und Wissenschaftlern in Schweden und der Schweiz, wohin die Kontakte bis in den Spätherbst 1944 hinein aufrechterhalten werden konnten Z7 ' Außerdem partizipierte sie an der Presseauswertung und den Hintergrundmaterialien der Ministerien Funk und Speer. Für eine Kenntnis der Interna der kontroversen Debatte in den USA finden sich keine Belege. Doch sogar deren volle Kenntnis hätte von der deutschen Wirtschaftsverwaltung und den eng mit ihr verflochtenen Spitzen der Privatindustrie nicht umgemünzt werden können, gelang der amerikanischen Regierung hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Behandlung Deutschlands doch erst wenige Wochen vor Ende des Krieges in Europa eine vorläufige Positionsbestimmung. Der alliierte Entscheidungsprozeß zeitigte erst in Potsdam und danach Resultate. Allein deshalb geht die Auffassung gänzlich an der Realität vorbei, ihr Informationsstand habe es der Wirtschaftselite des Dritten Reiches ermöglicht, "sich früh auf fast alle Eventualitäten einzustellen und entsprechende Vorkehrungen gegen die alliierten Nachkriegsplanungen zu treffen"276 Was den Spitzenkräften der deutschen Wirtschaft im Laufe des Jahres 1944 aber klar wurde, waren die Rahmenbedingungen, in denen sich die Weltwirtschaft nach einem Sieg der Anti-Hitler-Koalition bewegen würde; die Beschlüsse der Konferenzen von Hot Springs im Sommer 1943 und Bretton Woods ein Jahr später waren sorgfältig registriert worden. Die Expertisen, die seit dem Frühjahr 1944 in großer Anzahl in der Wirtschaftsbürokratie, in wissenschaftlichen Instituten und den großen Konzernen entstanden 277 , mündeten ausnahmslos in das Fazit, daß Deutschland künftig bei der Nahrungsmittel- und Rohstoffversorgung in geradezu existentieller Weise von Importen aus Übersee abhängig sein werde - und zwar weitgehend unabhängig davon, unter welchen politischen Auspizien die Nachkriegszeit stand. "Nach einhelligem Urteil" aller an dieser Bestandsaufnahme mitwirkenden Wirtschaftsführer und Fachleute bedeutete dies, daß Deutschland "auf den good will von Nordamerika angewiesen sein würde"; die USA erschienen als "einziger Rettungsanker". Zugleich wurden auch schon die Folgerungen gezogen, die sich für die Binnenwirtschaft aus dieser grundlegenden Erkenntnis ergaben: Zur Bezahlung des Imports mußte die deutsche Industrie in kürzester Frist international konkurrenzfähige Waren anbieten können. In einer der damals zirkulierendenDenkschriften stellte der Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffende Industrie ebenso leidenschaftlos wie bestimmt fest: "Nach dem zweiten Weltkrieg gehört eine weise Abwägung dazu, inwieweit der Inlandsbedarf zu Gunsten des Exports zurücktreten muß. Denn ohne Export der Eisen schaffenden und der vielen Zweige der Eisen verarbeitenden Industrie 275 276 277
VgJ. etwa die Erinnerungen von Albrecht, Das Menschliche hinter dem Wunder, S. 15. Schumann, Überlebensstrategie, S. 512. VgJ. ebenda, S. 511. Vor allem auch Herbst, Totaler Krieg, S. 348 H. Die folgenden Zitate, ebenda, S. 3801.
2. Wirtschaft und Besetzung
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wird Deutschland nicht den großen Bedarf an Nahrungsmitteln und Rohstoffen dekken können, die es aus dem Auslande wird beziehen müssen."n8 Gleiches galt natürlich für andere Branchen, die vor der autarkiepolitischen Umorientierung während der NS-Zeit mit ihren Produkten auf dem Weltmarkt vertreten waren, etwa für die Textilindustrie oder die chemische Industrie. Zentrum von Abklärung und Erörterung der ökonomischen Nachkriegsperspektiven des Reiches ist der "Arbeitskreis für Außenwirtschafts fragen" gewesen. 279 In dem auf Initiative des Wirtschaftsministeriums im Frühjahr 1944 ins Leben gerufenen und eng an dieses gebundenen Kreis waren vornehmlich (die Reichsgruppen Industrie und Handel repräsentierende) Persönlichkeiten aus der Privatwirtschaft vertreten. Wie Hermann Josef Abs, Kar! Blessing, Max Ilgner oder Freiherr von Schröder trugen sie meist klingende Namen. Im erweiterten Umkreis des Ausschusses finden wir so prominente Wirtschaftsführer wie Walter Rohland, Philipp F. Reemtsma, Ludger Westrick oder Rudolf Stahl. Ab Herbst 1944 präsidierte Karl Blessing dem Gremium, in der Geschäftsführung war sein Berliner Nachbar Karl Guth unterstützend tätig. Mit Kar! Albrecht, dem Leiter der Abteilung Außenwirtschaft in der Reichsgruppe Industrie, nahm einer der besten Kenner der alliierten Nachkriegsplanung an den Beratungen teil. Er war der Verbindungsmann zum Kieler Institut für Weltwirtschaft und stand als korrespondierendes Mitglied auch Ludwig Erhards Forschungsstelle in Fürth nahe. 280 Die meisten Wirtschaftsführer, die in dem bis Anfang Februar 1945 bestehenden ,,Arbeitskreis für Außenwirtschaftsfragen" mitarbeiteten, kannten sich aus geschäftlichem oder privatem Umgang seit langen Jahren. Bei allen Unterschieden der politischen Einstellung und ihrer verschieden gelagerten branchenspezifischen Interessen verband sie das nüchterne Kalkül des umsichtigen Unternehmers. Es kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, daß sich im letzten Kriegsjahr niemand im Kreis der industriellen Elite den Erkenntnissen verschlossen hat, die man dort über die künftige Dominanz der Vereinigten Staaten zutage gefördert hatte. Ebenso sicher darf angenommen werden, daß es die Wirtschaftsführer verstanden haben, dieser grundlegenden Tatsache in ihren Unternehmen mit der gebotenen Umsicht Geltung zu verschaffen. So eindeutig sich einerseits die Führungsposition der USA als feste Größe der Nachkriegswirtschaft herauskristallisierte, so wenig ließ sich von den Konzernen und Ausschüssen andererseits irgendeine Vorhersage darüber treffen, welches Maß an Handlungsfreiheit Deutschland in wirtschaftspolitischer Hinsicht nach dem Ende des Hitler-Regimes noch bleiben würde. Ganz ähnlich wie die Amerikaner bis in den Herbst 1944 hinein 281 , haben offenbar auch die deutschen Wirtschaftsführer bis Anfang Februar 1945 mit einem Kriegsende ähnlich dem von 1918 gerechnet. Bis dahin lag der Gedanke einer Totalbesetzung und einer vollständigen politischen und administrativen Entmündigung Deutschlands für die meisten wohl auch jenseits ihrer Vorstellungskraft. Alle Zukunftssondierung blieb jedenfalls bis zur Konfrontation mit der 278
279 280 281
"Zur Umstellung der Eisen schaffenden Industrie auf die Friedenswirtschaft". Denkschrift der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffende Industrie für Abteilung 11 (Innere Wirtschaft) der Reichsgruppe Industrie v. 10.11. 1944; zit. nach der Dokumentation von Schumann, Nachkriegsplanungen, S. 279. Das folgende basiert auf Herbst, Totaler Krieg, S. 352 ff. Vgl. Albrecht, Das Menschliche hinter dem Wunder, S. 19 ff. Siehe 1/5.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Militärregierung eine "Rechnung mit vielen Unbekannten". Trotzdem gewinnt man den Eindruck, als sei in den Ausarbeitungen der Reichsgruppe Industrie und der volkswirtschaftlichen Abteilungen der großen Unternehmen nicht allein aus methodischen und politischen Gründen 282 von einer (allenfalls eingeschränkten) deutschen Souveränität nach Kriegsende ausgegangen worden. Die Wirtschaftsführer haben wohl tatsächlich damit gerechnet, daß ihnen auch nach einer Niederlage des Reiches die binnen- und außenwirtschaftliche Handlungsfreiheit nicht zur Gänze beschnitten würde. Aus den ökonomischen Gegebenheiten, wie sie in den 1944/45 erstellten Expertisen beschrieben waren, ergab sich außerdem, scheinbar unabweislich, daß die westlichen Siegermächte - wollten sie für die lebenswichtigen Importe nicht selbst aufkommen - vermutlich überhaupt nicht anders würden handeln können, als sofort alle Maßnahmen zur Förderung der Industrieproduktion zu ergreifen. Würde die deutsche industrielle Elite dabei nicht unentbehrlich sein? Hatte sie damit nicht bereits ihre Überlebensgarantie in der Tasche, mochten sich Unternehmer und Manager mit gutem Recht fragen. Auch wenn die Umbruchskrise schwere Belastungen mit sich bringen würde, für manchen Wirtschaftsführer auch einschneidende persönliche Konsequenzen haben mochte, so hatte die Wirtschaftselite am Vorabend der Besetzung aufs Ganze gesehen weniger Anlaß zu Existenzangst als etwa die politische Klasse, das hohe Beamtenturn oder die Militärs. Sie ist wohl auch durch die von der NS-Propaganda breit ausgewalzten Vorschläge des amerikanischen Finanzministers nicht wirklich anderen Sinnes geworden. Immerhin skizzierte der Geschäftsleiter der earl Zeiss Jena auf dem Höhepunkt der Anti-Morgenthau-Kampagne der NS-Presse seine Sicht der Dinge sehr gelassen. In seinem Schreiben von Anfang Dezember 1944 an den Deutsch-Amerikanischen Wirtschaftsverband (Abs, Ilgner und Vits waren dort Präsidiumsmitglieder), mit dem Kar! Albrecht im Spätherbst 1944 eine enge Zusammenarbeit vereinbart hatte, hieß es: "Erfrischend wirkt die Tatsache, daß Sie sich in Ihrem Schreiben mit der Nachkriegszeit beschäftigen und auf die Wichtigkeit jetzt schon hinweisen, den Anschluß dann nicht zu verpassen. Sie sind also der Überzeugung, daß nach Beendigung des Krieges die Beziehungen zu den USA alsbald wieder aufgenommen werden, und ich will Ihnen offen gestehen, daß auch ich in meinen Gedankengängen für die Zukunft mich von der Überlegung leiten lasse, daß besonders die Amerikaner mit ihrer überwiegend wirtschaftlichen Einstellung wissen oder sehr bald zur Erkenntnis kommen werden, daß ein wirtschaftlich darniederliegendes Europa für sie von enormem wirtschaftlichen Schaden sein würde und umgekehrt ein gesundes Europa wesentlich zum Wohlstand Amerikas mit beitragen kann, daß ein gesundes Europa aber undenkbar ist ohne ein wirtschaftlich gesundes Deutschland."283 Wenn das Vertrauen auf die "überwiegend wirtschaftliche Einstellung" und einen konstruktiven Wirtschaftskurs der Amerikaner bei den Unternehmern und Managern auch die Ungewißheit über die persönliche Zukunft nach der Kapitulation nicht beseitigen konnte, so hat es zweifellos die Überzeugung gefördert, daß Industrie und Handel im amerikanischen und britischen Besatzungsgebiet keineswegs der von der Staatsführung beschworenen rabenschwarzen Zukunft entgegensahen; je besser der 282
m
So Herbst, Totaler Krieg, S. 371. Das Zitat ebenda, S. 370. Schreiben v. 2. 12. 1944, abgedruckt in: Eichholtz, Schumann (Hrsg.), Anatomie des Krieges, S. 466 f. Vgl. auch Herbst, Totaler Krieg, S. 381 f.
2. Wirtschaft und Besetzung
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Informationsstand, desto größer dürfte die Gewißheit in diesem Punkte gewesen sein. Der Leiter der Abteilung Außenwirtschaft der Reichsgruppe Industrie, Karl Albrecht, hatte durch seine Kontakte nach Schweden und in die Schweiz damals vermutlich mit den besten Einblick in die seriöse internationale Debatte über die künftige alliierte Wirtschaftspolitik, wie sie vor der Konferenz der Großen Drei in JaIta geführt wurde. Mit dem Direktor des Schweizerischen Instituts für Außenwirtschaft und Marktforschung an der Handelshochschule St. Gallen, der ihm seine nüchterne Studie ,,Angelsächsische Vorbereitungen und Pläne für die Nachkriegswirtschaft" aus dem Jahre 1944 zugänglich gemacht hatte, stand er in intensivem Gedankenaustausch. 284 Der schwedische Leiter der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel hatte ihm schon im Mai desselben Jahres versichert, die amerikanische Wirtschaft habe ein ganz besonderes Interesse daran, "ein Chaos in Europa auf alle Fälle zu vermeiden"285. Anfang Februar 1945 trafen Roosevelt, Churchill und Stalin auf der Krim zu ihrer zweiten Kriegskonferenz zusammen. Ihre Proklamation nach der Konferenz von JaIta wäre an sich dazu angetan gewesen, die in Wirtschaftskreisen bis dahin vorherrschende Zuversicht von Grund auf zu erschüttern. Die Alliierten kündigten nämlich an, Deutschland zu erobern, in vier Zonen aufzuteilen und erhebliche Gebietsteile im Osten an Polen zu geben. Auch die Entscheidung, daß das Reich umfangreiche Reparationsleistungen zu erbringen haben werde, sowie die Bekundung der Absicht, "alle deutschen Industrien auszumerzen oder zu kontrollieren, die für die Rüstungsproduktion verwendet werden könnten"286, eröffneten düstere Perspektiven. Von der NSPresse wurden diese, wie es hieß, "Vernichtungspläne" sofort propagandistisch aufgenommen. Der Völkische Beobachter erschien am 16. Februar 1945 beispielsweise mit der Schlagzeile ,Jalta - das Todesurteil für Europa". Die deutschen Industrieführer haben sich von der amtlich verordneten Untergangshysterie aber wenig beeindrucken lassen. Das geht jedenfalls aus einer Analyse der Reaktion der deutschen Industriellen auf die Krim-Konferenz hervor, die Anfang März in der wohlinformierten schweizerischen Presse erschien. 287 In dem Artikel hieß es, die Proklamierung der geplanten Vernichtung der Rüstungsindustrie habe bei den deutschen SchwerindustrielIen lebhaften Widerhall ausgelöst. Zwar würden sich die maßgebenden Männer nicht öffentlich äußern, ihre internen Stellungnahmen bewegten sich aber "nicht in der Tonart der amtlichen deutschen Stellen, sondern ergründen sachlich die sich ergebenden Folgerungen im Falle einer deutschen Niederlage. Dabei ist von Panikstimmung kaum die Rede, wie sich auch die Industrieführer keineswegs einer pessimistischen Resignation ergeben, denn, so erklären sie, die Beschlüsse kÖnnten niemals wörtlich genommen werden, da sie nur der Ausfluß der gegenwärtigen ,Kriegspsychose' seien, die vorerst eine objektive Betrachtung der möglichen Ergebnisse nicht zuließen." 284
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287
Vgl. Albrecht, Das Menschliche hinter dem Wunder, S. 20 f. Siehe auch Hans Bachmann, Angelsächsische Vorbereitungen und Pläne für die Nachkriegswirtschaft, St. Gallen 1944. Vermerk Albrechts v. 23. 5. 1944; zit. nach Schumann, Nachkriegsplanungen, S.405. Die maßgebliche Analyse zu Planung und Umsetzung eines alliierten Außenhandelsregimes in Westdeutschland bei Christoph Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945-1958, München 1990. Erklärung der Großen Drei v. 12.2. 1945; zit. nach Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bann 1982, S. 346. "Deutsche Industrielle zur Krimkonferenz", Artikel der Neuen Zürcher Zeitung v. 7.3. 1945.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Andererseits, so wird die herrschende Auffassung in Kreisen der deutschen Schwerindustrie weiter geschildert, dürfe man sich keinen "unberechtigten Illusionen" darüber hingeben, daß die Absicht der amerikanischen Industrie darauf hinauslaufe, "eine monopolistische Beherrschung des europäischen Marktes durch Amerika" zu erreichen. Schließlich befänden sich nach dem Krieg drei Viertel der Weltrohstoffvorräte unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten. Für die Industriellen, so fuhr der Bericht fort, stehe die Entschlossenheit der drei Großmächte zu einer völligen militärischen Unterwerfung des Reiches fest, danach aber ergäben sich "für Rußland als Kontinentalmacht andere Probleme, die kaum mit den USA-Absichten übereinstimmten". Das "Gesetz der natürlichen Entwicklung" werde Amerika in absehbarer Zeit "in scharfen Gegensatz zu Rußland bringen". Abschließend gab der Artikel noch einige politische Spekulationen wieder, nach denen die ausgeblutete und wirtschaftlicher Erholung dringend bedürftige UdSSR nach dem Krieg wirtschaftspolitisch möglicherweise "eine Verwirklichung des nationalsozialistischen Großraumproblems" mit umgekehrten Vorzeichen anstrebe. "Ohne sich auf mögliche politische Entwicklungen einzulassen", so das Fazit der bemerkenswerten Beschreibung des Denkhorizontes maßgeblicher Persönlichkeiten der Wirtschaft im Februar/März 1945, "sei die Zukunft der deutschen Industrie nach Ansicht dieser Industrieführer keineswegs verzweifelnd." Die langfristig nicht hoffnungslose Perspektive konnte im Frühjahr bei vielen Industrieführern freilich nicht die Furcht vor der unmittelbaren Konfrontation mit den Besatzungstruppen, auch vor möglicherweise entsetzlichen persönlichen Konsequenzen, zerstreuen. Als die US-Armee in der letzten Märzwoche das Ruhrgebiet umfaßte, Fabriken beschossen wurden, Parteifunktionäre und SS-Führer ihre Insignien von sich warfen, die feindlichen Soldaten in das Revier einrückten und die Zwangsarbeiter aus den Lagern stürmten, da kam es - wie in allen Schichten der Bevölkerung - selbstverständlich auch bei den industriellen Eliten im amerikanischen und britischen Besetzungsgebiet zu tiefer Verunsicherung, zu Panikreaktionen und Kurzschlußhandlungen. Augenscheinlich war das Verhalten des einzelnen Wirtschaftsführers jetzt aber kaum von seiner Position in der Rüstungsmaschinerie, von der tatsächlichen oder vermeintlichen Verstrickung in das NS-System oder seiner Affinität zum Regime abhängig, die vom CIC oder von War Crimes Commissions vielleicht als Belastung angesehen werden konnten, sondern in erster Linie von der ganz persönlichen Situation des einzelnen, von seinem Temperament, ja dem Zuschnitt seines Nervenkostüms. Am 27. März 1945, die Amerikaner standen nur noch wenige Kilometer entfernt, wurde in Duisburg der Räumungsaufruf des stellvertretenden Gauleiters Schlessmann ("Der Feind wird mit brutalster Härte wieder herausgehauen werden") an die Fabrikmauern und Alleebäume geklebt. 288 Am frühen Abend dieses Tages setzte sich, ein eher untypisches Verhalten, der 50jährige Vorstandsvorsitzende der August ThyssenHütte AG 28 9 in Hamborn, Walter Eichholz, aus der Stadt ab. Die Thyssenhütte, eine der modernsten Anlagen Europas, die 1926 in den Vereinigten Stahlwerken (VSt) aufgegangen war, blieb in den kommenden kritischen Tagen deshalb freilich nicht führungslos. "Ich sollte eigentlich auch wegfahren", schrieb im Herbst 1945 das von den Nationalsozialisten drangsalierte Vorstandsmitglied Eduard Herzog an den zwei Jahre 288 289
Wortlaut des Aufrufes in: Schulze, Aus Duisburgs dunkelsten Tagen, S. 246. Allgemein zur Geschichte der Hütte: Wilhelm Treue, Helmut Uebbing, Die Feuer verlöschen nie. Die August Thyssen-Hütte 1926-1966, Düsseldorf 1969.
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zuvor als Vorstandsvorsitzender ausgeschiedenen Franz Bartscherer, "habe aber bereits zehn Tage vorher erklärt, daß ich das nicht tun würde. Ich übernahm naturgemäß als Vertreter von Herrn Eichholz die Leitung des Werkes."29o Am 28. März wurden Hamborn und die August Thyssen-Hütte AG, unter deren Dach die fünf VSt-Hüttenwerke im Duisburger Raum vereinigt waren, von Einheiten der 79. Infanteriedivision besetzt. Mit dem Vorstandsvorsitzenden Eichholz hatte sich auch ein anderer führender Angestellter der Hütte absetzen wollen. Er ging zuvor noch einmal kurz in seine Wohnung, aber als der Fahrer des Generaldirektors ihn abholen will, sind die Panzersperren bereits geschlossen, Fritz Becker 291 kann nicht mehr mitgenommen werden. Als Becker am Tag der Besetzung nicht ins Werk kommt, nimmt Herzog an, sein Kollege sei in der Wohnung geblieben, um "den Einmarsch abzuwarten", und schickt anderntags einen Boten nach ihm. Der bringt die beruhigende Nachricht mit, Becker werde im Laufe des Vormittags wieder ins Büro kommen. "Nachmittags hörten wir", so Herzog, "daß er sich gegen halb zwei Uhr vor einem Spiegel erschossen hatte. Seine Zugehfrau hat mir mitgeteilt, er sei am Donnerstag vormittag mit beiden Händen am Kopf im Zimmer auf und ab gegangen und habe immer gesagt, ich werde verhaftet, ich werde verhaftet. Er muß wohl die Nerven verloren haben." Viel spricht dafür, daß Becker, der in der "Franzosenzeit" nach dem Ersten Weltkrieg schlimme Erfahrungen hatte machen müssen, auch für diese zweite Besetzung schlimmste Demütigungen befürchtete. Die wollte er sich ersparen. Nach und nach, innerhalb von sechs bis acht Wochen, fanden sich die vier, fünf abgerückten Spitzenmanager wieder bei der Thyssenhütte ein. Der Vorstandsvorsitzende Eichholz, NSDAP-Mitglied seit 1933, kehrte am 13. April 1945 wieder zurück. Zwei Wochen später wurde er vom eIe verhaftet. Das wiederum löste bei einem seiner gehobenen Mitarbeiter offenbar eine solche Bestürzung aus, daß er am gleichen Tag erst seine Frau - ohne sie ins Vertrauen gezogen zu haben - und dann sich selbst erschoß. Auch Eichholz vermochte den Belastungen der Umbruchswochen nur schwer standzuhalten. ,,Am 28. April", so lesen wir in dem Brief Herzogs, der nun die Führung der Hütte in die Hand genommen hatte, "machte Herr Eichholz einen Selbstmordversuch mit dem Taschenmesser, der aber harmlos verlief, und kam ins Johanneskrankenhaus, blieb aber unter Beobachtung des eIe und vom Dienst suspendiert." Einen Monat später wurde der Vorsitzende des Vorstands aus dem Krankenhaus entlassen, dann erneut verhaftet, am selben Tag aber wieder auf freien Fuß gesetzt mit der Maßgabe, Hamborn nicht zu verlassen und seinen Dienst nicht wieder aufzunehmen. Bald darauf wurde Eichholz von der Militärregierung endgültig seines Dienstes enthoben 292 , und am l.Juli 1945 übertrug der Aufsichtsrat der August Thyssen-Hütte AG (ATH) Eduard Herzog, der in den kritischen Umbruchstagen das Ruder in die Hand genommen hatte und politisch gut vorzeigbar war, die Leitung der Gesellschaft. 290
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Schreiben v. 30. 11. 1945; Thyssen-Archiv, A/5059. Dort auch die folgenden Zitate. Die August ThyssenHütte lieferte allein ungefähr die Hälfte des in den Vereinigten Stahlwerken produzierten Roheisens und Rohstahls und hatte noch im Oktober 1944 über 27.000 Beschäftigte. Seit dem Bombenangriff im gleichen Monat und vor allem seit dem Angriff vom 22. Januar 1945 lagen praktisch alle Hochöfen und Walzstraßen still. Name geändert. Nach der Zerschlagung der VSt kehrte Eichholz nicht mehr in den Vorstand eines der Nachfolgeunternehmen zurück. Vgl. K. H. Herchenröder,J. Schäfer, M. Zapp, Die Nachfolger der Ruhrkonzeme, Düsseldorf 1953, S. 91.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Er blieb Vorstandsvorsitzender der ATH bis zu seinem Tode Anfang 1951. Sein Nachfolger wurde Hans-Günther Sohl, der nachmalige BDI-Präsident, der 1943 zum Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke aufgestiegen war. Der große Mann und maßgebliche Architekt dieses damals größten Stahlkonzerns Europas, Albert Vögler, "einer der Großen des Ruhrreviers" auch 293 , beging beim amerikanischen Einmarsch ebenfalls Selbstmord. Der einer kinderreichen Bergmannsfamilie entstammende, von Stinnes stark geförderte Vögler, dessen Schicksal hier näher betrachtet werden soll, war - obgleich er über keine eigenen Besitztitel gebot - in der Zwischenkriegszeit zu einem der großen "Stahlkönige" an der Ruhr aufgestiegen. Bereits in den zwanziger Jahren ist er "die unumstrittene Autorität im Revier" gewesen, konnte dort ohne ihn "nichts Wesentliches ausgerichtet werden". Als Gründungsmitglied und politisch sehr aktiver Reichstagsabgeordneter zählte er zunächst zum gemäßigt konservativen Flügel der DVP. Anders als Emil Kirdorf oder Fritz Thyssen, die sich schon früh zu Hitler bekannten, blieb er auf Distanz zum Nationalsozialismus. Im letzten Krisenjahr der Weimarer Republik wandelte er sich wie andere Großindustrielle zum dezidierten Verfechter eines antisozialistischen, antigewerkschaftlichen Kurses und schließlich zum Befürworter einer Beteiligung der Nationalsozialisten an einer präsidialen Rechtsregierung; Papen ließ er massive Unterstützung angedeihen. Nach den Novemberwahlen 1932 gehörte er zusammen mit eurt von Schröder und Hjalmar Schacht zu den Initiatoren der Petition an Hindenburg, in der sich die führenden Industriellen für eine Kanzlerschaft Hitlers aussprachen. 294 Von 1933 bis Kriegsende war er, obwohl kein Parteimitglied, Angehöriger der Reichstagsfraktion der NSDAP. Trotz manch scharfen Interessenkonflikts mit den neuen Machthabern, deren primitiver Antisemitismus und Radaustil ihm ein Greuel waren, begrüßte der kultivierte Vögler die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Regime binnen weniger Jahre geschaffen hatte. Besonders den Gedanken der Volks- und Betriebsgemeinschaft bejahte er aus innerer Überzeugung. Als der Krieg begann, sah Vögler durchaus die Gefahren, die den Vereinigten Stahlwerken 295 , die zwischen 40 und 50 Prozent der deutschen Stahl produktion und etwa 20 Prozent der Steinkohleförderung erbrachten, in einer unter Hochdruck produzierenden Kommandowirtschaft drohten. Es waren bei Vögler, der bis 1935 selbst Vorstandsvorsitzender gewesen war, vermutlich beide Motive, nämlich jetzt ein Maximum für den Konzern herauszuholen und ihn zugleich vor schädlichen Zugriffen der Rüstungsbehörden zu schützen, die sein Engagement bestimmten. Es kann dahingestellt bleiben, ob man das Wirken des "allmächtigen Aufsichtsratsvorsitzenden" (HansGünther Sohl)296 während des Krieges freundlich mit der fortschreitenden Verstrikkung des Helden in einer antiken Tragödie vergleichen soll297, gewiß ist, daß Albert Vögler in der eng mit der Privatwirtschaft verwobenen Rüstungsorganisation des Regimes mit jedem Kriegsjahr unentbehrlicher wurde. Besonders eng und freundschaft293
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So der Untertitel der Biographie von Gert von Klass, Albert Vögler, Tübingen 1957. Dort, S. 157 und S. 10, auch die folgenden Zitate. Vgl. das unveröffentlichte Manuskript über Albert Vögler von Frau Bauert-Keetmann, S. 329 f., das mir die Autorin dankenswerterweise überließ; Thyssen-Archiv, PA Vögler. Das maßgebliche Buch zu den Vereinigten Stahlwerken während der NS-Zeit: Gerhard Th. Mollin, Montankonzeme und "Drittes Reich". Der Gegensatz zwischen Monopolindustrie und Befehlswirtschaft in der deutschen Rüstung und Expansion 1936-1944, Göttingen 1988. Hans-Günther Sohl, Notizen, Düsseldorf 1983, S. 65. So Klass, Vögler, S. 261.
2. Wirtschaft und Besetzung
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lich entwickelte sich sein Verhältnis zu Albert Speer, dessen Ministerium ohne den Rat des Industriellen - cum grano salis - wohl wirklich "keinen Beschluß in wirtschaftlichen und politischen Grundfragen" faßte. 298 Der international renommierte Stahlexperte hatte sich maßgeblich in die Speersche Straffung der Rüstung eingeschaltet und war einer der geistigen Väter der effizienten "Selbstverwaltung der Wirtschaft" nach 1942. Er saß in verschiedenen zentralen und regionalen Beratungs- und Steuerungsgremien und blieb bis zum Kriegsende der wohl bedeutendste Großindustrielle, auf den Speer sich stützen konnte. Für die Vereinigten Stahlwerke, die etwa eine Viertel Million Beschäftigte hatten, ist die enge Verbindung Vöglers (und seines Vorstandsvorsitzenden Walter Rohland) zu Speer zweifellos ein wirksarner Schutz vor sinnlosen und substanzgefährdenden Zumutungen des Regimes gewesen. Gewiß hat auch Vögler sich nach der Kriegswende intensiv darum bemüht, ein Maximum von der industriellen Substanz seines Konzerns zu retten. Dies allein dürfte das Weiteramtieren des Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke (den Speer bei Nachforschungen der SS nach dem 20. Juli in Schutz nehmen mußte 299 ) bis Kriegsende ebenso wenig erklären wie die vielleicht auch bei ihm bis Ende 1944 noch bestehende Hoffnung auf ein glimpfliches Kriegsende. Der bald 70 Jahre alte Industrieführer wurzelte noch in der Tradition des Kaiserreiches. Schon sein Werdegang legt es nahe, daß ihn eine als Frage der Ehre verstandene patriotische Pflichterfüllung und das Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Konzern und seinen Mitarbeitern dazu bestimmt haben, in der Krise des Vaterlandes die Kommandohöhen der Wirtschaft nicht zu verlassen. Dabei wird ihm bewußt gewesen sein, daß ihn von den jüngeren, ebenfalls mit unerhörter Machtfülle ausgestatteten Technokraten vom Typus der Pleiger, SaUf und auch seines Generaldirektors Walter Rohland zwar Welten trennten, er mittlerweile aber genauso eng wie diese mit dem stürzenden NSSystem verbunden war. Er war keiner jener Topmanager, die mit Hitler nach oben gekommen waren und sich nach Hitler - mehr oder weniger unbehelligt - wieder in die Privatwirtschaft würden zurückziehen können. Er war einer der wenigen Stahlkönige von Weltruhm, die tatsächlich mit Hitler bis ans Ende gegangen waren. Das wußten die Alliierten, und zweifellos würde er von der Besatzungsmacht wie die Krupp und Flick als Personifizierung des größten deutschen Rüstungsgiganten und als Symbol der Komplicenschaft von Schwerindustrie und Hitler-System angesehen werden. Wie andere führende Persönlichkeiten hat sich auch Vögler nach dem Desaster von Stalingrad Gedanken über sein persönliches Schicksal nach einem verlorenen Krieg zu machen begonnen. Um diese Zeit beschaffte er sich jedenfalls eine jener kleinen zyankaligefüllten Ampullen 300 - vermutlich eher, um in ausweglosen Situationen über einen Ausweg zu verfügen, als daß er zum Selbstmord damals schon fest entschlossen gewesen wäre. Es war wohl schon im Jahre 1944, als Vögler Friedrich Flick gesprächsweise empfahl, sich und seine Angehörigen zu erschießen, "wenn es schiefgeht". Im Herbst schrieb er an seinen Freund Rudolf BingeI, den Vorstandsvorsitzenden der Siemens-Schuckertwerke, der bald nach Kriegsende in einem ostdeutschen Internie298
299
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Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd. 11, Berlin 1985, S. 172. Vgl. auch ebenda, S. 109. Vgl. die Stellungnahme Speers für SS-Gruppenführer Hermann Fegelein v. 20.8. 1944, in: Eichholtz, Schumann (Hrsg.), Anatomie des Krieges, S. 458 f. Das folgende stützt sich vor allem auf das Manuskript von Bauert-Keetmann, S. 375 ff.; Thyssen-Archiv, PA Vögler.
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rungslager an Entkräftung starb 301 er sei davon überzeugt, "auch aus den harten, vielleicht allzu harten Schlägen", die die Menschheit nun hinnehmen müsse, "wird schließlich ein neuer Ring geschmiedet, der sie höher schraubt. Diese Überzeugung gibt die Kraft auszuharren und weiter zu schaffen. Man muß nur innerlich so mit sich fertig werden, daß man schließlich Herr seines Geschickes bleibt. Das kann manchmal zu Konsequenzen führen, die mit dem vorher Gesagten scheinbar nicht in Einklang zu bringen sind."302 Obgleich Vögler noch Anfang 1945 zu Flick gesagt haben soll, er habe es sich anders überlegt und sei bereit, "am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken", stand der Entschluß, seinem Leben ein Ende zu setzen, wohl seit dem Jahreswechsel fest. Sätze wie "Wenn man so alt ist wie ich, überlebt man nicht zweimal einen verlorenen Krieg" und "Verhaften lasse ich mich nicht!" waren nun häufiger aus seinem Munde zu hören. Dem gebildeten und kunstsinnigen Ästheten, der trotz seiner warmherzigen Zuwendung, die er Kollegen entgegenbringen konnte, Tuchfühlung verabscheute, war es eine grauenhafte Vorstellung, nach einer Verhaftung etwa Mißhandlungen ausgesetzt zu sein ("Wenn sie mich unwürdig behandeln, mache ich Schluß"), aber dies kann nicht wirklich als Hauptmotiv seines Freitodes angenommen 303 werden. Verschiedentlich scheinen seine engeren Mitarbeiter den Versuch gemacht zu haben, ihrem Aufsichtsratsvorsitzenden Mut zuzusprechen. Immerhin sei er doch Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, und Radio Luxemburg habe von seinem Widerstand gegen den Zerstörungskurs Hitlers berichtet. Ermunterungen dieser Art pflegte Vögler mit einem bündigen "Das nützt gar nichts!" abzuwehren. Und tatsächlich scheint er sich wie nur wenige in vergleichbarer Position darüber im klaren gewesen zu sein, daß er - bei aller persönlicher Integrität - sich der Verantwortung nicht entziehen konnte, die er als führender Großindustrieller und Rüstungsgewaltiger des Dritten Reiches auf sich geladen hatte. Er wollte sich ihr auch nicht entziehen, doch wollte er das Urteil darüber nicht dem Feind überlassen, sondern es selber sprechen. Sein Stolz verbot es ihm, sich gegenüber irgend jemandem auf eine Rechtfertigung oder auf die Exegese seiner Motive einzulassen - so uneigennützig, politisch und moralisch vertretbar sie ihm selbst noch in der Niederlage erscheinen mochten. Wahrscheinlich ahnte er, daß alles, was er vorbrachte, würdelos wirken mußte, bestenfalls als billige Ausflucht oder peinliche Halbwahrheit aufgenommen werden würde. Diese noch den Ehrvorstellungen des Kaiserreiches verhaftete Haltung unterscheidet Albert Vögler in bemerkenswerter Weise von den meisten der jüngeren Topmanager Hitlers, einschließlich Speers, die ihren maßgeblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des NSRegimes in den Verhören der Alliierten als unpolitische Pflichterfüllung oder als politischen Irrtum abtaten, wie er Technokraten eben leicht unterläuft. Wohl am schärfsten kontrastiert Vöglers Haltung - wie zu zeigen sein wird - mit dem Verhalten, das kein anderer als sein Vorstandsvorsitzender nach dem Fall Hitlers an den Tag legte. Gewiß, mit seinen 47 Jahren war Walter Rohland noch ein junger Mann mit Zukunftsperspektive. Dennoch ist es atemberaubend zu beobachten, wie leichthändig
301 302 303
Vgl. oben in diesem Kapitel. Schreiben v. 1. 11. 1944; zit. nach Bauert-Keetmann, Vögler, S. 375. Vgl. auch Klass, Vögler, S. 282ff. Rohland, Bewegte Zeiten; Sohl, Notizen, und Vöglers Biograph Klass beschränken sich auf diese Deutung.
2. Wirtschaft und Besetzung
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Hitlers "Eisendiktator" und "Panzerdiktator"304 seine Vergangenheit abzuschütteln und mit den Besatzungsmächten ins Geschäft zu kommen trachtete. Als die Amerikaner die Zange um das Revier geschlossen hatten, hielt sich Albert Vögler in "Haus Ende", seinem schloßähnlichen Wohnsitz in der Nähe des Dorfes Wittbräucke bei Dortmund, auf. Zwei Tage vor der amerikanischen Besetzung statteten Walter Rohland und Hans-Günther Sohl ihrem Aufsichtsratsvorsitzenden einen letzten Besuch ab. In einem langem Gespräch versuchten der Vorstands chef und sein Stellvertreter vergeblich, Vögler von seinen Selbstmordgedanken abzubringen, vielmehr machte dieser "auch personell eine Art Testament", indem er seinen Vorsitz in den Aufsichtsräten der Gelsenkirchener Bergwerks-AG und bei der Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke AG Sohl zudachte. 305 Anderntags lag schon amerikanischer Beschuß auf dem Ort, und am 14. April 1945 drang ein Trupp angetrunkener G.I.s in Vöglers Haus ein, in dem sich auch seine Frau und seine bald hundert Jahre alte Mutter aufhielten. Die marodierenden Soldaten, die wohl nach versteckten Waffen forschten, schossen in das Telefon und auf die Bilder an der Wand. Dann führten sie Albert Vögler unter Schubsen und Stoßen auf die Landstraße hinaus. Allem Anscheine nach wußten sie nicht, wen sie mit sich schleppten. Da spricht ein polnischer Zwangsarbeiter den Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke an, zieht für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich, und diesen Moment nutzt Albert Vögler und zerbeißt die Giftampulle. Stürzend schlägt er mit der Stirn gegen die Kante eines Panzerwagens. Die überraschten G.I.s nehmen den Leichnam bis zur Dorfkirche mit sich und lassen ihn dort in einem Gang liegen. Erst anderntags erfahren Frau und Mutter, was vorgefallen ist. Auf einem Leiterwagen wird der Tote, der über Nacht in der Kirche liegengeblieben war, nach Haus Ende zurückgebracht. Da hier inzwischen ein Räumungsbefehl der Militärregierung ergangen ist, bleibt wenig Zeit. Der Chauffeur der Familie hebt im Park des Anwesens eine Grube aus, und in aller Eile wird der nur in ein Leinentuch gehüllte und mit einer Plane bedeckte Leichnam des Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke in die Erde gesenkt. "Mit Vögler trat eine Generation ab", schreibt dessen engster Mitarbeiter Walter Rohland in seinen Erinnerungen, "die fast ein halbes Jahrhundert lang in schweren Zeiten die deutsche Stahlindustrie geprägt hatte."306 Daß der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke selber zu einer keineswegs nur dem Alter nach ganz neuen Generation gehörte, hat er während der NS-Zeit und auch nach dem Umbruch 1945 nachhaltig unter Beweis gestellt. In charakteristischem Kontrast zu seinem bewunderten Mentor gehörte Rohland zu den Prototypen jener ebenso begeisterungsfähigen wie bedenkenlosen, von Tradition und Komment der alten Stahlkönige völlig freien jungen Managergeneration, jener Technokraten des Rüstungsapparates, auf die Hitler gesetzt hatte, die mit Speer auch an der Ruhr 1942/43 zum Durchbruch gekommen waren und denen die Reichsführung den unerhörten Aufschwung der Kriegsproduktion vor allem verdankte. Auf deren angeblich unpolitische Leistungsbereitschaft und rücksichtsloses "Durchgreifen" im Dienste der Kriegsanstrengungen des Regimes (dem sie ihre rapiden Karrieren und ihre unerhörte Machtfülle zu dan'04 30'
306
Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, H, S. 541. Sohl, Notizen, S. 91. Vgl. auch Rohland, Bewegte Zeiten, S. 108. Zum folgenden das Manuskript von Ingrid Bauert-Keetmann. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 114.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ken hatten) - notfalls auch gegen die Eigeninteressen der Großindustrie - hatte sich Hitler denn auch genau so lange verlassen können, wie noch auf einen irgendwie glimpflichen Ausgang des Krieges gehofft werden konnte. Ab Januar 1945 lag allerdings auch deren auffällig gesteigertem Aktivismus dann schon die tiefere Motivation der Vorbereitung auf die Zeit nach Hitler zugrunde; die damals Vierzig- bis Fünfundvierzigjährigen der technokratischen Elite des NS-Systems, zu der im Bereich der Rüstungswirtschaft neben Rohland auch Pleiger (geb. 1899), Saur (geb. 1902) oder Kehrl (geb. 1900) zu rechnen wären, gedachten nach dem Krieg ja nicht abzutreten. Erwägungen beispielsweise, wie sie sein Mentor Vögler vor seinem Selbstmord über die Konsequenzen anstellte, die allein aus der bloßen Funktion an führender Stelle der deutschen Kriegswirtschaft - und zwar gänzlich unabhängig davon, ob sie "rein sachlich" oder mit politischer Emphase ausgefüllt worden war - folgten, wären dem Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke völlig fremd gewesen. Niederlage und Besetzung blieben für das Denken und Handeln Rohlands und manches seiner Kollegen aus der Rüstungsorganisation zunächst verblüffend folgenlos. 3 0 7
" The picture is disturbing": Die ersten Kontakte zwischen Besatzungsmacht und Industriellen Das Kriegsende erlebte Generaldirektor Walter Rohland in Hohenlimburg, wohin er Ende März 1945 seinen Stab verlegt hatte. Am 15. April, drei Tage, nachdem er mit seinem Stellvertreter Sohl Albert Vögler einen letzten Besuch abgestattet hatte, besetzten die Amerikaner das kleine, wenige Kilometer östlich Hagens gelegene Städtchen an der Lenne. Die kritischen Stunden vor dem Einmarsch war er bei dem Leiter des zu den VSt gehörenden Werkes Wuragrohr GmbH untergekommen. 30B Fünf Tage später konnte sich Speers Stahldiktator ein erstes Bild von der Lage des Reviers und den Gegebenheiten auf den Werken seines Konzerns machen. Aus Mülheim an der Ruhr hatte sich ein Angestellter der ebenfalls zu seinem Konzern zählenden Deutsche Röhrenwerke AG mit dem Motorrad zu seinem Vorstandsvorsitzenden durchgeschlagen. Rohland, so berichtete er nach seiner Rückkehr, "freute sich außerordentlich über meinen Besuch, da er durch mich die ersten Nachrichten von den Röhrenwerken und von weiteren VSt.Werken erhielt. Ich schilderte Herrn Rohland die Verhältnisse in Mülheim, unsere Fühlungnahme mit den Besatzungsbehörden, die Arbeiten auf unserem Werk ... Herr Rohland erkundigte sich eingehend über die Stellung der Behörden zu den Werksleitungen und bedauerte außerordentlich, durch seine isolierte Lage in Hohenlimburg noch nicht mit in den Kreis eingeschaltet zu sein ... Leider, so sagte Herr Dr. Rohland, habe er von den anderen Werken, wie Bochumer Verein, Dortmunder Union, Ruhrstahl, Edelstahlwerke Krefeld, noch keine Mitteilungen erhalten, und bat mich, Herrn Direktor Dr. Winterhoff zu bitten, zu versuchen, auch mit diesen Werken Fühlung zu nehmen. Die Verbindung mit dem Kommandanten der Stadt Hohenlimburg, so berichtete Herr Rohland weiter, sei noch nicht eine sehr enge, da diese Dienststelle der Besatzungsbehörde innerhalb einer Woche verschiedentlich gewechselt habe. Abschließend möchte ich sagen, daß Herr Rohland über den von mir gemachten Bericht sehr zufrieden war. Vor allen Din307 308
Vgl. weiter unten in diesem Kapitel. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 109.
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gen gaben ihm die von Herrn Direktor Dr. Roelen und Herrn Dr. Winterhoff in der kurzen Zeit schon gesammelten Erfahrungen im Verkehr mit den Besatzungsbehörden wertvolle Anregungen für sein weiteres Vorgehen und Verhalten."309 Die erwähnte Besetzung Mülheims eine gute Woche zuvor war ausgesprochen ruhig verlaufen. Die amerikanische Besatzungsmacht legte dort ihren üblichen unaufgeregten Pragmatismus an den Tag, der Kommandant hatte die führenden Unternehmer schon zu einer Besprechung über die Stabilisierung der Versorgung und die Weiterführung der Betriebe eingeladen - eingeladen, nicht befohlen 3lo -, kurz: Die Amerikaner hatten nichts unternommen, was einen Mann wie Walter Rohland ernsthaft hätte beunruhigen müssen. Erfreuliche Nachrichten wie diese, erste eigene Erfahrungen in kurzen Verhören über die Produktionsleistung der deutschen Stahlindustrie (in denen er den staunenden Mitgliedern des Strategie Bombing Survey gegenübersaß): Solche überraschend harmlos verlaufenen ersten Kontakte mit der Besatzungsmacht ermutigten den Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke mit dazu, alsbald zu alter Rührigkeit zurückzukehren. In seinen Memoiren leitete er das Kapitel über die Nachkriegszeit denn auch mit der Feststellung ein: "Wer geglaubt hatte, daß nach der Kapitulation das Arbeitstempo nachlassen würde, mußte seinen Irrtum nur zu bald einsehen."3ll Sieht man von sporadischen Kurzverhören und den Ausquartierungen ab, so blieben die führenden Ruhrindustriellen in den ersten Tagen und Wochen nach dem Einmarsch persönlich meist unbehelligt. Hans-Günther Sohl, der stellvertretende VStVorstandsvorsitzende, hielt sich bis unmittelbar vor dem Einrücken der Amerikaner mit seiner Familie beim Stab Rohlands in Hohenlimburg auf. Erst in letzter Minute begab er sich nach Düsseldorf an den Hauptsitz des Konzerns, weil er Albert Vögler das Versprechen gegeben hatte, sich während der feindlichen Besetzung dort aufzuhalten. "Wir saßen im Parkhotel", schrieb er später, "als ein paar amerikanische Soldaten hereinkamen und nach Friedrich Kar! Florian, dem Gauleiter von Düsseldorf, fragten. Uns ließen sie in Ruhe."Jl2 Ähnlich annehmlich hatte Günter Henle, Mitinhaber und faktischer Chef des Klöckner-Konzerns, fünf Tage zuvor das Kriegsende am Firmensitz in Duisburg erlebt. Ein amerikanischer Sergeant und ein G.I. durchsuchten sein Haus nach Jagdwaffen, weiter geschah zunächst nichts. Nach einigen Wochen mußte er seine Wohnung dann räumen, und "nach mehreren Zwischenquartieren", so der Schwiegersohn des Firmengründers, "nahmen wir schließlich in einem Klöckner gehörigen alten Mietshaus in der Ludgeristraße Unterkunft, die damals so angeschlagen und düster war, daß wir uns vor erneuter Austreibung sicher fühlen konnten"313. Zu dieser Zeit hatte Henle längst wieder seine Tätigkeit im Konzern und in einem sofort nach der Besetzung gebildeten beratenden Ausschuß der Stadt Duisburg aufgenommen. 3l4 }09
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Aktenvermerk des Angestellten S. der Deutschen Röhrenwerke AG in Mülheim/Ruhr über seinen Besuch in Hohenlimburg am 20. April 1945 v. 23.4. 1945; Mannesmann-Archiv, R 15080. Vgl. die umfangreiche, mit zahlreichen Anlagen versehene Chronik der Besetzung Mülheims und des ersten Jahres der Besetzung aus der Sicht der Deutschen Röhrenwerke AG; eben da. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 115. Zum Vorhergehenden ebenda, S. 109ff. Sohl, Notizen, S. 92 f. Günter Henle, Weggenosse des Jahrhunderts. Als Diplomat, Industrieller, Politiker und Freund der Musik, Stuttgart 1968, S 74. Vgl. weiter unten in diesem Kapitel.
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Bergassessor Hermann Kellermann, der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte, hatte die amerikanische Besetzung mit einigen Mitarbeitern seines Unternehmens in den Stollen eines Schlackeberges in der Nähe der Hauptverwaltung des Konzerns abgewartet. Kellermann, der in regelmäßigem Briefkontakt mit Paul Reusch stand, hatte sich am 9. März 1945 in Erwartung eines ungewissen Schicksals von seinem im Württembergischen lebenden Vorgänger mit den getragenen Zeilen verabschiedet: "Und nun, lieber Herr Reusch, nehme ich vorläufig Abschied von Ihnen. Trotz allem hoffe ich immer noch, die schwere kommende Zeit zu überstehen und Sie eines Tages gesund und frisch wiederzusehen."315 Als die amerikanischen Truppen drei Wochen später in Sterkrade einmarschierten, blieb er gänzlich unbehelligt. Die Erleichterung darüber und die erfreuliche Erfahrung, es bei den Amerikanern wenigstens nicht mit einer unberechenbaren Soldateska zu tun zu haben, klingt in dem Schreiben noch an, das Kellermann im Sommer an den inzwischen aus dem Familiensitz Schloß Katharinenhof ausquartierten Paul Reusch richtete: "Die Beschlagnahme paßt so gar nicht zu dem sonstigen Verhalten der Amerikaner Ihnen gegenüber, so daß nach KlarsteIlung der Verhältnisse sicherlich in Kürze die Räumung des Katharinenhofs befohlen wird."316 Diese Prognose erwies sich allerdings als irrig. Hinter der Beschlagnahme von Häusern Großindustrieller verbarg sich keine gezielte Strategie und kein tieferer politischer Sinn, wie gelegentlich vermutet wurde. Die amerikanischen Offiziere besaßen einfach nur jene Vorliebe für großzügige Residenzen, die Besatzungssoldaten immer eigen ist. Auch der ansonsten unbelästigt gebliebene Hugo Stinnes jun., Herr über ein verzweigtes, Bergbau und Kohlehandel ebenso wie Reedereien und Glasfabrikation umfassendes Imperium, der zwei Wochen nach der Kapitulation von einem Vertreter des United States Strategic Bornbing Survey in Mülheim an der Ruhr aufgesucht wurde, war ausquartiert worden. "Herr Stinnes", berichtete Interrogator Bayles in mildem Spott von seiner Begegnung mit dem Magnaten, "ist ein anormal kleiner Deutscher mit Hindenburg-Haarschnitt und Hitler-Bärtchen. Er war von einer Abteilung der amerikanischen Armee seines fürstlichen Hauses beraubt worden und teilte nun auf der anderen Seite der Straße eine recht bescheidene Behausung mit elf weiteren Deutschen. Im Gang und in den Zimmern des Hauses türmten sich Kisten, Koffer und persönliche Habe, und Herr Stinnes mußte aus seinem Büro-Wohn-Schlafzimmer erst drei andere Deutsche entfernen, um für das Interview ungestört zu sein."317 Wie schlecht die Amerikaner über die Rüstungsorganisation und die Einflußverhältnisse im Revier Bescheid wußten, offenbarte sich in der Tatsache, daß sie die meisten wirklich einflußreichen Industrieführer nach dem Einmarsch kaum ernstlich behelligten, den 38jährigen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, der de facto keinen bestimmenden Einfluß auf die Geschäftspolitik des Stahlriesen oder den Kurs etwa der Reichsvereinigung Eisen ausübte, aber am Tage der Besetzung Essens sofort verhafteten. Der junge Krupp (seit 1943, nach dem Rückzug seines schwerkranken Vaters Gustav, Alleininhaber des Konzerns) wurde zweifellos in erster Linie deswegen sistiert, weil dessen Familie in den Augen der Welt eben die deutschen "Kanonen315 316 317
Handschreiben Kellermanns an Reusch v. 9.3. 1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Schreiben Kellermanns an Reusch v. 31. 7.1945; eben da. "Interrogation of Mr. Hugo Stinnes", Interview Nr. 13, USSBS, v. 21. 3. 1945 (WD. Bayles); NA, RG 243, 134-B216, Interviews of German Industrialists and German Army Leaders.
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könige" waren, weil Krupp seit Generationen das Symbol einer verhängnisvollen Allianz von preußisch-deutschem Militarismus und kapitalistischer Profitsucht war. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof brachte es der Hauptankläger für die Vereinigten Staaten auf den Nenner: "Seit über 130 Jahren bildet diese Familie den Brennpunkt, ist sie Symbol und Nutznießer der unheilvollen Kräfte, die den Frieden Europas bedrohten."31B Ganz im Stile der Kriegspropaganda der Alliierten beschrieb Telford Taylor noch am 16. August 1947 das Kruppsche Image in der Welt, als er vor dem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg die Anklageschrift gegen Alfried Krupp und elf Direktoriumsmitglieder und führende Mitarbeiter des Konzerns verlas: "Die Ursprünge, die Entwicklung und der Hintergrund der Verbrechen, die von den Angeklagten hier verübt wurden, und der kriminellen Machenschaften, an denen sie teilgenommen haben, können über hundert Jahre des deutschen Militarismus und über hundertunddreißigJahre, vier Generationen umspannend, Kruppscher Waffenerzeugung zurückverfolgt werden. "319 Unberührt von den Bomben der Royal Air Force und den Granaten der Ninth United States Army hatte das imposante, etwas unproportionierte Bürgerschloß aus Stein und Stahl über dem Ruhrtal, das Alfred Krupp 1870/72 erbauen ließ, den in Essen am Mittwoch, dem 11. April 1945, zu Ende gehenden Krieg überstanden. Die Villa Hügel inmitten ihres Parkes mit seltenen Bäumen und erlesenen Sträuchern, in der siebzig Jahre lang alle ein und aus gingen, deren Wort in Politik und Wirtschaft Gewicht hatte, erlebte an diesem Morgen um 10.40 Uhr das "Eintreffen der ersten amerikanischen Panzer- und Sicherungswagen auf der Durchfahrt". Eine Viertelstunde später verzeichnet die minutiöse Chronik eines Bediensteten das "Eintreffen der ersten Fußtruppen unter Führung eines Hauptmanns. Erster Rundgang durch das Große und Kleine Haus. Beschlagnahme der im Hause und in der Hügelverwaltung befindlichen Feuerwaffen (auch Jagdgewehre) und Kleinbildphotogeräte (Leikas u.a.) durch den erwähnten Hauptmann." Um dreiviertel zwei Uhr nachmittags verlangt Captain Benjamin T. Westervelt vom 313th Infantry Regiment, "daß Herr Alfried Krupp von Bohlen und Halbach geholt wird"320. Als Hauptmann Westervelt mit seinem Vorgesetzten und einer Handvoll Soldaten in zwei Jeeps den Hügel hinauffuhr, hatte sich bereits das gesamte Hauspersonal, über hundert Bedienstete, vor der Villa eingefunden. Obgleich niemand bedrohliche Miene machte, sprangen die etwas irritierten Amerikaner mit gezogenen Pistolen aus ihren Fahrzeugen. Die Ansammlung zerstreute sich daraufhin, und die beiden Offiziere wandten sich an den Diener von Alfried Krupp, der ihnen in distinguierten Formen und nicht ohne eine gewisse Herablassung, wie den Amerikanern schien, die Angelegenheit in gemessene Bahnen lenken zu helfen gedachte. "Meine Herren", soll er gesagt haben, "Herr Krupp erwartet Sie. Darf ich Sie bitten, näherzutreten."321 Während laut einer besonders phantasievollen Version der Verhaftung Alfried Krupp seine ungebetenen Gäste zwanzig Minuten 318
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,,Antwort der Vereinigten Staaten auf den Antrag für den Angeklagten Gustav Krupp von Bohlen" v. 12.11. 1945; IMT, I, S. 1461. Trials of War Criminals before Nuemberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, vol. IX: The Krupp Case, Washington 1950, S. 10. Undatierte und unsignierte Chronik der Besetzung des Hügels (11. 4.-9.5.1945),14 Seiten; Krupp-Archiv, FAH V B5 So die auf Befragungen, Zeitungsberichten und älteren Darstellungen basierende Schilderung bei William Manchester, Krupp. Zwölf Generationen, München 1968, S. 574. Dort auch die abweichenden Versionen über den Hergang der Verhaftung.
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lang habe warten lassen und sich, tadellos gekleidet, eben die Krawatte umgelegt haben soll, als Oberstleutnant Clarence M. Sagmoen - der Führer des Trupps - schließlich wütend in dessen Gemächer eindrang, beschrieb der Journalist Edward Hart die Szene drei Tage nach der Festnahme Krupps im Sunday Express so: "Wer wohnt hier?" habe Sagmoen sich an einige Bedienstete in der riesigen Empfangshalle der Villa Hügel gewandt. ",Mein Herr, Diplomingenieur Alfried Krupp von Bohlen und Halbach.' ,Wo ist er?' ,Er ist oben.' ,Gut, bringen Sie ihn sofort runter - verstehen Sie, sofort.' Ein paar Sekunden später", malte Hart seinem Publikum diesen Moment süffisant aus, "kam er herunter, Klein-Alfie, ein Bild mürrischer Arroganz, von Trotz und Angst. Auf dem Kopf trug er einen grauen Filzhut, den er unverschämterweise nicht abnahm. Sagte Westervelt: ,Wie ist Ihr Name?' Krupp nannte seinen vollen Titel und setzte mit Würde hinzu: ,Ich bin der Besitzer dieses Hauses. Was wollen Sie hier?' Der amerikanische Hauptmann schnitt ihm das Wort ab. ,Okay, Kumpel, du bist der Bursche, den wir suchen. Geh'n wir.'" Weiter erzählte Oberstleutnant Sagmoen dem Reporter des Sunday Express: "Ich hätte ihn ja auf der Motorhaube sitzen lassen, wie irgend sonst einen Krautgefangenen, aber die Straße zurück zu unserem Gefechtsstand ist holprig, voll von Bombenlöchern, und ich wollte ihn nicht unterwegs verlieren, den kleinen Soundso, daher setzte ich ihn nach hinten zu Westervelt."322 Als Sagmoen und Westervelt ihrem Regimentskommandeur den stolzen Fang, "den wichtigsten Kriegsgefangenen der 79. Division"323, vorführen wollten, soll dieser nur gesagt haben: "Ich will den Dreckskerl nicht sehen. Bringen Sie ihn zu den anderen Gefangenen."324 Der Sunday Express war in seinen Qualifizierungen und Erläuterungen zur Person, die ziemlich genau das Bild Krupps in der amerikanischen und britischen Öffentlichkeit wiedergaben, nicht sehr viel wählerischer. Er sei ein "Multimillionär-Kriegshetzer", ein "Supernazi, der, wie schon sein Vater und Großvater, seinen Reichtum aus dem Welthader zusammengerafft hat, den er anzustiften half". Nach seiner Verhaftung wurde Alfried Krupp in ein CIC-Lager in Recklinghausen gebracht, wo er in Verhören sagte, er habe Essen nicht verlassen, weil er bei seiner Fabrik und seinen Mitarbeitern habe bleiben wollen. Er äußerte ferner die Hoffnung, bald die Produktion wieder aufnehmen zu können. 325 Eine Woche nach der Verhaftung des Hausherrn, am 18. April, notierte die Chronik der Villa Hügel: "Herr Alfried Krupp von Bohlen und Halbach wird von einem Major und dem Criminal Commissioner Dr. Freudenberg zurückgebracht. In der Vorhalle finden bis zum Eintreffen des Hausmeisters Dormann einige Formalitäten statt. Herrn Alfried wird ein Blatt zur Unterschrift vorgelegt und der e.e. Dr. Freudenberg fertigt ein Plakat zum Aushang an der Tür zum Großen Haus aus, demzufolge Herr Alfried im Hause unter Hausarrest verbleibt und fremden Besuch nicht empfangen darf."326 Nichts konnte Betroffenen und Betrachtern in diesen Frühjahrswochen 1945 plastischer vor Augen führen, daß Glanz und Größe der Villa Hügel und des Hauses Krupp dahin waren, als jenes pittoreske Versacken des Familienstammsitzes im Gewimmel 322 323
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Sunday Express, 15.4. 1945. The Cross of Lorraine. A Combat History of the 79th Infantry Division, June 1942 - December 1945, Baton Rouge 1946, S. 13 3. So berichtete jedenfalls ein Augenzeuge; vgl. Manchester, Krupp, S. 576. Vgl. ebenda. Chronik der Besetzung, 18.4. 1945; Krupp-Archiv, FAH V B5.
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der Unannehmlichkeiten und kleinen Behelligungen einer ganz gewöhnlichen Okkupation. Schon in den beiden ersten Tagen gaben sich Militärtrupps und Sonderstäbe auf dem Hügel die Klinke in die Hand. "Rundgang durch das Große und Kleine Haus", verzeichnet stereotyp die Chronik. Dabei werden die Photo- und Filmapparate, die Vorräte an Cognac und Champagner schnell weniger. Bald darf die "Abgabe von Getränken aus den Weinkellern" nur noch mit Genehmigung eines Captain Kelly und Lieutenant Swope erfolgen. Ein technischer Arbeitstrupp nistet sich im Privatsekretariat ein, eine Granatwerfereinheit kann nur mit Hilfe eines Sicherheitsbeamten zur Quartiernahme im Stallgebäude überredet werden. Kurz darauf kommen zehn G.I.s, "die in der Küche des Grossen Hauses Essen verlangen, da ihre Feldküche nicht mitgekommen sei". Die Beleuchtung fällt aus. Der CIC entdeckt "im Safe des Herrn Dr. Krupp von Bohlen und Halbach in Gegenwart des Hausmeisters Dormann einen in einer Schachtel befindlichen Revolver". Das Personal wird verhört, zwei Offiziere kommen, "die den Argwohn aussprechen", die Bediensteten hätten das Licht abgedreht. Mittlerweile beziehen auf dem Rasenplatz vor dem Großen Haus Granatwerfer Stellung und beschießen einen Ort in der Nähe, der noch in deutscher Hand ist. Zugleich beginnt der Sensationstourismus der Kriegsberichterstatter zum Bürgerschloß des Kanonenkönigs. Interviews werden geführt. Deren Zweck, so notiert die Chronik, "schien zu sein, in zwanglosem Gespräch die Denkungsart der Deutschen zu den Geschehnissen der Zeit im allgemeinen kennenzulernen". Der Privatwagen von Alfried Krupp wird beschlagnahmt, ein neues Wachkommando trifft ein, der Sergeant des Granatwerfertrupps verbietet den Hausbediensteten, "nach 18 Uhr zur Lorbeerhalle zu gehen oder den Hof zum Kuhstall zu betreten". Ein CIC-Mann läßt sich "den Schmuckkasten der Frau Krupp von Bohlen und Halbach zwecks Besichtigung öffnen", ein "von Ostarbeitern vorgenommener größerer Eierdiebstahl wurde durch Herrn Schopp mit dem wachhabenden Offizier geregelt", eines Nachts werden 82 Hühner gestohlen, im Weinkeller wird erneut eingebrochen, und ein gewisser Leutnant Savage "betont, daß nur er oder der Oberst das Recht habe, einen Ausgabeschein für Wein auszustellen". Die amerikanische Wachmannschaft weist eine kleine französische Delegation ab, die sich mit einem Gang um das Haus zufriedengeben muß. Seit der Besetzung der Villa Hügel ist eine Woche vergangen: "Konzert einer auswärtigen amerikanischen, etwa 12 Mann starken Militärkapelle auf der Grünfläche vor dem Grossen Haus". Zwei Tage nach dem kleinen Platzkonzert der Sieger bittet ein Hausangestellter des Konzernherrn, der in seinen Privatgemächern unter Hausarrest steht, einen "Captain Ermert, die Lederstühle, welche seit dem Freikonzert am Donnerstag auf der Rasenfläche vor dem Großen Hause stehen, hereinzunehmen, um sie vor dem Verderb zu schützen". Was wir erleben, ist kein Sacco di Roma, in ihrer zwischen beiläufiger Demonstration schrankenlosen Verfügungsrechts und Etappenkomik changierender Besatzungsroutine aber so etwas wie die demonstrative Demontage eines der strahlendsten Symbole deutscher schwerindustrieller Weltgeltung, bildlicher Ausdruck des Beginns der niederschmetternden Demütigungen, die die Creme der großindustriellen Elite von den Siegermächten in den Jahren nach 1945 erfahren sollte. Den Sommersitz der Familie Krupp, Schloß Blühnbach bei Salzburg, inspizierten drei Wochen nach dem Fall Essens Soldaten der Seventh U.S. Army. Sie fanden dort den schwerkranken, nicht mehr zurechnungsfähigen Gustav Krupp von Bohlen und
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Halbach, den Vater Alfrieds. 37 Jahre lang, seit dem Jahre 1906, als er in Anwesenheit Kaiser Wilhe1ms 11. Bertha Krupp heiratete, hatte er den Stahlgiganten geführt. Bei Kriegsende war er ein Pflegefall. Die Besatzungsmacht quartiert Krupp und seine Frau in das Blühnbacher Posthaus aus und verwandelt den Sommersitz mit den 80 Zimmern in ein Flüchtlingsheim. 327 Gustav Krupp, der als Kriegsverbrecher angeklagt werden soll, wird dieses Haus nicht mehr verlassen. 1950 stirbt er 80jährig in Blühnbach, nahe seiner einstigen Residenz, die er aus dem Besitz des ermordeten österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand erworben hatte. Am 26. Juni 1945 begannen in London die binnen sechs Wochen abgeschlossenen Verhandlungen der vier Siegermächte über das Abkommen zur Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher und das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, in Essen endete Alfried Krupps Hausarrest, und mit der Einweisung in ein CIC-Lager in Recklinghausen 328 begann seine sechsjährige Odyssee durch amerikanische und britische Lager und Gefängnisse. Von diesem Tage an hielten ihn die Besatzungsmächte für eine spätere Anklage gleichsam in petto. Bei Abfassung der Liste der Hauptkriegsverbrecher dachten die Alliierten zunächst nicht daran, einen Vertreter der Großindustrie vor das Tribunal in Nürnberg zu stellen. 329 Frankreich und die Sowjetunion plädierten schließlich doch dafür, und so einigte man sich dann auf Krupp, den berühmtesten Namen der deutschen Großindustrie. Es dauerte eine Weile, bis die Amerikaner, in deren Gewahrsam sich die Krupps befanden, mit der Familienstruktur des Essener Clans vertraut waren. Auf der ersten Liste von Justice Robert H. Jackson fand sich ein ,,Alfred Krupp" (1812-1887), das State Department sprach in seiner Antwort von einem "Baron" Alfried Krupp, zwei Tage später ersuchte Jackson das Außenministerium, ,,Alfried" in "Gustav" abzuändern. Kurz vor Prozeßeröffnung wollte der amerikanische Anklagevertreter die Liste um zwei oder drei weitere Industrielle verlängern, aber seine Kollegen lehnten ab. So tauchte neben den Göring, Bormann und Kaltenbrunner als einziger Vertreter der Großindustrie der - wie nicht verborgen geblieben war - seit 1944 zunehmend rascher verkalkte Gustav Krupp von Bohlen und Halbach als Hauptkriegsverbrecher in der Anklageschrift auf. Sie wurde ihm in Blühnbach aufs Krankenbett gelegt 330, doch er konnte keine Notiz mehr davon nehmen. Drei Wochen nach der Eröffnungssitzung des Prozesses stellte ein internationales Ärzteteam nach gründlicher Untersuchung eine "senile Gehirnerweichung" fest, die es dem Angeklagten unmöglich mache, "eine Gerichtsverhandlung zu verstehen"; ein Transport sei lebensgefährlich. Daraufhin stellte der amerikanische Hauptankläger kurzerhand den offiziellen Antrag, Vater Gustav durch Sohn Alfried zu ersetzen, "da dem zukünftigen Weltfrieden kein schlechterer Dienst erwiesen werden könnte, als die ganze Familie Krupp und die Kriegsrüstungsindustrie in diesem Prozeß, in dem das Führen von Angriffskriegen verurteilt werden soll, auszulassen". Weder die Ankläger der drei anderen Siegermächte noch das Gericht folgten dem Ansinnen Jacksons. Der Platz Gustav Krupps bleibt leer. Der englische Hauptankläger kommentierte die Zumutung 327
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Norbert Mühlen, Die Krupps, Frankfurt 1965, S. 137. Handschriftliche Notizen Alfried Krupps über die Stationen seiner Haft, undatiert; Krupp-Archiv, FAH 24/13. Vgl. zum folgenden Bradley F. Smith, Der Jahrhundert-Prozeß. Die Motive der Richter von Nümberg Anatomie einer Urteilsfindung, Frankfurt 1977, S. 78 ff. Vgl. dazu und zum folgenden die Schriftwechsel, Gutachten und Dokumente in: IMT, I, S. 135, S. 138, S.150.
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seines amerikanischen Kollegen in öffentlicher Verhandlung mit den Worten, man befände sich nicht in einem Fußballstadion, "wo man einen Ersatzmann aufs Feld schickt, wenn jemand ausgefallen ist"33l. Alfried Krupp saß bis zum 13. März 1946 in dem Recklinghausener Lager. Von dort brachte ihn die Besatzungsmacht in den Gewahrsam des ,,5th Counter Intelligence Corps" - so Krupps Notizen 332 - in Staumühle bei Paderborn, im Juli 1946 wurde er in einem britischen Interrogation Camp bei Iserlohn verhört, am 17. Februar verbrachte er die Nacht im Polizeigefängnis Kassel, vom 18. Februar 1947 bis zum 24. August 1948 saß Krupp im Justice Prison in Nürnberg ein. Am 31. Juli wurde das Urteil im Verfahren "United States of America vs. Alfried Felix Alwyn Krupp von Bohlen und Halbach, et al." verkündet: Zwölf Jahre Gefängnis, schuldig in den Anklagepunkten "Plünderung und Raub" und "Verbrechen bezüglich Kriegsgefangenenund Sklavenarbeit". Am 4. Februar 1951, nach der Nachprüfung seines Urteils und der Begnadigung durch den Amerikanischen Hohen Kommissar McCloy333, konnte er das Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg verlassen. Einige Spitzenmanager des LG. Farben-Konzerns, die sich 1947 ebenfalls vor dem amerikanischen Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg wiederfanden, nahmen bei ihrer ersten Konfrontation mit der amerikanischen Besatzungsmacht eine ähnliche Haltung demonstrativer Gelassenheit und dezenter Herablassung ein, wie sie in dem Bericht über die Verhaftung Alfried Krupps überliefert ist. In seinem oft zitierten "kurzen Bericht" über eine Inspektionsfahrt zur I.G. Farben-Zentrale in Höchst Anfang April 1945 beschrieb Robert Murphys Pressereferent Robert T. Pell seine "erste Erfahrung mit dem Herrenvolk" und die Attitüde "ironischen Respekts", die er bei den Spitzen des Chemiegiganten und einiger anderer Firmen im Frankfurter Raum beobachtete. 334 Pell war mit einer kleinen Task Force der ,Japanese Section, G-2, SHAEF", die tür den Krieg in Fernost interessante technische Informationen sammeln sollte, nach Hessen gekommen. Er traf am Tag nach der Besetzung, am 29. März 1945, in Frankfurt ein. Die Beschreibung seiner Begegnung mit Georg August Eduard von Schnitzler würzte er mit einer glänzenden Porträtskizze des Vorstandsmitglieds der I.G. Farben, der zugleich stellvertretender Vorsitzender der Wirtschaftsgruppe Chemie gewesen war: "Er kam schließlich gemächlich ins Zimmer herein, das Abbild eines britischen Landedelmanns in perfekt gewienerten Halbschuhen und eleganter Golfkleidung. Er war ein Mann von etwa 60 Jahren und offensichtlich gewillt, soviel zwanglose Freundlichkeit zu zeigen, daß wir uns zu Hause fühlen konnten. Seine erste Bemerkung war, er sei so glücklich, wieder in einer Lage zu sein, in der er seine alte Freundschaft mit Lord X und Lord Y erneuern könne, mit den Duponts in Wilmington und auch mit Jack Morgan'. Er sagte, sie alle seien so gute Freunde, und es sei Zit. nach Bradley, Jahrhundert-Prozeß, S. 93. Dort weitere Einzelheiten. Siehe auch Diana Maria Fritz, Alfried Krupp und Berthold Beitz. Der Erbe und sein Statthalter, Zürich 1988, 5.39. m Handschriftliche Notizen Alfried Krupps über die Stationen seiner Haft, undatiert; Krupp-Archiv, FAH 24/13. 333 Vgl. dazu "Landsberg. Ein dokumentarischer Bericht", hrsg. v. Information Services Division Office of the U.S. High Commissioner for Germany, o. 0., 1951; HZ-Archiv, Dk 148.004. Vgl. auch die Analyse von Thomas A. Schwartz, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, in: VfZ 38 (1990), S. 375 ff. 334 Bericht Pells für Murphy v. 5.4.1945, vom Botschafter dem State Department übermittelt am 23.4.1945; NA, RG 59, 740.00119 Contral (Germany), 4-2345 (größtenteils abgedruckt bei Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 144ff.). 331
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sehr schmerzlich gewesen, von ihnen in den letzten Jahren abgeschnitten zu sein. Er sagte, ,I.G. Farben war natürlich eines der größten Unternehmen der Welt und ich habe überall Kontakte, und es war eine höchst unglückliche Situation, sozusagen eingesperrt und von all meinen guten Freundschaften in der ganzen Welt abgeschnitten zu sein'." Im amerikanischen Prozeß gegen den Chemiegiganten im Juli 1948 wurde von Schnitzler zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In einem anderen Industrieunternehmen verwies der Direktor die Task Force erst einmal auf seinen Rechtsanwalt und erklärte freiheraus, es würden keine Unterlagen zu finden sein, da er vor der Besetzung sämtliche Dokumente vernichtet habe. Danach suchten die Amerikaner die Metallgesellschaft auf, Großkonzern und führende deutsche Firma im Bereich der Aluminium-, Zinn- und Zinkerzeugung, wo sie vom kompletten Vorstand empfangen wurden. Die Direktoren gaben den Soldaten zu verstehen, "sie nähmen an, daß wir gekommen seien, ihnen bei der sofortigen Aufnahme der Arbeit zu helfen, daß sie beträchtliche Vorräte hätten und tür die Amerikaner durch die Erledigung diverser Aufträge zweifellos sehr nützlich sein könnten. Wir erklärten ihnen, daß dies nicht unsere Sache sei, und sie waren sehr niedergeschlagen. Als wir ihre Akten verlangten, gaben sie das, was sie ihre Akten nannten, sofort heraus und halfen uns sogar dabei, diese zum Wagen zu tragen." In einer Tochterfirma der Metallgesellschaft, den Lurgi-Gesellschaften, die Anlagen für die Großchemie herstellten, traf die Task Force auf eine Gruppe leitender Ingenieure. Diese betonten, "daß sie mit uns kooperieren würden, weil sie eingesehen hätten, daß sie geschlagen seien, und daß Deutschland seinen Wiederaufbau ganz von vorne beginnen müsse. Sie sagten, ihre Werke seien intakt (tatsächlich waren alle diese Werke intakt: wir haben nicht eine Fabrik gesehen, die schwer getroffen gewesen wäre) und sie würden auf die Anweisungen der amerikanischen Militärregierung warten und ihre Organisation in Rumpfform beisammenhalten. Sie waren bei der Übergabe ihrer Akten äußerst kooperativ, aber kooperativ in durchaus würdiger Weise. 0., der leitende Ingenieur, gab uns unschätzbare Informationen." Nach der Rückkehr aus Frankfurt faßte Robert T. Pell die Eindrücke seiner ersten flüchtigen Begegnung mit führenden Industriellen und Managern Ende März 1945 in folgendem Resümee zusammen: ,,Alles in allem hatte ich den Eindruck, daß die deutschen Führer eine Politik der Anpassung an die Erfordernisse der Situation betreiben, allerdings nur einer begrenzten Anpassung. Inzwischen tasten sie uns nach Schwächen ab, stellen sie uns alle paar Meter auf die Probe, suchen sie herauszufinden, ob wir wirklich meinen, was wir sagen; wenn wir auf den Tisch schlagen, gehen sie in ihrem Widerstand gerade so weit, wie sie es riskieren zu dürfen glauben. Sie sagen fast offen, daß wir nicht fähig sein werden, selber die Lage zu meistern, und daß wir schließlich doch zu ihnen kommen müssen. Sie vertrauen darauf, daß wir so viele Fehler machen werden, daß ihre Rückkehr in die führenden Positionen unvermeidlich sein wird. Bis dahin werden sie am Spielfeldrand sitzen und zuschau'n, wie wir herumstümpern. Auch werden sie den russischen Teufel an die Wand malen, soweit sie sich nur trauen. Bei der kleinsten Gelegenheit oder bei dem, was ihnen als Gelegenheit vorkommt, werden sie sagen, was sie wiederholt zu uns gesagt haben: ,Wir sind so froh, daß ihr hier seid und nicht die Russen' und etliche Male haben sie tatsächlich behauptet, die Wehrmacht habe den Rückzug angetreten, damit wir soviel wie möglich von Westdeutschland vor den Russen retten können ... Die meisten dieser Männer, die einiges und in vielen Fällen höchstes An-
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sehen genießen, gaben bereitwillig zu, daß Deutschland den Krieg verloren hat, beeilten sich aber, das der zahlenmäßigen Überlegenheit und der Luftmacht wie der industriellen Kraft der Alliierten zuzuschreiben, und sagten prompt, daß sie in Zukunft gut daran täten, dem nachzueifern. Das Gesamtbild war mithin, kurz gesagt, verstörend (disturbing)." Für die Amerikaner bestätigte sich bald allenthalben der Eindruck, den sie schon Wochen vor der Kapitulation bei ihren ersten Kontakten zu deutschen Industrieführern gewonnen hatten. Er ließ sich auf den groben Nenner bringen, daß das Führungspersonal in den größeren Unternehmen, bei zum Teil erheblicher Verunsicherung über ihr persönliches Schicksal, der unwillkürlichen Demonstration eines in amerikanischen Augen ein wenig altmodisch wirkenden patriarchalischen Gehabes und einer anfänglich abwartenden Haltung, doch samt und sonders fest davon überzeugt schien, daß die Besatzungsmacht in der extrem unübersichtlichen Lage, mit der sie in Deutschland konfrontiert war, unweigerlich scheitern mußte, falls sie sich das Knowhow der Wirtschaft nicht in vernünftiger Weise zunutze machte. Ebenso schien es zur Grundüberzeugung der industriellen Elite zu gehören, es müsse im elementaren amerikanischen Interesse liegen, den deutschen Wiederaufbau nicht nur nicht unnötig zu behindern, sondern ihn energisch zu befördern. Die Erwartung eines baldigen Ausbruchs des gleichsam naturgegebenen amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes gehörte - so mußte die Besatzungsmacht die ihr zugänglichen Informationen interpretieren im Frühjahr 1945 offenbar ebenfalls zum Credo der deutschen industriellen Elite. Auszüge aus Gesprächen mit Wirtschaftsführern, die vom Alliierten Oberkommando Anfang Mai in den regelmäßigen Civil Affairs-Analysen mitgeteilt wurden, bestätigen den Eindruck, den Robert Pell bei seiner Frankfurter Visite sechs Wochen zuvor gewonnen hatte. Ein führender Angestellter der LG. Farben hatte seinem amerikanischen Gesprächspartner beispielsweise den freimütigen Vorschlag gemacht, sich bei der Besetzung Deutschlands in etwa am Vorbild der britischen Politik nach dem Burenkrieg zu orientieren, ein hoher Manager der Metallgesellschaft in Frankfurt, der in Oxford studiert hatte, versuchte seinen Interviewer ähnlich wie von Schnitzler mit einer Auflistung von "wichtigen Freunden" in England und Amerika zu beeindrucken und fügte reichlich selbstbewußt sogar hinzu, die Alliierten täten gut daran, sich für den deutschen Wiederaufbau einzusetzen, da "Druck nur Gegendruck erzeuge"335. Etwa um dieselbe Zeit berichtete OSS von einer Unterhaltung mit dem Direktor einer mittelgroßen Maschinenfabrik in Krefeld, der freimütig erklärt hatte, er und seine Kollegen seien davon überzeugt, "daß der Konflikt zwischen den alliierten Blöcken unweigerlich ausbrechen müsse, weil die nicht-komunistischen Mächte früher oder später versuchen müßten, das Vordringen des Kommunismus auf dem Kontinent zu stoppen. Diese Industriellen", so der Bericht weiter, "sind nicht abgeneigt, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten."336 Hugo Stinnes jun. in Duisburg gab sich zwei Wochen nach der Besetzung ähnlich großzügig. Er versuchte den Befragungsoffizier zunächst in einer ziemlich komischen Selbststilisierung für sich einzunehmen, was dem Amerikaner aber nicht verborgen '" SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 12 v. 11. 5. 1945; NA, RG 331, 131.11, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. 336 "A German industrialist", in: OSS, Research and Analysis Branch, Situation Report: Central Europe, 21. 4. 1945; HZ-Archiv, Material Henke.
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blieb: "Herr Stinnes", bemerkte der Mitarbeiter des Strategic Bombing Survey, "betrachtete sich offensichtlich als eine Art Feudalherr, der auf patriarchalische Weise für die Wohlfahrt seiner Leute sorgt; er sagte, die tiefste Befriedigung während des Krieges habe er nicht daraus gewonnen, daß einige seiner Werke Flugbenzin und Chemikalien für die deutsche Kriegsmaschine produzierten, sondern daraus, daß seine Glasfabrik Millionen von Einweckgläsern für die deutschen Hausfrauen herstellte, die diese Gläser mit Obst und Gemüse füllten. Er sagte, daß er immer eine freudige Erregung verspürt habe, wenn er in die schmucke Küche einer Arbeiterwohnung getreten sei und dort Reihe auf Reihe der Stinnes-Weckgläser gesehen habe, gefüllt mit Produkten aus dem Garten des Arbeiters. Er hoffe, so sagte er, daß man sich an ihn wegen seiner Einweckgläser erinnern werde." Neben diesem Bekenntnis wußte der Mülheimer Industrielle seinem amerikanischen Besucher wesentliche Einblicke in seine Sicht der künftigen Entwicklung zu vermitteln: "Deutschlands Zukunft", sagte er, "hänge vollständig von der Politik der Besatzungsmächte ab, und davon, ob sie Deutschland die Möglichkeit zum Wiederbeginn eines gesunden nationalen Lebens ließen." Es gebe, so fuhr Stinnes fort, zwar ein gewisses Mißtrauen in alliierten Kreisen gegenüber Deutschland, doch müsse dies unbedingt überwunden werden: "Den Deutschen müsse eine Chance gegeben werden, ihre Bereitschaft zur Kooperation zu beweisen. Er sagte, daß er mit der Art und Weise, in der die alliierten Kontrollbehörden zur Zeit die deutschen Interessen behandelten, nicht recht zufrieden sei." Dabei geißelte er die "unnötige Bürokratie", die das Wirtschaftsleben abwürge. "Er hoffe, daß sich die alliierten Behörden mit ihm zusammensetzen und hinsichtlich dieser Dinge zu einer gemeinschaftlichen Regelung kommen werden." Um eine wirkungsvolle Schlußerklärung war der beinahe auftrumpfende Stinnes auch nicht verlegen: "Seine größte Sorge für die Zukunft sei, so sagte er, daß England und Amerika die Saat für künftiges europäisches Unheil säten, indem sie Rußland zu weit nachgäben. Er erklärte, der Nazismus habe viel mehr mit dem Kommunismus gemein als mit der Demokratie, und wenn den Deutschen nicht gute Beispiele und demokratische Anreize gegeben würden, müßten sie durch die Not und das Unglück, unter denen sie gegenwärtig zu leiden hätten, am Ende Moskau zugetrieben werden. Er sagte, er hoffe, daß für alles derzeitige Ungemach Deutschlands die Heilung in der Kollaboration mit England und Amerika gefunden werden könne."337 Solche und vergleichbare zuhauf an die amerikanische Adresse geschickten Signale waren nicht bloß wohlfeile, großspurige Lippenbekenntnisse oder allzu durchsichtige, auf Schmeichelei und gut camouflierter Drohgebärde basierende, in Wahrheit aber von Mentalreservationen geprägte Umarmungsversuche. Die Großwirtschaft an der Ruhr und anderswo setzte im Bewußtsein ihrer Rolle in der NS-Zeit, ihrer Verwundbarkeit während der Umbruchskrise und ihrer künftigen Unentbehrlichkeit bei der Stabilisierung der Nachkriegskrise vom ersten Tage der Besetzung an darauf, gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht ein Maximum an Kooperationsbereitschaft deutlich zu machen und der Militärregierung ihre Loyalität täglich neu unter Beweis zu stellen. Diese Einstellung kommt in den internen Unterlagen der Konzerne ganz klar zum Ausdruck. Edouard Houdremont, der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums, sagte beispielsweise den Verantwortlichen der auf dem westlichen Rheinufer gelegeJ37
"Interrogation of Mr. Hugo Stinnes", Interview Nr. 13 des USSBS v. 21. 3.1945; NA, RG 243, 134-B 216, Interviews of German Industrialists and Gerrnan Arrny Leaders.
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nen Friedrich Alfred-Hütte schon in der ersten Märzwoche 1945, "daß es für den Fortbestand der Fa. Krupp von wesentlicher Bedeutung sei, wie sich die Herren in Rheinhausen gegenüber den Besatzungsmächten verhielten"338. Mitte Mai schrieb Hermann Kellermann an Paul Reusch, er gebe die Hoffnung nicht auf, "daß wir mit maßgebenden Amerikanern in Fühlung kommen und eine gewisse Zusammenarbeit vereinbaren können"339. Drei Wochen zuvor hatte der Geschäftsführer der Düsseldorfer Handelskammer, der unmittelbar nach Besetzung der Stadt von Hans-Günter Sohl zu dieser Tätigkeit ermuntert worden war, bereits im engsten Mitarbeiterkreis betont: "Unser Bestreben müsse darauf hinausgehen", so das Protokoll, "gerade auch im deutschen Interesse eine ersprießliche Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden herzustellen."340 Im Juni kam ein großer interner Lagebericht der Vereinigten Stahlwerke zu dem Fazit, "daß die Gesamtindustrie des Ruhrgebiets bereit ist, im Interesse der notleidenden Bevölkerung" - wie es heißt - "in loyalster Weise mit der Besatzungsbehörde bzw. Militärregierung" zusammenzuarbeiten. 341 Im Sommer 1945 war der Optimismus der Wirtschaftsführer an der Ruhr bereits so weit gefestigt, daß der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte in einem Privatschreiben an Paul Reusch schon die selbstbewußte Feststellung treffen konnte: "Ihrer Auffassung, die Sie mir bekanntgegeben haben, stimme ich in vollem Umfange zu, und ich freue mich, Ihnen sagen zu dürfen, daß diese Auffassung auch von allen maßgebenden Herren hier im Revier geteilt wird. Wir bereiten alles vor und warten ab, bis man uns ruft."342 Die Industrieführer im Revier hatten meist schon bei den ersten Kontakten mit der Besatzungsmacht herausgefunden, daß es für praktikable Arrangements mit den Offizieren der Army und Militärverwaltung normalerweise immer genügend Spielraum gab, und daß diese selbst froh und erleichtert waren, kundigen Rat und Unterstützung zu erhalten. In der Chronik der Deutschen Röhrenwerke über das Kriegsende in Mülheim etwa steht zu lesen, die Amerikaner honorierten in ihrem Verhalten die "reibungslose Besetzung" der Stadt343 , der Chef der örtlichen Militärverwaltung einiger linksrheinischer Landkreise, wo die Röhrenwerke ein Zweigwerk betrieben, war "erfreut zu hören", daß die Firma der dortigen Landwirtschaft bei Reparaturarbeiten helfen wollte. 344 In Oberhausen wurde in einer Besprechung zwischen der Gutehoffnungshütte, Krupp und einem weiteren Konzern zur Bestandsaufnahme der Schäden an den Wasserwegen vereinbart, "daß Vertreter der drei Werke mit einem amerikanischen Ingenieur den Kanal begehen"345. Solche Indizien amerikanischer Kooperationsneigung, die alle bereits im März und April zu registrieren waren, wurden auch dadurch nicht verschüttet, daß im Frühjahr 1945 die verschiedensten alliierten Kommissionen zu einer regelrechten Invasion auf 338
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Aktenvermerk eines leitenden Angestellten über eine "Aussprache mit Herrn Prof. Houdremont am 5.3. 45 in Essen"; Krupp-Archiv, W A VII f 1134. Schreiben Kellermanns v. 18.5. 1945; Haniel-Archiv, 4001012010/102. Protokoll der Sitzung der Handelskammer am 25.4. 1945; Archiv der Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf, 112-22, Nr. 2. Bericht des Generalsekretariats der VSt v. 13.6. 1945; Thyssen-Archiv, A/5526. Schreiben Kellermanns an Paul Reusch v. 31. 7. 1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Chronik über die Besetzung des Werkes Thyssen der Deutschen Röhrenwerke AG in Mülheim/Ruhr, o. D.; Mannesmann-Archiv, R 15080. Aktenvermerk eines Mitarbeiters der Röhrenwerke über einen Besuch der Anlage Wegberg v. 30.4. 1945; ebenda. Aktenvermerk über eine "Vorbesprechung bei Krupp am 20.4. 45"; Haniel-Archiv, 40010150/82.
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die deutsche Industrie antraten. Im Auftrag des Strategie Bombing Survey, der Air Force oder der Navy, der Field Intelligence Agency, der Technical oder der Documents Section des Alliierten Oberkommandos, des Counter Intelligence Corps und noch mancher anderer Dienststelle durchstöberten sie die Arkana der Konzerne nach Statistiken, Produktionsunterlagen oder belastenden Materialien j46 Im April 1945 besuchten 27, im Mai allein 48 amerikanische oder englische Abgesandte dieses Typs die Kruppsche Hauptverwaltung in Essen. Es kamen mehrere Vertreter der Royal Air Force, ein Amerikaner, der Auskunft über das ]apangeschäft verlangte, ein Armeearzt, der wegen Knochennägeln aus nichtrostendem Stahl vorsprach, ein Hauptmann der Ordnance, der ein Eisenbahngeschütz besichtigte, ein amerikanischer Kapitän, der sich für die Fertigungsmethoden von Schnellbootkurbelwellen interessierte, ein Vertreter von General Motors, dem Fragen der Panzerschweißung am Herzen lagen, ein Special Consultant des Undersecretary of War und viele andere Besucher in Uniform und Zivil. 347 Auch diese an sich lästigen Besuche, die für die Firmen eine erhebliche Arbeitsbelastung mit sich brachten und oft genug mit dem Abtransport unersetzlicher Verfahrensunterlagen endeten, boten immerhin häufige Gelegenheit zu Begegnungen zwischen deutschen und alliierten Spezialisten, bei denen nicht die Kommandostimme den Umgangston bestimmen konnte. Ende April 1945 war es bei Krupp schon so weit, daß das Direktoriumsmitglied von Bülow, das 1947 mit auf der amerikanischen Anklagebank saß, den verantwortlichen amerikanischen Offizier mit Erfolg um "Unterstützung gegenüber englischen Kommissionen" bitten konnte. 348 Einige Zeit vorher war in der Konzernspitze gar das Mißverständnis gekeimt, die Aufgabe eines der seit längerem in Essen weilenden amerikanischen Teams bestehe darin, "den Umfang der Kriegsschäden und ihre Einwirkung auf die Produktionskraft des Werkes zu studieren, um hieraus Schlüsse über eine eventuelle Wiederinbetriebnahme des Werkes zu ziehen"349. Dem verhaltenen Optimismus der zunächst in ihren Positionen belassenen Wirtschaftsführer entsprach in den allerersten Wochen der Besetzung eine erstaunliche Sorglosigkeit, mit der sie sich in Interviews gegenüber Besatzungsoffizieren über die nationalsozialistische Zeit äußerten. Unter dem Damoklesschwert der Kriegsverbrecherprozesse und Säuberungsmaßnahmen sollte dieses Aufflackern von Freimütigkeit, ja Aufrichtigkeit der Reflexion über die eigene Rolle im Dritten Reich aber bald erlöschen und dem "Habitus des unverantwortlichen Handelns"350 weichen, den aus tausend Spruchkammerverfahren wohlvertrauten Stereotypien von unwillkürlicher Verstrickung und widerstrebendem Mitläufertum. Als vorläufige Quintessenz der Befragung einiger führender Industriemanager im Frankfurter Raum stellte das Alliierte Oberkommando Ende April heraus: "Mit dem Naziregime kooperiert zu haben, erscheint ihnen nur als ein normales Geschäft, das im übrigen gute Profite einbrachte. 146
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Zur Tätigkeit der verschiedenen alliierten Kommissionen siehe John Gimbel, Science, Technology, and Reparations. Exploitation and Plunder in postwar Germany, Stanford 1990. Vennerk ,,Amerikaner und Engländer, mit denen wir seit der Besetzung verhandelt haben", o. D.; KruppArchiv, W A 42/208. Aktenvermerk über eine Unterredung von Bülows mit der Militärregierung am 30.4.1945; Krupp-Archiv, WA 42/210. .. Notizen aus der Besprechung mit Herren der amerikanischen Besatzungsbehörde am 13.4. 1945"; Krupp-Archiv, WA 42/227. Berghahn, Unternehmer, S. 188.
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Die Nachteile, die sie darin fanden (etwa die strikte Kontrolle), seien durch Vorteile (wie die Auflösung der Gewerkschaften) ausgeglichen worden, die nach ihrer Hoffnung dauerhaft sein werden."3) 1 Diesselbe Auffassung bekamen die Amerikaner um die gleiche Zeit von dem Direktor einer mittelgroßen Werkzeugmaschinenfabrik in Krefeld zu hören, der für die Nachkriegszeit die Etablierung eines autoritären Staates in Vorschlag brachte, "in dem", wie er anregte, "ein hierarchisches Ständesystem und eine leicht reformierte Deutsche Arbeitsfront an die Stelle der Gewerkschaften treten müßten". Über die Kennzeichnung des Nationalsozialismus als "braunen Bolschewismus" konnte der Betriebsleiter nur spotten: "Wir, unsere Klasse, haben einen gewissen Einfluß in der Nazipartei", erläuterte er seinen Gesprächspartnern. "Wir könnten unter dem Kommunismus diesen Einfluß nicht haben, wir würden allen verlieren. Die Nazipartei ist nicht eine Partei der unteren Klassen. Sie werden bloß ausgebeutet für die Ziele der Nation und um der politischen Macht des Staates eine Basis zu sichern. Natürlich verlieren wir unter dem Nazisystem bestimmte Rechte, aber wir glauben, daß es sich lohnt."3)2 Ebenfalls Ende April 1945 berichtete ein ass Field Report über das Gespräch mit einem als "außerordentlich fähigen Nationalisten" qualifizierten Manager der Henschel-Werke in Kassel. Der erzählte den Amerikanern, er habe, da er dank seiner Geschäftsbeziehungen zu General Motors einen gewissen Einblick in das Kriegspotential der USA zu haben glaubte, die deutsche Führung in einem Memorandum vor einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten gewarnt. "Hätte der Krieg gewonnen werden können", referierte ihn ass, "wäre er ganz zufrieden gewesen. Was er verurteilt, ist nur das miserable strategische Urteil der Nazis, dazu die Art und Weise, wie der Gauleiter und andere verschwunden sind und ihn in Kassel sitzenließen." Leute wie der Interviewte, hieß es in der Analyse weiter, "hatten an keinem Aspekt der Nazi-Innenpolitik ernstlich etwas auszusetzen"3H Besonders leutselig zeigte sich auch hier einmal mehr Hugo Stinnes. In seiner jovialen Plauderei mit dem Amerikaner Bayles von USSBS Ende Mai 1945 erläuterte der Mülheimer Magnat rückblickend, Görings Vierjahresplan sei keineswegs ein kriegswirtschaftliches Programm gewesen. Er bestand darauf, "daß, als es entworfen wurde, kein verantwortlicher Deutscher an Krieg gedacht habe". Danach gab er, ebenso wie viele seiner Kollegen, der prinzipiellen Zufriedenheit mit der Ordnung der Arbeit im Dritten Reich Ausdruck: "Er erklärte, daß er nach 1933 in keinem seiner Werke oder Zechen Konflikte mit den Arbeitern gehabt habe. Er gab zu, daß die Ansichten der Arbeitsfront manchmal in Gegensatz zu denen der Betriebsleitung standen, beteuerte aber, daß diese Differenzen leicht beizulegen waren, wenn der Leiter eines Werks genügend Verständnis besaß und eine Persönlichkeit war." Stinnes bekundete dann auch gleich noch seine Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Judenpolitik. Unter seinen 23.000 Arbeitern sei nach 1933 nicht ein einziger Jude gewesen, sagte er und fügte hinzu: "Ungeachtet des dringenden Bedarfs oder der hohen Qualifikationen eines Bewerbers, beschäftigte er keinen Techniker, der Jude war." Seine Expektoratio'" SHAEF, G-5, Weekly Journal of Information Nr. 12 v. 11.5.1945; NA, RG 331, 131.11, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. 352 OSS, Research and Analysis Branch, Situation Report: Central Europe, 21.4. 1945; HZ-Archiv, Material Henke. 353 First U.S. Army, OSS Detachment, Field Report, Phase I - Kassel, 18-23 April v. 24.4. 1945; NA, RG 226, XL 9514.
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nen schloß er mit dem Bekenntnis: "Ich bin ein Deutscher, ich bin immer ein Deutscher gewesen, und ich möchte nie etwas anderes sein als ein Deutscher. Ich bin ein Optimist, sonst hätte ich Selbstmord begangen."354 Offenbar sahen die interviewten Industrieführer in den ersten Wochen der Besatzungszeit überhaupt keinen Anlaß, mit ihren eingewurzelten Überzeugungen hinter dem Berg zu halten. Andererseits dagegen waren sich die meisten Industriellen und Manager offenbar von vornherein dessen bewußt, daß sie für die brutale Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in der zweiten Kriegshälfte keine überzeugende Rechtfertigung würden finden können, also für genau den Tatbestand, der in den Kriegsverbrecherprozessen dann vor allem zur Verurteilung der vor Gericht zitierten Industriellen führte. Spurenelemente von Unrechtsbewußtsein oder wenigstens schlechten Gewissens glaubt man aus manchem frühen Interview herausfiltern zu können, entweder indirekt, weil dieses Thema überhaupt nicht oder nicht mit der gleichen Freimütigkeit wie die nationalsozialistische Innen- und Außenpolitik angeschnitten wurde, oder deshalb, weil die Befragungsoffiziere hier meist mit sehr kargen Repliken abgespeist wurden. Bei diesem Thema fand sogar die Mitteilungsfreude von Hugo Stinnes jr. ihre Grenzen. "Herr Stinnes war ausweichend und bei der Beantwortung der Fragen oft zögerlich", notiert der Interviewbericht zu diesem Punkt. Es dauerte eine Weile, bis Stinnes auf mehrmaliges Nachfragen hin einräumte, daß die Behandlung deutscher und ausländischer Arbeitskräfte durchaus unterschiedlich gewesen sei, sich gleich darauf aber zu der These verstieg, die Ausländer hätten von ihrem Aufenthalt in Deutschland profitiert, weil sie hier ihre Fähigkeiten hätten ausbauen und Facharbeiter werden können. Auch Edouard Houdremont, der sich persönlich mit um die Errichtung einer Krupp-Produktionsstätte in Auschwitz gekümmert hatte und auch sonst mit der Organisation der Beschäftigung von jüdischen KZ-Häftlingen befaßt gewesen warm, vermied es, der Militärregierung gegenüber den Zwangsarbeitereinsatz bei Krupp auch nur zu berühren. In seiner längeren Darlegung zur wirtschaftlichen Lage der Firma und politischen Einstellung der Konzernleitung zwischen den Kriegen, die die Besatzungsmacht im Mai 1945 von ihm gewünscht hatte, erwähnte der faktische Chef des Stahlriesen diesen Komplex, der 1947/48 das Kernstück des amerikanischen Prozesses gegen Krupp bilden sollte, mit keinem Wort (der Konzern beschäftigte 1944 insgesamt über 70.000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge). In seinem Bestreben, dieses Kapitel, bei dem den meisten Industriellen bei Kriegsende offenkundig besonders unwohl gewesen ist, als ein Nolimetangere zu behandeln, ähnelte Houdremonts Haltung ganz der seiner Kollegen. In der Beschreibung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen industrieller Produktion im Dritten Reich waren seine Ausführungen geschickter und auch vorsichtiger als die Einlassungen manches anderen Industrieführers in den ersten Wochen nach der Besetzung. Houdremont bedauerte gegenüber der Militärregierung die nun plötzlich überall anzutreffende falsche Vorstellung von der Firma Fried. Krupp als "Hauptproduzent von Kriegsmaterial, als der Hauptförderer und -nutznießer des Nazismus und in der Folge '54 "Interrogation 01 Mr. Hugo Stinnes", Interview Nr. 13 des USSBS, 21. 5. 1945; NA, RG 243, Entry 6/12Box 6. m Vgl. Trials 01 War Criminals, IX: The Krupp Case, S. 1416ff. Zur Statistik der Zwangsarbeit vgl. die Faltkarte, ebenda, zwischen S. 674 und S. 675, sowie ebenda, S. 31 und S. 115.
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als einer der Hauptanstifter des Krieges und als einer der größten Kriegsgewinnler". Dieser Eindruck sei falsch. Er glaube vielmehr sagen zu können, strich er im Laufe seiner Argumentation heraus, "daß die Firma Krupp viel weniger mit dem Krieg zu schaffen hatte als andere Industrieunternehmen". Die zahlreichen alliierten Kommissionen hätten sich inzwischen davon überzeugt, daß der Konzern niemals eine umfassende Serienproduktion für Kriegsmaterial entwickelt habe; im übrigen seien die amerikanischen und britischen Experten über die vorgefundenen antiquierten Fertigungsmethoden sehr erstaunt gewesen. Houdremont bestritt nicht, daß sich die Firma nach 1933 wirtschaftlich erholt habe, doch sei der Preis dafür zu hoch gewesen. Er schrieb: "Das Ansteigen der Produktion und die Besserung der Geschäftslage, die 1933 einsetzten, brachten natürlich monetäre Vorteile, aber die Einmischung öffentlicher Stellen störte die Organisation und die stetige Entwicklung der Firma erheblich, ohne daß Krupp in der Lage gewesen wäre, Widerstand zu leisten." Neben allerlei Hinweisen dazu, wie fern Inhaber und Manager des Konzerns dem Nationalsozialismus immer gestanden hätten, variierte der Krupp-Chef geschickt das bekannte Thema vom unerbittlichen Zugriff des Staates auf die Großwirtschaft. Dazu verwies er auf die durch die Kriegsproduktion erlittenen Strukturschäden, etwa den Verlust der langjährigen Abnehmer Kruppscher Zivilerzeugnisse. "Vom geldlichen Erfolg abgesehen, den die volle Nutzung der Kapazität brachte, muß die Entwicklung, die Krupp als Folge des Krieges zu nehmen hatte, als absolut ungünstig angesehen werden", betonte er. Die gemachten Gewinne könnten nicht als akzeptables Äquivalent einer insgesamt höchst ungesunden Entwicklung der Firma betrachtet werden. Besonders wirkungsvoll herausgestrichen wurden die häufigen Konflikte mit der nationalsozialistischen Rüstungsorganisation : "Wieder und wieder wurde der Firma ihr Mangel an Energie und Anpassungsvermögen beim Übergang von Friedens- zu Kriegszeiten vorgeworfen. Im Vergleich zu neu geschaffenen nationalsozialistischen Unternehmen galt die Firma Krupp mit ihrer alten Tradition als Versager." Ebenfalls als Entlastung wollte er seine zutreffende Feststellung verstanden wissen: "Kein Krupp-Direktor war in einer leitenden Stellung in den staatlichen Organisationen oder zum Beispiel im Speer-Ministerium zu finden." Houdremonts geschickt abgefaßtes Memorandum, dessen Argumentation darauf hinauslief, den Konzern als Opfer nationalsozialistischer Zwangswirtschaft hinzustellen, mündete schließlich in einen emphatischen Appell an die Militärregierung, dem eigentlichen Zweck der Denkschrift. Dieser Appell lief auf das Angebot der Firma Fried. Krupp hinaus, gemeinsam mit der Besatzungsmacht den Blick nicht zurück, sondern besser nach vorne zu richten und nunmehr mit einer zukunftsorientierten Zusammenarbeit zu beginnen: "Da ich oft gefragt worden bin", begann Houdremont, "wie ich mir den Wiederaufbau der Krupp-Werke nach dem Krieg vorstelle, möchte ich darauf hinweisen, daß es am besten wäre, von der Situation auszugehen, wie sie 1932 bestanden hat, und ich wäre für eine Gelegenheit dankbar, diese Frage der Militärregierung in aller Offenheit vorzulegen. Ein solcher Gedankenaustausch wird Mißtrauen abbauen und, wie ich hoffe, zu gegenseitigem Vertrauen führen, das zur Bewältigung eines derart schwierigen Problems so notwendig ist. Es sollte möglich sein, die Herstellung von Kriegsmaterial ohne die vollständige Zerstörung der Industrie zu verhindern. Wir sind mehr als bereit, bei der Lösung dieser Frage mitzuwirken, da ich glaube, daß dies die einzige Lösung für die Wohlfahrt unserer Arbeiter und der Stadt
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Essen ist. Es ist nicht die Schuld von Krupp, daß sein Name von der Propaganda des Nazireichs und von dessen Führern stets als Schlagwort benutzt wurde ... Es ist nach meiner Meinung von größter Bedeutung nicht allein für die Firma Krupp, sondern für die ganze derzeitige komplizierte Situation, daß Vertrauen an die Stelle von Mißtrauen tritt (confidence must substitute distrust). Ich gebe zu, daß das nur allmählich bewirkt werden kann. Gelingt es nicht, so denke ich, daß wir in vollständigem Chaos versinken werden, was zum Besten der Zukunft um jeden Preis vermieden werden muß."356
Rasche Selbstorganisation und Einflußsicherung der Wirtschaftselite Edouard Houdremont begnügte sich nicht mit emphatischen Appellen. Der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums behielt in den Umbruchswochen die Fäden fest in der Hand und hatte bereits lange vor Abfassung seiner Denkschrift alle Hebel im Sinne der von ihm geforderten vertrauensvollen und zukunftsorientierten Zusammenarbeit mit der Militärverwaltung in Bewegung gesetzt. Der Leitung der linksrheinisch gelegenen Friedrich Alfred-Hütte hatte er schon Anfang März 1945 seine Maxime klargemacht, die er in den kommenden Monaten selbst peinlich genau verfolgen sollte, nach der es "für den Fortbestand der Fa. Krupp von wesentlicher Bedeutung" war, wie sich deren führende Männer gegenüber den Besatzungsmächten verhielten. 357 Nach der Besetzung Essens am 11. April hatte Houdremont umgehend Kontakt zu den Amerikanern hergestellt, und bereits 48 Stunden später fand eine erste eingehende Besprechung zwischen der Konzernspitze und den alliierten Offizieren statt. 358 Dieses Gespräch diente vor allem der Abklärung, wie der Besatzungsmacht am raschesten ein Überblick über die Lage des Konzerns und Einblick in wichtige Unterlagen (Produktionszahlen, Personalbestand, Betriebsverlagerungen u. ä.) verschafft werden konnten. Wenige Tage später befand sich der Krupp-Chef schon in Verhandlungen mit den Amerikanern über eine rasche Behebung der chaotischen Verkehrssituation im Rhein-Ruhr-Bezirk. In einer Unterredung, die er darüber mit Vertretern der Reichsbahndirektion führte, betonte Houdremont die Notwendigkeit, "die gesamte Industrie, den Verkehr, die Versorgungsbetriebe usw. in einer handlungsfähigen Kommission zusammenzufassen, die die schweren Probleme des Wiederaufbaues des Gebietes aktiv anpacke und steuere und mit dem Military Government zusammenarbeitet". Der Chef der Militärverwaltung habe "das Wertvolle einer soIchen Organisation auch eingesehen", es sei aber notwendig, daß diesem Gedanken von der Industrie "unter Hintansetzung eigennütziger Motive" nachdrücklich Geltung verschafft werde. 359 Schreiben der Fried. Krupp, gez. Houdremont, an Oberst Edson D. Raff, "Commander of the Essen Zone", v. 25.5. 1945; Krupp-Archiv, WA VII f 1423. '51 Aktenvermerk eines leitenden Angestellten der Hütte über eine ,,Aussprache mit Herrn Prof. Houdremont am 5.3. 45 in Essen"; Krupp-Archiv, WA VII f 1134. Zur Herstellung der "Kommunikation im eigenen Lager" siehe auch Müller-List, Neubeginn, S. 51 ff. '58 "Notizen aus der Besprechung mit Herren der amerikanischen Besatzungsbehörde am 13. 4. 1945"; Krupp-Archiv, WA 42/227. 359 Niederschrift über eine Besprechung in der Reichsbahndirektion Essen am 26.4. 1945; ebenda. Zu Houdremonts "Plan" vgl. die Niederschrift über die Besprechung mit der Militärregierung am 20.4. 1945 im "Essener Hof" in Oberhausen; Haniel-Archiv, 40010150/82. Vgl. dazu auch die Eintragung im Tagebuch Fugmann, Rheinhausen, v. 23.4.1945; Krupp-Archiv, WA 70/04001. '56
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Zweifellos war er mittlerweile längst darüber im Bilde, daß die Amerikaner in den Monaten zuvor den Anliegen der Wirtschaft im linksrheinischen Besatzungsgebiet mit viel Verständnis begegnet waren. 360 Dem nun überall zu beobachtenden Bestreben der großindustriellen Elite, sich bei der Besatzungsmacht unentbehrlich zu machen und durch wirkungsvolle Hilfe deren Wohlwollen und Vertrauen zu gewinnen, entsprach das Bedürfnis der Offiziere der Militärverwaltung, sich auf Persönlichkeiten stützen zu können, die nicht nur gute Ratschläge anzubieten hatten, sondern über Hilfsmittel und Einfluß genug geboten, der Besatzungsarmee bei der Stabilisierung der desolaten Situation in Deutschland entscheidende Unterstützung zu geben. 361 Die Amerikaner hatten deshalb gewöhnlich ein offenes Ohr, wenn in den Tagen des Einmarsches führende Männer der Wirtschaft an sie herantraten, und die Frage, wer sich in den ersten Wochen nach dem Einmarsch mehr auf wen angewiesen fühlte, ist gar nicht eindeutig zu beantworten. Zweifellos betrieb die Industrie "Einflußnahme"362, aber angesichts des bemerkenswerten Gleichklanges deutscher und amerikanischer Interessen in den ersten Wochen nach dem Einmarsch bedurfte es dabei keiner sonderlichen Überzeugungskraft. Die überbeanspruchten Besatzungsoffiziere waren vielmehr erleichtert über die Kooperations- und Kontaktfreudigkeit der Wirtschaft. Zwischen Einflußnahme und Vereinnahmung wußten sie aber sehr wohl zu unterscheiden. In den Vorstandsetagen der Betriebe und Konzerne bestand nach dem Fall des NSRegimes und der Desintegration der Verwaltung das gleiche Interesse an einer raschen Krisenstabilisierung wie bei der Besatzungsmacht. Das Führungspersonal wollte seine Autorität in den Unternehmen wahren, den Einfluß an den Produktionsstandorten nicht verlieren und bei allen wichtigeren Notstandsmaßnahmen in der Region ihr Wort mitsprechen. Seit Beginn des Jahres 1945, als ihr Hauptaugenmerk der Abwehr der Selbstzerstörungstendenzen des Regimes und der Rettung der Betriebssubstanz galt, war die informelle, zum Teil konspirative Abstimmung der Industrieführer untereinander sehr eng gewesen. Dieses dicht geknüpfte, durch die Wirren des Einmarsches an manchen Orten kurzfristig, anderswo überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogene Netz von Beziehungen bestand nach wie vor. Mit einem Versuch, diesen Abstimmungsprozeß zu unterbinden, hätte die fremde Militärverwaltung noch kläglicher scheitern müssen als die unvergleichlich besser informierten NS-Organe. Doch die Probe auf dieses Exempel wurde nie gemacht. Die überaus umgängliche Haltung der Amerikaner erlaubte es den deutschen industriellen Eliten, ihre gut abgestimmten Vorschläge meist ungehindert zu Gehör bringen. Oft gab die Besatzungsmacht sogar selbst den Anstoß zur Bildung von industriellen Einflußzirkeln, mit denen sie ins Ge360
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In Krefeld hatten sich bald nach der Besetzung der Stadt unter dem Dach der Industrie- und Handelskammer etwa ein Dutzend führender Vertreter der Textil-, Chemie- und Eisenindustrie, des Handels und der Banken zu einer Art lokalen Notstandskommission zusammengefunden. Das Protokoll vom 19. März 1945 hebt hervor, daß nicht nur der Industrieoffizer, sondern auch "alle übrigen Offiziere der Militärregierung, mit denen wir bisher zusammenzukommen Gelegenheit hatten, unseren Belangen großes Verständnis entgegenbringen und unsere Arbeit fördern, so weit es ihnen irgend möglich ist". Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 25-27-1. Dieser Befund für das rheinisch-westfälische Industriezentrum deckt sich in vielem mit den Ergebnissen für Bremen und Niedersachsen bei Rainer Schulze, Unternehmerische Selbstverwaltung und Politik. Die Rolle der Industrie- und Handelskammern in Niedersachsen und Bremen als Vertretung der Unternehmerinteressen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Hildesheim 1988, insbes. S. 502 ff. Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 137.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
spräch kommen wollte. Bis in den Sommer hinein war es dabei durchaus nebensächlich, welche Gestalt diese Bestrebungen der Großindustrie nach Selbstorganisation und Einflußsicherung annahmen, die Gestalt loser "Kreise", die Form von Zusammenkünften unter dem Dach einer Wirtschaftskammer oder - wie in Duisburg einer provisorischen, ad hoc gebildeten Steuerungskommission. Das links der Ruhrmündung gelegene Duisburg war am 12. April besetzt worden. Die Hütten- und Walzwerke, aus denen etwa ein Drittel der Eisen- und Stahlproduktion sowie der Walzwerkerzeugnisse Deutschlands gekommen war, lagen still. J6J Die Mitarbeiter der Wirtschaftskammer hatten die Stadt unter Mitnahme sämtlicher Unterlagen veriassen. J64 Einige Industriemanager hatten sich ebenfalls abgesetzt, aber herrenlos war auch in dem deutschen Stahlzentrum kein Betrieb zurückgeblieben. Vom Vorstand des bedeutenden Maschinenbauunternehmens Demag etwa, der sich im März in östlicher Richtung abgesetzt hatte, war dem am Ort verbliebenen Direktor Erich Edgar Schulze für die Umbruchswochen die unmittelbare Verantwortung für das Werk übertragen worden. J65 24 Stunden nach dem Einrücken der amerikanischen Truppen wurde Schulze zum Chef der Militärverwaltung gebracht, der ihm mitteilte, "auf Befehl des Obersten Befehlshabers solle die Produktion in den Werkstätten baldigst wieder in Gang gebracht werden". Gleichzeitig bestellte er den Demag-Direktor für den Vormittag des nächsten Tages zu einer Sitzung ins Rathaus. In gleicher und ähnlicher Weise verfuhren die Amerikaner mit einem Dutzend weiterer prominenter Duisburger Wirtschaftsführer. Im benachbarten, am Tag zuvor besetzten Mülheim gingen sie ähnlich vor. Auch hier lud die Militärverwaltung die Leiter der führenden Industrieunternehmen sofort nach der Besetzung zu einer Besprechung, wo diesen für die Weiterführung ihrer Betriebe auch gleich schon die "volle Unterstützung" zugesichert wurde. J66 Am 14. April, 10 Uhr früh, fanden sich im Duisburger Rathaus alle ein, die in der Stahlstadt an der Ruhr über Macht und Einfluß verfügten. Unter den zwölf Vertretern der Schwerindustrie und der chemischen Industrie waren neben Direktor Schulze beispielsweise die Repräsentanten der Duisburger Kupferhütte, der zur August ThyssenHütte AG gehörenden Niederrheinischen Hütte, der großchemischen Rütgerswerke AG, der Mannesmannröhren-Werke Huckingen, der Berzelius-Metallhütten-GmbH und ein Direktor von Haniel; zwei Beamte der Stadt waren ebenfalls zugegen. Direktor Schulze wurde gebeten, den Vorsitz zu übernehmen, der Chef der Militärverwaltung bekräftigte die Absicht, die Produktion baldigst in Gang zu setzen, und verabschiedete sich sodann mit den Worten, "er würde in etwa einer Stunde wiederkommen"J67. Im Handumdrehen steckten die versammelten, miteinander gut bekannten, J63
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Vgl. den .,Vorläufigen Bericht über die allgemeine Wirtschaftslage in Duisburg" des Wirtschaftsausschusses v. 19.5. 1945; Rheinisch·Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 20-1608-2. Vgl. die Besprechung von Oberbürgermeister Dr. Weitz mit der Militärverwaltung am 7. Mai 1945; Rheinisch -Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 20-1913-1. Vgl. die Aufzeichnungen von Schulze, Aus Duisburgs dunkelsten Tagen; die Tagebucheintragung vom 3.April 1945 auf S. 249. Das folgende Zitat aus der Eintragung vom 13. April 1945 auf S. 251. Chronik des Werkes Thyssen der Deutschen Röhrenwerke AG .,von der Besetzung der Stadt Mülheim am 9. April [recte: 12. April) an bis zur Erteilung der Produktionserlaubnis durch die Alliierten", Eintrag unter dem 14. April; Mannesmann-Archiv, R 15080. Niederschrift von Erich Edgar Schulze über die konstituierende Sitzung der Duisburger Industriekommission am 14. April 1945; Mannesmann-Archiv, D 1.093, abgedruckt bei Schulze, Aus Duisburgs dunkelsten Tagen, S. 251 ff.
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oft genug befreundeten Industriellen die wichtigsten Problemfelder ab: Elektrizität, Kohle, Wasser, Brücken, Verkehr, Ernährung. Unter den Beteiligten herrschte Einigkeit darüber - und ausweislich des Protokolls versicherten sie sich eigens dessen -, daß ihre Arbeit auch im deutschen Interesse liege. Am Ende der Sitzung wurde, da die Besatzungsmacht künftig nicht mit jeder Firma gesondert verhandeln wollte, Direktor Schulze gebeten, die "Vermittlung" zwischen Industrie und Militärverwaltung zu übernehmen. Der erste Kontakt zwischen dem neu eingesetzten Oberbürgermeister der Industriestadt und der Kommission, die diesem "seitens der Duisburger Wirtschaftskreise in geeigneter Form Resonanz zu schaffen"368 gedachte, kam drei Tage nach der konstituierenden Sitzung des Gremiums zustande. Zum neuen Stadtoberhaupt hatten die Amerikaner nach entsprechenden Hinweisen der katholischen Geistlichkeit den ehemaligen Beigeordneten und Zentrumspolitiker Dr. Heinrich Weitz gemacht. Während der NS-Zeit aus der Politik verdrängt, unterhielt er ein gutes Verhältnis zu einflußreichen nicht-nationalsozialistischen Kreisen an Rhein und Ruhr, zu Adenauer und dem Klöckner-Schwiegersohn Henle etwa. Später stieg er zum nordrhein-westfälischen Finanzminister und Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes 369 auf. Weitz begrüßte "die Tätigkeit der Kommission lebhaft", da er mit ihr nun eine Stelle habe, von der er ,,Auskünfte einholen könne"37o. Anfang Mai teilte der Oberbürgermeister der Militärverwaitung mit, "daß alle Anfragen, die industrielle Angelegenheiten betreffen, in Zukunft unmittelbar an Herrn Direktor Schulze von der Demag gerichtet werden können"37 [. Damit war dem bei der notdürftigen Stabilisierung der Infrastruktur unübertroffen handlungsfähigen Steuerungsgremium die Schlüsselposition zugefallen zwischen einer Stadtverwaltung, die sich organisatorisch und personell erst formieren mußte, und einer Militärregierung, die Fuß zu fassen versuchte. In Duisburg waren Oberbürgermeister und Demag-Direktor freilich umsichtig genug, von vorneherein dem Verdacht zu begegnen, die leitenden Herren der Großindustrie wollten sich zu einer Art Krisendirektorium aufschwingen. Dr. Weitz bat zehn Tage nach der Besetzung den Vorsitzenden der Industriekommission, das Gremium durch Vertreter von Handel und Gewerbe zu erweitern, welches so "als Ersatz für die zur Zeit noch abwesende Wirtschaftskammer" fungieren könne. Als Geschäftsführer stellte Weitz einen Beamten der Stadt ab. Die Militärregierung begrüßte diese Erweiterung, und der Ausschuß setzte sich nunmehr aus elf Vertretern des Bergbaus und der Industrie, aus drei Mitgliedern mittlerer Industriebetriebe, aus zwei Vertretern von Schiffahrt und Spedition, vier bis fünf Mitgliedern des Handels, der gleichen Anzahl aus dem Baugewerbe und dem Handwerk sowie einem Vertreter der Banken zusam368
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Niederschrift der Sitzung der Industriekommission am 17.4. 1945; ebenda. Protokollnotizen zu den Sitzungen der Duisburger Industriekommission, zum Teil in anderer Fassung, finden sich auch in: Haniel-Archiv,40010150/81 VgL Günter von Roden, Heinrich von Weitz. Duisburger Oberbürgermeister und Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Dllisbllrger Forschungen 17 (1973), S. 117 ff., sowie das von Hartrnut Pietsch verfaßte Kapitel "Antifaschistische Einheitsfront in Duisburg und Mülheim/Ruhr" in: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, hrsg. v. Lutz Niethammer, Ulrich Borsdorf, Peter Brandt, Wuppertal 1976, S. 365. Siehe auch Henle, Weggenosse, S. 73. "Niederschrift über die zweite Sitzung der Industriekommission vom 20.4. 1945 im Sitzungszimmer der Demag A.G."; Mannesmann-Archiv, D 1.093. Notiz über die Besprechung zwischen der Militärverwaltung und Oberbürgermeister Dr. Weitz am 7. Mai 1945; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 20-1913-1.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
men. 372 Durch diese Öffnung war die Industriekommission zu einer Vorform der Industrie- und Handelskammer geworden, die in Duisburg unter dem Vorsitz von Schulze Anfang Juni 1945 ihre Geschäfte aufnahm. Im selben Monat lösten die Briten, die dort bereits Ende April die Detachments der Militärverwaltung übernommen hatten, die Amerikaner als Besatzungsmacht im deutschen Stahlzentrum an der Ruhrmündung ab. In Essen entstand nach der Besetzung ebenfalls ein Forum industrieller Einflußnahme. Zum Geburtshelfer wurde hier die Wirtschaftskammer, deren Funktionen der provisorische Geschäftsführer nach der Flucht des Präsidenten und des Hauptgeschäftsführers der Gauwirtschaftskammer notdürftig aufrechterhalten hatte. Die Militärregierung stimmte der Weiterführung der Kammergeschäfte zu. Am 30. April trafen sich im Büro der Kammer die "Betriebsführer" aller wichtigen Unternehmen des Stadtkreises Essen, außer Krupp. Unter den 24 Firmenvertretern saß neben Otto Springorum, dem Vorstandsvorsitzenden der zu den Vereinigten Stahlwerken gehörenden Gelsenkirchener Bergwerks-AG, dem Generaldirektor der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke und dem Repräsentanten des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikates der Chef der örtlichen Brauerei Jacob Stauder, neben den führenden Managern der Rheinischen Stahlwerke und der Ruhrgas AG die Chefin der Brotfabrik Troullier. Weit über die üblichen Kammeraufgaben hinaus wurden in diesem Kreis, einem Zentrum des Informationsaustausches und der Meinungsbildung, von der Abwicklung der Kriegsschäden über die Kohleversorgung bis zur Sozialpolitik alle Fragen von Belang angeschnitten 373 ; aus Wuppertal sind ähnliche, schon vor der Besetzung beginnende "Klärungsgespräche" maßgeblicher Unternehmer bekannt. 374 Die Duisburger Industriekommission wie zunächst auch das Essener Gremium beschränkten ihre Tätigkeit im wesentlichen auf das Stadtgebiet. Zur selben Zeit bildete sich aber auch schon ein Koordinationskreis, dessen Einfluß sich auf das gesamte westliche Ruhrgebiet mit seinen Zentren Oberhausen, Essen, Mülheim und Duisburg erstreckte. Dieser informelle, prominent besetzte Ausschuß war im Zusammenhang mit der von Krupp-Chef Edouard Houdremont energisch vorangetriebenen Initiative entstanden, die Infrastruktur des westlichen Reviers in engster Kooperation mit der Besatzungsmacht rasch wieder funktionsfähig zu machen. Am 20. April 1945 fand in Oberhausen bereits die zweite Besprechung dieses kleinen Zirkels statt, zu dem sich mit der Gutehoffnungshütte (vertreten durch den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Georg Lübsen), Mannesmann (Hermann Winkhaus) und Krupp (Houdremont) drei dominierende Großkonzerne zusammengefunden hatten; wenig später stießen noch Otto Springorum und Hugo Stinnes hinzu 375 Ein unmittelbarer Kontakt zu der Kommission in Duisburg ergab sich aus dieser Zusammensetzung von selbst, obwohl natürlich die oft seit Jahrzehnten bestehenden persönlichen Beziehungen der industriellen Elite untereinander in diesen Wochen das eigentliche Medium des Informationsflusses gewesen sind. Anfangs Vgl. dazu die Besprechung zwischen Weitz und Schulze am 23.4. 1945 und die Sitzungen der Industriekommission am 24.4. und 1. 5. 1945; Mannesmann-Archiv, 0 1.093. 3" "Niederschrift über die Sitzung von Betriebsführern industrieller Betriebe im Stadtkreis Essen am 30. 4. 1945 im Büro der Wirtschaftskammer Essen"; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 28-6-6. J74 Vgl. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 64. m Vgl. die Protokollvermerke der GHH über die Sitzungen v. 20.4. und 14.5. 1945; Haniel-Archiv, 40010150/82 bzw. 4001016/16. 3"
2. Wirtschaft und Besetzung
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wohnten den Unterredungen dieses Essener Kreises noch die Offiziere der drei verschiedenen Militärverwaltungseinheiten bei, die für diese Stahlregion verantwortlich waren, doch schon bald waren die Industriellen unter sich: "Es bestand Übereinstimmung", so das Protokoll der zweiten Sitzung, "daß die Industrie sich mit allen verfügbaren Kräften, selbst unter Zurückstellung der eigenen Belange, für die Wiederingangsetzung aller Verkehrsmittel einsetzen muß, da sonst die Wirtschaft nicht wieder hochzubringen ist." Selbstverständlich stand bei allen Beratungen in den Einflußzirkeln der Industrie die Wiederbelebung der gelähmten Wirtschaft im Mittelpunkt. Die bei den Grundvoraussetzungen dafür sahen die leitenden Manager übereinstimmend in der Wiederherstellung des Verkehrsnetzes und einer geregelten Energieversorgung. Ganz ähnlich wie die bei den Essener Zirkel verwies Hugo Stinnes vor der Duisburger Industriekommission mit "Eindringlichkeit" darauf, "daß das Verkehrsproblem das weitaus dringlichste sei", und er setzte hinzu: "Bürokratische Bedenken dürfen keine Rolle spielen".376 Stinnes' vorsorgliche Warnung vor einer möglichen Behinderung der Notstandsmaßnahmen durch Unbeweglichkeit in den Unternehmen selbst oder durch behördliche Bedenken sollte sich als überflüssige Ermahnung erweisen. Unter dem Gesichtspunkt eines möglichst effektiven Krisenmanagements war die temporäre Desorganisation der kommunalen und regionalen Bürokratien fast eine Erleichterung der Aufgabe, als im Revier unter der Führung der Großindustrie die Instandsetzung der Kanäle, der Brücken und des Schienennetzes in Angriff genommen wurde. Über den absoluten Vorrang dieser mit aller Improvisationskunst voranzutreibenden Anstrengungen gab es zwischen den Konzernen, den kleineren Unternehmen, den Städten und Gemeinden auf der einen und den Detachments der Militärverwaltung auf der anderen Seite keinerlei grundsätzlichen Dissens. Schließlich hatte die Besatzungsmacht weiter östlich noch immer ihre Armeen zu versorgen, die Demobilisierungsbzw. Verlegungspläne lagen bereits in den Schubladen. Entsprechend unkompliziert war die Praxis. So sagte Mannesmann in der ersten Arbeitssitzung der Industriekommission in Duisburg beipielsweise zu, "die Strecke Duisburg-Hochfeld selbst in Gang zu bringen"377, Krupp hatte eine Woche nach der Besetzung an die Reichsbahn 2000 Mann, an die Stadt Essen tür Arbeiten an den Wasserleitungen 500 Mann abgestellt. "Winkhaus fährt noch heute in einem amerikanischen Auto nach Huckingen, um festzustellen, welche Rohre für die Wasserleitungen auf Lager sind"378 - so die Aufzeichnungen über die Sitzung des von Edouard Houdremont initiierten großindustriellen Zirkels am 20. April. Neben Verkehrswesen und Wasserversorgung stand, wie alle frühen Industriebesprechungen zeigen, die Versorgung mit Strom und Gas ganz oben auf der Dringlichkeitsliste. Die Belieferung von Städten und Betrieben mit Elektrizität hing nun wesentlich davon ab, wieviel Kohle den E-Werken zugeführt werden konnte. Es war der Sektor Kohle, auf dem die Industrievertreter die Grenzen ihrer relativen Autonomie 376
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"Niederschrift über die Sitzung der Industrie kommission vom 17.4. 45 im Sitzungszimmer der Demag"; Mannesmann-Archiv, R 1.5042. Im Protokoll der Sitzung "von Betriebsführem industrieller Betriebe im Stadtkreis Essen" am 30. 4. 1945 heißt es: "Für die Wiederingangsetzung der Wirtschaft ist die Wiederherstellung ausreichender Verkehrsanlagen unbedingte Voraussetzung." Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, Nr. 28-6-6. Niederschrift zur Sitzung der Industriekommission am 17.4. 1945; Mannesmann-Archiv, R 1.5042. Haniel-Archiv,40010150/82.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
in den Umbruchswochen als erstes zur Kenntnis nehmen mußten. So mußte der Generaldirektor des Rheinisch-Westfälischen Kohle-Syndikates in Essen seine Kollegen schon Ende April davon in Kenntnis setzen, daß die Alliierten zwei große Organisationen mit weitreichenden Kompetenzen zur Überwachung von Produktion und Verteilung der Kohle ins Leben gerufen hätten. 379 Die routinemäßigen Sicherheitsvorkehrungen der Besatzungsarmee wurden von den Industrievertretern nur einige wenige Tage lang als Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit empfunden. Der Duisburger Stadtkommandant zeigte gegenüber Direktor Schulze von der Industriekommission bereits am 18. April "volles Verständnis" für die Wünsche der Industrie nach Lockerung von Verkehrsbeschränkungen. 38o Auch den häufig vorgebrachten deutschen Bitten um Unterstützung bei Sicherung der Betriebsanlagen kamen die Amerikaner normalerweise weit entgegen. Den Vertretern der großen Konzerne im westlichen Revier sagte die Besatzungsmacht schon eine gute Woche nach dem Einmarsch zu, "an bestimmten Punkten unserer Werke Überfallkommandos zu errichten, die auf Anruf sofort herbeieilen, wenn irgendwo Überfälle, Plünderungen oder dergleichen erfolgen"381. Nach der amerikanischen Besetzung dauerte es zwischen vier und sechs Wochen, bis die Industrieelite des Reviers sich enttäuscht eingestehen mußte, daß die Wiederaufnahme der Produktion doch nicht so einfach möglich war wie erwartet. Vor allem wurde den maßgeblichen Wirtschaftsführern nach und nach bewußt, daß sie auf das Tempo der Wirtschaftsbelebung nicht den erhofften Einfluß hatten und weniger autonom schalten konnten als anfangs vermutet. Die Wirtschaftsführer mußten erkennen, daß die örtlichen Stellen der Militärverwaltung die Effektivität der Industrie schätzten und auch nutzten, wenn es in ihrem Interesse lag, daß die Amerikaner aber doch nicht so "manageable", lenkbar und beeinflußbar waren, wie nach den ersten Begegnungen mit den Offizieren der Besatzungsmacht zumeist angenommen. Gewiß hat manchem von ihnen der Zweckoptimismus eine allzu rosige Vorstellung von dem Wesen einer militärischen Besetzung vorgegaukelt. In der katastrophalen Notlage des Landes waren die Handlungsfähigkeit und die Improvisationskraft, die die Industrie seit dem Bombenkrieg und der Abwehr des nationalsozialistischen Selbstzerstörungskurses hinlänglich unter Beweis gestellt hatte, an sich ein hohes Gut - unantastbar, wie die meisten Wirtschaftsmanager hofften und zu einem Gutteil auch glaubten, waren diese Vorzüge aber offenbar dennoch nicht. Die Unternehmensleiter und ihre führenden Angestellten sahen sich vielmehr mit der nur langsam einsickernden Erkenntnis konfrontiert, daß es beständig größer werdende Schwierigkeiten mit sich brachte, wie selbstverständlich in einem strikt pragmatischen "business as usual" fortzufahren, nachdem immerhin ein Krieg verloren und das NS-Regime vom Regime der Siegermächte abgelöst worden war. Kaum vor Sommer 1945 erkannten sie allmählich, daß der Bankrott nationalsozialistischer Weltanschauung und Politik, der Zusammen-
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Niederschrift über die Sitzung von Betriebsführern des Stadtkreises Essen am 30. 4.1945; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 28-6-6. Besprechung Schulzes mit Vertretern der Besatzungsmacht; Schulze, Aus Duisburgs dunkelsten Tagen, S.257. Besprechung von Vertretern von Krupp, Mannesmann und der Gutehoffnungshütte in Oberhausen mit der Militärregierung am 20.4. 1945; Haniel-Archiv, 40010150/82.
2. Wirtschaft und Besetzung
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bruch des Reiches und die Konsequenzen, die die Alliierten daraus zu ziehen gedachten, die Tagesgeschäfte der Industrie kaum unberührt lassen würden. Bereits Mitte Mai hatte der großindustrielle Steuerungskreis um Edouard Houdremont eine bedenklich lange Liste von Unzuträglichkeiten zu erörtern. Die nach dem Einmarsch aufgekommene Aufbruchstimmung begann sich abzukühlen 382 Es wurde über das "rigorose Vorgehen" der Militärbehörden bei der Beschlagnahme von Wohnungen geklagt, und man war es leid, daß die Auskünfte befragter Kommandeure über die Wiederaufnahme der Produktion weit voneinander abwichen. Houdremont, der von einer längeren Unterredung mit einem Offizier der Besatzungsmacht berichtete, unterbreitete seinen Kollegen ein entmutigendes Fazit: "Neues, insbesondere in Bezug auf die endgültige Wirtschaftspolitik der Besatzungsmacht", so sagte er, "war daraus nicht zu entnehmen." Das Fehlen der überörtlichen Koordination durch staatliche Behörden und Selbstverwaltungsorgane auf deutscher Seite war ebenfalls fühlbarer geworden. In dem Essener Zirkel kam deshalb die Frage auf, wie sich nach den ersten Wochen der Improvisation und der informellen Abstimmung die Aktivitäten der Industrie besser bündeln und kanalisieren ließen. Dabei wurde von den Wirtschaftsführern unter anderem die rasche Rückkehr zu der vertrauten Institution der Handelskammer einhellig bejaht. "Kohle und Eisen", so heißt es in dem Vermerk über die Sitzung bei Houdremont am 11. Mai, "haben zwar eigene Organisationen (Bergbauverein, Verein der Eisenhüttenleute), halten aber trotzdem eine Zusammenfassung und einen Ausgleich der Belange von Schwer-, Mittel- und Kleinindustrie und Handwerk in einer Kammer für wünschenswert. Erstrebenswert wäre eine zentrale Handelskammer für das ganze Revier mit Zweigstellen in den einzelnen Bezirken. Aber die einzelnen Kammern sind schon dabei, sich wieder einzurichten und ihre Lebensnotwendigkeit darzutun, und daran wird kaum etwas zu ändern sein." Alsbald zu den gewohnten Strukturen zurückzukehren und die Phase der gegenseitigen Abstimmung in informellen Gremien rasch zu überwinden, war letztlich auch das Ziel des bei Kriegsende mit am einflußreichsten und rührigsten Industriezirkels im Revier, des "allgemeinen Industriekreises" um den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke Hans-Günther Sohl. Wie alle anderen Einflußzirkel dieser Art, war auch der weit davon entfernt, in den ad-hoc-Gremien und Kommissionen, die nach dem Einmarsch aus dem Boden geschossen waren, eine attraktive oder gar alternative Organisationsform für die Wirtschaft des Reviers zu sehen. Sohl hatte bereits im Mai beim neu eingesetzten Regierungspräsidenten Eduard Sträter zur Sprache gebracht, "daß es dringend notwendig sei, in den verschiedenen Städten des Ruhrgebietes zu einer einheitlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu gelangen". Der auch zu diesem Kreis gehörende Hauptgeschäftsführer der besonders einflußreichen Düsseldorfer Handelskammer konnte den bei Sohl versammelten Herren berichten, daß er demnächst im Auftrag der (eben aufgezogenen britischen) Militärregierung mit sämtlichen Kammern des Regierungsbezirkes Düsseldorf Fühlung aufnehmen werde.
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,,Aktenvermerk über eine Besprechung am 11. Mai, 16 Uhr nachmittags, bei Professor Houdremont" v. 14.5. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/16. In diesem großindustriellen Steuerungskreis saßen inzwischen auch der Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG und der Vorstandsvorsitzende der zu den größten Kohleproduzenten zählenden, im Besitz der Flick-Gruppe befindlichen Harpener Bergbau AG.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Hans-Günther Sohl, zweiter Mann im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke AG und späterer Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, war in Düsseldorf nach der Besetzung augenblicklich zum Kristallisationspunkt der informellen Abstimmung der dortigen Wirtschaftselite geworden. Er hatte Albert Vögler versprochen, sich bei Kriegsende am Sitz des Unternehmens aufzuhalten, hatte sich deshalb vom Vorstandsvorsitzenden Rohland und dessen inzwischen funktionslos gewordenem Ruhrstab getrennt und war kurz vor der Besetzung der Stadt am 17. April in Düsseldorf eingetroffen. 383 Der jetzt 39jährige, 1942 zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke aufgestiegene Sohl, den die Amerikaner völlig unbehelligt gelassen hatten, verfügte seit langem über ausgezeichnete Kontakte zu allen maßgebenden Industriellen im Revier. Die in engster Fühlungnahme der Wirtschaftsführer untereinander ins Werk gesetzte Konterkarierung des Verbrannte-ErdeKurses hatte die industrielle Elite seit Beginn des Jahres auch in Düsseldorf enger zusammenrücken lassen. Die Fortführung dieser vertraulichen gegenseitigen Abstimmung verstand sich von selbst, da die Phase der Unsicherheit und Verunsicherung mit dem Ende der Kämpfe und dem Zusammenbruch des NS-Regimes keineswegs überstanden war. Da Sohl zwar auch dem Ruhrstab angehört hatte, aber, ganz anders als Rohland, in der Speerschen Rüstungsorganisation nicht hervorgetreten war und obendrein ein verbindliches Naturell besaß, war er als Zentralfigur eines industriellen Neubeginns unter alliierter Ägide wesentlich besser geeignet als der Vorstandsvorsitzende des Stahlkonzerns selbst. In der ersten Aufsichtsratssitzung der Vereinigten Stahlwerke nach dem Krieg, am 8. Mai 1945, berichtete Sohl den versammelten Herren zunächst "über die Maßnahmen, die Herr Dr. Vögler und Herr Dr. Rohland in Zusammenarbeit mit Prof. Speer vor der Besetzung zur Sicherung der Werksanlagen und Verkehrsanlagen im Ruhrgebiet durchgeführt" hatten. Er hob hervor, daß durch den großen persönlichen Einsatz der Werksdirektoren und leitenden Angestellten umfangreichere Zerstörungen in den Betrieben bei der Besetzung verhindert worden seien, und sagte dann: "In Düsseldorf hat sich zwanglos ein Kreis von Wirtschaftsvertretern zusammengefunden, die in regelmäßigen Besprechungen die Fragen des Wiederanlaufens der Betriebe laufend behandeln. Die Industrie- und Handelskammer hat sich neu gebildet, die Nord-WestGruppe hat ihre Arbeit wieder aufgenommen."384 In Sohls Bericht ist mit Händen zu greifen, daß das seit Monaten betriebene informelle Krisenmanagement im Konzern und in der Region nach dem feindlichen Einmarsch beinahe bruch los fortgeführt wurde. Aus der Perspektive der Vorstandsetagen erschienen die Monate von der plötzlichen Zuspitzung der Endkrise des Dritten Reiches im Januar 1945 bis etwa zur Konferenz der Großen Drei in Potsdam, wo die Politik der Alliierten gegenüber der Industrie und ihren Eliten festere Konturen annahm, als eine zusammenhängende, das politische Epochendatum übergreifende Phase der Unberechenbarkeiten und Unsicherheiten. Der "allgemeine Industriekreis" traf sich beim zweiten Mann der Vereinigten Stahlwerke sofort nach dem Einrücken der amerikanischen Truppen. 38s Der später legenJ8J Vgl. Sohl, Notizen, S. 91 ff. '" Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung am 8. 5. 1945; Thyssen-Archiv, A/5526. '" Zur Datierung der Entstehung des Sohl-Kreises vor dem 20. April 1945 vgl. das Schreiben eines leitenden Mitarbeiters der Gutehoffnungshütte in Düsseldorf an Generaldirektor Kellermann v. 20.4. 1945; Haniel-
2. Wirtschaft und Besetzung
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denumwobene Zirkel setzte sich aus mindestens einem Dutzend führender Männer der Wirtschaft zusammen. Sohl selbst nannte später J86 die Namen "u. a." von Wilhelm Zangen und Hermann Winkhaus, Generaldirektor bzw. stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Mannesmannröhren-Werke, Walter Schwede, Mitglied des Vorstands der Vereinigten Stahlwerke, Paul Maulick, Vorstandsvorsitzender der Stahlwerks-Verband AG, Niels von Bülow, Vorstandsvorsitzender der Gerresheimer Glas AG, Josef Wilden, Präsident bzw. Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf, Hubert Dicke von der Deutschen Bank und einige andere mehr. Die Zusammenkünfte des Kreises waren keine Veranstaltungen in abgedunkelten Hinterzimmern, sondern für deutsche Wirtschaftskreise wie für die Amerikaner eine allgemein bekannte und gebilligte Tatsache. Das interne Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare des Alliierten Oberkommandos wußte schon Anfang Mai zu berichten: "Wie zu erwarten war, ist bei der Einnahme von Düsseldorf eine Organisation von Industriellen ins Leben gerufen worden, die gegenüber der Militärregierung die Industrie repräsentieren soll. Diese Gruppe besteht aus sechs Vertretern der größten Unternehmen Düsseldorfs, einschließlich zweier seiner Banken."J87 Die Tendenz, möglichst rasch zu den vertrauten Stukturen der Wirtschaftsorganisation zurückzukehren, ohne sich deshalb des eigenen Einflusses zu begeben, zeigte sich bereits bei der Wiederbelebung der Düsseldorfer Industrie- und Handelskammer wenige Tage nach dem Einmarsch. Die Amerikaner hatten dem neu eingesetzten Oberbürgermeister umgehend klargemacht, daß sie "entschieden Wert" auf die Errichtung eines Vertretungsgremiums der Wirtschaft legten. Das Stadtoberhaupt hielt die Wiederherstellung der Industrie- und Handelskammer auch für "unerläßlich", damit "die Wirtschaft eine Vertretung habe, mit der die Besatzungsbehörde verhandeln könne"388. Die 1943 errichtete Gauwirtschaftskammer war zwar nicht formell aufgelöst worden, sie hatte aber "in Wirklichkeit aufgehört zu bestehen"389. Der Personalstamm war noch vorhanden, und da sich der ehemalige Präsident und sein Stellvertreter darüber im klaren waren, daß sie als Repräsentanten der Kammer nicht mehr in Betracht kamen, bot sich der Rückgriff auf den 68jährigen Dr. Josef Wilden 390 an. Er war schon vor dem Ersten Weltkrieg Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer, von 1932 bis zu seiner Verdrängung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1938 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer gewesen. Wilden zeigte sich gegenüber dem Oberbürgermeister zwar zu einer erneuten Übernahme seines alten Amtes bereit, machte seine Zusage aber, wie er sagte, davon abhängig, "es möchte die-
Archiv, 4001016/3. Vgl. auch den Vennerk des Hauptgeschäftsführers der IHK Düsseldorf, Wilden, v. 22.4.1945, in dem im Zusammenhang mit der Wiedergründung der Kammer vorn "Kreis von Angehöri-
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gen der Industrie und des Handels" die Rede ist, "die sich regelmäßig im Hause der Vereinigten Stahlwerke auf Anordnung des Herrn Assessor Sohl zu versammeln pflegen"; IHK-Archiv Düsseldorf, 120-00, Nr. 1. Sohl, Notizen, S. 93. SHAEF, Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 32, 7. 5.1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Executive Seetion, Entry 87. Vennerk des designierten Hauptgeschäftsführers der IHK Düsseldorf v. 22. 4.1945; IHK Düsseldorf, 12000, Nr. 1. Vennerk des Hauptgeschäftsführers der IHK Düsseldorf v. 27.4. 1945; ebenda. VgI. die biographischen Angaben in: IHK Düsseldorf, 120-00, Nr. 3.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
selbe Bitte auch von den Angehörigen der Düsseldorfer Wirtschaft an mich gerichtet werden"391. Unter "Düsseldorfer Wirtschaft" verstand Wilden in erster Linie den "allgemeinen Industriekreis" um den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke. Er bat deshalb earl Wuppermann (Direktor der Düsseldorfer Filiale der Deutschen Bank und daneben Inhaber von über zehn Aufsichtsratsmandaten), die mit Sohl maßgebende Figur der Wirtschaft am Ort, das Plazet des Industriekreises einzuholen. Die Wirtschaftsführer - unter ihnen Wuppermanns Kollege Dicke von der Deutschen Bank - begrüßten die Rückkehr Wildens warm, Sohl informierte den Oberbürgermeister hiervon, dieser die Militärregierung, und so legitimiert nahm der neue Hauptgeschäftsführer am Morgen des 25. April seine Tätigkeit bei der Kammer auf.3 92 In seiner ersten Besprechung mit den Abteilungsleitern berichtete er über den Hergang seiner Berufung und sagte ihnen, das "Bestreben müsse darauf hinausgehen, gerade auch im deutschen Interesse eine ersprießliche Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden herzustellen. Er könne zu seiner Freude berichten, daß ein guter Anfang bereits gemacht sei."393 Wie eng das Verhältnis Kammer, Wirtschaft, Stadtverwaltung in den Umbruchswochen gewesen ist 39 4, zeigt ein Erlaß des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, in dem Wilden einen Tag nach seiner Ernennung damit beauftragt wurde, als Vertreter des Stadtoberhauptes "die Bearbeitung der an die Stadtverwaltung gelangenden Angelegenheiten der Industriekammer, des Handwerkes, des Großhandels, des Einzelhandels, des Handelsvertreter-Gewerbes und des ambulanten Gewerbes" zu übernehmen. 395 Auch der ehemalige Präsident der Gauwirtschaftskammer sprach dem neuen Geschäftsführer "seine Befriedigung über den beschrittenen Weg aus" und verabsäumte es nicht, ihn ordnungshalber auch noch seinerseits zum Hauptgeschäftsführer der Kammer zu berufen. 396 Wilden berichtete Sohl am gleichen Tage darüber und bemerkte in seinem Brief noch, der ehemalige Präsident der Gauwirtschaftskammer habe ihn gebeten, dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke "für die freundliche Hilfe" zu danken, die dieser "beim Zustandekommen der Amtsführung" geleistet habe. 397 Aus dem offiziellen Rechenschaftsbericht, den die IHK Düsseldorf Ende Juni 1945 an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz über die Wiedergründung der Kammer sandte, wird die breite - von der Militärregierung bis zum Präsidenten der ehemaligen Gauwirtschaftskammer reichende - Basis des Vertrauens nicht ersichtlich, auf die Wilden sich stützen konnte. Gestrichen war gegenüber dem Entwurf des Schreibens nämlich jene Passage, in der es geheißen hatte, der neue Hauptgeschäftsführer habe sich zur Übernahme seines alten Amtes nicht zuletzt
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Vennerk des designierten Hauptgeschäftsführers der IHK Düsseldorf v. 22. 4.1945; IHK Düsseldorf, 12000, Nr. 1. Hier auch der Vermerk über dessen Bitte an Wuppermann um Unterrichtung des Sohl-Kreises. Vermerk Wildens v. 23.4. 1945; IHK Düsseldorf, 120-00, Nr. 1. Vennerk "Sitzung in der Handelskammer am 25. April 1945. Weiterführung der Geschäfte"; ebenda. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 63, spricht unter Einbeziehung auch der Militärregierung richtig von einem "Dreiecksverhältnis". Schreiben des Oberbürgenneisters an Wilden v. 26.4. 1945; IHK Düsseldorf, 104-00, Nr. 1. Aktennotiz Wildens v. 30.4. 1945; IHK Düsseldorf, 120-00, Nr. 1. Brief Wildens an Sohl v. 28.4. 1945; ebenda.
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auch deswegen bereitgefunden, weil er vom Industriekreis um Assessor Sohl ausdrücklich darum gebeten worden sei. J98 Bei der Bestellung des Kammerpräsidenten zehn Tage danach sprach der SohlKreis ebenfalls das entscheidende Wort. Am 4. Mai fand nämlich eine Besprechung statt, an der neben Sohl auch Bankdirektor Wuppermann, Wilden und zwei weitere Vertreter der Düsseldorfer Wirtschaft teilnahmen, über die der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke einige Tage später in seinem Zirkel berichtete. Er gab bekannt, man sei übereingekommen, Niels von Bülow, den 51jährigen Vorstandsvorsitzenden der großen Gerresheimer Glashütte AG, zum IHK-Präsidenten zu bestellen: "Wenn er keinen Widerspruch höre, nehme er an, die Teilnehmer hielten das mit Rücksicht auf die gegebenen Umstände für die beste Lösung." Es kamen keine Einwände, und Sohl erklärte daraufhin, eine Präsidentschaft von Bülows sei "unzweideutig der Wille der Vertretung der Düsseldorfer Wirtschaft"J99. Der neue IHK-Präsident blieb wie sein Hauptgeschäftsführer Angehöriger des noch einige Zeit fortbestehenden "allgemeinen Industriekreises" im Haus der Vereinigten Stahlwerke. Niels von Bülow, so teilte Sohl den Mitgliedern seines Kreises am 9. Mai in einer bis zur Verkehrung der tatsächlichen Einflußverhältnisse wohlwollenden Interpretation mit, wolle "das hier tagende Gremium zunächst beibehalten .. " bis sich die Geschäfte bei der Handelskammer eingelaufen haben"40o. Bestimmendes Element von Selbstorganisation und Einflußsicherung der Wirtschaft waren an der Ruhr und offenbar auch anderswo in den Tagen der Besetzung weniger ehemalige Kammer- und Verbandsfunktionäre als vielmehr herausragende Industrieführer wie Sohl, Winkhaus, Houdremont oder Lübsen. Der Einfluß der Industrie in den Kammern war schon in der Zeit, bevor diese zu Organen der Kriegswirtschaft wurden, stark gewesen, doch in den wenigen Wochen unverhoffter Autonomie nach dem Zerfall der Speerschen Rüstungsorganisation war das Gewicht der industriellen Elite bei der Wiederbelebung der Industrie- und Handelskammern schlechthin ausschlaggebend. Wie die gegenseitige Abstimmung von Unternehmen und führenden Angestellten in rasch gebildeten, an keinerlei Verbands- oder Kammerorganisation angelehnten Zirkeln zeigt, war die Aktivierung der Kammern keineswegs die Voraussetzung für eine effektive Abgleichung und Formulierung industrieller Interessen unmittelbar nach dem Einmarsch, doch wurden die Kammern vielerorts wie selbstverständlich alsbald zu Foren des Meinungsaustausches zwischen den maßgeblichen Männern der Wirtschaft und zu allseits geschätzten "Hilfsbehörden"401. Der rechtliche Status der 1942/43 in den Gauwirtschaftskammern aufgegangenen einstigen Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft war bei Kriegsende ungeklärt. Die Kontinuität der Kammern erfuhr trotzdem praktisch keine Unterbrechung. Der Übergang zu den neuen Industrie- und Handelskammern vollzog sich fast "überall
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Schreiben (3.7. 1945) und Entwurf (29. 6. 1945) eines Schreibens der IHK Düsseldorf an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz "Wiederherstellung der Industrie, und Handelskammer Düsseldorf"; eben da. Aktenvermerk Wildens "Bestellung eines Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf" v. 10.5. 1945; ebenda. Am 21. Februar 1946 wurde Niels von Bülow von der britischen Militärregierung aus diesem Amt entlassen. "Notiz über die Sitzung des allgemeinen Industriekreises bei Sohl vom 9.5. 45"; Mannesmann-Archiv, M 12.018. Schulze, Untemehmerische Selbstverwaltung, S. 503.
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reibungslos"402 und überall in ähnlichen Formen. Meist legten zwar der Präsident, ehrenamtliche NS-Honoratioren und einige allzu exponierte Funktionäre der Gauwirtschaftskammer ihre Ämter nieder, die Geschäftsführung der örtlichen Kammern blieb in der Regel jedoch funktionsfähig. In Industrie und Handel, und besonders ausgeprägt bei dem häufig altgedienten Personal der Selbstverwaltungsorgane, war die Idee einer selbständigen Kammerorganisation in den Jahren der seit 1934 zunehmend enger werdenden, 1942/43 dann vollends erreichten Staatsabhängigkeit lebendig geblieben, die Rückkehr zu den vertrauten Industrie- und Handelskammern allen ein selbstverständliches Ziel. Der nach dem Einmarsch gegebene Gleichklang der Interessen des verbliebenen Kammerpersonals und der mit diesem eng verbundenen Industrieelite, der örtlichen Detachments der amerikanischen Militärverwaltung (die der "Mithilfe"403 dieser Experten bedurfte) und der eben eingesetzten Kommunalverwaltungen (die keinen Hehl daraus machten, daß die Kammerfunktionäre am besten über die wirtschaftlichen Verhältnisse am Ort Bescheid wußten 404 ) verschaffte den Industrie- und Handelskammern, ähnlich wie in Düsseldorf, überall unerhört günstige Startbedingungen. Im linksrheinischen Krefeld beispielsweise konnte die Kammertätigkeit bereits am 13. März 1945 offiziell wieder aufgenommen werden. Mit dem neu eingesetzten Bürgermeister hatte die IHK, der ein maßgeblicher Industrieller der hier dominierenden Textilbranche vorsaß, Übereinstimmung darüber erzielt, daß "die Kammer wie auch bisher die wirtschaftlichen Angelegenheiten in die Hand nimmt". In der ersten Sitzung der Fachverwalter einige Tage später konnte festgestellt werden, daß die verantwortlichen amerikanischen Offiziere des Detachments H1C2 "unseren Belangen großes Verständnis entgegenbringen und unsere Arbeit fördern, so weit es ihnen irgend möglich ist"405, In Wuppertal begannen zwischen den örtlichen Wirtschaftsvertretern bereits vor der Besetzung Abstimmungsgespräche, die nach dem 16. April - dem Tag des Einmarsches - noch eine Zeitlang fortgeführt wurden, Die Industrie- und Handelskammer gewann hier zusätzlichen Einfluß noch dadurch, daß die Militärregierung sich über einige kommunale Besonderheiten schlecht informiert zeigte. 406 Im benachbarten Remscheid hatte sich in der Unternehmerschaft Anfang 1945 eine aktive Opposition gegen den Verbrannte-Erde-Kurs des Regimes gebildet, bei der der Geschäftsführer der Gauwirtschaftskammer eine tonangebene Rolle spielte. Er war auch an der kampflosen Übergabe der Stadt an die Amerikaner beteiligt und konnte nach dem Rücktritt des Wirtschaftskammerpräsidenten als weiterhin amtierender Geschäftsführer mit dafür Sorge tragen, daß sich die Beziehungen zwischen der reakti'02
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Vgl. hierzu: Peter Brandt, Unternehmerorganisationen im Umbruch, in: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, hrsg. von Lutz Niethammer, Ulrich Borsdorf, Peter Brandt, Wuppertal 1976, S. 663 ff. (Zitat S. 664). Diethelm Prowe, Unternehmer, Gewerkschaften und Staat in der Kammerordnung in der britischen Besatzungszone bis 1950, in: Petzina, Euchner (Hrsg.), Wirtschaftspolitik, S. 235 ff. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 59ff. Vgl. auch Friedrich Christi an Preuss, Die nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammern im wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Zusammenbruch 1945, Diss., Köln 1957.Jetzt insbes. auch Schulze, Unternehmerische Selbstverwaltung, sowie Müller-List, Neubeginn, S. 16 ff. Preuss, Industrie- und Handelskammern, S. 16. Prowe, Unternehmer, S. 257. Protokoll der Sitzung am 19.3. 1945; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln, 25-17-1. Vgl. auch: Preuss, Handelskammern, S. 121. Walter L. Dom, Inspektionsreisen in der US-Zone. Notizen, Denkschriften und Erinnerungen aus dem Nachlaß hrsg. von Lutz Niethammer, Stuttgart 1973, S. 30 f. Vgl. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 64. Vgl. auch Marßolek, Arbeiterbewegung, S. 101.
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vierten Handelskammer und der Militärregierung "von Anfang an ausgezeichnet" gestalteten. 407 In Bochum fanden erste Konferenzen zwischen der Besatzungsmacht und den wichtigsten örtlichen Unternehmern sechs Tage nach dem Einmarsch statt 40B , in Dortmund war die Industrie- und Handelskammer von der Militärregierung sogleich als "für die Wirtschaft allgemein zuständige deutsche Stelle anerkannt" worden. Anfang Mai hatten die (britischen) Besatzungsbehörden "die bisher in der neuen Kammer geleistete Arbeit" bereits ausdrücklich gewürdigt. 409 Die sofortige, durchgehend enge und für die kommunalen Verwaltungen, die Industrie, die Kammern und die Detachments der Militärverwaltung gleichermaßen nützliche Zusammenarbeit könnte noch an vielen anderen im Kern immer gleichen Vorgängen und Konstellationen in vielen anderen Orten des Besatzungsgebietes illustriert werden. 410 Lange bevor die amerikanischen und britischen Besatzungsbehörden im Spätsommer und Herbst 1945 ihre Befehle zur Neuordnung der Wirtschaftsverwaltung im allgemeinen und des Kammerwesens im besonderen zu erlassen begannen 41 \ hatte in den Industrie- und Handelskammern selbst bereits eine ausgiebige Debatte über die künftige Gestalt der wirtschaftlichen Selbstverwaltung stattgefunden. Die Kammern ließen es sich auch schon früh angelegen sein, der Besatzungsmacht mitzuteilen, welche Voraussetzungen sie im Interesse einer erfolgreichen Wiederbelebung des Wirtschaftslebens für vernünftig und unabdingbar hielten. Im Regierungsbezirk Düsseldorf fand die erste gemeinsame Konferenz der Kammern Neuss, Krefeld, Mönchengladbach, Solingen, Remscheid, Wuppertal und Essen am 8. Juni 1945 unter Vorsitz des Düsseldorfer Kammerpräsidenten statt. 412 Niels von Bülow, der seine Kollegen mit der beruhigenden Versicherung empfing, "daß Düsseldorf nicht den Ehrgeiz habe, die alte Gauwirtschaftskammer wieder erstehen zu lassen"413, bezeichnete es als '07
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Marßolek, Arbeiterbewegung, S. 96. Brandt, Untemehmerorganisationen, in: Arbeiterinitiative 1945, S. 665. "Niederschrift über die Geschäftsführerbesprechung der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund am 9. Mai 1945 in Dortmund"; Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, K 1, Nr. 2319. Vgl. dazu: Brandt, Unternehmerorganisationen, in: Arbeiterinitiative 1945, S. 664ff. (ebenda, S. 667, Anm. 25, auch die charakteristische Bemerkung des für Wirtschaftsfragen zuständigen Offiziers in Frankfurt zur Stellung der Kammer). Preuss, Industrie- und Handelskammern, S. 12 ff. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 58 ff. In Hagen war von der Kammer nach der Besetzung "in vorläufiger Ermangelung eines satzungsgemäßen Gremiums eine Meinungsaustauschbörse eingerichtet" worden, "in der mit maßgeblichen Betriebsführem aktuelle Fragen" besprochen wurden; wie vorhergehende Anmerkung. In Kassel hatte das vom ass sehr kritisch verfolgte Detachment (vgl. "Field Report, Phase I - Kassel, 18-13 April" des OSS-Detachments der I. US-Armee v. 24.4. 1945; NA, RG 226, XL 9514) ebenfalls sofort Kontakt zur industriellen Elite der Stadt gesucht. Der Direktor der zur Vereinigten Glanzstoff gehörenden Spinnfaser AG etwa berichtete am 14.5. 1945 an Generaldirektor Vits: "Im Zuge der Verhandlungen mit den amerikanischen Behörden wurde ich um die Mitarbeit in wirtschaftlichen Fragen gebeten, die ich im Interesse einer möglichst schnellen Wiederankurbelung der Kasseler Betriebe auch zugesagt habe." Enka-Archiv, D 3-3-1-18. Der hier nicht berührte Komplex der Reorganisation der Wirtschaftsverbände ist beschrieben bei Werner Bührer, Ruhrstahl und Europa. Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie und die Anfänge der europäischen Integration 1945-1952, München 1986. Auch bei Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 143 ff. ,,Aktennotiz über eine Besprechung der Kammern des Regierungsbezirks Düsseldorf am Freitag, dem 8.Juni 1945, in der Kammer Düsseldorf"; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 28-389 (21a2), Nr. 1. Ein bezeichnender Dissens, der in einer charakteristischen Episode illustriert, daß der Abschied von dem für die NS-Zeit typischen Kammergebaren nicht immer leichtgefallen ist, ergab sich im Juli 1945 zwischen einem Düsseldorfer Unternehmen und der IHK Düsseldorf. Die Kammer hatte zur Teilnahme an einer "Stiftung der Düsseldorfer Wirtschaft" aufgefordert und dabei den zu stiftenden Beitrag gleich selbst festgesetzt. Der Unternehmer beschwerte sich darüber und bemerkte, das Schreiben habe mehr den "Charakter des Einziehens eines Beitrages als der Aufforderung zu einer freiwilligen Spende". Er fuhr fort: "Ich habe den Eindruck, als ob in dieser Angelegenheit Organe der Handelskammer über den Kopf der Wirtschaft hinweg gehandelt haben ... In der hinter uns liegenden Epoche hat die damalige Gauwirtschaftskam-
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Zweck der Zusammenkunft, für die weitere Arbeit der Kammern "und vor allem für die Verhandlungen mit der Militärregierung gewisse einheitliche Richtlinien aufzustellen". Die Präsidenten der acht Kammern präsentierten der (inzwischen britischen) Militärregierung als Ergebnis ihrer Beratungen einen sehr selbstbewußten Maßnahmenkatalog 41 4, der offensichtlich ganz in dem Bewußtsein entstanden war, für die Besatzungsmacht tatsächlich ein unentbehrlicher, beinahe gleichberechtigter Partner in einer Art Stabilisierungsbündnis zu sein. Im Tenor ähnelte dieser Katalog sehr den Vorstellungen, die auch von verschiedenen Wirtschaftsführern nach dem Einmarsch in Interviews mit amerikanischen Offizieren geäußert worden waren. 415 Die Kammern des Düsseldorfer Bezirks formulierten Vorschläge praktischer wie dezidiert politischer Natur. Der Besatzungsmacht wurde also nahegelegt, die Requisitionen von Gebrauchsgütern und Rohstoffen zu begrenzen, und "durch kraftvolle Unterstützung von Seiten der Militärregierung" erst einmal bevorzugt die Wiederinstandsetzung der Eisenbahn voranzutreiben. Ferner wurde darum gebeten, die Bemühungen der Eisen- und Stahlindustrie bei der Ingangsetzung ihrer Betriebe zu unterstützen, und danach gefragt, wie die Militärregierung die Versorgung der Wirtschaft mit Rohmaterialien zu gestalten denke. "Voraussetzung für die Wiederingangsetzung der Wirtschaft", hieß es abschließend in dem mehr praktisch orientierten Teil des Kataloges, "ist die grundsätzliche Bereitschaft der Besatzungsbehörden zur Mithilfe." Die anderen Punkte des Papiers bezogen sich auf den erwünschten politischen Rahmen des Wiederaufbaus. Wesentliche Vorbedingung seien hier die "Wiederkehr des Arbeitswillens" und eine "Beruhigung" der deutschen Bevölkerung, deren Lebensstandard "vorläufig noch herabsinken" werde. Darüber sei ,,Aufklärung" durch eine in ihren Konturen nicht näher skizzierte "vernünftige Presse" nötig. "Entgegen der bisher befolgten Methode der demagogischen Verschleierung durch die Nationalsozialisten" sollten die neuen Organe, so die schlichte Forderung, dem Grundsatz "größter Wahrheitsliebe" huldigen. Zur Beruhigung der Bevölkerung wurde ferner vorgeschlagen: "Verbot von Wahlen" und "Zurückstellung der Regelung der Pg.-Frage auf ruhigere Zeiten, außer in krassen Fällen." Die Vorschläge der Industrie- und Handelskammern des Düsseldorfer Bezirkes fügten sich zu einem rudimentären Programm eines publizistisch abgesicherten "unpolitischen" Expertenregimes. "Ruhe" und "Beruhigung" zielten letztlich auf nichts anderes als die Unterbindung einer Auseinandersetzung um die künftige Ordnung der Wirtschaft und die politisch-gesellschaftlichen Grundlagen des Wiederaufbaus. Ebensowenig sollte die Teilhabe der wirtschaftlichen Führungsschicht an dem System des Nationalsozialismus vorerst (und das implizierte: am besten überhaupt nicht) zu
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mer sich immer mehr von einem Organ der Wirtschaft zu einer Aufsichtsbehörde entwickelt, die die Wirtschaft in einer nicht immer erfreulichen Weise lenken und regimentieren wollte. Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß heute einer anderen Auffassung der Vorzug gegeben werden muß, nämlich, daß die Industrie- und Handelskammer zwar ein starkes und selbständiges Organ der Wirtschaft sein soll, aber doch in erster Linie dieser dienen soll." Der IHK-Präsident Niels von Bülow räumte in seinem Schreiben bereitwillig ein: "Gegen die Argumente, die Sie in Ihrem Schreiben an die Kammer vorbringen, läßt sich in der Tat nichts einwenden." Andere Firmen hätten ähnlich reagiert. Briefwechsel zwischen dem Direktor der Jagenberg-Werke AG und dem Präsidenten der IHK Düsseldorf zwischen dem 31.7. und 3.8. 1945; !HK-Archiv Düsseldorf, 122-03, Nr. 2. ,,Aktennotiz über eine Besprechung der Kammern des Regierungsbezirks Düsseldorf am Freitag, dem 8.Juni 1945, in der Kammer Düsseldorf"; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 28-389 (21a2), Nr. 1. Anlage zur Aktennotiz. Vgl. oben in diesem Kapitel.
2. Wirtschaft und Besetzung
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einem öffentlichen Thema werden. Doch die führenden Männer der Wirtschaft, die sich nach der Besetzung in den Handelskammern und den vielfältigen Einflußkreisen zusammengefunden hatten, mußten bald die Erfahrung machen, daß sich trotz der vor aller Augen liegenden Misere der Lebensverhältnisse weder die Frage nach der zurückliegenden noch nach der künftigen Rolle der Wirtschaft zu einem Nebenaspekt machen ließ. Die industrielle Elite und die Kammerfunktionäre nicht nur des Reviers standen im Frühjahr 1945 noch ganz am Anfang eines schmerzlichen Lernprozesses. Die Offiziere der Militärregierung und die Mehrzahl der kommunalen politischen Beamten, die nach Kriegsende engste Kooperation mit den führenden Managern der großen Unternehmen gesucht hatten, waren sich über die brisanten Implikationen der starken Stellung der industriellen Elite und der Kammern meist besser im klaren als die Wirtschaftsführer selbst. Sie wußten oder wurden von liberal eingestellten Bürgern und besonders von der politischen Linken, die sich mit einigem Zeitverzug und viel weniger unmittelbaren Einflußmöglichkeiten in Betriebsräten, Gewerkschaftsgruppen, Ausschüssen oder Parteigründungszirkeln zu formieren begann 416 , schon bald nachdrücklich daran erinnert, daß diese Art unkontrollierten Einflusses mit deren Vorstellungen eines politisch-gesellschaftlichen Neuanfanges unvereinbar war. Die Detachments waren durch die sensationell aufgemachte amerikanische Pressekritik an vermeintlichen Mängeln der Entnazifizierung oder beispielsweise der unausgewogenen Zusammensetzung der Aachener Stadtverwaltung und deren Nachhall in den Ministerien und Stäben in Washington sensibilisiert. Aber nach der Rheinüberschreitung, als sich die öffentliche Aufmerksamkeit spektakuläreren Ereignissen auf dem deutschen Kriegsschauplatz zugewandt hatte und die Angehörigen der Militärverwaltung von den Massenproblemen hinter der rasch vorrückenden Front schier erdrückt zu werden schienen, nahmen sie bereitwillig beinahe jede Hilfestellung von deutscher Seite an; die Weiterführung der Kammern war sogar durch die Direktive des Oberkommandos für die Militärverwaltung vom November 1944 gedeckt. 417 Wie mit den industriellen Eliten, ihren Konzernen, Organisationen und Verbänden letztlich verfahren werden sollte, konnten sie getrost der Abstimmung zwischen den Siegermächten und den ab Sommer 1945 sich allmählich konsolidierenden Militärregierungen überlassen; hierin hat sich die Haltung der amerikanischen und britischen Offiziere kaum unterschieden. Freilich war es nach den im allgemeinen recht positiven Erfahrungen in diesem aus der Not geborenen vermeintlichen "Stabilisierungsbündnis" für die Bürgermeister und Kommunalbeamten sehr viel schwerer als für die meist schon nach wenigen Wochen weiterziehenden Besatzungsoffiziere, der Versuchung, oft genug auch der Neigung zu widerstehen, diese Art von Symbiose einfach fortzuführen, sich durch die essentielle und hochwillkommene Unterstützung der Industrie vereinnahmen und auch verpflichten zu lassen. Die amerikanischen Truppenoffiziere, die ihr Regiment - oft aus Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, häufig auch aus Überzeugung - in den Augen der deutschen Wirtschaftsführer so staunenswert kooperativ und moderat begonnen hatten, verkannten ihrerseits nicht die Gefahr, daß die Industrieelite vermutlich nicht zögern würde, für ihre stupende Hilfswilligkeit nach und nach stattlicher wer416 '17
Vgl. hierzu V/3. Vgl. SHAEF, "Directive for Military Government of Germany - Prior to Defeat or Surrender", Annex 111, Section I1I; NA, RG 331, 11.505, G-5, OPS-Germany-Country Unit.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
dende Gegenrechnungen zu präsentieren; bis zum Alarmismus sensibel waren hier die kritischen Intellektuellen des ass und der Psychological Warfare. Den meisten Offizieren blieb aber bewußt, daß es nach dem Sieg über einen Hitler sogar nach amerikanischen Maßstäben nicht als "unfair" angesehen werden konnte, "dessen" (wie zweifellos viele von ihnen glaubten) dienstfertige Großindustrielle zu benutzen und auch auszunutzen. Zum einen lag es auf der Hand, daß deren Unterstützungsbereitschaft sich ja nicht aus Sympathie und Selbstlosigkeit speiste, zum anderen verloren die Offiziere der Besatzungstruppen und des Military Government nicht in Wochen aus den Augen, was ihnen in Monaten und Jahren vermittelt worden und klargeworden war: Sie waren Repräsentanten einer Siegermacht, die ein Kreuzzug ins Innere Deutschlands geführt hatte, die von dessen verbrecherischer Führungsclique die bedingungslose Kapitulation eingefordert hatte und die entschlossen war, die gesellschaftlichen Grundlagen von Nationalsozialismus und Militarismus auszurotten. Die deutsche industrielle Elite wurde für sie nicht schon deshalb umstandslos zu Partnern, weil sie sich nun auf den Trümmern ihrer Konzerne weltläufig und partnerschaftlich zu geben verstand. Der Großteil der deutschen Wirtschaftsführer freilich hatte die Tendenz, sich genau darüber hinwegzutäuschen. Sie übersahen allzu gerne, daß sie trotz manchem angenehmen gesellschaftlichen Umgang 418 mit kultivierten und in der Tradition des kapitalistischen Unternehmertums stehenden Angehörigen der Besatzungsmacht Besiegte blieben, die mit ihren freiwilligen, aber nicht unkalkulierten Vorleistungen allenfalls die Hoffnung, aber nicht gut die Erwartung verbinden durften, den gewärtigen radikalen Eingriffen der Besatzungsmächte in die Wirtschaft von vorneherein die Schärfe zu nehmen. Ihnen wurde meist ebenfalls erst im Laufe des Sommers und Herbstes 1945 bewußt, daß mit der allgemein an den Tag gelegten, bereits mit der Opposition gegen den Selbstzerstörungskurs der Nationalsozialisten stark in den Vordergrund tretenden "realistischen" und "vernünftigen" Haltung unmittelbar vor und nach der Besetzung Mitverantwortung am und Mitwirkung im NS-Regime nicht vergessen zu machen oder gar zu tilgen waren. Die ab Sommer 1945 zunehmend deutlichere Konturierung der alliierten Politik und die praktischen Maßnahmen einer Militärregierung, deren Offiziere gewöhnlich so angenehm unideologisch auftraten, sorgten für herbe Enttäuschung und kräftige Ernüchterung. Die führenden Männer der Wirtschaft mußten sich damit abfinden, daß sie sich in mindestens zwei zentralen Punkten falsche Hoffnungen gemacht hatten. Die britische wie die amerikanische Besatzungsmacht war über die erste Phase der provisorischen Stabilisierung hinaus weder bereit, politische Windstille zu garantieren, noch alsbald eine allein von Gesichtspunkten der Praktikabilität und der wirtschaftlichen Erfordernisse geleitete umstandslose Renaissance der Großwirtschaft einzuleiten. Die Siegermächte mochten sich erst recht nicht dazu verstehen, sich ihre Gestaltungsfreiheit und Eingriffsmöglichkeiten einschränken zu lassen - auch von mächtigen Interessengruppen nicht.
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Vgl. Brandt, Unternehmerorganisationen, in: Arbeiterinitiative 1945, S. 670. Vgl. auch Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 120.
2. Wirtschaft und Besetzung
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Der Fall des Stahldiktators: Walter Rohland, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke, zwischen Rüstungsmobilisierung und Demontage der Schwerindustrie Die Okkupation des Ruhrgebietes durch die U.S. Army hatte die Machtverteilung in den Führungsetagen der Montankonzerne zunächst praktisch unberührt gelassen. Die Vorstandsgremien der Stahl- und Kohleunternehmen wurden weiterhin in der gleichen Zusammensetzung einberufen, wie sie sich spätestens seit der Neuformierung der Rüstungsorganisation 1942/43 herauskristallisiert hatte. Das Krupp-Direktorium in Essen etwa tagte unter dem Vorsitz Edouard Houdremonts vor und nach dem amerikanischen Einmarsch ohne jede Unterbrechung und unbeeinträchtigt durch die spektakuläre Sistierung des Firmeninhabers beinahe täglich in gewohnter Runde. 419 Bis zu ihrer Verhaftung im September 1945 pflegten die Direktoriumsmitglieder (u.a. Friedrich Janssen, Erich Müller, Max Ihn, Kar! Eberhardt) darüber hinaus in häufigen persönlichen Besuchen den Kontakt zu den Leitern der einzelnen Konzernwerke. Der 70jährige Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, Hermann Kellermann, und sein Stellvertreter Georg Lübsen, die den Einmarsch am Firmensitz in Oberhausen erwartet hatten, lenkten von dort aus weiterhin den Konzern. Bereits im Juli konnten sie bei den Produktionsstätten in Hannover, Hamburg und Osnabrück selbst nach dem Rechten sehen. 420 Auch bei Mannesmann in Düsseldorf hatten die Besprechungen des Vorstandes (vertreten u.a. durch den Vorsitzenden Wilhelm Zangen, seinen Stellvertreter Hermann Winkhaus und Direktor Bungeroth) mit den über dreißig Werksleitern genauso wie die Vorstandssitzungen selbst keine nennenswerte Unterbrechung erfahren. 421 Am 5. Juli fand dort bereits eine "inoffizielle Aufsichtsratssitzung" unter der Leitung von Carl Rudolf Poensgen statt; an ihr nahm auch der Direktor der Filiale der Deutschen Bank in Düsseldorf, Carl Wuppermann, teil, der zusammen mit Hans-Günther Sohl maßgeblich an der Neuetablierung der dortigen Industrie- und Handelskammer mitgewirkt hatte. 422 Auch die Führung der Vereinigten Stahlwerke war ziemlich intakt geblieben, wie die kontinuierlich fortgesetzten Vorstandssitzungen unter der Leitung von Walter Rohland und der Beteiligung seines Stellvertreters Sohl sowie so bedeutender Industrieführer wie Heinrich Dinkelbach, Friedrich Springorum oder Wilhelm Steinberg im Frühjahr 1945 zeigen. 423 Bereits am 8. Mai traf sich der Aufsichtsrat des Stahlriesen unter Leitung von Gustav Knepper (bis 1942 Vorstandsvorsitzender der Gelsenkirchener Bergwerks AG) zu seiner ersten Sitzung nach dem Einmarsch der Alliierten. 424 Die Abstimmung in den Führungsgremien der Ruhrkonzeme, die in der verschärften Krise seit Jahresbeginn noch intensiver geworden war, konnte bis in den Spätsommer hinein praktisch unter Ausschluß der Militärverwaltung stattfinden. Das irritierte manchen Besatzungsoffizier. Als beispielsweise ein hochrangiger, für Stahlfragen zuständiger Sonderstab Ende Juli die August Thyssen-Hütte AG in DuisburgHamborn besuchte und einen der Werksdirektoren zu sprechen wünschte, erfuhr er, daß dieser bei einer der üblichen Vorstandsbesprechungen der Vereinigten Stahlwerke 419 420
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Vgl. die Unterlagen im Krupp-Archiv, WA 42/119. Aktenvermerk Kellermanns und Lübsens über eine Inspektionsreise nach Norddeutschland v. 1. 8. 1945; Haniel-Archiv, 400101300/47. Vgl. die Besprechungsprotokolle im Mannesmann-Archiv, M 12.017 und M 12.018. Protokoll der "inoffiziellen Aufsichtsratssitzung"; Mannesmann-Archiv, M 11.044. Vgl. Thyssen-Archiv, A/5744 . Thyssen-Archiv, A/5526.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
weile. Von dieser Auskunft, so vermerkt die Aktennotiz, schien der Chef der alliierten Stahlkommission "überrascht" zu sein. 425 Das führende Wort im Revier hatte um diese Zeit als Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke und Vorsitzender der Nordwestgruppe der Eisen schaffenden Industrie noch immer Speers einstiger Rüstungsdiktator an der Ruhr, Generaldirektor Walter Rohland. 426 Die Besatzungsmächte, die über die inneren Machtverschiebungen in der Großindustrie in der zweiten Kriegshälfte nur ganz unzureichend informiert waren, hatten seine Kreise bislang kaum gestört. Bei seinen Kollegen im Revier hatte der allzu hemdsärmelige Stahldiktator durch seine eifrige Opposition gegen den nationalsozialistischen Selbstzerstörungskurs ein wenig an Boden gutmachen können. Außerdem verfügte er mit dem größten Montankonzern Europas im Rücken noch immer über eine imponierende Hausmacht. Aufgrund seines entschiedenen Einsatzes für die Rettung der industriellen Substanz in der Schlußphase des Krieges sah er sich auch nach der Besetzung dazu berufen, Schaden von der Ruhrindustrie abzuwenden. Der drohte nun von den neuen amerikanischen und britischen Herren, die womöglich einer verfehlten Stahlpolitik huldigen und vielleicht nicht einmal vor einschneidenden Eingriffen in die Ruhrwirtschaft zurückschrecken mochten. Also galt es, bei den Offizieren Überzeugungsarbeit zu leisten und ihnen gegenüber möglichst mit einer Stimme zu sprechen. Insbesondere mußte deutlich gemacht werden, daß die Ruhrindustrie in der NS-Zeit selbst zum Sklaven des Regimes gemacht worden sei, mit den Nazis politisch nichts gemein gehabt hatte, einschneidende Reformoperationen mithin politisch nicht gerechtfertigt und auch nicht erforderlich seien. Zum zweiten war mit dem nötigen Selbstbewußtsein darzutun, daß Ruhe und Aufbauarbeit jetzt erste Pflicht aller zu sein habe, und die Besatzungsmächte sich nur selbst schadeten, wenn sie sich in den Trümmern Deutschlands nicht auf den ehrlichen Kooperationswillen und die unstrittige Kompetenz der Konzerne stützten. Diese Haltung, die auch Edouard Houdremont 427 in seiner Maidenkschrift eingenommen hatte, war an sich Konsens der industriellen Elite im Revier. Die Argumentation Rohlands, der seine Kollegen in den Vorstandsetagen der anderen Montankonzerne nun auf diese von ihm besonders forsch vorgetragenen Thesen einzuschwören versuchte, ist aber genaueren Hinsehens wert. Sie zeigt, daß sich Hitlers zuletzt wichtigster Stahlmanager unter den Augen der Besatzungsmacht zwar noch eine gute Weile in genau jenem kaum gebrochenen Geiste unbürokratischen Effizienzdenkens und zielstrebigen "Durchgreifens" betätigen konnte, von dem die Speersche Rüstungsorganisation geprägt war, daß das Ruhrestablishment dem Dynamiker der Kriegswirtschaft aber schon bald selber die Flügel beschnitt. Der 1898 geborene Rohland gehörte zur Generation der FrontsoldatenYs Als Kriegsfreiwilliger hatte der Sohn eines rheinländischen Textilfabrikanten 1917/18 Stellungskrieg und Rückzug in Frankreich erlebt. Wie für die meisten seiner Altersgenossen kam die deutsche Niederlage für ihn als Schock. Der neuen Republik stand er, ohne jedoch politisch aktiv zu sein, von Beginn an skeptisch gegenüber. In den unru425 426
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Aktennotiz der August Thyssen-Hütte AG v. 25.7. 1945; Thyssen-Archiv, A/5144. Vgl. Rohlands siebenseitige Vita v. 6.8. 1945 "Meine berufliche Entwicklung"; Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 1-1002-4. Siehe oben in diesem Kapitel. Zu Person und Laufbahn Rohlands vgl. dessen Erinnerungen "Bewegte Zeiten". Siehe auch: Klass, Vögler, S. 27of. Berghahn, Unternehmer, S. 50.
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higen Nachkriegsjahren konzentrierte er sich ganz auf das berufliche Fortkommen. Bereits 1921 schloß er das Studium des Hüttenwesens mit Auszeichnung ab, promovierte und ging als Metallurge in die Eisenindustrie. Ende der zwanziger Jahre arbeitete er bei der von dem Vereinigte Stahlwerke-Konzern abhängigen Deutschen Edelstahlwerke AG (DEW), und 1930 übernahm er die Leitung des inzwischen wichtigsten Werkes in Krefeld. Im Mai 1933 rückte Rohland bereits in den DEW-Vorstand auf, und fünf Jahre später war der noch nicht Vierzigjährige stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Bei Kriegsbeginn konnte der energiegeladene Industrielle, der drei Monate nach der Machtübernahme der NSDAP beigetreten war, bereits auf eine unerhörte Karriere zurückblicken. Doch erst während des Krieges erklomm er dank seines bedingungslosen Einsatzes für die nationalsozialistische Rüstungswirtschaft und seiner rigorosen Durchsetzungsbereitschaft gegenüber jedem, der bei der vom Regime forcierten Totalisierung der Kriegswirtschaft nicht mitziehen wollte, die Kommandohöhen des größten europäischen Stahlkonzerns und der Speerschen Rüstungsorganisation. Das steilste Stück seines Aufstiegs begann mit der Berufung in den Vorstand der Vereinigten Stahlwerke am 1. Mai 1941. Um diese Zeit war er auch Vorsitzender des Panzerausschusses im Ministerium Todt geworden 429 und bekam damit bald ständigen Umgang mit den Spitzen von Industrie, Technik, Militär und Politik - darunter des öfteren auch Hitler selbst. Seine erfolgreiche Tätigkeit machte ihn als "Panzer-Rohland" oder "Panzerdiktator" zu einer bekannten Figur. In einer Eloge pries der Journalist Werner Höfer den bald mit dem Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz Ausgezeichneten auf der Titelseite der Wochenzeitung "Das Reich": "Die Energie spricht aus seinem Blick, der Menschen und Dinge fest ins Auge faßt, und seine Elastizität hält es nicht lange auf dem Schreibtischsessel aus." Völlig zutreffend sah Höfer in ihm den Prototypen des effizienten Technokraten: "Das Bild dieses Mannes kann stellvertretend stehen für eine Reihe von Arbeits- und Altersgenossen, die wie er Führungsaufgaben in der deutschen Rüstungswirtschaft innehaben."43o Kurz darauf, Anfang Juni 1943, hielt Speer im Zuge der Anstrengungen des Regimes zur Totalisierung des Krieges im Berliner Sportpalast eine seiner wenigen öffentlichen Reden. Darin hob er die "zum Teil unbekannten Männer in der Rüstung" hervor, die "eine ungeheure Aufbauarbeit geleistet haben", und nannte den Namen Rohlands in einem Atemzug mit Pleiger, Krauch, Röchling, Geilenberg, Porsche und Saur. 431 Noch in seinen Erinnerungen nennt Speer ihn seinen "engsten Mitarbeiter"432. Seit Ende 1941, forciert mit Speers Amtsantritt Anfang 1942, hatte das NS-Regime nach den ersten militärischen Rückschlägen eine dramatische Umorganisation der deutschen Rüstungswirtschaft vollzogen und dabei zugleich nach und nach manchen der in seinen Augen allzu zögerlichen, konservativen Industrieführer und Verbandsfunktionäre durch agilere und loyalere jüngere Kräfte ersetzt. In dem ebenso neuartigen wie komplizierten Kosmos der Ausschüsse, Ringe und Reichsvereinigungen entstanden mittels gezielter "Indienstnahme privatunternehmerischer Dynamik" effek429
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Dazu Hartmut H. Knittel, Panzerfertigung im Zweiten Weltkrieg. Industrieproduktion für die deutsche Wehrmacht, Herford 1988, S. 30ft. Das Reich, 16.5.1943. Vgl. dazu auch Rohland, Bewegte Zeiten, S. 223ft. Rede am 5.6. 1943; zit. nach Eichholtz, Schumann (Hrsg.), Anatomie des Krieges, S. 424f. Speer, Erinnerungen, S. 350.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
tive Steuerungszentren riistungswirtschaftlicher Selbstverwaltung, jene Zwitter behördlich-industriellen Charakters, in denen Männern wie Walter Rohland ("halb Funktionär des Regimes, halb privater Unternehmer") in ihrem Bereich binnen kurzem allumfassende Verfügungsgewalt zuwuchs. 433 Unter Speers Ägide wurde Rohland nach seinem Aufriicken in den Vorstand der Vereinigten Stahlwerke 434 1941 zur Schlüsselfigur im riistungswirtschaftlich schlechthin entscheidenden Sektor der Eisenund Stahlindustrie. 435 Zunächst einmal leitete er weiterhin den seit 1940 bestehenden Hauptausschuß Panzerwagen und Zugmaschinen. In dem im April 1942 geschaffenen Industrierat des Oberkommandos des Heeres, einem imposanten, aber vorwiegend beratenden Gremium, in dem die Leiter der wichtigsten Hauptausschüsse und prominente Vertreter der Industrie saßen, fungierte Rohland als geschäftsführender Vorsitzender. In der Anfang Juni 1942 ins Leben gerufenen, mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Reichsvereinigung Eisen (RVE) war er, nach einem Wort Speers von Ende 1942, der "an sich prominenteste Vertreter". Nominell war Rohland, zusammen mit Alfried Krupp, zwar nur stellvertretender Leiter der RVE (an deren Spitze wurde der regimetreue saarländische Industrielle Hermann Röchling berufen), aber als Vorsitzender der tonangebenden Bezirksgruppe Nordwest der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffende Industrie, in der die Ruhrindustrie zusammengefaßt war, fiel Rohland von selbst die Führungsrolle in der Reichsvereinigung zu. De facto leitete das Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke auch den Anfang 1942 geschaffenen Hauptring Eisenerzeugung. Im "Ruhrstab" war Rohland, neben Vögler, ebenfalls die maßgebliche Persönlichkeit, denn er war es, der den Mitarbeiterstab (mit seinem Vorstandskollegen Hans-Günther Sohl an der Spitze) leitete, der nun in den Schlössern Landsberg und Hugenpoet bei Kettwig Quartier bezog. Im November 1943 schließlich übertrug Speer ihm das Amt eines stellvertretenden Leiters des Rüstungsamtes im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. So gab es Ende 1943 in Deutschland niemanden, der auf dem Sektor Eisen und Stahl annähernd so viel Macht in seinen Händen vereinigte wie der 44jährige Walter Rohland. Um so verblüffender ist es, wie wenig Aufmerksamkeit - verglichen etwa mit dem viel weniger einflußreichen Alfried Krupp - ihm die Amerikaner dann schenkten. Wie innerhalb der Rüstungsorganisation verlief auch Rohlands Aufstieg in den Vereinigten Stahlwerken steil. Bereits zweieinhalb Jahre nach seinem Eintritt in den Vorstand wurde er, im November 1943, zum Vorstandsvorsitzenden (Stellvertreter: HansGünther Sohl) des Stahlgiganten berufen; diese Funktion behielt er bis zu seiner Verhaftung durch die britische Militärverwaltung im Herbst 1945. Walter Rohland erklomm den Gipfel seiner Macht gleichzeitig und mit Hilfe bzw. im Windschatten des Aufstieges Albert Speers zum "zweiten Mann im Staat"436. Der Rüstungsminister erreichte im Herbst 1943 ebenfalls den Zenit seines Einflusses, und es ist bezeichnend, daß er sich der Unterstützung des designierten Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten 43J
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Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung von Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, 11. Vgl. auch: Janssen, Ministerium Speer. Milward, Kriegswirtschaft. Hans-Joachim Weyres-von Levetzow, Die deutsche Rüstungswirtschaft von 1942 bis zum Ende des Krieges, Diss., München 1975. Zitate bei Martin Broszat, Der Staat Hitlers, München 1969, S. 378 und S. 229. Als maßgebliche Studie über die Vereinigten Stahlwerke vgl. Mollin, Montankonzerne. Zum folgenden Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, II, S. 65, S. 71, S. 86ff., S. 172 (Zitat), S. 89, S. 143 f., S. 164. Speer, Erinnerungen, S. 280.
2. Wirtschaft und Besetzung
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Stahlwerke bediente, als er es in seiner bekannten Posener Rede sogar wagte, den versammelten Gauleitern bei mangelndem kriegswirtschaftlichen Eifer unverhohlen Konsequenzen anzudrohen. 437 Der Aufstieg des Speer-Vertrauten Rohland kontrastiert unübersehbar mit dem Rückzug und der Ausschaltung prominenter Ruhrindustrieller, die sich der Vereinnahmung durch den Speerschen Rüstungskomplex widersetzten oder der schärfer werdenden Gangart des Regimes nicht mehr folgen wollten. Vierzehn Tage nach dem Amtsantritt Speers wurde mit Paul Reusch, dem Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte in Oberhausen, einer der markantesten Stahlkönige des Reviers unter massivem Druck Berlins aus seinem Amt gedrängt. Hitlers Politik hatte Reusch nach und nach desillusioniert gehabt, und im Krieg häuften sich die Verdächtigungen wegen "Rüstungssabotage" gegen den eigenwilligen Industriepatriarchen. Am 21. Februar 1942 zog er sich auf den Familiensitz Schloß Katharinenhof bei Backnang zurück. Sein Sohn Hermann legte mit ihm sein Vorstandsmandat nieder. H8 Das nächste Opfer Speerscher Dynamik, die "die Alten" nicht länger dulden mochte, wurde ein weiterer Grandseigneur des Ruhr-Establishments, nämlich der 70jährige Vorsitzende der Wirtschaftsgruppe Eisen schaffende Industrie sowie der Nordwestgruppe Ernst Poensgen, der als Nachfolger Albert Vöglers Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke geworden war. 439 Schon vor dem Krieg ein scharfer Gegner der Gründung der Hermann-Göring-Werke, widersetzte er sich hartnäckig den Plänen des Rüstungsund Wirtschaftsministeriums zur Etablierung der Reichsvereinigung Eisen. In der von Speer betriebenen Bildung des Hauptringes Eisen und Stahl sah er die Gefahr einer "Überorganisation"440. Als sein Widerstand erfolglos blieb, gab Poensgen, der in den letzten Jahren seiner Tätigkeit wohl wirklich "nichts von Hitler hielt"441, im Frühjahr 437 438
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Vgl. Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, 11, S. 174f. Hans-Josef Joest, Pionier im Revier, Stuttgart 1982, S. 155 f. Vgl. auch Berghahn, Unternehmer, S. 55. Im Schriftwechsel zwischen Paul und Hermann Reusch scheint die Dramatik der Verdrängung der bei den Reusch gelegentlich auf. In einem Brief an seinen Vater schreibt Hermann Reusch beispielsweise am 21. 4. 1942: "In München habe ich [Geheimrat LudwigJ Kastl aufgesucht und ihn eingehend über die Vorgänge unterrichtet, die zu meinem Ausscheiden bei der G HH geführt haben. Er ist sehr erschüttert und entsetzt." Privatbesitz und Sammlung Paul Jürgen Reusch, dem ich herzlich für die Unterstützung meiner Recherchen danke. Der regimekritische Wirtschaftsfachmann Ludwig Kastl, vor 1933 führender Verbandsfunktionär und nach 1945 einflußreicher Industrieller, wurde 1944 ganz bewußt zur vorsichtigen WeichensteIlung auf die Nachkriegszeit in den Vorstand der MAN delegiert. Vgl. hierzu Gerhard Hetzer, Unternehmer und leitende Angestellte zwischen Rüstungseinsatz und politischer Säuberung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 562. Vgl. zum folgenden Klass, Vögler, S. 268 H. Vgl. auch Rohland, Bewegte Zeiten, S. 62 f. So Poensgen in einer Sitzung des "Kleinen Kreises" im März 1942; zit. nach Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, 11, S. 67. So Rohland, Bewegte Zeiten, S. 63. Vgl. auch Henry A. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 271. Eine etwas andere Auffassung hatte offenbar Konrad Adenauer. Als ihm sein Freund Pferdmenges Poensgens Rückblick "Hitler und die Ruhrindustriellen" übersandte, in dem dieser sich sehr kritisch mit dem Nationalsozialismus und seiner Wirtschaftspolitik auseinandersetzte (Mannesmann-Archiv, P 2.25088), schrieb der spätere Bundeskanzler am 21. 7.1945 Pferdmenges zurück: "Mit bestem Dank sende ich Ihnen den Rückblick von Herrn Poensgen zurück. Bei seiner Lektüre fiel mir folgendes ein: Im Mai 1934 habe ich in Berlin Herrn Piggott, den früheren britischen Bezirksdelegierten, gesprochen. Ich habe ihm damals gesagt, daß die Aufrüstung und die Kriegsvorbereitungen Deutschlands begonnen hätten und daß Hitler und der Nationalsozialismus nichts anderes wollten als Krieg. Ich verstünde nicht die Politik der englischen Regierung und auch einzelner maßgebender englischer Persönlichkeiten gegenüber dieser Gefahr. Herr Piggott erwiderte hierauf, er sei auf das äußerste erstaunt über meine Ausführungen. Er sei in der letzten Zeit mehrfach mit Herrn Ernst Poensgen zusammen gewesen und gehe auch jetzt wieder zu ihm. Herr Poensgen habe eine ganz andere Schilderung des Nationalsozialismus und der Persönlichkeit Hitlers gegeben als ich und sich als ein begeisterter Freund und Verehrer der Partei und
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
1942 sämtliche Verbandsfunktionen und den Vorstandsvorsitz bei den Vereinigten Stahlwerken ab und zog sich ins Privatleben zurück. Sein Nachfolger als Leiter der Gruppe Nordwest und, nach einem gewissen Interim, als VSt-Vorstandsvorsitzender war Walter Rohland. 442 Wie sehr es dem Rüstungsminister bei seinem Bestreben, die Ruhrindustrie "auf Vordermann zu bringen", immer auch um die Förderung technokratisch orientierter Wirtschaftsführer ging, die bereit waren, die betriebs- und volkswirtschaftlichen Sünden mitzubegehen, die den Konzernen in der zweiten Kriegshälfte zunehmend abverlangt wurden, verrät noch eine charakteristische Passage seines Berichtes über eine "Reise an Rhein und Ruhr" vom November 1944: "Die Besichtigung bei Krupp", schreibt Speer, "ergab die erfreuliche Tatsache, daß durch den neuen Betriebsführer von Krupp, Herrn Houdremont, bereits der überalterte Krupp-Geist zu einem großen Teil verschwunden ist. Neue jüngere Mitarbeiter sind überall zu sehen, die mit ganz anderer Energie als bisher die Probleme anfassen."443 Professor Eduard Houdremont, nur zwei Jahre älter als Rohland, war als einer der bekanntesten Stahlexperten der Welt bis in die erste Kriegshälfte hinein die maßgebliche Persönlichkeit der Kruppschen Forschung gewesen. Erst 1943 wurde der (1935 naturalisierte) gebürtige Luxemburger, der drei Jahre zuvor in die NSDAP eingetreten war und als einziger im Krupp-Direktorium das 1940 erstmals (an Gustav Krupp von Bohlen und Halbach) verliehene Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz besaß, Generalbevollmächtigter des Konzerns und unmittelbar für die Produktion verantwortlich. 444 Doch selbst der vom Rüstungsminister später als erfreuliches Gegengewicht zum alten "Krupp-Geist" gerühmte faktische Chef des Familienunternehmens (Alleininhaber von Krupp wurde nach der von Hitler Ende 1943 unterzeichneten sogenannten "Lex Krupp" Gustavs Sohn Alfried Krupp von Bohlen und Halbach) bekam in seiner neuen Funktion den Druck Rohlands zu spüren. Als Speers effektivster Multifunktionär und radikalster Rüstungsantreiber unter den Ruhrindustriellen warf Rohland (mit Unterstützung des Chefs des Technischen Amtes im Rüstungsministerium, Karl Otto Saur) dem Krupp-Konzern im Herbst 1943 vielleicht sogar zutreffend, in jedem Falle aber sehr unverblümt, mangelnde - weit hinter den Vereinigten Stahlwerken und dem Durchschnitt der Außenstelle Nordwest der Reichsvereinigung Eisen zurückliegende - Leistungsfähigkeit vor, ließ durch den Ruhrstab wenig schmeichelhafte Analysen dazu verfassen und in Umlauf bringen und betrieb die Plazierung eines "Kommissars" im Krupp-Direktorium. Sogar die Ausgliederung eines Teils der Waffenproduktion aus dem Konzern und die temporäre Übernahme der Verantwortung
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Hitlers gezeigt. Poensgen sei aber doch ein sehr ernst zu nehmender Mann, so daß er meine Ausführungen gar nicht verstehe. Anscheinend hat sich die Erinnerung von Herrn Poensgen etwas getrübt." RWW A Köln, Abt. 1 d, NL Hilgermann. Im Zuge der Umorganisation der deutschen Rüstungswirtschaft kam es 1942/43 auch in den Wirtschaftsverbänden zu erheblichen personellen Veränderungen. Die Hintergründe dieses Personalschubes sind noch nicht ausreichend geklärt. Rainer Eckert, Die Leiter und Geschäftsführer der Reichsgruppe Industrie, ihrer Haupt- und Wirtschaftsgruppen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1979, Teil IV, S. 243 H., erklärt das Revirement in der Reichsgruppe Industrie damit, daß sich ein Teil der Funktonäre "selbständig aus zu kompromittierenden Positionen zurückzog, während andere im Rahmen der ,totalen Kriegführung' gegen aktivere Parteigänger des faschistischen Systems ausgetauscht wurden". Nach den in ihrem VöglerManuskript, S. 364, wiedergegebenen Recherchen von Bauert-Keetmann soll Speer ausdrücklich erklärt haben, den Seniorchefs der VSt müßten Juniorchefs zur Seite gestellt werden. "Bericht von der Reise an Rhein und Ruhr vom 15.-23. November 1944"; BA, R 3, Nr. 1542. Vgl. die Angaben zur Vita in: Trials of War Criminals, vol. IX: The Krupp Case, S. 41 f.
2. Wirtschaft und Besetzung
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hierfür durch den Waffenausschuß, "bis die geforderte Leistung erreicht würde", wurde verfügt. Den daraus entstehenden Konflikt sah Alfried Krupp völlig zu Recht als einen ,,Angriff" seines Stellvertreterkollegen aus der Reichsvereinigung Eisen gegen ihn selbst an 445 und, wie er es Speer gegenüber fonnulierte, "als eine moralische Herabsetzung, wenn nicht Beleidigung der gesamten Mitarbeiterschaft sowohl des Berthawerkes als auch der Mutterfinna"446. Gleichzeitig hatte sich der Konzern noch einer offenkundig ungereimten Anschuldigung Rohlands wegen Produktionseinbußen im Zusammenhang mit der Arbeitskräftegestellung zu erwehren. In einem Gespräch mit ihm fand Houdremont deutliche Worte dazu. Das Verhalten des VSt-Generaldirektors und Hauptausschußleiters erkläre sich "wie schon frühere Fehlsprünge des Herrn Rohland" vielleicht "aus dem Einflusse seiner technischen Umgebung ... Herrn Rohland trifft aber die Schuld, ein abfälliges Urteil ausgesprochen zu haben, ohne sich überhaupt über die zwingenden Verhältnisse, die zu dem von ihm bemängelten Vorgange geführt haben, zu informieren, und das ist Leichtfertigkeit."447 Eine ähnliche Auseinandersetzung, bei der es um die Stahlverteilung ging, ist sogar noch für Mitte Februar 1945 bezeugt. Da sah sich nämlich ein Vorstandsmitglied von Mannesmann genötigt, Rohland in einiger Ausführlichkeit zu widersprechen, "um" - wie er schrieb - "den Vorwurf, den Sie der Finna Mannesmann machen, sich nicht genügend auf das Munitionsprogramm eingeschaltet zu haben, richtigzustellen"448. Es war diese Profilierung Rohlands als machtbewußter, bis zur Rücksichtslosigkeit engagierter Antreiber im Dienste der Rüstungsorganisation des Regimes, den selbst die zunehmend schlechter werdende Kriegslage bis Anfang 1945 nicht zu irgendwelchen vernünftigen Gentlemen's Agreements mit seinen Kollegen und zu mehr unternehmerischer Solidarität und Augenmaß veranlassen konnte, die den Chef der Vereinigten Stahlwerke (die personell enger mit der Rüstungsorganisation Speers verbunden waren als etwa Krupp oder die Gutehoffnungshütte) letztlich um die Chance brachte, seine Karriere ebenso wie die Krupp, Reusch, Zangen, Sohl und die meisten anderen Ruhrindustriellen Ende der vierziger Jahre fortsetzen zu können. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, daß "der spezielle Moralkodex der westdeutschen Industrieeliten nach 1945 sehr feine Linien zog zwischen Kollegen, die akzeptabel, gerade noch akzeptabel und nicht mehr akzeptabel waren"449. Und völlig zutreffend ist weiterhin bemerkt worden, daß es Männern wie Rohland offenbar an der Ruhr "nie ganz vergeben" wurde, "daß sie - wenn auch keine fanatischen Nationalsozialisten - zu eben jenen ,dynamischen' Männern gehörten, ,deren Energie in Brutalität ausartete und die sich durch nichts imponieren ließen' ". Der in den letzten Kriegswochen gegen den Zerstörungskurs Hitlers gerichtete auffällige Aktivismus gerade Speers und seiner Rüstungsorganisatoren - darunter an vorderster Front wieder Rohland -, der mit der Erkenntnis der militärischen und politischen Aussichtslosigkeit der Lage im Januar 1945 einsetzte und vor allem von dem Bestreben getragen war, Umkehr zu de445
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Schreiben Walter Rohlands an Alfried von Bohlen und Halbach v. 12. 11. 1943, mit Randbemerkungen Krupps; Krupp-Archiv, FAH VC 24a. "Niederschrift des Herrn Alfried v. Bohlen über Besprechung mit Reichsminister Speer am 2. November 1943" v. 2. 11. 1943; ebenda. . Aktenvermerk über ein Gespräch Houdremonts mit Rohland am 16. November 1943 v. 23.11. 1943; Krupp-Archiv, FAH VC 75b. Schreiben Kar! Bungeroths an Rohland v. 23. 2. 1945; Mannesmann-Archiv, M 20046. Siehe auch Knittel, Panzerfertigung, S. 34. Berghahn, Unternehmer, S. 54; das folgende Zitat ebenda, S. 53. Hervorhebungen im Original.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
monstrieren und Hypotheken aus der NS-Zeit noch während der NS-Zeit zu tilgen 450 , konnte deren rücksichtslosen Rüstungseinsatz nicht vergessen machen. Dies allerdings ist Rohland offenbar nie klargeworden. Er scheint sich auch niemals Rechenschaft über seine politische Verantwortung gegeben zu haben, die er mit seinem als unpolitisch ausgegebenen oder verstandenen, in der Bedeutung für die Stabilisierung des Regimes im Krieg aber nicht hoch genug zu veranschlagenden Einsatz auf sich geladen hatte. Reflexionen über Verantwortung durch Teilhabe an prominenter Stelle, wie sie sein großer Förderer Albert Vögler vor seinem Selbstmord beim Einmarsch der Amerikaner angestellt hatte, waren Walter Rohland fremd. Er hätte solche Gedanken vielleicht als altmodisch abgetan. Unberührt von Kapitulation und Besetzung, weit davon entfernt, darin das Ende einer Ära zu sehen, die auch seine Ära gewesen war - Walter Rohland blieb auch nach der alliierten Besetzung eine Zeitlang genau das, was er seit 1942 gewesen war: Motor der Vereinigten Stahlwerke und führende Figur der Stahlindustrie des Reviers. Im Mai 1945 hatte der Generaldirektor einen am Sitz der "Geschäftsführenden Reichsregierung" in Schleswig-Holstein aufgegebenen Brief von Albert Speer erhalten. 451 Darin wurde er um Überlassung statistischer Unterlagen aus seinem Bereich und um Hinweise auf den Aufenthalt weiterer enger Mitarbeiter und Industrieller gebeten, die an verantwortlicher Stelle der Rüstungsorganisation mitgearbeitet hatten. Eine Handvoll weiterer engster Mitarbeiter des Rüstungsministers, der inzwischen von der Dönitz-Regierung mit der Führung der Geschäfte eines Reichswirtschaftsund Produktionsministers betraut worden war452 , erhielt ein gleichlautendes Schreiben; neben Dorsch, Saur, Stahl gehörte unter anderem auch der Direktor beim Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation AG Arthur Tix (der Vorsitzender des Hauptausschusses Waffen gewesen war) zu den Empfängern. Etwas verschlüsselt und gewiß zum nicht geringen Erstaunen der Adressaten darüber, daß ihr rühriger Chef zehn Tage nach der Kapitulation schon wieder obenauf zu sein schien, teilte dieser ihnen über den Sinn der Aktion nur mit, er habe die Absicht, "zur Bearbeitung zusammenzustellenden Materials einen kleinen Stab unserer Mitarbeiter heranzuziehen". Aber vielleicht war Speers "Kindergarten" mittlerweile über den "Buschnachrichtendienst" (Rohland)453 auch schon genauer ins Bild gesetzt worden. Speer war Ende April zu Dönitz gestoßen, mit dem ihn ein freundschaftliches Verhältnis verband. Aber kaum daß er sein Ministeramt im Kabinett Schwerin-Krosigk übernommen hatte, begann er sich auch schon von der "Geschäftsführenden Reichsregierung" zu distanzieren. Er hatte erkannt, daß sie "lediglich als Abwicklungsstelle für das Erbe Hitlers fungierte und keine Chancen für einen Neuanfang bot, wie er Speer inzwischen verschwebte"454. Während der Befragungen durch den United States Strategie Bombing Survey unter der Leitung von lohn Kenneth Galbraith, die um diese Zeit in Flensburg stattfanden und sich in erster Linie um den ehemaligen Star der deutschen Kriegswirtschaft drehten, wird Speer den Eindruck gewonnen haben - vielleicht haben ihm die Amerikaner sogar Andeutungen in dieser Richtung ge-
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Vgl. VII. Vgl. dazu Piskol, Nachkriegskonzeption, S. 274. Dort auch das Zitat aus dem Brief v. 17.5. 1945. 452 Hierzu siehe Schmidt, Albert Speer, S. 159 ff. '53 Rohland, Bewegte Zeiten, S. 115. Schmidt, Albert Speer, S. 171. Zum folgenden ebenda, S. 168ff.
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2. Wirtschaft und Besetzung
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macht -, daß er dank seiner hinlänglich unter Beweis gestellten, die Alliierten tief beeindruckenden Organisations fähigkeit womöglich mit einer maßgeblichen Rolle bei der Stabilisierung der chaotischen Verhältnisse und beim deutschen Wiederaufbau rechnen konnte. Speer seinerseits ließ durchblicken, daß er einen Mitarbeiterkreis habe, mit dem das möglich sein würde. In der amerikanischen und britischen Militärverwaltung hat es wohl, wie man aus der Art des Umganges mit den deutschen Wirtschaftsführern nach der Besetzung immerhin schließen könnte, zahlreiche politischen Gesichtspunkten fernstehende Fachoffiziere gegeben, die sich in der unübersichtlichen Situation vom Frühjahr 1945 ganz gerne vielleicht nicht gerade auf Speer selbst, aber doch auf seine höchst improvisationstüchtigen und energischen Manager gestützt hätten. Am 23. Mai wurde die Dönitz-Regierung und mit ihr Hitlers Rüstungsminister von den Engländern verhaftet. Aber selbst in der Haft hat Speer offenbar noch eine Weile geglaubt, als ,,Aufbauminister" gerufen zu werden. Walter Rohland hatte in seiner Stellung natürlich noch viel begründeter Anlaß zu der Hoffnung, daß das Desaster der Nationalsozialisten seine Zukunft und die Zukunft seines Konzerns nicht ernstlich beeinträchtigen würde. Speers Brief mag ihn darin bestärkt haben. Die Verhaftung des Rüstungsministers hat diese Erwartung wohl etwas getrübt, zumal inzwischen die ersten Wolken über den Vereinigten Stahlwerken aufzuziehen begannen. Angeblich, so jedenfalls Walter Rohlands spätere Version 455 , hatten den Vorstandsvorsitzenden Gerüchte über eine beabsichtigte Auflösung der Vereinigten Stahlwerke erreicht. Quelle sei der einflußreichste niederländische Industrielle und Präsident der Amsterdamer Internationalen Handelskammer Frederik H. Fentener van VIissingen gewesen. Van VIissingen war Aufsichtsratsvorsitzender der mächtigen Koninglijke Nederlandsche Hoogovens en Staalfabrieken, die 1926 einer der Aktionäre der neu gegründeten Vereinigten Stahlwerke geworden waren. Der holländische Industrielle, der von 1926 bis 1949 VSt-Aufsichtsratsmitglied war, sei laut Rohland von einem britischen Offizier nach Ratingen gebracht worden, wo Rohland wohnte. Hier fand am 20. Mai 1945 bei Werner Carp, einem einflußreichen Düsseldorfer Industriellen (Aufsichtsrat der Phoenix AG, die die VSt mitgegründet hatte), eine "Geheimbesprechung" statt, an der neben Rohland auch Julius Lamarche, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Röhrenwerke, und ein weiterer Spitzenmanager, Alfred Hilger, persönlich haftender Gesellschafter der Bergischen Stahlindustrie, teilnahmen. Einziges Thema: "Was kann noch geschehen, um die Vereinigten Stahlwerke zu erhalten?" Es mag dahingestellt bleiben, wann Rohland die ersten verläßlichen Indizien dafür erhielt, daß die Alliierten entschlossen waren, den deutschen Stahlgiganten aufzubrechen und dessen Produktionsanlagen einen prominenten Platz in ihrem Reparationsund Demontageprogramm zuzuweisen. Für Rohland hatten sich im Laufe des Mai jedenfalls genügend Gesichtspunkte ergeben, um in seinem rastlosen Engagement für seinen Konzern und für die Schwerindustrie an der Ruhr - als deren Primus er sich nach wie vor fühlte - nicht nachzulassen. In seinen Erinnerungen erweckt er den Eindruck, als hätten seine Aktivitäten nach der geheimen Krisensitzung in Ratingen ganz der Abwehr der Gefahren gegolten, die den Vereinigten Stahlwerken von seiten der Siegermächte drohten. In Wirklichkeit aber ist seine Strategie, die er unter dem Da.55 Rohland, Bewegte Zeiten, S. 117 f.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
turn des 2.Juni 1945 in einer für die Militärregierung bestimmten Denkschrift niederlegte, umfassender und viel weniger defensiv gewesen. Bevor er sich damit an die Besatzungsmacht wandte, ließ er die Denkschrift, die er, wie er in einer Besprechung der Vereinigten Stahlwerke sagte, "in Zusammenarbeit mit Herrn Sohl und Herrn Dinkelbach erstellt" habe 456 , "allen interessierten Werken" zugehen. Am 7. Juni überreichte er GHH-Generaldirektor Kellermann mit dem Hinweis, einige Herren des Reviers hätten den Text bereits gebilligt, persönlich ein Exemplar davon. Im übrigen bat Rohland, der mit seiner Abhandlung die Ruhrelite einzuschwören gedachte, den Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte darum, "bei etwaiger Befragung dieselbe Stellung einzunehmen". Kellermann leitete das Memorandum an das Vorstandsmitglied Lübsen zur Prüfung weiter. Er selbst vermißte nach erster Lektüre in den Ausführungen Rohlands zunächst nur den Hinweis darauf, "daß, um Ruhe und Ordnung zu sichern, so schnell wie möglich die ausländischen Arbeiter aus dem Revier abbefördert werden müssen"457. Rohland hielt sich dabei nicht auf. Er legte nieder, wie sich ihm die politische Einstellung und die wirtschaftlichen Vorstellungen des Ruhrestablishments in der Vergangenheit und in den kommenden Zeiten darstellten. Die große Denkschrift von Walter Rohland begann mit der Feststellung, Hitlers Krieg sei zwar "in keiner Weise populär" gewesen, es hätte aber bei jedem Deutschen Klarheit darüber bestanden, "daß dieser Krieg endgültig über Deutschlands Schicksal entscheiden würde"458. Für "jeden Deutschen", so erneut, sei es daher eine Selbstverständlichkeit gewesen, bis zum äußersten seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun; unter dem herrschenden Regime habe es praktisch keine Möglichkeit gegeben, aktiv gegen den Krieg anzugehen. "Nachdem 1918 durch den Zusammenbruch der Heimat der Krieg verloren ging, wollte diesesmal die Heimat diese Schuld nicht auf sich laden." An diese Passage setzte ein Vorstandsmitglied der Gutehoffnungshütte, vermutlich Lübsen, sein erstes Fragezeichen. Anders als 1918, fuhr Rohland fort, sei sich jetzt "jeder Deutsche" darüber im klaren, daß "dieser Krieg in allen Phasen verloren" sei. Deshalb, und wegen der außerordentlichen physischen und psychischen Beanspruchung der letzten Jahre, herrsche eine "auf der ganzen Linie feststellbare Resignation und Depression der Deutschen". Weil "dieser Zustand aufgrund der Erfahrungen von 1919 bei sofortiger Einschaltung einer neuen deutschen Regierung sich zur Katastrophe auswirken würde" - hier ein zweites Fragezeichen am Rande -, "wird die von den Vereinten Nationen eingesetzte Militärregierung allerseits anerkannt". Danach wies der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke den Besatzungsmächten ihre Rolle in Deutschland zu: "Es wird darauf ankommen", schrieb er, "wie sich die Militärregierung zum deutschen Volke einstellt. Wesentlich ist hierbei, daß diese Regierung ihrerseits die Aufgaben stellt und die Ziele absteckt, und daß andererseits dem deutschen Volke die Ausführung übertragen wird, wobei selbstverständlich der Militärregierung jeder Zeit ein Kontrollrecht zusteht. Nur durch Übertragung klarer Aufgaben und Arbeitsgebiete kann das deutsche Volk aus der augenblicklichen Resignation und Depression, ja, man kann sagen Verzweiflung, herausgerissen und ein 456
m 458
Besprechung bei den Vereinigten Stahlwerken am 12.6. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. Handschriftliche Notiz von Generaldirektor Kellermann für Lübsen v. 8.6.1945; Haniel-Archiv,4001016/14. Die fünfseitige maschinenschriftliche und unbetitelte Denkschrift Walter Rohlands v. 2.6. 1945 eben da. Hervorhebung im Original; ebenso die übrigen Hervorhebungen.
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allgemeines Chaos vermieden werden." Das beschwörende Motiv des bevorstehenden Chaos kehrte in den Ausführungen Rohlands noch einmal als "Kommunismus und drohendes Chaos" wieder. Der deutsche Arbeiter, "politisch wenig geschult", stehe "im Augenblick dem bolschewistischen Gedankengut ablehnend gegenüber" - Fragezeichen -, könne durch "politische Demagogen" und die "außerordentlich geschickte russische Propaganda und die Angst vor einer Hungersnot" aber schnell auf eine verderbliche Bahn gebracht werden. Das sei nur zu verhindern, "wenn die Menschen schnellstens einer produktiven Arbeit wieder zugeführt werden und eine entsprechende Ernährung sichergestellt wird". Nachdem Rohland so der Militärregierung ausgemalt hatte, in welcher Klemme sie im besiegten Deutschland stecke, wandte er sich der "Frage der Partei mitgliedschaft" zu, die eine besonders gründliche Prüfung erfordere. Da er ansonsten nicht auf die Gretchenfrage nach dem Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus einging, war dieser Passus dazu ausersehen, die Ohnmächtigkeit des einzelnen Mitglieds der NSDAP vor Augen zu führen und so implizit in damals gängiger Manier die gesamte politische Verantwortung für Krieg, Niederlage und Verbrechen auf eine kleine Führungsclique um Hitler zu schieben. Vor 1933 seien viele Deutsche aus Not und Verzweiflung Parteimitglied geworden. Nach 1933 seien viele aufrichtige Deutsche zur Partei gestoßen, "um durch ehrliche, aufbauende Kritik die bereits erkennbaren radikalen Tendenzen der Partei in vernünftige Bahnen zu lenken und um dem Vaterland hierdurch zu dienen". Ein "großer Teil dieser Gruppe", so Rohland weiter, "wurde zwar bald enttäuscht - insbesondere nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg -, versuchte jedoch weiter mit allen Mitteln, sich für eine vernünftige Lösung" (hier findet sich ein besonders kräftiges Fragezeichen am Rande) "insbesondere der Rassenfrage und der außenpolitischen Fragen unter schwerer Gefährdung ihrer Person einzusetzen. In starkem Umfange wurde von der Partei die Mitgliedschaft von Personen, insbesondere in gehobenen Stellungen, mehr oder weniger erzwungen" - erneutes Fragezeichen. Die gegenwärtigen "unklaren Verhältnisse" und die "außerordentliche Unsicherheit" hinsichtlich der Bewertung der Parteimitgliedschaft sollten nach Rohlands Ansicht "baldigst" durch eine "klare Entscheidung" der Besatzungsmacht beseitigt werden. Kriterium müsse Aktivismus an führender Stelle der NSDAP, "in aktiven Verbänden wie SS und SA etc." sein. Damit war die Militärregierung auf die dünne Schicht der politischen Elite des Nationalsozialismus verwiesen, die gesellschaftliche, namentlich die industrielle Elite aus der politischen Sphäre gerückt; kein Wort über die maßgebliche Rolle vieler ihrer Vertreter auch im Revier bei den Aufrüstungsprogrammen und in der Rüstungsorganisation, kein Wort zu den Durchdringungs- und Ausbeutungsstrategien der Wirtschaft in West- und Osteuropa, erst recht keine Bemerkung zum Zwangsarbeitereinsatz, geschweige denn zu den Verbrechen des Regimes. Kein Offizier der Militärregierung wird nun von einem führenden Ruhrindustriellen in dieser Lage in einer Denkschrift Selbstbezichtigungen oder Selbstbelastungen erwartet haben, aber die selbstgerechte Selbstdarstellung, diese sogar für die über die Innenwelt der deutschen Kriegswirtschaft ganz unzulänglich informierten Angehörigen der Besatzungsmächte ziemlich durchsichtige und verharmlosende Beschönigung war nicht dazu angetan, die Basis des nötigen Vertrauens für die von Rohland eingeforderte Zusammenarbeit mit den Alliierten zu legen.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
Im weiteren setzte sich der Verfasser nüchtern mit Fragen der Ernährung, des Geldverkehrs und der "wirtschaftlichen Zusammenhänge im Ruhrgebiet" auseinander. Die vordringliche Aufgabe, die Deutsche und Besatzungsmächte nun zu lösen hätten, sei die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln. Dazu sei eine "straffe Zentralorganisation" vonnöten. Das Ruhrgebiet sei keinesfalls in der Lage, sich selbst zu ernähren. Die Nahrungsmittelzufuhr von außen müsse bis zur Instandsetzung des Eisenbahn- und Kanalnetzes auf der Straße erfolgen, "wobei eine wirklich durchgreifende Hilfe nur möglich ist, wenn seitens der Besatzungsbehörden Lastwagen und Treibstoff in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden". Für die Schwer- und Schwerstarbeiter werde "die Zuwendung von Lebensmitteln, z.B. Speck, aus den Mitteln der Besatzungsmächte erforderlich sein". Was den Punkt "Geldverkehr" anging, so wünschte er dessen baldige einheitliche Steuerung im Ruhrbezirk und in ganz Deutschland, die Wiederaufnahme bargeldloser Überweisungen und ein allmähliches Herantasten an die völlig ungeklärte Regelung der Forderungen der Industrie an das Reich und die Frage der Kompensation der Kriegsschäden. Im vorletzten Abschnitt seiner Denkschrift erläuterte Rohland die horizontale und vertikale Verflechtung des Reviers und der Ruhrwirtschaft. Daran knüpfte sich die unter rein ökonomischen Gesichtspunkten nicht von der Hand zu weisende Schlußfolgerung des Stahldiktators: "In diesem Zusammenhang ist es unmöglich, aus der gesamten Industrie die Gruppen Kohle- und Konsumgüter-Erzeugung bevorzugt in Gang zu setzen, ohne der Zwischenstufe eine Erzeugungsmöglichkeit zu geben." Damit hatte er die auf das engste verflochtene Struktur des deutschen Wirtschaftszentrums, das auf grobe Eingriffe unweigerlich sehr empfindlich reagieren würde, in ihren Umrissen vor Augen geführt, die unabdingliche Belebung des Eisen- und Stahlsektors begründet und der Militärverwaltung das Feld für direkte Hilfestellungen von ihrer Seite bezeichnet. Zum Abschluß seiner Gedankenführung nahm Hitlers Stahlgewaltiger noch einmal seine Grundideen von einer ersprießlichen "Zusammenarbeit" zwischen Siegern und Besiegten auf: Im "Gesamtinteresse" sei es notwendig, "dem deutschen Menschen wieder eine Aufgabe zu stellen. Die Zielsetzung und die Reihenfolge der durchzuführenden Aufgaben ist Angelegenheit der Militärregierung." Auf dem Gebiet der Verwaltung bediene sie sich ja bereits deutscher Organe. "In wirtschaftlicher Beziehung", schrieb er mit Blick auf die wiedererstehenden Handelskammern und die industriellen Fachverbände, "erscheint es notwendig, in ähnlicher Weise vorzugehen." Und abschließend betonte Rohland, daß "die gesamte Industrie des Ruhrgebietes bereit ist, im Interesse der notleidenden Bevölkerung in der loyalsten Weise mit der Besatzungsbehörde bzw. Militärregierung entsprechend ihren Weisungen zusammenzuarbeiten". Mit diesem Zentralbegriff seiner Ausführungen, der "Zusammenarbeit", den auch schon der Chef des Krupp-Direktoriums einen Monat zuvor in den Mittelpunkt eines ähnlichen Memorandums gestellt hatte 459 , schloß Rohland seine zwischen Selbstbewußtsein und Selbstgerechtigkeit, Nüchternheit und deutschnationaler Ideologie, Optimismus und Illusion pendelnden Gedankengänge zur großindustriellen Interessenwahrung in der kritischen Übergangsphase zwischen militärischer Besetzung und politischem Zugriff der Militärverwaltung. 45.
Vgl. oben in diesem Kapitel.
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Georg Lübsen, Vorstandsmitglied der Gutehoffnungshütte, deren Management ein distanziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus nachgesagt wurde, hatte seinen Unwillen gegenüber der Argumentation Rohlands schon durch seine Marginalien zum Ausdruck gebracht. Kellermann reichte er die Ausarbeitung mit dem Bemerken zurück, er könne den Ausführungen "nur teilweise zustimmen und würde sie deshalb auch nicht an anderer Stelle voll vertreten können". Genau gegenteiliger Ansicht wie Rohland, der von der frühen Bildung einer deutschen Zentralverwaltung mit Blick auf die Linksregierungen der Anfangsjahre der Weimarer Republik abgeraten hatte, betonte er die dringende Notwendigkeit übergeordneter Koordination. Die Ausführungen zur Frage der Parteimitgliedschaft klangen Lübsen "doch stark nach einer Entschuldigung. Daß sich viele Parteimitglieder unter schwerer Gefährdung ihrer Person für eine vernünftige Lösung in den genannten Fragen eingesetzt hätten", fuhr er fort, "habe ich leider nie bemerkt. Ebenso wenig habe ich feststellen können, daß die Mitgliedschaft zur Partei bei Personen in gehobener Stellung erzwungen wurde."460 Der Chef der Gutehoffnungshütte unterließ denn auch die weitere Verbreitung der Denkschrift des Speer-Intimus. In dem von Paul Reusch geprägten Konzern lehnte man es ab, die apologetischen Auslassungen des mächtigsten, durchsetzungsfähigsten und regimeloyalsten Stahlmanagers des Reviers als Common sense des Ruhrestablishments gegenzuzeichnen. Vor allem war nicht vergessen, daß Rohland gegenüber den großen Konzernen im Namen äußerster Rüstungsanstrengungen noch zu einer Zeit bis Ende 1944 - unnachsichtig und ohne Gefühl für einen vernünftigen Branchenegoismus auf betriebsschädigenden Höchstleistungen bestanden hatte, als man sich in den Vorstandsetagen der Montankonzerne bereits auf die Erhaltung der Substanz konzentrierte und sich mit der Umorientierung auf die Nachkriegsproduktion befaßte. Dieser Walter Rohland sollte nun auch maßgeblicher Organisator der Nachkriegswirtschaft sein? Für eine maßgebliche Rolle bei der Wiederingangsetzung der Ruhrindustrie schien er schon allein deshalb kaum geeignet, weil ihm in der Wahl des richtigen Tones und eines angemessenen Stils im Umgang mit den Besatzungsmächten offensichtlich wiederum die - nun in besonderem Maße geforderte - Sensibilität fehlte. Der wenig erfolgreiche, in seinen Erinnerungen nicht erwähnte Versuch, die Manager des Reviers auf seine forsche Strategie einzuschwören, war in den ersten Besatzungswochen nicht die einzige größere Aktion Rohlands hinter den Kulissen. Bald nach Abfassung seiner Denkschrift machte er sich auf eine recht abenteuerlich verlaufende Reise zu seinem 1942 auf Druck der Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängten Vorgänger Ernst Poensgen, der sich nach Kitzbühel zurückgezogen hatte. Nach Rohlands Version wurde diese Idee in jener "Geheimsitzung" im Mai geboren, in der auf die über Holland nach Deutschland gedrungenen Gerüchte hin Pläne zur Rettung der bedrohten Vereinigten Stahlwerke geschmiedet worden waren. Am Ende der Besprechung sei man sich einig gewesen, "Ernst Poensgen müsse nach Düsseldorf kommen und die Situation retten. Ausgangspunkt für diese Überlegungen war die Annahme, daß der Name Poensgen in England noch in hohem Kurs stünde." Also habe er, Rohland, den Auftrag erhalten, den früheren Generaldirektor in Tirol aufzusuchen. 461 Die Motive dafür, daß es der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahl'60
461
Bemerkungen Lübsens für KelJermann v. 11. 6. 1945 zu der Rohland-Denkschrift v. 2.6. 1945; HanielArchiv, 4001016/14. Rohland. Bewegte Zeiten, S. 118.
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werke in prekärer Lage seines Konzerns auf sich nahm, sich nicht weniger als sieben Tage lang auf die unsicheren Straßen nach Süden zu begeben, lagen aber etwas anders, als Rohland es später zugeben wollte. Es mag sein, daß die Stahlwerke den mittlerweile 75jährigen Poensgen wirklich irgendwie reaktivieren wollten, weil sie an eine segensreiche Wirkung seines großen Namens glaubten und jetzt von seiner allgemein bekanntgewordenen Reserviertheit gegenüber dem Regime und seinen glänzenden Beziehungen nach Westeuropa, Großbritannien und selbst den USA zu profitieren hofften, die dieser seit seiner Wahl zum Vizepräsidenten der (1926 gegründeten) Internationalen Rohstahlgemeinschaft geknüpft hatte. Ausschlaggebend für die Fahrt nach Tirol war jedoch ein anderer Grund: Man brauchte von Ernst Poensgen, der mittlerweile einen Schlaganfall erlitten hatte, einen Persilschein für die Ruhrindustrie. Im Oktober 1944 war in der Fachzeitschrift "The Iron and Co al Trades Review" ein Beitrag erschienen, in dem pauschal behauptet wurde, die Ruhrindustrie stehe hinter Hitler oder habe jedenfalls jahrelang hinter diesem gestanden. Dadurch fühlte sich Ernst Poensgen herausgefordert und begann im Februar 1945 in einer Denkschrift mit dem Titel "Hitler und die Ruhrindustriellen"462 in abwägender und nüchterner Weise die recht unterschiedlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Großindustriellen und dem Nationalsozialismus aus seiner Sicht darzulegen. Formal bemerkenswert an der "Poensgen-Denkschrift", wie sie uns vorliegt, ist nun, daß die Hälfte des 15seitigen Memorandums nach Kriegsende entstanden ist. Inhaltlich bemerkenswert ist, daß die offenkundig flüchtig redigierte Ausarbeitung, die im ersten Teil zwar sehr wohlwollend, aber doch nicht undifferenziert argumentiert, in dem nach der Kapitulation entstandenen Abschnitt in den apodiktischen Ton verfällt, der uns aus Rohlands eigener Denkschrift vertraut ist. Dort ist im wesentlichen der scharfe Konflikt zwischen dem Regime und den Ruhrkonzernen wegen der Gründung der Reichswerke Hermann Göring 1937 geschildert, und zwar explizit als Beweis für die Unrichtigkeit der Behauptung, "die deutsche Schwerindustrie habe sich dem Nationalsozialismus verschworen und mit zum Kriege getrieben". Andere Passagen in diesem Teil erinnern ebenfalls stark an die Ausführungen, die "Panzer-Rohland" seinen Kollegen Anfang Juni zugeleitet hatte. Viele Ruhrindustrielle, hieß es da, seien nur unter Druck und "um das Schlimmste zu verhindern", manche überhaupt nicht in die NSDAP eingetreten, andere, wie Paul und Hermann Reusch oder Günter Henle, seien "durch Parteidruck aus ihren Stellungen entfernt" worden. Und dann folgte eine Passage, die einigermaßen merkwürdig anmutet bei einem Mann, der ab 1942 aus politischen Gründen gerade nicht mehr bereit war, seine "Pflicht und Schuldigkeit bis zum letzten zu tun". Sie lautet: "Es steht nicht im Widerspruch zu dieser [der NSDAP gegenüber distanzierten] Haltung, wenn ich bekenne, daß wir Ruhrindustriellen nach Ausbruch des Krieges alles, was in unseren Kräften stand, getan haben, um die Rüstungsproduktion qualitativ und quantitativ zu steigern. - Wie sehr wir quantitativ im Rückstand waren, dafür gebe ich nur den Hinweis, daß zu Beginn des Krieges monatlich nicht mehr als 120 Panzer gefertigt werden konnten. - Hier galt für jeden einzelnen: dem Vaterland gegenüber seine Pflicht und Schuldigkeit bis zum letzten tun. Die Vorgänge jedoch, die sich in den Konzentrationslagern abgespielt haben, haben wir 462
"Hitler und die Ruhrindustriellen. Ein Rückblick von Ernst Poensgen", undatierte fünfzehnseitige maschinenschriftliche Denkschrift; Mannesmann-Archiv, P 2.25088. Die Denkschrift findet sich häufiger in den Akten der Ruhrkonzerne.
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erst jetzt - nach Kriegsende - in ihrem ganzen Umfang und ihrer Verabscheuungswürdigkeit durch die Rundfunksendungen der Alliierten erfahren." Es ist ganz offensichtlich der hinter den Kulissen nun immer rastloser agierende Walter Rohland gewesen, der den kranken Grandseigneur der Ruhrindustrie zu solchen, für die bevorstehenden Auseinandersetzungen mit den Alliierten hochwillkommenen Bekenntnissen bewogen hat. Dies war der eigentliche Anlaß seiner Reise nach Tiro!. In seinen Erinnerungen erwähnt Rohland lediglich nebenbei, in Kitzbühel habe er bei Poensgen - an dessen Rückkehr an die Ruhr war nicht zu denken - die Denkschrift, "die mir auf Umwegen vorher schon zugekommen war"463, gründlich durchgearbeitet. Wie wichtig dem Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke die Flankierung seiner Entlastungsstrategie gegenüber der Besatzungsmacht durch eine maßgeblich von ihm inspirierte, in Teilen wohl von ihm selbst verfaßte, aber mit Poensgens Namen versehene Denkschrift gewesen ist, offenbart ein Brief Hermann Kellermanns. Er schrieb ihn nach der Rückkehr seines Kollegen Rohland aus Kitzbühel an Paul Reusch, dessen Kurswert an der Ruhr nach der Niederlage ebenfalls eine Hausse erlebte. Rohland, so berichtete er nach Württemberg, habe ihn ersucht, ihm, Reusch, die Denkschrift Poensgens zu übersenden, und zwar mit der Bitte, "die Ausführungen einmal einer Durchsicht zu unterziehen und mir [Kellermann], wenn es Ihnen möglich ist, eine kurze Mitteilung dahingehend zugehen zu lassen, ob die Sachdarstellung nach Ihrer Auffassung und Erinnerung richtig ist oder der Ergänzung bzw. Abänderung bedarf. Noch lieber", fuhr er fort, "wäre es den Herren, wenn Sie sich dazu verstehen könnten, zum Ausdruck zu bringen, daß Sie gegebenenfalls bereit seien, die Richtigkeit der Darlegung zu bestätigen." Die Ausführungen Poensgens, setzte er hinzu, seien in Düsseldorf, d.h. von den Vereinigten Stahlwerken, inzwischen "auf die Richtigkeit von sachverständiger Seite nachgeprüft worden"464. Paul Reusch, der sich nach seiner Verdrängung im Zuge der Reorganisation der Rüstungswirtschaft geschworen hatte, nie mehr 'ins Revier zurückzukehren, ließ sich von Speers Mann im Ruhrgebiet nicht einspannen. Die in einen Satz gefaßte Antwort an seinen Generaldirektor in Oberhausen fiel ebenso trocken wie ironisch aus: "Ich kann nur wiederholt meiner Bewunderung dafür Ausdruck geben, daß Poensgen trotz des erlittenen Schlaganfalls noch so ein ausgezeichnetes Gedächtnis besitzt."465 Ganz anderer Art, aber ebenfalls von dem Wunsche diktiert, seine Autorität zugunsten der Ruhrindustrie in die Waagschale zu werfen, war schließlich das Memorandum von Karl Jarfes, das dieser um eben diese Zeit, am 12. Juli 1945, an den britischen Field Security Service richtete. 466 Der inzwischen 71jährige Grandseigneur, von 1923 bis 1925 Reichsinnenminister, Vizekanzler und Kandidat bei der Reichspräsidentenwahl, war nach dem Studium (unter anderem in London und Paris) zwischen 1914 und 1933 Oberbürgermeister von Duisburg gewesen. Nach der Machtergreifung aus dem Amt gedrängt und im Revier als Nicht-Nationalsozialist bekannt, hatte der nationalliberale Weggefährte Stresemanns eine Aufgabe in der Wirtschaft übernommen und seine engen Kontakte zur Industrie weiter ausgebaut. In Duisburg war er nach 46'
464 46' 466
Rohland, Bewegte Zeiten, S. 119. Brief Kellermanns an Paul Reusch v. 21. 7.1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Brief von Paul Reusch an Hermann Kellermann v. 17.8. 1945; ebenda. An den Field Secret Service adressiertes, fünfseitiges maschinenschriftliches Memorandum von Kar! Jarres v. 12.7. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/14.
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der Besetzung bald die graue Eminenz. Der neu eingesetzte Oberbürgermeister war in Jarres' Ägide als Stadtoberhaupt Beigeordneter gewesen, bei der Demag AG, dessen kommissarischer Direktor der Duisburger Industriekommission vorsaß, war Jarres ebenso Aufsichtsratsvorsitzender wie bei der in dieser Stadt ansässigen KlöcknerWerke AG. Deren Chef nach 1945, Günter Henle, bezeichnete seinen "väterlichen Freund" Karl Jarres und den Bankier Robert Pferdmenges später als "treue Paladine der Ruhrwirtschaft"467. Als ein "auf das schwerste erschütterter" deutscher Patriot, "als alter Mann ohne jeden Ehrgeiz", wie er betonte, legte der aufrechte Konservative der britischen Besatzungsmacht einen Bericht über Aufstieg und Wesen des Nationalsozialismus vor und beantwortete aus seiner Sicht die Frage: "Was ist jetzt zu tun?" Er schilderte freimütig, wie "bestechend" Hitlers Programm auf viele "vom Partei treiben angeekelte Männer und Frauen" gewirkt habe, wie dieser durch die Beseitigung der wirtschaftlichen Not und geschickte Propaganda die Massen gewonnen habe, wie befreiend die außenpolitischen Erfolge gewirkt hätten, wie das Volk erst im Laufe des Krieges allmählich gewahr geworden sei, daß es "sich einem Wahnsinnigen anvertraut" hatte. Im Krieg habe man sich an den englischen Wahlspruch "Right or Wrong - my Country" halten müssen. Der Masse der Nationalsozialisten sei angesichts der blendenden Erfolge "die innere Unwahrheit des neuen Parteisystems" nicht bewußt geworden. Viele seien nur unter Druck oder aus Existenzsorge zur NSDAP gestoßen. Die Besatzungsmacht verkenne die Lebenswirklichkeit unter dem Regime und setze bei der Säuberung viel zu pauschal an: "Das Volk hat von der Naziherrschaft genug, übergenug. Sie war eine der unglücklichsten Episoden der deutschen Geschichte. Sie ist erledigt und bedarf keiner weiteren Verfolgung durch die Besatzung. Ein lebendiger Strom reinigt sich selbst." Vordringlich sei in der gegenwärtigen Situation, fuhr Jarres fort, "daß die Bevölkerung wieder zu ordentlicher, gewohnter Arbeit kommt, sonst wächst aus der z. Zt. noch bestehenden Indolenz, ja Apathie, das Chaos mit allen Folgen terroristischer Unordnung. Ich sehe die Gefahr einer kommunistischen Welle mit großer Sorge herannahen." Allein die Besatzungsmächte seien im Stande, der "körperlichen und seelischen Not" der Bevölkerung des Reviers abzuhelfen. Auch das Memorandum von Karl Jarres, viel weniger penetrant und unwahrhaftig als das aus Rohlands Feder, zielte implizit darauf ab, den gefährlichen Vorwurf einer Komplicenschaft von Schwerindustrie und NS-Regime zurückzuweisen und damit dem erwarteten Generalargument der Alliierten für einschneidende Maßnahmen gegen die Großkonzerne an der Ruhr zu begegnen. Damit würde immerhin ein Maß an Handlungsfreiheit gewonnen sein, ohne das die Großindustrie wirtschaftlich und politisch unweigerlich einer düsteren Zukunft entgegengehen mußte. Letztlich war auch das - freilich in viel moderaterem Ton gehaltene - Plädoyer von KariJarres eine kaum verhüllte Mahnung an die Adresse der Besatzungsmacht, das politische und wirtschaftliche Chaos in Deutschland nicht selber mutwillig, und vor allem: grundlos, weiter zu verschärfen. Das war wohl der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich im Frühjahr 1945 die Industriellen an der Ruhr ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Haltung zum Nationalsozialismus und ihrer Rolle in der Rüstungsorganisation verständigen konnten. Dies begründete gegenüber der Besatzungsmacht zwar eine ge467
Henle, Weggenosse, S. 841.
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wisse Geschlossenheit, aber längst keine bedingungslose Solidarisierung untereinander. Das Establishment an der Ruhr zögerte deshalb nicht - unter Wahrung der Formen natürlich -, selbst einen so einflußreichen Mann wie seinen einstigen Stahldiktator Walter Rohland zurückzudrängen, und zwar zum einen deshalb, weil er sich eindeutig zu weit mit dem nationalsozialistischen Regime eingelassen hatte, und zum anderen deswegen, weil nun regimeferne und urbanere Figuren - Jarres, Poensgen oder Reusch etwa bei den Älteren, Henle oder Sohl bei den Jüngeren - mehr Erfolg im Umgang mit der Besatzungsmacht versprachen. Insofern war das Bild von dem Strom, der sich selbst reinige, das Karl Jarres in seinem Memorandum gebraucht hatte, nicht nur ein Palliativ für die Militärregierung. 46B Es ist übrigens möglich, daß es wiederum Rohland gewesen ist, der den Anstoß zur Denkschrift von Jarres (zu dem er enge Verbindung besaß46 9) gegeben hatte. Immerhin ist es bemerkenswert, daß der Vorsitzende der Nordwestgruppe, dessen Versuche, die Ruhrindustrie zu einer gegenüber der Militärverwaltung geschlossen auftretenden Front zu formieren, im Juli 1945 ihren Höhepunkt erreichten, die Denkschrift von Karl Jarres (die in den Akten der Ruhrunternehmen viel seltener zu finden ist als etwa das Poensgen-Memorandum) im Anhang seiner Memoiren veröffentlicht hat. Dort ist sie allerdings des politischen Kontextes gänzlich entkleidet, irreführend als "Brief" ohne Adressat - des ehemaligen Reichsministers "über die Entwicklung in den letzten 25 Jahren" bezeichnet. Es scheint freilich so, als sei Rohland mit den Darlegungen von Jarres, der sich vermutlich kaum so steuern ließ wie der kranke Ernst Poensgen in Kitzbühel, seinerzeit und auch später nicht recht einverstanden gewesen. Die ansonsten Wort für Wort wiedergegebene Denkschrift ist nämlich in der Passage zu den Verbrechen des Regimes bezeichnenderweise ohne Kennzeichnung gekürzt und damit inhaltlich bewußt verändert. Und zwar ist in der Version, die Rohlands Buch bietet, sowohl das bemerkenswerte Eingeständnis von Jarres gestrichen, es habe auch außerhalb der Konzentrationslager grausame Machtausübung des Regimes gegeben, als auch die nicht weniger wichtige Feststellung getilgt, die Pogrome von 1938 seien für viele der Anfang ihrer inneren Abkehr vom Hitler-Regime gewesen: "Von den Greueln in Konzentrationslagern", so hatte der konservative Politiker und Industrielle im Juli 1945 dem britischen Field Secret Service immerhin freimütig bekannt, "und bei der sonstigen Machtausübung hörte man zwar hier und da, wollte aber nicht daran glauben, wie Propaganda zu übertreiben und zu täuschen versteht, zu denken gab allerdings das ungeheuerliche Vorgehen gegen die Juden, namentlich die verdammenswerten Vorgänge im November 1938. Viele haben sich schon damals innerlich von der Partei und ihrer Leitung abgekehrt ohne allerdings nach außen klare Stellung zu nehmen."470 Solche Bekenntnisse gegenüber der Besatzungsmacht, die man bei den jüngeren Ruhrindustriellen wie Houdremont und Rohland vergeblich suchen wird, markierten für die in die Defensive geratene industrielle Elite damals wohl so ziemlich den äußersten Punkt, an den man unter den gegebenen Bedingungen gehen zu können glaubte. 468
469 470
Überlegungen zur Selbstreinigung der Funktionseliten nach 1945 bei Klaus-Dietmar Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, "Entnazifizierung", Strafverfolgung, in: ders., Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 58f!. Vgl. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 163. Die Jarres-Denkschrift eben da, S. 227 H. Gestrichene Passagen kursiv.
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v.
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Mit der Serie von Denkschriften und der engen Kontaktnahme der Industrieelite zu der Militärverwaltung wollte der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke vermutlich auch die Meinungsbildung der Siegermächte im Vorfeld der Konferenz von Potsdam beeinflussen. An der Ruhr wurde den Beschlüssen, die dort gefaßt werden würden, natürlich "besondere Wichtigkeit,,471 beigelegt. Die Potsdamer Deklaration vom 2. August 1945 mit ihren Bestimmungen über die "industrielle Abrüstung", die "Reparationen aus Deutschland" und die Auflösung "übertriebener Konzentration wirtschaftlicher Macht" übertraf dann die schlimmsten Befürchtungen. Sie dämpfte den noch immer grassierenden Optimismus im Revier nachhaltig und markierte den Anfang eines langsamen Abschieds der Großindustrie von Illusion und Wunschdenken. Nach der spektakulären Beschlagnahme des I.G. Farben-Konzerns durch die Amerikaner Anfang Juli bekamen auch die Briten in der kritischen Phase der Verhandlungen um die Reparationenregelung in Potsdam das Gefühl, "es sei höchst wünschenswert, daß auch die britische Kontrollkommission für die britische Zone etwas vorzuweisen habe (should have something to show)"472. Kurz darauf begann die nach der Auflösung des Alliierten Oberkommandos ins Leben gerufene britische North German Iron and Steel Control die Hand auf die Vereinigten Stahlwerke zu legen. Am 28. August 1945 erging der Befehl zur Auflösung des Stahlgiganten. 473 Spätestens bei der Zerschlagung seiner Hausmacht durch die Militärregierung mußte der einstige Stahldiktator Walter Rohland erkennen, daß seinen seit der Besetzung des Reviers verfolgten Bemühungen die Basis entzogen war. Die Ruhrelite hatte diese Zeichen verstanden. Denn genau zum gleichen Zeitpunkt stufte auch die Bezirksgruppe Nordwest der Eisen schaffenden Industrie ihren während der NS-Zeit beinahe allmächtigen Vorsitzenden zurück. Die Verbandsaktivitäten waren über die Besetzungswochen hinweg "nahezu bruchlos" fortgeführt worden. Im Sommer hatte die Nordwestgruppe unter alter Geschäftsführung und unter Inrechnungstellung der veränderten Verhältnisse ihre Koordinationsaufgaben bereits wieder aufgenommen. 474 Die britische 21. Armeegruppe hatte den Verbänden Ende Juli unter einigen Auflagen formell die Wiederaufnahme bzw. Weiterführung ihrer Tätigkeit genehmigt; Mitte August konnte die Bezirksgruppe Nordwest beispielsweise mit der umfassenden, noch von Rohland unterzeichneten Denkschrift "Zusammenhänge und Lage der nordwestlichen Eisenindustrie" hervortreten. 475 Ende des Monats legte die Hauptgeschäftsführung in Vorbereitung des nunmehr zu wählenden Führungsgremiums einen "Vorschlag für die Vorstandszusammensetzung" vor. 476 Darin figurierte Walter Rohland als Vorsitzender, Günter Henle als 1. stellvertretender Vorsitzender; Lübsen (GHH), Houdremont (Krupp), Sohl (VSt), Winkhaus (Mannesmann) waren 471
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476
So Hermann Kellermann in einem Brief an Paul Reusch v. 31. 7.1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Vermerk von E. W. Playfair, Economic Planning Staff, London, 28. 7. 1945, über eine hochrangig besetzte Besprechung "The Treatment of LG. Farbenindustrie, Krupp's and the Hermann Göringwerke"; Documents on British Foreign Policy Overseas, 1/1, S. 11771. Vgl. hierzu Rohland, Bewegte Zeiten, S. 120. VgL Bührer, Ruhrstahl, S. 19ft. und S. 31 ft. VgL auch Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 68. Hier auch Ausführungen zur Technical Instruction Nr. 49 der 21. Armeegruppe von Ende Juli 1945. Denkschrift v. 17.8. 1945; Handakten Salewski (Stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Nordwestgruppe), in Privatbesitz. Dieses Dokument und die in den folgenden Anmerkungen genannten Aktenstücke hat mir dankenswerterweise Dr. Werner Bührer zur Verfügung gestellt, der sie in seinem Buch "Ruhrstahl und Europa" verwertete. Vorschlag v. 23.8. 1945; vgL Bührer, Ruhrstahl, S. 35.
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unter anderen als weitere Mitglieder des 12köpfigen "engeren Vorstands" benannt. Rohland hatte sich von seinem Hauptgeschäftsführer also gewissermaßen selbst an die Spitze der Vorschlagsliste setzen lassen. Doch bei den nicht mehr rekonstruierbaren, gewiß mit äußerster Diskretion geführten Vorabsprachen der Stahlindustriellen zu der bevorstehenden Wahl zeigte sich, daß Rohland sich nicht halten konnte. Er mußte den Platz für Günter Henle räumen, Halbjude und Schwiegersohn des im Krieg verstorbenen Firmengründers Peter Klöckner und Chef des Klöckner-Konzerns, der während der NS-Zeit von der Partei aus der Führungsspitze des Werkes verdrängt worden war. Als ehemaliger Angehöriger des diplomatischen Dienstes (in den dreißiger Jahren war er Mitarbeiter des deutschen Botschafters Hoesch in London gewesen) verfügte er über ausgezeichnete Verbindungen nach Großbritannien. Er war eine Idealbesetzung und in dieser Situation als Repräsentant an der Spitze eines ansonsten personell nicht entscheidend veränderten Verbandsvorstandes ein Glücksfall für die Stahlindustrie. Die Entscheidung für Henle war eine Woche vor der Mitgliederversammlung der Nordwestgruppe gefallen, wie aus seinem Schreiben an Rohland zu entnehmen ist, der - soviel Pietät besaß die Industrieelite des Reviers selbstverständlich - mit dem Amt des 1. stellvertretenden Vorsitzenden vorliebnehmen mußte. 477 Der designierte Vorsitzende knüpfte seine Bereitschaft zur Übernahme des Amtes darin an die Einhaltung einer Reihe von Grundsätzen, die einen radikalen Bruch mit dem Selbstverständnis und den Aufgaben der Nordwestgruppe unter Rohland während der Kriegswirtschaft bedeuteten. Er sei der Auffassung, schrieb Henle, "daß die Wirtschaft sich von der in der jüngeren Vergangenheit eingetretenen Bevormundung befreien und wieder zu einer freieren Entfaltung ihrer Kräfte gelangen muß, gleichgültig, ob diese Vormundschaft von ursprünglich selbst geschaffenen Organisationen oder von staatlichen Einrichtungen ausgeübt worden ist ... Wenn ich mich daher entschließen soll, das verantwortungsvolle und in der nächsten Zeit sicherlich undankbare Amt des Vorsitzes im Vorstande der Bezirksgruppe Nordwest zu übernehmen, so wäre Voraussetzung dafür, daß nicht an die bisherigen Organisationsgrundsätze angeknüpft wird, sondern entweder auf bewährte Einrichtungen einer länger zurückliegenden Vergangenheit zurückgegriffen oder aber ein neuer Weg beschritten wird. Daß wir im Rahmen unserer Tätigkeit und auf Grund der infolgedessen bei uns anfallenden Unterlagen die in Betracht kommenden amtlichen Stellen mit besten Kräften unterstützen werden, ist eine Selbstverständlichkeit. Wir können uns jedoch nicht als ein auf der Grundlage der Freiwilligkeit zusammengeschlossener Verband satzungsmäßig oder in der Praxis als Steuerungs- oder Lenkungsorgan gegenüber unseren Mitgliedern zur Verfügung stellen. Dies würde auch wieder eine Stellung der Geschäftsführungen derartiger Zusammenschlüsse begründen, die sich mit meinen Auffassungen nicht vereinbaren ließe." Rohland beeilte sich, Henles Bedenken umgehend zu zerstreuen 478 , und die kleine, am Tag vor der Versammlung zusammenkommende Vorbereitungsgruppe segnete den Personalvorschlag für die Verbandsspitze ab. Eine Behandlung der übrigen Personalpositionen wurde aufgegeben, weil man sich schnell darüber klar wurde, daß unter
'77 47.
Schreiben Henles an Rohland v. 24. August 1945; Klöckner-Archiv. Verbände/Wirtschaftsgruppe (Eisenschaffende Industrie/Bezirksgruppe Nordwest). Schreiben Rohlands an Henle v. 29.8. 1945; ebenda.
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den Kandidaten vermutlich kaum ein Nicht-Pg war. Da dies das Risiko einer Ablehnung durch die Militärregierung heraufbeschwor, wurde beschlossen, abweichend von der Satzung zunächst nur die aus vier Personen bestehende, hinsichtlich ihrer NSDAP-Mitgliedschaft besser überschaubare engste Spitze wählen zu lassen. 479 Die Mitgliederversammlung der Nordwestgruppe und die Vorstandswahl am 31. August 1945 verliefen dann entsprechend der bis ins einzelne getroffenen Absprachen. 480 Der scheidende Vorsitzende Rohland begrüßte die Vertreter der Mitgliederfirmen, gab einen Rückblick auf die traditionsreiche Geschichte des Verbandes seit der Gründung 1874 und tat dann kund, er habe die "ehrenamtliche" - wie er betonte - Leitung der Nordwestgruppe 1942 nur "schweren Herzens" übernommen. Sie habe ihm dann aber viel Freude gemacht, auch wenn, so sagte Rohland, "nicht alle unsere Wünsche bei den Berliner Behörden durchgesetzt werden konnten". Er wolle allen danken, die ihn unterstützt hätten, "obwohl wir doch alle seit langem wußten, daß wir uns auf verlorenem Posten befanden". Nach der Beratung der modifizierten Satzung und den Beitrittserklärungen der Mitgliedsfirmen fand die Vorstandswahl statt. Dabei stellte es Rohland so dar, als sei er aufgrund der einschlägigen Direktive der Militärregierung über die Organisation von Wirtschaftsverbänden gezwungen, sein Amt niederzulegen. Er fügte für Eingeweihte aber unüberhörbar hinzu, daß "ich aus verschiedenen Gründen es nicht für ratsam halte, meine Wiederwahl in Erwägung zu ziehen. Diese meine Einstellung bitte ich, nicht als Fahnenflucht aufzufassen. Ich bin mir darüber im klaren, daß die gegenwärtige Zeit einen Mann verlangt, der in jeder Beziehung den Verhältnissen gerecht wird und in der Lage ist, Ihre Belange zu vertreten. Ich würde mich freuen, wenn Sie meinem Vorschlag zustimmen könnten, zumal da auch die von mir zu benennende Persönlichkeit in starkem Maße das Vertrauen weiter Kreise der Eisenindustrie genießt." Vereinbarungsgemäß schlug er Henle vor, "der über eingehende Kenntnis des Landes und der Menschen, die heute für längere Zeit die Geschicke an Rhein und Ruhr zu bestimmen haben," verfüge. Die Wahl erfolgte einstimmig. Nachdem Georg Lübsen von der Gutehoffnungshütte und Edouard Houdremont von Krupp bekräftigt hatten, daß es an der Zeit sei, sich wieder ganz von den im Krieg übernommenen hoheitlichen Aufgaben zu lösen und zu einer - im Rahmen der Vorgaben der Militärregierung - "freien Wirtschaft" überzugehen, erfolgte die Wahl Rohlands und eines weiteren, die Firma Hoesch repräsentierenden Industriellen zu Stellvertretern. Damit hatten die führenden Persönlichkeiten des Eisen- und Stahlsektors immerhin ein Signal gesetzt, das auf eine wohlwollende Würdigung ihrer Belange durch die britische Militärregierung hoffen ließ. Doch Henle, der bald darauf immerhin recht freimütig an den Kölner Oberbürgermeister Adenauer schrieb, unter den erfahrenen Männern der Wirtschaft befänden sich nach seiner Schätzung leider nicht mehr als 10 bis 20 Prozent, "die nicht irgendwie mit dem zusammengebrochenen Nazi-System wenigstens rein äußerlich verbunden waren"48t, blieb nicht lange in seinem neuen Amt an der Spitze der Eisen schaf-
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Aktenvermerk über die Vorbesprechung am 30.8. 1945; ebenda. "Niederschrift über die Mitgliederversammlung der Nordwestgruppe am Freitag, dem 31. August 1945, um 11 Uhr im Eisenhüttenhaus zu Düsseldorf"; Handakten Salewski.Jetzt abgedruckt bei Müller-List, Neubeginn, S. 167 ff. "Zur politischen Bereinigung der Wirtschaft", Adenauer am 13.9. 1945 überreichte Denkschrift; Klöckner-Archiv, Nachlaß Henle, Privat/Reden/Aufsätze/Veröffentlichungen/1945-31. 12. 1948. Jetzt abge-
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fenden Industrie des Ruhrgebietes. Mit 75 weiteren führenden Stahlindustriellen wurde er in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1945 von der britischen Besatzungsmacht verhaftet.
Eisen und Stahl 1945: Das unverhoffte Ende des "Business as usual" Nichts hatte Denken und Handeln der industriellen Elite an der Ruhr und im übrigen Deutschland bei Kriegsende stärker bestimmt als die Zielsetzung, ihre Firmen und Fabriken glimpflich über die Zusammenbruchskrise zwischen Krieg und Frieden zu bringen. Nach dem Auslaufen der Rüstungsfertigung galt es, schnellstens wieder ein Produktionsniveau zu erreichen, das den Konzernen und Betrieben die Fortexistenz sicherte. Dieses Ziel hatte die strikte Orientierung an den Betriebsinteressen 1944 so unwiderstehlich in den Vordergrund treten lassen, es beherrschte die seit dem Jahreswechsel 1944/45 allgemeine Opposition gegen die Politik der "Verbrannten Erde" ebenso wie die bedingungslose Bereitschaft zur Kooperation mit der alliierten Militärverwaltung. Sofort nach dem amerikanischen Einmarsch gingen die Stahlindustriellen deshalb mit ungetrübtem Elan und Optimismus 482 daran, in ihren Konzernen die Vorbereitungen für eine umgehende Wiederaufnahme der Produktion zu treffen. Daß dies auch im Interesse der Besatzungsmächte liegen und deren Genehmigung dafür deshalb kaum mehr als eine Formalie sein würde, schien ihnen nicht zweifelhaft. Im Laufe des Jahres schwand diese Zuversicht freilich mehr und mehr dahin. Am Ende des dramatischen Jahres 1945 standen der Schock und die maßlose Bestürzung darüber, daß die Siegermächte dem anfangs so optimistisch getönten "business as usual" im deutschen Industriezentrum unerwartet, politisch gezielt und in kühler Überlegung einen Riegel vorschoben. Erst jetzt, nach einem Auftakt des unbekümmerten, politisch beinahe unbedarft zu nennenden Wiederaufbauaktionismus' machten sich Bestürzung und Verzweiflung breit bei der industriellen Elite des Reviers. Erst jetzt wurden Klagen ähnlich denen laut, die ein Kirdorf nach dem Ersten Weltkrieg zu Papier gebracht hatte: "Ich bin mut- und ratlos und halte die von mir vorausgeahnte Vernichtung allen Deutschtums durch die äußeren Feinde und nun durch das Volk selbst für unvermeidlich", hatte der Kohlemagnat damals geschrieben. ,,An eine Gesundung und den Wiederaufbau des Reiches glaube ich nicht."483 In den Kriegsfolgen allein sahen die wenigsten Industrieführer Anlaß zu Mutlosigkeit, obwohl es nach der Intensivierung des alliierten Bombardements ab Oktober 1944 in dem wichtigsten Industrierevier des Deutschen Reiches zu einem dramatischen Abfall der Produktion bei Eisen und Stahl, die bis dahin auf guter Höhe hatte gehalten werden können, gekommen war. 484 Die Bombenangriffe und (in sehr viel geringerem Umfang) die Bodenkämpfe vor dem Einmarsch hatten die Werksanlagen der sechs dominierenden Ruhrkonzerne - Vereinigte Stahlwerke, Krupp, Gutehoffnungshütte, Hoesch, Klöckner, Mannesmann - unterschiedlich schwer beschädigt. Anders als etwa die Flugzeugindustrie oder die Hydrieranlagen, waren Hüttenwerke niemals
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4.' 484
druckt in: Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 19451949, hrsg. von Clemens Vollnhals in Zusammenarbeit mit Thomas Schlemmer, München 1991, S. 138ff. So auch Krumbein, Wirtschaftssteuerung, S. 132. Zit. nach Kurt Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der deutschen Wirtschaft, Düs· seldorf 1953, S. 204. Vgl. V/I.
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"Ziele mit Priorität" und fast nie Ziele von Präzisionsangriffen. Sie wurden in erster Linie im Zuge der Attacken gegen das Verkehrsnetz in Mitleidenschaft gezogen. Die Vereinigten Stahlwerke, deren Produktionsstätten über das ganze Revier verstreut lagen, hatten in der Endphase des Krieges empfindliche Schäden erlitten. Ende Februar 1945 mußte Walter Rohland im Hüttenausschuß einräumen, daß die Erzeugung des Konzerns, der normalerweise die Hälfte des im Ruhrgebiet gewonnenen Stahls und Eisens herstellte, im Januar überproportional stark abgesunken sei. 485 Das Flaggschiff der Vereinigten Stahlwerke, die Thyssenhütte in Duisburg-Hamborn, die mehr als doppelt so viel Rohstahl produzierte wie der gesamte Krupp-Konzern 486 , war nach dem Luftangriff vom 14./15. Oktober 1944 vorübergehend zum Stehen gebracht worden, das Bombardement vom 22. Januar legte sie dann bis Kriegsende lahm. Von da an führten Management und Belegschaft nur noch einen "Kampf gegen Schutt und Schrott". Rohland und Vögler waren nach der Besichtigung des Areals des modernsten Betriebes der Branche so schockiert, daß der Aufsichtsratvorsitzende "allen Ernstes den Vorschlag machte, auf die Wiederinstandsetzung der Thyssenhütte zu verzichten" und dafür kleinere Werke beschleunigt wieder in Betrieb zu bringen. 487 Dieser Gedanke konnte der VSt-Leitung aber ausgeredet werden. Die zu VSt gehörende Dortmund-Hoerder Hüttenverein AG, deren Rohstahlausstoß fast dem von Krupp entsprach, bekam die Auswirkungen von mehr als 20 der insgesamt 180 auf Dortmund geflogenen Luftangriffe stark zu spüren. Zwischen September und Dezember 1944 fiel die Erzeugung um die Hälfte, seit den am 21. Februar erlittenen schweren Treffern liefen die Hoerder Werke nur noch mit zehn Prozent ihrer Kapazität. Der Dortmunder Teil des Hüttenvereins mußte Mitte März stillgelegt werden. "Die Beschädigung von Stromnetzen, Bahnlinien und Gasleitungen war einer der Hauptgründe für die Produktionseinbußen und am Ende für die Stillegung", hielt das Team des United States Strategie Bombing Survey nach seinen Erhebungen im Mai 1945 fest. Ebenso wie dieser Befund kehrte auch die abschließende Bemerkung des Berichts in den meisten USSBS-Reports über die Lage in der Eisen- und Stahlindustrie in ähnlicher Weise wieder: "Das Dortmunder Unternehmen Dortmund-Hoerder Hüttenverein stellt ein Beispiel dafür dar, daß Stahlwerke in vielen Fällen von Streuwürfen und verirrten Bomben schwer getroffen wurden, obwohl die Angriffe gar nicht speziell ihnen galten."488 Die Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation AG, das dritte VSt-Hüttenwerk schließlich, das schon im Laufe des Jahres 1943 von den Flächenbombardernents in Mitleidenschaft gezogen worden war, wurde von einem Luftangriff der Royal Air Force am 4. November 1944 so schwer getroffen, daß es "trotz intensiver Aufbaubemühungen als Rüstungsunternehmen bis zum Ende des Krieges praktisch ausfiel"489. 485
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Niederschrift über die Sitzung des Hüttenausschusses auf Schloß Hugenpoet am 20.2. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. Vgl. die Angabe der Produktionsziffern der Ruhrkonzerne im Jahr 1943 in der Denkschrift der Bezirksgruppe Nordwest der Eisen schaffenden Industrie v. 17.8.1945; Handakten Salewski. Dort auch die beiden folgenden Vergleichsangaben. Schreiben von Walter Eichholz an Franz Bartscherer v. 27.2. 1945; Thyssen-Archiv, VSt A 5059. "Dortmund Hoerder Huettenverein, AG, Dortmund, Germany", Bericht der USSBS-Munitions Division v. 13. 10. 1945 über ihre Inspektion des Werkes vom 4. bis 18.5. 1945 (gedruckt); NA, RG 243, Entry 7, Box 7, Report Nr. 74. Gustav-Hermann Seebald, Ein Stahlkonzern im Dritten Reich. Der Bochumer Verein 1927-1945, Wuppertal 1981, S. 307. Die Angaben zu den Maschinenschäden ebenda, S. 300.
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Die Zerstörung des Gas-, Wasser-, Luft- und Elektrizitätssystems in der Stadt und auf dem Hüttengelände war verantwortlich dafür, daß der Bochumer Verein bis zum Einmarsch der Amerikaner nicht einmal mehr zehn Prozent seines normalen Outputs an Rohstahl erreichte. 490 Charakteristisch war aber auch hier, daß bei Kriegsende von den insgesamt 195 Produktionsmaschinen einer Bearbeitungswerkstatt nur ganze drei so stark beschädigt waren, daß sie verschrottet werden mußten. Solche Erkenntnisse waren es, die den Leiter der Bezirksgruppe Nordwest in einem für die Besatzungsmacht bestimmten Memorandum die vielleicht nur geringfügig übertriebene Feststellung treffen ließen, die Beschädigung der Produktionsanlagen im Revier sei "in keinem Falle so schwer, daß die Werke restlos zerstört sind oder erst nach langer Wiederherstellung in einen betriebsfähigen Zustand gebracht werden können"491. Gewiß tendierte die Stahlindustrie in ihren Memoranden dazu, ein optimistisches Bild zu geben, aber aus der Luft gegriffen war dieser Optimismus nicht. Die Bilanz der in vielen Betrieben schwer getroffenen Vereinigten Stahlwerke hatte auch manchen Lichtblick. Im Werk Thyssen in Mülheim (es gehörte zu den Deutschen Röhrenwerken, die 1939 fast so viele Fertigerzeugnisse aus Walzstahl hergestellt hatten wie Mannesmann) war die Produktion nach dem Ausfall der Hütten in Bochum und Hamborn wegen Rohstoffmangels zwar um 30-50 Prozent gesunken, doch hatten dessen Walz-, Schweiß- oder Preßanlagen nur vergleichsweise geringe Schäden erlitten. Der Werksdirektor kam in seiner Bestandsaufnahme von Ende April deshalb zu der Feststellung, daß das Werk Thyssen mit verhältnismäßig geringen Mitteln in kurzer Zeit "in fast all seinen Produktionsstätten die Arbeit wieder aufnehmen" könne. 492 Mehr noch als der Standort der Werke (sie waren am stärksten gefährdet, wenn sie wie in Dortmund oder Essen im Stadtzentrum lagen) entschied der Zufall über den Zerstörungsgrad. So mußte beispielsweise das Hüttenwerk des Hoesch-Konzerns in Dortmund seinen Betrieb nach einem Bombenangriff am 11. November 1944 einstellen 493 , während das mittelgroße Werk Bochum der Eisen- und Hüttenwerke AG im ebenfalls schwer bombardierten Bochum trotz einiger Zerstörungen bis zum Einmarsch der Amerikaner am 11. April arbeiten konnte; ihre Bilanz wies für 1944 sogar eine fünfmal niedrigere Sachschadenssumme aus als für das Jahr 1943. 494 Eine Spur freundlicher als bei einigen ihrer Konkurrenzunternehmen fiel die Bilanz für das Stammwerk der Gutehoffnungshütte aus. Auch hier ging zwar die Roheisenerzeugung durch den "Überlauf" der Flächenbombardements zwischen September und November 1944 um fast zwei Drittel zurück, doch konnten bei der Gutehoffnungshütte bis
"Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation AG., Bochum, Germany", Heavy Industries Plant Report, Nr. 9, Bericht der Inspektion von 2. bis 15. Mai 1945; NA, RG 243, 76. Bochumer Verein. 491 Von Walter Rohland gezeichnete Denkschrift "Zusammenhänge und Lage der nordwestlichen Eisenindustrie" v. 17.8. 1945; Handakten Salewski. '92 Bericht über den Zustand des Werkes "z.Zt. der Besetzung durch die USA-Armee" v. 27.4. 1945; Mannesmann-Archiv, R 15080. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Horst A WesseI, Als der Krieg zu Ende war. Mülheim und sein Röhrenwerk vor vierzig Jahren, in: Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim a.d. Ruhr, H. 59 (1985). '93 Vgl. die Ansprache des Hoesch-Vorstandsmitgliedes Friedrich Wilhelm Engel vor der Geschäftsleitung und Betriebsvertretungen am 25. 10. 1946; Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, F 34, Nr. 1178. 49' Bericht des Vorstandes über die Lage der Aktiengesellschaft 1943/45 von Ende Juli 1945; Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, F 34, Nr. 261. '90
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Ende März 1945 immerhin im Durchschnitt die Hälfte der Hochöfen im Feuer gehalten werden. 495 Und Krupp, der Konzern der "Dynastie des Todes", wie das Magazin "Life" dem amerikanischen Publikum die Essener Industriellenfamilie vorstellte?49 6 Die Psychological Warfare-Abteilung der 12. Armeegruppe bezeichnete die Essener Gußstahlfabrik als die am schwersten bombardierte große Industrieanlage Deutschlands und bezifferte den geschätzten Schaden auf 1 Milliarde Reichsmark. 497 In Wahrheit aber fiel auch die Firma Fried. Krupp, der alliierte Beobachter damals nur schwer ohne Dramatisierung Erwähnung tun konnten, bei der Bilanz der Kriegseinwirkung nicht aus dem Rahmen des Üblichen. Das zeigten schon die optimistischen Prognosen zur Produktionsentwicklung, die der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums bei Kriegsende gegenüber den Besatzungsmächten abgab. 498 Die linksrheinische Friedrich Alfred-Hütte in Rheinhausen etwa - sie allein produzierte mehr Roheisen und Rohstahl als die Gutehoffnungshütte -, die ihre Produktion erst kurz vor der amerikanischen Besetzung einstellen mußte, hatte "nur leichte Schäden" davongetragen. 499 Das moderne Hochofenwerk in Borbeck lag zwar seit Ende 1944 wegen Strommangels still, aber es war aus den Luftangriffen auf Essen "praktisch unbeschädigt" hervorgegangen. 50o Am stärksten in Mitleidenschaft gezogen waren auch hier wiederum die mitten in der Stadt gelegenen Betriebe der Gußstahlfabrik. Nach schweren Attacken schon 1943 und im Mai 1944 kam die Fertigung im Werk nach den Großangriffen am 23./25. Oktober "zum völligen Stillstand"501. Insgesamt aber lagen die in Reichsmark bezifferbaren Schäden der Gußstahlfabrik wesentlich niedriger als sie die amerikanischen Beobachter taxiert hatten, nämlich bei 373 Millionen Reichsmark. So wichtig nach dem verlorenen Krieg eine vernünftige Kriegsschädenregulierung oder auch eine Kompensation für die gewaltigen Vermögensverluste in den sowjetisch besetzten Gebieten war, die verantwortlichen Industriemanager wußten, daß dies zu einer langwierigen, vielleicht erst in einigen Jahren auf die Tagesordnung kommenden Angelegenheit werden würde. Bei Kriegsende lautete die Existenzfrage, vor der die Großindustrie im Revier stand: Wie läßt es sich verhindern, daß die rasant aufgehende Schere zwischen Kosten und Einnahmen die Eisen schaffenden Gesellschaften ruiniert?502 Ein Spitzenmanager der Gutehoffnungshütte schrieb Anfang Juli 1945, wenn es nicht bald gelinge, wenigstens ein Viertel der Normalproduktion wieder aufzuneh495
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Vgl. dazu den ,Jahresbericht der Oberhausener Hüttenbetriebe 1944/45"; Haniel-Archiv, 4001016/8. Aus diesem Bericht ist zu ersehen, daß die Erzvorräte der GHH zwischen Juni 1944 und Juni 1945 nur um knapp 50 Prozent gesunken waren. Allgemein formuliert findet sich dieser Befund im "Economic Intelligen ce Summary" Nr. 32 von SHAEF v. 11. 4.1945: "Stocks of ore at works were generally maintained."; NA, RG 243, Entry 36 - Section 3 - European War - G-2 Library, Envelope 311. Life, 27.8. 1945, "The Krupps. The Cannon Makers of Essen Face the End of Their Dynasty". Twelfth Army Group, Publicity & Psychological Warfare, Semi-Weekly Summary of lntelligence Nr. 11 v. 15.6. 1945; NA, RG 260, 10/118-1/15. Vgl. weiter oben in diesem Kapitel. Siehe den umfangreichen "Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 15. April 1945 bis 30. September 1946" von April 1947, S. 50ff., Zitat S. 52; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Hans Rhode, Das Schicksal der Krupp'schen Gußstahlfabrik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Staat und Wirtschaft, hrsg. v. Ministerium für Verkehr und Wirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (1/1954), S. 48. Vgl. auch Gert von Klass, Aus Schutt und Asche. Krupp nach fünf Menschenaltern, Tübingen 1961, S.40. "Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 15. April bis 30. September 1946" von April 1947, S. 1; Krupp-Archiv, WA Vllf 1200. Zum folgenden ebenda, S. 30. Vgl. hierzu Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 87.
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men, stehe der Konzern "vor der Pleite, da wir den riesigen Apparat nicht länger ohne Einnahmen bezahlen können"503. Dem hohen Personalbestand, den Reparatur- und Unterhaltskosten, den Kapitalkosten und Lohnzahlungen standen bei allen Großbetrieben nur ganz geringe Einnahmen aus Verkäufen gegenüber. Radikaler Personalabbau, Senkung der Löhne und Gehälter, die strengste Beachtung der Gebote der Wirtschaftlichkeit, die in den Jahren der Rüstungswirtschaft ganz in den Hintergrund getreten waren (es sei notwendig, "ständig die Wirtschaftlichkeit zu predigen, um hier eine richtige Umschulung in allen Köpfen vorzunehmen", schrieb Ende April ein GHH-Direktor an seinen Vorstandsvorsitzenden 504 ) - all das waren aus dem Blickwinkel der Firmenleitungen jetzt richtige Rezepte; einen Ausweg aus der existenzbedrohenden Krise gab es jedoch nur unter einer Voraussetzung: Die Eisen schaffende Industrie mußte in kürzester Frist wieder mit der Produktion beginnen können. Wie dabei die gefährlichen Klippen und Engpässe, etwa bei der Energie- und Rohstoffversorgung, zu meistern sein würden, war für die Ruhrmanager eine Sorge, mit der man sich sofort nach Erhalt des "Permits" der Militärregierung zu befassen haben würde. Als die U.S. Army Mitte April 1945 das Ruhrgebiet besetzte, konnten die führenden Industriellen dort nicht ahnen, daß weder in London noch in Washington - und somit auch nicht bei SHAEF - eine politisch verbindliche Richtlinie darüber in den Schubladen lag, wie sich die Militärverwaltung nach der Besetzung gegenüber den großen Eisen- und Stahlbetrieben im Revier zu verhalten hatte. 505 Von der Existenz einer gemeinsamen amerikanisch-britischen-sowjetischen Industriepolitik konnte erst recht keine Rede sein. Das war bis zu diesem Zeitpunkt realistischerweise auch kaum zu erwarten gewesen, denn mit der Entscheidung über das Schicksal der deutschen Schwerindustrie an Rhein und Ruhr waren essentielle Punkte alliierter Besatzungsund Deutschlandpolitik auf das engste verknüpft, beispielsweise die Frage "der industriellen Entwaffnung", die Regelung der Reparationen, die Festsetzung des deutschen Industrieniveaus oder eine mögliche Internationalisierung des Ruhrgebietes. Klärung konnte hier nur eine große Konferenz der Siegermächte über Deutschland bringen. Aus diesen Gründen mußten die amerikanischen und britischen Detachments in den ersten Wochen nach der Besetzung in eine prekäre Lage geraten, ein Dilemma, das vom Alliierten Oberkommando auch sofort erkannt wurde. Obwohl die Detachments in Fragen von Wirtschaft und Industrie schier überwältigenden Problemen gegenüberstünden, hieß es etwa in einem SHAEF Field Survey vom 4. April 1945, gebe es so gut wie keine Richtlinien, an welche die Militärregierung sich halten könne: "Schon sind große Industriegebiete mit beträchtlichen Anlagen erfaßt worden, und die brennende Frage, welchen Industrien die Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu gestatten ist, wird aus vielen Ecken gestellt." In der Praxis werde diese Unsicherheit die Folge haben, daß das Kriterium der "militärischen Notwendigkeit" zum Maßstab der Entscheidung darüber werde, welche Betriebe wieder anlaufen dürften und welche nicht. Bei
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Schreiben von Dr. Ernst Hilbert an Dr. Monze! v. 4. 7. 1945; Haniel-Archiv, 40010150/115. Vgl. auch die Ansprache des Direktors von Hoesch vor der Belegschaft am 20. 10. 1946; WWA, K 1, Nr. 2607. Schreiben von R. Schruf an Herrnann Kellerrnann v. 20.4. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/3. Vgl. hierzu die Studien von PingeI, Der aufhaltsame Aufschwung, und Müller, Sicherheit durch wirtschaftliche Stabilität?, in: Petzina, Euchner (Hrsg.), Wirtschaftspolitik, S. 43 ff. bzw. S. 66fl. Siehe auch Krumbein, Wirtschaftssteuerung, S. 28 ff.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Firmen, die direkt für die Army arbeiteten, sei dieses Vorgehen unproblematisch, die Militärverwaltung werde aber bei der weitaus höheren Anzahl jener Betriebe, deren Erzeugnisse den militärischen Operationen allenfalls mittelbar zugute kämen, in "größte Schwierigkeiten" bei ihren Entscheidungen über die Wiederzulassung geraten. 506 Die bis zur Auflösung des gemeinsamen Oberkommandos und bis zum Beginn der Potsdamer Konferenz geltende SHAEF-Direktive erlaubte es der Militärverwaltung in der Tat, bei den Betrieben der Eisen- und Stahlindustrie höchst unterschiedlich zu verfahren. Sie konnte sich auf den Standpunkt stellen, die Erzeugnisse eines beliebigen Werkes seien nicht erforderlich zur Deckung der "essentiellen zivilen Bedürfnisse in Deutschland". Der verantwortliche Offizier konnte dieselben Erzeugnisse, wenn es ihm angebracht erschien, aber auch jener Kategorie von Produkten zuordnen, deren Herstellung genehmigt werden durfte - in der Eisen- und Stahlbranche beispielsweise "Rohstoffe, Halbfabrikate, Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände", die für den Betrieb von Werken in anderen lebenswichtigen Branchen und in Bergwerken unerläßlich waren. 507 In einer internen Anweisung der britischen Militärregierung von Ende Mai wurden die Unklarheiten in der alliierten MilitärverwaItung nach der Besetzung des Ruhrgebietes deutlich angesprochen. Die Trade & Industry Division (T. & 1.) des Detachments für den Regierungsbezirk Düsseldorf leitete ihre "Grundsätze und Richtlinien" für die Militärregierungseinheiten in den Landkreisen nämlich mit der Feststellung ein: ,,Als die örtlichen Militärregierungen ihre Aufgaben übernahmen, lagen keinerlei Richtlinien grundsätzlicher Art für die T. & I.-Abteilungen seitens höherer KommandostelIen vor."50S In Essen klagten die Offiziere des zuständigen Detachments noch imJuni gegenüber dem Psychological Warfare Team der amerikanischen 12. Armeegruppe darüber, daß ihnen bei der gezielten Wiederingangsetzung von Betrieben die Hände so lange gebunden seien, als keine allgemein gültige Politik dazu formuliert sei. 509 Ihr erstes "Permit" hatten die Konzernchefs und Betriebsleiter gewöhnlich noch von den Kommandeuren der durchziehenden Truppen erhalten. Oft nur mündlich wurde ihnen in der Regel gestattet, in ihren Fabriken die Aufräumungs- und Reparaturarbeiten aufzunehmen oder fortzusetzen. Manchmal bezog sich die Genehmigung auch schon auf eine erste partielle Wiederinbetriebnahme. Das entsprach der Anweisung von SHAEF an die drei Armeegruppen, nach welcher Werksanlagen durch die Deutschen "für solche Verwendung, wie sie Ihnen aufgetragen werden mag," instandzuhalten waren. 510 In Essen forderte der amerikanische Kommandeur die Geschäftsleitung des Krupp-Konzerns bereits einen Tag nach der Besetzung auf, die Belegschaft wieder zu sammeln, "um Aufräumungs- und dringende Instandsetzungsarbei,o6 Bericht von Oberstleutnant ]oseph C. Hickingbotham über eine Inspektionsreise in das Besatzungsgebiet
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der 1., 3. und 9. US-Armee (12. 3.-22. 3. 1945) v. 4.4. 1945, von Murphy an den Außenminister weitergeleitet am 12.4. 1945; NA, RG 59, Control (Germany), 4-1245. SHAEF, Directive for Military Government of Germany Prior to Defeat or Surrender v. 9. 11. 1944; NA, RG 331, 11.505, G-5, Information Branch, Entry 54. Übersetzung der Direktive v. 25. 5. 1945 (Ref.Nr. 318/612); Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Twelfth Army Group, Publicity & Psychological Warfare, Semi-Weekly Summary of Intelligence, Nr. 11 v. 15.6.1945; NA, RG 260,10/118-1/15. SHAEF, Directive for Military Government of Germany Prior to Defeat or Surrender v. 9. 11. 1944; NA, RG 331, 11.505, G-5, Information Branch, Entry 54.
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ten durchzuführen" bzw. "unverzüglich die Arbeit wieder aufzunehmen"511. Der Leiter des Duisburger Industrieausschusses hatte sich notiert: ,,Am 14. April übergab Major K. A. Norton von der Militärregierung den Leitern der Duisburger Industriewerke den Befehl des Oberbefehlshabers, General Eisenhower, die Werke so schnell wie möglich wieder in Gang zu setzen."512 Die Eisen- und Hüttenwerke in Bochum erhielten zwei Tage später die Aufforderung "zur baldigen Wiederaufnahme der Betriebe"513. Die Thyssenhütte dagegen mußte bis zum 21. Mai warten, ehe ihr die "vorläufige Erlaubnis zur Aufräumung und Wiederherstellung der Werksanlagen" erteilt wurde. 514 Verschiedentlich wurden Fabriken von der Militärverwaltung auch als Strom- oder Gasversorgungsbetriebe eingesetzt. 515 Bei der Gutehoffnungshütte lief seit dem 19. April 1945 Hochofen 8 als "Stromgenerator"516. Mit Aufräumungs- und Ausbes.serungsarbeiten, mit der Sammlung der Belegschaft, mit Bestandsaufnahmen, mit Vorbereitungen zur Produktion oder Hilfsdiensten waren die Konzernbetriebe aber nur wenige Wochen halbwegs auszulasten. Ende Mai hielt es Edouard Houdremont von Krupp deshalb beispielsweise für angezeigt, dem Chef der Essener Militärverwaltung Rechenschaft über "das bisher Geleistete" abzulegen. Sein Konzern habe Schutt beseitigt, an der Instandsetzung des Elektrizitätsnetzes gearbeitet, Oberbau und Schienen der Werksbahn geflickt, die eigenen Kraftanlagen und Kraftfahrzeuge repariert, Wasserleitungen verlegt, die Straßen in der Umgebung des Werkes gesäubert usw., usf. Daneben standen Auftragsarbeiten wie Reparaturen an Brücken und Schleusen, in Bergwerken, an Lokomotiven und Waggons; ferner die Herstellung von Hartmetallwerkzeugen für den Bergbau, von Schweißelektroden oder von Knochennägeln "gemäß einem Gedankenaustausch" mit ,,Ärzten der U.S.A.Streitkräfte", schließlich die Anfertigung von Stahlgebissen ("sehr wichtig für die Gesundheitspflege der deutschen Bevölkerung") und "tragbarer Kessel für die Milchindustrie"517. Neben den für die Wiederaufnahme der Produktion notwendigen Instandsetzungsarbeiten kümmerte sich der Konzern in diesen Wochen auch schon um die Fertigung von Erzeugnissen, nach denen bald große Nachfrage herrschen würde. Krupp entwickelte Dachpfannen aus Eisen und Blech, einen Herd "mit vorzüglichen Koch- und Heizmöglichkeiten", baute aus seinen Stahlvorräten Schubkarren, Steigeisen und Dreibeine. 51B Hätte sich dieser Rechenschaftsbericht des Krupp-Direktors in der Dienststelle der Militärverwaltung auf den Schreibtisch z. B. des Offiziers für Monuments, Fine Arts & Archives verirrt, so hätte selbst jener zweifellos sofort erkannt, daß "das bisher Geleistete" in den Augen eines "Kanonenkönigs" nichts weiter als ein Sammelsurium von Kinkerlitzchen sein mußte. Er hätte unschwer wohl auch die eigentlichen Motive für "Technischer Bericht über das Geschäftsjahr 1944/45" v. 15. 1. 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1199. "Die Besetzung der Krupp-Werke nach Kriegsende", o.D.; Krupp-Archiv, WA 46 v 185. '12 "Vorläufiger Bericht über die allgemeine Wirtschaftslage in Duisburg" von Erich Edgar Schulze v. 19.5. 1945; RWWA Köln, 20-1608-2. Allgemein zu diesem Ausschuß vgl. oben in diesem Kapitel. 'IJ Zit. nach Manfred Wannöffel, Gewerkschaftlicher Neuanfang, in: Dietmar Petzina und Walter Euchner (Hrsg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet 1945-1949, Düsseldorf 1984, S. 278. Entwurf eines Vorstandsberichtes über das Geschäftsjahr 1944/45 von Januar 1948; Thyssen-Archiv, A/5665. 51' Aktenvermerk über eine Direktionsbesprechung der Deutschen Röhrenwerke in Mülheim am 16.4. 1945; Mannesmann-Archiv, R 15080. '16 ,Jahresbericht der Oberhausener Hüttenbetriebe 1944/45"; Haniel-Archiv, 4001016/8. '17 Schreiben an Oberst Edson D. Raff, Essen, v. 28.5.1945; Krupp-Archiv, WA IV 2601. 5I8 "Technischer Bericht über das Geschäftsjahr 1944/45" v. 15.1. 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1199. '11
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die Abfassung eines solchen Memorandums erkannt. Das Schreiben der Geschäftsleitung der Firma Fried. Krupp gab dieser einfach Gelegenheit dazu, durch gewissenhafte Berichterstattung rückhaltlose Informationsbereitschaft zu demonstrieren und damit bei der Besatzungsmacht um Vertrauen zu werben, zugleich auch den Beitrag des Betriebes zur Behebung der allgemeinen Notlage und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Produktion dringend benötigter Gebrauchsgüter ins Licht zu rücken. Vor allem aber blieb man mit Rechenschaftsberichten dieser Art über das zentrale Anliegen der Industrie - der Erteilung einer uneingeschränkten Betriebsgenehmigung durch die Militärregierung - im Gespräch. Dahinter stand ein einfaches und plausibles Kalkül. Durch ständige Berufung auf die vom amerikanischen Truppenkommandeur erteilte Zustimmung zu ersten Aufräumungs- und Instandsetzungsarbeiten sollte eben diese unbefriedigende Genehmigung unter der Hand einseitig zu einer Art Rechtstitel erhoben werden, aus dem dann problemlos ein Plazet der Militärverwaltung zur Wiederaufnahme der Produktion abgeleitet werden konnte. Die schrittweise Ausweitung der Aktivitäten würde zudem Vorentscheidungen schaffen, die die Militärverwaltung wohl nur schwer wieder würde aufheben können. Mußte den Amerikanern und Engländern nicht selbst einleuchten, daß es keinen Sinn machte (und daneben auch die Prinzipien von Treu und Glauben verletzte, die nun doch wohl gelten sollten), die notwendigen Vorarbeiten zur Wiederingangsetzung zu gestatten, wenn dem dann nicht die Produktionsaufnah me folgte? Zugleich waren Schreiben wie diese gut dazu geeignet, den etwas unentschlossen wirkenden Besatzungsbehörden dezent ein wenig Dampf zu machen. In diesem Sinne bemerkte Houdremont in seinem Rechenschaftsbericht an die Militärregierung denn auch sehr geschickt, seine Kunden "verlangten" von ihm die Herstellung von im Bergbau und in der Lebensmittelindustrie benötigtem Stahlhalbzeug. Die Wiederaufnahme der Arbeit in einem der Stahlbetriebe und die Ingangsetzung eines Hochofens könne "nun in Betracht gezogen werden". Gegenüber der örtlichen Industrie- und Handelskammer, auf die ein Betrieb wie die Fried. Krupp natürlich größten Einfluß besaß, brachte Houdremonts Direktoriumskollege die Auffassung des Konzerns noch um einiges deutlicher zum Ausdruck. Die Firma Krupp, so sagte er, betrachte die Äußerungen des Kommandeurs der amerikanischen Truppen am Tage nach dem Einmarsch in Essen als "Genehmigung zur Wiedereröffnung und Fortführung" des Betriebes. Obgleich der Leiter der Handelskammer dieser Interpretation zustimmte, kann den Beteiligten kaum verborgen geblieben sein, daß dies eine sehr kühne Sicht der Dinge war. 519 Hier kam die im Frühjahr 1945 noch kaum angekränkelte Überzeugung der Industrieführer zum Ausdruck, nach dem kleinen Finger werde die Besatzungsmacht gewiß bald die ganze Hand reichen, und zwar einfach deshalb, weil eine Wiederingangsetzung der Wirtschaft im Okkupationsgebiet ohne Eisen und Stahl undenkbar war. Einer anfangs noch orientierungslosen Militärverwaltung stand an der Ruhr eine industrielle Elite gegenüber, die entschlossen war, in gleichsam fliegendem Start aus der Rüstungsfertigung in die Friedensproduktion hinüberzuwechseln. Die Direktoren und Vorstandsmitglieder hatten wenig Zweifel, daß dies von der Besatzungsmacht ähnlich 519
"Niederschrift über eine Besprechung mit der Handelskammer am 2.Juni 1945"; Krupp-Archiv, WA 42/ 227.
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gesehen wurde. Lange waren sie sich nicht darüber im klaren, daß es nicht ihre Fachmannschaft, ihre Tatkraft und ihr Optimismus allein waren, die über das künftige Schicksal von Eisen und Stahl in Deutschland entscheiden würden. Noch ehe die alliierte Industriepolitik nach Potsdam mit der Arbeit des Alliierten Kontrollrates Konturen annahm, mußten die Industriellen bemerken, daß nicht bloß das - durch die Besetzung wenig tangierte - "business as usual" an gewisse, nicht ökonomisch definierte Grenzen zu stoßen begann, sondern daß sich die gesamte Eisen schaffende Industrie an Rhein und Ruhr in der gefährlichsten Lage seit ihren Anfängen im 19.Jahrhundert befand - und zwar viel weniger aus wirtschaftlichen denn aus politischen Gründen. Der erstaunliche Optimismus der industriellen Elite in den Tagen der Kapitulation wurde stark genährt durch die frühen beruhigenden Erfahrungen mit den zumeist angenehm undogmatischen Offizieren der Besatzungsmacht, die in ihrem Okkupationsgebiet genau jenen Pragmatismus des "Durchwursteins" an den Tag legten, von dem auch der Alltag der deutschen Industriemanager in der schwierigen Endphase des Krieges geprägt gewesen war. Außerdem überstieg der Gedanke, die Industrie könne für die Fehler und Verbrechen der Politik mit zur Rechenschaft gezogen werden, die Vorstellungskraft der Industrieelite, fühlten sich viele von ihnen doch selbst als Opfer nationalsozialistischer Zwangswirtschaft. Allzu direkt und unbekümmert schloß man von der sehr geschätzten "vernünftigen" Einstellung vieler Offiziere im Frühjahr 1945 auf die Politik der Alliierten gegenüber Eisen und Stahl in Deutschland in den kommenden Jahren. Durchaus realistisch erwarteten die Wirtschaftsführer, daß Abstriche und Änderungen an den Produktionsprogrammen notwendig, einige Neugruppierungen unumgänglich sein, Engpässe der Energie- und Rohstoffversorgung und im Außenhandel Strukturveränderungen erzwingen würden, doch die Großen im Revier, und mit ihnen wohl auch der Großteil ihrer Direktoren und Werksleiter, rechneten im Frühjahr 1945 genauso fest damit, ihre Konzerne binnen kurzem wieder zu höchstmöglicher Leistung bringen und selber weiterhin auf den Kommandohöhen der Eisen schaffenden Industrie stehen zu können. Mit der Genehmigung der maximal erreichbaren Eisen- und Stahlerzeugung durch die Militärregierung glaubten die Industriellen im Revier nach dem Krieg schon deshalb binnen kürzester Frist rechnen zu können, weil es ihnen gegen jede ökonomische Vernunft zu sein schien, daß die Siegermächte den Wirtschaftskreislauf aus freien Stücken selber blockieren könnten, würden sie dadurch doch nur die allgemeine Misere in Deutschland mutwillig verschärfen, ein unkalkulierbares politisches Risiko eingehen und letztlich ihre eigenen Budgets schwer belasten. Aber auch als in den Augen der Deutschen eben dies eintrat, änderte sich die Kernaussage jener mit der Besetzung 1945 anhebenden und nicht vor dem Ende der Demontagen 1951 abebbenden Flut von Memoranden und Petitionen, Erklärungen und Beschwörungen an die Adresse der Alliierten nicht: Die Erzeugnisse der Stahlindustrie sind Essentials, die Produktion eines Maximums dieser unentbehrlichen Güter darf nicht durch andere als strikt ökonomische Erwägungen eingeschränkt werden. Die Militärregierung konnte rasch erkennen, daß sie in diesem Punkte einer deutschen Einheitsfront gegenüberstand; von der Sorge um die Gesundung der Volkswirtschaft bis zur Sorge um die Existenzgrundlagen der Arbeiterschaft blieb kein Argument unausgesprochen. Rohland etwa hatte Anfang Juni 1945 in seiner Denkschrift an die britische Besatzungsmacht geschrieben, ohne Schaden für die gesamte Wirtschaftsentwicklung sei es
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
unmöglich, Kohle- und Konsumgüterversorgung bevorzugt in Gang zu setzen, die Eisen- und Stahlindustrie aber am Boden zu halten. 52o Auf der ersten gemeinsamen Tagung der Industrie- und Handelskammern des Regierungsbezirkes Düsseldorf am 8.Juni 1945 waren sich die Anwesenden ebenfalls rasch darüber einig, daß die Voraussetzung einer auch nur bescheidenen Produktion dringend benötigter Gebrauchsgüter, Maschinen und anderer lebenswichtiger Erzeugnisse "natürlich die Ingangsetzung der Betriebe, vor allem der Stahl- und Eisenindustrie", sei. 52l Der Vorsitzende der Wirtschaftskammer Essen sagte britischen Militärregierungsoffizieren fünf Wochen später: "Wenn nicht die Industrie überhaupt wieder zum Erliegen kommen soll, müsse Nachschub an Eisen und Stahl erfolgen." 522 Im Herbst 1945 erreichte den britischen Militärgouverneur Montgomery ein imposantes Memorandum, in dem detailliert dargelegt war, welche "ausschließlich Friedensaufgaben" dienende Fertigungen bei Krupp umgehend wieder aufgenommen werden könnten. Unterzeichnet war es unter anderem vom Oberbürgermeister der Stadt Essen, Rosendahl, vom Leiter des Arbeitsamtes, von den "Vertretern der demokratischen Parteien", den "Vertretern der verschiedenen Religionsgemeinschaften", dem IHK-Präsidenten, vom vorläufigen Krupp-Betriebsrat, vom "vorbereitenden Gewerkschaftsausschuß"523. Ein weiteres Beispiel ist die Petition, die die kommunistischen, sozialdemokratischen und christlich-demokratischen Parteigründungszirkel in Mülheim/Ruhr gemeinsam an die Militärregierung richteten. Sie führten dem Detachment die wirtschaftliche Bedeutung der ortsansässigen Deutsche Röhrenwerke AG vOr Augen und setzten mahnend hinzu, eine Schließung des Werkes wäre "ein entsetzlicher Schlag für das allmählich wieder in Gang kommende Wirtschaftsleben der Stadt"524. In der umfangreichen Denkschrift schließlich, die die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie im Juni 1946 in Reaktion auf den Industrieniveauplan des Alliierten Kontrollrates vorlegte, heißt es lapidar: "Der Erfolg aller Wiederanlaufmaßnahmen hängt also entscheidend von dem Produktionsumfang der Eisen schaffenden Industrie ab."525 Die Stahlkonzerne begannen ihre Produktionsvorbereitungen im Frühjahr 1945 mit der Sammlung ihrer deutschen Stammbelegschaft. Krupp ließ überall in Essen entsprechende Aufrufe kleben, Generaldirektor Hermann Kellermann forderte am 12. April die "Gefolgschaft der Gutehoffnungshütte" auf, sich unverzüglich in ihren Betrieben zu melden. Nach den nötigen Vorbereitungen, so der Vorstandsvorsitzende zukunftsgewiß an seine Arbeiterschaft gewandt, "wird die Erzeugung wieder aufgenommen, die ausschließlich dem deutschen Volke zugute kommen wird"526. Sofort erreichten die meisten Werke der Eisen schaffenden Industrie wieder einen PersonalVgl. die unbetitelte Denkschrift Rohlands v. 2.6. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/14. "Niederschrift über die Besprechung der Industrie- und Handelskammern des Regierungsbezirks Düsseldorf arn 8. Juni 1945 in Düsseldorf im Gebäude der Handelskammer"; Industrie- und Handelskammer Düsseldorf, 112-21, NT. 01. 522 "Industriesitzung der Wirtschaftskammer Essen, Zweigstelle Oberhausen, am 19.7. 1945 im Verwaltungsgebäude [ der Gutehoffnungshütte in Oberhausen"; RWWA Köln, 28-6-6. 52J "Memorandum über Möglichkeiten zur Weiterbeschäftigung der Belegschaftsmitglieder der Firma Fried. Krupp, Essen, für Friedensbedürfnisse" v. 16. 11. 1945; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. 524 Von den drei Parteien im Namen des "Bürgerausschusses" unterzeichnetes Memorandum v. 3.12. 1945; Mannesmann-Archiv, R 1.50331. 525 "Die Eisen schaffende Industrie in der britischen Zone. Ein Querschnitt durch die gegenwärtige Lage", Denkschrift vom Juni 1946; Haniel-Archiv, 40010146/275. 5" "Bekanntmachung an die Gefolgschaft der Gutehoffnungshütte"; Haniel-Archiv, 4001016/11. 520
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stand von ungefähr 30-40 Prozent (gegenüber 1944).527 Damit waren nach der Befreiung der Zwangsarbeiter, nach Entlassung im Krieg eingestellter Frauen und der Abkehr eines Teils der Belegschaft bei Kriegsende fast überall die für die Anlauffertigung erforderlichen Arbeitskräfte verfügbar. 52B In der Rohstofflage sahen die Eisen- und Stahlkonzerne ebenfalls kein Hindernis für eine sofortige Produktionsaufnahme. Die Thyssenhütte besaß noch immer "stattliche Erzvorräte"529, die Gutehoffnungshütte verfügte über ausreichend Lagerbestände an Erzen, Koks, Schrott und Kalkstein sowie über einige zehntausend Tonnen Roheisen und Halbzeug. Bo Auch die Fried. Krupp war für eine Anlauffertigung ausreichend versorgt. Die Firma hätte ihren gesamten Auftragsbestand bei Stahlerzeugnissen mit den in ihren Betrieben lagernden Werkstoffen erledigen können. BI Darüber hinaus führten die Vereinigten Stahlwerke mit Klöckner und der Gutehoffnungshütte den ,,Austausch von Rohstoffen von einem Werk zum andern" weiterhin fort. 532 Auch das Transportproblem war aus der Sicht der hochintegrierten Konzerne mit ihren meist sehr kurzen Lieferwegen innerhalb der Fabrikareale kein Hindernis für das Wiederanlaufen der Betriebe. An sich waren die Stahlriesen auch bei Kohle Selbstversorger - und manche Firmen betonten das anfangs auch 533 -, aber weil die Alliierten sofort die Hand auf die Kohleförderung der Ruhrzechen gelegt hatten B 4, war es die Militärverwaltung, die das entsprechende Kohlekontingent für die Betriebe der Eisen schaffenden Industrie hätte zur Verfügung stellen müssen. Die Stahlindustriellen wußten, und die Besatzungsmacht verfehlte nicht, von Zeit zu Zeit darauf hinzuweisen, daß die Produktionsgenehmigung für einen Betrieb nicht automatisch die Zuteilung des benötigten Quantums Kohle garantierte. 535 Doch da die Vorstände Arbeitskräftemangel, wie er im Sommer z. B. bei den Deutschen Eisenwerken auftrat, war zu dieser Zeit meist die Ausnahme vom Regelfall. Vgl. die VSt-Besprechung am 7.7. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. m Vgl. hierzu folgende Quellen: Tätigkeitsbericht der Fried. Krupp für 1945/46 vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Schreiben Krupps an das Detachment für den Regierungsbezirk Düsseldorf v. 25.6. 1945; Krupp-Archiv, W A IV 2601. Schreiben des Chefs der August Thyssen-Hütte an seinen Vorgänger v. 30. 11. 1945; Thyssen-Archiv, A/5059. "Eine Chronik wichtiger Ereignisse im Bereich der Oberhausener Betriebe der Gutehoffnungshütte Oberhausen A.G." für die Zeit v. 28.9. 1944 bis 28.9. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/11. Schreiben der Gutehoffnungshütte an das Landeswirtschaftsamt Düsseldorf v. 11. 6. 1945; Haniel-Archiv, 4001015/0. Ab Sommer 1945, mit Verschlechterung der Chancen einer Produktionsaufnahme in größerem Stil, verstärkten die Konzerne ihre Maßnahmen zum Abbau des Personals. In seiner charakteristischen Diktion wies Rohland in einer Besprechung der Vereinigten Stahlwerke am 26.Juni "auf die zum Teil zu beobachtende Scheu hin, ältere Angestellte zu pensionieren. Von den Abbaumaßnahmen 1929 sind die jüngeren Arbeitskräfte zu stark betroffen worden, während die älteren Jahrgänge verschont blieben. Dieser Mißgriff in den damaligen Abbaumaßnahmen hat schwerwiegende Folgen gehabt. Der Fehler darf diesmal nicht wiederholt werden."; Thyssen-Archiv, A/5744. Mit den Abbaumaßnahmen ging infolge von Arbeitszeitverkürzung und Lohnsenkungen ein ungefähr zwanzigprozentiger Lohnabbau einher (vgl. den oben erwähnten Krupp-Tätigkeitsbericht vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200). In einer Vorstandsbesprechung der Vereinigten Stahlwerke am 10.7. 1945 wurde festgestellt: "Vereinigte Stahlwerke, Gutehoffnungshütte und Krupp liegen bei dem Abbau der Gehälter etwa auf gleicher Linie."; Thyssen-Archiv, A/5744. 529 Brief des Hüttendirektors an seinen Vorgänger v. 24. 12. 1945 über die Situation bei Kriegsende; ThyssenArchiv, A/5059. 530 Vgl. die detaillierte Aufstellung im Schreiben an das Landeswirtschaftsamt Düsseldorf v. 11. 6. 1945; Haniel-Archiv, 4001015/0. 53' Vgl. den Tätigkeitsbericht für 1945/46 von April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. 532 VSt-Lagebericht v. 12.6. 1945; Thyssen-Archiv, A/2526. '" Vgl. das Schreiben an das Landeswirtschaftsamt Düsseldorf v. 11. 6. 1945; Haniel-Archiv, 4001015/0. '34 Siehe unten in diesem Kapitel. '" Vgl. z.B. das Schreiben des britischen (Regierungsbezirks-)Detachments an die Industrie- und Handelskammer Arnsberg v. 27.6. 1945; Krupp-Archiv, WA 42/227. 527
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und Werks leitungen darauf gewiß keinerlei Einfluß würden gewinnen können, immerhin aber einiges dafür sprach, daß den Alliierten selbst an einer ausreichenden Kohlezuteilung für die Hüttenwerke gelegen sein mußte, war es zunächst müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Gleiches galt im Prinzip auch für eine Reihe schon in naher Zukunft zweifellos fühlbar werdender kardinaler Probleme, die Versorgung der Betriebe nach dem Versiegen der Vorräte an Erzen und Stahlveredlern etwa, die Frage des Auslandsabsatzes oder des Geldwertes. Diese langfristig unsicheren Perspektiven beeinträchtigten die nach dem Einmarsch mit Hochdruck anlaufenden Produktionsvorbereitungen nicht im geringsten. Alles war darauf ausgerichtet, die Lokomotive unter Dampf zu haben, wenn von der Besatzungsmacht das erwartete Startsignal kam. Die Vereinigten Stahlwerke machten es Mitte Mai ihren Konzerngesellschaften zur Pflicht, sofort "mit besonderer Energie" ein ,,Aufbauprogramm" aufzustellen, und zwar "a) kapazitätsmäßig, b) materialmäßig, c) finanziell"536. Eine Analyse ergab, daß 12 von 16 wichtigen VSt-Werken sofort zu mindestens 30 Prozent auslastbar sein würden. H7 Ebenso wie bei den anderen Konzernen standen auch bei Krupp die ersten Monate nach Kriegsende - neben den Aufräumungsarbeiten - ganz im Zeichen weitreichender betrieblicher Struktur- und Produktionsplanungen. Die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme und den Ausbau einer ansehnlichen Friedensproduktion erschienen günstig: "Von besonderer Bedeutung war, daß wir uns während der ganzen Dauer des Krieges zäh und nicht ohne Erfolg für die Beibehaltung der Friedenserzeugnisse eingesetzt hatten", heißt es in einem Tätigkeitsbericht des Konzerns. "Die völlige Umstellung der Betriebe der Warmverarbeitung, der Verfeinerung und des Maschinenbaus auf Rüstungsgerät und dessen Zulieferung war vermieden, die Verbindung mit unseren Abnehmerkreisen aus der Friedenszeit aufrechterhalten und gepflegt worden."H8 Schon Ende April erörterte die Geschäftsleitung, "welche Erzeugnisse voraussichtlich hergestellt werden können und welche Betriebe dafür zur Verfügung stehen", welche Werke zweckmäßigerweise ganz stillgelegt, welche mit anderen zusammengelegt werden sollten. 539 Am 8. Mai 1945 lag ein kompletter, als "vertraulich" gekennzeichneter Plan über die "Ingangsetzung bzw. Stillegung von Betrieben" der großen Werke in Essen vor. Vom Hochofenwerk bis zum Apparatebau, von der Gesenkschmiede und dem Walzwerk bis zur Federwerkstatt wies er den wichtigsten Abteilungen ihren Platz in der veränderten Struktur der Fabrik zu. HO In einem internen Rechenschaftsbericht hieß es 1947 denn auch, man habe es nach Kriegsende für geboten gehalten, "mit allem Nachdruck eingehende Aufbaupläne für die nächste Zukunft auszuarbeiten"541. Entsprechend selbstbewußt steckte Krupp im Sommer 1945 seine Produktionsziele für die Anlaufphase. Bei Roheisen sollten von einem Tag auf den anderen 20 Prozent, bei Rohstahl 25 Prozent, bei Walzwerkerzeugnissen fast 40 Prozent der normalen Höchstproduktion erzielt werden. Nach Instandsetzung aller WerkstätNotiz über eine Konzernbesprechung am 18. 5. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. Internes Memorandum zur Frage der Betriebsauslastung v. 30.8. 1945; Thyssen-Archiv, A/5518. ". "Tätigkeitsbericht für 1945/46" vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. 539 Besprechung am 25.4.1945; Krupp-Archiv, WA 42/227. Aktenvermerk über die entsprechende Sitzung unter Vorsitz Houdremonts am 8. Mai v. 11. 5. 1945; ebenda. 541 Tätigkeitsbericht für 1945/46 vom April 1947, Krupp-Archiv, WA VII f 1200. 536
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ten und der "Behebung sonstiger Schwierigkeiten" glaubte man in diesen Bereichen, wie der Militärregierung versichert wurde, wieder 75 bis 100 Prozent erreichen zu können. 542 Nicht weniger Energie als in die Produktionsvorbereitung steckte die Industrie in die Auftragsbeschaffung. Abgesehen von dem kaufmännischen Erfordernis, nach dem Ende der ohne besonderes eigenes Zutun einlaufenden Rüstungsbestellungen sich nun wieder stärker selbst um Kunden bemühen zu müssen, war der Besatzungsmacht mit einem dicken Auftragspolster für überall dringend benötigte Güter am eindringlichsten nahezulegen, daß die ökonomische Räson eine sofortige umfassende Produktionsgenehmigung für die Stahlindustrie gebieterisch verlange. Die Losung bei den Vereinigten Stahlwerken lautete deshalb auch: "Hereinholung von Aufträgen mit aller Energie und allen verfügbaren, notfalls auch den primitivsten Mitteln."543 Der Mannesmann-Vorstand verlangte von den Firmenhändlern die Auftragsbeschaffung "mit allem Eifer"S44, und die Fried. Krupp, bei der binnen fünf Monaten nach der Besetzung Aufträge im Wert von rund 30 Millionen RM eingegangen waren, schrieb rückschauend, "die Bestellungen sollten als Unterlagen zum Nachweis des Bedürfnisses und somit zur Erlangung der Arbeitserlaubnis dienen"S45. An dieses Prinzip hatte der Konzern bei seinem Antrag auf Wiederaufnahme der Produktion angeknüpft. Darin präsentierte Krupp sehr geschickt eine lange Liste von Erzeugnissen, für die der Firma inzwischen Aufträge vorlägen. Das ergab dann eine Palette von Produkten und Leistungen, die ziemlich genau jene Bedarfslücken gefüllt hätte, die von der Besatzungsmacht des öfteren bezeichnet worden waren (Schmiedestücke, Brücken, Preßteile, Räder für Eisenbahnen, Walzen für Kaltwalzwerke, Feldbahnen für Bergwerke, Ersatzteile für Landmaschinen, Milchkannen, Kfz-Reparaturen für Lebensmittelbetriebe USW.).546 Die mit ungebrochener Dynamik betriebenen Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Eisen- und Stahlproduktion hatten immer auch das Beispiel der "glücklicheren" Kohlewirtschaft vor Augen, die nicht ,,100, sondern 120 Prozent" fördern sollte. 547 Im Aachener Revier wie im Ruhrgebiet war die Kohleproduktion nach der alliierten Besetzung praktisch zum Erliegen gekommen. Sie betrug nur noch etwa 3 Prozent der Normalkapazität. S48 Hatten beispielsweise die Oberhausener Bergbaubetriebe der Gutehoffnungshütte im September 1944 monatlich noch 341.665 to Steinkohle gefördert, so waren es im April 1945 ganze 766 to und im Juni noch im'" Schreiben der Fried. Krupp an das Militärregierungsdetachment für den Regierungsbezirk Düsseldorf v. 25.6. 1945; Krupp-Archiv, WA IV 260l. '" Vermerk über eine Konzernbesprechung am 18. 5. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. 544 "Niederschrift über die Vorstandssitzung vom 25. Juni 1945"; Mannesmann-Archiv, M 12.017. 545 Interner Rechenschaftsbericht für die Zeit von April 1945 bis Dezember 1946 vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Vgl. auch den "Initial Report" der Firma v. 3. 10.1945; Krupp-Archiv, WA IV 2602. Der Auftragsbestand für Röhren und Bleche betrug bei den Deutschen Röhrenwerken in Mülheim Ende August 1945 beispielsweise nicht weniger als 70.000 Tonnen. Entwurf eines Schreibens des Betriebsausschusses an den Oberbürgermeister der Stadt v. 28.8. 1945; Mannesmann-Archiv, R 2.60 32. 546 Antrag an die Militärverwaltung auf "Wiederaufnahme der Arbeit bei Krupp" v. 25.6. 1945; KruppArchiv, WA IV 260l. 547 So kennzeichnete der Vorstandsvorsitzende der August Thyssen-Hütte die im Vergleich zur Stahlindustrie unvergleichlich günstigere Lage des Bergbaus in einem Schreiben an seinen Vorgänger v. 30.11. 1945; Thyssen-Archiv, A/5059. 548 "The Coal Situation in North West Europe", Bericht der Potter/Hyndley Mission v. 7.6. 1945; NA, RG 331,463.3 Coal, vol. 1II, 1945. Vgl. auch Abelshauser, Ruhrkohlenbergbau, S. 45.
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mer nicht mehr als 22.623 tO. 549 Der dramatische Förderrückgang in den deutschen Kohlerevieren hatte mehrere Ursachen, wobei die kriegs bedingten Zerstörungen an den Zechen am wenigsten ins Gewicht fielen. Eine SHAEF-Erhebung von Anfang Juni 1945 kam zu dem Ergebnis, von 139 in Augenschein genommenen Schachtanlagen an der Ruhr (Gesamtbestand 1938: 154 55 °) könnten 122 an sich sofort wieder produzieren; keine einzige sei ersoffen, die Schäden übertage seien insgesamt gering. 55l Schwerwiegender als die militärische war die "wirtschaftliche Zerstörung"552 der Gruben während der Kriegsjahre. Da die Instandhaltung der Zechen unter dem Diktat der Höchstförderung durchweg vernachlässigt worden war, hatten sie durch den Raubbau der nationalsozialistischen Kriegsproduktion einen viel größeren Substanzverlust erlitten, als es auf den ersten Blick den Anschein haben konnte. Nach dem Einmarsch der Alliierten waren Erneuerungs- und Ergänzungsarbeiten zunächst kaum möglich. Es fehlte an allem, an Ersatzteilen nicht weniger als an so unentbehrlichen Ausrüstungsgegenständen wie Grubenlampen und Treibriemen. Die Hauptursache der chaotischen Lage im Bergbau war freilich die Arbeitskräftesituation. Am Tage ihrer Befreiung hatten so gut wie alle Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter die Zechen verlassen. Dadurch reduzierte sich die Gesamtbelegschaft mit einem Schlag um 42,6 Prozent. 553 Nach Erhebungen der Production Control Agency von SHAEF, G-4, standen Anfang Juni 1945 nur noch 120.000 bis 150.000 Kumpel zur Verfügung 554 ; während des Krieges waren es ungefähr 400.000 gewesen. Aber selbst die verfügbaren Arbeitskräfte kamen wegen der exorbitant hohen Abwesenheitsrate nur teilweise zum Einsatz. Bei der Untersuchung der Abwesenheitsrate kamen amerikanische und deutsche Experten zu horrenden Befunden. SHAEF ermittelte im Juni eine Marge von 30 bis 50 Prozent. Paul Porter von der G-5 Economic Group der 12. Armeegruppe berichtete, die Abwesenheitsrate in der Region Essen habe Mitte Mai durchschnittlich 45 Prozent, in mehreren Zechen über 70 Prozent, in einer sogar 88 Prozent betragen. 555 (In eigenen Erhebungen kamen die Konzerne auf ähnliche Zahlen. 556) Die Gründe dafür waren mannigfaltig. Da im Revier die Hälfte des Wohnraums total zerstört oder schwer beschädigt war, lebte ein Teil der Bergleute nicht mehr in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Viele blieben der Arbeit fern, weil sie damit beschäftigt waren, ihre Unterkunft zu reparieren und das nötige Material dazu auf dem Schwarzmarkt zu "organisieren". Wieder andere erschienen nicht am Arbeitsplatz, weil sie den '" "Eine Chronik wichtiger Ereignisse im Bereich der Oberhausener Betriebe der Gutehoffnungshütte Oberhausen A.G.", 29.9. 1944 - 28.9. 1945; Haniel-Archiv, 400 10 16/1!. "0 Kurt Wiesendanger, Die Ruhrkohle in der westdeutschen Kohlenwirtschaft 1945-1949, Diss., Lörrach 1952, S. 3. "1 SHAEF, G-4, Production Control Agency, "Report on Visit to Ruhr Coal Mining Area, June 5 to June 11, 1945" v. 16.6.1945; NA, RG 331, SHAEF, 463.3 Coal, vol. 111/1945. '" Abelshauser, Ruhrkohlenbergbau, S. 19. m Milert, Verschenkte Kontrolle, S. 112. ," SHAEF, G-4, Production Control Agency, "Report on Visit to Ruhr Coal Mining Area, June 5 to June 11, 1945" v. 16.6.1945; NA, RG 331, SHAEF, 463.3 Coal, vol. 111/1945. Dort auch weitere Angaben zur Arbeitskräftesituation. '" "Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Mining Industry", Bericht an G-5, Twelfth Arrny Group, v. 29. 5.1945; NA, RG 260,17/257-1/7. Das folgende im wesentlichen nach dem Bericht der Production Control Agency v. 16.6. 1945; NA, RG 331, SHAEF, 463.3 Coal, vol. 1II/1945. ". Vgl. z.B. den Wochenbericht Bergbau der Gutehoffnungshütte v. 15.5.1945; Haniel-Archiv, 400100/49. Die Abwesenheitsrate in der Zeche Jacobi etwa betrug 77,7 Prozent.
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Tag mit der Fahndung nach Eßbarem für sich und ihre Familien zubringen mußten oder zur Aufbesserung des Speiseplans im eigenen Garten Gemüsebau betrieben. Überdies fehlte der Arbeitsanreiz, weil für Geld so gut wie nichts zu kaufen und die zugeteilte Wochenration mit dem Lohn für zwei oder drei Arbeitstage zu bezahlen war. Viele Kumpel hungerten trotzdem und waren körperlich zu geschwächt, um ihre Schichten zu fahren. Wer trotzdem zur Arbeit erschien, schaffte oft nur einen Bruchteil der gewohnten Leistung. 3600 Kilokalorien pro Tag galten als Grundbedarf, aber nur 700 bzw. 1200 Kalorien hatten die Bergleute in Essen bzw. Buer nach Untersuchungen der Besatzungsmacht damals durchschnittlich zur Verfügung. 557 Entsprechend gering war die tägliche Förderleistung je Arbeiter: ca. 350 kg im Schnitt im Juli 1945 gegenüber etwa 1500 kg 1938. Auch die starken Verluste bei der Stammbelegschaft und deren Überalterung um etwa 10 Jahre schlugen hier zu Buche. 558 Zwar war die arbeitstägliche Ruhrkohlenförderung, die 1938 bei über 400.000 to gelegen hatte, bereits ab Mitte 1944 um etwa die Hälfte zurückgegangen. Nach der Besetzung aber brach sie mit etwa 10.000 to arbeitstäglicher Förderung im April 1945 faktisch zusammen. 559 Waren die Alliierten hinsichtlich der Wiederankurbelung des Kohlebergbaus zunächst noch recht optimistisch gewesen, so mußten sie schon in den ersten Monaten nach der deutschen Kapitulation erkennen, daß Europa auf eine Kohlekatastrophe ungeahnten Ausmaßes zutrieb. Zum schrillsten Alarmsignal für die Regierungen in London und Washington wurde die Bestandsaufnahme zur "Kohlesituation in Nordwesteuropa", die von dem Amerikaner Potter und dem Briten Lord Hyndley am 7.Juni 1945 vorgelegt wurde. 560 Der Bericht ihrer Expertenkommission, deren Einsetzung auf eine Initiative des Combined Production and Resources Board zurückging 561 , enthielt nämlich die lapidare Prognose: "Falls nicht sofort drastische Maßnahmen ergriffen werden, wird es im Winter in Nordwesteuropa und im Mittelmeerraum zu einem so einschneidenden Kohlemangel kommen, der jeden Anschein von Gesetz und Ordnung zerstören und so jeglichen Ansatz zu einer leidlichen Stabilisierung verzögern wird." Die einzige Chance, die drohende wirtschaftliche und politische Katastrophe abzuwenden, bestehe darin, die Förderung von Kohle in Westdeutschland und deren Export mit "ganz außergewöhnlichen Maßnahmen" zu stimulieren. Diesem Ziel müßten die Alliierten - ausgenommen nur die Sicherheit der eigenen Truppe die höchste Priorität überhaupt beimessen. Voraussetzung jeder Produktionssteigerung sei eine Steigerung der Tagesrationen für die Kumpel. Und noch eine zweite, ebenso realistische Empfehlung richtete die Potter-Hyndley-Mission an die für das besetzte Deutschland verantwortlichen Politiker und Militärs: "Das erfahrene deutsche Management", hieß es in ihrem Bericht, "ist am besten dazu geeignet, ein deutsches '" "Investigation of Rations for Coal Miners", Bericht eines Nutrition Officer der U.S. Army v. 19.5. 1945; NA, RG 332, ETO, ComZ, Advance Seetion, Office of the Surgeon, Box 10. ". "Überlegungen zur Wirtschaftslage", Bericht von Hans-Günther Sohl für den Düsseldorfer Oberpräsidenten Lehr v. 10.11. 1945; Mannesmann-Archiv, M 12.923. 5" Zahlen und Statistiken zum Vorhergehenden bei: Milert, Verschenkte Kontrolle, S. 112. "Die Wirtschaft" (Berlin), Nr. 6, September 1946. Protokoll der Vorstandsbesprechung der Vereinigten Stahlwerke am 12.6. 1945; Thyssen-Archiv, A/5744. 560 "The Coal Situation in North West Europe", Report by Potter/Hyndley Mission to North West Europe, June 1945; NA, RG 331, 463.3 Coal, vol. 1lI/1945. Vgl. dazu: Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 26 ff. Donnison, Civil Affairs, S. 404 ff. Ziemke, U.S. Army, S. 275 f., S. 346. 561 Donnison, Civil Affairs, S. 404.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Bergwerk zu leiten. Die deutschen Führungskräfte auf den Zechen sind nachgerade darauf versessen, ihre Kooperationsbereitschaft zu demonstrieren ... Wir legen besonderen Wert darauf zu unterstreichen, daß dieses Faktum maximal genutzt werden und die alliierte militärische oder zivile Kontrolle weitestgehend darauf beschränkt werden sollte, den politischen Rahmen abzustecken, dem Grubenmanagement Hilfestellung zu geben sowie gemeinsam mit anderen Stellen Zuteilungen, Verteilung und allgemeine Sicherheitsfragen zu koordinieren." Obgleich in dieser Empfehlung der realistische und konstruktive Pragmatismus aufschien, von dem sich die amerikanische und britische Militärverwaltung seit den ersten Tagen der Besetzung im Herbst 1944 leiten ließ, war der Potter-Hyndley-Bericht alles andere als ein Aufruf zur uneigennützigen Fürsorge und zum Laissez-faire im Bergbau. Die Kommission zeigte lediglich den zweckmäßigsten Weg, wie die deutschen Kohleressourcen rasch für die ökonomische und damit auch politische Stabilisierung der befreiten westeuropäischen Länder nutzbar gemacht werden konnten. Dr. Potter und Lord Hyndley betonten in ihren Empfehlungen sogar ausdrücklich, die Alliierten müßten versuchen, ihr Ziel - 10 Millionen Tonnen Kohleexport bis Ende 1945, weitere 15 Millionen bis zum 31. März 1946 - "ohne Rücksicht auf die Folgen für Deutschland" und dessen Binnenwirtschaft zu realisieren. Auch vor möglichen Konsequenzen verschlossen sie die Augen nicht, vielmehr präsentierten sie ein nüchternes Kalkül: Die Kohleknappheit und die mit ihr einhergehende Arbeitslosigkeit könne überall in Europa zu Unruhen führen. Besser sie brächen im besetzten Deutschland als anderswo aus. Denn: "Sollte es notwendig werden, die Ordnung durch Schußwaffengebrauch aufrechtzuerhalten, dann kann das am besten noch in Deutschland geschehen." Einkalkulierte mögliche Konsequenzen wie diese können freilich nicht davon ablenken, daß von der Strategie einer Stabilisierung Westeuropas durch Ruhrkohle auch für die Ruhr selbst (und darüber hinaus das alliierte Kontrollgebiet generell) stabilisierende Impulse ausgehen würden. Präsident Truman, den die Nachrichten aus Europa stark beunruhigten, folgte am 20.Juli 1945 mit einer Anweisung an General Eisenhower der Potter-Hyndley-Empfehlung zur maximalen Produktionssteigerung im Bergbau. 562 SHAEF importierte freilich bereits im Juni 1945 und dann in den beiden folgenden Monaten Hunderttausende Tonnen Getreide in das Besatzungsgebiet. 563 Das war schon deswegen lebensnotwendig, weil in Deutschland viel, wenn nicht alles am "Kohle-Nahrungsmittel-Zyklus"564 hing: Keine wirtschaftliche Stabilisierung und Erholung ohne Ruhrkohle, keine ausreichende Förderung ohne adäquate Lebensmittelversorgung der Bergleute. Vor allem aber - darauf hatte Kriegsminister Stimson Truman schon Anfang Juli 1945 hingewiesen 565 - würde eine Forcierung der Bergbauindustrie nur bei Belebung auch der meisten anderen deutschen Wirtschaftszweige möglich sein. Wäre der Einfluß der "hard peace"-Verfechter in der amerikanischen Administration nicht schon vor Kriegsende gebrochen gewesen 566 , spätestens der Potter-Hyndley-Bericht von Anfang Juni 1945 hätte ihre Philosophie definitiv ruiniert. JCS 1429 v. 26.7.1945; NA, RG 260, AGTS 87/1-13. Ziemke, V.S. Army, S. 275. '64 John E. Farquharson, The Western Allies and the Politics 01 Food. Agrarian Management in Postwar Germany, Leamington 1985, S. 28. ,., Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 26 I. '62
'6'
'66
Vgl. 1/5.
2. Wirtschaft und Besetzung
549
Für die U.S. Army war die Entscheidung ihres Präsidenten zur Kohlepolitik die Bestätigung eines Kurses, den sie seit der Besetzung des Aachener Steinkohlereviers im Herbst 1944 ungeachtet restriktiver Richtlinien ohnehin gesteuert hatte. Es war immer ihr Ehrgeiz gewesen, die Gruben umgehend instandzusetzen und zu maximaler Förderleistung zu bringen. Stand ab Sommer 1945 der Imperativ "Ruhrkohle für Europa!" dahinter, so lautete er in den Monaten zuvor "Kohle für den Sieg!" Die Invasionsarmee der Alliierten verbrauchte jeden Monat "mehrere hunderttausend Tonnen Kohle für rein militärische Zwecke", wie der verantwortliche Offizier in seiner Bilanz zum Jahresende 1944 festhielt: "Kohle ist in diesem Krieg für das Funktionieren der Militärmaschine von lebenswichtiger Bedeutung."567 Da Eisenhower zugleich darauf zu achten hatte, daß Kohleimporte auf ein Minimum beschränkt blieben, war die Marschroute der Army vorgegeben. Bereits Ende 1944 hatte der für die Kohleförderung zuständige Stab ungefähr 1000 Tonnen allein an Reparaturmaterialien aus Armeebeständen dafür in deutsche Bergwerke gepumpt. SHAEF, G-4, tat das trotz der geltenden "Politik", nichts zur Rehabilitierung der deutschen Wirtschaft zu unternehmen, zwar nicht ganz ohne schlechtes Gewissen, aber doch "in dem Glauben", wie der Direktor der alliierten Solid Fuels Section zu einem Mitarbeiter Robert Murphys sagte, "daß der Bedarf an deutscher Kohle für das restliche Europa groß genug ist, um das zu rechtfertigen"568. Die Argumentation mit dem Kohlemangel in den befreiten Ländern empfahl sich immer, selbst wenn es einstweilen nur um den Bedarf der Armee ging. Rückblickend beschrieb das Hauptmann Eimer K. Newman, der seit Herbst 1944 im Aachener Revier Kohle für die Army zu beschaffen hatte, so: "Die Bereitstellung von 5000 Tonnen Lokomotivkohle unter Heranziehung deutscher Einrichtungen und deutschen Personals, die mit dem Beginn der Bahntransporte in Deutschland einsetzte und bis zum Ende der Feindseligkeiten anhielt, war ein großer Beitrag zur Schlußoffensive und zum Sieg. Diese Kohle war nirgendwo anders zu bekommen. Deutsche Manager und Arbeiter hatten einen Anteil daran, den niemand anderes hätte erbringen können."569 Im Ruhrrevier, wo das alliierte Kohlemanagement vor einer ungleich größeren Herausforderung stand, war die deutsche Kooperationsbereitschaft genauso ausgeprägt wie auf den Zechen um Aachen. Angesichts der dramatischen Kohlekrise war amerikanischen und britischen Bergbauoffizieren immer bewußt, daß sie scheitern mußten, wenn sie sich nicht des deutschen Managements bedienten. Die Zusammenarbeit mit dem führenden Bergwerkspersonal, so faßte die Army bereits im Mai 1945 ihre Erfahrungen nach den ersten Wochen im Revier zusammen, sei für sie "die einzige Möglichkeit", rasch an die notwendigen Informationen zu kommen und die nötige administrative und technische Unterstützung zu erhalten. "Wegen der Größe der deutschen Kohleindustrie wird diese Politik in ziemlichem Umfange beibehalten werden müssen." Die Unterstützung der Deutschen sei leicht zu bekommen, weil sie in deren eigenem Interesse
'.7 '.8 '69
SHAEF, G-4, Current Operations Branch, Solid Fuels Section, Semi-Annual Report v. 8. l. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-4, 319.1. "Labor and Social Aspects 01 Military Government in Western Germany, October 1944 - January 1945", Bericht Louis A. Wiesners in der Anlage zum Schreiben Murphys an das State Department v. 26. 1. 1945; NA, RG 59, Control (Germany) /1-2645. "Coal Mine Operation under Direction of Military Government, Aachen Distriet", Bericht von EImer K. Newman, Detachment F1G2, v. 14.6. 1945; NA, RG 331,627. ECAD, 2nd ECAR, F1G2 Material, Jacket Nr.3.
550
V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
liege. "Naturgemäß sind sie sehr darauf bedacht, ihre Gruben zu reaktivieren und damit ihren Einfluß und ihre Privilegien zu erhalten. Zu gegebener Zeit wird es freilich nötig sein, einen Teil dieser Leute auszusondern, denn viele von ihnen waren Nazis, teils aus Überzeugung, teils weil sie es für notwendig hielten."57o In dem Vierteljahr zwischen der Besetzung des deutschen Kohlereviers im April und der Auflösung des Alliierten Oberkommandos im Juli 1945 war die Rhine Coal Control (RCC) mit ihren zahlreichen "Mine Detachments" für die Aktivierung des Bergbaus und der Kohleproduktion zuständig, eine mit amerikanischem und britischem Personal besetzte "Field Organization" von SHAEF, deren Kontrolle am 17. Juni bereits an die britische 21. Armeegruppe überging und im darauffolgenden Monat dann von der britischen North German Coal Control (NGCC) mit Sitz in der Villa Hügel abgelöst wurde. 57l Die Verteilung der Kohle regelte bis zur Auflösung des Oberkommandos die German Sub-Section (GSS) von SHAEF, G-4, Solid Fuels Section. Die Rhine Coal Control, die Anfang April ihre Arbeit aufnahm, war "hastig, unter dem Druck der rasch wechselnden Gegebenheiten des Krieges"572 gebildet worden. 573 Sie hatte die Aufgabe, unmittelbar nach der Besetzung den Zustand der Gruben zu erkunden, für ihre Wiederinbetriebnahme zu sorgen und den Abtransport der Kohle gemäß den Verteilungsplänen von SHAEF zu organisieren. Zu diesem Zweck richtete RCC acht "Coal Districts" ein, fünf davon im Ruhrgebiet, einen im Aachener Revier (Co al District Nr. 6), einen im Kölner Braunkohlegebiet (Nr. 7) und einen im mitteldeutschen Raum (Nr. 8). Zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation arbeiteten in speziellen Detachments, Pionier-, Transport- und Fernmeldeeinheiten, als Dolmetscher, Ingenieure und CIC-Kräfte nicht weniger als 3195 Soldaten und Zivilisten (1478 von ihnen Amerikaner) unmittelbar für die Ankurbelung der Steinkohle- und Braunkohleförderung. 574 RCC selbst unterschied drei Phasen ihrer Tätigkeit. Die am Tage der Besetzung beginnende erste Phase galt der Etablierung der alliierten Kontrolle und, wo nötig, einer notdürftigen Grundinstandsetzung. Die zweite Phase ab Mitte Mai sah erste Förderungen vor, um "den Bedarf der Armee und ein Minimum an zivilem Bedarf zu dekken". In einer späteren Phase III sollte die Kohleproduktion dann den deutschen Bedarf und den Export in die nordwesteuropäischen Länder decken. Um die verfügbaren Energien auf die produktivsten Anlagen zu konzentrieren, unterteilten die Bergbauoffiziere die von ihnen bis Mitte Mai 1945 inspizierten 218 Zechen in drei Kategorien. Etwa 25 Prozent davon fielen in "Class A", jene Gruben, in denen die Förderung so>70
"Progress Report on German Coal Mine Operations" der Engineer Seetion, Advance Sec ti on, Communications Zone, an den Kommandierenden General, Communications Zone, v. 20. 5.1945; NA, RG 332, ETO, Communications Zone, Advance Section, Engineer Branch, Progress Reports on German Coal Mine Ope-
571
Vgl. Donnison, Civil Affairs, S. 397 ff., und Milert, Verschenkte Kontrolle, S. 107 f. "Report on Visit to Ruhr Coal Mining Area June 5 to June 11, 1945", Bericht der Solid Fuels & Non-Metallic Mining Branch an James Boyd, Direktor der Production Control Ageney, G-4, SHAEF, v. 16. 6. 1945; NA, RG 331, 463.3 Coal, vol. 1lI/1945. Nach längerer Planung erging der SHAEF-Befehl zur Bildung der RCC am 27.3. 1945. Vgl. das RCC-Beriehtsfragment ("German Coal Mines") von Juni 1945; NA, RG 407, 97C21 - RCDT - 0.1. Zum folgenden ebenda. "Progress Report on German eoal Mine Operations", Bericht der Advance Section, Communications Zone, Engineer Seetion, v. 20. 5. 1945; NA, RG 332, ETO, Advanee Seetion, Engineer Braneh. Aueh zum folgenden.
rations. 572
57J
514
2. Wirtschaft und Besetzung
551
fort wieder aufgenommen werden konnte; zur Klasse B, etwa 45 Prozent, gehörten die Bergwerke, die "besetzt" und so rasch wie möglich für die Wiederaufnahme der Produktion vorbereitet wurden. 30 Prozent zählten zur Kategorie C, bei denen aus praktischen Gründen von einer raschen Instandsetzung und Inbetriebnahme abgesehen wurde. Die desolate Gesamtsituation des Bergbaus erlaubte trotz intensiver Anstrengungen von deutscher und alliierter Seite freilich nur bescheidene Fortschritte. Mitte Mai förderten unter der Aufsicht der Rhine Coal Control insgesamt 115, Mitte Juni 152 Steinkohle- und Braunkohlegruben. Doch bis zum Sommer verbrauchten die Zechen mehr als 90 Prozent ihrer Förderung für den Eigenbedarf. Mitte Mai betrug die NettoTagesleistung bei Steinkohle durchschnittlich 10.000 to, Ende Mai ca. 20.000 to, und Mitte Juni, als der Ruhrbergbau unter britische Aufsicht kam, förderten 117.000 Kumpel etwa 25.000 Tonnen (1938 waren es täglich knapp 450.000 tO).575 Zu diesem Zeitpunkt standen mehr als 5200 Offiziere und Mannschaften im Dienst der Rhine Coal Contro!. Mitte Juni setzte auch ein erster, noch lächerlich niedriger "Export" ein. So gingen am 9. Juni beispielsweise 177 to Steinkohle nach Frankreich, am 10. Juni 1239 to, am 12. Juni 115 to und am 13. Juni 1012 tO. 576 Die Bilanz der Anstrengungen im Ruhrrevier seit der amerikanischen Besetzung fiel aus objektiven Gründen so mager aus, nicht weil sich irgendwer in der Besatzungsverwaltung an das "Verbot" gehalten hätte, irgendwelche Schritte zur ökonomischen Rehabilitierung Deutschlands zu unternehmen. Praktischer Sinn und schierer Mangel hatten die Offiziere der Militärregierung vielmehr seit dem Einmarsch dazu bestimmt, alle Hebel für die rasche Ingangsetzung der Kohleförderung in Bewegung zu setzen. Ab dem 2. August 1945 wurde es auch offizielle britische Politik, "allem, was Produktion und Transport deutscher Kohle maximiert, oberste Priorität einzuräumen"577. Noch war freilich völlig offen, ob die im Hyndley-Potter-Bericht beschworenen Gefahren für Europa gebannt werden konnten oder nicht. Ganz anders als die Eisen- und Stahlindustrie schien der deutsche Kohlebergbau jedenfalls im Sommer 1945 von den Besatzungsmächten freie Fahrt und jede Unterstützung zu bekommen, die er brauchte. Demgegenüber war die Zukunft von Eisen und Stahl düster. Obwohl die Stahlmanager an der Ruhr die Wiederinbetriebnahme ihrer Werke mit großem Elan betrieben, tauchten noch im Mai 1945 Indizien dafür auf, daß die alliierte Militärverwaltung den bruchlosen Übergang der Eisen schaffenden Industrie von der Rüstungswirtschaft zur Friedensfertigung weniger energisch zu befürworten schien als diese selbst. Ähnlich wie kurz zuvor schon der Aufsichtsrat der Vereinigten Stahlwerke, mußte auch Krupp-Chef Houdremont Mitte Mai feststellen, daß "die Dinge nicht so glatt laufen wie man es gerne möchte"578. In einer Runde mit führenden Männern von Mannesmann, Gelsenberg, Harpen und der Gutehoffnungshütte beklagte er die höchst unterschiedliche Haltung der Kommandeure in den einzelnen Bezirken 579 , und der Leiter der Wirtschaftskammer Essen sah sich Ende Mai 1945 zu 575 576 577
57'
579
Wiesendanger, Die Ruhrkohle in der westeuropäischen Kohlenwirtschaft 1945-1949, S. 3. Vgl. zu den Zahlen die "Daily Situation Reports" der RCC; NA, RG 407, 97-C22-3.1. So die britische Direktive an Feldmarschall Montgomery v. 2. 8.1945; vgl. Donnison, Civil Affairs, S. 414. Vgl. den Eintrag v. 12.5. 1945 im Tagebuch Funkmann, Rheinhausen; Krupp-Archiv, WA 70/04001. Vgl. auch die Niederschrift über die VSt-Aufsichtsratssitzung am 8. Mai 1945; Thyssen-Archiv, A/5526. Besprechung bei Krupp am 11. Mai 1945, Aktenvermerk des stellvertretenden Generaldirektors der G HH v. 14.5. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/16.
552
V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
der Bemerkung veranlaßt, bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen habe sich der Kommandant in seinem Bezirk als "sehr schwerfällig" erwiesen. 58o Vor dem Hintergrund der optimistischen deutschen Erwartungen waren das zwar schon recht unliebsame, aber keine bedrohlichen Anzeichen. Sechs Wochen nach dem Einmarsch der U.S. Army ließen sich solche Unzuträglichkeiten noch den Startschwierigkeiten der Militärverwaltung oder einfach der Dickfelligkeit eines Teils des Besatzungspersonals zuzuschreiben. Ende Mai 1945 kam dann eine Direktive der britischen Militärverwaltung für den Regierungsbezirk Düsseldorf (hier waren etwa zwei Drittel der Eisen schaffenden Industrie konzentriert) heraus, die diese leidigen Mängel endlich zu beheben schien. Die Richtlinien erschienen rechtzeitig zur Übernahme des Ruhrgebietes durch die Briten im Laufe des Juni. Die an die einzelnen Landkreis-Detachments des Bezirkes Düsseldorf gerichtete britische Anweisung 581 sollte der "wirksamen Kontrolle und Lenkung der Ankurbelung von Handel und Industrie" dienen. Sie regelte das Lizenzierungsverfahren für die Wiedereröffnung der Betriebe, bei dem die Handelskammern und insbesondere das Landeswirtschaftsamt maßgeblich mitzuwirken hatten. Neben dem vergleichsweise geringen Prozentsatz von Firmen, die unmittelbar für die Besatzungsmacht arbeiteten, wollte die britische Militärverwaltung vorrangig "Fabriken mit lebenswichtiger Produktion" ingangsetzen. 582 Dazu zählten Betriebe, die Lebensmittel, Seife, medizinische Artikel, Brenn- und Schmierstoffe, Düngemittel und Kleidung herstellten sowie jene Betriebe - und dies war ein für die Eisen- und Stahlkonzerne erfreulicher Passus -, die "Rohstoffe, Anlagen, Maschinen und Apparaturen" produzierten, "die von Firmen der vorgenannten Industrien benötigt werden". Neben einer Reihe weiterer Bestimmungen fand sich in der Direktive aber auch der ominöse Nebensatz, die großen Konzerne ("z.B. Krupp") könnten eventuell Gegenstand "besonderer Behandlung" sein. Die britischen Richtlinien waren nun zwar kein in sorgfältigen Überlegungen gereiftes Dokument, doch nach den zurückliegenden Wochen der Unübersichtlichkeit und Unklarheit waren sie ein auf deutscher Seite mit Erleichterung aufgenommenes Zeichen dafür, daß die Besatzungsverwaltung sich zu konsolidieren begann. Die Betriebe bei Eisen und Stahl konnten nun, da ein authentisches Schriftstück vorlag, mit gutem Grund darauf hoffen, daß auch sie von der britischen Militärregierung zu dem Kreis von Firmen mit "lebenswichtiger Produktion" gezählt werden würden. Konzerne wie Krupp sahen sich jetzt gezwungen, ihre Taktik aufzugeben, die noch von den Amerikanern erteilten Aufräumungs- und Instandsetzungsgenehmigungen unter der Hand auszuweiten und beinahe wie Produktionslizenzen zu betrachten. Es war nämlich bald bekanntgeworden, daß nach dem 15. August 1945 kein Industriebetrieb mit mehr als 25 Beschäftigten ohne das offizielle britische "Permit" weiterproduzieren
'.0 5"
5.2
"Besprechung der Wirtschaftskammer Essen in Werden a.d. Ruhr am 29. 5. 194Y'; WWA Dortmund, KI, Nr. 3056. Direktive der Trade & Industry Division des Military Govemment Detachment 318/9 für den Reg.-Bez. Düsseldorf an alle Landkreis-Detachments ("Grundsätze und Richtlinien"), Ref.Nr. 318/612, v. 25. 5. 1945; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Zu Einzelheiten vgl. Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 82ff. Möglich war an sich auch eine Wiedereröffnung von Betrieben, die über genügend eigene Rohstoffvorräte verfügten, doch wurde diesen in der Direktive wenig Hoffnung gemacht, da ihre Vorräte "gänzlich oder teilweise" von Betrieben der bei den vorrangigeren Kategorien in Anspruch genommen werden müßten.
2. Wirtschaft und Besetzung
553
dürfe. 583 Auch die Fried. Krupp, der es, nachdem ihr die Essener Handelskammer Anfang Juni die noch unveröffentlichte Direktive zur vertraulichen Kenntnisnahme überlassen hatte, zunächst opportun erschienen war, "von einem besonderen Antrag auf Wiedereröffnung unserer Betriebe abzusehen"584, begab sich schließlich wie die anderen Eisen- und Stahlunternehmen des Reviers auf den vorgeschriebenen Weg. Der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums überbrachte den Antrag seiner Firma dem Chef des britischen Detachments in Düsseldorf (der ihn nur ganz kurz "überflog") am 25. Juni 1945 persönlich. 585 Zur Flankierung des Gesuches erschien es dem Essener Konzern ratsam, in der Folge eine ganze Serie von Einzelanträgen für verschiedene seiner Werke nachzureichen. 586 Die Thyssenhütte in Duisburg-Hamborn verfuhr ebenso. 587 (Die Duisburger Handelskammer versah diese Papiere stereotyp und regelmäßig mit Befürwortungen wie "Die Wiederaufnahme der Stahlerzeugung liegt im allgemeinen Interesse.") Der Antrag der Gutehoffnungshütte ging am 11. Juni 1945 hinaus. 588 Bis zu diesem Tag liefen bei der GHH lediglich zwei Hochöfen für die Gaserzeugung. 589 Im größten Hüttenwerk des Reviers, der Thyssenhütte, waren ebenfalls nicht mehr als zwei Hochöfen in Betrieb ("mehr als Gaserzeuger als als Roheisenerzeuger"590); Hoesch in Dortmund hatte bis zum Sommer 1945 noch keine einzige Tonne Roheisen produziert. 59l Ende Juni, Anfang Juli waren die Hoffnungen, die die Eisen schaffende Industrie mit der allmählichen Konsolidierung der alliierten Militärverwaltung in Deutschland, mit der festen Etablierung der britischen Besatzungsmacht sowie den Auswirkungen der von dieser herausgegebenen Industriedirektive verband, bereits wieder geschwunden. Pessimismus begann sich auszubreiten, denn von den Trade & Industrie-Richtlinien hatten vor allem die kleineren Firmen profitiert. In den Konzernvorständen konnte man nun kaum mehr die Augen vor der Tatsache verschließen, daß die Eisenund Stahlindustrie eine Ausnahmebehandlung zu gewärtigen hatte. Offenbar, so begann sich nunmehr die Erkenntnis auszubreiten, waren es überhaupt nicht die Anfangsschwierigkeiten der Besatzungsmächte in Deutschland, die dafür verantwortlich waren, daß der lang erwartete Startschuß für die Stahlindustrie nicht fallen wollte. Für die verschleppte Ingangsetzung schien es viel gefährlichere, nämlich politische Gründe zu geben. Ende Juni 1945 hörte man in einer gemeinsamen Tagung der Industrie- und Handelskammern des Regierungsbezirkes Düsseldorf bereits das drastische Verdikt von 5" Vgl. das Schreiben des Landeswirtschaftsamtes Düsseldorf an die Industrie- und Handelskammern v. 4. 7. 1945; RWWA Köln, 28-392 (22a2).
5" Niederschrift einer Besprechung zwischen Vertretern von Krupp und der Industrie- und Handelskammer
5" 586 587
588
589 590
591
Essen am 2.6. 1945; Krupp-Archiv, WA 47 (227). Vgl. den Antrag v. 25. Juni 1945 und die Besprechung bei der Militärregierung, an der auch der Leiter des Landeswirtschaftsamtes teilnahm, am selben Tag; ebenda. ' Vgl. den Krupp-Tätigkeitsbericht für 1945/46 vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Vgl. z. B. die verschiedenen Anträge der August Thyssen-Hütte; Thyssen-Archiv, A/9367. Dort auch die Empfehlungen der IHK Duisburg. Schreiben der GHH an das Landeswirtschaftsamt Düsseldorf v. 11. 6. 1945 ("Reopening of our iron- and steel-works"); Haniel-Archiv, 400 10 15/0. "Gutehoffnungshütte 1935-1945", undatierter Überblick; Haniel-Archiv, 4090/29. Aktennotiz der August Thyssen-Hütte über den Besuch einer amerikanisch-britischen Kommission in dem Werk v. 25.7. 1945; Thyssen-Archiv, A/5144. Vgl. die Ansprache des Hoesch-Vorstandes F. W, Engel vor den Geschäftsleitungen und Betriebsvertretungen des Konzerns am 25. 10.1946; WWA Dortmund, K I, Nr. 2607.
554
V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
der "Verweigerung der Ankurbelung der Eisenindustrie"592. Die Kammer des bedeutendsten deutschen Stahlstandortes, die IHK Duisburg, zog Anfang Juli 1945 ebenfalls ernüchtert Zwischenbilanz. In einem umfassenden Bericht für die Militärregierung stellte sie fest, nach Erledigung eines Großteils der Aufräumungs- und Instandsetzungsarbeiten könne in den industriellen Werken jetzt "die eigentliche Erzeugung beginnen". Ein Haupthemmnis für deren betriebliche Disposition liege "in der Unsicherheit, ob und in welchem Umfang sie ihre Erzeugung werde aufnehmen dürfen". Bei stärker beschädigten Werken sei es "bei der Ungewißheit der gegenwärtigen Lage kaum möglich zu entscheiden, in welchem Ausmaß sie noch Arbeitskräfte, Material und Kapital in die Instandsetzung stecken sollen". Es bestehe die Gefahr einer "nicht zu verantwortenden Vergeudung" von Kapital und Material, falls die Genehmigung zur Wiederinbetriebnahme dann ausbleibe. Die Industrie- und Handelskammer Duisburg appellierte mit den folgenden Worten an die britische Militärregierung: "Nach dem verlorenen Krieg und nach allem, was in den letzten zwölf Jahren geschehen ist", schrieb sie, "kann das deutsche Volk beim Wiederaufbau nicht auf auswärtige Hilfe rechnen; es ist auf eigene Arbeit und eigene Entschlußkraft angewiesen. Die deutsche Wirtschaft steckt aber zur Zeit noch in einem circulus vitiosus. Die Lähmung des einen Industriezweiges bringt die eines anderen mit sich, und jede Beschränkung der Gesamtproduktion hat Gefahren für das Einzelunternehmen zur Folge. Die Sprengung dieses verhängnisvollen Zirkels ist nur möglich durch einen einmaligen großzügigen Impuls. Dieser kann aber nur in der Freigabe deutscher Initiative und in voller Ausnutzung der zweifellos noch vorhandenen, jetzt aber durch viele Umstände gelähmten Lebenskraft des deutschen Volkes auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und geistigen Lebens bestehen."593 Der Sommer 1945 brachte den Industrieführern im Revier dann die Gewißheit, daß jene eigentümliche, in den Wochen der amerikanischen Besetzung noch von Zuversicht und einer beiderseitigen pragmatischen Kooperationsneigung gekennzeichnete Atmosphäre stark abgekühlt war. Der im "Durchwursteln" der provisorischen örtlichen Militärverwaltungen enthaltene und von der Industrieelite genutzte Bewegungsspielraum schien um so schneller zu schwinden, je besser die britische Militärregierung im Revier Fuß faßte. Die hohe alliierte Politik, von der noch nicht bekannt war, worauf sie hinauslaufen würde, begann erste Schatten zu werfen. In direktem Kontakt zu den Dienststellen der Besatzungsmacht am Ort war immer weniger auszurichten. Im Juli wurde dann bekannt, daß alle Entscheidungen über das Schicksal der Stahlkonzerne von einem eigens eingesetzten Gremium gefällt werden würden. 594 Es blieb nun kaum eine andere Wahl, als die Verfügungen dieses neuen Instruments der alliierten Siegerrnächte abzuwarten, einer Kommission, die zwar in der Villa Hügel residierte, für die deutschen Industrieführer deshalb aber nicht weniger fern und unbeeinflußbar war. Einigermaßen entmutigt bemerkte ein Direktor der Deutschen Röhrenwerke in einer Betriebsbesprechung Ende Juli, die Aussichten auf eine schnelle Erledigung des Antrages auf Wiederinbetriebnahme seien "wieder unklar geworden", weil
592 593
594
Vgl. die Besprechung v. 22.6. 1945; Industrie- und Handelskammer Düsseldorf, 112-21. Nr. Ol. "Bericht der Industrie- und Handelskammer Duisburg über die Wirtschaftslage im Stadtbezirk Duisburg (Stand:JunilJuli 1945)"; RWWA Köln, 20-1608-2. Vgl. das Protokoll zu der Sitzung des "Hüttenausschusses" in Essen am 24.7.1945; Thyssen-Archiv, A/5744.
2. Wirtschaft und Besetzung
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die bisher maßgebliche britische Behörde in Düsseldorf aufgelöst worden sei und sich in Essen jetzt eine "englische Stahlkontrollstelle" niedergelassen habe. 595 Als unangenehmen Vorboten des frischen Windes, der sich nun zu erheben schien, empfand offenbar auch die Werksleitung der Thyssenhütte den Besuch von "drei britischen und drei amerikanischen Herren" am 24. Juli, die nach einer internen Aktennotiz zu dem Stab gehörten, der "für das gesamte besetzte britische Gebiet die Führung in Stahlfragen inne hat". Diese Experten zeigten sich nicht nur davon überrascht, daß der Direktor der Hütte auswärts zu einer Vorstandsbesprechung der Vereinigten Stahlwerke weilte, aus ihren Ausführungen war auch zu entnehmen, daß sich die ersten Maßnahmen der Steel Commission "wohl in erster Linie auf die Mobilisierung der Bestände erstrecken werden und daß vorläufig mit einer Anlaufgenehmigung für die Stahlerzeugung nicht zu rechnen sein wird". Die visitierenden Herren stellten noch die eine oder andere "erstaunliche Frage" und erklärten schließlich, hinsichtlich der Inbetriebnahme der Werke könnten sie keine Angaben machen. 596 Ganz wie es der Chef von Krupp schon zuvor vermutet hatte (es befasse "sich augenblicklich scheinbar das englische Kabinett mit der Frage unserer Beschäftigung"), teilte Rohland den Gesellschaften der Vereinigten Stahlwerke Ende Juli - in Potsdam ging die Konferenz der Großen Drei zu Ende - mit, die Wiederingangsetzung der Produktion hänge "von einer Entscheidung ab, die in den nächsten Tagen in London gefällt werden 5011"597. Ein Vierteljahr war seit der amerikanischen Besetzung des Ruhrgebietes vergangen, ehe die deutsche Industriespitze im Revier zu der Erkenntnis gefunden hatte, daß die - wie sie es sahen - "Verweigerung" der Wiederankurbelung von Eisen und Stahl nicht den Unzulänglichkeiten untergeordneter Detachments, sondern dem Kalkül hoher Politik entsprang. Aber die hieran anknüpfende Auffassung - sie paßt in das Bild einer über Pläne und Politik der Alliierten seit 1943/44 ausnehmend schlecht informierten deutschen Industrieelite - ging erneut in die Irre. In den Augen der Vorstände der Ruhrindustrie hatte nämlich das steinige Stück auf dem Wege zur Produktionsgenehmigung erst begonnen, nachdem die Amerikaner das Ruhrgebiet an die britische Besatzungsmacht übergeben hatten. Also machten sie in erster Linie die Engländer dafür verantwortlich, daß Eisen und Stahl von den Siegern am Boden gehalten wurden. Diese Optik, in der die Amerikaner gewissermaßen in Abwesenheit entlastet wurden, hat mit zur Entstehung der in der Nachkriegszeit bis in die wissenschaftliche Literatur hinein wirkenden Legende 598 beigetragen, hinter der alliierten Stahlpolitik habe das britische Interesse gestanden, die deutsche Konkurrenz zu beseitigen. Bezeichnenderweise wollte Walter Rohland bereits in den ersten Verhandlungen mit den britischen Stahldienststellen im Juli 1945 erkannt haben, daß seine Gegenüber, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, "nur die Vernichtung der deutschen
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Aktenvennerk über eine Betriebsbesprechung des Mülheimer Werkes Thyssen am 25. 7. 1945; Mannesmann-Archiv, R 15080. Aktennotiz v. 25.7. 1945 über den Besuch der Delegation der North German Iron and Stee! Contral v. 24.7. 1945; Thyssen-Archiv, A/5144. Aktennotiz über eine Direktionsbesprechung der Deutschen Röhrenwerke in Mülheim am 31. 7. 1945; Mannesmann-Archiv, R 15080. Das Houdremont-Zitat in der "Niederschrift über die Besprechung bei der Militärregierung in Düsse!dorf am 25. Juni 1945"; Krupp-Archiv, WA 42/227. Vgl. dazu Buchheim, Wiedereingliederung, S. 21 ff.
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Konkurrenz im Sinn hatten"599. Die Ansicht, daß die Briten und nicht die Amerikaner die Totengräber der Eisen schaffenden Industrie an der Ruhr gewesen seien, geht in wünschenswerter Deutlichkeit auch aus einem internen Bericht hervor, der bei Krupp nach den Jahren der Beschlagnahme, der Stillegung, der Demontage und Entflechtungen entstanden war: ,,Auf Grund der Befehle der amerikanischen Militärregierung wurde mit der Instandsetzung und mit der Ingangsetzung insbesondere von lebenswichtigen Betrieben wieder begonnen ... Wenn diese Arbeiten fortgesetzt worden wären, hätte man die Kriegsschäden in einigen Jahren überwinden können, wie das in den meisten anderen deutschen Unternehmungen der Fall war. Dieser Wiederaufbaupolitik wurde aber leider durch die englische Besatzungsmacht ein Ende gesetzt."600 Das vergleichsweise positive Image, das den Amerikanern bei den Industrieführern aus den wenigen Wochen einer "vernünftigen" Kooperation - mit der sie nach der Hitze der Kampfhandlungen nicht gerechnet hatten - offenbar noch lange angehaftet hat, mag keine schlechte Basis für die Anknüpfung einer freundschaftlicheren Zusammenarbeit in späteren Jahren gewesen sein. Trotz mancher unguter Vorahnungen fuhr die Veröffentlichung der Potsdamer Deklaration Anfang August 1945 wie ein Keulenschlag auf die maßgebenden Männer der Schwerindustrie herab. Was konnte Gutes kommen von einer Bestimmung, wie sie die Großen Drei unter B.12. ihres ,,Abkommens" beschlossen hatten: "In der kürzest möglichen Frist soll das deutsche Wirtschaftsleben dezentralisiert werden, um die gegenwärtige übertriebene Konzentration wirtschaftlicher Macht, wie sie in Kartellen, Syndikaten, Trusts und anderen monopolistischen Zusammenschlüssen zum Ausdruck kommt, aufzulösen." Offen am Tage lag jetzt auch, daß die Siegermächte den Maschinen- und Anlagenbestand an der Ruhr einem ungeheueren Aderlaß zuführen wollten; ein großer Teil der Reparationslieferungen würde an die Sowjetunion gehen. Von jetzt ab war jederzeit damit zu rechnen, daß die ersten Demontagetrupps in den Stahlwerken erschienen. Schon im September begann der Alliierte Kontrollrat entsprechend des von Stalin, Truman und Attlee erteilten Auftrags seine Beratungen über das künftige deutsche Industrieniveau, um auf dieser Basis dann Umfang und Art derjenigen maschinellen Anlagen festzulegen, die nach dem Wortlaut der Potsdamer Deklaration "für die deutsche Friedenswirtschaft nicht erforderlich sind und daher für Reparationen zur Verfügung stehen". Damit war die kurze Zeit des Optimismus und der Illusionen voriiber, die Industrieführer an der Ruhr mußten weit zuriickstecken, die Zielsetzungen von gestern, die volle Wiederinbetriebnahme der Hochöfen und Walzstraßen, erschienen im Lichte von Potsdam plötzlich weltfremd. Den Industriellen blieb wenig anderes zu tun als abzuwarten, welche Werke die Siegermächte von der Demontage ausnehmen wollten und welche von ihnen das begehrte "Permit" erhielten, im bescheidenen Rahmen einer "Friedensindustrie für den Eigenbedarf" (Deklaration von Potsdam) mitzuwirken. 601 Die Szene war verwandelt: Die Potsdamer Grundsätze übertrafen noch die bösesten Vorahnungen. '99 600
60'
Rohland, Bewegte Zeiten, S. 119 f. "Die Besetzung der Krupp-Werke nach Kriegsende", undatierter Bericht (vermutlich von 1949); KruppArchiv, WA 46 v 185. Hervorhebung von mir. Zu den Vereinbarungen von Potsdam eharles L. Mee, Die Teilung der Beute. Die Potsdamer Konferenz 1945, Wien 1977.
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Unter diesem düsteren Himmel entwickelte sich ab dem Spätsommer bald ein frostiges Klima. Am Tage, als die Konferenz der Großen Drei in Potsdam zu Ende ging, vermerkte ein leitender Mitarbeiter von Krupp Unfreundliches aus einem Gespräch bei der Militärregierung über die Erteilung der Arbeitsgenehmigung. "In unserem speziellen Falle", wurde ihm gesagt, "spiele der Firmenname natürlich eine sehr wichtige Rolle." Letzte Entscheidungen über eine generelle Inbetriebnahme könne die regionale Besatzungsverwaltung ohnehin nicht treffen, die Firma Krupp solle "aber schon zufrieden sein", daß sie einige Teilgenehmigungen im Bereich des Stahlbaus und der Instandsetzung erhalten habe. Auf die Bemerkung hin, die Firma werde in finanzielle Schwierigkeiten kommen, wenn bis Mitte August keine Entscheidung gefallen sei, replizierte der Offizier kalt, "daß es finanzielle Schwierigkeiten für die Firma Krupp doch wohl kaum geben könne''602. Eine Woche später bekam ein Direktoriumsmitglied auf dem Landeswirtschaftsamt zu hören, "im Anfang hätte eine große Aversion gegen Krupp bestanden"603, wenige Tage darauf bestätigte ihm in Iserlohn der Adjutant von General Berthier, dem britischen Kommandeur, daß das Schicksal von Krupp eine Frage der hohen Politik sei. Ein anderer Offizier im britischen Hauptquartier wiederum bedauerte, nicht sagen zu können, welcher Stelle der Krupp-Antrag augenblicklich vorliege. Auf die Frage des Krupp-Direktors, was die Firmenleitung noch zur Beschleunigung ihres Antrages tun könne, entgegnete ihm dieser: "Nichts"604. Von ihrer Widia-Hartmetallfabrik und einigen Ausbesserungswerkstätten abgesehen, setzten sich bei Krupp die Räder nicht mehr in Bewegung. Bereits Anfang 1946 begann die Demontage des für die UdSSR bestimmten Hochofenwerkes Borbeck. 605 Welchem Wechselbad die Besatzungsmacht die Hoesch AG in Dortmund ausgesetzt hatte, beschrieb der Vorstandsvorsitzende Friedrich Wilhe1m Engel 1946 in einer Rede vor Geschäftsleitungen und Betriebsvertretungen des Konzerns: Im Herbst 1945 habe die Hütte "nach monatelangem Bemühen" die Erlaubnis zur Produktionsaufnahme erhalten gehabt, sagte er. "Das war deswegen so schwierig, weil offenbar bei der ursprünglichen Planung Hoesch nicht unter den weiter zu betreibenden Werken vorgesehen war. Mit Erteilung des Permits wurde ein Zustand beendet, der je länger je mehr alle Kräfte bei uns lähmte ... Als dann am 17. September 1945 an uns das Gebot erging, die Wiederaufbauarbeiten einzustellen und die damit beschäftigten Arbeiter abzugeben, da war das der schwerste Schlag, der uns treffen konnte ... In dieser Lage wirkte jene Erlaubnis vom 23. November 1945 wie eine Erlösung, indem sie den lähmenden seelischen Druck von uns nahm."606 Silvester 1945 waren die Hochöfen I und II wieder angeblasen worden, doch dann, am 18. Oktober 1946, erhielt Hoesch den offiziellen Stillegungsbescheid. 607 Auch die Gutehoffnungshütte hatte um ihre Betriebsgenehmigung hart zu kämpfen 602 603
60'
60' 606 607
Aktenvermerk über ein Gespräch bei der Militärregierung am l. 8. 1945; Krupp-Archiv, WA 42/227. "Niederschrift des Herrn Eberhardt über eine Besprechung im Landeswirtschaftsamt am 9. August 1945"; ebenda. Vgl. die beiden Aktenvermerke Eberhardts über seine "Besprechung mit dem Military Govemment, SteelCommission, Iserlohn, am 13.8. 1945"; ebenda. Vgl. den Tätigkeitsbericht der Fried. Krupp für 1945/46 vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1200. Rede am 25. 10. 1946; WWA Dortmund, K I, Nr. 2607. Vgl. Horst Mönnich, Aufbruch ins Revier, Aufbruch nach Europa. Hoesch 1871-1971, München 1971, S.330.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
gehabt, doch bei diesem Konzern, der am wenigsten in dem Rufe nazifreundlicher Gesinnung stand, zeigte sich die britische Besatzungsmacht nach Potsdam ein wenig zugänglicher als bei den meisten anderen Großbetrieben. Am 12. September erteilte sie den Oberhausener Hüttenwerken die allgemeine Betriebgenehmigung60B , so daß dort im Oktober immerhin schon von einer zwar geringen, aber doch "geordneten Monatserzeugung" gesprochen werden konnte. 609 Aber wie all die anderen Konzerne entging auch die GHH schon ein knappes Jahr später nicht der Beschlagnahme ihres Vermögens und der "Entflechtung" auf Anordnung der Besatzungsmacht. Die Lage der Thyssenhütte dagegen, des größten Stahlwerks, gab zu keinem Zeitpunkt zu größerem Optimismus Anlaß. So setzte sich der kommissarische Leiter der ATH AG am Heiligen Abend 1945 an den Schreibtisch und schilderte Franz Bartscherer, dem Vorstandsvorsitzenden zwischen 1934 und 1943, die betrüblichen Verhältnisse in Hamborn. Die Erteilung der Betriebserlaubnis, erläuterte er zunächst, sei ,,Angelegenheit der Besatzungsbehörde und nicht etwa der Vereinigten Stahlwerke". Dann fuhr er fort: "Es ist natürlich unser ganz großer Kummer, daß wir trotz aller Bemühungen hierbei anderen Werken den Vortritt lassen mußten. Ich möchte nicht weiter darauf eingehen, durch welche Glücksfälle nach unserer Kenntnis andere Werke hierbei begünstigt worden sind, und nur sagen, daß nach meiner Überzeugung, die ich allerdings nicht schwarz auf weiß belegen kann, für unsere Hintansetzung nur zwei Ursachen in Frage kommen können: Erstens, die überragende wirtschaftliche Stärke unserer Aktiengesellschaft; im Dezember betrug die zugelassene Gesamtrohstahlerzeugung der britischen Zone gerade soviel wie eine Durchschnitts-Monatserzeugung der Thyssenhütte allein; andererseits der Name Thyssen. Natürlich konnte bei der Umtaufe der Hüttengruppe West in August Thyssen-Hütte AG niemand annehmen, daß diese Tat der Pietät das Schicksal der AG einmal ungünstig beeinflussen könnte ... Meine anfängliche Hoffnung, daß unsere stattlichen Erzvorräte schließlich zwangsläufig zu einer Wiederinbetriebsetzung auch unserer Thyssenhütte führen müßte, hat zwar getrogen, umso mehr bin ich aber heute davon überzeugt, daß man an einer erheblichen Rohstahl-Erzeugung in der britischen Zone im ersten Halbjahr 1946 nicht mehr vorbeikommt", und daß man dann "nicht mehr an uns wird vorbeigehen können"610, so fügte Herzog mit dem Rest von Zukunftshoffnung hinzu, die ihm nach dem zermürbenden Tauziehen mit der Besatzungsmacht noch geblieben war. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Im August 1946 stellte die North German 608
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Vgl. die "Chronik wichtiger Ereignisse im Bereich der Oberhausener Betriebe der Gutehoffnungshütte Oberhausen A.G." für die Zeit v. 28.9.1944 bis 28.9.1945; Haniel-Archiv, 4001016/11. "Gutehoffnungshütte 1935-1945", undatierter Bericht; Haniel-Archiv, 4090/29. In einer vergleichsweise günstigen Situation befanden sich 1945 vorübergehend auch jene Firmen, die mit einern Direktauftrag der Besatzungsarmee ausgestattet waren (ein Komplex, der einer eigenen Untersuchung bedürfte). So beispielsweise in der Darstellung Conquer (Ninth Army), S. 284, über die Besetzung des Ruhrgebietes : "Many vital plants on the fringe of the distriet were practically intact and proved very valuable in supplying needs for Ninth Army. A case in point was the Westphalia Separator Company, which soon was making many badly needed ordnance parts." Vgl. auch den Artikel "Erinnerungen: 1945 und die Zeit danach", in: Die Trommel, Werkszeitung der Westlalia Separator, Oelde, IV/1982, S. 60. Dem Historical Report der Sixth Army Group für Mai 1945 ist zu entnehmen: "The Daimler-Benz factory at Mannheim was operated by U.S. Army Ordnance to complete about 1.000 trucks."; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, Sixth Army Group Field Reports, Entry 54. Thyssen-Archiv, A/5059. Bei Hoesch kursierte das Gerücht, "die durch ihre Mitgliedschaft in der NSDAP belasteten Männer des alten Vorstandes seien daran schuld", daß das "Permit" der Besatzungsmacht ausbleibe; Mönnich, Hoesch, S. 325.
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Iran and Steel Control nach der Beschlagnahme des Vermögens der Stahlkonzerne in der britischen Besatzungszone die Vereinigten Stahlwerke unter Treuhandverwaltung. Die im Oktober 1947 veröffentlichte Demontageliste schien die seit Potsdam immer mehr als Agonie erlebte Krise des Kolosses definitiv zu beenden: Sie galt als Todesurteil für die Thyssenhütte. Im Bewußtsein ihrer Führungselite war mit der Deklaration von Potsdam das Ende der einstmals und an sich noch immer leistungsstarken Eisen schaffenden Industrie des Reviers besiegelt, das sich bereits mit dem Besatzungswechsel von den Amerikanern zu den Briten angedeutet hatte. Der im Frühjahr 1945 in hohem Maße noch vorhandene zukunftsorientierte Elan der Industrie, das im ganzen optimistisch grundierte "business as usual", war in den Augen der Industrieführer durch die "Verweigerung" der Ankurbelung von Eisen und Stahl, durch die in allen Vorstandsetagen grassierende lähmende Kalkulationsunsicherheit vollkommen frustriert worden. Obgleich das selbstverständlich nicht als alleiniger Grund der Stagnation betrachtet wurde, schienen die verheerenden Folgen dieser Situation aus den Bestandsaufnahmen um die Jahreswende 1945/46 unmittelbar ablesbar zu sein. Während das Baugewerbe und der Bergbau noch am ehesten intakt seien, stellte die Industrie- und Handelskammer Duisburg Anfang 1946 mit Nachdruck fest, seien die "Gegenwarts- und Zukunftsaussichten" für die Stahlindustrie "völlig undurchsichtig". Die "Produktionssenkung" seit Kriegsende sei hier "kaum tragbar" gewesen. "Von den vorhandenen 40 Hochöfen waren Mitte Februar lediglich 8 in Gang", bei der Thyssenhütte kein einziger. 611 Bei den Vereinigten Stahlwerken ergab sich für das im Oktober endende Geschäftsjahr 1944/45 eine desaströse Bilanz. Die Ausnutzung der Hochofenanlagen war bei Rohstahl auf ganze 6,1 Prozent (1927/29 = 100; 1943/44 = 80,5) zurückgegangen, der Umsatz von 404 Millionen Reichsmark im Vorjahr auf 43 Millionen Reichsmark 1944/45 gefallen. 612 Die Rohstahlerzeugung an Rhein und Ruhr belief sich im Dezember 1945, am Ende des Jahres der Niederlage und der Deutschlandkonferenz der Sieger, auf ungefähr 100.000 Tonnen monatlich - weniger als ein Drittel dessen, was die August Thyssen-Hütte allein, weniger auch als die Menge, die Klöckner, die Fried. Krupp oder die Hoesch AG in dem Jahr produziert hatten, als Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaum brach. 613 Für die industrielle Führung des Reviers war die von der Besatzungsmacht offenkundig gewollte, kühl kalkulierte und kalt exekutierte Strangulierung der Stahlindustrie eine bestürzende Erkenntnis. Bestürzend deshalb, weil es ein Unding und in dieser Form auch ein historisches Novum war, Hochöfen und Walzstraßen aus anderen als wirtschaftlichen Erwägungen brachliegen zu lassen. Für die Industrieführer von Eisen und Stahl war dies unbegreiflich und widersinnig, geschah es doch zu einem Zeitpunkt, da die NS-Wirtschaft, der Raubbau der Rüstungsproduktion und die Bombardements der Alliierten endlich überstanden waren, nachdem sie in der Endphase der Kämpfe doch bereits selbst manche Weiche in Richtung der kommenden Friedens6\1
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Denkschrift "Wirtschafts· und Arbeitersystem in Bezirk der Niederrheinischen Industrie· und Handels· kammer Duisburg. Wesel vor und nach dem Kriege", undatiert (März 1946); RWWA Köln, 20-1608-2. Aufstellung der betriebswirtschaftlichen Abteilung für den VSt-Vorstand; Thyssen-Archiv, A/5665. Vgl. die Denkschrift "Die Eisen schaffende Industrie in der britischen Zone. Ein Querschnitt durch die ge· genwärtige Lage" vom Juni 1946, die von der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie ausgearbeitet wurde, nachdem die Alliierten im März 1946 die von ihnen festgesetzte Stahlquote von 5,8 Millionen Jahrestonnen bekanntgegeben hatten; Haniel-Archiv, 4001016/275.
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wirtschaft gestellt hatten, sie in den ersten Wochen nach der Besetzung zudem einer durchaus pragmatisch orientierten, vermeintlich "aufbauwilligen" Militärverwaltung begegnet waren. Jedoch, mit dem unverhofften Ende des "business as usual", mit der ebenso unerwarteten wie tiefgehenden Beschneidung ihrer wirtschaftlichen Verfügungsgewalt, die sie nach Hitler endlich wiederzugewinnen gehofft hatten, mit dieser Beschneidung durch die Besatzungsmächte, die für sich allein schon dazu angetan war, das Selbstverständnis der Wirtschaftsführer nachhaltig zu erschüttern, war aber der Tiefpunkt ihrer beruflichen Einengung und persönlichen Demütigung noch längst nicht erreicht. Denn als sie den deutschen Industriellen die Hände schon gebunden hatte, da fegte die Militärregierung diese auch noch aus ihren Chefsesseln, führte sie in Handschellen in die Internierungslager, erniedrigte und entwürdigte sie. Und wer von ihnen diese Camps ungebrochen verließ, der kehrte nicht nur "in eine völlig veränderte Welt" (Walter Rohland)614 zurück. Er hätte spätestens jetzt begriffen haben müssen, daß er als Angehöriger einer der maßgeblichen gesellschaftlichen Führungsgruppen für die deutsche Kriegspolitik mitzuhaften hatte, daß politisch-gesellschaftliche Teilhabe am System des Nationalsozialismus auch Mitverantwortung bedingte. Spätestens jetzt kamen die meisten Industrieführer auch zu der Einsicht, daß definitiv nicht sie selbst, sondern die Alliierten auf dem wirtschaftlichen nicht weniger als auf dem politischen Felde den Rahmen für das Deutschland nach Hitler absteckten. Vor Auflösung des Alliierten Oberkommandos und dem Treffen der Großen Drei in Potsdam Mitte Juli 1945 war es bereits zu sporadischen, eher wahllos erscheinenden Verhaftungen von Industriellen und leitenden Angestellten gekommen; publicityträchtige Festnahmen wie die Alfried Krupps waren offenkundig Aktionen symbolisch-demonstrativen Charakters gewesen. 615 Bis zum Sommer war auch kaum auszumachen gewesen, von welchen Gesichtspunkten Counter Intelligence Corps und Field Security Service sich bei ihren Raids leiten ließen. Lag gegen den verhafteten Industriemanager persönlich etwas vor? Sollte er als Zeuge im Vorfeld des angekündigten großen Kriegsverbrecherprozesses dienen? Hatte er sich einer Anordnung der Besatzungsmacht widersetzt, wurde ihm die Parteimitgliedschaft zum Vorwurf gemacht, lag eine Denunziation vor, war er lediglich zu einem Verhör im Rahmen der Ausforschung der deutschen Industrie gebracht worden? Das waren Fragen, auf die meist keine rechte Antwort zu haben war. Der Vorstandsvorsitzende Eichholz der August Thyssen-Hütte AG etwa wurde Ende April verhaftet, vier Wochen später jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. 616 Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Röhrenwerke wurde am 11. Mai aus Gründen, die im Dunkeln blieben, von der Besatzungsmacht in Gewahrsam genommen. 617 Ende Mai berichtete der Chef der Gutehoffnungshütte an Paul Reusch sehr ironisch von einem offenbar wenig geliebten Kollegen, der es verstanden habe, die Engländer zu überzeugen, daß er "ein ganz harmloser Mann" sei, der nie etwas mit der Partei zu tun gehabt habe, ja dieser sei bereits auf dem Sprung in eine BeratersteIlung im Stabe Montgomerys: "Kommentar überflüssig! Ich glaube '"
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Rohland, Bewegte Zeiten, S. 153. Vgl. oben in diesem Kapitel. Vgl. den Brief seines Nachfolgers an den früheren Generaldirektor Bartscherer v. 30. 11. 1945; Thyssen-Archiv, A/5059. Vgl. dazu die Chronik des Werkes Thyssen der Deutschen Röhrenwerke AG für die Zeit nach der Besetzung; Mannesmann-Archiv, R 15080.
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aber", schrieb Kellermann weiter, "daß die Akten darüber noch nicht geschlossen sind und daß eines Tages ein böses Erwachen für ihn kommen wird."618 Anfang Juli berichtete der GHH-Generaldirektor an Reusch von der fünfwöchigen Haft eines Aufsichtsratsmitglieds der Vereinigten Stahlwerke, "der die zwangsweise Einsperrung nicht gerade gut ertragen" habe; auf Intervention eines hohen britischen Militärregierungsoffiziers sei er aber schließlich wieder freigekommen. Einen der Großen im Revier, Wilhelm Zangen, den Vorstandsvorsitzenden von Mannesmann und Leiter der Reichsgruppe Industrie, die treibende Kraft der im Krieg aufgenommenen Nachkriegsplanungen der Industrie, traf Ende Juni ein ähnliches Schicksal. Reusch werde inzwischen wohl erfahren haben, so der über die Vorgänge im Revier bestens informierte Kellermann, "daß Herr Zangen vor etwa zehn Tagen bei der finanziellen Überprüfung des Werkes in Haft genommen worden ist". Angeblich, so die im Ruhrgebiet kursierende Erklärung dafür, habe er den Versuch gemacht, Beteiligungsverhältnisse in der CSR, auf dem Balkan und in Südamerika zu verschleiern. Dessen Stellvertreter Winkhaus werde "Tag für Tag von morgens bis abends vernommen und es steht dahin, ob nicht auch er inzwischen verhaftet worden ist"619. Das war nicht der Fall, denn noch Ende Juli leitete er die Werksleiterbesprechung seines Konzerns. 62o Auch Kellerrnann selbst und viele der prominentesten Stahlindustriellen, wie Houdremont, Rohland oder Sohl, saßen zu diesem Zeitpunkt nach wie vor - von der Besatzungsmacht unbehelligt - in den Vorstandsetagen. Bis zum Ende des Sommers 1945 sahen sich die Industrieführer des Reviers also allenfalls von Vorkommnissen tangiert, wie sie nach einem verlorenen Krieg mit anschließender Okkupation eben zu gewärtigen waren, von ungereimten Übergriffen, wie sie einer Besatzungsmacht, die sich zu etablieren versucht, zugestanden werden konnten. Ein mit Vorbedacht geführter Hieb gegen die industrielle Elite als gesellschaftlicher Führungsschicht war in den unsystematischen Einzelaktionen jedenfalls unmöglich zu erblicken. Nach Potsdam änderte sich das Bild aber schnell. Bereits fünf Wochen nach der Konferenz holte die britische Militärregierung zu ihrem ersten umfassenden Schlag gegen das Ruhr-Establishment aus. In der Nacht vom 5. auf den 6. September umstellten Field Security-Einheiten des britischen I. Corps, "nach einem zeitlich wohlabgestimmten Plan vorgehend"62I , in verschiedenen Städten des Ruhrgebietes die Häuser und Villen von 44 führenden Köpfen des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats, holten diese "aus den Betten"622 und brachten sie in Internierungslager. Unter ihnen befanden sich so prominente Männer wie - dieser wenigstens seinem Namen nach - Hugo Stinnes jun., Georg Lübsen (GHH), Gustav Knepper (VSt/GBAG) oder, vom gleichen Konzern, Otto Springorum. Die Rechtfertigung dieses demonstrativen Schrittes fiel in der britischen Presse entsprechend spektakulär und pauschal aus: "Die Industriemagnaten von der Ruhr, deren Verantwortung für den Krieg als ebenso groß angesehen werden kann wie die der Nazis selbst." Noch vor der Jahreswende wurden die Zechen im Revier von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt. 618 619 620 621
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Brief v. 26.5. 1945; Haniel-Archiv, 4001012003/35. Schreiben v. 4.7. 1945; ebenda. Vgl. die Niederschrift über die Besprechung am 26.7. 1945; Mannesmann-Archiv, M 12018. Times, 7.9.1945. Dort auch das folgende Times-Zitat. Bezeichnend, daß die Ruhr-Zeitung in ihrer Nr. 23 nach der Verhaftung der Bergbaumanager im Anschluß an die Nachricht darüber einen Hinweis auf Fritz Thyssens Buch "I paid Hitler" (New York 1941) brachte. Neue Zürcher Zeitung, 7.9. 1945.
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Drei Tage nach dieser Verhaftungsaktion erreichte Major Airey Neave, Mitglied der British War Crime Executive, der mit seinem Stab in Essen nach Beweisunterlagen für die Anklage gegen Krupp in Nürnberg forschte, in der Villa Hügel ein Telefonanruf aus dem Hauptquartier des britischen I. Corps. Sein Befehl lautete: "Nehmen Sie die Krupp-Direktoren fest", Termin: 10. September, 8 Uhr morgens. 623 Die "Hammerschläge"624 trafen die Krupp-Direktoren vollkommen unvorbereitet, mitten in ihren Bemühungen um die Produktionsgenehmigung der Militärregierung. Major Neave suchte sich während der Nacht vom 9. auf den 10. beim Field Security Service seinen Verhaftungstrupp zusammen. Um acht Uhr morgens rollte ein kleiner Jeepkonvoi mit acht Feldpolizisten und sechs Angehörigen eines Document Teams in Begleitung von vier Panzerwagen nach Essen hinein. Das Bürogebäude 5, in dem die Verwaltung der Fried. Krupp jetzt untergebracht war, wurde umstellt, nach und nach wurden die Mitglieder des Direktoriums aus ihren Büros geholt. "Ohne Angabe von Gründen und ohne daß die Herren Gelegenheit hatten, irgendwelche Sachen mitzunehmen oder ihre Geschäfte zu übergeben"625, verhafteten die Briten die Spitzen des Konzerns: Edouard Houdremont, Friedrich Janssen (der vier Wochen später mit einer Rasierklinge einen Selbstmordversuch beging), Erich Müller, Kar! Adolf Ferdinand Eberhardt, Max Otto Ihn 626 , später noch einige weitere leitende Angestellte. Major Neave brachte die Industriellen in das Essener Gefängnis, von dem er später schrieb: "Der einzige verfügbare Platz war ein feuchter unterirdischer Keller. Der Gestank gebrochener Abflußrohre, die Hitze, die Atmosphäre von Verzweiflung waren überwältigend." Zwei Jahre später mußten sich die Festgenommenen vor dem amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Im November 1945 wurde für den beschlagnahmten Krupp-Konzern ein "Controller" eingesetzt. Bei seinem Amtsantritt versammelte er die verbliebenen leitenden Mitarbeiter um sich, deutete zum Fenster hinaus und sprach die im Revier berühmt gewordenen Worte: "Da draußen, meine Herren, wird nie mehr ein Schornstein rauchen. Wo einmal das Stahlgußwerk stand, werden Sträucher, Wiesen und Parks sein. Die britische Militärregierung hat beschlossen, mit Krupp für immer Schluß zu machen."627 Mit ihrer Septemberaktion gedachten die Briten einer zu Hause, bei der deutschen Arbeiterschaft und bei den amerikanischen und sowjetischen Verbündeten wachsenden Kritik zu begegnen. Diese hatten ihre Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht, daß sich im Ruhrgebiet noch Monate nach der Besetzung weder an der überkommenen Bergbauorganisation noch an dem maßgeblichen Einfluß des RuhrEstablishments irgend etwas geändert zu haben schien. Außerdem sollte mit der Verhaftungswelle das Signal gegeben werden, daß Großbritannien sich dem Vorgehen der amerikanischen Militärregierung, die Anfang Juli 1945 die I.G. Farben beschlagnahmt und der Aufsicht des Alliierten Kontrollrates unterstellt hatte, nicht anschließen wollte. Die "präventive Maßnahme" sollte verhindern, daß der Gedanke aufkam, etwa
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Vgl. die ausführliche Schilderung der Festnahme des Krupp-Direktoriums bei Airey Neave, Nuremberg. A Personal Record of the Trial of the Major Nazi War Criminals in 1945-6, London 1978, S. 32ff. So Klass, Aus Schutt und Asche, S. 44. "Die Besetzung der Krupp-Werke nach Kriegsende", undatierter interner Bericht; Krupp-Archiv, WA 46/3. Vgl. den "Technischen Bericht über das Geschäftsjahr 1944/45"; Krupp-Archiv, WA VII f 1199. Zit. nach Neave, Nuremberg, S. 33.
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auch die in der britischen Zone gelegenen Großbetriebe der Montanindustrie einer Vier-Mächte-Kontrolle zu unterstellen. 628 Bei diesen Verhaftungen, deren Motive den Deutschen verborgen blieben, regte sich keinerlei Protest. Gut zehn Tage nach dem Schlag gegen die Ruhrelite kamen die Präsidenten der Industrie- und Handelskammern der Nordrheinprovinz zu der Auffassung, von einer "generellen Demarche" zugunsten der Festgenommenen absehen zu wollen. Einmütig waren sie der auch in den folgenden Monaten immer wieder ähnlich zutage tretenden Auffassung, "daß in dieser Frage mit der größten Vorsicht vorgegangen werden sollte, da es sich um eine hohe politische Aktion handele"629. Dem Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, der nicht ahnte, daß er bald selbst kein freier Mann mehr sein würde, kam nach der Internierungsaktion ein Aktenvermerk seines Stellvertreters auf den Schreibtisch, der sich mit der Reaktion der Kumpel und Stahlarbeiter der GHH auf die britische Intervention befaßte: "Die Verhaftungen", hieß es darin, "haben in der Arbeiterschaft im ganzen keinen Widerhall gefunden. In gewissen Kreisen scheint man die Unsicherheit bei den Leitungen dazu ausnützen zu wollen, um überspannte und unberechtigte Forderungen durchzusetzen und diese in einem Tone zum Vortrag zu bringen, der bisher nicht üblich war. Die Bemerkung eines Betriebsratsmitgliedes: Jetzt rollen die ersten Köpfe' ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Die Verhaftungen haben zweifellos eine Untergrabung der Autorität zur Folge."63o Die Massenverhaftungen im Bergbau und die Ausschaltung des Krupp-Direktoriums waren für die Stahlindustriellen "ein erstes allgemeines Sturmzeichen". Bei optimistischer Beurteilung der Lage konnten sie sich aber immerhin sagen, daß sich die Briten mit dieser Aktion in der lebenswichtigen, ohnehin von der Besatzungsmacht kontrollierten Kohlewirtschaft vollkommene Handlungsfreiheit schaffen wollten, und daß, zweitens, die traditionelle Sonderstellung von Krupp eben auch besondere Schritte provoziert hatte. Dennoch, so empfand es Klöckner-Chef Günter Henle, war das "Klima im Besatzungsregime" nach dem Coup vom September "spürbar schlechter" geworden. 631 In der Nacht zum 1. Dezember 1945, einem Samstag, kam dann für die Spitzen der Eisen schaffenden Industrie das abrupte Ende aller Illusion. Nach bewährtem Vorbild rückten nach Mitternacht überall im Revier die Soldaten des Field Security Service aus und holten 76 Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder der Eisen- und Stahlindustrie aus ihren Häusern. Die Verhaftungsliste las sich wie der Gotha der Eisen schaffenden Industrie, es fehlte der Name keines nur halbwegs bedeutsamen Stahlbetriebes. Angeführt wurde der alphabetische Proskriptionskatalog von Wilhe1m Ahrens, dem Hauptgeschäftsführer der Nordwestgruppe, er schloß mit Friedrich Wiesecke, einem Betriebsdirektor der August Thyssen-Hütte. Dazwischen fast nur Namen von Klang, unter ihnen Alfred Brüninghaus von Hoesch, Otto Därmann, Vorstand des 628
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Pingel, Der aufhaltsame Aufschwung, in: Petzina, Euchner (Hrsg.), Wirtschaftspolitik, S. 49. Hierzu ebenfalls: Milert, Verschenkte Kontrolle, in: ebenda, S. 1081. Ferner Rolf Steininger, Die Sozialisierung fand nicht statt, in: Foschepoth, Steininger (Hrsg.), Britische Deutschland- und Besatzungspolitik, S. 13 5 H. Abelshauser, Ruhrkohlenbergbau, S. 20. In der Wertung zutreffend bereits Peter Hüttenberger, NordrheinWestfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 271. Besprechung am 18.9. 1945; zit. nach Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 89. Vennerk v. 14.9. 1945; Haniel-Archiv, 400 1016/15. Hervorhebungen von mir. Zitate bei Henle, Weggenosse, S. 78.
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Dortmund-Hoerder-Hüttenvereins, Walter Eichholz, Generaldirektor der August Thyssen-Hütte, Georg Gasper, Mitinhaber der Otto Wolff KG, Heinz Gehm, Generaldirektor der Deutschen Edelstahlwerke in Krefeld, Fritz Lehmann, Vorsitzender des Vorstands der Feiten & Guilleaume Carlswerk AG, Eberhard Letixerant, Vorstand beim Bochumer Verein, Carl Lipp, Kaufmännischer Leiter der Hoesch AG und Präsident der IHK Dortmund, Heinrich Pottgießer, Direktor der Ruhrstahl, Otto Albrecht Schweizer, Direktor bei Hoesch, Wilhe1m Thun, Vorstand der Demag, um nur einige von ihnen zu nennen. Robert Rottmann, Direktor der Stahlunion-Export, und Wilhelm Steinberg, Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke, meldeten sich am Morgen nach den Verhaftungen von sich aus beim Field Security Service in Düsseldorf. 632 Mit einem Schlag hatte die britische Militärregierung die Areopage an der Ruhr eingeebnet. Die Besatzungsmacht ließ sich den politischen Punktgewinn nicht entgehen und versah ihren Schritt mit entsprechend zündender Erklärung: "Das Gewicht der deutschen Schwerindustrie war hinter der Nazipartei, noch ehe diese an die Macht kam, und die Gewalt und der zerstörerische Ehrgeiz der Partei vor dem Krieg und während des Krieges rührten zu einem sehr großen Teil von der bereits bestehenden Stärke und der Ambition der Industrie her. Die Nazis und die Industriellen", hieß es weiter, "trachteten beide nach Macht. Enormer persönlicher Profit und ungeheure Macht wurden vor dem Kriege und während des Krieges von Männern erlangt, wie sie eben verhaftet worden sind, und beides wurde durch bewußte und kaltherzige Mißachtung menschlicher Werte und menschlichen Leidens erlangt. Für sie ist kein Platz im neuen Deutschland."633 Das machte Eindruck kurz nach der Eröffnung des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg und ließ sich der Kritik an einer allzu langmütigen Tolerierung des Ruhr-Establishments gut entgegenhalten. Auf deutscher Seite wurden Motive und Auswirkungen der britischen Aktion schon bald recht realistisch gesehen. Der Chef der Siemens-Gruppenleitung West in Mülheim an der Ruhr, der den Coup aus nächster Nähe beobachten konnte, berichtete schon Mitte Dezember 1945 beeindruckt und erstaunt an Berlin-Siemensstadt, man habe "tatsächlich die Führungsköpfe aller deutschen Unternehmungen von Eisen und Stahl von ihren Posten entfernt". Er sah in dem Vorgehen der Militärregierung einen Schritt zur politischen Abwehr der französischen Internationalisierungspläne für das Ruhrgebiet, welches die Briten unter keinen Umständen aus der Hand geben wollten. "Mit dieser Einstellung", schrieb er an die Berliner Zentrale, "bringt man beispielsweise auch die vorgenommenen umfangreichen Verhaftungen auf dem Gebiet von Kohle und Eisen in Verbindung. Man hört dabei die Argumentation, daß die Verhaftungen der Industrieführer vorgenommen werden, um jede Gefahr, daß die Potenz des Ruhrgebietes wieder einmal eine Beunruhigung darstellen könnte, zu beseitigen. Man kann schon heute englischerseits den Franzosen gegenüber sich auf den Standpunkt stellen, daß diese Gefahr endgültig aus der Welt geschafft ist, da ja die Schwerindustrie praktisch ihrer deutschen Führungsköpfe beraubt ist und eindeutig unter englischem Einfluß und englischer Führung steht."634 Bei den Verhafteten selbst 632
6B
634
Sämtliche Namen der Verhafteten veröffentlichte die Neue Rheinische Zeitung unter der Schlagzeile "Verhaftungen in der Schwerindustrie" in ihrer Ausgabe v. 5. 12. 1945. Times, 3. 12. 1945. Schreiben v. 18.12. 1945; Siemens-Archiv, 52/L/ 460.
2. Wirtschaft und Besetzung
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wurde als Erklärung für ihre Festnahme die Vermutung favorisiert, daß bei der Vorbereitung der Demontage und Entflechtungsmaßnahmen "die früheren Leiter der Schwerindustrie außer Aktion gesetzt werden sollten", wie Hans-Günther Sohl später schrieb. 635 Sohl, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke und rechte Hand von Walter Rohland, war in jener Nacht des 30. November ebenfalls aus dem Schlaf geholt worden. In dem vorgefahrenen Pkw fand er bereits den verhafteten Hauptgeschäftsführer des Stahlwerksverbandes vor. Im Polizeigefängnis wurden ihnen von dem dort ebenfalls internierten Juniorchef von Henkel die Wertsachen abgenommen; das war der ,Job", den die Engländer ihm zugewiesen hatten. Auf der Zwischenstation in einem Lager bei Iserlohn traf Sohl kurz darauf den Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte, Hermann Kellermann. Diesem war noch acht Wochen zuvor an läßlich seines siebzigsten Geburtstages die Ehrenbürgerwürde der Stadt Oberhausen verliehen worden. 636 Kellermann war in einer "unterirdischen Dunkelzelle" untergebracht. Sohl tauschte mit Kellermann und erkannte an den durch eine Wand dringenden Stimmen, daß er Hans Reuter, den Vorstandsvorsitzenden der Demag, und Klöckner-Chef Günter Henle zu Nachbarn hatte. Am 4. Dezember wurde die ganze Gruppe, zu der auch noch zwei Mitinhaber der Otto Wolff gehörten, verlegt; je zwei waren auf dem Lkw-Transport aneinander gekettet. "Unsere Stimmung", erinnerte sich Sohl später, "war entsprechend, zum al wir, je weiter es nach Osten ging, befürchteten, an die Russen ausgeliefert zu werden." Die Fahrt endete im Lager Bad Nenndorf bei Hannover, wo Sohl etwa sechs Monate lang blieb. In Sträflingskleidung wurde die Ruhrelite, nach dem Alphabet zusammengestellt, zu viert in ehemalige Badezellen gesperrt. In Zelle 44 hausten Hans Reuter, VSt-Vorstand Walter Schwede, Rudolf Siedersieben, Direktor der Stahlhandelsgesellschaft Otto wom, der bald an Schwäche starb, und Sohl. Matratzen gab es nicht, "für jeden Toilettenbesuch mußten wir heftig an die Tür klopfen und oft lange warten", schreibt Sohl, "bis wir, angetrieben durch kräftiges ,Hurry up', zu unserem Ziel gehetzt wurden". Einzige Unterhaltung zwischen den Verhören war ein Knobelspiel mit kleinen Hölzchen, die die Insassen mit den Fingernägeln von den Bettgestellen gelöst hatten. Auch nach einigen Hafterleichterungen änderte sich an den "entwürdigenden Umständen" wenig. Nach drei Monaten bekam Sohl ein Straßenfegekommando. Das gab ihm die Chance, Mülltonnen nach Speiseresten zu durchsuchen und Kippen zu sammeln. Wen die Aufseher erwischten, der mußte die Kleidung ablegen, und splitternackt jagten sie ihn dann mit dem bekannten "Hurry up!" in die Zelle. Bald gesellte sich auch die im Frühjahr 1946 verhaftete deutsche Hochfinanz hinzu. Gemeinsam mit Hermann J. Abs, der seine Zelle mit dem Vorstand der Dresdner Bank, Carl Luer, teilte, verrichtete der 41jährige stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke Feldarbeit. Seine Odyssee führte den späteren BDI-Präsidenten noch durch andere britische Lager, aber am 17. Mai 1947, nach über siebzehn Monaten Haft, in denen es ihm versagt geblieben war, den Haftgrund zu erfahren, wurde Hans-Günther Sohl "ohne jede Vorankündigung von einer Minute zur anderen" entlassen . ." Sohl, Notizen, S. 101. Die Schilderung der Verhaftung und Haftzeit ebenda, S. 98ff. 6'6 Am 28.9. 1945. Vgl. die GHH-Chronik von September 1944 bis September 1945; Haniel-Archiv, 4001016/11.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Einer seiner Haftgefährten war Klöckner-Chef Günter Henle, dessen distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus allgemein bekannt war und den die Stahlindustriellen der Nordwestgruppe drei Monate vor seiner Verhaftung noch zum 1. Vorsitzenden der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie gewählt hatten. Über Henles Festnahme am 1. Dezember 1945 wußte der Rundfunk anderntags zu berichten, daß dieser vom britischen Sergeant Mitchell mit zwei Männern des Field Security Service um halb ein Uhr nachts abgeholt worden sei. Die übrigen Hausbewohner hätten bis zum Vormittag Ausgeh- und Telefonverbot erhalten, was auch "durch Entfernen der Membrane im Fernsprecher sichergestellt wurde"637. Eine für Anfang Dezember angesetzte Besprechung von leitenden Herren der Hüttenwerke des Klöckner-Konzerns mußte ausfallen, weil nur ein einziger von der Verhaftungswelle verschont geblieben war. Henle wurde zunächst nach Iserlohn gebracht, wo er sich in "Dunkelhaft" als Zellennachbar von Reuter und Sohl wiederfand. Danach wurde auch er zusammen mit den anderen, "wie Raubmörder mit Ketten aneinandergefesselt", nach Bad Nenndorf transportiert. Auch Henle hat den "Zuchthausbetrieb mit mehr als rüder Behandlung" später beschrieben. Zu keiner Zeit wurde dem Klöckner-Chef eröffnet, weshalb er einsaß. "Gerade ich", schrieb der vor dem Krieg als Diplomat in London tätige Henle in seinen Erinnerungen, "der ich die Engländer so gut zu kennen glaubte, hätte ihr Verhalten in Nenndorf schlechthin für unmöglich gehalten." Aber dies bestätigte ihm nur den Eindruck - der sich bei der industriellen Elite von Eisen und Stahl bereits nach dem Besatzungswechsel im Juni 1945 gebildet hatte -, daß die Amerikaner die sehr viel "sachlichere" und umgänglichere Siegermacht seien. Henle war einer der ersten der in Gewahrsam genommenen Industriellen, der zur Entlassung kam. Nach neunmonatiger Internierung wurde er "ohne Begründung oder Erklärung" am 6. September 1946 auf freien Fuß gesetzt. Fünf Monate später durfte er die Bürogebäude des unter alliierter Kontrolle stehenden Konzerns zum ersten Mal wieder betreten. Walter Rohland hatte seinen Weg in die Internierung bereits Anfang Oktober angetreten. 638 Ihn hatten die Franzosen, angeblich in Abstimmung mit ihren amerikanischen und britischen Alliierten, während eines Besuches bei seiner Familie verhaftet. Er war für das Speziallager Dustbin ("Mülleimer") auf Schloß Kransberg bei Frankfurt bestimmt, wo die alliierte Enemy Personnel Section die Creme der deutschen Technik und Rüstungslenkung zu intensiven Befragungen zusammengezogen hatte. Die Behandlung der hochkarätigen Spezialisten in Kransberg - Rohland saß dort offenbar mehr in seiner Eigenschaft als Speerscher Rüstungsmanager denn in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke - war sehr viel besser als die der Ruhrindustriellen in den Lagern der britischen Zone. Sie konnten sich frei bewegen, durften Hausmusik treiben, Vorträge besuchen, zwischendurch sogar einige Tage "Heimaturlaub" einlegen. "Wären die Trennung von der Familie, die Ungewißheit über die persönliche Zukunft nicht gewesen", schrieb Rohland später, "man hätte den 637
638
Siehe die Schilderung der Festnahme bei Henle, Weggenosse, S. 80ff. Rohland verlegt das Datum irrtümlich auf den November 1945, vgl. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 123 (dort und auf den folgenden Seiten auch die Schilderung seiner Haftzeit). Sohl, Notizen, S. 98, ebenfalls. Siehe insbesondere das Schreiben des Leiters der August Thyssen-Hütte an seinen Vorgänger v. 30. 11. 1945: "Herr Rohland ist schon seit Anfang Oktober in Frankfurt und kann sich nicht um die Vereinigten Stahlwerke kümmern. Über das Warum und Wie hört man nur unbestimmte Gerüchte. Angeblich soll er als Zeuge für den Nürnberger Prozeß vorgesehen sein."; Thyssen-Archiv, A/5059.
2. Wirtschaft und Besetzung
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Aufenthalt fast als Erholungsurlaub bezeichnen können." Ähnlich wie sein Vertrauter Speer war Rohland ein privilegierter Gefangener, der die Amerikaner und Engländer reichlich mit Auskünften und Memoranden zur Stahlproduktion und über die deutsche Rüstungswirtschaft bediente. Trotzdem bereitete einem dynamischen Manne wie Walter Rohland seine Ausschaltung natürlich größte Sorge. Von Monat zu Monat wurde er ungeduldiger, doch das Ende seiner Irrfahrt durch die Internierungslager und Gefängniszellen der Besatzungsmächte war noch längst nicht abzusehen. Im September 1946 wurde der ehemalige Chef der inzwischen längst unter alliierter Kontrolle stehenden Vereinigten Stahlwerke als Zeuge und potentieller Angeklagter in den amerikanischen Kriegsverbrecherprozessen gegen führende Industrielle nach Nürnberg verlegt. Die privilegierten Kransberger Tage waren vorüber. In Nürnberg saß Rohland in einer Gefängniszelle des "gesperrten Flügels". Verhöre, Geschirrputzen, Lektüre, Geschirrputzen, erst im Frühjahr 1947 Gewißheit über das weitere Schicksal. Seine Mithäftlinge und die Industriellen von Krupp, Flick oder dem I.G. Farben-Konzern, die die Amerikaner unter Anklage stellen wollten, wurden in den "Criminal"-Flügel verlegt. Rohland aber kam in den "Zeugenflügel". Ein Prozeß gegen die Vereinigten Stahlwerke fand nicht statt, Walter Rohland diente dem amerikanischen Tribunal in Nürnberg und 1948 noch dem französischen Gericht in Rastatt (Röchling-Prozeß) immer nur als kompetenter Zeuge. Mitte September 1947, genau zwei Jahre nach seiner Verhaftung, hatte er das Nürnberger Justizgefängnis verlassen dürfen. Es wird seine angeklagten Kollegen von Flick und Krupp eigenartig berührt und kaum von der ausreichenden Fundierung der amerikanischen Anklage überzeugt haben, ausgerechnet dem unnachsichtigen Stahldiktator Speers als Zeugen zu begegnen. Genausogut hätten sie ihre Plätze mit ihm tauschen können. Den beiden großen Schlägen der britischen Besatzungsmacht gegen die MontanindustrielIen folgten 1946, neben der gleichfalls Aufsehen erregenden Festnahme von über dreißig Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern von Großbanken, noch eine Vielzahl weniger spektakulärer Verhaftungen und Entlassungsverfügungen bei Eisen und Stahl. So sprach die Besatzungsmacht kurz vor dem Jahreswechsel 1945/46 bei der Thyssenhütte beispielsweise die "Entlassung von insgesamt fast fünfzig ausschließlich leitenden Herren" aus. Das geschah kurz nach der Verhaftung der Führungsspitze und war, obwohl er einige Ausnahmeregelungen erwirken konnte, aus der Sicht des Vorstandsvorsitzenden der ATH AG "eine Angelegenheit von einschneidender Bedeutung". Den Entlassenen durften vom Arbeitsamt nur untergeordnete Arbeit, ,,Aufräumarbeit und dergleichen", zugewiesen werden. 639 Bei der Deutsche Röhrenwerke AG mußten im Januar 1946 "auf Anordnung der Militärregierung" vierzehn leitende Mitarbeiter gehen. 640 Im Duisburger Werk der Demag war im März 1946 ein Drittel des über dreißigköpfigen Führungspersonals, das von der Besatzungsmacht überprüft worden war, "von jeder Tätigkeit in der Firma sofort zu entbinden"641. Die Reaktion auf die Verhaftungs- und Entlassungswelle in der Eisen schaffenden 639
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Schreiben Herzogs an Franz Bartscherer v. 24. 12. 1945; Thyssen-Archiv, A/5059. Vgl. die undatierte, bis Januar 1946 geführte Chronik der Deutschen Röhrenwerke; Mannesmann-Archiv, R 15080. Vgl. die ungedruckten "Erinnerungen" des langjährigen Demag-Mitarbeiters Kar! Wasmuth; Mannesmann-Archiv, 0 1.093.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
Industrie ähnelte jener nach der Internierung der führenden Köpfe des Kohlensyndikats im Spätsommer 1945. Die unbehelligt gebliebenen Industriellen und die Politiker in der britischen Zone vermieden gegenüber der Besatzungsmacht, die ihre Stärke so eindrucksvoll demonstriert hatte, alles, was diese auch nur als vorsichtige Mißbilligung ihres drastischen Schrittes hätte verstehen können. Die Eingaben an die Militärregierung, in denen meist die Unentbehrlichkeit der Internierten betont wurde (was bei der darniederliegenden Stahlindustrie nicht völlig überzeugend wirkte), baten in der Regel darum, den Festgenommenen bald rechtliches Gehör zu gewähren und die notwendigen Untersuchungen nach Möglichkeit rasch abzuwickeln. Das Äußerste waren normalerweise Bemerkungen und Hinweise darauf, daß die Betroffenen seit der Besetzung immerhin schon einige Monate unter den Augen und mit Zustimmung der Besatzungsmacht tätig gewesen seien, oder es waren Warnungen davor, "daß in gewissen Fällen durch zweifelhafte deutsche Personen Informationen erteilt werden, die sachlich unzutreffend sind, weil sie sich häufig auf persönliche Motive gründen"642. Der unbedingten Vorsicht nach außen entsprach die kompromißIose Reaktion gegenüber den Verhafteten in den Firmen. Hier galt als oberste Maxime, unbedingt zu vermeiden, der Besatzungsmacht durch Fehlverhalten in der delikaten Angelegenheit der politischen Säuberung einen Vorwand für den Zugriff auf den Betrieb zu liefern. Bereits Ende Mai ließ etwa die Direktion der Bergbau AG Lothringen in Bochum einem verhafteten Kollegen die Nachricht übermitteln, "daß er wieder eingestellt wird, falls er außer Haft gesetzt wird und nichts Belastendes, das uns in Gegensatz zu der Militärregierung bringt, zurückbleibt"643. Die Vereinigten Stahlwerke zogen aus der Verhaftung ihrer führenden Mitarbeiter umgehend einschneidende Konsequenzen. In einer gemeinsamen Sitzung von Aufsichtsrat und Vorstand wurde Mitte Dezember 1945 beschlossen, "die durch die Maßnahmen der Militärregierung außer Funktion gesetzten Herren aus unserem eigenen Vorstande wie aus den Aufsichtsräten und den Vorständen unserer Tochtergesellschaften abzuberufen". Allein bei der August Thyssen-Hütte AG fielen neun Aufsichtsrats- und zwei Vorstandsmitglieder unter diesen Beschluß. 644 In einer Aufsichtsratssitzung der ATH Anfang Januar 1946 brachte ein Mitglied "das Interesse der Gesellschaft" auf die Kurzformei: "Wir müssen die Herren abberufen, sonst geht die Gesellschaft fort."64:; Nicht Krieg und Kapitulation, weder Umbruchskrise noch Arbeiterinitiative, es war die Besatzungsmacht, die die Industrieelite des Ruhrgebietes von einem Tag auf den anderen von ihren Kommandohöhen hinab ins Bodenlose gestoßen, persönlicher Entwürdigung anheimgegeben, in Unsicherheit, Angst und existenzielle Verzweiflung gestürzt hatte - ein ebenso brachiales wie unvergeßbares Lehrstück, mit dem ihr die Sieger zeigten, daß sie nicht nur den Willen, sondern auch die Macht besaßen, den politischen, wirtschaftlichen und personellen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen allein es noch eine Zukunft für die deutsche Industrie und ihre Eliten geben konnte. 642
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Resolution der Chefs der Länder und Provinzen der britischen Zone auf der Konferenz in Düsseldorf am 11. 12. 1945; zit. nach AVBRD, I, S. 210. Als Beispiel für zwei andere typische Reaktionen auf die Verhaftungen und Entlassungen 1945/46 vgl. die folgenden Dokumente: Schreiben des Vizepräsidenten der IHK Dortmund an die Militärregierung v. 5.12.1945; WWA Dortmund, K 1, Nr. 2319. Brief des Leiters der August Thyssen-Hütte an die Militärregierung v. 7. 1. 1946; Thyssen-Archiv, A/5201. Vgl. auch Plumpe, Vom Plan zum Markt, S. 88ff. Niederschrift über die Direktionsbesprechung v. 31. 5.1945; WWA Dortmund, F 34, Nr. 1178. Schreiben der VSt an Hüttendirektor Herzog v. 11. 1. 1946; Thyssen-Archiv, A/5646. Auszug aus der Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung, 17. 1. 1946; ebenda.
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Es ginge vollkommen in die Irre, in diesem Schock - trotz der später scheinbar ungebrochenen Weiterführung vieler Industriellenkarrieren - etwas anderes zu sehen als eine prägende Schlüsselerfahrung. Der spätere Vorstandsvorsitzende der August Thyssen-Hütte (ab 1953) und BDIPräsident Hans-Günther Sohl glaubte während seiner Internierungshaft nicht daran, "jemals wieder in der Stahlindustrie Fuß fassen" zu können. 646 Walter Rohland, der zwischen der Jahreswende 1944/45 und dem Herbst 1945 nichts unversucht gelassen hatte, um seine Nachkriegslaufbahn zu sichern, war nach der Festnahme, wie seine Kollegen auch, nicht nur von jeglichem Einfluß auf die Entwicklung "seiner" Betriebe abgeschnitten - das allein genügte schon, um weniger robuste Industrieführer in ihrem Selbstverständnis zu beschädigen -, viele Monate lang beanspruchte die Ungewißheit über sein Schicksal seine Nerven nach eigenem Bekunden "bis zum Äußersten"647; zehn Tage nach der Rückkehr aus zweijähriger Internierung wurde ihm von den Vereinigten Stahlwerken dann auch noch die Kündigung seines Vertragsverhältnisses zugestellt. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte, Bergassessor Hermann Kellermann, war nach seiner Entlassung aus britischem Gewahrsam ein gebrochener Mann. Bald nach der Freilassung schrieb der einst mächtige, jetzt beschäftigungslose Industrieführer einen Brief an Paul Reusch, in dem er keinen Hehl aus seiner Verfassung machte. Er bedankte sich für dessen Zuspruch, der ihn in seiner trüben Stimmung aufgerüttelt habe: "Ich sehe jetzt selbst ein, daß es keinen Sinn hat, immer zu grübeln und des Lebens nicht froh zu werden, da ich den Lauf der Dinge ja doch nicht beeinflussen, geschweige denn ändern kann." Mit der ihm und seiner Frau inzwischen im GHH-Werksgasthaus zugewiesenen Wohnung sei er glücklich und zufrieden. Er neige nunmehr dazu, "in aller Deutlichheit der Militärregierung zu erklären, daß ich endgültig auf eine Beschäftigungsaufnahme in Zukunft verzichten will, wie ich das schon früher beabsichtigte. Dann kann ich auch die Frage der Freigabe meines Vermögens mit Aussicht auf Erfolg aufrollen." Zuvor wollte der in die Deklassierung abgestürzte Großindustrielle darüber aber noch einmal mit Reuschs Sohn Hermann sprechen, da dieser vielleicht die Möglichkeit habe, "gelegentlich in unverbindlicher Form festzustellen, wie der Vertreter der örtlichen Militärregierung darüber denkt"648. Vollkommen zutreffend und die Wucht der britischen Maßnahmen genau ermessend, konnte deshalb schon Ende Dezember 1945 der zu dieser Zeit als hoher Finanzexperte beim Oberpräsidium in Münster tätige Hermann Höpker-Aschoff an Professor Müller-Armack, den späteren "Vater der Sozialen Marktwirtschaft", schreiben: "Die Unternehmer selbst sind heute - mit und ohne eigene Schuld - gehetztes Wild. Viele sind verhaftet, viele fürchten, morgen verhaftet zu werden."649 Wie gehetztes Wild aus ihrem Revier verjagt, erlebte die großindustrielle Führungsschicht nicht nur einen nachhaltigen Verlust an Autorität und Selbstsicherheit. Die Militärregierung hatte mit ihren Maßnahmen auch tief in das von der Besetzung nur wenig tangierte industrielle Einflußgeflecht hineingeschnitten. Aus vielerlei, meist gar Sohl, Notizen, S. 105. Vgl. Rohland, Bewegte Zeiten, S. 134f. und S. 157. 6 •• Brief v. 6. 12. 1946; Haniel-Archiv, 4001012003/35 . •'9 Schreiben v. 28. 12. 1945; zit. nach Wemer Plumpe, Auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Organisierte Industrieinteressen, Wirtschaftsverwaltung und Besatzungsmacht in Nordrhein-Westfalen 1945-1947, in: Neuland Nordrhein-Westfalen und seine Anfänge nach 1945/46, hrsg. von Gerhard Brunn, Essen 1986, S. 69. Hervorhebung von mir. 6'6 647
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
nicht auf diese Wirkung angelegten Motiven riß die Besatzungsmacht die Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder der Hütten und Zechen, deren kaum gebrochene Dynamik und Effizienz sie in den Wochen nach dem Einmarsch kennengelernt hatte, unverhofft aus ihrem schon wieder aufgenommenen "business as usual", entledigte sich ihrer und verschaffte sich so den Handlungsspielraum, den sie für die geplanten tiefen Eingriffe in die Schwerindustrie brauchte. Damit hatte die industrielle Elite im Revier ihre im Frühjahr und Sommer 1945 so selbstbewußt an den Tag gelegte Initiative vollständig verloren. Die von den demonstrativen Verhaftungs- und Entlassungswellen nicht erfaßten Manager und Kapitaleigner standen, nachhaltig eingeschüchtert, mit dem Rücken zur Wand und setzten zunächst einmal absolutes Wohlverhalten gegenüber der Besatzungsmacht an die Spitze ihres Zielkataloges. Zugleich war es den deutschen Wirtschaftsführern unmöglich, sich über die Tatsache hinwegzutäuschen und das hat die ihnen erteilte Lehre so bitter gemacht, aber auch so entscheidend verstärkt -, daß die Militärverwaltung die Ausschaltung und Deklassierung der großindustriellen Führungsschicht gerade nicht in der Hitze von Krieg und Besetzung, gewissermaßen in wahlloser Verfolgung vorgenommen, sondern kühl exekutiert hatte, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Wirtschaft und Industrie bereits einen Modus vivendi mit ihr gefunden zu haben glaubten. Entsprechend groß war das Erstaunen über dies "verspätete"650 Zupacken. Karl Jarres schrieb nach den Verhaftungen empört, durch diese "gewaltsamen Eingriffe" werde "das leidliche Zusammenarbeiten der beiden Völker, welches doch auf hoffnungsvollem Wege der Entwicklung war, auf das schwerste gestört"651. Und Günter Henle kommentierte noch über zwei Jahrzehnte später: "Das ganze Verfahren wäre noch eher verständlich gewesen, wenn die Verhaftungen sofort bei Kriegsende, also gleich zu Beginn der Besatzungszeit und gewissermaßen in der ersten begreiflichen Erregung erfolgt wären. Nach acht Monaten aber hätte immerhin ein etwas verantwortungsbewußteres Vorgehen erwartet werden können; jedenfalls von einem Eroberer, der verkündet hatte, das deutsche Volk auf den Boden des Rechts zurückzuführen."652 Aus der Perspektive der Betroffenen, auch angesichts der wirtschaftlichen Krise nach dem Zusammenbruch, mag das britische Vorgehen als wenig "verantwortungsbewußt" erschienen sein. Unter politischen Gesichtspunkten war es eine zwar brachiale, aber wirkungsvolle Demonstration, aus der unzweideutig zu entnehmen war, daß die Sieger im Krieg gegen Hitler die deutsche großindustrielle Führungsschicht nicht nur einige Galionsfiguren wie Krupp und Flick - als eine gesellschaftliche Gruppe betrachteten, die, wie immer der Einzelfall auch gelagert war, wie bitter Unrecht dem einzelnen mit der Verhaftung auch geschehen mochte, eine erhebliche Mitverantwortung für die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland und über Europa auf sich geladen hatte. Das konnte den meisten der im "business as usual" befangenen und von ihrer eigenen Unentbehrlichkeit bei der Bewältigung der Zusammenbruchskrise überzeugten Industriellen erst nach ihrem Sturz voll in das Bewußtsein dringen. Die Wirkung, die die von den Siegermächten erzwungene Denkpause und die zeitweilige Ausschaltung und Deklassierung im Denken und Handeln der In-
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Berghahn, Unternehmer, S. 59 . Schreiben an Abraham Frowein v. 6. 12. 1945; zir. nach Plumpe, Marktwirtschaft, in: Brunn (Hrsg.), Neuland, S. 70. Hervorhebung von mir . Henle, Weggenosse, S. 81.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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dustrieführer in den nachfolgenden Jahren gezeitigt hat, bedarf noch weiterer Analyse. 653 Es bedarf aber keiner besonderen Phantasie, um sich auszumalen, daß die Männer der Großindustrie, als sie zwischen 1945/46 und 1952 aus den Lagern und Gefängnissen in die Freiheit zurückkehrten, nicht mehr dieselben gewesen sein können, umgedacht hatten, zumindest bereit waren umzudenken, und bereitwillig oder nolens volens ihren Platz in einem Nachkriegsdeutschland zu suchen begannen, in dem die ehemaligen Siegermächte und die liberalen Kräfte in Politik und Gesellschaft den lange verschütteten "westlichen" Werten und Ideen einen dauerhaften Lebensraum zu geben gedachten.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung nach Hitler: Prognosen, Direktiven, Programme
Allein der bis in den Spätsommer 1945 hinein wenig geschmälerte Einfluß und das beinahe ungebrochene Selbstbewußtsein der Wirtschaftselite ließen es nicht zu, daß in den Betrieben ein "machtfreier Raum" entstehen konnte. Der Arbeiterschaft und ihren Vertretern ist deshalb in den Wochen und Monaten der Zusammenbruchskrise, in der eine Neubestimmung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erhofft oder befürchtet wurde, die Macht auch nicht zugefallen. Von den Belegschaftsvertretungen, die sich jetzt überall bildeten, wurde "das Verfügungsrecht des Kapitaleigners" keineswegs "im Prinzip durchbrachen", eine "revolutionäre Potenz" hätten sich die Betriebsräte 1945 wohl selbst nicht attestiert 654 ; auch die historische Forschung tut das inzwischen nicht mehr. Als mit Besetzung und Befreiung die Stunde der Wahrheit gekommen war, schwanden die Hoffnungen so rasch wie die Befürchtungen. Nichts erinnerte auch nur von feme an den revolutionären Aktionismus nach Ende des Ersten Weltkrieges, ein "zweites 1918", eine Obsession, die Hitler mit dem traumatisierten Bürgertum teilte und bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945 nicht abschütteln konnte 655 , hat es nicht gegeben. Auch die emigrierte Linke mußte ihre Vorstellungen vom Aufbrechen revolutionärer Unruhen nach dem Fall des nationalsozialistischen Regimes bald revidieren. 656 Nicht anders die Sozialdemokraten und Kommunisten, die innerhalb Deutschland gegen die NS-Herrschaft anzugehen versucht hatten. Als der vermeintliche Tag der Abrechnung gekommen war, wurden sie Zeugen eines merkwürdig undramatischen Übergangs in die Zeit nach Hitler. Obwohl das Unternehmertum und "die Kapitalisten" den Kommunisten schlechterdings, den Sozialdemokraten weithin und auch vielen christlich-liberalen Gewerkschaftern als Hauptschuldige und Hauptprafiteure an Nationalsozialismus und Krieg galten, waren es nicht die Arbeitermassen, sondern die Besatzungsmächte, die mit den Konzernvorständen und FabrikIn Vorbereitung hierzu der von mir herausgegebene Sammelband "Deutsche Industrieeliten zwischen Rüstungswirtschaft und Wirtschaftswunder". 6" So noch Ulrich Borsdorf, Hartmut Pietsch, Betriebsausschüsse im Ruhrgebiet, in: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, hrsg. v. Lutz Niethammer, Ulrich Borsdorf, Peter Brandt, Wuppertal 1976, S. 300f. 655 Hierzu 1/4. 656 Vgl. Wemer Räder, Die sozialistischen deutschen Exilgruppen in Großbritannien 1940-1945, Bonn 1973, S.115. 653
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
direktoren um vieles schärfer verfuhren, als es die Belegschaften der Fabriken beabsichtigten oder gar taten. Im Moment der Besetzung war es ferner gerade nicht "das Charakteristikum der frühen Organisationsversuche der Arbeiter in den Betrieben", daß ihre Tätigkeit in einen "neuen politischen Raum vorstieß"657. Im Gegenteil, nicht nur eine selbstbewußte, gegen die gesellschaftlich-politische Teilhabe am NS-System zielende Abrechnung mit einer kompromittierten Unternehmerschaft blieb aus, es wurden auch kaum Anstalten gemacht, die Verfügungsgewalt über die Produktionsstätten zu übernehmen und damit die Eigentumsverhältnisse umzustürzen. Beinahe noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß solche Ziele - trotz der bitteren Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit einer nach 1933 radikal zu ihren Ungunsten verschobenen gesellschaftlichen Kräftekonstellation - nicht einmal in den Tagen der Besetzung wenigstens gedanklich im Vordergrund der Bestrebungen der Belegschaften standen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges entlud sich auch deshalb nur so unerwartet wenig an Gewalt und Konflikt, weil sich während der nationalsozialistischen Herrschaft weniger Spannungen aufgebaut hatten, als von den Kadern der Arbeiterbewegung angenommen. Lag mehr als ein Körnchen Wahrheit in der Feststellung, die Ende 1944 in einem internen Wochenbericht des Reichspropagandaministeriums wiedergegeben wurde: "Der Arbeiter sei der zuverlässigste Gefolgsmann des Führers und nehme willig jedes Opfer auf sich"?658 War die allgemeine Misere in Not und Desorganisation Ursache der unerwarteten Stille über den einst so tiefen Gräben des Klassenkampfes? Haben die Arbeiterführer gezaudert, oder war die "Gefolgschaft" schwunglos geworden? Wie tragfähig war die in den Gefängnissen und Lagern beschworene "Einheit der Arbeiterklasse"? Oder wurden Elan und Initiative der Arbeiterschaft von einer an Ordnung, Sicherheit und "militärischen Erfordernissen" orientierten Militärverwaltung gleich wieder erstickt, kaum daß die Alliierten die Mauern des "großen politischen Zuchthauses"659 niedergerissen hatten? Die Betrachtung der ersten Wochen nach der amerikanischen Besetzung eröffnet den Blick auf Verhältnisse vornehmlich in den Bergwerken und Fabriken des Ruhrgebietes, auf innerbetriebliche Konstellationen, die zunächst noch kaum von den sich rasch Geltung verschaffenden Einflüssen der sich reorganisierenden Partei- und Gewerkschaftszirkel oder von anderen, von oben und außen kommenden Leitlinien, Erwartungen und Verboten bestimmt waren. Dabei wird deutlich werden, daß wenig Anlaß zu einer nachträglichen Überforderung der Arbeiterschaft durch die Historiker besteht. Denn in der Tat ist "der in der Literatur geäußerte Vorwurf an die Adresse der Aktiven der ersten Stunde, sie hätten sich sozusagen als kleineres Übel auf die Rekonstruktion der organisatorischen Gestalt der Arbeiterbewegung gestürzt und sich damit verzettelt, anstatt sich auf die Verwirklichung des Sozialismus zu konzentrieren, völlig unangemessen und, wenn vielleicht auch ungewollt, zynisch und inhuman" (Helga Grebing)660. 657 658
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Borsdorf, Pietsch, Betriebsausschüsse, in: Arbeiterinitiative 1945, S. 297. Hervorhebung im Original. Bericht v. 4. 12. 1944; zit. nach Marlis G. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. 526. Timothy W. Mason, Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Carola Sachse, Hasso Spode, Wolfgang Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 52. Helga Grebing (Hrsg.), Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949,
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Für die Offiziere der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht, die ab Herbst 1944 nach Deutschland kamen, war es schlechterdings unmöglich, sich eine auch nur einigermaßen zutreffende Vorstellung von den Herausforderungen zu machen, die auf sie beim Umgang mit den Belegschaften in den deutschen Industriezentren warteten. Von den umfangreichen Analysen und Memoranden, die dazu seit der Intensivierung der Besatzungsplanung im Frühjahr 1944 in London und Washington entstanden, erhielten die Militärverwaltungen bestenfalls dann spärliche Kenntnis, wenn sich einige Grundannahmen daraus in ihren Handbüchern und Direktiven niederzuschlagen begannen. Von der zu diesem Zeitpunkt in allen Planungsgremien noch wie selbstverständlich zugrundegelegten Vorstellung ausgehend, Deutschland werde von der Militärverwaltung als "funktionierender Betrieb" übernommen werden können 661 , erarbeitete eine kleine Gruppe von Deutschlandexperten im State Department bereits im Mai 1944 ein Grundsatzpapier ("Politik hinsichtlich der Arbeiterschaft").662 Es empfahl, Organisationen wie die DAF oder die "Vertrauensräte" sofort nach der Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland abzuschaffen. In der anschließenden kritischen Periode des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft würden gegenüber der Arbeiterschaft und ihren neuen betrieblichen wie überbetrieblichen Vertretungsorganen noch eine Reihe von Kontrollen bestehenbleiben. Alle Aktivitäten der Belegschaften - und darunter wurden vor allem Streiks verstanden -, die die militärische Sicherheit oder die Besatzungsziele gefährdeten, sollten unterbunden bleiben. Andererseits betonte das Memorandum aber, daß der deutschen Arbeiterschaft nach der Stabilisierung der Lage im Besatzungsgebiet ihre 1933 verlorenen Rechte wieder zuzuerkennen seien, und zwar das Recht auf Bildung einer nationalen Gewerkschaft und auf die Tarifhoheit, die Wiederbelebung der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie die Bildung von Betriebsvertretungen in Anlehnung an das Betriebsrätegesetz von 1920. Im ganzen galt die deutsche Arbeiterbewegung der Planungsgruppe im Außenministerium als ein Hort des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, als demokratisch-reformorientierte politische Kraft, der die Militärregierung getrost ihre Unterstützung angedeihen lassen könne. Radikale, gesellschafts umwälzende Forderungen waren mit der beabsichtigten, von der Besatzungsmacht durchzusetzenden "kontrol-
661 662
Stuttgart 1983, S. 38. Beispiele einer differenzierten Sicht der Lage der Arbeiterschaft und der Aktivitäten der Betriebsräte 1945 geben vor allem: Manfred Rüther, Zwischen Zusammenbruch und Wirtschaftswunder. Betriebsratstätigkeit und Arbeiterverhalten in Köln 1945 bis 1952, Bonn 1991 (ich danke dem Autor für die Überlassung seiner vorzüglichen Studie im Manuskriptstadium). Ulrich Borsdorf, Speck oder Sozialisierung? Produktionssteigerungskampagnen im Ruhrbergbau 1945-1947, in: Hans Mommsen, Ulrich Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 345ff. Alexander von Plato, "Der Verlierer geht nicht leer aus". Betriebsräte geben zu Protokoll, Berlin 1984. Ulrich Herbert, Zur Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft 1930 bis 1960 aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: Lutz Niethammer, Alexander von Plato (Hrsg.), "Wir kriegen jetzt andere Zeiten". Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin 1985, S. 19f1. Michael Fichter, Aufbau und Neuordnung: Betriebsräte zwischen Klassensolidarität und Betriebsloyalität, in: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsrefonn, München 1988, S. 469fl. Hierzu 1/5. Vgl. Michael Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften. Zur Entwicklung und Anwendung der USGewerkschaftspolitik in Deutschland 1944-1948, Opladen 1982, S. 60; das folgende Zitat eben da. Bei der knappen Referierung der Besatzungsplanung in Washington und London zur Arbeits- und Gewerkschaftspolitik folge ich im wesentlichen der detaillierten Studie Fichters und dem Aufsatz von Rolf Steininger, England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung 1945/46, in: AfS XVlll (1978), S. 41 ff.
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v. Die Besetzung des Ruhrgebietes
lierten Erneuerung" allerdings unvereinbar. Deshalb waren es die alten Weimarer Gewerkschafter und Sozialdemokraten, denen das State Department eine ebenso maßgebende wie mäßigende Rolle nach Hitlers Sturz zuschrieb. Obwohl diese Studie vom Frühjahr 1944 keine unmittelbare Wirksamkeit erlangte, ja nicht einmal die abschließende Billigung des Außenministeriums finden konnte, deuteten sich darin doch schon die Grundzüge der späteren Haltung der Besatzungsmacht gegenüber der deutschen Arbeiterschaft und ihren Vertretern an. Ehe im November und Dezember 1944, nach der Intervention Morgenthaus in die Besatzungsplanung66 3, die bis in den Sommer 1945 hinein gültigen allgemeinen Politikanweisungen an die Militärverwaltung in Deutschland herauskamen, erreichte in London und Washington die Flut von Denkschriften zur Lage und zum voraussichtlichen Verhalten der deutschen Arbeiterschaft bei Kriegsende, die Flut der Empfehlungen für den richtigen politischen Umgang mit ihr einen beträchtlichen Pegelstand. Einige davon befaßten sich nur mit den notwendigen vorläufigen Regelungen zu Beginn der Besetzung, die meisten aber entfalteten bereits umfassende, als Teil des alliierten Programmes zur gesellschaftlichen und politischen Umgestaltung Deutschlands verstandene Entwürfe. Die kenntnisreichsten und anspruchsvollsten Prognosen zur Lage und zum voraussichtlichen Verhalten der Arbeiter im Besatzungsgebiet erstellte auf amerikanischer Seite die Research & Analysis Branch des OSS, wo aus Deutschland emigrierte Experten überragenden intellektuellen Zuschnitts (wie der friihere Gewerkschaftsjurist und Politologe Franz L. Neumann, der StaatsrechtIer Otto Kirchheimer und der Philosoph Herbert Marcuse) den Ton angaben. 664 Louis A. Wiesner, beim Stab Eisenhowers und Clays als Politischer Berater für Fragen der Arbeits- und Gewerkschaftspolitik zuständig, qualifizierte die Gruppe um Neumann als "dezidiert pro-sozialdemokratisch"665. Diese deutschen Emigranten entfalteten während des Jahres 1944 für die Civil Affairs Division des War Department eine wertvolle Beratertätigkeit. In ihren im Frühjahr und Sommer entstandenen Studien gingen die Spezialisten der Research & Analysis Branch von der Annahme einer überaus turbulenten Übergangsperiode zwischen dem Fall des NS-Regimes und der Etablierung der alliierten Besatzungsherrschaft aus, in der mit einer Welle spontaner und radikaler Aktionen gerade auch der Arbeiterschaft zu rechnen sei. "Der Zusammenbruch der Regierung", so eine umfassende Analyse, die vorgelegt wurde, als die ersten amerikanischen Einheiten die Reichsgrenzen überschritten 666 , "werde möglicherweise das Signal zu revolutionären Aktionen von unten, zu Streiks, zu Blutvergießen und Gewaltanwendung sein. Höchstwahrscheinlich werden sich diese revolutionären Impulse in Räten institutionalisieren." Deutschland werde "mit Hunderten, vielleicht Tausenden solcher revolutionären Organe übersät" sem. In Reminiszenz an 1918/19 wandte sich die Studie dann dem "Problem ,Zentralregierung versus Räte'" und den daraus für die Militärverwaltung erwachsenden Schwierigkeiten zu: "Es wäre gefährlich, die Räte aufzulösen. Denn dies würde bedeuten, ge663 664
66' 666
Vgl. 1/5. Siehe die Einleitung zu Alfons Söllner (Hrsg.), Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1: Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1943-1945, Frankfurt 1982, S. 7 H. Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 61. Die im Frühjahr begonnene R&A-Studie Nr. 2076 v. 18.9. 1944 ist abgedruckt bei Söllner (Hrsg.), Archäologie der Demokratie, 1, S. 212fl. Zitate auf S. 22Ofl.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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nau diejenigen Organe zu zerstören, die den Abscheu vor dem Nationalsozialismus und die Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft spontan ausdrücken. Andererseits können diese revolutionären Organe, wenn sie alle Gewalt auf sich vereinigen, unmöglich beibehalten werden." Für eine Weile sollten sie als Übergangsvertretungen geduldet bleiben, doch sobald die militärische Sicherheit es erlaube, allgemeine Wahlen abgehalten werden. Das dornigste Problem würden die Arbeiterräte sein, prophezeite die Gruppe um Franz Neumann : "Da sie revolutionäre Organe sind, werden sie zweifellos die Eigentumsverhältnisse umzuwälzen trachten. Die Arbeiterräte werden die Eigentümer enteignen und die Fabriken selbst verwalten wollen." In dieser Phase aufgewühlter Klassenkämpfe kam nach Ansicht der OSS-Analytiker den Gewerkschaften als dämpfende und kanalisierende Instanz eine Schlüsselrolle zu. In gleichem Maße allerdings, wie sich der Wiederaufbau der Gewerkschaften verzögere, würden die Arbeiterräte "zunehmend größere Bedeutung als Organe gewerkschaftlicher Aktivität erlangen. Die vollständige Zerstörung der Gewerkschaften durch die Nazis", fuhr die Studie fort, "das hohe Alter der überlebenden Gewerkschaftsführer, die zweideutige Rolle, die diese Führer in der letzten Phase der Weimarer Republik gespielt haben, die Überbürokratisierung der Gewerkschaftsbewegung - all diese Faktoren werden die rasche Wiederbelebung und die nationale Organisierung von Gewerkschaften ohne Hilfe von außen ernsthaft behindern ... Vielleicht werden allein aus den Räten Gewerkschaften und eine neue politische Arbeiterbewegung hervorgehen. Dennoch scheint ihre Anerkennung unter einer Militärregierung nicht möglich. Die Anerkennung der Arbeiterräte, unmittelbar so wie und wo sie entstehen, würde ein politisches und ökonomisches Chaos sanktionieren." Im Civil Affairs Guide "Labor Relations and Military Government", einem etwa um dieselbe Zeit entstandenen Leitfaden für Besatzungsoffiziere, den Franz Neumann für das Kriegsministerium geschrieben hatte, wurde die Schlüsselfunktion nationaler Gewerkschaften ebenfalls herausgestrichen. 667 Orientiert an der Weimarer Tradition, würden diese versuchen, Kollektivverhandlungen zu führen und ihre politischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten wiederaufzunehmen. Die Gewerkschaften sollten in Deutschland letztlich eine Stellung einnehmen, aus der heraus sie die Interessen der Arbeiterschaft "mit ganzer Autorität" vertreten konnten. Generell war im Civil Affairs Guide wie in der Studie der Research & Analysis Branch die Empfehlung an die Militärregierung ausgesprochen, sich gegenüber demokratischen Initiativen positiv zu verhalten, ihnen nach Möglichkeit Organisationsfreiheit zu gewähren und damit den Aufbau von Gewerkschaftsgruppen und Betriebsvertretungen zu fördern. Zur Wiederherstellung ähnlicher Arbeitsbeziehungen wie in der Weimarer Zeit sahen die Analytiker um Franz Neumann keine realistische Alternative. Die Betriebsräte nahmen im Rahmen dieser politischen Empfehlungen einen kaum weniger wichtigen Platz ein, zumal die Industriebetriebe darin als Hauptschauplatz möglicher radikaler Arbeiteraktionen figurierten. Manche Fabriken würden bei der Besetzung bereits von Arbeiterräten enteignet sein, glaubten die deutschen Emigranten im OSS, manches Werk eine gemischte Betriebsleitung aus Arbeitervertretern und früheren Eigentümern haben. "Solche weitreichenden Umwandlungen sollten jedoch nur einheitlich und für ganz Deutschland verbindlich betrieben werden", hieß es in der Research & 667
Ausführlich hierzu Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 62 H. Zitat auf S. 63.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Analysis-Studie vom September 1944. Deswegen werde die Militärregierung die von den Räten getroffenen Entscheidungen höchstwahrscheinlich rückgängig machen müssen. Die sozialdemokratisch orientierten aSS-Experten empfahlen in dieser, wie sie selbst sagten, höchst schwierigen Situation eine mittlere Linie zwischen Inkaufnahme vollkommen unkontrollierbarer Verhältnisse in den lebenswichtigen Industrierevieren und einem konzessionslosen Roll-back sämtlicher wirtschaftsdemokratischer Errungenschaften, die eine politisch entfesselte Arbeiterschaft vielleicht schon für sich erkämpft hatte. Diesen Kurs würden die amerikanischen Besatzungsoffiziere wohl noch am ehesten durchhalten können. Die Militärregierung solle, so lautete die Empfehlung, Sorge dafür tragen, daß "nicht der status qua ante wiederhergestellt, d. h. das Eigentum nicht einfach den früheren Besitzern zurückerstattet wird. Die Besitzer und Manager der von Arbeiterräten besetzten Fabriken sollten auf nazistische Tätigkeiten und Sympathiehandlungen überprüft und nicht wiedereingesetzt werden, wenn sich herausstellt, daß sie Nazis sind. In diesen Fällen sollte die Militäregierung aus den Reihen der Arbeiterräte oder anderer nicht-nazistischer Mitarbeiter vorübergehend Manager ernennen. Zusätzlich sollte durch Proklamation der Militärregierung der Status der Arbeiterräte als Beschwerdeausschuß legalisiert werden, ähnlich wie im Betriebsrätegesetz von 1920 vorgesehen, allerdings mit dem Recht, in allen Angelegenheiten der Betriebsführung mitzusprechen. Die Proklamation sollte demokratische Wahlen zu den Arbeiterräten vorschreiben, sobald die militärische Sicherheit dies erlaubt."668 Dieser dämpfenden, um Kanalisierung der erwarteten revolutionären Impulse bemühten Strategie war im Hinblick auf eine im besetzten Deutschland in jedem Falle ständig an der Grenze zur Überforderung agierenden Militärverwaltung und angesichts der Bürde, die die westlichen Siegermächte bei der Unterstützung der befreiten Länder Westeuropas zu tragen hatten, ein hohes Maß an verantwortungsbewußtem Realismus nicht abzusprechen. Sie bestimmte das Denken der Neumann-Gruppe auch bei der Erörterung des Wiedererstehens der Arbeiterparteien. Ihre Empfehlungen fielen hier zurückhaltender aus als bei der Betriebsräte- und Gewerkschaftsfrage, doch vor dem Hintergrund der Herausforderungen gelesen, die auf die Besatzungsarmee in Deutschland warteten, waren sie ebenfalls unmißverständlich. 669 Nach dem Ende der Kampfhandlungen, so die Prognose, würde sich auf der Linken die alte Parteienstruktur von vor 1933 rasch wieder beleben; das Gewicht der Kommunisten, Sozialdemokraten und linken Katholiken werde voraussichtlich größer sein "als zu irgendeinem Zeitpunkt während der Weimarer Republik". Man dürfe jedoch nicht erwarten, "daß breite Schichten der Bevölkerung sich nun sofort politisch engagieren und artikulieren werden. Es wird eher das Gegenteil der Fall sein. Die bestimmenden Faktoren des Verhaltens werden politische Apathie und eine fast ausschließliche Konzentration auf die ,Privatsphäre' und den häuslichen Alltag sein", hieß es in der OSSStudie. ,,Apathie der Massen indes verringert das politische Problem in keiner Weise, im Gegenteil, sie intensiviert es, denn sie überläßt das Feld entschlossenen Minderheiten, die nicht unbedingt die unbewußten Hoffnungen und Forderungen der Massen ausdrücken." 668 669
Hetvorhebung im Original. R & A-Studie Nr. 2076 v. 18.9. 1944, in: Söllner (Hrsg.), Archäologie der Demokratie, 1, S. 212 H. Zitate auf S. 225.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Was mit dem Begriff "entschlossene Minderheit" gemeint war, kam bereits in einer ebenfalls im Sommer 1944 vorgelegten R & A-Studie deutlich zum Ausdruck. Diese stellte nämlich Charakterisierungen der Kommunistischen Partei und der Sozialdemokratie, wie sie sich vermutlich zum Zeitpunkt der Besetzung präsentieren würden, einander gegenüber. 670 Es stehe zu erwarten, daß die Sozialdemokratische Partei wieder als Verfechterin einer liberalen Demokratie, "als Partei der Reform und nicht als revolutionäre Partei in Erscheinung treten" werde; lediglich eine schrittweise Sozialisierung der Schwerindustrie und des Bankwesens sowie die Enteignung des Großgrundbesitzes werde sie fordern: "Die überwiegende Mehrzahl der Parteimitglieder", hieß es weiter, "sind ältere Arbeiter zwischen 31 und 60 Jahren, die wahrscheinlich ihre Hauptstütze bleiben werden und deren dringlichster Wunsch der nach Frieden und größtmöglicher sozialer Stabilität sein wird. Zudem hat die Sozialdemokratische Partei stets enge Verbindungen zu den Gewerkschaften gehabt, die ihrer ganzen Struktur nach auf Zusammenarbeit zwischen Management und Arbeiterschaft angelegt sind." Auf eine politische Kraft wie diese, so die unausgesprochene Schlußfolgerung, werde sich eine Besatzungsverwaltung, die maximale Kontrolle und politisch-gesellschaftliche Reform miteinander verbinden wollte, zweifellos gut stützen können. Die Kommunisten erschienen Neumann und seinen Kollegen demgegenüber nur in einer Hinsicht verläßlich, nämlich als scharfe und entschlossene Widersacher eines reaktionären Nationalismus und des Nationalsozialismus. In diesem Punkt waren sie willkommene Verbündete der Militärverwaltung, doch zugleich blieben diese "entschlossene Minderheiten" Troublemaker besonderer Art. "Die sozialistische Revolution wird das Ziel der Kommunistischen Partei bleiben", prophezeite die Studie von Juli 1944, "sie wird jedoch unter den Bedingungen der Militärregierung ein ,Minimalprogramm' formulieren, das die Verwirklichung dieses Ziels zunächst zurückstellen und Konflikte mit den Besatzungsbehörden möglichst vermeiden wird." Den rein taktischen und opportunistischen Charakter dieser Zurückhaltung unterstrichen die Analytiker in Washington noch mit der Bemerkung: "Die Kommunistische Partei wird also vorläufig auf den Kampf für die Diktatur des Proletariats verzichten und im Rahmen demokratischer Verfahren und Zielvorstellungen operieren."671 Trotzdem würden erhebliche Kontrollprobleme zu erwarten sein, denn nach Überzeugung des OSS würden die Kommunisten "ihre Politik gegenüber der Arbeiterklasse eher im lokalen als im nationalen Rahmen definieren, eher auf Arbeiterräte als auf Gewerkschaften hin ausrichten"; es könne deshalb in Fabriken und Betrieben "zu Störung wichtiger Dienstleistungen (durch Streiks, Fabrikbesetzungen usw.) kommen". Auch dagegen werde die Militärverwaltung vorgehen müssen. Die deutschen Experten des OSS, die die Orientierung von Besatzungsarmeen an "militärischer Notwendigkeit" und "Gesetz und Ordnung" kannten, warnten immerhin aber davor, in der Umbruchskrise Gewalt von rechts mit Gewalt von links gleichzusetzen. Bei Strafmaß und Art der Bestrafung solle "grundsätzlich zwischen von den Nazis begangenen Gewalttaten und solchen Handlungen unterschieden werden, die von Nazigegnern 670
R & A-Studie Nr. 1655.1 v. 21. 7. 1944 "Leitfaden für die Zivilverwaltung - Politische Leitsätze zur Rekonstruktion alter Parteien und zur Gründung neuer Parteien in Deutschland"; abgedruckt bei SöHner (Hrsg.), Archäologie der Demokratie, 1, S. 195 ff. Zitate S. 201 ff.
671
Hervorhebung von mir.
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begangen worden sind und die sich gegen bekannte Terroristen und Hintermänner des Naziregimes richten". Die Skepsis gegen eine unsensible Einheitsjustiz der Military Govemment Courts, die in solchen Differenzierungen zum Ausdruck kam, war gewiß berechtigt, die Quintessenz der OSS-Papiere des Sommers 1944 blieb davon aber unberührt. Sie lautete: Die Stabilisierungsanstrengungen der Besatzungsverwaltung in Deutschland werden durch die Haltung der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft vermutlich eher erleichtert, durch kommunistisch orientierte Arbeiter wahrscheinlich eher erschwert. Hinsichtlich der viel beschworenen "Einheit der Arbeiterklasse" waren Neumann und seine Mitarbeiter nicht sehr euphorisch. Sie glaubten nicht recht an eine aufrichtige Zusammenarbeit der vor 1933 bitter entzweiten Linksparteien, sondern befürchteten, "ein Wiederaufleben der heftigen Kontroversen zwischen dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen Flügel" könne gar "zu Blutvergießen und Unruhen in weiten Teilen des Landes führen". Und noch ein anderer recht pessimistischer Gedanke scheint in den amerikanischen Überlegungen auf, die einige Wochen vor dem Einmarsch in das Grenzgebiet bei Aachen zur Lage der Arbeiterschaft in Deutschland nach der NS-Zeit angestellt wurden; sie schlugen sich in dem Civil Affairs Guide "Labor Relations and Military Government" nieder. Unter den neuen Gewerkschaften und Betriebsvertretungen, hieß es da, würden sich vermutlich auch nationalsozialistisch orientierte Gruppierungen finden. Neumann hielt es sogar für möglich, daß Betriebsgewerkschaften "als Deckmantel zur Fortsetzung von NS-Aktivitäten in den Betrieben" gegründet werden könnten. 672 Der Civil Affairs Guide, der im Sommer 1944 von der Mehrheit eines interministeriellen Genehmigungsausschusses wohlwollend aufgenommen wurde, sah deswegen vor, daß die Befugnisse der Betriebsräte nicht über den Rahmen des Gesetzes von 1920 hinaus erweitert werden sollten. Der Militärverwaltung, die sich im Zweifel eher auf eine zu stärkende Gewerkschaftsbewegung als auf Betriebsräte stützen sollte, wurde gleichwohl empfohlen, Arbeitervertretungen in den Fabriken zu akzeptieren, zumal dadurch radikale Elemente am besten integriert werden könnten. Die amerikanische Kontrollratsgruppe USGCC ihrerseits hatte bis zum Oktober 1944 vor allem drei Grundgedanken zur Arbeiterpolitik in den Vordergrund gerückt: Die Militärregierung sollte der deutschen Arbeiterschaft den Aufbau von Organisationen zum Zwecke von (unter der Besatzungsherrschaft zunächst freilich obsoleten) Kollektivverhandlungen und gegenseitiger wirtschaftlicher und sozialer Hilfe gestatten; sie solle darauf achten, daß diese Arbeiterorganisationen nicht zur Aufrechterhaltung nationalsozialistischen Einflusses mißbraucht würden, und schließlich Arbeitsniederlegungen, die die Sicherheit der Truppe gefährdeten und die Besatzungsziele beeinträchtigten, unterbinden. Die Analysen des Braintrusts um Neumann, Marcuse und Kirchheimer waren die wohl sachverständigsten, die damals im Lager der Alliierten zur Lage der Arbeiterschaft angestellt wurden, doch gelang es nicht, die daraus resultierenden Empfehlungen auch in Direktiven für die praktische Arbeit der Militärregierung umzugießen. Das lag zum einen daran, daß eine Vielzahl von Regierungsbehörden im Entscheidungsprozeß über die Richtlinien der künftigen amerikanischen Besatzungspolitik 672
Zitiert nach der Paraphrase bei Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 63.
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mitsprach, vor allem aber an der dramatischen Intervention Henry Morgenthaus in die Deutschlandplanung. Ab Herbst 1944 ließen sich all die abgewogenen Erörterungen über das zweckmäßigste Vorgehen der Besatzungsoffiziere politisch recht bequem mit dem Wörtchen "weich" erledigen. 673 Maßgebend für die Politik der alliierten Besatzungsverwaltung zwischen Herbst 1944 und Sommer 1945 wurden schließlich zwei, unter dem Eindruck des massiven Eingreifens des amerikanischen Finanzministers entsprechend modifizierte Grunddokumente des Alliierten Oberkommandos: die "Directive for Military Government of Germany" vom 9. November 1944 und das "Handbook for Military Government of Germany" vom Dezember 1944. 674 De jure standen sie bis zur Auflösung von SHAEF Mitte Juli, de facto noch vierzehn Tage länger, bis zum "Potsdamer Abkommen" von Anfang August 1945, in Geltung. Der einschlägige Passus in der Direktive vom November 1944 lautete schlicht: "Sie können die Bildung einer demokratischen Gewerkschaftsbewegung und anderer freier wirtschaftlicher Vereinigungen zulassen, vorausgesetzt, daß es sich nicht um die Vertretungen von Nazigruppen handelt. Sie werden Streiks und Aussperrungen verhindern, die die militärische Sicherheit oder andere Ziele des Oberbefehlshabers gefährden." Diese beiden zentralen Bestimmungen kehrten natürlich im "Handbook" wieder, es waren darin neben Vorschriften zur "Labour Policy" allgemein und zur Auflösung von "Nazi Labour Organisations" aber noch einige weitere Erläuterungen für den Besatzungsoffizier enthalten. "Die Arbeiterklasse wird bei der Auflösung der DAF", so das Handbuch, "wahrscheinlich versuchen, sich für Tarifverhandlungen, für die Vertretung bei Beschwerden und Konflikten und für eine eventuelle Ausübung politischer Macht zu organisieren." Ganz besonders herausgestellt war die Gefahr einer nationalsozialistischen Unterwanderung von Gewerkschaftsgruppen und Betriebsräten. Dazu hieß es: ,,Angesichts jahrelanger Nazi-Indoktrinierung von Arbeitern und der Unterdrückung der Freiheit des Handeins und Denkens wird es notwendig sein, die Entwicklung von Gewerkschaften und Tarifverhandlungen genau zu überwachen, damit sichergestellt wird, daß diese nicht als Instrumente für die Wahl von Nazifunktionären als Arbeiterrepräsentanten und für die Weiterführung von Nazi-Organisationen unter neuen Namen benutzt werden." Ebenso wie Franz Neumann von OSS, der schon auf die Gefahr hingewiesen hatte, nationalsozialistisch orientierte Arbeiter könnten sich nach der Besetzung in den neu gebildeten Betriebsvertretungen Machtpositionen verschaffen, sahen auch die maßgeblichen Arbeitsoffiziere der Militärregierung die antifaschistisch-demokratische Einstellung der Masse der deutschen Arbeiterschaft durchaus nicht als gegebene Tatsache an. Sie durfte der Politik der Besatzungsverwaltung deshalb keineswegs als Axiom zugrunde gelegt werden. 675 Ein amerikanischer Labor Officer, der im Frühjahr 1945 nach Deutschland kam, hat seine und die Unsicherheit seiner Kollegen in diesem Punkt später so beschrieben: "Ich muß vor mir selbst zugeben, und ich bin sicher, dies 673
674
67>
Zur Besatzungsplanung siehe 1/5. Das folgende stützt sich auf Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 65 f. SHAEF, Office of the Chief of Staff, "Directive for Military Government of Germany, Prior to Defeat or Surrender" vom 9. 11. 1944; NA, RG 331, 11.505, G-5, OPS-Germany-Country Unit, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. SHAEF, Handbook for Military Government of Germany, Prior to Defeat or Surrender, Dezember 1944; HZ-Archiv, Dk 090.009. Vgl. Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 87. Das folgende Zitat entstammt einem Interview, das Fichter 1978 mit Frantz Loriaux führte, der zunächst in der amerikanischen Militärregierung für Bayern und später bei HICOG tätig war; eben da, S. 118.
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trifft auf viele von uns zu, daß wir uns insgeheim große Sorgen darüber machten, wie sich die Deutschen wohl verhalten werden, sogar die deutschen Arbeiter. Ob sie vom Nazismus so stark befallen waren, daß sie ehemalige Nazis als Gewerkschaftsfunktionäre wählen werden? Mir schien das eine berechtigte Sorge zu sein, und ganz gewiß hatten sie alle von uns. Ich glaube, daß alle von uns insgeheim diese Sorge hatten." In den SHAEF-Direktiven war dieser Gefahr, die angesichts der unerhörten Einsatzbereitschaft der deutschen Industriearbeiterschaft bis in die letzten Kriegswochen hinein nicht aus der Luft gegriffen war, Rechnung getragen, eine Tatsache, die sich nicht auf die im Gefolge der "soft peace"-Polemiken einsetzende Verhärtung der Haltung gegenüber den Ansprüchen von einheimischen oder emigrierten NS-Gegnern auf Mitsprache beim politischen Neuanfang in Deutschland zurückführen läßt. Die britischen Besatzungsplaner, denen kein Morgenthau auf die Finger sah, verwiesen genauso auf die hier lauernden Gefahren. Das um die Jahreswende 1944/45 erarbeitete zentrale Memorandum führte nämlich hierzu aus, es sei klar, daß elf Jahre NS-Herrschaft und Krieg eine Situation geschaffen hätten, in der eine lange Vorbereitungs phase nötig sei, bis in Deutschland wieder eine freie Gewerkschaftsbewegung mit verläßlichen Führern Verantwortung übernehmen könne. Die Mitarbeiter des Economic and Industrial Planning Staff (einer Schlüsselbehörde der britischen Besatzungsplanung) und des Arbeitsministeriums empfahlen deshalb, in Deutschland unbedingt darauf zu achten, daß "eine entstehende Gewerkschaftsbewegung nicht als Instrument einer Wiedergeburt von Nationalismus oder als Deckung für Untergrundaktivitäten benutzt wird". Dieser Passus fand unverändert Eingang in die britische Direktive zur Arbeiterpolitik, die im Juni 1945 der European Advisory Commission zur Beratung vorgelegt wurde. 676 Ebenso wie die Analytiker und Besatzungsplaner in Washington und London rechnete auch die sozialistische Emigration mit revolutionären Turbulenzen bei Kriegsende. Die Programmentwürfe der Landesgruppe Deutscher Gewerkschafter in Großbritannien von 1944 nahmen an, die ersten Interessenvertretungen der deutschen Arbeiterschaft würden sich "aus den Kämpfen der illegalen Organisationen und Kräften gegen Nazi-Regime und Krieg entwickeln". Diesen betrieblichen und örtlichen, "vom Vertrauen der Arbeitenden getragenen" Ausschüssen werde in der Übergangszeit eine wichtige Rolle zufallen. 677 Auch die "Union deutscher Sozialistischer Organisationen in Großbritannien" dachte um diese Zeit noch an revolutionäre Sofortmaßnahmen, die damit eingeleitet würden, daß aus Kräften des Widerstandes gebildete lokale Selbstverwaltungskörperschaften den nationalsozialistischen Machtapparat liquidierten, die Verwaltung, die vorläufige Rechtsprechung und die Polizeigewalt übernähmen, die Versorgung und die Produktion sicherten, sowie das Informations- und Erziehungswesen in antifaschistischem Geist neu ordneten. "Neubeginnen" und die "Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP) betonten besonders die demokratische Kontrolle von unten, der ebenfalls zur Union gehörende "Internationale Sozialistische Kampfhund" (ISK) sah in den "sowjetischen Revolutionsvorbildern nachgezeichneten ,Betriebsausschüssen' der Übergangszeit die Ausgangspunkte für die örtli676
677
Zu den britischen Überlegungen vgl. Steininger, England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 41 ff. Zitat S. 46. So die Fassung der "Programmvorschläge" der Landesgruppe ("Die neue deutsche Gewerkschaftsbewegung") vom September 1944; NA, RG 260, 17/257-2/7. Ausführlich hierzu Räder, Exilgruppen, S. 236ff.
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che Selbstverwaltung, die Zerschlagung des NS-Apparates, die Kontrolle der Produktion und die Übernahme des Großgrundbesitzes durch die Landarbeiter"678. In einer Programmschrift der SAP vom Juli 1944, die als wohl gründlichste Vorbereitung deutscher Emigranten auf ihre Arbeit im Nachkriegsdeutschland bezeichnet worden ist, war mit Blick auf die unvollendete Revolution von 1918/19 die Hoffnung auf eine neue "deutsche Revolution" ausgesprochen. Die Verfasser rechneten bei Kriegsende mit einer "unbändigen Raserei gegen Naziführer und Gestapoleute". Danach sollten Soldatenräte, vor allem aber Betriebsräte "die politische Willensbildung initiieren"679. Vergleichbare Vorstellungen für die kritischen Monate zwischen Zusammenbruch des NS-Systems, alliierter Besetzung und einer ersten Konsolidierung der Verhältnisse schließlich hatten sozialdemokratische und kommunistische Gruppen entwickelt, die in Deutschland im Untergrund lebten oder in den Gefängnissen und Konzentrationslagern aushielten. Auch sie rechneten mit basisdemokratischen Ausschüssen als ersten Organen politischer Kontrolle und Willensbildung. Das berühmte Buchenwalder Manifest vom 13. April 1945 etwa forderte "einen neuen Typ der Demokratie", die den "breiten Massen in Stadt und Land eine effektive Betätigung in Politik und Verwaltung" ermögliche. In allen Orten seien "zuerst" antifaschistische Volksausschüsse zu bilden, "die sobald als möglich durch Heranziehung antifaschistischer Organisationen auf eine urdemokratische Grundlage zu stellen sind"680. Erste Begegnung mit der deutschen Arbeiterschaft im Aachener Steinkohlerevier im Herbst 1944
Die ersten Vertreter der Arbeiterklasse aus Fleisch und BIut, mit denen die amerikanischen Besatzungsoffiziere in Deutschland in Berührung kamen, nachdem an den Schreibtischen in Washington und London so viel Tinte geflossen war, waren die Bergleute des Steinkohlereviers nördlich von Aachen. 681 Nach einer unerwarteten Verhärtung der Kämpfe an der Reichsgrenze waren die Gruben auf dem Westufer der Rur schließlich in den beiden ersten Oktoberwochen 1944 an die U.S. Army gefallen. Auf den Zechen in Alsdorf, Baesweiler, Kohlscheid, Übach-Palenberg oder Merkstein, wo der regional dominierende Konzern, der Eschweiler Bergwerks-Verein, nicht weniger als 1600 Mann Notbelegschaften in den zur Evakuierung vorgesehenen Gebieten zurückgelassen hatte 682 , gingen die Mining Officers der Alliierten sofort daran, die Bergwerke zu sichern und notdürftig instand zu setzen. 678
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Ebenda, S. 224; allgemein hierzu ebenda, S. 216ff. Zu den Vorstellungen des ISK siehe Sabine LemkeMüller, Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988. Einen "Längsschnitt" zu Schicksal und Selbstverständnis eines sozialistischen Emigranten und dessen Konfrontation mit den Realitäten des Deutschland nach 1945 bietet Hartrnut Mehringer, Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie - Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München 1989. Vgl. Helga Grebing (Hrsg.), Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944-1948, München 1984, S. 14. Zit. nach Frank Moraw, Die Parole der "Einheit" und die Sozialdemokratie. Zur parteiorganisatorischen und gesellschaftspolitischen Orientierung der SPD in der Periode der Illegalität und in der ersten Phase der Nachkriegszeit 1933-1948, Bonn 1973, S. 67 I. Vgl. auch Arnold Sywottek, Deutsche Volksdemokratie. Studien zur politischen Konzeption der KPD 1935-1946, Düsseldorf 1971, insbes. S. 195fl. Zu den Kämpfen im Aachener Raum siehe lI/I. Memorandum von SHAEF, G-5, "Management of Coal Mines in Aachen Area" v. 6.3. 1945. Anlage zum Schreiben Murphys an das State Department v. 7. 5. 1945; NA, RG 84, Polad 731/3.
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An eine nennenswerte Förderleistung war im Aachener Revier um diese Zeit aber nicht zu denken. Ende 1944 lief weniger als ein Zwanzigstel der durchschnittlichen Produktion während des Krieges über die Bänder. Das lag vor allem an dem Mangel an Arbeitskräften. Von etwa 25.000 Beschäftigten des Eschweiler Bergwerks-Vereins arbeiteten bei Jahresende erst wieder knapp 1800. 683 Die Grube Laurweg, wirtschaftliches Zentrum der Ortschaft Kohlscheid etwa, hatte normalerweise ungefähr 2500 Betriebsangehörige. Während des Krieges arbeiteten zwischen 1300 und 1400 Kohlscheider Bergleute auf der Zeche, hinzu kamen 300 Pendler aus Holland und etwa 800 Zwangsarbeiter. 684 Sämtliche "Fremdarbeiter" waren im September 1944 aus dem Grenzland weggeführt worden, und nach dem Abzug der Wehrmacht kamen auch die holländischen Bergleute nicht mehr; etwa die Hälfte der deutschen Kumpel war den Evakuierungsbefehlen gefolgt. Mit 600 Bergleuten war aber immerhin noch rund ein Viertel der Belegschaft von Laurweg am Ort, auf der Zeche Carolus Magnus in Übach-Palenberg dagegen nicht einmal mehr ein Zwanzigstel der Betriebsangehörigen. Viele der im Evakuierungsgebiet verbliebenen Kumpel erschienen nach dem amerikanischen Einmarsch zudem nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz. Die Abwesenheitsrate schwankte zwischen zehn und zwanzig Prozent, manchmal kam es vor, daß ein Drittel der Restbelegschaft zu Hause blieb. 685 Mit Zwangsmaßnahmen war daran nichts zu ändern, aber auch durch Werbe kampagnen kaum. Die Kohlscheider Militärregierung etwa konnte zwischen Mitte November und Mitte Dezember 1944 aus dem Ort nur ganze 54 Arbeiter für die Grube Laurweg gewinnen. 686 Die Ursachen der schlechten ,,Arbeitsmoral" waren in den besetzten Grenzstreifen um die Jahreswende 1944/45 überall dieselben. 687 Einige Arbeiter begannen nach dem Weiterrücken der Front mit Reparaturen an ihrem Häuschen oder blieben aus Furcht vor Plünderungen zu Hause. Viele zogen es vor, in der Landwirtschaft zu arbeiten und so den Speiseplan der Familie aufzubessern. Andere konnten wegen der "Reisebeschränkungen" ihren Betrieb nicht erreichen, mancher besaß weder Mantel noch festes Schuhwerk für die Arbeit im Freien oder untertage. Lohnarbeit war aber wie schon erwähnt - in erster Linie deshalb unattraktiv, weil es außer den rationierten Lebensmitteln wenig zu kaufen gab, und zur Bezahlung der Zuteilungen reichte meist das Ersparte aus. Der Arbeitskräftemangel im Aachener Revier spiegelte sich deutlich in den Produktionsziffern. Die Gruben erreichten am Jahresende mit insgesamt 4000 Tonnen pro Woche nur gut drei Prozent ihrer Förderleistung während des Krieges. 683
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Semi-Annual Report der Current Operations Branch von SHAEF, G-4, Solid Fuels Seetion, v. 8. 1. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-4, 319.1. Ninth U.S. Army, Psychological Warfare Combat Team, Bericht v. 26. 12. 1944: "Kohlscheid. A German Mining Town under Military Govemment"; NA, RG 226, 111168. Dieser Bericht ist die Hauptquelle für die folgende Darstellung der Verhältnisse in Kohlscheid und auf Laurweg. Vgl. Z. B. das Memorandum der Public Relations Group von SHAEF, G-5, v. 17.3. 1945 zur Richtigstellung eines OSS-Berichtes; NA, RG 331, AG, War Diaries 1943-1945. Die Kohlscheid-Analyse des Psychological Warfare Combat Teams der 9. US-Armee v. 26. 12. 1944; NA, RG 226, 111168. Sowie Louis A. Wiesners Bericht "Labor and Social Aspects of Military Government in Western Germany, October 1944January 1945", Anlage zum Schreiben Murphys an das Außenministerium v. 26. 1. 1945; NA, RG 59, Control (Germany), 1-2645. Bericht des Psychological Warfare Combat Teams der 9. US-Armee über Kohlscheid v. 26. 12. 1944; NA, RG 226, 111168. Eine Zusammenstellung von vierzehn wichtigen Gründen in Twelfth Army Group, Report of Operations. Final After Action Report, Bd. VII: G-5 Section, 0.0., 0.]. (1945), S. 54f.; HZ-Archiv, Material Henke.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Das reichte zunächst gerade für die Stromerzeugung in den Gruben, die Deputatkohle der Bergleute, für etwas Hausbrand in den umliegenden Orten und, nicht zuletzt, für das heiße Duschwasser der in Kohlscheid einquartierten G.I.s. Hatte die geringe Förderleistung nicht vielleicht auch politische Gründe? Genau zu diesem Schluß kam das OSS tatsächlich. Zur großen Verärgerung des Alliierten Oberkommandos zeichnete das Office of Strategie Services in mehreren Berichten über das Aachener Revier nämlich das Bild einer unbedarften und fahrlässigen Besatzungsverwaltung, die dem Kohlekonzern und insbesondere einem durch und durch nazistischen Management auf Laurweg hilflos gegenüberstand. 688 Wegen der Vernachlässigung der politischen Säuberung und der Mißachtung der Interessen der Arbeiterschaft, so wurde vom Geheimdienst allen Ernstes behauptet, treibe die Militärverwaltung die Bergleute zu politisch motivierter Leistungsverweigerung. Mit diesen Studien bot das OSS aber keine brauchbare Beschreibung der Lage auf den Zechen, sondern nur ein Musterbeispiel dafür, wie mit viel spekulativer Theorie und wenig handfester Information ein schiefes Bild der Wirklichkeit entstehen konnte. Da OSS um die Jahreswende 1944/45 über ganze vier eigene Informanten im Besatzungsgebiet verfügte, die zudem keine Verbindung nach London und Paris hatten 689 , stützte der Dienst seine Analysen weitgehend auf ihm bekannt gewordene Berichte von Detachments der Militärverwaltung und der Psychological Warfare Division. Ebenso wie die Militärregierung mußte auch das OSS erst eine gehörige Lehrzeit im besetzten Territorium absolvieren, ehe seine Arbeiten in etwa den Standards der Neumann-Gruppe in der Research & Analysis Branch Washington nahekamen; Nimbus und Leistung standen mindestens bis zum März 1945 in einem traurigen Mißverhältnis. Am Beispiel seiner Meldungen über die Kohlscheider Zeche Laurweg ist leicht zu erkennen, wo OSS - genauer: die Gruppe um den von der marxistischen Wirtschaftstheorie herkommenden Paul Sweezy in London - die Realitäten zugunsten der Fiktion eines das Ziel der Demokratisierung Deutschlands gefährdenden "Weiterbestehens der Nazikontrolle im amerikanisch besetzten Gebiet Deutschlands"690 hinter sich ließ. Damit hieb die Londoner Gruppe in dieselbe Kerbe wie die sehr kritischen Beobachter der Militärregierung in Aachen, die dort jenen veritablen Skandal mit internationaler Resonanz entfacht hatten. 691 Nach der OSS-Version seien also in den Notstäben der Gruben von der NSDAP nur die zuverlässigsten Parteigenossen eingesetzt worden, wobei als Beweis die von örtlichen ParteisteIlen unterzeichneten Freistellungen von den Evakuierungsanordnungen herhalten mußten. OSS neigte ferner zu der grotesken Auffassung, die verbliebenen Techniker und Manager der Gruben, die bei Kriegsende in Wirklichkeit oft in schwere Konflikte mit Ortsgruppenleitern und SS-Führern geraten waren, seien im Grunde nur deren ausführende Organe; sie hätten von diesen "genaueste Instruktionen über das Maß an Zusammenarbeit mit der amerikanischen Armee" entgegengenommen. Weiter verbreitete der Geheimdienst, der Laurweger Betriebsführer Bischke, der nach scharfer Auseinandersetzung mit dem 688
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Vgl. z.B. die Berichte des ass v. 3. 1. 1945 und v. 27. 1. 1945 (NA, RG 165, CAD, 014. Germany, 7-10-42 (1), Sec. 1) oder v. 2.3. 1945; NA, RG 331, AG, War Diaries 1943-1945. Die Namen der Betriebsführer und Betriebsleiter auf Laurweg sind verändert. R. Harris Smith, ass. The Secret History of America's First Central Intelligence Agency, Berkeley 1972, S.225. So der Titel eines aSS-Berichtes v. 27.1. 1945; NA, RG 165, CAD, 014. Germany, 7-10-42 (1), Sec. 11. Vgl. 111/2.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Kohlscheider Ortsgruppenleiter Zimmermann auf Laurweg verblieben war, sei in den Augen der Belegschaft nicht mehr tragbar. Aus dem ausführlichen Kohlscheid-Bericht der 9. US-Armee geht nun aber hervor, daß sich die maßgeblichen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter der Grube bei der politischen Säuberung des Betriebes mit ihm berieten. Die OSS-Konstruktion, nach der die in der Tat noch nicht abgeschlossene Säuberung des Managements zu den hohen Abwesenheitsraten und damit der niedrigen Förderleistung geführt habe, konnte vom G-5 Stab des Alliierten Oberkommandos mühelos widerlegt werden, denn es war allgemein bekannt, daß die Abwesenheitsrate im besetzten Gebiet - aber auch in Holland und Belgien 692 - überall hoch war. Nicht nur diesen Befund hätte das OSS den Routineberichten der von ihr kritisierten Militärverwaltung entnehmen können, auch von den Arbeitervertretern in Kohlscheid selbst stellte zwischen FörderIeistung und mangelhafter Entnazifizierung keiner einen direkten Zusammenhang her. Neben verfehlten Interpretationen verbreitete OSS auch falsche Informationen. So behauptete es beispielsweise noch am 27. Januar 1945, auf der Zeche Laurweg gebe es die von den Bergleuten dringend geforderte Vertretung der Arbeiter bei der Betriebsleitung noch immer nicht. 693 Tatsächlich war die provisorische Betriebsvertretung schon sechs Wochen zuvor das erste Mal zusammengetreten. 694 Das Alliierte Oberkommando verwahrte sich bei OSS denn auch nachdrücklich gegen eine derart leichtfertige Berichterstattung, von der sich im übrigen auch das War Department in Washington irritiert zeigte. Nachdem SHAEF den Büros in Paris (Harold Deutsch) und London (Paul Sweezy) ihre Schnitzer vorgehalten hatte, erklärte sich der Geheimdienst, der auf die Zusammenarbeit mit der Armee angewiesen war, im März 1945 auch sofort bereit, seine Studien über die amerikanische Militärverwaltung in Deutschland vor der Verbreitung künftig mit SHAEF, G-5, abzuklären. 695 Es muß freilich angefügt werden, daß die kritischen Kommentare des OSS während der ersten Monate der Besetzung die Armee nicht nur deshalb störten, weil sie häufig so uniformiert und überzogen waren, sondern auch deswegen, weil die Offiziere der Militärverwaltung spürten, daß in dem harten Vorwurf politischer Sorglosigkeit ein Körnchen unangenehmer Wahrheit steckte, der Wahrheit nämlich, daß die Detachments in Deutschland ihre Maßnahmen, aber auch ihre Unterlassungen allzugern mit dem Argument unabdinglicher militärischer Notwendigkeiten rechtfertigten und sich damit gegen jede Kritik immunisieren wollten. Die Kritiker im Office of Strategic Services und in den Psychological Warfare Teams wandten hier mit Recht ein, daß von den Militärverwaltungen nicht bloß der Primat, sondern gewissermaßen die Omnipotenz von "militärischen Erfordernissen" beansprucht werde. Ihr Ziel war es deswegen, am praktischen Beispiel zu zeigen, daß nicht so sehr der "Primat des Militärischen", sondern einfach Mangel an Fingerspitzengefühl, Gleichgültigkeit und Schlam691
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Semi-Annual Report der Current Operations Branch von SHAEF, G-4, S. 34 und S.39; NA, RG 331, SHAEF, G-4, 319.1. OSS, R & A Branch, Situation Report: Central Europe-Germany v. 27. 1. 1945; NA, RG 165, CAD, 014. Germany, 7-10-42 (1), (Sec. 11). Vgl. den Bericht des Psychologieal Warfare Teams der Ninth U.S.-Army über Kohlscheid v. 26. 12. 1944; NA, RG 226, 111168. Memorandum des Chefs der Public Relations Group von SHAEF, G-5, Clarence E. Lovejoy, über die OSSBerichterstattung v. 17.3.1945; NA, RG 331, AG, War Diaries 1943-1945.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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pereien der Militärverwaltung zu Mißständen im besetzten Gebiet geführt hatten. Mit der Kohlscheider Grube Laurweg hatte das OSS allerdings ein schlechtes Beispiel gewählt, und auch bei der Beschreibung erster konkreter Spannungen wegen der politischen Säuberung, zu denen es im amerikanisch besetzten Gebiet Deutschlands zwischen Arbeiterschaft und Betriebsleitung kam, hieb der Geheimdienst weit daneben. Es war die Research & Analysis Branch unter Paul Sweezy in London, die dem Kohlscheider Military Government Detachment vorwarf, daß es viele zumeist 1933 der NSDAP beigetretene Mitglieder der Betriebsleitung von Laurweg in ihren Funktionen belassen hätte. Ganz besonders rieb sich das OSS an dem erwähnten Betriebsleiter Bischke, der während des Krieges mit Behörden und Parteistellen im allgemeinen gut ausgekommen war und die nationalsozialistische Arbeitsverfassung strikt zu handhaben gewußt hatte. Als Leiter der Zeche galt Bischke dem OSS freilich schon per se als nicht länger tragbarer Repräsentant eines ausbeuterischen Kohlekonzerns, der über gute, aber schwer durchschaubare Beziehungen zum NS-Staat verfügt habe. Der Geheimdienst erlaubte sich, die profunde Kohlscheid-Studie der 9. US-Armee auf der seine Analyse aber fußte - souverän zu ignorieren, nach deren Befund der Betriebsleiter ein von den meisten Belegschaftsmitgliedern respektierter Mann war. Die Bergleute hielten ihn auch mitnichten für einen Nazi. Ein Kommunist, der vor 1933 und nach 1945 im Betriebsrat von Laurweg saß, meinte vielmehr: "Nazi kann ich nicht behaupten, daß er war." Die befragten Belegschaftsmitglieder attestierten Bischke vielmehr, während der NS-Zeit "anständig" geblieben zu sein. Das war es, was bei den Bergleuten der Zeche Laurweg, aber auch anderswo vor allem zählte. 696 Kaum einer machte einem Kollegen oder Vorgesetzten einen Vorwurf daraus, nach 1933 "mitgelaufen" zu sein, und niemand erblickte in diesem bei einem Manager beinahe als normal erachteten Verhalten einen Entlassungsgrund. Die Kumpel unterschieden genau zwischen "politischen" und "nicht-politischen" Funktionären. Als "nicht-politisch" galt die Stellung des Betriebsleiters und des Betriebsführers; zu den "Politischen" zählten der Betriebsobmann, der Vorsitzende der Knappschaft (in Kohlscheid ein ,,Alter Kämpfer") und die Mitglieder des Vertrauensrates. Ähnlich wie bei der Beurteilung der politischen Belastung der örtlichen Prominenz in Partei und Verwaltung (Ortsgruppenleiter, Leiter der verschiedenen Parteiämter, Polizeichef) bestand Konsens darüber, daß diese Leute als Repräsentanten des NS-Systems am Ort und auf der Zeche die "eigentlichen Nazis" gewesen seien; sie hatten Kohlscheid vor dem Einmarsch der Amerikaner verlassen. Tatsächlich richtete sich der Groll der Bergleute auf Laurweg in erster Linie gegen den Betriebsführer namens Boch, einen allgemein bekannten "schlimmen Nazi", der sich aber mit dem Ortsgruppenleiter überworfen hatte und den Evakuierungsbefehlen nicht gefolgt war. Boch, den die Militärverwaltung als Fachmann in seiner Stellung belassen hatte, galt der Belegschaft von Laurweg nach dem Bericht der 9. US-Armee als regelrecht "verhaßt"; er sei der "meistgehaßte Mann in der Stadt", Die Angriffe aus der Arbeiterschaft richteten sich in erster Linie nicht deshalb gegen ihn, weil er als ,,Alter Kämpfer" überzeugter Nationalsozialist gewesen war, sondern weil er sich während der NS-Zeit - anders als Bischke - nicht "anständig" verhalten hatte. Es wog jetzt schwer, daß Boch "ständig mit der Gestapo gedroht" und sich an der Drangsalie696
Vgl. Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus, in: ders., Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Eurapa, S. 55 ff.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
rung der im Bergwerk eingesetzten italienischen "Militärinternierten" persönlich beteiligt hatte. Dagegen kamen die Arbeiter nicht auf den Gedanken, Bischke, dem Leiter des Bergwerks, einen Vorwurf daraus zu machen, daß die ausländischen Zwangsarbeiter in Laurweg, ebenso wie in den anderen Großbetrieben auch, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben gehabt hatten. Neben der Empörung über den Verbleib des verhaßten Betriebsführers Boch machte sich bei den Bergleuten auf Laurweg Unzufriedenheit darüber breit, daß sie noch Wochen nach dem Abzug der "Nazis" keine dem alten Betriebsrat von vor 1933 vergleichbare Betriebsvertretung hatten. Es war klar, daß ohne die Zustimmung der Militärregierung kein Betriebsrat eingesetzt werden konnte. Da sich in Kohlscheid innerhalb der ersten zwei Monate nach der Besetzung drei verschiedene Militärverwaltungen abgelöst hatten, ehe sich am 2. Dezember 1944 das für Laurweg zuständige Detachment schließlich etablierte 697 , scheint darin die eigentliche Ursache der Verzögerung gelegen zu haben. Die Anfang Dezember installierte Besatzungsverwaltung genehmigte binnen vierzehn Tagen die Bildung einer "provisorischen Betriebsvertretung" auf der Zeche Laurweg, der ersten im amerikanisch besetzten Deutschland. Der Betriebsrat trat am 18. Dezember 1944 zum ersten Mal zusammen, zu einem Zeitpunkt, da es schien, als könne die nicht sehr weit südlich gestartete letzte Offensive Hitlers 698 die Szene noch einmal mit einem Schlag verwandeln. Alle vier Mitglieder dieser Betriebsvertretung hatten schon vor 1933 dem Betriebsrat angehört: die beiden Sozialdemokraten Valentin Dillmann und Mathias Thönissen, der Zentrumsmannjakob Schultheiß und der Kommunist Wilhe1m Brüll aus Herzogenrath. Letzterem war es wegen der scharfen Reisebeschränkungen während der deutschen Ardennen-Offensive und keineswegs aufgrund seiner politischen Einstellung, wie OSS wieder einmal fälschlicher Weise argwöhnte, zunächst nicht möglich, an den Sitzungen teilzunehmen. Die provisorische Betriebsvertretung wurde zwar des öfteren von der Militärregierung konsultiert, entfaltete aber, wie Louis A. Wiesner, im Stab von Robert Murphy für Arbeits- und Gewerkschaftsfragen zuständig, beobachtete 699 , kaum eigene Aktivität. Das war bei den Restriktionen, denen ein solcher Ausschuß zwei Monate nach der Besetzung und in einer militärisch höchst prekären Phase selbstverständlich unterworfen war, nicht überraschend und auch aus der Sicht der Arbeiterschaft kaum enttäuschend. Die Rumpfbelegschaft der Zeche konnte ihrer Arbeit immerhin in dem Bewußtsein nachgehen, daß ihre Anliegen jetzt gegebenenfalls von bewährten Männern ihres Vertrauens bei Besatzungsmacht und Betriebsleitung zu Gehör gebracht werden konnten. Diese Gewißheit trug ebenso zur Entspannung des Betriebsklimas auf Laurweg bei wie die Erfüllung eines weiteren Hauptanliegens der Kumpel: Am 26. Dezember 1944 befahl die Militärregierung Betriebsleiter Bischke, den verhaßten Betriebsführer Boch zu entiassen. 700 697
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Vgl. den Rechenschaftsbericht von Eimer K. Newman, Mining Officer des Detachments F1G2, "Coal Mine Operations under Direction 01 Military Government, Aachen Distriet", v. 14.6.1945; NA, RG 331, 627. ECAD, 2nd ECAR, CoG, F1G2 Material, Jacket NT. 3. Siehe IV/I. "Labor and Social Aspects 01 Military Government in Western Germany, October 1944 - January 1945", Anlage zum Schreiben Murphys an das Außenministerium v. 26. 1. 1945; NA, RG 59, Control (Germany), 1-2645. Bericht des Psychological Warfare Combat Teams der 9. US-Armee über Kohlscheid v. 26. 12. 1944; NA, RG 226, 111168.
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Bei ihren Untersuchungen im Aachener Revier unternahmen die amerikanischen Psychological Warfare Combat Teams auch den spannnenden Versuch, die politischen Ansichten der ,,Arbeiterprominenz" in Kohlscheid und dem benachbarten Herzogenrath in Erfahrung zu bringen. Zu diesem Zweck sprachen sie mit sieben Bergleuten, die das Vertrauen der Arbeiterschaft besaßen, schon vor 1933 eine führende Rolle in der Lokalpolitik und den Arbeiterorganisationen gespielt und auch nach dem amerikanischen Einmarsch wieder von sich reden gemacht hatten. Drei von ihnen saßen im provisorischen Beirat der neuen Stadtverwaltung von Kohlscheid, drei in der erwähnten Betriebsvertretung der Grube Laurweg. Darauf mußte sich deren politische Tätigkeit vorerst beschränken, Versuche, die alten Parteien zu reaktivieren, gab es 1944 noch nicht. Die befragten Arbeiterführer stimmten darin überein, daß die politische Säuberung auf der Zeche Laurweg - insbesondere die baldige Entlassung von Boch und einigen weiteren Ingenieuren - in einem Ort wie Kohlscheid, wo das Bergwerk bestimmenden Einfluß habe und die leitenden Angestellten der Grube auch die "führenden Leute" der Stadt seien, eine vordringliche Aufgabe sei. Die Säuberung der Stadtverwaltung von ehemals regimetreuen Mitarbeitern, "die sich selbst vielleicht gar nicht für Nazis hielten", konnte nach Meinung der Befragten dagegen in gemessenerem Tempo angegangen werden. Die Männer in der Verwaltung, die in den Augen des Combat Teams "kleine Bürokraten" waren, wurden auch von den Arbeitervertretern "nicht für gefährliche Leute" gehalten. Nach ihren Vorstellungen von der künftigen Organisation der Arbeiterschaft befragt, plädierten die Bergleute - es mögen die ersten 1944/45 hierzu in Deutschland Interviewten gewesen sein - für den Aufbau einer Einheitsgewerkschaft. Der vor 1933 zum kommunistischen "Einheitsverband der Bergarbeiter Deutschlands" gehörende Nikolaus Steinbusch (Beirat der Kohlscheider Stadtverwaltung) meinte, nach seinem Eindruck sei dies der Wunsch von drei Vierteln seiner Arbeitskollegen. Daß dies im amerikanisch besetzten Gebiet eine starke Tendenz zu sein schien, geht auch aus einem Bericht der Twelfth Army Group hervor: "In den meisten Städten, in denen organisatorische Aktivitäten zu beobachten waren, äußerten frühere sozialdemokratische und aus dem Zentrum (katholisch) kommende Gewerkschaftsführer den Wunsch, eine Einheitsgewerkschaft zu schaffen. Ein paar kommunistische Führer", so hieß es weiter, "traten ebenfalls für die Einheitsgewerkschaft ein."701 Einer der sieben Befragten, der 45jährige Wilhelm Grouls, hielt nicht viel davon, in den vorläufigen Beiräten mitzuarbeiten. Vor 1933 hatte er, der als einer der führenden Sozialisten im Raum Herzogenrath-Kohlscheid galt, dem kommunistischen "Kampfbund gegen den Faschismus" angehört, war dann in den Untergrund gegangen und 1935 von der Gestapo verhaftet worden. Erst wenige Wochen vor dem Einmarsch der Amerikaner war er aus dem Konzentrationslager zurückgekommen. Er führte den antifaschistischen Kampf in den ersten Monaten nach der Besetzung auf seine Weise als Einzelkämpfer. Die erstaunten Amerikaner trafen Grouls ("Blond, blauäugig, wettergegerbt: ein Kämpfer") in der Wohnung eines geflohenen Gestapo-Mannes an, wo er mit seiner Familie lebte: "Hier, von Dokumenten umgeben, ist Grouls eifrig dabei, die örtlichen Faschisten festzunageln", beschrieben sie ihre Begegnung mit dem ehemaligen Widerstandskämpfer. Der Bergmann mache kein Geheinnis daraus, daß er 701
Twelfth Army Group, Report of Operations, VII, S. 57; HZ-Archiv, Material Henke.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
eng mit dem eIe zusammenarbeite, um die politische Säuberung der Stadtverwaltung in Herzogenrath voranzutreiben. Für ihn war die Kooperation mit dem CIe und der Militärverwaltung, die auf die Mitarbeit von politisch zuverlässigen NS-Gegnern mit genauer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse dringend angewiesen waren, die wirkungsvollste Form des Kampfes um die Beseitigung der "Überreste des Faschismus" in seiner Heimatstadt. Die Bestandsaufnahme der Army Ende 1944 hatte ergeben, daß sich die Arbeiter im Aachener Kohlerevier erst einmal um ihre Familien, ihre Unterkunft oder um zusätzliche Lebensmittelquellen kümmerten. Über das Festhalten der Militärverwaltung an kompromittierten Fachleuten herrschte in einigen Belegschaften zwar zum Teil eine gewisse Mißstimmung, doch nirgends hatte das zu politisch motivierten Aktionen der Arbeiter geführt. Mit der Beteiligung bewährter Arbeiterführer in örtlichen und betrieblichen Ausschüssen, die zunächst zwar nur bescheidene Kompetenzen besaßen, aber trotzdem den Anbruch einer anderen Zeit signalisierten, legte sich die temporäre Verstimmung der Arbeiterschaft im Aachener Steinkohlerevier meist rasch wieder. Über den Wunsch nach politischer Säuberung, nach Sicherung und Instandsetzung der Arbeitsstätten hinausgehende, etwa an die Programmatik der Parteien und Gewerkschaften von vor 1933 anknüpfende Forderungen spielten hier im Herbst 1944 noch keine Rolle. Das Bedürfnis nach Normalisierung im Privaten und Rekonsolidierung der Betriebe bestimmte das Denken. Einige amerikanische Experten machten sich nach ihren ersten Begegnungen mit deutschen Arbeitern um die Jahreswende 1944/45 auch bereits in allgemeinerer Form Gedanken über die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Arbeiterschaft. Es ist erstaunlich, zu welchen Aussagen dabei selbst ein Fachmann wie Louis A. Wiesner kam. In seiner kleinen Studie für das State Department hieß es nämlich unter anderem: "Unter den Faktoren, die nach dem Bericht von Arbeitsoffizieren wichtige Arbeiten in Aachen behindern", schrieb Wiesner, "ist auch die Reduzierung der deutschen Arbeitseffizienz im Zuge der wachsenden Freiheit, weil die Arbeiter offenbar unfähig sind, die Entscheidungen zu treffen, die bislang von ihren Chefs getroffen wurden. Daß sehr viele Zivilisten im besetzten Deutschland von autoritärer Führung abhängig geworden sind (selbst wenn sie einige der Restriktionen ablehnen), daß sie sich ohne solche Führung verloren und hilflos fühlen und nun die gleiche Anleitung vom alliierten Militär erwarten, wird nicht nur von Offizieren der Militärregierung bezeugt, sondern auch von Zeitungskorrespondenten und anderen Beobachtern. Psychologen würden sagen, daß diese Leute auf kindliche Stufen zurückgefallen sind. Jahre totalitärer Diktatur haben in erheblichem Maße jene mentalen und moralischen Fähigkeiten verkümmern lassen, die für das Funktionieren von Demokratie von vitaler Bedeutung sind ... " Dann fuhr Wiesner fort: "Bereitschaft zur Aufgabe von Entscheidungsfreiheit sowohl bei praktischen wie bei moralischen Problemen im Austausch gegen autoritäre Anleitung und Wunscherfüllung hat schon vor 1933 den Weg für den Nazismus bereitet. Durch den Nazismus noch verschärft, hat dies offenbar einen beträchtlichen Teil der Deutschen in einen solchen Stand kindlicher Abhängigkeit versetzt, daß sie bereit sind, jedem Führer blind zu gehorchen, der ihnen verspricht, ihnen ihre Probleme abzunehmen. Da unser Militär die Naziherrscher entthront und größere Stärke als diese bewiesen hat, haben sich jene Leute nun den Militärbehörden ihrer Feinde als den neuen Vaterfiguren zugewandt. Eine solche
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Rolle können aber alliierte Generäle nicht spielen. Unweigerlich werden sich also neue einheimische Demagogen, vielleicht Kommunisten, erheben, autoritäre Führung anbieten und, falls nicht im Zaum gehalten, große Gefolgschaften gewinnen. Die Militärregierung kann das für eine Weile verhindern, indem sie ihr Verbot politischer Tätigkeit durchsetzt, doch muß die Zeit kommen, da es nicht mehr möglich oder nicht mehr wünschenswert ist, dieses Verbot aufrechtzuerhalten. Die Alliierten werden vielleicht viel mehr positiv intervenieren müssen als derzeit, um bestimmte politische Führer zu fördern und anderen entgegenzutreten."702 Das mit kühnen psychologischen Spekulationen durchsetzte Memorandum eines der herausragenden amerikanischen Fachleute für Fragen der Arbeits- und Gewerkschaftspolitik schlug bereits nach den ersten Eindrücken in Deutschland das Leitmotiv von den womöglich nicht zu unterschätzenden deformierenden Auswirkungen nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaft auf die Haltung der Arbeiterschaft an, das auch schon bei der aSS-Gruppe um Franz Neumann im Civil Affairs Guide des War Department angeklungen war und in den maßgebenden alliierten Direktiven kräftig nachhallte. Abgesehen davon, daß es die damals in Konjunktur stehenden sozial- und individualpsychologischen Modelle offenbar einmal konkret anwenden wollte, nahm das Memorandum auch die in der damaligen politischen Theorie verbreitete Vorstellung von einem nationalsozialistischen Staat auf, in dem nicht nur alle gesellschaftlichen Bereiche, sondern auch der einzelne tatsächlich "total" erfaßt und beliebig steuerbar erschien. Das Ausbleiben nennenswerter politischer Initiativen der Arbeiterschaft wurde darin schnell zur einfachen Folge individueller Regression während der NS-Zeit. Das war Anfang 1945 vielleicht noch eine unvermeidlich simple, im übrigen aber voreilige Deutung, denn an eigenverantwortlicher Initiative und Entscheidungsfreude fehlte es den ohne autoritäre Führung angeblich hilflosen und verlorenen Arbeitern des Aachener Steinkohlereviers im privaten Bereich und bei den Notund Sicherungsarbeiten auf ihren Zechen mitnichten. Wiesners Expertise setzte aber auch einen deutlichen Gegenakzent zu den damals weitverbreiteten Hoffnungen und Ängsten hinsichtlich einer im Umbruch 1944/45 politisch vielleicht tonangebenden Arbeiterklasse; jedenfalls nahm sie die Auswirkung von zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft sehr ernst. Die kleine Studie war schließlich ein Lehrstück taktischer Argumentation, denn Wiesner, der nach eigener Aussage das sozialdemokratische Lager und den linken Flügel der christlichen Arbeiterschaft favorisierte 703 , wollte mit seiner Stellungnahme auch politische Argumente lancieren, die er der besseren Wirksamkeit wegen in die Form psychologischer Analyse kleidete. Er war ein Gegner der "unpolitischen Politik" der Militärverwaltung, wollte sie revidiert sehen und verwies deshalb - wie das auf deutscher und amerikanischer Seite bald gang und gäbe wurde - auf die Gefahr übermäßiger kommunistischer Einflußnahme, eine Befürchtung für die es nach Lage der Dinge im Aachener Revier Anfang 1945 freilich keinerlei Grundlage gab. 704 702
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Anhang I zu Wiesners Bericht "Labor and Social Aspects of Military Government in Western Germany, October 1944 - January 1945", der von Murphy am 26. l. 1945 an das State Department geschickt wurde; NA, RG 59, Control (Germany), 1-2645. Vgl. Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 7l. Wiesner nahm damit übrigens die berühmt gewordene Begründung für die Lockerung des politischen Betätigungsverbotes im amerikanischen Besatzungsgebiet im Juni 1945 vorweg. Vgl. das Telegramm Murphys an das Außenministerium in Washington v. 28. 6. 1945; FRUS, The Conference of Berlin 1945, I, S. 472 If.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Um die Jahreswende war es für eine Lockerung des von der Militärverwaltung verhängten politischen Betätigungsverbots freilich noch zu früh. Besonders restriktiv verfuhren die Alliierten in dieser Hinsicht zwischen Herbst 1944, als sie sich im deutschen Grenzgebiet festsetzten, und März 1945, als sie den Rhein überschritten. Diese restriktive Haltung rührte zu einem Gutteil von der prekären militärischen Gesamtlage her. Sie beeinflußte das Vorgehen der Detachments der Militärverwaltung unmittelbar, waren die in den Monaten der mühseligen Kämpfe am westlichen Rande des Reiches doch ängstlich darauf bedacht, ihren Kontrollanspruch nicht durch Experimente mit schwer abschätzbaren Folgen selber in Frage zu stellen. Die Schlacht um Aachen war ein ziemlich glanzloses und zähes Geschäft gewesen, die als gewaltiges Unternehmen mit Stoßrichtung Köln angelegte Operation von Mitte November 1944 blieb unter schweren Verlusten nach ganzen zwanzig, fünfundzwanzig Kilometern in den Wäldern und im verschlammten Terrain stecken. Mißvergnügen und Nervosität bei den Alliierten während der folgenden Abnutzungsgefechte, mit denen niemand gerechnet hatte, steigerten sich zu blankem Erschrecken, als Mitte Dezember der deutsche Großangriff in den Ardennen (die rechte Schulter des Einbruchraumes keine Autostunde von Aachen entfernt) losbrach. Erst Ende Januar 1945 verlief die Westfront ungefähr wieder so wie sechs Wochen zuvor. Doch damit waren die Nachwirkungen des Schocks über die unverhoffte Kraftentfaltung des vermeintlich geschlagenen Gegners nicht auch schon verebbt. Eine erste wirkliche militärische Entspannung, die ihre Wirkung auch auf die Besatzungsverwaltung nicht verfehlte, war nicht vor Februar 1945 zu verzeichnen, als die Rote Armee an die Tore Berlins herangerückt war und die Westalliierten zum Rhein vorstießen. Erst im Laufe des März 1945, als der Rheinübergang auf breiter Front erzwungen war und es an einem baldigen Ende des Krieges auf deutschem Boden keinen Zweifel mehr geben konnte, gewann auch die Militärverwaltung im besetzten Gebiet größere Handlungsfreiheit, konnten die Military Government Detachments daran denken, die Zügel hinter der Front ein wenig zu lockern. So dauerte es denn auch bis Mitte März 1945, ehe es in dem annähernd ein halbes Jahr zuvor besetzten Aachen zu jener berühmten Gründung der ersten deutschen Gewerkschaft der Nachkriegszeit kommen konnte. 7os Schon bald nach dem Fall der Stadt im Oktober 1944 waren die drei ehemaligen Sozialdemokraten und Gewerkschafter Heinrich Hollands (seit Januar 1945 Herausgeber der ,,Aachener Nachrichten" und politischer Gegenspieler der konservativ-katholisch dominierten Stadtspitze um Franz Oppenhoff),Jean von Wersch und Mathias Wilms mit der Bitte an das Military Government Detachment F1G2 706 herangetreten, in Aachen eine Gewerkschaft ins Leben rufen zu dürfen. Doch sie erhielten eine enttäuschende Antwort. Wenn die amerikanischen Truppen einmal am Rhein stünden, so der zuständige Offizier zu den drei Bittstellern, sollten sie sich wieder bei ihm melden. Gegen Kontakte der ehemaligen Gewerkschafter untereinander hatte die Besatzungsmacht aber nichts einzuwenden. Denn immerhin unterließen es die Amerikaner, die bei der Gründung und Überwachung der ersten deutschen Lizenzzeitung fast täglich mit Hollands zu tun hatten, 705
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Vgl. dazu zuletzt Ulrich Borsdorf, "Ein großer Tag für die deutschen Arbeiter". Die Gründung des "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Aachen" am 18. März 1945, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 36 (1985), S. 234ff. Ausführlich zur Tätigkeit dieses Detachments und den Hintergründen des ,,Aachen Scandal" oben, III/2.
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den 68jährigen Sozialdemokraten und die Genossen des kleinen Gründungszirkels zu behelligen. Daß ihre Zeit kommen würde, wußten sie aus einer Erklärung General Eisenhowers, die bei der Arbeiterschaft große Aufmerksamkeit erregt und Hoffnungen geweckt hatte. In einem Radiospot der von Psychological Warfare vorbereiteten Reihe "Military Government Talks" ließ der Alliierte Oberbefehlshaber am 14. Dezember 1944 über den Rundfunk seine Zusage verkünden, "sobald die Umstände es gestatten", dürften sich die deutschen Arbeiter "in demokratischen Gewerkschaften zusammenschließen''707. Am 8. Februar 1945, als mit der Operation Veritable/Grenade die alliierte Schlußoffensive über den Rhein in das Innnere Deutschlands begann, es die Umstände also zu erlauben schienen, wurde dem Aachener Gründungskreis erstmals gestattet, sich offiziell zu versammeln. Zu dem erweiterten Zirkel gehörte inzwischen auch die Kommunistin Anna Braun-Sittarz, die vor 1933 Betriebsrätin in einem Textilbetrieb gewesen war. Mitte März, die Amerikaner hatten eben Köln genommen und waren bei Remagen über den Rhein gegangen, stimmte der stellvertretende Chef des Aachener Detachments dem Vorhaben der Veteranen der Gewerkschaftsbewegung zu, in Kürze eine Gründungsversammlung abzuhalten. Zuvor legten sie noch ordnungsgemäß das längst erarbeitete Programm vor. Es wurde vom Military Government geprüft und gebilligt, und kurz darauf versandte Mathias Wilms eine, wie er schrieb, dringende Einladung zur "Wiedereröffnung" der Gewerkschaften an alle ihm noch bekannten früheren Mitglieder. Am Sonntag, dem 18. März 1945, versammelten sich daraufhin im Gebäude der Handwerkskammer 83 fast durchweg ältere Gewerkschafter, "die meisten von ihnen ehemalige ehren- und hauptamtliche Funktionäre"708. Für die christlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Gewerkschaftsveteranen war dieser feierliche Gründungsakt, dem auch die Vertreter der Militärregierung und der Oberbürgermeister persönlich beiwohnten, ein erhebendes Ereignis. Heinrich Hollands sprach ergriffen von dem schönsten Tag seines Lebens. Matthias Wilms, vor 1933 Funktionär der sozialdemokratischen Textilarbeitergewerkschaft, danach einige Zeit in Haft und später von der Gestapo überwacht, erinnerte an diesem Sonntagvormittag an den schweren Weg, den die Arbeitervertreter hinter sich hätten (,,viele Gewerkschafter sind nicht mehr unter uns"). Gegen das Prinzip der "parteipolitisch und religiös neutralen" Einheitsgewerkschaft, das er in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt hatte, erhob sich in der anschließenden Diskussion kein Widerspruch. Das aus 13 Punkten bestehende Programm des "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Aachen" fand ebenfalls einhellige Billigung. Es handelte vom Willen zur "Verständigung der Völker", von der Notwendigkeit einer inneren Befreiung von der Ideologie und den Protagonisten des Faschismus und von der Wiederherstellung der klassischen Gewerkschaftsrechte ("Regelung der Lohnfrage", "Streikrecht"), die freilich unter den gegebenen Umständen noch nicht zu verwirklichen sein würden. Die weitreichendste Forderung war in Punkt 5 enthalten, der ein allgemeines politisches Mandat formulierte: "Vertretungen der Gewerkschaft in allen
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Vgl. The Psychological Warfare Division, Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force. An Account 01 its Operations in the Western Europe Campaign, 1944-1945, S. 140; HZ-Archiv, Dk 090.010. Die Erklärung Eisenhowers vom Dezember 1944 ist auch abgedruckt bei Jürgen Klein, Vereint sind sie alles? Untersuchungen zur Entstehung der Einheitsgewerkschaften in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis 1946/47, Hamburg 1972, S. 153. Borsdorl, Ein großer Tag, S. 239; auch zum folgenden.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Zweigen des öffentlichen Lebens." Weitergehende Forderungen, etwa die nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel, gab es nicht. Bemerkenswert war neben der Bestimmung, die ehemalige Pgs als Mitglieder zuließ, die Absicht des FDGB Aachen, die DAF-Arbeitsbücher sicherzustellen. Das entsprach ganz dem Leuschner-Konzept von einer "Übernahme der DAF", das zunächst auch der spätere DGB-Vorsitzende Hans Böckler in Köln verfolgte. Die Aachener Gewerkschaftsgründung am 18. März 1945, auf die sich in der Folgezeit noch mancher gewerkschaftliche Gründungszirkel in Deutschland berufen sollte, entsprang nicht der freien Initiative der Arbeiterschaft in den Betrieben, wurde nicht "von unten" her initiiert, sondern war eine Veranstaltung älterer Kader. Es ist nicht einmal sehr wahrscheinlich, daß es sich bei der Gründung des FDGB um eine autochthone, ohne Anstoß "von außen" erfolgte Gewerkschaftsreorganisation gehandelt hat. Louis A. Wiesner zweifelte jedenfalls schon nach wenigen Wochen daran. Von einem absolut zuverlässigen, früher bei der Labor Section des OSS Special Intelligence beschäftigten Informanten, so hielt er in einem Memorandum fest, habe er erfahren, daß hinter der Konstituierung des Aachener FDGB sehr wahrscheinlich deutsche Emigranten gestanden hätten, die OSS im Zuge einer größeren Aktion nach Deutschland eingeschleust habe. Der Chef der "Labor Relations Branch" der amerikanischen Manpower Division hielt die Aachener Gründung ebenfalls für das Produkt von ,,Agenten von außen"709. Sicher ist, daß jene "nützlichen Hinweise" für die praktische "Arbeit und Organisation einer örtlichen Verwaltungsstelle der Einheitsgewerkschaft", die das Unterfutter zu den 13 Programmpunkten liefern sollten und in denen das Prinzip einer großen, unterschiedslos alle Arbeitnehmer umfassenden Einheits("Eintopf"-)Gewerkschaft verfochten wurde, von Karl Mössinger stammen. Der frühere SPD-Parteisekretär und Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Aachen, ein Remigrant aus Frankreich, der dort einer der führenden Sozialdemokraten im "Comite Allemagne Libre Po ur l'Ouest" und Mitglied der Deutschen Sprachgruppe der CGT gewesen war, kam im März 1945 im Rahmen einer OSS-Aktion als "guide" amerikanischer Einheiten in das besetzte Gebiet. 710 Er stand mit Hans Gottfurcht, dem Leiter der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien in London, damals eine treibende Kraft jener in Kooperation mit dem OSS abgestimmten Aktivitäten, emigrierte Kader der Arbeiterbewegung möglichst friihzeitig nach Deutschland zurückzuschleusen, in ständigem Austausch. 711 Auch Heinrich Hollands, der als Ältester die Aachener Griindungsversammlung eröffnet hatte, verfügte über besondere Beziehungen zur amerikanischen Besatzungsmacht. Seit Ende 1944 stand er in Kontakt zu den Offizieren des Psychological Warfare Teams der 9. Armee, seit Januar 1945 hatte er als Herausgeber der ,,Aachener Nachrichten" praktisch täglich intensiv mit dem Press Control Team zu tun. Das hinderte seine Genossen nicht daran, ihn als Vorstandsmitglied des Gewerkschaftsbundes zu nominieren.
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Vgl. Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 83 f. Siehe hierzu unten in diesem Kapitel. Vgl. den Überblick zur Kooperation von OSS und der emigrierten deutschen Linken bei]an Foitzik, Revolution und Demokratie. Zu den Sofort- und Übergangsplanungen des sozialdemokratischen Exils für Deutschland 1943-1945, in: lWK 24 (1988), S. 308 ff.; insbes. S. 317. Zur hier erwähnten Rolle Mössingers eben da, S. 335 und S. 338. Siehe auch Borsdorf, Ein großer Tag, S. 244ff.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Doch Hollands entschied sich, da die Zeitung ihn zu sehr in Anspruch nehme, gegen eine Funktionärstätigkeit und stand für eine Kandidatur nicht zur Verfügung. 712 Im übrigen zeigte bereits die erste freie Wahl zu einer deutschen Arbeitnehmervertretung nach 1945, daß die gemeinsame Erfahrung der Verfolgung während der NSZeit und die bei Kriegsende verbreitete Neigung zur Bildung "parteipolitisch und religiös neutraler" Gewerkschaften die Erinnerung an die vor 1933 so erbittert ausgefochten Kämpfe zwischen den Arbeiterparteien und die unausgeräumt gebliebenen ideologischen Gegensätze nicht überdecken konnte. Das Aachener Abstimmungsergebnis spiegelte denn auch keineswegs die in den vorangegangenen Reden und Diskussionsbeiträgen beschworene Einheit der Arbeiterklasse. 713 Bei der Wahl des "Geschäftsführers" verweigerten die Kommunisten dem nominierten Sozialdemokraten ihre Zustimmung und votierten statt dessen für ihre Genossin Anna Braun-Sittarz. 7[4 Trotzdem erhielt Matthias Wilms, die treibende Kraft der Gründungsinitiative, von seinen Gesinnungsgenossen und den christlich orientierten Gewerkschaftern eine stattliche Mehrheit. Mit 69 von 83 Stimmen wählten sie ihn zum ersten Vorsitzenden des hauptsächlich wegen seines Erstgeburtsrechts und seiner Vorbildfunktion legendär gewordenen "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Aachen". Ein Motiv dafür, in Aachen die Gründung einer überbetrieblichen Arbeiterorganisation zu genehmigen, ist mit in dem Bestreben der Militärregierung zu sehen, der internationalen Kritik an ihrer dort praktizierten, auf das konservativ-katholische Honoratiorentum gestützten "Politik"7 [5 durch die schlagzeilen trächtige Etablierung einer linken Organisation den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das wäre Mitte März 1945 zwar schon beinahe nicht mehr nötig gewesen, denn die Aufmerksamkeit der Welt wandte sich nach der Rheinüberschreitung ganz dem Endkampf im Inneren des Reiches und der endgültigen Niederwerfung Hitlers zu. Dieser Schritt widersprach eigentlich auch dem sehr zurückhaltenden Kurs von SHAEF bei der Wiederbelebung von Vereinigungen, die über den örtlichen oder betrieblichen Rahmen hinaus Geltung beanspruchten. Tatsächlich hatten sich die Besatzungsbehörden mit der Gründung des Aachener FDGB keinen Gefallen getan. Dieser Präzedenzfall erschwerte es der Militärverwaltung in den kommenden Monaten nämlich außerordentlich, ihre vorsichtige Linie bei der Zulassung überörtlicher Zusammenschlüsse durchzuhalten. Es bereitete den Detachments in den kommenden zwei, drei Monaten einige Mühe zu begründen, weshalb engagierten Arbeiterfunktionären im Ruhrgebiet und anderswo verweigert wurde, was Hollands und Wilms in Aachen gestattet worden war. Der Aachener FDGB war für die deutsche Arbeiterschaft mehr als nur ein Zeichen der Hoffnung. Die Arbeiterfunktionäre machten dessen Gründung, wie sich schon keine zwei Wochen später bereits im Ruhrrevier zeigen sollte, gegenüber der Militärregierung vieler712
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Vgl. Cedric Bellrage, Aachen Diary, Eintragung v. 18.3.1945; NA, RG 260,8/154-2/15. Hierzu siehe unten in diesem Kapitel. In der Wertung, wenn auch nicht in der Sachinformation zutreffend, schloß Louis A. Wiesner seinen Bericht über die Gewerkschaftsgründung in Aachen mit dem Satz: "The apparent absence of the Communists and of references to Communist organizations in the meeting are compatible with other reports that the former gap between Communists and Social-Democrats has not been bridged." Vgl. den Bericht Wiesners "Formation 01 a ,Free German Trade Union Federation' at Aachen", Anlage zum Bericht Robert Murphys an das State Department "Policy toward the Formation of Trade Unions in Occupied Germany" v. 30. 4. 1945; NA, RG 59,800.5043/4-3045. Herrn Michael Fichter danke ich für die Überlassung dieses Berichts. Siehe hierzu 111/2.
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orts auch sofort zu einem schwer abzuweisenden Berufungsgrund. Dem tat es keinen Abbruch, daß sich erfahrene Funktionäre über den Charakter des FDGB in Aachen wenig Illusionen machten. So berichtete Hans Jahn vom Internationalen Transportarbeiterverband, der als Emigrant in England zur deutschen Gewerkschaftsgruppe gehört hatte und als OSS-Beauftragter mit den Kampftruppen nach Deutschland gekommen war, Ende Juni 1945 nach London: "In Aachen ist, wenn man nach der Propaganda geht, der Aufbau einer neuen sozialen Ordnung am weitesten fortgeschritten. So wurde von dem Aufbau des Freien Gewerkschaftsbundes viel Aufhebens gemacht. Dieser Gewerkschaftsbund ist nichts als Propagandanebel. Da, wo sich etwa 80 ehemalige Gewerkschafter treffen, die arbeitslos sind, weil keine Betriebe betriebsfähig sind, um eine Rede anzuhören, kann von einer Gründung einer Gewerkschaft keine Rede sein. Vielleicht kann daraus einmal eine Gewerkschaft werden ..."716 Obgleich sich in den folgenden Monaten noch andere Formen der Gewerkschaftsgründung als die in Aachen herausbildeten, herrschten bei den späteren Gründungsimpulsen ab Mitte 1945 doch ähnliche Muster vor. Von der Ebene der Betriebe weitgehend losgelöst, ergriffen zumeist Altfunktionäre der Weimarer Zeit die Initiative, gründeten Gewerkschaftsgruppen "von oben" und versuchten dann ihre Organisationen in den Betrieben zu verankern. 717 Nur wenige Gewerkschaften entstanden aus den Betrieben heraus, und dort, wo die Arbeiterschaft nach der Besetzung die Initiative zu Selbstorganisation zeigte, zielte dieses Engagement normalerweise zuallererst auf die Errichtung von Belegschaftsvertretungen im Betrieb, wie sie vor 1933 bestanden hatten. In gewisser Weise war das Bestreben der Arbeiterschaft, wieder Betriebsräte zu bilden, denen sie vertrauen konnten, zunächst die eigentliche ,,Arbeiterinitiative" nach der Besetzung 1945.
Arbeiterinitiative 1945 Sofort nach dem Ende der Kämpfe bildeten sich in allen größeren Industriebetrieben provisorische Belegschaftsvertretungen. 718 Für die Besatzungsmächte war das keine Überraschung, sie standen dieser Tendenz auch nicht ablehnend gegenüber, doch sahen sie darauf, daß sich die Bildung von Betriebsvertretungen in Bahnen vollzog, die
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"Erster Vierteljahresbericht 1. 4.-30. 6. 45" von Hans Jahn an die ITF v. 30.6. 1945; ASD,ljB/lSK 57; zit. nach der vorläufigen Fassung der Dissertation: Betriebsräte in Köln von 1945 bis 1952. Ihre Aufgaben und Tätigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Verhaltens der Arbeiterschaft während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Köln 1988, Kapitel 4, S. 40, die mir von Martin Rüther dankenswerter Weise im Manuskriptstadium zur Verfügung gestellt wurde. Vgl. auch dessen instruktive Studie: Arbeiterschaft in Köln 1928-1945, Köln 1990. Vgl. Siegfried Mielke, Der Wiederaufbau der Gewerkschaften: Legenden und Wirklichkeit, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1978, S. 74ff. An neueren Arbeiten zur Betriebsrätebewegung in Deutschland nach 1945 sind vor allem die folgenden Studien zu nennen: Peter Brandt, Betriebsräte, Neuordnungsdiskussion und betriebliche Mitbestimmung 1945-1948. Das Beispiel Bremen, in: IWK 20 (1984), S. 156ff. Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Plato, "Der Verlierer ... ". Rüther, Zusammenbruch. Michael Behr, Markus Pohlmann, Betriebsratshandeln nach 1945. Drei Fallstudien zur Mitbestimmungspraxis Dortmunder Betriebsräte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Diplomarbeit im Fach Soziologie, Universität Bielefeld 1987 (Ich danke den Verfassern für die Überlassung ihrer Studie). Karl Lauschke, "In die Hände spucken und ran!" Arbeiterschaft und Betriebsräte während der Nachkriegsjahre. Zugleich ein Literaturbericht, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XIX (1990), S. 313 ff.
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eine Nutzung des wirtschaftlichen Potentials des besetzten Landes nicht behinderte und die Sicherheit im Besatzungsgebiet nicht gefährdete. Besonders im Kohlesektor, der für die Army, für Deutschland und die befreiten europäischen Länder lebenswichtig war und auf den die Alliierten sofort die Hand legten, verfolgten die Besatzungsoffiziere das Verhalten der Belegschaften mit größter Aufmerksamkeit. Da die Kumpel auf den Zechen dringend gebraucht wurden, hatten sie gegenüber Betriebsleitungen und Militärverwaltung von Anfang an einen besseren Stand als ihre Kollegen bei Eisen und Stahl oder in anderen Industriezweigen. Einen Monat nach der Besetzung der Ruhr sandte die Twelfth Army Group Paul R. Porter, einen einflußreichen Gewerkschaftsexperten und Arbeitsoffizier in der amerikanischen Kontrollratsgruppe, auf eine Inspektionsreise in das deutsche Industriezentrum. Nach Besuch von fünf der sieben "Rhine eoal Districts" und zahlreichen Gesprächen mit Labor Officers, Betriebsleitern und Bergarbeitern formulierte er seinen Befund: "Organisationen von Arbeitern haben sich, manchmal mit, jedoch gewöhnlich ohne die Zustimmung der Militärregierung, auf zahlreichen Zechen gebildet wahrscheinlich auf allen. Selbständige Organisierung der Arbeiter ist nach dem Verschwinden des repressiven Nazi-Regimes wohl als unvermeidlich anzusehen." Nach den Schilderungen der befragten Offiziere im Revier, schrieb Porter, sähen die Kumpel an der Ruhr den Sieg der Alliierten als Befreiung an. Und noch eine beruhigende Feststellung konnte er treffen: "Der Unterzeichnete traf auf keine überzeugenden Beweise für eine absichtliche Mißachtung der Militärregierung."71 9 Wir verfügen nur über wenig Dokumente, in denen die Stunden lebendig beschrieben sind, als in Tausenden von Fabriken in Deutschland und in den etwa 150 Gruben des Ruhrreviers die ersten provisorischen Betriebsräte entstanden. Ein eindrucksvolles Zeugnis ist der Erinnerungsbericht von Kar! van Berk über die Zeche Westende in Duisburg-Ruhrort, auf der er seit 1926 Schlepper und Hauer war; der bei Kriegsende 34jährige stieg später zum Zweiten Vorsitzenden der IG Bergbau auf. 720 Die Notbelegschaft der Zeche, die in unmittelbarer Nähe des Abschnitts lag, wo die Alliierten in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1945 mit der Masse ihrer Truppen über den Niederrhein gegangen waren, erlebte die Besetzung auf Westende. Schon für den 4. April organisierten drei von ihnen, die schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in der Arbeiterbewegung aktiv gewesen waren, durch "Mund-zu-Mund-Propaganda" eine Versammlung der Restbelegschaft. Initiatoren waren Kar! van Berk, "ausgebildet in einigen Kursen der Gewerkschaftsbewegung vor 1933, Jugendobmann, Kassierer und dergleichen mehr", ferner der "Schmied über Tage, ein alter Gewerkschafter und Sozialdemokrat", sowie ein Kommunist, der wegen versuchter Wiedererrichtung der Roten Hilfe zwei Jahre im Gefängnis zugebracht hatte. "Ich wußte", erzählte van Berk später, "als ich meinen Fuß auf die Bank in der Waschkaue stellte, daß für uns alle, aber auch für mich persönlich ein neuer Zeitabschnitt angebrochen war. In einer kurzen Ansprache habe ich den Kameraden mitgeteilt: ,Die Nazis sind weg, die Trümmer sind geblieben, die Belegschaft braucht eine Vertretung, vorerst proviso719
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"Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Mining Industry", 17-seitiger Bericht Porters v. 29.5. 1945 an Twelfth Army Group, G-5, über seine Inspektionsreise v. 13.-22.5.1945; NA, RG 260, 17/2571/7. Kar! van Berk, "Nur die Arbeit kann uns retten", in: Walter Köpping (Hrsg.), Lebensberichte deutscher Bergarbeiter, Frankfurt 1984, S. 369 ff.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
rische Vertretung, bis durch ein ordentliches Wahlverfahren ein neuer Betriebsrat eingesetzt wird.' Man war einverstanden mit dem Vorschlag, wir drei sollten vorerst die Vertretung übernehmen." Nach der Versammlung begaben sich die frischgebackenen Arbeitervertreter zur Betriebsleitung, die nicht begeistert schien, aber ohne einschlägige Direktiven von Konzernleitung und Besatzungsverwaltung war und deshalb nicht recht wußte, wie sie sich verhalten sollte. Beim Mining Officer wurde der provisorische Betriebsrat anschließend wohlwollend empfangen. Der Offizier erkannte die vorläufige Belegschaftsvertretung an und sagte "mit Nachdruck", so van Berk, "daß es im wesentlichen darauf ankomme, die Kohlenförderung in Gang zu setzen. Das war für uns nichts Neues. Wir montierten das Schild ,Vertrauensrat' ab und bezogen das Betriebsratszimmer." Bald nahmen die drei Männer Kontakt zu den Nachbarzechen auf - über Telefon oder sie setzten sich auf das Fahrrad: "Wo noch keine Vertrauensleute vorhanden waren, haben wir diese gesucht und gefunden." Einige Wochen später wurde Hans van Berk Sprecher der Betriebsräte der Gruppe Hamborn der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG). Die erste vom Schachtkommandanten offiziell genehmigte Betriebsversammlung auf Westende fand in der "ehemaligen Russenbaracke auf dem Zechenplatz" statt, die bis auf den letzten Platz besetzt war: "Ich betonte eingangs", so Berk, "wir hätten eine Versammlung und keinen Betriebsappell, wir würden die Tagesordnung beraten und genehmigen und entsprechend verfahren. Ich merkte an ihren Gesichtern, das war etwas Neues, oder sie waren es nicht mehr gewohnt. Ich erinnerte an 1918, wo wir uns in einer ähnlichen Situation befanden, nur mit dem Unterschied, daß während des Ersten Weltkrieges bei uns in Deutschland kaum eine Fensterscheibe kaputtgegangen war. Dagegen hätte uns der Zweite Weltkrieg nur Tote, Trümmer und Hunger hinterlassen. Ich erinnerte daran, daß Friedrich Ebert als Vorsitzer des Rates der Volksbeauftragten einen Aufruf erlassen hatte, der mit dem Zitat endete: ,Nur die Arbeit kann uns retten'." Abweichend von dem bei Kriegsende vorherrschenden Muster der Bildung provisorischer Arbeitervertretungen nur aus der Mitte der Belegschaft heraus, überlagerten sich in einigen Zentren des Kohlebergbaus Bestrebungen innerhalb der Bergwerke mit Impulsen von außen. Auf diesen Zechen, in denen es gewiß auch ohne solche Anstöße rasch zur Bildung vorläufiger Betriebsausschüsse gekommen wäre, ging die Initiative von der in diesen Wochen und Monaten klar tonangebenden ",alten Garde' der Arbeiterbewegung"721 aus, die - das Beispiel Aachen vor Augen - den Versuch machte, in enger Anlehnung an die Betriebe sofort eine neue Gewerkschaftsorganisation ins Leben zu rufen. In Gelsenkirchen-Buer traf die Besatzungsmacht bereits am Tage ihres Einmarsches auf solche Bestrebungen. "Bergarbeiter, die der Unterzeichnete in Buer befragte", berichtete Paul Porter nach seiner Inspektionsreise in das Ruhrgebiet Mitte Mai 1945 an die 12. Armeegruppe, "erklärten, daß sie eine provisorische Arbeiterorganisation am 29. März ins Leben gerufen hätten, was praktisch mit dem Einzug amerikanischer Truppen zusammenfiel ... Sie erklärten, Sendungen von Radio SHAEF in Luxemburg gehört zu haben, in denen über eine Proklamation des Oberbefehlshabers berichtet worden sei, nach der es Arbeitern er-
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Lauschke, "In die Hände spucken ... ", S. 322.
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laubt sein werde, Gewerkschaften zu bilden; sie hätten die erste Gelegenheit dazu genutzt."722 Der Bezug zu der in Aachen einige Tage zuvor erfolgten Gewerkschaftsgründung war unübersehbar, denn die im Raum Bottrop, Gladbeck, Recklinghausen und Gelsenkirchen-Buer Ende März ins Leben gerufene überbetrieblich-gewerkschaftliche Initiativgruppe zum Aufbau einer Bergarbeiterorganisation nannte sich ebenfalls "Freier Deutscher Gewerkschaftsbund". In den folgenden vier Wochen versammelten sich die Delegierten der umliegenden Zechen noch zweima1. 723 Der auf dem Treffen am 29. April 1945 zur Diskussion stehende Gründungsaufruf sprach von "fanatischer Entschlossenheit" zum Aufbau einer Gewerkschaftsorganisation, mittels der "die organisierten Arbeiter in den Betrieben die Kontrolle über den Betrieb maßgeblich beeinflussen" würden. Den Erklärungen dieses FDGB folgten Aktionen, die es der Militärverwaltung nicht einfach machten zu glauben, die ersten überbetrieblichen Organisationsansätze der Arbeiterschaft seien bereits von einem neuen, antitotalitären Geist beflügelt. Von der Zeche Ewald 1/2 in Herten beispielsweise ist die folgende harsche FDGB-Erklärung von Anfang Mai 1945 an die Kumpel erhalten geblieben: "Es wird erwartet, daß die Kameraden ohne Ausnahme dem freien deutschen Gewerkschaftsbund beitreten. Wer diesen Schritt zur Wahrnehmung seiner Interessen nicht gehen will, muß dieses sofort auf dem Zimmer der Betriebsvertretung melden. Wer sich nicht meldet, gilt als aufgenommen." In Gladbeck sollten diejenigen, "die aus Gutgläubigkeit das Hitlerregime gestützt haben", mit einer Gründungsspende an den FDGB "einen Teil ihrer Schuld abtragen". In den ersten Tagen nach der Besetzung kam es hier und da auch zu handfesten Konfrontationen mit leitenden Bergwerksangestellten. Das waren zwar nur sporadische Vorkommnisse und alles andere als die allgemein erwarteten oder befürchteten Nächte der langen Messer, in denen die einst geknebelte Arbeiterklasse mit ihren Peinigern abrechnete, aber doch Demonstrationen von Unmut und Selbstbewußtsein. Ohne heute im einzelnen noch klären zu können, in welcher Weise sich bei diesen Aktionen im weiteren Sinne politische, rein betriebsinterne und persönliche Motive verquickten, wurde jedenfalls die Betriebsführung der Zeche Mont Cenis in Herne beispielsweise "vertrieben" und anschließend von der Militärregierung in Haft genommen. In der Grube Dahlhauser Tiefbau hatten nach einem Bericht des dortigen provisorischen Betriebsausschusses nach dem Einmarsch bereits die russischen Zwangs arbeiter "gute Vorarbeit geleistet"; sie hätten - was immer das bedeutet haben mag den "Betriebsführer ,gerade stehen' lassen"724. Auf der Zeche Mathias Stinnes I/Il in Essen zogen es einige sich bedroht wähnende leitende Angestellte vor, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Hierüber gibt es einen Bericht aus der Perspektive der Unternehmensleitung, der nicht nur diese Vorfälle beschreibt, sondern - möglicherweise etwas herunterspielend - auch einen Eindruck von der Resonanz gibt, auf die radikal orientierte, wahrscheinlich in Kontakt mit der 122
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Bericht von Paul Porter "Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Mining Industry" v. 29. 5. 1945; NA, RG 260, 17/257-1/7. Dazu und zum folgenden vgl. Pietsch, Militärregierung, S. 83 f. Das letzte Beispiel wird berichtet im Protokoll über eine Versammlung von Arbeitervertretem von zehn Bochumer Bergwerken auf der Zeche "Prinzregent" am 23. April 1945, abgedruckt bei: Hans O. Hemmer, "... als wenn die Betriebe unser wären" - Eine "Betriebsräte-Konferenz" in Bochum im April 1945, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 36 (1985), S. 248 ff.
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Gelsenkirchener Gewerkschaftsinitiative stehende 72 ; Arbeiterfunktionäre bei der dortigen Belegschaft gestoßen zu sein scheinen. "Eine Anzahl Leute", heißt es in dem Schreiben an den Verein für die bergbaulichen Interessen vom 26. April 1945, habe sich selbst als Arbeiterrat proklamiert "mit dem Vorgeben, die Wünsche der Belegschaft zu vertreten. Tatsächlich steht hinter diesen Leuten aber nur eine kleine Gruppe radikaler Arbeiter. Dieser Arbeiterrat hielt am 25. April 1945 zum Schichtbeginn eine Belegschaftsversammlung ab, zu der 250 Mann von 1800 Arbeitern erschienen waren." Dabei sei ein Schreiben mit der Forderung nach Entlassung zahlreicher Angestellter verlesen worden. "Wie die Belegschaft über das Vorgehen dieses Arbeiterrates denkt, geht daraus hervor", heißt es weiter, "daß von den erschienenen 250 Mann der größte Teil der Leute den Zechenplatz verließ. Am nächsten Morgen wurden wieder Hetzreden gehalten und erklärt, die fraglichen Beamten, wenn sie nochmals erschienen, mit Hackenstielen vom Zechenplatz zu treiben, was in der Beamtenschaft lebhafte Beunruhigungen hervorgerufen hat ... Die Folge ist, daß einige Beamte und der Betriebsarzt nicht mehr zum Dienst erscheinen."726 Andernorts, auf der zur Gutehoffnungshütte gehörigen Zeche Ludwig, kam es im Zusammenhang mit offenbar nicht geglückten Versuchen, einige vorläufige Belegschaftsvertretungen im Essener Raum für die Gründung einer "Antifaschistischen Front" zu gewinnen, zu einem ähnlichen Vorkommnis. Hier hatten sich zwischen Belegschaft und Betriebsleitung vor der Besetzung anscheinend erhebliche Spannungen aufgebaut, das Interesse der Arbeiter an der am 24. April 1945 einberufenen Zusammenkunft in der Waschkaue des Bergwerkes war deshalb auch erheblich stärker als auf der Essener Grube Mathias Stinnes. Die Versammlung, die der Betriebsführer und die provisorische Arbeitervertretung einberufen hatten, war "fast restlos von der Belegschaft besucht", wie es in dem Bericht an die Konzernleitung über die Veranstaltung heißt. 727 Der "Obmann" der Kumpel hielt ein politisches Referat, danach wurde neben der Erörterung der "bisherigen Tätigkeit des neuen Betriebsrates in Bezug auf Feststellung von vorhandenen Beständen an Lebensmitteln" der Punkt "Entfernung mißliebiger Beamter und Angestellter" zur Debatte gestellt. Hierzu kamen aus dem Kreis der Versammelten "sofort" einige deutliche Empfehlungen. Dabei sah sich plötzlich auch der Betriebsführer auf der Anklagebank, der eben noch als Mitinitiator der Versammlung aufgetreten war: "Mit der Entfernung von Betriebsführer Heilfrau", so der Bericht, "war fast die gesamte Belegschaft einverstanden, wie die durch Handhochhebung vorgenommene Abstimmung ergab." Die in der Waschkaue von Zeche Ludwig versammelten Kumpel erklärten Heilfrau für abgesetzt und wollten auch gleich dessen Nachfolger berufen, dem sie an Ort und Stelle auch schon ihr Vertrauen aussprachen. Dem designierten Nachfolger war die Angelegenheit aber nicht recht geheuer. Er entzog sich seiner überraschenden Inthronisation mit dem Bemerken, die Entscheidung über eine Neubesetzung müsse der Direktion der Gutehoffnungshütte vorbehalten bleiben. Dem gestürzten Betriebsführer wurde anschließend noch ziemlich unangenehm mitgespielt, wie dem Bericht zu entnehmen ist: "Des weiteren wurden noch durch 725 726
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Vgl. Pietsch, Militärregierung, S. 94. Schreiben der Gewerkschaft Matthias Stinnes an den Verein für die bergbaulichen Interessen, Abrechnungsstelle Essen, v. 26.4. 1945; zit. nach Arbeiterinitiative 1945, S. 297f. "Lagebericht der Zeche Ludwig" v. 25.4. 1945; Haniel-Archiv, 400 1016/10.
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Zuruf drei Mann bestimmt, die nach Versammlungsschluß mit Betriebsführer Heilfrau in seinem Keller auf Vorhandensein von Lebensmittelbeständen forschen mußten, was aber ergebnislos und nicht der Fall war." Noch in der Nacht wurden der Abgesetzte und ein Lagerführer "von ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen mit Begleitung von amerikanischen Soldaten aus den Wohnungen geholt und unbekannt wohin abgeführt". Das geschah ohne Wissen des örtlichen Kommandeurs, der diese Art Selbstjustiz nicht billigte und versprach, dem Fall sofort nachzugehen. Motor der in diesen Tagen im Raum Gelsenkirchen-Buer, Bottrop, Gladbeck, Recklinghausen zu beobachtenden Bestrebungen, eine überbetriebliche Gewerkschaftsorganisation aufzubauen und sie mit den vorläufigen Grubenausschüssen zu verzahnen (in deren Verlauf es zu den Zwischenfällen auf der Zeche Ludwig gekommen war), waren vor allem kommunistisch orientierte Gewerkschafter, die sich um Walter Jarreck geschart hatten. 72B Jarreck, Altgewerkschafter der Weimarer Zeit und wegen Widerstandstätigkeit von den Nationalsozialisten verfolgt, war eine der maßgeblichen Gestalten der Kommunistischen Partei, die sich in ihrer alten Hochburg an der Ruhr bereits im April 1945 wieder zu formieren begann. Schon Anfang Mai wurde er Mitglied der dreiköpfigen provisorischen Parteileitung. Wie eng Partei- und Gewerkschaftsaufbau hier miteinander verwoben waren, zeigt die Tatsache, daß dem vorbereitenden KP-Ausschuß 8000 Mark aus einem im Gelsenkirchener Gebiet gesammelten und für den Aufbau der Gewerkschaften in Gelsenkirchen-Buer (als deren Vorsitzender ein Kommunist designiert war729 ) bestimmten Fonds zur Verfügung gestellt wurden. Darin, daß die wenigen kommunistischen Arbeiterfunktionäre, die die nationalsozialistische Verfolgung überlebt hatten, in ihren Stammgebieten sofort wieder Einfluß auf die Arbeiterschaft zu gewinnen suchten, unterschieden sie sich nicht von ihren sozialdemokratischen Genossen oder den ehemaligen christlichen Gewerkschaftern, doch unterlief den Kommunisten des Reviers in den Bergwerken und Fabriken unmittelbar nach der Besetzung ein kapitaler Fehlstart. Abgeschnitten von den Debatten und Beschlüssen des Exils und der kommunistischen Internationale, versuchten die nach dem Einmarsch sofort aktiv werdenden Altfunktionäre in Unkenntnis der veränderten Generallinie nämlich - gewissermaßen irrtümlich - mit ideologisch auf dem Stand von 1933 verbliebenen programmatischen Aufrufen einem radikalen kommunistischen Kurs Geltung zu verschaffen. Das erklärt zu einem guten Teil die bemerkenswerten, in den allerersten Wochen der Besetzung in einigen Industriezentren mit starker kommunistischer Tradition feststellbaren Abweichungen von dem in Deutschland von Anfang an klar vorherrschenden Muster einer pragmatisch-kooperativen Haltung bei der Masse der frühen Belegschaftsvertretungen. Mit ihrem betont klassenkämpferischen Auftreten, das im übrigen im Widerspruch zu der beschworenen Idee der Einheitsgewerkschaft stand und im wissenschaftlichen Schrifttum gelegentlich sogar als Beleg für die revolutionäre Disposition der deutschen Arbeiterklasse nach dem Krieg beigezogen wurde, fanden die kommunistischen Arbeiterfunktionäre bei ihren sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaftskollegen freilich gar keinen Anklang, 728
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Zu Jarreck und dem kommunistisch dominierten Gründungsprozeß des FDGB im Raum Gelsenkirchen vgl. Pietsch, Militärregierung, S.83 und S. 1231., insbes. S. 125. Vgl. den Bericht Porters "Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Mining Industry" v. 29.5. 1945, S. 14; NA, RG 260, 17/257-117.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
erinnerten sich diese doch noch bestens daran, daß die Kommunisten die Betriebsräte in der Weimarer Zeit zum Teil mit beträchtlichem Erfolg als ein hoch politisiertes, klassenkämpferisches und antigewerkschaftliches Instrument benutzt hatten. Doch nicht nur das. Mit diesem antiquierten Kurs war - wie die kommunistischen Parteien schon bald nach 1933 erkannten und wie es die nach Berlin zurückgekehrte Exil-KP um Walter Ulbricht im Juni 1945 dann kundtat - vor allem auch bei der Masse der deutschen Industriearbeiterschaft kein Beifall zu ernten. In bester Absicht verkorksten die kommunistischen Arbeiterfunktionäre so im April und Mai 1945 unwissentlich den politisch-gewerkschaftlichen Neuanfang im Revier. Sie forderten Unerreichbares von ihrer Anhängerschaft, und manche der eben gebildeten Belegschaftsvertretungen sahen sich von kommunistischer Seite mit derart weltfernen, keineswegs als bloße ideologische Metaphern gebrauchten, sondern zur Tagesaufgabe erklärten Zielen wie der Forderung nach einer alsbaldigen Verwirklichung des Sozialismus konfrontiert, daß jegliche Verständigung selbst mit "vernünftigen" Betriebsleitern von vornherein ausgeschlossen war. Noch Ende Mai 1945 war in den im Revier verbreiteten kommunistischen Erklärungen die Entschlossenheit der Partei zu vernehmen, die Arbeiterklasse vom Joch des Kapitalismus zu befreien, "alles uns in der Entwicklung weltanschaulich Hemmende kompromißlos zu bekämpfen". Oder: "Nur wir Kommunisten, die wir keinen Komprorniß kennen, sind Wegweiser der Arbeitermassen, diese in eine bessere Zukunft zu führen."Bo Wenige Wochen später führte der bekannte Juni-Aufruf des ZK der KPD in Berlin (Schaffung einer parlamentarisch-demokratischen Republik, ungehinderte Entfaltung der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums, enges Bündnis mit allen antifaschistisch-demokratischen Parteien) die Genossen an Rhein und Ruhr dann auf den richtigen Weg. BI Im Schulungsmaterial zum neuen Kurs bekamen die Aktivisten der ersten Stunde, die auf ihren Zechen noch nach der alten Linie agitiert hatten, ein paar recht ernüchternde Bemerkungen zur Lektüre: "Die Arbeiterklasse", hieß es da, "ist nicht Besitzer der Gewalt, sie ist nicht einmal organisiert. Die Mittel zu dieser Organisation müssen erst im Zuge der Verwirklichung der Demokratie erobert werden." Und diejenigen, die sich im besten Glauben revolutionärer Ungeduld schuldig gemacht hatten, mußten sich jetzt fragen lassen: "Wie wollt ihr denn den Kampf um den Sozialismus oder, in dem angegebenen Fall, um die Aufhebung des Privateigentums führen? Wie wollt ihr mit der Arbeiterschaft, die fast geschlossen 12 Jahre lang Hitler folgte und nur in ganz wenigen Ausnahmen den Kampf um ihre Lebensrechte organisierte, zum unmittelbaren Kampf für die sozialistische Bedarfswirtschaft organisieren? Wie wollt ihr die Zwischenschichten für den Kampf erfassen oder wenigstens neutralisieren?" Mit ihrem irrtümlichen Radikalismus konnten die Ruhrkommunisten in den beiden ersten Monaten nach der amerikanischen Besetzung in den Zechen nirgendwo Vermutlich in Herne gehaltene Begrüßungsansprache der "U.b. der kommunistischen Partei Deutschlands" vom 20. Mai 1945; zit. nach Pietsch, Militärregierung, S. 124. Die Zitate aus dem KP-Schulungsmaterial eben da, S. 130. m Zur Politik der mehrheitlich ,,1933 stehengebliebenen" (wie das Zentralkomitee der KPD es interpretierte) KPD-Gruppen in der ersten Zeit nach Kriegsende schreibt Dietrich Staritz: "So beriefen sich bei ihrer Gründung einige KPD-Gruppen auf die 1933 von der KPD vertretenen, explizit revolutionären Programmpunkte."; vgl. Dietrich Staritz, Die Kommunistische Partei Deutschlands, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Opladen 1986, S. 1667ff. 730
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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wirklich Fuß fassen, geschweige denn Ansätze zu einer in den Belegschaften verankerten Bewegung schaffen, auch wenn sich die vor allem durch eine überholte Generallinie entfachte Konfrontationsbereitschaft vorübergehend noch in einigen anderen Bergwerken bemerkbar machte. Auf den im Bochumer Raum gelegenen Zechen der Bergbau-Aktiengesellschaft Lothringen zogen sich Auseinandersetzungen zwischen Unternehmensleitung bzw. Betriebsdirektionen und Belegschaft nach der Besetzung Mitte April 1945 ungefähr vier Wochen lang hin. Dort hatte sich der Konflikt vor allem um die Regelung der Arbeitszeit entsponnen, die die Konzernleitung, "bis die Einstellung der zuständigen Behörden und die Entwicklung bekannt sind", auf allen Zechen gern unverändert beibehalten hätte. In einem ihrer Bergwerke, auf Schwerin, arbeiteten die Kumpel seit der Besetzung ohne Rücksprache mit dem Management aber "leider" schon kürzer als ihre Kollegen. Was die Schaffung von Betriebsvertretungen anging, so war die Leitung der Bergbau AG Lothringen zwar gegen von außen initiierte, "sich willkürlich bildende" Betriebsräte, aber nicht prinzipiell gegen provisorische Belegschaftsvertretungen. Sie hatte, so die Meinung in der Direktionssitzung am 17. April 1945, nichts einzuwenden, "wenn etwa in Einvernehmen mit der Werksleitung und zur Wahrung der Ruhe und der Belange der Betriebe eine vorläufige Arbeitervertretung aus den Männern, die vor 1933 dem Betriebsrat des Werkes angehörten, bis zur anderweitigen Regelung gebildet wird"7 32. Dieser Wunsch der Direktion erfüllte sich jedoch nicht. Im Gegenteil, wenige Tage später spitzte sich die Lage zu. "Kornmunistische Elemente" (eine Qualifizierung, mit der damals zwar mancher Unternehmer rasch bei der Hand war, um kritische Regungen in der Arbeiterschaft pauschal zu diskreditieren, die in diesem Falle die politische Orientierung der mißliebigen, die Gründung einer Gewerkschaft betreibenden Arbeiterfunktionäre aber vermutlich korrekt beschrieb) versuchten, auf den Schachtanlagen Lothringen I und IV "wilde Betriebsräte einzusetzen und durch Anschläge die Arbeitszeit auf 7 und 8 Stunden willkürlich zu verkürzen, Beamte abzusetzen usw.". Dieses Mal stellten die Mining Officers der Rhine Coal Control zur Erleichterung der Konzernführung "Ruhe und Ordnung" wieder her B3 Trotzdem hielten Unruhe und "Unordnung" auf mehreren Anlagen der Bergbau AG Lothringen, in denen die neu entstehende Gewerkschaft mit ungewöhnlich weitgehenden und einseitig erklärten Arbeitszeitverkürzungen offenbar ihre Stärke unter Beweis stellen wollte, noch einige Zeit an. In der Sitzung am 24. April entwickelte das Direktorium den Gedanken, den radikalen Arbeiterfunktionären auf den Zechen durch die Förderung gemäßigter Kräfte das Wasser abzugraben. Es sei "zweckmäßig", so der Beschluß, "nunmehr schnellstens" in mehreren Konzernbetrieben "aus den Reihen der 1933 vertriebenen Betriebsräte eine vorläufige Betriebsvertretung zu bilden, die die Gewähr für eine ordentliche Zusammenarbeit mit der Leitung im Interesse der Betriebe bietet". Auf einer der Gruben sei das schon geglückt. 734 Doch ehe es zu einer durchgehenden Normalisierung kam, erreichten die Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit Ende April, Anfang Mai einen neuen Höhepunkt. Auf Herbede ging der "wilde Betriebsrat" so weit, den Betriebsinspektor und andere 732
733
734
Niederschrift der Direktionsbesprechung der Bergbau-Aktiengesellschaft Lothringen am 17.4. 1945; WWA Dortmund, F 34, Nr. 1178. Niederschrift der Direktionsbesprechung am 21. 4. 1945; ebenda. Niederschrift der Direktionsbesprechung am 24.4. 1945; eben da.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Zechenangestellte am Betreten der Anlagen zu hindern und die Arbeitszeit auf sechs Stunden untertage und acht Stunden übertage zu verkürzen. Auch der gemeinsame Versuch des Betriebsinspektors und eines Vorstandsmitgliedes, in einer Besprechung mit der Belegschaft eine Beilegung zu erreichen, schlug fehl. Damit entstand aber nur einen Moment lang eine Pattsituation, denn nun kündigte die Unternehmensleitung an, bei jenen Bergleuten, die nicht bereit waren, sich nach der übertage bereits um eine Stunde reduzierten Arbeitszeit zu richten, Lohnkürzungen vorzunehmen. Diese Maßnahme schien der Direktion offenbar gerade noch vertretbar, ohne den Bogen zu überspannen. Sie blieb vorsichtig, denn ihr war bewußt, daß es jetzt "nicht zweckmäßig" sei, "bei den Belegschaften den Eindruck zu erwecken, als sollten ihnen irgendwelche sozialen Einrichtungen und Vorteile genommen" werden. Im übrigen verwies die Lothringen-Direktion die Werksleitung von Herbede auf die "militärische Wache amerikanischer Soldaten", die bei etwaigen Gewalttätigkeiten eingreifen werde. 735 Aber so weit ist es nicht gekommen. Anfang Mai 1945 hatte der Konflikt in den Zechen der Bergbau AG Lothringen seinen Zenit schon überschritten. Als auf der Zeche Präsident ein "wilder Betriebsrat ... kurzerhand das Büro des Betriebs- und Rechnungsführers mit Beschlag belegt" hatte, zog die Konzernleitung die Zügel schärfer an. Wer nicht arbeite, so wurde beschlossen, erhalte keinen Lohn; wenn der "wilde Betriebsrat" das Büro nicht räume, sei er zu entlassen; denjenigen Belegschaftsmitgliedern, die keine angemessene Leistung aufwiesen, sei ebenfalls zu kündigen. "Das könne um so eher geschehen", verzeichnet die Niederschrift der Direktionsbesprechung am 2. Mai 1945 noch, "als die Belegschaft auf Präsident an sich zu hoch sei."736 Zur Konfrontation wegen der Arbeitszeitfrage kam es auch auf der Zeche Concordia der Gutehoffnungshütte in Oberhausen. 737 Hier weigerte sich am 19. April ein Teil der Grubenbelegschaft, weiterhin die im Krieg übliche 8 3/4-stündige Schicht zu verfahren. Anderntags appellierte der Betriebsleiter an die Frühschicht, "Disziplin zu wahren und nicht eigenmächtig zu handeln", versprach aber zugleich, sobald wie möglich mit der Militärregierung zu sprechen "und auch die Begründung zur Ablehnung der 8 3/4-stündigen Schichtzeit (schlechte Ernährungsgrundlage, Göring-Verordnung) vorzubringen". Eiligst versuchte er danach, eine verbindliche Entscheidung der Besatzungsverwaltung zu erreichen. Nachdem der Stadtkommandant zunächst über den kommissarischen Bürgermeister hatte ausrichten lassen, es bleibe alles beim alten, die Bergleute müßten "unter Umständen noch länger arbeiten", erschien zufällig ein hoher Offizier des zuständigen Kommandos des Rhine Coal District Nr. 1, an den sich der Betriebsleiter nunmehr mit der Bitte wandte, "im Interesse des Betriebsfriedens eine schnelle Entscheidung herbeizuführen"; im Essener Bezirk sei die Achtstundenschicht teilweise schon eingeführt. Dieser wiederum setzte sich sofort direkt mit dem Stadtkommandanten in Verbindung, der nun seinerseits keine Einwendung gegen die sofortige Einführung der Arbeitszeitverkürzung mehr erhob, so daß die neue Regelung umgehend in Kraft gesetzt werden konnte. Damit war hier die spätere Entscheidung der Militärverwaltung von Mai 1945 bereits vorweggenommen. Die Auseinandersetzungen um die Arbeits735 736 737
Niederschrift der Direktionsbesprechung am 30. 4. 1945; eben da. Ebenda. Notiz der Betriebsleitung der Zeche Concordia für die Konzemleitung betreffend "Schichtzeit untertage" v. 21. 4.1945; Haniel-Archiv, 4001016/10.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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zeit ebbten denn auch ab, als die Rhine Co al Control die Schicht, die von den Nationalsozialisten verlängert worden war, für untertage wieder auf acht Stunden festsetzte. HB Das lief auf eine Lohnerhöhung durch Arbeitszeitverkürzung hinaus. Unweit der Bochumer Gruben der Bergbau-AG Lothringen, in denen die Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Management immerhin zwei Wochen lang geschwelt hatte, trafen sich am 23. April 1945 - knapp zwei Wochen nach der Besetzung der Stadt - auf der Zeche "Prinz Regent" (Gruppe Bochum der GBAG) Abgesandte von vorläufigen Betriebsvertretungen, die sich mittlerweile in zehn Bochumer Bergwerken gebildet hatten. Hier überlagerte sich die Entstehung von provisorischen Belegschaftsausschüssen ebenfalls mit dem Versuch der Errichtung einer Gewerkschaftsorganisation, dem ,,Allgemeinen Industriearbeiterverband", dem aber nur eine kurze Existenz beschieden war. Ebenfalls beflügelt durch das Beispiel Aachen und die Erklärungen des Alliierten Oberbefehlshabers, hatten die Bochumer Arbeiterfunktionäre mit einer hektographierten Proklamation den passenden Ton zu dieser Zusammenkunft gesetzt: "Kameraden", begann der auf der Zeche verbreitete Aufruf, "mit dem siegreichen Einmarsch der Alliierten Armeen sind auch wir Bergarbeiter nach 12-jähriger Nazityrannei wieder freie Männer geworden. Für diese Befreiung von Terror, Knechtschaft und grenzenloser Ausbeutung schulden wir unseren Befreiern aufrichtigen, heißen Dank." Die Bergarbeiterschaft, die sich wieder zu einer "wirklichen Kampforganisation" zusammenschließen und die "speziellen Berufsinteressen" der Kumpel verfechten dürfe, müsse sich aber dieser "wiedergewonnenen Freiheit auch würdig erweisen". Man wolle mit den "Grubengewaltigen, Antreibern und Ausbeutern" nicht länger organisatorisch unter einem Dach leben, sondern sich zu einem "klassenbewußten Berufsverband" zusammenschließen. Die Proklamation nannte als Mindestforderungen der Bergarbeiterschaft die "Untertagesiebenstundenschicht", eine Verbesserung des Unfallschutzes, die Wiedereinführung von Lohn- und Tarifverträgen sowie - darauf legte die kämpferische Organisation ebenfalls Wert - "eine warme, d. h. menschenwürdige Behandlung". Voraussetzung der Verwirklichung dieser Anliegen sei die Schaffung einer einheitlichen Berufsorganisation. Niemals wieder dürfe es zu so verheerenden und "kräftezehrenden Bruderkämpfen" wie vor 1933 kommen. Mit dem Wort "Durch Nacht zum Licht!" schloß der Aufruf an die Bergarbeiterschaft, ein bewegendes, aber kein wirklich klassenkämpferisches oder gar umstürzlerisch anmutendes Dokument, in der Substanz der Forderungen unmittelbar nach dem Fall des Regimes vielmehr realistisch und nüchtern. H9 Eine Verquickung von pathetisch-würdevoller Traditionsbesinnung und nüchternem Realitätssinn in der Einschätzung des eigenen Handlungsspielraumes kennzeichnete die Versammlung der Bochumer Zechenvertreter auf "Prinz Regent". Ein Hang zu radikaler Umwälzung in eigener Machtvollkommenheit ist in dem überlieferten Protokoll der Konferenz schwerlich nachzuweisen. Der "Obmann" der Schachtanlage, der alte sozialdemokratische Arbeiterfunktionär Schürmann, eröffnete das Treffen mit dem Gedenken an die in den Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordeten Kameraden. Dann sagte er: ,Jetzt, nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft, wo 738
739
Vgl. den Bericht von Paul Porter "Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Industry" v. 29. 5. 1945; NA, RG 260, 17/257-1/7. "Proklamation an die Bergarbeiter (April 1945)", abgedruckt in Christoph Kleßmann, Peter Friedemann, Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946-1948, Frankfurt 1977, S. 93 f.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
alles drunter und drüber geht, wo keine Behörde mehr vorhanden ist, wo keiner noch aus und ein weiß, haben sich in den Betrieben die alten Funktionäre der Gewerkschaften wieder in die Bresche geworfen, um zu retten, was noch zu retten ist. Sie sind teilweise durch Zuruf ernannt oder auch gewählt worden." Die Arbeitervertreter seien in der gegenwärtigen Lage nicht nur Betriebsfunktionäre, sie müßten sich auch um die notleidende Bevölkerung kümmern, die Ernährung für die Zechenarbeiter sicherstellen. "Im Einvernehmen mit der Besatzungsmacht", fuhr er fort, "wollen wir alles tun, um diese schwere Übergangszeit reibungslos zu überwinden. Besonders im Bergbau kommt es darauf an, daß zusammengearbeitet wird ... Unsere Direktion arbeitet mit uns so ziemlich Hand in Hand. Mit ihrer Zustimmung haben wir einige Entlassungen vorgenommen. Wir müssen im Bergbau alle an einem Strick ziehen." Danach gaben die übrigen Zechenvertreter eine kurze Beschreibung der Lage auf ihrem Bergwerk, wobei sie ihr Licht kaum unter den Scheffel gestellt haben dürften. Einige Abgesandte berichteten davon, Nazis, "die sich besonders hervorgetan und an Kriegsgefangenen und auch an Deutschen vergangen haben", seien mit oder ohne Zustimmung der Besatzungsmacht entfernt worden. Während einige hervorhoben, ihre Betriebsausschüsse kümmerten sich nicht um politische Dinge oder seien nicht über den Rahmen der Grube hinaus tätig, zeichneten andere ein optimistisches Bild von der inneren Machtverteilung auf ihrem Bergwerk. Eine Direktion habe zu verstehen gegeben, daß "sie gewillt sei, mit uns zusammen zu arbeiten", auf der Schachtanlage einer anderen Zeche werde der "Betriebsführer nicht mehr geduldet". Von der Zeche "Friedlicher Nachbar" wurde berichtet: "Der Betriebsführer macht nichts, ohne uns zu fragen." Ein kommunistischer Abgesandter der Grube "Gast" verfehlte im Überschwange wechselseitiger Befeuerung nicht, seinen Kollegen die sensationelle Mitteilung zu machen: "Von Moskau haben wir bereits schon einen Kommissar hier." Die freie Debatte beim ganztägigen Zusammentreffen in der Anlernwerkstatt auf "Prinz Regent" ist für die Arbeiterfunktionäre der Gruppe Bochum der GBAG, die wohl alle in der einen oder anderen Form von einer "fernen Vision" des Sozialismus 740 geleitet waren, fraglos ein erhebendes Erlebnis von Solidarität und Stärke gewesen. Sie gab einer Aufbruchsstimmung der Linken Ausdruck, die der Sozialdemokrat Schürmann als Versammlungsleiter abschließend in die Worte faßte: "Im zukünftigen Staat wird es auch einen Unternehmer wie bisher nicht geben. Wir müssen uns alle so einstellen und so arbeiten, als wenn die Betriebe unser wären." Die letzten Worte des Protokolls lauteten im Angedenken an die "Rote Armee" genannte Aufstandsbewegung der Ruhrarbeiter nach dem Kapp-Putsch 1920: "Hoch die klassenbewußte Arbeiterschaft! Hoch die rote Armee!" Sie stammten aus der Feder von Heinrich Wecke, der in jungen Jahren Vorsitzender des Arbeiterrates in Essen-Steele gewesen war. Hl Die Emphase historischer Reminiszenz an die Arbeitermacht 1918/20 hatte die am 23. April 1945 auf "Prinz Regent" versammelten Arbeitervertreter, unter denen sich Sozialdemokraten und Kommunisten durchaus skeptisch gegenüberstanden 742, aber 740
74.
742
Vgl. Plato, "DeT Verlierer ... ", S. 107. "Protokoll der Konferenz vom 23. April 1945 in der Anlernwerkstatt der Zeche Prinzregent, Bochum"; abgedruckt bei HemmeT, " ... als wenn die Betriebe", S. 248 H. Vgl. Pietsch, Militärregierung, S. 90.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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nicht zu simplen Analogien zur Novemberrevolution geführt. Sie hatte ihnen sogar in diesem vergleichsweise bewegten April nicht den Sinn dafür getrübt, daß praktische Schritte auf den Zechen keineswegs in eigener Machtvollkommenheit, sondern normalerweise in Abstimmung mit dem Management und immer unter Beachtung der Bedürfnisse und Direktiven der Besatzungsmacht zu setzen waren. Mancher Betrachter hat sich von der Rhetorik, der sich einige Belegschaftsvertreter auf den Zechen nach dem Zusammenbruch mitunter bedienten, täuschen lassen. Aber sogar dieses prominent gewordene Beispiel der Funktionärsversammlung auf "Prinz Regent" bestätigt nur, daß die großen sozialistischen Zielsetzungen für die Betriebsräte nur eine untergeordnete Rolle spielten 743: "Revolution" war das, was die ersten Arbeitervertretungen im Ruhrgebiet taten und getan sehen wollten, ganz gewiß nicht 744 Die Militärverwaltung, die sich ihre Position durch die unter dem Druck der Kritik opportun erscheinende Genehmigung des Aachener FDGB selbst sehr erschwert hatte 745 und sich in den Bergbauzentren an der Ruhr nun ebenfalls über die Betriebe hinausgreifenden Ansätzen zur Organisation der Arbeiterschaft gegenübersah, war nicht bereit, schon wenige Tage nach der Vertreibung der Wehrmacht das Risiko der Entfaltung mehrerer von ihr nicht autorisierter, nicht eindeutig legitimierter und womöglich kaum kontrollierbarer mitglieds starker Verbände einzugehen. Da in dieser für die einzelnen Detachments wenig durchsichtigen Situation Direktiven des Alliierten Oberkommandos ausblieben, entwarf Oberst Stobart, verantwortlicher Offizier des Rhine Coal Control District Nr. 2, der die Region Gladbeck, Bottrop, Gelsenkirchen umfaßte und in dem die gewerkschaftlichen Organisationsbestrebungen besonders virulent geworden waren, eine spezielle Anordnung, für die er sich die Billigung der zuständigen 9. US-Armee besorgte. 746 Aus dieser schon Ende April, Anfang Mai 1945 auch in benachbarten Coal Districts und bald im ganzen Ruhrgebiet bekanntgemachten Anweisung war zu entnehmen, daß die Besatzungsmacht die Bildung überbetrieblieh-gewerkschaftlicher Arbeiterorganisationen noch nicht erlauben wollte, die Bildung von vorläufigen Belegschaftsvertretungen jedoch gestattete, deren Arbeit aber einigen Einschränkungen unterlag. Die Direktive bestimmte nämlich, "daß Anschläge am Schwarzen Brett von den Militärbehörden zu genehmigen sind, daß der Vertretungsbereich von Delegierten auf Arbeitsbedingungen, Wohlfahrtsangelegenheiten usw. zu beschränken ist, daß Löhne und Arbeitsstunden von den Militärbehörden ohne Verhandlung festzusetzen sind, daß über die Ernennung von Zechenmanagern allein von den Militärbehörden zu entscheiden ist"747. Bis etwa zum Zeitpunkt der Kapitulation war im ganzen Ruhrgebiet ein Aushang verbreitet, der Arbeiterschaft und Betriebsleitung mit diesen Bestimmungen vertraut machte. 748
74, 744 745 746
747
748
So v. Plato in seinem Buch "Der Verlierer ... ", S. 107ft. Borsdorf, Speck oder Sozialisierung?, in: Mommsen, Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden', S. 345. Siehe oben in diesem Kapitel. Vgl. den Bericht von Moses Abramowitz "Trip Through Western Germany" für Isidor Lubin, amerikanischer Vertreter in der Interalliierten Reparationskommission in Moskau, v. 14. 5. 1945; NA, RG 165, CAD 014. Germany (7-10-42), sec-13. Dort auch die Bestimmungen über die Bildung und Aufgaben von provisorischen Betriebsausschüssen. Vgl. auch die beiden Direktiven: Ruhr CoaI District Nr. 3 v. 25.4. 1945; RWWA Köln, 20-1552-1. Ruhr Coal District Nr. 5 v. 9. 5. 1945; Pietsch, Militärregierung, S. 89. Vgl. den Bericht Paul Porters "Labor Situation in the Rhine-WestphaIian Coal Mining Industry" v. 29. 5. 1945, S. 15; NA, RG 260, 17/257-1/7; Arbeiterinitiative 1945, S. 301.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
In der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes, die das Stiefkind der Besatzungsmächte zu sein schien 749 , sahen sich die Detachments des Military Government keinen prinzipiell anderen Bestrebungen der Arbeiterschaft gegenüber als im Bergbau. In dieser mehr oder weniger brachliegenden Branche hatten die zum Großteil nicht in produktiver Arbeit stehenden Beschäftigten aber keine sehr wirkungsvollen Druckmittel in der Hand, um ihre Vorstellungen und Forderungen durchzusetzen. Auch in den Stahlwerken bildeten sich sofort nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen provisorische Betriebsvertretungen, und auch sie nahmen praktisch überall eine abgewogen-kooperative Einstellung gegenüber den Fabrikleitungen ein. 750 Daß deren Bildung weder im Widerspruch zu den Interessen der großen Montankonzerne noch der Besatzungsmacht stand, zeigte sich schon in einer der ersten Besprechungen zwischen der Militärverwaltung und den maßgeblichen Vertretern von Krupp, Mannesmann und der Gutehoffnungshütte. "Der Gedanke", so notierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der GHH über das gemeinsame Gespräch am 20. April 1945, "aus den Reihen unserer Gefolgschaft einige Vertreter wählen zu lassen, um die Belange der Gefolgschaft zu besprechen, wurde von den Amerikanern begrüßt."75 1 Drei Tage später formulierte die GHH-Konzernleitung in Oberhausen ihre Haltung dazu intern so: "Die Betriebsleitung legt Wert darauf, nachdem der Vertrauensrat in Fortfall gekommen ist, eine Verbindung mit der Belegschaft der einzelnen Werksabteilungen zu schaffen." Eine förmliche Wahl komme nicht in Frage, statt dessen werde vorgeschlagen, "daß die Betriebsleiter den persönlichen Auftrag erhalten, mit ihrer Belegschaft Fühlung zu nehmen und einen Verbindungsmann namhaft zu machen"752. Auch von der Konzernleitung der Fried. Krupp im Essen wurde im April 1945 die Bildung einer Arbeitervertretung "angeregt und von der Belegschaft durchgeführt"753. Ende des Monats erwähnte Professor Houdremont gegenüber der Militärregierung bereits eine eben stattgehabte Besprechung mit "etwa 30 neuen Vertrauensmännern"754. Solche Anstöße der Konzernleitungen waren aber auch bei Eisen und Stahl keineswegs die Voraussetzung für die rasche Bildung von Betriebsräten. Etwa zur gleichen Zeit, als sich Krupp und die Gutehoffnungshütte Gedanken über eine Wiederbelebung von Belegschaftsvertretungen machten, am 26. April 1945, wurde beim Leiter des Werkes Thyssen in Mülheim an der Ruhr, das zu den Deutschen Röhrenwerken und damit zum Konzern der Vereinigten Stahlwerke gehörte, ein fünfköpfiger "provisorischer Betriebsausschuß" vorstellig. Die Männer erklärten, sie seien von einem Teil der zur Zeit auf dem Werk Beschäftigten gebeten worden, "die Wahrung ihrer sozialen und arbeitsrechtlichen Interessen wahrzunehmen". Diesem Wunsch wollten sie nun nachkommen, die Mülheimer Militärverwaltung habe solche Ausschüsse genehmigt. "Der Ausschuß betrachtet es als oberstes Gebot", so die kleine Delegation zu ihrer Zielsetzung, "in offener und freier Mitarbeit mit der Werksleitung dafür zu sorgen, daß unserem Werk, das unseren Familien bisher Arbeit und Brot gab und weiter geben soll, von unberufener Seite keinerlei Schaden zugefügt wird." In Zusammenarbeit 749 750 751
752 753
75'
Siehe V/2. Vgl. für den Dortmunder Bereich etwa Behr, Pohlmann, Betriebsratshandeln. Gemeinsame Besprechung am 20.4. 1945; Haniel-Archiv, 400 101 50/82. Anordnung der GHH-Betriebsleitung v. 23.4. 1945; eben da. "Technischer Bericht über das Geschäftsjahr 1944/45" der Firma Krupp vom April 1947; Krupp-Archiv, WA VII f 1199. Notiz von Bülows v. 28.4. 1945; Krupp-Archiv, WA 42/210.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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mit der Betriebsführung werde der provisorische Betriebsausschuß dafür Sorge tragen, daß alle das Werk betreffenden Anordnungen der Militärverwaltung "zufriedenstellend durchgeführt" würden: "Wenn wir in der Stunde der Not treu zusammenstehen und der eine in dem anderen den sieht, der sein Bestes für unser Werk und für unsere Stadt zu geben gewillt ist, dann wird unsere gemeinsame Arbeit ersprießlich sein. Ein Gegeneinander darf es nicht geben." Im einzelnen meldete der Ausschuß unter anderem folgende, für die Betriebsräte nach 1945 nicht untypischen7>5 Forderungen an: Teilnahme an den Sitzungen der Betriebsleitung, Mitbestimmung über alle Einstellungen und Entlassungen, Wiedereinstellung von nach 1933 aus politischen Gründen Entlassenen, Mitaufsicht über die Werksküche und deren Warenlager. Die Direktion zeigte Entgegenkommen. Der vorläufige Betriebrat durfte an den Sitzungen der Betriebsleiter teilnehmen, wenn dort die Belegschaft betreffende Fragen auf der Tagesordnung standen, die Mitwirkung bei Einstellungen und Entlassungen wurde konzidiert, die Mitaufsicht in Werksküchen und Warenlagern sogar als "erwünscht" bezeichnet. 756 Das Entgegenkommen der Betriebsleitung des Werkes Thyssen in wesentlichen betrieblichen Belangen zahlte sich rasch aus, denn schon wenige Wochen später kam ein gemeinsamer Aufruf von Direktion und Betriebsrat zustande, in dem die Belegschaft zu strikter Beachtung der Arbeitsdisziplin angehalten wurde. Gemeinsam erteilten sie zudem allen über aktuelle Sorgen hinausführenden Erörterungen eine unmißverständliche Absage. Sie hofften, schrieben Werksleitung und Ausschuß, "daß alle Belegschaftsmitglieder mit uns der gleichen Ansicht sind, daß die augenblicklichen Krisenzeiten nicht durch Politisieren und Debattieren, sondern nur durch Arbeiten verbessert werden können"757. Im benachbarten Duisburg meldete sich bald nach der Besetzung bei den beiden mit der Notbelegschaft im Demag-Werk (Schwermaschinenbau) verbliebenen Direktoren Domini und Schulze der frühere Betriebsrat Meier zu einer Besprechung über die künftige Regelung der Arbeitervertretung. Die Militärverwaltung, bei der er vorgesprochen habe, sei bereit, "die alten Mitglieder des Betriebsrates (d. h. vor 1933) wieder einzusetzen, soweit sie sich als einwandfrei erwiesen hatten"758. Bereits zwei Tage danach, am 30. April 1945, fand eine erste längere Aussprache zwischen alten DemagBetriebsräten und den beiden Direktoren statt. Dabei sagte der Wortführer der Belegschaftsvertreter, einer der prominentesten Sozialdemokraten in Duisburg, "wenn auch das Betriebsrätegesetz noch nicht wieder in Kraft getreten sei, so bestünde doch zweifellos die Absicht und die Notwendigkeit, eine Vertretung der Arbeiter und Angestellten zu schaffen". Domini und Erich Edgar Schulze, der zugleich Vorsitzender der 755
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75'
Vgl. die abgewogene Bewertung durch Alexander von Plato, der schreibt, die von ihm befragten sozialdemokratischen Betriebsräte hätten ihre Macht nach 1945 "nicht für eine sozialistische Herrschaft oder eine Alleinherrschaft des Betriebsrats, sondern im Sinne der Mitsprache" eingesetzt. Alexander von Plato, Nachkriegssieger. Sozialdemokratische Betriebsräte im Ruhrgebiet - Eine lebensgeschichtliche Untersuchung, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), "Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist". Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983, S. 327. Zur Bildung der vorläufigen Vertretung auf dem Werk Thyssen vgl. "Chronik des Werkes Thyssen", Eintragung v. 26.4. 1945; ,,Aktenverrnerk über eine Besprechung bei Herrn Direktor Simoneit" am 27.4. 1945 und 1. 5. 1945; ,,Aktenverrnerk Nr. 3 über eine Besprechung mit dem Betriebsausschuß am 1. 5. 1945"; Abschrift der Resolution des provisorischen Betriebsausschusses v. 26.4. 1945. Alles in: Mannesmann-Archiv, R 1 50 80. Gemeinsamer Aufruf der Werksleitung und des Betriebsausschusses des Werkes Thyssen der Deutschen Röhrenwerke v. 1. 6. 1945; Mannesmann-Archiv, R 1 5033. Aktenverrnerk von Direktor Edgar Erich Schulze v. 28.4. 1945; Mannesmann-Archiv, D 1.093.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Duisburger Industriekommission war 759 , verwiesen zwar darauf, daß wegen fehlender gesetzlicher Regelungen noch kein regulärer Betriebsrat installiert werden könne, daß sie aber vorbehaltlich der Zustimmung des Demag-Vorstandes bereit seien, die anwesenden, ihnen bekannten fünf Persönlichkeiten aus der Belegschaft vorläufig als "Vertrauensmänner der Gefolgschaft zu betrachten"76o. Nach den Vorstellungen des provisorischen Ausschusses sollten die Vertreter der Arbeiter und Angestellten bei allen wichtigen Fragen hinzugezogen werden. Gemeinsam wurde dann ein Fragebogen konzipiert, der allen Beschäftigten der Demag vorgelegt werden sollte. "Es besteht Übereinstimmung darüber", heißt es in einer Notiz über die zweite Besprechung zwischen Direktion und Belegschaftsvertretung761 , "daß mit Ausfüllung dieser Fragebogen keine kleinliche Schnüffelei verknüpft sein soll. Er soll nur der Fernhaltung solcher Elemente dienen, die den Arbeitsfrieden ernsthaft gefährden oder für die Besatzungsbehörden nicht tragbar sind." Der sozialdemokratische Vorsitzende des vorläufigen Betriebsrates der Demag meinte rückblickend in einem Erinnerungsbericht: "Die Zusammenarbeit zwischen Werksleitung und provisorischem Betriebsrat spielte sich schnell und leicht ein, denn die gemeinsamen Interessen waren für jeden der Beteiligten zu offensichtlich."762 Inoffizielle "Vertrauensmänner"-Gremien hatten sich an dem zentralen Stahlstandort Duisburg im April 1945 in den meisten großen Werken gebildet. Als Edgar Erich Schulze am 1. Mai in der Industriekommission berichtete, "daß Mitglieder der Betriebsvertretungen aus der Zeit vor der Machtübernahme sich in Einvernehmen mit den Besatzungsbehörden bei mehreren Firmen wieder gemeldet und zur Verfügung gestellt hätten", und er seine Kollegen von der Konstituierung der provisorischen Belegschaftsvertretung in seinem Werk unterrichtete, zeigte sich, daß die anderen Firmen "in ähnlichem Sinne verfahren" waren. 763 Ernsthafte Versuche von Unternehmern, die Bildung von Belegschaftsvertretungen zu verschleppen oder zu verhindern, waren selten. Auch ist es offenbar - wo überhaupt der Versuch dazu gemacht wurde - nicht einmal in den ersten Wochen der Besatzungszeit geglückt, den am Weimarer Vorbild orientierten Betriebsausschüssen durch andere Formen betrieblichen oder überbetrieblichen Interessensausgleichs dauerhaft das Wasser abzugraben. Aus dem linksrheinischen Krefeld ist eine solche, von der bereits Mitte März 1945 wieder erstandenen Industrie- und Handelskammer ausgehende Initiative überliefert. In ziemlich deutlicher Anlehnung an die sozialharmonistischen Elemente der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung empfahl der IHK"Sozialausschuß" (dem der Fachvertreter der starken örtlichen Textilindustrie vorsaß) dort nämlich Ende April die Schaffung eines aus ehrenamtlichen Mitgliedern bestehenden sogenannten "Sozialamtes" innerhalb des Arbeitsamtes, "das dem Ausbau der gemeinsamen Front der Arbeitnehmer und Unternehmer" dienen sollte; der Plan war mit der Stadtverwaltung und dem Arbeitsamt abgestimmt. Es ist erstaunlich, wie 759 760
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76'
Vgl. V/2. "Niederschrift über die Besprechung mit den Herren Tenhagen, Jörg u. Maier betr. Vertretung der Angestellten und Arbeiter" von Direktor Schulze v. 30.4. 1945; Mannesmann-Archiv, D 1.093. Ungezeichneter Vermerk über eine Besprechung "mit den vorläufigen Vertrauensmännern der Gefolgschaft und den Betriebsleitern" am 7.5. 1945; ebenda. "Erinnerungen von Herrn Frensch, vor 1933 und von 1945 bis 1951 Vorsitzer der Betriebsvertretung" der Demag, ohne Datum, archiviert 1964; eben da. Niederschrift Schulzes über die Sitzung der Duisburger Industriekommission am 1. 5. 1945; ebenda.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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selbstverständlich die Argumentation der ansonsten politisch keineswegs unbelehrbaren Mitglieder der Kammer zur Begründung ihrer kleinen DAF zu dieser Zeit noch auf Vorstellungen fußte, die nicht die geringste Chance hatten, bei der Militärregierung oder bei den alten Arbeiterfunktionären in den Betrieben Anklang zu finden: "Gegen Streiks und Aussperrungen, für Stärkung des gegenseitigen Vertrauens und des Arbeitswillens, heißt die Parole", so gibt die Sitzungsniederschrift die Diskussion wieder. "Die Zusammenarbeit beider Teile liegt auf allen Gebieten, die das Arbeitsleben berühren wie Urlaub, Sport, Verschönerung der Arbeitsräume, Ausbildung und Leistungssteigerung usf. ... Die Vertreter der Kammer glauben, daß für die Verwirklichung dieses Planes die Zeit sehr günstig sei, da die Fronten wegen des gemeinsamen Unglückes noch geschlossen seien." Zwei Kammermitglieder wurden im Laufe der Diskussion noch etwas deutlicher. Sie wünschten sich eine "baldige Einrichtung" des geplanten Sozialamtes, und zwar, wie sie sagten, "um die Schaffung weiterer Betriebsräte zu verhindem"764. Ähnliche Episoden mag es noch andernorts gegeben haben, aber der mächtige Trend zur sofortigen Bildung provisorischer Belegschaftsvertretungen in den großen Betrieben von Eisen und Stahl blieb davon vollkommen unberührt. Wie sich binnen weniger Wochen herausgestellt hatte, gab es zu solchen durchsichtigen Manövern und vergeblichen Umarmungs- und Neutralisierungsversuchen weder im Ruhrrevier noch in den anderen deutschen Wirtschaftszentren wirklichen Anlaß. Aus Stuttgart-Bad Cannstatt etwa ist der Aufruf eines Betriebsausschusses bei der AEG von Ende April 1945 überliefert, der im gleichen, geradezu nicht-revolutionären Geist abgefaßt war wie ähnliche Erklärungen im Ruhrgebiet, "ein typisches Beispiel für das Selbstverständnis der neuen Betriebsräte"765. Die Hauptaufgabe der Betriebsvertretungen, die ein schweres Erbe übernommen hätten, sei es nun, das "von den Nazis hinterlassene Wirtschaftschaos" zu beseitigen, schrieben die Belegschaftsvertreter in Schwaben: "Wir als schaffendes Volk müssen nun alles daran setzen, unsere ganze Kraft und unseren ganzen Willen dazu aufwenden, daß wir bald wieder geordnete Verhältnisse und ein geregeltes Wirtschaftsleben bekommen ... Wir müssen unser Schicksal alle selbst meistern, denn nach all dem Vergangenen können wir auf keine fremde Hilfe hoffen. Nur in einer wirklichen wahren Schicksalsgemeinschaft können wir all die großen Probleme des Wiederaufbaus meistern, und aus dieser Schicksalsgemeinschaft heraus wollen wir zu einer wirklichen Betriebskameradschaft kommen, uns gegenseitig achten und in wahrer Kameradschaft kennenlernen, mit dem einen großen Ziel: Aufbau unserer Arbeitsstätten!" In anderen deutschen Regionen, in Wiesbaden wie in Bremen oder Köln, bot sich nach dem Einmarsch der Alliierten ein ganz ähnliches Bild. 766 Die neu gebildeten Belegschaftsvertretungen in der Stahlindustrie befaßten sich ebenso wie die im Kohlesektor in erster Linie mit der Instandsetzung ihrer Betriebe, kümmerten sich um die Sicherstellung der Versorgung und setzten sich für eine Verkürzung der während der Rüstungs- und Kriegsproduktion verlängerten Arbeitszeiten 76' 76'
766
Fachleitersitzung der IHK Krefeld am 23.4.1945; RWWA Köln, 25-17-l. So Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 493; dort auch der zitierte Aufruf v. 28.4. 1945. Vgl. etwa die folgenden Arbeiten: Angelika Jacobi-Bettien, Metallgewerkschaft Hessen 1945 bis 1948. Zur Herausbildung des Prinzips autonomer Industriegewerkschaften, Marburg 1982, insbes. S. 311 H. Peter Brandt, Neuordnungsdiskussion und betriebliche Mitbestimmung 1945-1948. Das Beispiel Bremen, in: IWK 20 (1984), S. 156 H. Rüther, Zusammenbruch.
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v. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ein. Daneben drängten sie die Unternehmensleitungen, sich von Betriebsangehörigen zu trennen, die sich als nationalsozialistische Aktivisten politisch allzu sehr exponiert oder sich als Spitzel, Antreiber und Schinder bei der Belegschaft in Mißkredit gebracht hatten. Als Ende Mai, Anfang Juni 1945 praktisch in allen größeren Unternehmen des alliierten Besatzungsgebietes betriebliche Arbeitervertretungen existierten, konnte überhaupt kein Zweifel daran sein, daß die Betriebsausschüsse von 1945 nichts mit den Arbeiterräten von 1918/19 gemein hatten. Auch in der Eisen- und Stahlindustrie stellten sie sich nicht gegen Management und Eigentümer, sondern strebten in der Regel ein Einverständnis mit Betriebsleitungen an; sie forderten ihre Einbeziehung bei der Regelung von personellen und sozialen Angelegenheiten, aber die Gretchenfrage, nämlich die Frage nach einer Neuverteilung der Verfügungsrnacht über die Produktionsmittel, stellten sie im Frühjahr und Sommer 1945 nicht. Das geschah erst, als ihnen ab Herbst, verstärkt dann ab Frühjahr 1946 von den wiedererrichteten Arbeiterparteien und insbesondere den Gewerkschaften die politische Richtung gewiesen wurde. 767 Ganz selten, daß in den Aufrufen der provisorischen Betriebsräte in den ersten Wochen nach Kriegsende einmal revolutionäre Rhetorik anklang, von revolutionär zu nennenden Schritten gar finden sich im Moment des Zusammenbruchs des NS-Regimes keine Spuren. 768 Die Firmenleitungen von Kohle und Stahl im Ruhrrevier hegten denn auch kaum Befürchtungen, daß es unter der Mehrzahl der alten Arbeiterfunktionäre, die oft eine über Jahrzehnte gewachsene Bindung an das Unternehmen hatten, zu einer radikalen Bewegung kommen könne; Auseinandersetzungen mit eigenwilligen Ausschüssen in einzelnen Betrieben - sofern sie nicht durch von außen kommende Einwirkungen entstanden waren oder überbetriebliche Organisationsformen anstrebten - wurden deshalb normalerweise auch nicht als bedrohliche Symptome, sondern eher als Bestätigung der Regel aufgefaßt. Diese recht bald gewonnene Sicherheit entsprang der Erfahrung im Umgang mit den sich wieder meldenden Wortführern der Belegschaft in den Tagen der Besetzung, aber auch schon den Erfahrungen in der Zeit vor dem Einmarsch, als sie in gemeinsamer Opposition gegen die Maßnahmen der "Verbrannten Erde" aufgetreten waren und Notbelegschaften für die Umbruchswochen zusammengestellt hatten. Von den Offizieren der Militärverwaltung wußten die Betriebsleitungen bald, daß diese keine Aktionen dulden würden, die in den Fabriken unversöhnliche Konflikte schaffen und ihnen die Kontrolle des Industriezentrums über Gebühr erschweren mußten. Als etwa bei den Essener Straßenbahn betrieben kurz nach der amerikanischen Besetzung der Stadt die radikale Forderung laut wurde, "alle Parteimitglieder aus der Gefolgschaft zu entfernen", entschied der Kommandant, daß zunächst alles beim alten zu bleiben habe und - dies in klarer Abweichung vom üblichen Kurs der Besatzungsverwaltung - "Betriebsräte jetzt nicht geduldet" würden. In derselben Sitzung, einer Zusammenkunft von über zwanzig Leitern und Inhabern Essener Industriebetriebe Ende April 1945 769 , in der dieser Vorfall berichtet wurde, brachte Otto Springorum, der Vorstandsvorsitzende der Gelsenkirchener Berg767
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769
Dies geht klar hervor aus: Gloria Müller, Mitbestimmung in der Nachkriegszeit. Britische Besatzungsmacht, Unternehmer, Gewerkschaften, Düsseldorf 1987; vgl. insbes. S. 60. Identische Befunde bei: Rüther, Zusammenbruch, S. 112 H. Lauschke, "In die Hände spucken ...", S. 319 H. Behr, Pohlmann, Betriebsratshandeln, S. 168 H. "Niederschrift über die Sitzung von Betriebsführern industrieller Betriebe im Stadtkreis Essen am 30.4. 1945"; RWWA Köln, 28-6-6.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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werks-AG, darüber hinaus die generelle Haltung der örtlichen Militärregierung zur Kenntnis. Diese habe erklärt, "daß die Betriebe nicht genehme Betriebsräte oder solche Betriebsräte, mit denen ein Arbeiten nicht möglich ist, nicht anzuerkennen brauchen". Der Aktenvermerk über eine Werksbesprechung fünf Wochen später hält die Ausführungen des Vorsitzenden des Direktoriums der Fried. Krupp zum Tagesordnungspunkt "Betriebsrat" mit den Stichworten fest: "Keine politische Tätigkeit des Betriebsrates. Er kann nicht entscheiden, ob z. B. ein Werksangehöriger auf seinem Arbeitsplatz bleibt oder nicht."770 So war den Unternehmensleitungen wie den provisorischen Betriebsausschüssen bereits in den Wochen zwischen der Besetzung im Frühjahr und den ersten Fixierungen der rechtlichen Grundlagen der neuen Betriebsräte durch die Militärverwaltungen imJuli 1945 der begrenzte Handlungsspielraum für innerbetriebliche Auseinandersetzungen recht deutlich. Die Unternehmen waren außerstande, die Bildung unabhängiger Belegschaftsvertretungen zu verhindern, die Arbeiterfunktionäre mußten sich mit den gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten bescheiden. Aufs Ganze gesehen legten es beide Seiten in den ersten Wochen nach der Besetzung auch nicht darauf an, partout die Toleranzgrenzen ihres Gegenspielers oder gar die der Besatzungsmacht in Erfahrung zu bringen. Die Wirtschaftskammer Essen etwa empfahl ihren Mitgliedsfirmen Ende Mai 1945, sich "in vernünftiger Weise mit der Belegschaft über die Bildung von Vertretungen zu verständigen"77'. Die Militärregierung in Dortmund riet der dortigen Industrie- und Handelskammer einige Wochen später, mit den ,,Arbeiterräten" in den Industriebetrieben "positiv zusammenzuarbeiten, jedoch in keiner Weise Übergriffe zu dulden"772. Als "Übergriffe" galten den Montankonzernen ebenso wie den kleineren Firmen im Revier alle von außen in die Betriebe hineingetragenen gewerkschaftlichen Organisationsversuche. Hiergegen setzten sich die Manager der Eisen- und Stahlwerke nicht weniger kompromißlos zur Wehr als ihre Kollegen auf den Zechen. Auf der einen Seite hatten sie es dabei einfacher, da die Belegschaften der brachliegenden Werke kaum Druckmittel in der Hand hatten, andererseits konnte die Stahlbranche nicht von vorneherein mit der gleichen Aufmerksamkeit und denselben entschiedenen Reaktionen der Militärverwaltung rechnen wie der Schlüsselsektor Bergbau. Beim Gutehoffnungshütte-Konzern, der diesen Bestrebungen dank seines Rufes als ein dem NS-Regime fernstehendes Unternehmen vielleicht etwas gelassener entgegensehen konnte als andere Firmen, waren nicht einzelne Zechen und Produktionsstätten, sondern war die Zentrale in Oberhausen selbst das Ziel gewerkschaftlicher Aktivität. Hier erschienen am Nachmittag des 18. April 1945, eine Woche nach dem amerikanischen Einmarsch, vier Angehörige der Belegschaft beim Vorstandsvorsitzenden Kellermann und erklärten, daß "mit Einwilligung" der Militärverwaltung "die 770
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Aktenvermerk über die Werksbesprechung der Fried. Krupp am 4. 6.1945; Krupp-Archiv, WA IV 3006 b. Vgl. auch die Niederschrift über die Werksleiterbesprechung bei Mannesmann am 27.6. 1945, wo gesagt wurde, die Militärregierung habe inzwischen bekanntgegeben, "daß die vorläufig eingesetzten und noch nicht auf gesetzlichem Wege gewählten Betriebsräte vorläufig nur die Funktion von Sprechern" hätten, "die dazu da sind, etwaige Wünsche der Belegschaft bei der Geschäftsleitung vorzubringen". Die Betriebsräte hätten auch nicht das Recht, aus politischen Gründen Entlassungen zu fordern; Mannesmann-Archiv, M 12.018. "Protokoll der Sitzung der Industriefirrnen aus Oberhausen am 24.5. 1945"; RWWA Köln, 28-6-6. "Aktenverrnerk über die Industriebesprechung am 3.7. 1945" der IHK Dortmund; WWA Dortrnund, K 1, Nr. 3065.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
antifaschistische Einheitsgewerkschaft aufgemacht habe, die alle früheren Gewerkschaften umfasse. Sie wollten die Zelle GHH übemehmen", so eine Aktennotiz hierüber77 3, "und baten um Überlassung des Vertrauensratsbüro an der Essenerstraße. Es komme ihnen darauf an, schnellstens fazistische (sic!) Elemente aus dem Betriebe auszumerzen." Was die vier Arbeiter dem Vorstandsvorsitzenden von Angesicht zu Angesicht zu sagen hatten, zielte nicht auf einen Machtwechsel an der Konzernspitze: "Dabei", sagten sie, "dächten sie nicht an Ingenieure und dergleichen, sondern in erster Linie an den Werkschutz, der noch Fazisten enthalte und im antifazistischen Sinne ausgerichtet werden müsse." Generaldirektor Kellermann nahm die Ausführungen seiner Gegenüber zur Kenntnis und erklärte, er müsse sich erst Gewißheit über die von der Militärregierung angeblich ausgesprochene Billigung verschaffen, "bevor er zu den Wünschen Stellung nehmen könne". Daraufhin gingen die vier wieder und baten um Bescheid an das Büro "der früheren DAF", das sie inzwischen bezogen hätten. Ihr stärkster und einziger Trumpf in dieser Unterredung mit dem GHH-Generaldirektor war die Berufung auf eine ihrer Sache angeblich gewogene Besatzungsmacht. Bereits am nächsten Vormittag erwies sich, daß dieser Trumpf gar nicht existierte. Kellermanns Stellvertreter Lübsen hatte sich nämlich sofort an das örtliche Military Government gewandt und dort auch prompt erfahren, wie sich der Vorstandsvorsitzende handschriftlich notierte, "daß die alliierte Militärregierung unter keinen Umständen politische Parteien und Gewerkschaften dulden und zulassen würde. Die gegenteilige Behauptung sei erlogen." Falls wiederum eine derartige Kommission vorspreche, "sei sie abzuweisen und die Militärregierung sofort zu benachrichtigen". Als sich am selben Tag "drei Kommunisten (zweifellos die gestrigen Leute)" wieder beim Vorstandsvorsitzenden melden wollten, ließ dieser sie, wie er sich notierte, durch seinen Stellvertreter Lübsen "abfertigen". Lübsen, bei dem sie sich "sehr frech benommen" hätten, lehnte alle weiteren Verhandlungen ab und verwies die Dreierdelegation an die Militärregierung. 774 Am selben Tag schaltete sich auch der kommissarische Oberbürgermeister von Oberhausen mit einem Schreiben an alle Firmen der Stadt ein. Ihm sei zu Ohren gekommen, schrieb er, daß sich in den letzten Tagen "Leute", die ohne Ausweis keine Berechtigung hätten, "etwas zu unternehmen", bei den verschiedenen Betrieben vorstellten und dort "Gewerkschaften schaffen" wollten. Die Militärregierung habe darum gebeten, die Stadtverwaltung sofort davon in Kenntnis zu setzen "und zu versuchen, diese Leute vorläufig auf dem Fabrikgelände festzuhalten". Bei telefonischer Benachrichtigung werde die Besatzungsmacht "sofort mit den erforderlichen Soldaten" erscheinen, "um die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen"775. Am Tag 773
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Aktenvermerk über den Besuch der Arbeiter bei Kellermann am 18.4. 1945 mit handschriftlichem Ver· merk des GHH-Vorstandsvorsitzenden; Haniel-Archiv, 400 101 402/68. Über eine ähnlich allergische Reaktion der Betriebsleitung auf eine Einflußnahme von außen berichtet Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 491 1., am Beispiel der Technischen Werke der Stadt Stuttgart. Auch nachdem die Besatzungsbehörden die Bildung von Gewerkschaften zugelassen hatten, wachte die Konzemleitung der Gutehoffnungshütte für die das belegt ist (vgl. den Aktenvermerk über eine Gewerkschaftsversammlung auf dem Werksgelände in Oberhausen v. 7. 9. 1945; Haniel-Archiv, 400 101 402/68) - darüber, daß Aktivitäten der Belegschaft wie etwa Gewerkschaftsversammlungen nicht "eigenmächtig" und ohne Kenntnis der Betriebsleitung stattfanden. Schreiben des Oberhausener Oberbürgermeisters an sämtliche Firmen der Stadt v. 19.4. 1945; Haniel-Archiv, 400 101 402/68.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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danach stellten auch die Offiziere der übergeordneten militärischen Dienststellen bei einer Besprechung mit Krupp, Mannesmann und der GHH, auf der Direktor Lübsen die Erfahrungen seines Konzerns mit der Gewerkschaftsinitiative zur Sprache brachte, vehement klar, daß sie keinerlei politische Parteien oder Gewerkschaften anerkannt hätten. "Oberstleutnant Ryan", so Lübsens Vermerk über dieses Treffen, "interessierte sich sehr für den Vorfall und kam nachher noch einmal zu mir, um mir eindeutig zu sagen, daß die Kommunisten ihre Versuche wahrscheinlich fortsetzen würden, schnell Vorteile zu erringen. Es sei unsere Sache, uns auf nichts einzulassen."776 Die mehr von Wunschdenken und Einsatzfreude für die Sache der Arbeiterklasse als von nüchterner Abwägung der eigenen Möglichkeiten bestimmte Aktion der kommunistisch orientierten kleinen Gruppe bei der GHH, die ebenso wie ihre Genossen in den Bergwerken nichts von der programmatischen Wende des Zentralkomitees der KPD ahnte, endete nicht nur als vollkommener Fehlschlag, die Gewerkschafter mußten obendrein mit ansehen, wie die Stadtverwaltung im Einvernehmen mit der Besatzungsmacht eine Woche nach ihrem an sich couragierten Schritt bei Kellermann ihr Büro in den ehemaligen DAF-Räumen wieder schloß177, und zwar ohne daß die Oberhausener Arbeiterschaft einen Finger für ihre Avantgarde gerührt hätte. Im benachbarten Stahlzentrum Duisburg waren die Versuche, gewerkschaftlich orientierte Betriebsausschüsse zu bilden, etwas besser in die ersten Regungen einer sich wieder formierenden örtlichen Arbeiterbewegung eingebettet, denn hier war Mitte Mai eine sogenannte ,,Antifaschistische Einheitsfront" aufgetreten, in der sich etwa zehn bis fünfzehn sozialdemokratische und kommunistische Altfunktionäre und NS-Gegner zusammengefunden hatten. 77B Diese "lose sozialistische Initiativgruppe" ohne festen organisatorischen Rahmen konnte zu keinem Zeitpunkt den Status einer wirklichen politischen Konkurrenz der Stadtverwaltung erreichen, die von dem angesehenen, vor 1933 dem Zentrum zugehörigen Oberbürgermeister Dr. Heinrich Weitz geführt wurde. Die "Einheitsfront" hatte aber durch beharrliche, wenn auch meist vergebliche Versuche, die lokalen Belange mit zu beeinflussen, von sich reden gemacht; als treibende Kraft zu nennen ist neben dem einstigen SAP-Gewerkschafter Pennekamp und dem früheren Stadtverordneten und KPO-Mann Triebel auch Gustav Sander, einer der bekanntesten Duisburger SPD-Gewerkschafter (er hatte 1918 dem Duisburger Arbeiter- und Soldatenrat angehört). Die maßgeblichen Köpfe dieses Ausschusses waren auch an den gewerkschaftlichen Gründungsbestrebungen im Einzugsbereich der Stahlstadt an der Ruhrmündung beteiligt. Mitunter auch unter der Firmierung ,,Antifaschistische Einheitsfront - Untergruppe Gewerkschaftsbund" auftretend, wandten sich diese alten Arbeiterfunktionäre Mitte Mai 1945 in einem charakteristischen, ,,An die Betriebsobleute!" überschriebenen Aufruf an ihre Duisburger Arbeitskollegen: "Die Nazipest ist beseitigt", hieß es darin. "Hitler und seine Trabanten sind zur Strecke gebracht. Noch aber ist die Hitlerbrut nicht vollständig vernichtet. Es muß deshalb die vornehmste Aufgabe der Arbeiterschaft sein, für die restlose Beseitigung aller Überreste des Nationalsozialismus 776
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Vermerk Lübsens über die Besprechung mit der Militärregierung am 20.4. 1945; Haniel-Archiv, 400 101 50/82. Schreiben des Oberhausener Oberbürgermeisters an die GHH v. 26.4.1945; Haniel-Archiv, 400101402/68. Vgl. dazu Arbeiterinitiative 1945, S. 362 ff.; Zitat ebenda, S. 373. In diesem Beitrag finden sich ferner einige Informationen zu den hier genannten Personen.
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v.
Die Besetzung des Ruhrgebietes
Sorge zu tragen. Schwere Arbeit liegt noch vor uns, bevor auch auf diesem Gebiet restlose Sauberkeit erreicht ist." Da die Duisburger Unternehmer bereits einen Industrieausschuß 77 9 gebildet hätten, gelte es nun, "unseren Betriebsobleuten und -funktionären jede mögliche Unterstützung zu verschaffen". In fast allen Betrieben seien "nun wieder Betriebsräte ins Leben gerufen worden, und nun gilt es, eine machtvolle Organisation der Arbeiter ins Leben zu rufen". Verantwortliche Betriebsfunktionäre hätten durch "einen einheitlichen Beschluß den Willen kundgetan, die ,Einheitsgewerkschaft deutscher Arbeitnehmer' aufzubauen". Es stehe zu erwarten, daß die Genehmigung durch die Militärregierung in Kürze erfolge (das war eine voreilige Prognose, denn die Militärregierung bezeichnete die Gründungsinitiative als verfrüht).780 Am selben Tag wurde in einem gesonderten Aufruf bekanntgemacht, daß die Einheitsgewerkschaft "vorbehaltlich einer später zu erfolgenden Wahl" von zwei Vorsitzenden mit gleichen Rechten, von dem erwähnten 64jährigen SPD-Gewerkschafter Sander und von dem alten KPD-Mitglied und Stadtverordneten Wilhe1m Stock, geführt werde; Schriftführer wurde der KPD-Gewerkschafter Kar! Kuron. Zum Aufbau dieser Einheitsgewerkschaft (EG) müßten Mittel beschafft werden, hieß es weiter, die bis zu einer geregelten Beitragskassierung "durch Listen eingezogen" würden: ,,Arbeitnehmerschaft von Duisburg! Unterstützt uns beim Aufbau einer neuen EG, des Instruments für die Abwehr der Unternehmerwillkür." 781 Den Aufrufen von Stock und Sander ist zu entnehmen, daß die gewerkschaftliche Gründungsinitiative in erster Linie als Reaktion auf die bereits seit einem Monat bestehende informelle Zusammenarbeit der Duisburger Industrieunternehmen verstanden werden muß. Die Unternehmer bereiteten Maßnahmen vor, "die unsere ganze Aufmerksamkeit erfordern", schrieben die beiden Gewerkschaftsinitiatoren. Es sei "bereits ein allgemeiner Lohn- und Gehaltsabbau für die gesamte Arbeiter- und Angestelltenschaft beabsichtigt", in einzelnen Betrieben schon durchgeführt. "Auch in der Frage des L Mai" hätten die Unternehmer wieder "ihren alten Herrenstandpunkt" eingenommen. Diese Argumentation, die die unmittelbaren Interessen der Arbeiter in den Vordergrund rückte und auf die Präsentierung eines allgemeinen sozialistischen Zielkataloges verzichtete, war die beste Methode, der Arbeiterschaft die Notwendigkeit einer starken Gewerkschaftsorganisation vor Augen zu führen. Dabei waren die Reizworte "Unternehmerwillkür" und "Herrenstandpunkt" wirksame und vertraute Propaganda, auch wenn den Gewerkschaftern und den Belegschaften nicht verborgen geblieben sein konnte, daß die Dinge doch komplizierter lagen. Wie in einigen anderen Städten des Reviers, so spielten auch in Duisburg manche Firmen mit der Absicht, einer Anordnung der Besatzungsbehörden zu folgen, nur 60 Prozent des Arbeitslohnes auszuzahlen und den Rest auf einem Sperrkonto festzulegen. 782 Diese einschneidende Maßnahme schien auch Günter Henle, dem Chef des Duisburger Klöckner-Konzerns, die Hauptursache für die entschiedenen Schritte der Arbeitnehmervertreter zu sein. In dieser Situation nun zeigte keiner der beiden herausragenden Duisburger Industriellen, weder Henle noch der Demag-Direktor Erich 779 780
781 782
VgL V/2. Aufruf ,,An die Betriebsobleute!" v. 14.5. 1945; RWWA Köln, 20-1552-1. Im einzelnen hierzu Pietsch, Militärregierung, s. 91 ff. Aufruf ,,Arbeiter und Angestellte!" v. 14.5.1945; RWWA Köln, 20-1552-1. VgL beispielsweise die Anordnung für den Rhine eoal District Nr. 3 ("Richtlinien Nr. 2"), die offenbar aber nicht auf die Region Recklinghausen beschränkt blieb; ebenda.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Edgar Schulze (der zugleich Vorsitzender der Industriekommission war), jene "Unternehmerwillkür", von der in dem öffentlichen Aufruf die Rede war. Der KlöcknerChef stimmte nämlich in einem Schreiben an Schulze dessen Auffassung zu, "daß eine so einschneidende Maßnahme auf dem Gebiete der Lohnpolitik mit den Vertretern der Arbeiterschaft selbstverständlich vorher besprochen werden muß". In seiner Firma sei die Überweisung von 40 Prozent der Arbeitslöhne auf ein Sperrkonto auch nicht vorgenommen worden. 783 Der SPD-Gewerkschafter Sander, der sich in dieser Sache als einer der designierten Vorsitzenden der Duisburger Einheitsgewerkschaften an die Arbeitgeber der Stadt gewandt hatte, bekam fünf Tage nach seinem Gründungsaufruf von dort die Auskunft, in der Industriekommission seien keine Beschlüsse über Lohnreduzierungen - damals ohnehin allein Sache der Militärverwaltung - gefaßt worden. Vielmehr seien alle größeren Firmen gebeten worden, etwa beabsichtigte Maßnahmen auf dem Gebiete der Lohnpolitik "nicht einseitig und selbstverständlich nicht ohne vorherige Beratung mit den Vertretern der Arbeiterschaft durchzuführen"784. Es ist nicht gesichert, ob sämtliche Duisburger Firmen dem kooperativen Kurs des Klöckner-Chefs und des Demag-Direktors gefolgt sind. Auf jeden Fall konnten die Initiatoren der gewerkschaftlichen Gründungsgruppe 785 alsbald erkennen, daß sie es bei den beiden Duisburger Unternehmern keineswegs mit Hardlinern zu tun hatten, die die Gelegenheit nutzten, sich hinter den Anordnungen der Besatzungsmacht zu verschanzen und in der Lohnpolitik einen gewerkschaftsfeindlichen Herr-im-HausStandpunkt einnahmen, vielmehr mußten sie sich sagen, daß diese selbst nicht Herr im eigenen Hause waren. Vielleicht war auch durchgesickert, daß Industrielle wie Henle und Schulze mit den Maßnahmen der Besatzungsmacht, die den Arbeitsfrieden empfindlich stören mußten, keineswegs einverstanden waren. Vielleicht verstanden Stock und Sander die aufgeschlossene Haltung der Unternehmer aber auch als eine Reaktion auf den Druck, den sie mit ihren Gründungsaufrufen an die Duisburger Arbeiterschaft entfaltet zu haben glaubten. Wie dem auch gewesen sein mag, in dieser Konstellation konnte in Duisburg, wo die Kommunisten Ende 1932 fast 29 Prozent, die Sozialdemokraten aber nur gut 12 Prozent der Stimmen geholt hatten, kein Klima entstehen, das einer klassenkämpferischen Konfrontation mit dem Unternehmertum günstig gewesen wäre. Die mehrheitlich recht besonnene, nicht-provokative Einstellung der Duisburger Industriellen und ihrer leitenden Angestellten nahm den radikalen, auf altem KPD-Kurs liegenden Arbeiterfunktionären einigen Wind aus den Segeln, erleichterte es den Direktoren und Betriebsleitern zugleich aber, jeglicher von außen kommender Einflußnahme auf den einzelnen Betrieb kompromißlos entgegenzutreten. Klassisch verlief in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung der Gewerkschaftsgründer mit der Geschäftsleitung der Niederrheinischen Schiffswerft GmbH. Am 18. Mai 1945, vier Tage nach dem Aufruf von Stock und Sander, erschien auf der Werft der bei einer anderen Firma arbeitende Altkommunist und frühere Stadtverordnete RudoIf Bondzio und berief im Auftrage der besagten ,,Antifaschistischen Einheitsfront -
7.' 7.' 7.'
Schreiben Henles an E. E. Schulze v. 19. 5. 1945; ebenda. Schreiben des kommissarischen Geschäftsführers des Duisburger "Wirtschaftsausschusses"; ebenda. Zur Beteiligung christlicher Gewerkschafter schon nach vierzehn Tagen siehe Pietsch, Militärregierung, S.9l.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Untergruppe Gewerkschaftsbund" eine Belegschaftsversammlung ein. 786 Vorsitzender der neuen Gewerkschaft sei der bei einer anderen Firma beschäftigte KPD-Mann und alte Gewerkschafter Karl Kuron. Auf die Bemerkung eines leitenden WerftangesteIlten, der Betriebsleiter sei momentan nicht anwesend, erklärte Bondzio laut der Schilderung, die das Unternehmen von dem Vorfall dem Duisburger Oberbürgermeister Weitz gab, "daß dies belanglos sei". Bondzio sagte den versammelten Werftarbeitern, es müsse ein neuer vorläufiger Betriebsrat gewählt werden; diese Anordnung komme von der Kommandantur. Der Betriebsausschuß habe unter anderem die Aufgabe, die Betriebe von Faschisten zu säubern und die Arbeitsfrontbücher sicherzustellen. Bondzio ließ dann an Ort und Stelle gleich einen drei köpfigen Betriebsrat bestellen und gab bekannt, die ,,Antifaschistische Einheitsfront" fasse "die früheren Gewerkschaften SPD, KPD und Zentrum zusammen". In seinem Vorgehen eigenmächtig, in der Programmatik verbal aber gemäßigt, ermahnte Bondzio nach dem Aktenvermerk eines leitenden Angestellten die Belegschaft der Werft gegen Ende der Versammlung, "daß es Pflicht sei, daß jeder für den Aufbau des Vaterlandes mithelfen und jedes Gefolgschaftsmitglied auch für das Wohl seiner Arbeitsstätte beihelfen müßte". Als der Betriebsleiter anderntags von diesem Vorfall erfuhr, begab er sich sofort zum stellvertretenden Oberbürgermeister von Duisburg und wies darauf hin, "daß das Betriebsrätegesetz noch nicht eingeführt worden und es unzulässig sei, daß von außerhalb Leute in den Betrieb kämen und einfach Wahlen abhielten". Die Wahl einer Belegschaftsvertretung sei eine rein interne Angelegenheit, die innerhalb des Betriebes geregelt werde. Der Bürgermeister und der Betriebsleiter waren sich darin einig, daß Bondzio sich wahrscheinlich zu Unrecht auf die Besatzungsmacht berufen hatte, zumal mittlerweile im ganzen Revier bekannt war, daß die Militärverwaltung die Bildung von Gewerkschaften noch nicht gestattete. Den weiteren Verlauf seines Konfliktes mit der Gründungsinitiative hat der Werftleiter dem Duisburger Oberbürgermeister Weitz eingehend geschildert. Sofort nach seiner Rückkehr von der Stadtverwaltung habe er die Gefolgschaft zusammengerufen und ihr erklärt, daß das Vorgehen Bondzios unzulässig sei. "Wenn die Gefolgschaft mit den augenblicklichen Vertrauensmännern nicht einverstanden wäre", referierte er sich selbst in seinem Brief, "so sollte mir ein neuer Vertrauensmann namhaft gemacht werden als Mittelsmann zwischen Gefolgschaft und Geschäftsführung. Es wäre unbedingt erforderlich, daß das alte Vertrauensverhältnis, das gerade in unserem Betrieb stets zwischen Gefolgschaft und Geschäftsführung bestanden hat, aufrechterhalten und nicht durch Eingriff von außerhalb des Betriebes Stehenden gestört wird." Dann forderte er die Belegschaft auf, bis in fünf Tagen gegebenenfalls "einen neuen Vertrauensmann namhaft zu machen". Nach Ablauf dieser fünf Tage ließ sich nun Rudolf Bondzio bei der Werftleitung melden und brachte auch "den von ihm gewählten vorläufigen Betriebsrat" mit, wie der Werftdirektor sich ausdrückte. (Tatsächlich war der provisorische Betriebsrat nicht durch Abstimmung gewählt, sondern von dem Gewerkschafter in Vorschlag ge-
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Vgl. hierzu zwei Dokumente, einmal den Aktenvermerk für die Geschäftsführung der Werft über die Aktion Bondzios v. 18.5. 1945, ferner das Schreiben des Geschäftsführers der Niederrheinischen Schiffswerft GmbH an den Duisburger Oberbürgermeister Dr. Weitz v. 25.5.1945; RWWA Köln, 20-1552-1. Dazu die Personeninformation in Arbeiterinitiative 1945, S. 373 f.
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bracht worden.) Der Betriebsleiter war mit der Anwesenheit des dreiköpfigen Ausschusses einverstanden, "damit er gleich hören könnte, was ich Herrn Bondzio zu sagen hätte". Auf der Werft entspann sich nach der Darstellung des Werftleiters nun das folgende Gespräch mit dem Gewerkschaftsfunktionär: "Ich erklärte Herrn Bondzio, daß das Betriebsrätegesetz noch nicht in Kraft gesetzt worden sei und daher auch die Wahl eines vorläufigen Betriebsrates nicht in Betracht käme. Im Übrigen wäre ich erstaunt, daß er, ohne sich mit mir in Verbindung zu setzen, die Wahl in meiner Abwesenheit vorgenommen hätte. Ausserdem bäte ich um Vorlage seines Bestätigungsschreibens, wonach er mit der Wahl des vorläufigen Betriebsrates beauftragt worden sei. Meines Wissens wäre ein derartiger Eingriff bei anderen Betrieben nicht erfolgt und bäte auch hierzu um eine Erklärung. Herr Bondzio erwiderte, es träfe wohl zu, daß das Betriebsrätegesetz noch nicht in Kraft getreten worden sei (sic!), jedoch hätte der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte General Eisenhower in einer Rundfunkbekanntmachung darauf hingewiesen, daß von den Gewerkschaften vorläufige Betriebsräte zu wählen seien. Er gebe zu, daß es nicht richtig gewesen sei, ohne sich mit mir in Verbindung zu setzen, die Wahlen vorgenommen zu haben. Er hätte sich zur Wahl eines vorläufigen Betriebsrates bei mir entschlossen, da wir am 1. Mai gearbeitet hätten, der ein Feiertag wäre. Ich erklärte ihm, daß mir von einer derartigen Rundfunkbekanntmachung des Generals Eisenhower über die Vornahme der Wahl von vorläufigen Betriebsräten innerhalb der Betriebe durch die Gewerkschaften nichts bekannt sei. Auch wäre der Stadtverwaltung Hambom, mit der ich mich in Verbindung gesetzt hätte, dieses nicht bekannt. Ich wies darauf hin, daß es nur erwünscht sei, in den Betrieben, in denen kein Vertrauensmann vorhanden ist bzw. der Wunsch der Gefolgschaft vorläge, einen anderen Vertrauensmann zu wählen, eine Wahl vorzunehmen sei. Es handele sich hierbei aber um eine reine interne Angelegenheit des Betriebes, über die sich die Gefolgschaft mit der Geschäftsführung verständigt. Was den 1. Mai anbeträfe, so wäre dieser von seiten der Militär-Verwaltung nicht als Feiertag anerkannt und angeordnet worden, zu arbeiten." Ohne daß irgendwelche Solidaritäts- oder Antipathiebekundungen der Werftbelegschaft erfolgt wären, hatte die Betriebsleitung die unmittelbare Konfrontation mit dem Abgesandten der gewerkschaftlichen Gründungsinitiative gesucht, Bondzios "Einmischung" angeprangert, seine unsichere Legitimation klargelegt, seine falsche oder zumindest sehr einseitige Interpretation des Willens und der Anordnungen der Militärregierung korrigiert und damit im Ergebnis die Einflußnahme der Duisburger Gewerkschaftsinitiative auf den Betrieb unterbunden. Als die Besatzungsmacht einige Wochen später ihre Politik hinsichtlich der Bildung überbetrieblicher Arbeitervertretungen zu lockern begann, war von der ,,Antifaschistischen Einheitsfront - Untergruppe Gewerkschaftsbund" nicht mehr die Rede. Die neuen Gewerkschaften entfalteten sich unter maßgeblicher Beteiligung der zuvor in Erscheinung getretenen Altgewerkschafter in dem vorgegebenen, von der Militärverwaltung genau reglementierten Rahmen. Noch Mitte Juni wollte sich die Duisburger Industrie- und Handelskammer mit dem Bemerken an das Military Govemment wenden, die Frage des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sei noch immer ungeklärt: "Eine Stellungnahme der Militärregierung zu diesem Problem", betonte die Kammer, "würde
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für den Arbeitsfrieden zwischen Unternehmertum und Arbeitern in der Stadt von großem Nutzen sein."787 Der Briefentwurf verblieb jedoch in den IHK-Akten, denn inzwischen war absehbar geworden, daß die Besatzungsbehörden demnächst erste Vorschriften über die Bildung und die Befugnisse von Betriebsräten und Gewerkschaften erlassen würden. Für die Westmächte überraschend hatte General Schukow am 10. Juni 1945 mit SMAD-Befehl Nr. 2 in der sowjetischen Besatzungszone die Bildung von Parteien und Gewerkschaften zugeiassen. 78B Wenige Tage danach trat bereits der "Vorbereitende Gewerkschaftsausschuß" in Berlin mit seinem Aufruf zur Schaffung freier Gewerkschaften hervor, der über Rundfunk verbreitet und in ganz Deutschland aufmerksam registriert wurde. Die Westmächte täuschten sich nicht über den in westlichem Verständnis wenig freien, instrumentellen Charakter der neuen Arbeiterorganisationen im Osten, aber durch diesen spektakulären Schritt des Verbündeten und den in ihren eigenen Zonen kaum noch länger aufrechtzuerhaltenden Schwebezustand in den Arbeitsbeziehungen waren sie zu baldigem Handeln genötigt. Anfang Juli schlossen die drei Besatzungsmächte, deren Militärverwaltungen sich allmählich zu festigen begannen, eine Vereinbarung ab, in der die Rahmenvorschriften für den Gewerkschaftsaufbau niedergelegt waren. 789 Diese in der britischen Zone so genannte "Industrial Relations Directive No. 1", die im Ruhrrevier sofort bekanntgemacht wurde 790 , gestattete "Verhandlungen über Arbeitsbedingungen, ausgenommen die Festsetzung von Löhnen und Arbeitsstunden, in freier Diskussion zwischen Arbeitern und den Arbeitgebern der einzelnen Betriebe". Die Vereinbarung ließ den Militärbehörden in den drei Zonen zwar reichlich eigenen Ermessensspielraum, das darin vorgesehene Genehmigungsverfahren aber war sehr kompliziert angelegt und forderte eine straffe Kontrolle des im Laufe des Sommers und Herbstes 1945 vor sich gehenden Gewerkschaftsaufbaus. Der britische Industrial Relations-Offizier und spätere Labour-Abgeordnete Ashley Bramall schilderte den vorgeschriebenen Hürdenlauf einem Londoner Gewerkschaftsfunktionär im September 1945 in einem Brief: "Um die demokratische Basis der Gewerkschaften sicherzustellen, ist für ihre Bildung eine komplizierte und langwierige Prozedur festgelegt worden. Bevor eine Gründungsversammlung abgehalten werden kann, muß auf einem vorgeschriebenen Formblatt ein Antrag an die örtliche Militärregierung gestellt werden, dem ein persönlicher Fragebogen für jeden Sprecher und Veranstalter der Versammlung beizufügen ist. Nachdem die Versammlung stattgefunden hat, muß der Militärregierung ein Bericht vorgelegt werden. Eine genügende Anzahl von Versammlungen ist abzuhalten, um einen ausreichenden Teil aller Arbeiter zu erfassen, die in der betreffenden Gewerkschaft organisiert werden sollen. Innerhalb der Militärregie-
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Entwurf eines Briefes der IHK Duisburg an die Militärregierung v. 12.6. 1945; RWW A Köln, 20-1)52-1. Hierzu und zum folgenden siehe Steininger, England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 49 ff. Die Vereinbarung zwischen Großbritannien und den USA v. 5. 7. 1945 betr. den Aufbau von Gewerkschaften ist abgedruckt eben da, S. 92 ff. In der Potsdamer Deklaration v. 2. 8. 1945 heißt es unter A. 10. nur lapidar: "Ebenso wird die Errichtung Freier Gewerkschaften gestattet werden, gleichfalls unter der Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung der militärischen Sicherheit." Vgl. Mee, Teilung der Beute, S. 318. "Policy for the Foundation of Trade Unions in the British Zone", Direktive der 21. Arrneegruppe v. 5.7. 1945; Haniel-Archiv, 400101402/68. Vgl. auch die Ankündigung in der Ruhr-Zeitung v. 12.9. 1945. Zur amerikanischen Zone siehe Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 147.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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rung hat der Antrag über drei Ebenen bis zur Kontrollkommission selbst zu gehen."791 Die Vorschriften zum Prozeß der Legitimierung der praktisch in allen Industriebetrieben entstandenen vorläufigen Belegschaftsvertretungen bzw. zu deren Umbildung durch geheime Wahlen waren von der Militärregierung des Bezirks Arnsberg bereits Mitte Juni erlassen worden 792 , die Ausrichtung der Wahlen haben die dortigen Besatzungsbehörden aber offenbar eher dilatorisch behandelt. 793 Maßgebend für die genauestens überwachten Betriebsratswahlen in der britischen Zone wurde die "Industrial Relations Directive No. 2" vom 8. August 1945, in der den "works (or shops) representatives" keinerlei über die Behandlung sozialer Fragen des Betriebes hinausgehende Mitwirkungs- oder gar Mitbestimmungsrechte eingeräumt wurden. Ab etwa Oktober 1945 saßen den Direktoren und Betriebsleitern in den meisten Firmen aber immerhin demokratisch gewählte Belegschaftsvertreter gegenüber. 794 Für die zwischen Ende März und Mitte April 1945 in das deutsche Industriezentrum einziehenden Offiziere der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht hatte anfangs beinahe jede eigenständige deutsche Initiative als potentiell gefährliche, zumindest aber unbequeme und den berechtigten Kontrollanspruch der Militärregierung gefährdende Eigenmächtigkeit erscheinen müssen. 795 Schließlich sollten sie die rückwärtigen Verbindungen der Armee freihalten, die Sicherheit der Soldaten garantieren, die Infrastruktur des Reviers notdürftig flicken, der Zivilbevölkerung mit zusätzlichen Nahrungsmitteln aushelfen, Epidemien verhindern, alle NS-Organisationen auflösen, jede nazistische Regung unterdrücken, Kriegsverbrecher und die ärgsten Nazis fangen, in den Städten und Gemeinden eine provisorische Verwaltung installieren, die sozialen Einrichtungen stabilisieren, die Arbeitsbeziehungen nicht mehr als nötig tangieren, Vermögenskontrolle durchführen, die Displaced Persons versorgen und zurückführen, ein Auge auf den Schutz der Kulturgüter haben und neben vielen anderen weiteren Aufgaben den deutschen und ausländischen Verbrauchern sowie der Army ein Maximum an Kohle aus den Ruhrgruben sichern. Ganz gleich, wer im besetzten Deutschland den Besatzungsoffizieren ihre Aufgabe in irgendeiner Weise zu erschweren schien, lief in den ersten Wochen der Besetzung Gefahr, sich gänzlich ungeachtet seiner Beweggründe erst den Ruf und dann die entsprechende Behandlung als Störenfried und Quertreiber zuzuziehen. Die Durchsetzung von "Ruhe und Ordnung", die in den Anfangswochen der Besetzung im Ruhrrevier ja nicht ohne Augenmaß oder gar brachial betrieben wurde, resultierte aus dem verständlichen Pochen auf Anerkennung der Autorität der alliierten Militärregierung und dem selbstverständlichen Anspruch auf uneingeschränkte Handlungsfreiheit. Sie ging keineswegs in erster Linie auf politische Vorlieben oder Voreingenommenheiten zurück, zielte in der Schreiben von Major Bramall, Hannover, an den Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des T.u.e., Tracey, London, v. 15.9.1945; abgedruckt bei Steininger, England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 95 ff.; Zitat S. 96. 792 Direktive der Militärregierung des Regierungsbezirkes Amsberg an alle Military Govemment Detachments v. 16.6. 1945; WWA Dortmund, K 1, Nr. 2475. 793 In einem Gespräch mit der Militärregierung in Amsberg wurde dem Präsidenten der Dortmunder Industrie- und Handelskammer am 20.7. 1945 gesagt, die "jüngst angeordneten Wahlen zu Betriebsvertretungen" bräuchten ,,gar nicht beschleunigt zu werden"; WWA Dortmund, K 1, Nr. 2317. 79' Vgl. Pietsch, Militärregierung, S. 102 f. '" So zutreffend Borsdorf, Speck oder Sozialisierung', in: Mommsen, Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden!, S. 348. 791
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Hauptsache auch nicht gegen eine bestimmte politische Richtung, sondern richtete sich gegen jede politisch oder gewerkschaftlich orientierte Bewegung an sich, sobald und sofern sie über den leicht zu überblickenden lokalen oder betrieblichen Rahmen hinauszudrängen begann. Genau dies war aber im April 1945 bei den Bestrebungen, überbetrieblich-regionale Arbeiterorganisationen zu bilden, der Fall. Hinzu kam, daß es für die Offiziere der Militärregierung, "die keinerlei Direktive hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen erhalten hatten"796, schlechterdings unmöglich war zu entscheiden, welcher der unterschiedlichen Neubildungsansätze gegen den bis zum Sommer 1945 geltenden, in dem kargen Satz der maßgeblichen Direktive formulierten kategorischen Imperativ der jungen Besatzungsverwaltung verstieß: "Politische Betätigung jeder Ait ist untersagt."797 Einige der in den verschiedenen Aufrufen der Gründungszirkel formulierten Ziele und Grundsätze, erst recht manche ihrer Aktionen, bewegten sich, auch wenn das nirgends in bewußter oder auch nur wissentlicher Frontstellung gegen die Besatzungsmacht geschah, am Rande des politischen Betätigungsverbotes, einige brachen es. Auch deshalb bildete sich bald die Tendenz heraus, vorsichtig zu sein und im Zweifel restriktiv zu verfahren, weil sich so - gewissermaßen auf niedrigem Niveau - am ehesten eine gewisse Geschlossenheit des Kurses der Detachments erreichen ließ und weil damit eine in etwa vergleichbare Behandlung dieser Initiativen an den verschiedenen Orten im Besatzungsgebiet erreicht werden konnte. Für viele anti-nationalsozialistische Gewerkschafter, die den Augenblick des politischen Neubeginns in Deutschland hoffnungsvoll auf den Tag des Abzugs von Wehrmacht und Partei terminiert hatten, war das verwaltungsmäßige Sicherheitsdenken der Militärregierung eine herbe Enttäuschung. Ebenso wie vielen Besatzungsoffizieren, war auch dem politischen Berater General Eisenhowers die hierin liegende Gefahr einer Frustration gerade derjenigen Kräfte nicht gleichgültig, auf die die Alliierten früher oder später in Deutschland würden bauen müssen. In ähnlicher Ratlosigkeit wie der stellvertretende Chef von SHAEF, G-5, General McSherry, nach dem ,,Aachen Scandal"798, wandte sich auch dessen leitender Arbeitsoffizier an Murphys Stab mit der Bitte um Rat, nach welchen Kriterien die Detachments angesichts des politischen Betätigungsverbots denn mit den schwer einzuordnenden Regungen der Arbeiterschaft umgehen sollten. Robert Murphys Experte für Arbeits- und Gewerkschaftsfragen, Louis A. Wiesner, definierte politische Aktivität daraufhin so: "Organisierung, Tätigkeit oder Propaganda für oder gegen eine bestimmte Partei und ihre Grundsätze oder aktives Bemühen um die Einführung grundlegender Veränderungen in wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen." Ausdrücklich setzte er aber hinzu: "Dazu gehört nicht Aktivität oder Propaganda gegen Nazismus und Militarismus oder die öffentliche Diskussion wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Probleme, die auf die Erziehung der Deutschen für künftige politische Verantwortlichkeiten gerichtet ist."799 Daneben gab
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Vgl. den Bericht von Moses Abramowitz "Trip Through Western Germany" v. 14.5. 1945, S. 12; NA, RG 165, CAD 014. Germany (7-10-42), sec-13. SHAEF, Office of the Chief of Staff, "Directive for Military Government of Germany - Prior to Defeat or Surrender" v. 9. 11. 1944, Anhang IlI, Abschnitt I; NA, RG 331, 11.505, G-5, Entry Nr. 54. Vgl. auch das Handbook for Military Government of Germany. Vgl. IlI/2. "Draft Guide for MG Labor Officers on Trade Union Meetings and Organizations", Anlage zum Tele-
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Wiesner zu bedenken, daß "lawand order" zwar das oberste Prinzip sei, übereifriges Vorgehen aber nur unnötigen Widerstand gegen die Besatzungsmacht provozieren werde. Während er aber die Empfehlung aussprach, "daß mit Wohlwollen betrachtet werden sollte, wenn eine Gruppe von antinazistischen oder nicht-nazistischen Arbeitern, gleich welcher politischen Färbung, eine demokratische Gewerkschaft gründen möchte", standen die Verantwortlichen beim Alliierten Oberkommando und in der amerikanischen Kontrollratsgruppe, die gar nichts gegen Arbeitervertretungen auf betrieblicher Ebene einzuwenden hatten, überbetrieblichen Organisationsansätzen mißtrauisch gegenüber. Dieses Mißtrauen erstreckte sich sowohl auf die durchaus nicht immer eindeutige Legitimation eines Teils der aktiven Arbeiterfunktionäre als auch auf die ideologisch-politische Einstellung der Arbeiterschaft allgemein, die nun offenbar bereits wenige Tage nach der Besetzung und der Auflösung der DAF wieder in regionalen Großorganisationen zusammengefaßt werden sollte. Ihre Skepsis, daß "eine Arbeiterschaft, die offenbar bis zum bitteren Ende der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft ohne sichtbare Auflehnung alle Zumutungen hingenommen hatte"BOO, mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes kaum auch schon demokratisch geläutert sein würde, hatten die Fachleute in den amerikanischen Planungsstäben wiederholt deutlich gemacht. Diese Einschätzung hatte sich auch in den bis zum Sommer 1945 maßgeblichen Vorschriften des Alliierten Oberkommandierenden für die Militärverwaltung niedergeschlagen. "Angesichts jahrelanger Indoktrinierung von Arbeitern und der Unterdriickung der Freiheit des Handeins und Denkens wird es notwendig sein, die Entwicklung von Gewerkschaften genau zu überwachen", hieß es etwa im Handbuch der Militärverwaltung. Bol Der britische Militärgouverneur driickte sein tiefes Mißtrauen noch Anfang 1946 in einem Memorandum aus. Darin schrieb er, nach seiner Meinung seien mit Sicherheit 60 Prozent, möglicherweise sogar 75 Prozent der Deutschen noch immer überzeugte Nazis; falls es der britischen Politik in den kommenden zehn oder sogar mehr Jahren in Deutschland nicht gelänge, die Denkungsart der Deutschen zu verändern, würden alle anderen Anstrengungen nutzlos sein. Bo2 Daß dies ernsthafte und keine vorgeschobenen Bedenken zur Behinderung der politischen Linken gewesen sind, zeigt auch der Verlauf einer Begegnung Ende Mai 1945, bei der Vertreter der (britischen) Besatzungsmacht und alte Münsteraner Gewerkschaftsfunktionäre miteinander über die Wiedergriindung von überregionalen Arbeiterorganisationen sprachen. Von seiten der Militärregierung wurde bei dieser Gelegenheit ganz im Sinne der friihen OSS-Analysen aus der Zeit vor der Besetzung B03 gesagt, daß es zu solchen Schritten noch zu früh sei, da "hierzu die Voraussetzungen hinsichtlich der antifaschistischen Einstellung fehlen. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, d. h. in erster Linie das faschistische Denken des deutschen
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gramm Murphys an das State Department v. 30. 4. 1945; zit. nach Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 142. Dort auch das folgende. Borsdorf, Ein großer Tag, S. 242. Handbook for Military Govemment of Germany, Paragraph 787. "The Problem in Germany: February 1946. Memorandum by Field Marshall Montgomery" v. 12.2. 1946; zit. nach Steininger, England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 64f. Zur Sorge der Besatzungsmächte wegen nazistischer Bestrebungen in der deutschen Arbeiterschaft nach Kriegsende vgl. Organisatorischer Aufbau der Gewerkschaften 1945-1949, bearb. v. Siegfried Mielke unter Mitarbeit von Peter Rütters, Michael Becker und Michael Fichter, Köln 1987, S. 23. Vgl. oben in diesem Kapitel.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Menschen beseitigt ist, kann der Reichsgründung nähergetreten werden. Nach Meinung der Alliierten Militärregierung", so das Gesprächsprotokoll, "bilden die antifaschistisch denkenden Menschen in Deutschland eine Minorität." Zuerst müsse die "Gesinnungsbasis des deutschen Menschen" umgestaltet werden, "ein gewaltiges Stück Arbeit für die antifaschistisch denkenden Menschen ... Vorab muß es daher bei der Bildung der Gewerkschaften auf örtlicher Basis bleiben, bis das antifaschistische Denken im Gewerkschaftsleben aus einer Minorität zu einer Majorität geworden ist."Bo4 Diese ungeschminkten Worte reflektierten ziemlich genau die verbreitete Skepsis der britischen und der amerikanischen Besatzungsmacht, die die Rhetorik der alten Arbeiterfunktionäre nicht ohne weiteres mit der tatsächlichen Einstellung der deutschen Arbeiterschaft gleichzusetzen gedachten. Die Militärregierung hatte dazu schon in den ersten Wochen nach dem Einmarsch einige wenig ermutigende Indizien für mißliche Kontinuitäten im Denken selbst von Arbeiterfunktionären vorgefunden. Fast alle überbetrieblich ausgerichteten, von alten Gewerkschaftern betriebenen Gründungsinitiativen sahen für ihre neuen Gewerkschaftsmitglieder mit großer Selbstverständlichkeit eine oft sogar mit automatischer Beitragsabbuchung verbundene Zwangsmitgliedschaft vor. BO :; Damit stießen sie aber nicht nur auf das Unverständnis der Besatzungsmacht, auch von Unternehmerseite erfuhr dieses Ansinnen eine mitunter mit herben Argumenten untermauerte Abfuhr. Als der erwähnte Kumpel Kar! van Berk von der Zeche Westende (einer der Initiatoren der Bildung von betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitervertretungen im Kohlebergbau des Duisburger Raumes) den Leiter der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Gruppe Hamborn, Bergassessor Adolf Huek, aufsuchte und um eine Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge durch die Lohnbuchhaltung bat, da wurde ihm von diesem durchaus nicht gewerkschaftsfeindlich eingestellten Unternehmer eine vermutlich als beschämend empfundene Auskunft erteilt: "Ich bin nicht bereit, die Gewerkschaftsbeiträge durch Lohnbuchhaltung einziehen zu lassen", sagte Huek. "Ich habe mich bei den Nationalsozialisten bis 1940 dagegen gewehrt."Bo6
"Die starke und schillernde Nachwirkung des Nationalsozialismus" Die Betriebsratswahlen im Herbst 1945 markierten den Endpunkt einer Formierungsphase, während der die Betriebsvertretungen überall in Deutschland zumeist aus einer "formlosen Verständigung"B07 Weimarer Arbeiterfunktionäre hervorgegangen waren; 80'
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Niederschrift über die Sitzung bei der Militärregierung in Münster "wegen der Gründung der Gewerkschaften" v. 29.5.1945; WWA Dortmund, K 5, Nr. 815. Dafür lassen sich, neben dem oben im Text erwähnten Beispiel, zahlreiche Belege in den Akten finden. Vgl. z.B. den in den Unterlagen der Dortmunder IHK enthaltenen ,,Aktenvermerk" v. 23. 6.1945 über einen Besuch von Vertretern eines "Verbandes der Industriearbeiter Dortmunds, Gruppe Chemie"; WWA Dortmund, K 1, Nr. 2475. Vgl. auch den Aufruf ,,Arbeiter und Angestellte!" der Duisburger "Einheitsgewerkschaft" v. 14.5.1945; RWWA Köln, 20-1552-l. Siehe auch das mehrfach erwähnte Protokoll der Betriebsrätekonferenz auf der Zeche "Prinz Regent" in Bochum am 23.4. 1945; abgedruckt bei Hemmer, " ... als wenn die Betriebe", S. 256. Erinnerungsbericht "Nur die Arbeit kann uns retten" von Karl van Berk, in: Köpping (Hrsg), Lebensberichte deutscher Bergarbeiter, S. 37l. Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S.487.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Wahlakte der Gesamtbelegschaft waren bis dahin die Ausnahme. 808 'Zwar läßt sich kein einheitliches Bild von der Entstehung der Betriebsräte zeichnen, doch gibt eine Statistik der britischen Militärregierung für einen Teil des Ruhrgebietes eine ungefähre Vorstellung davon, auf welche Legitimationsbasis sich die Betriebsräte zunächst stützten. Danach hatten im Raum Bochum-Dortmund bis zum Juli 1945 von 37 Betriebsvertretungen 10 aufgrund einer Wahl, 15 nach Akklamation und 7 nach Selbsternennung ihre Tätigkeit aufgenommen. 809 Paul Porter, der im Auftrag der amerikanischen 12. Armeegruppe zum Zeitpunkt der Kapitulation das Revier besuchte, erwähnte - ganz ähnlich - vier Formen der Betriebsratsbildung, nämlich durch geheime Wahlen, Selbsternennung, Ernennung durch die Betriebsleitung und Einsetzung durch Offiziere der Besatzungsmacht. 810 Die Ablösung der nationalsozialistischen Vertrauensräte durch die neuen Belegschaftsvertreter ging offenbar meist ohne Konfrontation, oftmals geradezu "unauffällig"811 und "lautlos"812 vonstatten. Auseinandersetzungen sind jedenfalls kaum belegt. Im Gegenteil, da und dort kam es in den Betrieben zu einigen sehr weichen Übergängen in die Nachkriegsära. Auf der Zeche Julia in Herne führte ein Mitglied des nationalsozialistischen Vertrauensrats das Protokoll der ersten Sitzung des neu konstituierten Betriebsrates, ehe es in der zweiten Sitzung dann ausgeschlossen wurde. 8u Bei der Württembergischen Metallwarenfabrik in Geislingen wurden Anfang Juni zwei frühere NS-Vertrauensräte mit Billigung des Oberbürgermeisters und des Vertreters des ehemaligen Metallarbeiter-Verbandes auf die Wahlliste gesetzt und von der Belegschaft auch gewählt. Erst nach gewerkschaftlichem Einspruch mußten sie ihr Mandat niederlegen. 814 Überall war die Betriebsratsarbeit Sache Weimarer Veteranen. Das war an der Ruhr nicht anders als in Stuttgart, Köln oder Bremen 815 , und es kann gut sein, daß einige Unternehmensleitungen nach der Kriegswende 1942/43 tatsächlich damit begannen, "die alten Gewerkschafts- und SPD-Führer mehr oder weniger zu hofieren"816. Der alte sozialdemokratische Arbeiterfunktionär Schürmann traf als "Obmann" der Schachtanlage Prinz Regent in Bochum jedenfalls auch im Sinne einer allgemeingültigen Beschreibung den Nagel auf den Kopf, als er zur Eröffnung der ersten Versammlung von Belegschaftsvertretern der umliegenden Zechen zwei Wochen nach der Besetzung der Stadt sagte, es seien die alten Arbeiterfunktionäre, die sich jetzt in die
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Vgl. Brandt, Betriebsräte, S. 160. "Report on Labour, Housing and Working Conditions in the Ruhr", Manpower Division, CCG (BE), v. 25.9. 1945; zit. nach Arbeiterinitiative 1945, S. 292. Bericht "Labor Situation in the Rhine-Westphalian Coal Mining Industry" v. 29. 5. 1945; NA, RG 260, 17/ 257-1/7. So Siegfried Suckut, Die Betriebsrätebewegung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (19451948). Zur Entwicklung von Arbeiterinitiative, betrieblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung bis zur Revision des programmatischen Konzepts der KPD/SED vom "besonderen deutschen Weg zum Sozialismus", Frankfurt 1982, S. 128. Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S.487. Vgl. Arbeiterinitiative 1945, S. 291. Diesen Fall berichtet Gunther Mai, Die Geislinger Metallarbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Volksgemeinschaft 1931-1933/34, Düsseldorf 1984, S. 94. Vgl. dazu die oben zitierten Fallstudien von Fichter, Rüther und Brandt. Mai, Metallarbeiterbewegung, S. 94.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Bresche würfen. Bl7 Beschreibt man den Typus dieses Betriebsrats als älteren, beruflich hochqualifizierten Stammarbeiter mit "ausgeprägter gewerkschaftlicher-politischer Erfahrung", der meist auch aktives Mitglied einer der beiden Arbeiterparteien war und "das gleiche Amt bereits vor 1933 ausgeübt" hatte BIB , so ist damit zugleich gesagt, daß es - anders als 1918/19 - nach der Besetzung 1945 nicht gerade jugendliche Heißsporne gewesen sind, die jetzt für ihre Belegschaft sprachen. Wer schon 1933 Betriebsrat oder Gewerkschaftsfunktionär gewesen war, der stand 1945 meist nicht mehr in den Dreißigern, sondern war in der Regel zwischen vierzig und sechzig Jahren alt, gereifte Männer und Familienväter, die die größten Erfolge, aber auch die Spaltung und das schließliche Versagen der Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus miterlebt, Widerstand und Anpassung im Dritten Reich gesehen hatten, Männer, die nach der Kapitulation aufgrund ihres Lebensalters und ihrer Erfahrungen kaum zu revolutionärer Ungeduld neigten, jedenfalls aber über das nötige Augenmaß verfügten, um die Durchsetzungschancen für die klassischen Forderungen der Arbeiterbewegung im Augenblick der deutschen Niederlage nüchtern zu beurteilen. Doch diese generationelle Besonderheit war nur ein, und wohl nicht einmal der wichtigste Grund für die unerhörte Nichtradikalität der deutschen Arbeiterschaft 1945. Es war die "starke und schillernde Nachwirkung des Nationalsozialismus"Bl9 auf die Arbeiterschaft in ihrer Gesamtheit, die noch viel stärker als die generationellen Gegebenheiten und vermutlich auch die desolate Gesamtsituation nach dem Krieg dafür verantwortlich war, daß sich die Masse der Arbeiterschaft und ihrer Vertreter in den ersten Wochen und Monaten nach dem Fall des Regimes entgegen der verbreiteten Hoffnungen und Befürchtungen so moderat und nichtradikal verhielt. Diese Nachwirkungen wurden von einem Mann wie Franz Neumann damals deutlicher erkannt oder erahnt als von der gesinnungsfest gebliebenen Arbeiteraristokratie in Deutschland oder den Emigrationsgruppen; die historische Forschung wurde sich darüber erst Jahrzehnte später wirklich klar. Die "traditionszerstörende" Wirkung von Ideologie und Regime des Nationalsozialismus auf die Arbeiterschaft war eine Entdeckung, die nach 1945 für die allermeisten erst noch zu machen war. Nicht viele haben sich dies seinerzeit schon so illusionslos eingestanden und dies auch so unmißverständlich zum Ausdruck gebracht wie Heinz Renner, einer der führenden Köpfe der Linken im Revier. Renner, der 1933 wie nach 1945 führender Funktionär der KPD, zwischen 1946 und 1948 nordrhein-westfälischer Sozial- bzw. Verkehrsminister war und dann Mitglied des Parlamentarischen Rates und des Bundestages wurde, beklagte im September 1945 in einer Rede vor Managern kleiner und mittlerer Industriebetriebe in Essen das augenscheinlich falsche Bewußtsein der Arbeiterklasse bei Ende des Krieges: "Infolge der 12 Jahre Faschismus sei Deutschland in der Entwicklung um mindestens
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"Protokoll der Konferenz vom 23. April 1945 in der Anlernwerkstatt der Zeche Prinzregent, Bochum"; abgedruckt bei Hemmer, " ... als wenn die Betriebe", S. 251 H. "Zweifellos waren die Organisationskerne der Arbeiterbewegung nach 1945 vornehmlich die der Verfolgung entkommenen alten Kader. Der Aufbau der Parteien und Gewerkschaften war das Werk einer ,alten Garde', die schon vor 1933 politische Funktionen ausgeübt hatte", resümiert allgemein Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt 1984, S. 205. Suckut, Betriebsrätebewegung, S. 137. Die Qualifizierung des Betriebsratstypus' der ersten Nachkriegsmonate, die Suckut herausarbeitet, scheint für diese Phase ohne weiteres auf das westliche Besatzungsgebiet übertragbar. Mooser, Arbeiterleben, S. 202. Das folgende Zitat auf S. 204.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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50 Jahre zurückgeworfen", sagte er. "Durch Hitlers Propaganda sei der naturgegebene Gegensatz zwischen Kapital und Proletariat so verwaschen, daß die Masse ihn nicht mehr empfinde."820 Es war ein ganzes Bündel von Entwicklungen und Faktoren, die zu einer derartigen Verwischung der klassischen politisch-gesellschaftlichen Frontstellung und zu einer "grundsätzlichen Akzeptanz des Hitler-Regimes auch in der Arbeiterschaft"821 geführt hatten. Die Durchsetzungskraft der Arbeiterbewegung war immer von der Entschlossenheit ihrer Führer, von der Einsatzbereitschaft und Mobilisierbarkeit der Masse der Arbeiterschaft sowie von dem Verhältnis bestimmt, das "Kader" und "Basis" zueinander fanden. 1945 zeigte sich, daß es den wenigen Arbeiterführern, die überhaupt über die engeren Betriebsbelange hinausreichende, an die traditionellen Forderungen der organisierten Arbeiterschaft anknüpfende Ziele propagierten, praktisch unmöglich war, dafür die Belegschaften zu demonstrativer Unterstützung hinter sich zu scharen. Sie mußten erkennen, daß sie sich nur auf eine "geringe"822, "eher labile Basis"823 stützen konnten: "Gewerkschaftlich und politisch mobilisierbar war nur eine Minderheit", so wurde mit Recht gesagt, nämlich "die industriellen Arbeiter der Großbetriebe, und auch diese nur begrenzt." Mittlerweile ist die Frage nach der Integration der Arbeiterschaft in den NS-Staat und nach dem Grad ihrer Regimeloyalität kein Tabu und kein "Minenfeld" (Timothy W. Mason) mehr82 \ vielmehr zeichnet sich ein Konsens darüber ab, daß die wirkungsvolle Integration der Arbeiterschaft in den Führerstaat als wesentliche Ursache proletarischer Nichtradikalität bei Kriegsende angesehen werden muß. Insgesamt sind es vier eng miteinander verwobene Komplexe und Faktoren, die bei der Betrachtung der Geschichte der Arbeiterschaft und des Schicksals der Arbeiterbewegung während der NS-Zeit im Auge zu behalten sind: Terror, Propaganda, Sozialpolitik und die besondere Situation im Kriege. Bei der Verfolgung des programmatischen Zieles einer "Vernichtung des Marxismus" brachte der nationalsozialistische Terror vor allem den kommunistischen, aber auch den sozialdemokratischen und christlich-sozialen "Basiseliten" einen unerhörten Aderlaß bei. Viele, die Widerstand und Verfolgung überlebten, hatten dauerhafte Gesundheitsschäden davongetragen oder waren seelisch nicht mehr in der Lage, wieder eine Führungsrolle in Betriebsvertretungen und Gewerkschaftsgruppen zu übernehmen. 825 Mit der Dezimierung der Kader ging aber auch die Aushöhlung und Zerstörung des sozialistischen Sozialmilieus einher. Damit fehlten nach Kriegsende nicht nur Führungspersonal und das in Jahrzehnten gewachsene "Unterfutter" der organisierten Arbeiterschaft, die Nationalsozialisten hatten durch ihr radikales Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung auch die ,,Aktenvermerk über eine Zusammenkunft mittlerer und kleinerer industrieller Betriebe am 20.9. 1945, 17 Uhr, im Sitzungszimmer der Firma W. Döllken & Co., Essen-Werden" v. 24.9. 1945; Haniel-Archiv, 400 1016/15. Die britische Militärregierung bezeichnete Renner im August 1945 als "zweifellos den bekanntesten Kommunisten der Nordrhein-Provinz". Vgl. Heinz Schulte, Zwischen Krieg und Frieden - Essen im Jahre 1945, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, H. 98 (1983), S. 135. 821 So in dem prägnanten Überblick von Ulrich Herbert, Arbeiterschaft im "Dritten Reich". Zwischenbilanz und offene Fragen, in: GuG 15 (1989), S. 349. 822 Vgl. Plato, "Der Verlierer ... ", S. 197. m Brandt, Betriebsräte, S. 158; das folgende Zitat ebenda, S. 159. Besonders eindrucksvoll wurde diese mangelnde Mobilisierbarkeit am Beispiel Kölns von Martin Rüther nachgewiesen. 814 Mason, Bändigung, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung, S. 34. 825 Vgl. hierzu die Einleitung zu: Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien linker Sozialisten 19451949, hrsg. v. Helga Grebing unter Mitarbeit v. Bemd Klemm, Stuttgart 1983, insbes. S. 37ff. 820
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Bindung der Arbeiter an ihre Organisationen zerschnitten, die ehemals "Mittel ihrer sozialen Identität" gewesen waren. 826 Der gewaltsamen Unterbindung "kollektiver Erfahrungsverarbeitung" folgte "Desorientierung", und es fiel damit die unabdingbare Voraussetzung für die Herausbildung "politischer Identität als Klasse" fort. 827 Diese Isolierung von den Rückkopplungs-, Orientierungs- und Selbstvergewisserungsinstanzen trug wesentlich zu der Vereinzelung des Arbeiters und zur Fragmentierung der Arbeiterschaft bei 828 ; sozialistische Deutungsmuster verloren an Überzeugungskraft. 829 Diese Schwächung proletarischer Identität und damit auch Immunität erleichterte es, daß die nationalsozialistische Propaganda und das Werben des Regimes um die deutschen ,,Arbeiter der Faust", die entgegen der Selbststilisierung ihrer Führer der Hitler-Bewegung schon vor 1933 keineswegs in geschlossener Ablehnung gegenübergestanden waren, nicht auf taube Ohren traf. Wirkte die Volksgemeinschafts-Ideologie ganz allgemein in Richtung einer "Verringerung akuter Klassenspannungen"830, so brachte die schmeichelnde Stilisierung der Arbeit als "Ehre" (,,Arbeit adelt") dem Arbeiter einen erfahrbaren Zuwachs an sozialer Anerkennung. In einem Interview drei Jahrzehnte nach Kriegsende hielt es Albert Speer nicht ohne Berechtigung "für eine der bemerkenswertesten Erscheinungen des Nationalsozialismus, daß man versuchte, den Arbeitern das Gefühl der Minderwertigkeit zu nehmen"831. Auch Meinungsumfragen der Nachkriegszeit spiegeln die verbreitete Überzeugung, daß der Arbeiter im Nationalsozialismus "etwas gegolten hätte"832. Der nationalsozialistische Populismus setzte dabei bewußt auf die in der Arbeiterschaft traditionell virulenten antibürgerlichen Ressentiments, auf deren antikapitalistische Prägung und machte beides in seinem Sinne nutzbar. Führerbegeisterung und Faszination durch den Hitler-Mythos schließlich war kein Merkmal des Bürgertums allein, die Arbeiter haben sich dem ebensowenig entziehen können. Bloße Propaganda hätte zur Heranführung der Arbeiterschaft an den Führerstaat, zu jener "Mischung aus Akzeptieren und Bejahen"833 freilich nicht ausgereicht. Erst durch die gleichzeitige spürbare Verbesserung der sozialen Lage gewann sie für den Arbeiter eine gewisse Glaubwürdigkeit. Am augenfälligsten war natürlich die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, eine jener tief ins kollektive Gedächtnis gegrabenen sogenannten "guten Seiten" der Hitler-Zeit, von der Millionen unmittelbar profitierten und deren psychologische Auswirkung gewaltig war. Spürbar wurden ferner die ver826 827
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Mooser, ArbeiterIeben, S. 199. Einleuchtend hierzu Herbert, Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft, in: Niethammer, v. Plato (Hrsg.), "Wir kriegen jetzt andere Zeiten", S. 21. Dazu auch Mason, Bändigung, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung, S. 40f. Vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1989, S. 286. Mooser, ArbeiterIeben, S. 203. Dietmar Petzina, Soziale Lage der deutschen Arbeiter und Probleme des Arbeitseinsatzes während des Zweiten Weltkriegs, in: Waclaw Dlugoborski (Hrsg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, Göttingen 1981, S. 66. Zum folgenden Mooser, ArbeiterIeben, S. 200. Interview aus dem Jahre 1978; zit. bei Wemer, "Bleib übrig", S. 356. Vgl. Herbert, Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft, in: Niethammer, v. Plato (Hrsg.), "Wir kriegen jetzt andere Zeiten", S. 28. Zum folgenden Mason, Bändigung, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung, S. 39. Alf Lüdtke, Wo blieb die "rote Glut"? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus, in: ders., Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt 1989, S. 225.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
627
besserten Aufstiegschancen. Besonders die Jüngeren erlebten in den dreißiger Jahren einen "Zuwachs an Perspektive", und zwar "ohne die Voraussetzung eines Sieges des ,demokratischen Sozialismus' oder der ,Diktatur des Proletariats'''834, eine Erfahrung, die einem klassenbewußten Engagement für eine bessere Zukunft des Proletariats viel Wind aus den Segeln nehmen mußte. Im Effekt trugen auch die durchaus zweischneidig angelegten und wirkenden Maßnahmen der NS-Sozial- und Gesellschaftspolitik mit dazu bei, daß sich auch unter der Arbeiterschaft ein "Gefühl sozialer Gleichheit"835 verbreiten konnte. Die beginnende, hauptsächlich aber wohl lediglich als Perspektive erlebte ",Demokratisierung' ehemals exklusiver Konsumchancen" (Massenmedien, Massentourismus, Motorisierung, Elektrifizierung etc.) machte Eindruck, war populär und "wurde auch abseits der ideologischen Intentionen als ein Stück ,Gerechtigkeit' erfahren"836 Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung hatte die Arbeiter zwar ihrer politischen sowie ihrer über- und innerbetrieblichen Vertretung beraubt, doch räumte die nationalsozialistische Arbeitsverfassung dem in seiner Stellung erheblich gestärkten Unternehmer damit nicht zugleich auch wieder die gleichsam frühkapitalistische Befugnis ein, zu tun und zu lassen, was er wollte, sondern sicherte dem Staat, neben der "Belebung der betrieblichen Sozialpolitik"837, propagandistisch wirkungsvolle Durchgriffsrechte gegen "asoziale" Unternehmer. 838 Die massiven Angriffe des Regimes auf die tarif- und sozialpolitische Sonderstellung der Angestellten zugunsten einer Angleichung zwischen diesen und der Arbeiterschaft, die angestrebte Verwischung der alten "Kragenlinie" und die damit einhergehende Sozialpropaganda taten das Ihre dazu, Status und Ansehen des Arbeiters aufzuwerten und ihn so national und kulturell besser zu integrieren. 839 Schließlich verstanden es die Nationalsozialisten, nach der Zerschlagung der Tarifautonomie ihre Lohnpolitik als Mittel zur "Fragmentierung der Arbeiterklasse" einzusetzen und sie zugleich zu einem "integralen Bestandteil einer ,Zuckerbrot-und-Peitsche'-Politik" zu machen. 840 Ein ausgeklügeltes Leistungslohnsystem hielt die Gesamtlohnsumme niedrig und schuf zugleich wirkungsvolle, produktivitätssteigernde Anreize, die geeignet waren, "in der Arbeiterschaft die Überzeugung (zu) verstärken, daß Fleiß sich allemal auszahle". Schien der - 1939 verfügte - "generelle Lohnstopp die egalisierende Volksgemeinschafts-Propaganda zu bestätigen, so seine Nichteinhaltung im durch Leistung gerechtfertigten Einzelfall die Offenheit der Gesellschaft für soziale Aufsteiger"841. Vermutlich verstärkte diese Differenzierung und Individualisierung des Lohns die Orientierung des Arbeiters auf seine Stellung im Betrieb und ließ "solidarische Aktionen in der Lohngruppe, im Betrieb, in der Bran834 835 836
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Plato, "Der Verlierer ...", S. 193. Hervorhebung im Original. Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933-1945, München 1987, S. 98. Mooser, Arbeiterleben, S. 201. Vgl. auch Herbert, Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft, in: Niethammer, v. Plato (Hrsg.), "Wir kriegen jetzt andere Zeiten", S. 35. Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983, S. 245. Wolfgang Spohn, Betriebsgemeinschaft und innerbetriebliche Herrschaft, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. S. 206 und S. 207. Hierzu Michael Prinz, Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986, insbes. die prägnante Zusammenfassung und Wertung S. 328 ff., auf die sich diese Passage stützt. Tilla Siegel, Lohnpolitik im nationalsozialistischen Deutschland, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. S. 58. Frei, Führerstaat, S. 95.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
che oder gar über die Branche hinaus unvernünftig erscheinen"842. Diese Erfahrung und dieses Verhalten könnten die "Basis für gewerkschaftlich-solidarisches Handeln langfristig geschmälert haben"843. Bereits Ende 1935 spießte ein Sopade-Bericht diesen von Jahr zu Jahr sich verfestigenden Habitus in einer scharfsichtigen Beobachtung auf: "Vor allem bei jungen Arbeitern kann man oft den Eindruck haben, daß sie überhaupt nicht mehr auf den Gedanken kommen, sie könnten durch gemeinschaftliches Handeln - und sei es auch nur in der kleinsten Abteilung - ihren Forderungen mehr Nachdruck verleihen." Zehn Jahre später, bei Kriegsende, als es noch viel mehr jüngere Kollegen in den Fabriken gab, erfuhren die in ihre Ämter zurückgekehrten kommunistischen und sozialdemokratischen Betriebsvertreter dann, wie schwer es mittlerweile geworden war, die Belegschaften für gemeinschaftliches, über die unmittelbaren Betriebsinteressen hinausweisendes Handeln zu mobilisieren. Die zunehmend schwieriger werdenden Lebensverhältnisse im Krieg selbst förderten dieses Einzelkämpferturn noch, bei dem sich jeder selbst der nächste war. 844 Im Krieg, der Patriotismus und nationale Emphase auch in der Arbeiterschaft anfachte, stand die Solidarität der u.k.-Gestellten in den Fabriken mit den Soldaten an der Front immer außer Frage. Nennenswerte Sabotageakte deutscher Rüstungsarbeiter oder gar "oppositionelle Manifestationen"845 der Arbeiterschaft als Gesamtheit blieben zwischen 1939 und 1945 aus. Bei den Rüstungsarbeitern und Bergleuten dürfte auch der notorische Appell des Regimes an das propagandistisch viel strapazierte Arbeitsethos "nicht ganz wirkungslos" geblieben sein, wie etwa die Rekordhöhe der Kohleproduktion an der Ruhr ab 1937 immerhin vermuten läßt. Diese allgemeine Leistungssteigerung muß zumindest teilweise den "unter Hitler in großem Maßstab in die Praxis umgesetzten Bestrebungen zugerechnet werden, dem ,Berufsethos' als Ersatz für die Bindung an sozialistische Lehrsätze Geltung zu verschaffen"846. Nicht nur im Bergbau, in der gesamten Wirtschaft setzten die unerhörten Produktionssteigerungen ein Mindestmaß an Kooperation mit dem Management, ja Eigeninitiative und besonders während des Bombenkrieges - Improvisationsbereitschaft der Belegschaften voraus. Der in der extremen Notphase zwischen Stalingrad und der Währungsreform in besonderem Maße geforderte Erfindungsreichturn, der Zwang zu unorthodoxen Lösungen in den Fabriken, um Produktion oder Versorgung aufrechtzuerhalten oder in Gang zu bringen, förderten die ohnehin gegebene ausgeprägte Betriebsbezogenheit847 der deutschen Arbeiterschaft noch, stimulierten das "partnerschaftliche Zusammenwirken"848 im Betrieb und wirkten Neigungen zu klassenkämpferischer Konfrontation, wo sie virulent geblieben waren, entgegen. Nach der Kriegswende wurde es 842
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So die in Frageform gekleidete Hypothese von Siegel, Lohnpolitik, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung, S. 138. Siehe auch Herbert, Arbeiterschaft, S. 333. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 136. Hervorhebung von mir. Die zitierte Passage des Sopade-Berichtes vom November 1935 ist bei Peukert, Volksgenossen, auf S. 137 abgedruckt. Rüther, Arbeiterschaft in Köln, S. 426. Ebenda, S. 423. John Gillingham, Die Ruhrbergleute und Hitlers Krieg, in: Hans Mommsen, Ulrich Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisation in Deutschland, Köln 1979, S. 325 H., Zitate auf S.327 und S.343. Dort auch seine Bemerkung zu Kooperationsbereitschaft und Initiative der Bergarbeiterschaft. Siehe Herbert, Arbeiterschaft, S. 357. Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. XLI.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
629
nicht leichter, "sich unpatriotisch zu zeigen"849. Mit dem Masseneinsatz von Zwangsarbeitern machten viele qualifizierte deutsche Arbeiter eine zusätzliche Aufstiegserfahrung 850 , als sie in Aufpasser- und Vorgesetztenfunktionen einrückten. Auch hier zeigte sich der Vorrang nationaler Solidarität vor internationaler Klassensolidarität, die sich in erster Linie ohnehin nur in den Parteiprogrammen gefunden hatte. Als Desillusionierung eigener Art erlebte mancher Sozialist als Soldat schließlich das sowjetische Mutterland der Revolution. Nicht wenige, die mit der antikommunistischen Propaganda der Nationalsozialisten vielleicht wenig anzufangen gewußt hatten, nahmen hier oder spätestens nach dem Bekanntwerden der Untaten der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland von einer durch die Praxis unglaubwürdig gewordenen Ideologie Abschied. 851 Insgesamt konnte eine sozialistische GrundeinsteIlung wohl allenfalls beim Stamm der bereits während der Weimarer Zeit aktiven Funktionäre und Mitglieder der Arbeiterbewegung, kaum jedoch bei der im Krieg überdies strukturell radikal veränderten Arbeiterschaft als ganzer "unangefochten überwintern"852. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Masse der deutschen Industriearbeiterschaft während der NS-Zeit erscheint - und zwar weitgehend unabhängig von den besonderen Gegebenheiten in den Umbruchs monaten und unter alliierter Besetzung 1944/45 - deren ausgeprägte Nichtradikalität wenig verwunderlich. Die Desorientierung und geringe Mobilisierungsbereitschaft der Arbeiter, die die Repräsentanten und auch manche Historiker der Arbeiterbewegung nach 1945 nicht mehr so recht wahrhaben wollten, war einigen wenigen Funktionären, die vor Kriegsende die Chance gehabt hatten, illegal nach Deutschland zu kommen, jedoch sofort als eines der auffallendsten Merkmale ihrer "Basis" erschienen. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Deutschland Ende 1943 berichtete ein Mitglied der "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP) den emigrierten Genossen in London, bei der breiten Masse der Arbeiterschaft sei "eine viel größere Eingliederung in das Nazireich erfolgt, als man im allgemeinen annähme". Gerade auch "die vielen Mitläufer der KP in den Krisenjahren seien sehr schnell innerlich (wenn auch zum kleineren Teil organisatorisch) mit dem neuen Regime verbunden gewesen. Sie hätten Arbeit und Brot bekommen, in Bezug auf Kinderhilfe, billige Massenvergnügungen, Erholungsverschickung, hygienische Verbesserungen in den Fabriken (neben der Peitsche das Zuckerbrot in Form von guten Badeeinrichtungen, Krankenstuben, Ärztebehandlung in Großbetrieben etc.) hätten sie wesentliche Verbesserungen erlebt. Der Gestapoterror traf Einzelne, [die] in den Augen der Massen unsinnigerweise Rebellion versuchten (dieses in den Jahren 1934 ff.)", so schilderte er die Lage weiter. "Es sei absurd, von der Arbeiterklasse einen Aufstand zu erwarten, ehe die militärische Niederlage vollkommen klar sei."853
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Mason, Bändigung, in: Sachse, Spode, Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung, S.44. Detlev J. K. Peukert, Die Lage der Arbeiter und der gewerkschaftliche Widerstand im Dritten Reich, in: Klaus Tenfelde, Klaus Schönhoven, Michael Schneider, Detlev J. K. Peukert, Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 491. Herbert, Arbeiterschaft, S. 350ff. Vgl. Mooser, Arbeiterleben, S. 204. Peukert, Volksgenossen, S. 126. Der im ASO, Bonn, unter IJB/lSK, 50, aufbewahrte Bericht zit. nach Rüther, Zusammenbruch, S. 26 (Manuskriptfassung).
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Am 21. Januar 1945 dann, als Niederlage und Besetzung des Deutschen Reiches von niemandem mehr ernstlich zu bezweifeln waren, berichtete der ISK-Mann Josef Kappius (den das OSS schon im September 1944 nach Westdeutschland eingeschleust hatte 854 ) an die Genossen der "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien": "Fragt man nach der Stimmung unter den Arbeitern, so kann man nur sagen: Es besteht keine revolutionäre Situation. Im grossen und ganzen sind die Menschen den Krieg herzlich leid. Die lange Arbeitszeit, die weiten Wege, die sie heute vielfach zu Fuß machen müssen, der Mangel an Waren usw., usw. Aber sie sind es einfach nur leid und wünschen sich, es möchte anders werden. Sich selber aufzuraffen und es anders zu machen, dazu reicht es nicht. Nicht nur, weil keiner seinen Kopf hinhalten will, solange einer bereit steht, um ihm mit dem Knüppel darüber zu schlagen, sondern auch, weil keiner weiß, was er tun könnte, wie er es tun könnte, mit wem er es tun könnte und mit was. Und er weiß vor allem nicht, wozu er es tun sollte."855 Ein anderer, ebenfalls dem ISK zugehöriger Emigrant (Werner Hansen), der im März 1945 nach Köln gekommen war und dort maßgeblichen Anteil am Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung hatte, konnte einige Wochen später ebenfalls keine ermutigendere Diagnose über die Verfassung der Basis stellen. Von der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft im Ruhrgebiet sagte er Anfang Juni 1945: "Kennzeichnend für die geistige Erschlaffung, die das Nazi-Regime im allgemeinen und die Nervenanstrengung des Bombenkrieges in den letzten Jahren verursacht hat, ist auch die Aufnahme des Sofortprogrammes der Union. Es findet keine spontane Diskussion statt, es wird eben treu und brav hingenommen."856 Für zwei so engagierte sozialistische Arbeiterfunktionäre wie Kappius und Hansen, die wie ihre Genossen im Exil darauf gerechnet oder mindestens gehofft hatten, nach dem Sieg über HitIer in der deutschen Arbeiterschaft etwas mehr Elan anzutreffen, war diese "Bravheit" eine herbe Enttäuschung. 857 OSS-Guides und Arbeiterführer
Josef Kappius in Bochum und Werner Hansen in Köln waren zwei von insgesamt ungefähr zwei- bis dreihundert Arbeiterführern vor allem aus dem britischen, französischen und schweizerischen Exil, die von den amerikanischen und britischen Geheimdiensten hauptsächlich zwischen Anfang März und den Sommermonaten 1945 in das westliche Besatzungsgebiet eingeschleust wurden. 858 Diese ebenso abenteuerliche wie umstrittene, vom amerikanischen und britischen Geheimdienst ins Werk gesetzte Operation hatte eine einfache Geschäftsgrundlage. Die Alliierten brauchten kundige Informanten, und die emigrierten Arbeiterfunktionäre hatten den drängenden Wunsch, in den entscheidenden Stunden des Neuanfangs in Deutschland präsent zu 854 Vgl. dazu unten in diesem Kapitel. '" JuPP's Report, 31. 1. 1945; ASO, Bonn, IJBIISK, 55; zir nach Rüther, Zusammenbruch, S. 25f. (Manuskriptfassung). Hervorhebungen im Original. 856 Wemer Hansens Bericht Nr. 3 betr. Ruhrgebiet und Bremen, 8. Juni 1945; ASO, Bonn, lJBIISD, 57; zit. nach ebenda, S. 117 ff. (Manuskriptfassung). 857 Hermann Brill traf nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald die Feststellung, daß "die deutsche Arbeiterklasse geistig und moralisch, politisch und organisatorisch ... zermürbt, ermattet und zerfallen" sei; "Richtlinien des Bundes demokratischer Sozialisten", Anfangjuli 1945 verfaßt von Hermann Brill; zit. nach Moraw, Parole der "Einheit", S. 67. 858 Vgl. hierzu Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 308 ff.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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sein. Die Kontakte des OSS in London zur "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien" und zur "Landesgruppe Deutscher Gewerkschafter" reichten bis in den Herbst 1942 zurück. 8j9 Um die Jahreswende 1943/44 führten die mit Hochdruck betriebenen Vorbereitungen der Invasion zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und dem deutschen sozialistischen Exil. Im Januar 1944 erfolgte eine detaillierte Erfassung deutscher Emigranten für das OSS, im gleichen Monat umriß Erich Ollen hauer erstmals mögliche praktische Schritte. Es gelte, schrieb er an einen Genossen, "so früh als möglich, vielleicht schon vor Besetzung deutschen Gebietes durch alliierte Truppen, mit unseren Freunden in Deutschland in Verbindung zu kommen". Unter den gegebenen Verhältnissen sei das nur mit Unterstützung der Alliierten möglich. 860 Nach einer ersten Abstimmung praktischer Schritte unterbreiteten die Emigranten der "Union" den Amerikanern eine mehrseitige Denkschrift, in der sie ihre Ambitionen in den Rahmen einer umfassenden Strategie der westlichen Alliierten einzubetten suchten. 86 ! Die bevorstehende riesige militärische Operation müsse von "planvoller politischer Kriegführung" begleitet sein, schrieben sie. Den Nationalsozialisten sei es bisher gelungen, die Moral von Heimatfront und Wehrmacht weitgehend intakt zu halten, weil sie die militärische Niederlage mit der Vernichtung des deutschen Volkes und der Bolschewisierung Deutschlands gleichsetzten. Der Westen müsse diese Propaganda mit Absichtserklärungen zu seinen eigenen, positiven Zielen in Deutschland konterkarieren. 862 Bei dieser Art "positiver politischer Kriegführung" könnten die deutschen demokratischen Sozialisten nicht nur als Propagandisten eine wichtige Aufgabe übernehmen. Teil dieses Programmes solle es auch sein, "direkte Kontakte mit aktiven deutschen Demokraten und Antifaschisten in Deutschland herzustellen ... Die Wichtigkeit solcher Kontakte mit verläßlichen demokratischen Kräften in Deutschland, während zugleich die militärischen Operationen der Alliierten voranschreiten und das Nazi-Regime Zeichen von Auflösung zeigt, liegt auf der Hand." Ab Herbst 1944, als die Besetzung Deutschlands begann, fanden zwischen dem OSS und wichtigen deutschen Exilpolitikern die vorwiegend von Erich Ollenhauer (Sopade), Willi Eichler (ISK), Hans Jahn (Internationaler Transportarbeiterverband) und insbesondere von Hans Gottfurcht (Landesgruppe Deutscher Gewerkschafter) geführten Beratungen über Details der geplanten Unternehmung statt. Die Kernfrage für die sozialistischen Emigranten war dabei natürlich, wieviel eigenen - und das hieß: politischen - Bewegungsspielraum die Besatzungsmacht den von ihnen ausgewählten und vom OSS eingesetzten Emissären im Okkupationsgebiet zugestand; bloßes "Medium für technische Hilfeleistungen"863 wollten sie nicht sein. Wie alle, die sich Gedanken über das Kriegsende in Deutschland machten, rechneten sie in den Wochen zwischen dem Fall des NS-Regimes und der festen Etablierung der Militärregierung mit einer labilen Übergangsphase, in der es wahrscheinlich zu schweren Störungen 859
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Zum folgenden vgl. neben dem Aufsatz von Foitzik vor allem: Anthony Cave Brown, The Secret War Report of the OSS, New York 1976. Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 10 ff. Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 78 ff. Schreiben Ollenhauers an Max Hofmann in Lissabon v. 27. 1. 1944; zit. nach Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 323. Von Hans Gottfurcht, Erich Ollenhauer, VictoT Schiff und Hans Vogel gezeichnete Denkschrift v. 25.3. 1944; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret. Vgl. hierzu III/3. BorsdoTf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 12.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
der Verwaltung und "heftigen Zusammenstößen zwischen Teilen des Nazi-Regimes und seinen Gegnern" kommen würde. In dieser Phase müßten die von den Alliierten nach Deutschland gebrachten, an vorderster Front stehenden Regimegegner die Initiative übernehmen. Dazu gehöre vor allem der Aufbau von "neuen provisorischen demokratischen Selbstverwaltungskörperschaften", als erstes aber die Bildung von Betriebskomitees. 864 Darüber, ob der Einsatz deutscher antifaschistischer Emigranten im eben besetzten Deutschland lediglich eine technische oder aber eine politische, unter Umständen sogar die Besatzungsziele gefährdende und nach den vorliegenden allgemeinen Direktiven jedenfalls unzulässige politische Dimension habe, entwickelte sich zwischen den tangierten amerikanischen Stellen bald eine handfeste Auseinandersetzung. Als Eisenhowers Truppen bereits über drei Monate im westlichen Grenzgebiet des Reiches standen und der Startschuß des OSS zu dem breit angelegten Entsendungsprogramm nach dem Gefühl der deutschen Sozialisten in London allzu lange auf sich warten ließ, wurden die Emigranten ungeduldig. Da sie den richtigen Zeitpunkt für ihren Einsatz keinesfalls versäumen wollten, wandten sie sich an ihnen wohlgesonnene hohe Arbeitsoffiziere der künftigen amerikanischen Militärregierung und versuchten, auf diesem Wege ihr Anliegen voranzutreiben. Dieser Vorstoß erschien erfolgversprechend, denn sogar der Stellvertreter des Politischen Beraters von General Eisenhower, Donald Heath, sympathisierte zunächst mit dem Einsatz von Emigranten als "Berater". Im Januar entsandte er deshalb den beim Political Advisor für Arbeits- und Gewerkschaftsfragen zuständigen Louis A. Wiesner, der im Monat zuvor von OSS zu Murphy gewechselt war, zu Sondierungen nach London. Aus dem ersten Gespräch, das Wiesner am 20. Januar 1945 mit Vogel und Ollenhauer vom Sopade-Vorstand hatte, nahm dieser keinen guten Eindruck mit. Beide Emigranten hätten Mangel an Realismus gezeigt und sich dem "Wunschdenken" hingegeben, daß die Masse der deutschen Arbeiter bereit sei und darauf brenne, den Nationalsozialismus auszurotten und die Demokratie wiederherzustellen; im Gegensatz zu den Kommunisten seien diese Männer immerhin aber ehrliche Demokraten. 86 > Fünf Tage später traf Wiesner zu einem weiteren Gespräch mit den beiden SopadeFunktionären zusammen. Daran nahm diesmal auch Hans Gottfurcht teil, der über die ältesten und engsten Beziehungen zum OSS verfügte. Gottfurcht, der in dieser Unterredung das Wort führte und von dem der Abgesandte des Political Advisor erstmals selbst die genaueren Umrisse des Unternehmens des eigenen Geheimdienstes erfuhr, gefiel Wiesner besser als seine beiden anderen Gesprächspartner: "Hans Gottfurcht scheint wacher und intelligenter zu sein als Vogel oder Ollenhauer", hielt er in seiner ausführlichen Gesprächsnotiz fest. "Seine Untergrundarbeit ist Beweis seines Mutes und großer Überzeugungstreue. Natürlich hat er ein ausgeprägtes sozialdemokratisches Vorurteil, was ihn vielleicht dazu bringt, unbewußt einige Fakten falsch darzustellen."
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"Suggestions for a Programme of Immediate Action in Transitory Period" v. 18.9. 1944, das die sozialistische Emigration in London gemeinsam erarbeitet hatte und das auch an OSS ging (siehe den Begleitbrief Gottfurchts an EichIer, Kramer und Ollen hauer v. 25.8. 1944). Vgl. auch den Vorentwurf Ollen hauers v. 15.8. 1944; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret. Memorandum Wiesners zu dem Gespräch am 20. 1. 1945; zit. nach Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 79 f.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Nach der Feststellung Gottfurchts, derzeit gebe es im Arbeiterwiderstand in Deutschland nur noch eine einzige politische Spaltung, nämlich "die zwischen Demokraten und Totalitären (also Kommunisten)", stellte Wiesner die Frage, ob die Sozialdemokratie auch nach der deutschen Niederlage an ihren früheren Vorstellungen einer sofortigen und radikalen Sozialisierung der großen Unternehmen festhalten würde. Das verneinte Hans Gottfurcht: "Er sagte", schrieb Wiesner, "daß zunächst einmal die Bevölkerung einfach zu erschöpft sei, als daß sie selbst positiv handeln könnte, und mit Freuden jede Regelung annähme, die Frieden verspreche." Außerdem würden die Besatzungsmächte eine Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter nicht gestatten. Was die britische und amerikanische Seite angehe, erwiderte ihm Wiesner, "ihre Armeen würden ganz sicher keine örtlichen Revolutionen oder Putsche dulden". Eine soziale Revolution könne es allenfalls dann geben, wenn das ganze deutsche Volk Gelegenheit habe, in einem demokratischen Verfahren seine Meinung dazu kundzutun. Anschließend skizzierte Gottfurcht "den Plan der ass Labor Section, ausgesuchte deutsche Flüchtlinge ins besetzte Deutschland zu entsenden, damit sie dort nach verläßlichen Anti-Nazis fahnden und Nazis aufspüren helfen". Gespräche über diesen Plan gebe es zwischen ihm, Walter Auerbach und Hans Jahn vom Internationalen Transportarbeiterverband auf der einen und dem ass in London auf der anderen Seite bereits seit langem: "Der aSS-Plan", so referierte Wiesner die Ausführungen seines Gesprächspartners, "sieht die Auswahl von vierzig oder fünfzig derzeit in England und den Vereinigten Staaten befindlichen Deutschen vor, die das Rheinland kennen und ins besetzte Gebiet hinter den alliierten Armeen gebracht werden sollen." Eine Gruppe hätte bereits nach Aachen geschickt werden sollen, doch dieser Plan habe sich aus ihm nicht bekannten Griinden zerschlagen. Alle drei stimmten zwar darin überein, daß solche Emissäre schnell in den Geruch kommen könnten, bloße Handlanger des Siegers zu sein, doch erschien ihnen die Gefahr bei diesen nicht größer als bei allen anderen deutschen Politikern und Beamten, die jetzt oder später mit der Militärregierung zusammenarbeiteten. In einer ersten Beurteilung des aSS-Vorhabens schrieb Wiesner unter dem frischen Eindruck seiner Gespräche in London im ungefähren Einklang mit der Auffassung von Robert Murphys Stellvertreter in der Political Division: "Der aSS-Plan hat, wie mir scheint, gar nicht wenig für sich." Was er aber kritisierte, war die Art und Weise, in der der Geheimdienst die ganze Unternehmung hinter dem Rücken der für die Besatzungspolitik in Deutschland Verantwortlichen eingefädelt hatte. Und er wies auf die gefährlichen politischen Verwicklungen hin, in die die Amerikaner und Engländer durch die Eigenmächtigkeiten des Geheimdienstes geraten könnten. Es zeuge von erstaunlich schlechtem Urteilsvermögen der aSS-Dienststelle in England, daß sie von ihrem Vorhaben weder die amerikanische Botschaft in London noch den Political Advisor unterrichtet hätten; schließlich könnten - und hier unterschätzte Wiesner die Findigkeit des ass - Zivilisten ohne Zustimmung von State Department bzw. Foreign affice überhaupt nicht außer Landes kommen. "Überdies", so brachte er dann seinen Haupteinwand zu Papier, "ist der außerordentlich wichtige Faktor unserer Beziehungen zu den Russen beriihrt. abwohl die sowjetische Regierung wahrscheinlich Angehörige des Komitees Freies Deutschland nach Deutschland bringen wird, wenn sie das nicht schon getan hat, können wir uns nicht völlig frei fühlen, als unsere Agen-
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v. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ten Mitglieder einer Partei hereinzubringen, die von dep Kommunisten gehaßt wird wie die Pest. Jedenfalls ist die Entscheidung dazu eine politische Angelegenheit und nicht bloß aus taktischen Gründen zu treffen."866 Sofort nach Wiesners Rückkehr aus London schlug Robert Murphy Alarm. 867 Er wandte sich zunächst in scharfer Form an den OSS-Landesresidenten in Großbritannien, zog dessen verharmlosende Erklärungen zu der geplanten Operation ins Lächerliche und nahm diese dann zum Anlaß für den bissigen Kommentar, es sei "unnötig", sich mit emigrierten deutschen Arbeiterführern zu treffen, um "sozialdemokratische oder andere politische Agenten auszuwählen, deren einzige Aufgabe darin bestehen soll, alliierte Soldaten zu bestimmten Gebäuden zu führen". An das State Department telegraphierte Murphy am 2. Februar 1945, die amerikanische Vertretung in der Europäischen Beratenden Kommission teile seine Auffassung, der Einsatz deutscher politischer Agenten durch die Alliierten beraube diese jeglicher Möglichkeit, in der Frage des Einsatzes des von der Sowjetunion abhängigen Nationalkomitees Freies Deutschland im Besatzungsgebiet Druck auszuüben. Das Außenministerium stimmte Murphy zu, und General Donovan, der Direktor des OSS, sagte auf eine entsprechende Intervention hin zu, ohne vorherige Zustimmung des Außenministeriums keinen Emigranteneinsatz zu veranlassen. Diese Zusage erfolgte lediglich mündlich, ein entsprechender Befehl der Zentrale ging beim OSS in London denn auch niemals ein. Was die ganze Angelegenheit komplizierte und so undurchsichtig machte, war zum einen die Tatsache, daß an der von OSS ins Auge gefaßten Operation auch das britische Special Operations Executive (SOE) beteiligt war, zum anderen, daß der Einsatz deutscher Emigranten für Außenstehende und auf diesem Felde waren auch die Mitarbeiter des State Department Außenstehende - kaum von den üblichen, eher militärischen und auf Sabotageakte zielenden subversiven Geheimunternehmungen zu trennen war, die die (von OSS und SOE Anfang 1944 ins Leben gerufenen) amerikanisch-britischen Special Force Headquarters hinter den feindlichen Linien durchführten. Bei den Vorgesprächen im Sommer und Herbst 1944 zwischen dem OSS auf der einen und Gottfurcht, Jahn, Auerbach, Eichler, Vogel und Ollenhauer auf der anderen Seite hatten die Emigranten ursprünglich Vorstellungen entwickelt, in der sie sich eine weit über die Funktion von bloßen "guides" hinausgehende Rolle zuschrieben. 868 Bereits im September 1944 hatten sich OSS und die sozialistischen Emigranten über die Grundzüge der geplanten Zusammenarbeit geeinigt. Sie wurden im Februar 1945 in einem "Summary of Understanding" - der Charta der klandestinen Kooperation niedergelegt. 869 Im Herbst 1944, so hieß es darin, sei man sich einig gewesen, daß OSS und die Exilgruppen bei der geplanten Aktion "gemeinsame Interessen" hätten. In 866
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Entwurf des "Memorandum of Conversation, Louis A. Wiesner with Hans Vogel, Erich Ollen hauer and Hans Gottfurcht,January 1945"; NA, RG 260, 17/257-217. Die letzte Passage des "Comment on Conversation", aus der hier ausführlich zitiert ist, ist im Entwurf gestrichen. Sofort nach der Rückkehr nahm Robert Murphy vehement gegen den OSS-Plan Stellung, wobei er sich ziemlich derselben politischen Argumentation bediente, die Wiesner in seinem Memorandum-Entwurf niedergelegt hatte. Vgl. hierzu Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 80. Dort auch die hier wiedergegebenen Zitate. Telegramm Murphys an das State Department v. 2. 2. 1945; NA, RG 59, Control (Germany), 2-245. Die Darstellung folgt hierzu sowie zur Planung und Durchführung der Einsätze selbst weitgehend dem Aufsatz von Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 328 ff., der bislang am meisten Licht auf die keineswegs abschließend geklärten Vorgänge wirft. Von Eichler, Gottfurcht und Ollenhauer unterfertigtes "Memorandum" in englischer Sprache v. 23.2. 1945; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret.
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den ersten drei Punkten wurden die Intelligence-Aufgaben der Emissäre genannt, die beiden nächsten Punkte beschrieben die darüber hinausreichende Zielsetzung: "Eine Koordinierung der verstreuten Kräfte mit anti-nazistischer Haltung in einer Stadt ist eine der Hauptaufgaben", so Eichler, Gottfurcht und Ollen hauer. "Es wird im Untergrund gewerkschaftliche und/oder politische Gruppen geben, Zellen in Fabriken, Diskussionsgruppen, ,Stammtische' (gewöhnlich kleine Gruppen von Leuten, die sich unauffällig in Biergärten usw. treffen), Bibelklassen (echt oder als Tarnung), usw., usw ... Es ist von entscheidender Bedeutung, herauszufinden, inwieweit diese Gruppen nur Gefühlswert haben oder wirkliches politisches Gewicht. Es muß darauf abgezielt werden, eine Situation zu schaffen, in der die wertvollen Gruppen als Kerne neuer Gruppierungen oder sogar Organisationen fungieren können. Mit geeigneten Personen oder Gruppen müssen Diskussionen über die beste Art der Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden eingeleitet werden. Der Geist der Verständigung muß gestärkt werden; das Gefühl, einer besiegten Nation anzugehören, muß überdeckt werden durch Engagement in positiver Arbeit zum Wohle all jener, die bereit sind, sich am bevorstehenden Werk aktiv zu beteiligen oder ohne großes Zögern die Einführung eines völlig neuen inneren Regimes zu akzeptieren." Einige Zeit später, im Januar und Februar 1945, so fährt das Dokument fort, habe man sich dann darauf geeinigt, daß einige Emigranten zunächst eine Woche bis höchstens einen Monat lang ausschließlich als "guides" in Uniform tätig werden sollten. Nach Beendigung dieser Funktion würden sie die Uniform mit Zivilkleidern vertauschen, untertauchen ("sich unter die Bevölkerung mischen") und dann den besprochenen politischen Aufgaben nachgehen; mit Programm-Materialien würden sie über alliierte Stellen versorgt werden. Daß den ersten Trupps in einigem zeitlichen Abstand eine Stabsgruppe (unter anderem mit Gottfurcht, Ollenhauer, Eichler und Jahn) mit größerem Aktionsradius folgen sollte, war offenbar ebenfalls verabredet. Dies war natürlich ein besonders sensibler Punkt, denn das OSS kannte die Maximen der Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation natürlich zu gut und wußte, daß in der maßgeblichen SHAEF-Direktive vom 9. November 1944 bestimmt war: "Politische Betätigung jeder Art ist untersagt ... Es ist erwünscht, daß weder einzelne Politiker noch organisierte politische Gruppen irgendeinen Einfluß auf die Festlegung des Vorgehens der Militärregierung haben. Es ist unbedingt erforderlich, jede Verpflichtung gegenüber politischen Elementen oder Verhandlungen mit solchen zu vermeiden."87o An diesen Bestimmungen wurde vom Obersten Befehlshaber bis zum Sommer 1945 kein Jota geändert, und das wache Interesse, mit dem dessen versierter Politischer Berater und das State Department die Machinationen des eigenen Geheimdienstes verfolgten, brachte das OSS dann doch dazu, seine Schützlinge in ihren Erwartungen und in ihrem Eifer eher zu bremsen als zu beflügeln. Andererseits zeigten sich William Donovan in Washington und sein Landesresident George Pratt in London von den Interventionen des Außenministeriums dann doch nicht so stark beeindruckt, daß sie die lange geplante Unternehmung ganz abgeblasen hätten. Im Gegenteil, in eben den Tagen, als sie gegenüber dem State Department beschwichtigende Erklärungen abgaben und ein gewisses Verständnis für dessen Bedenken an den Tag 870
SHAEF, Directive for Military Govemment of Germany, Prior to Defeat or Surrender, v. 9. 11. 1944; NA, RG 331, 11.505, G-5, OPS-Germany-Country Unit.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
zu legen schienen, trat das von den Exilpolitikern mit Ungeduld erwartete Vorhaben in seine operative Phase. Am 29. Januar 1945 wählten OSS und die Londoner Emigranten aus einer Liste mit 63 Namen 15 Genossen als Kandidaten für den Einsatz in den inzwischen besetzten westlichen Gebieten Deutschlands aus; bei sechs von diesen ist ein Einsatz nachgewiesen. Nachdem der Februar noch mit Vorbereitungen und verschiedentlichen Abstimmungsgesprächen mit OSS ausgefüllt war871 , verließ am 9. März 1945 die erste Gruppe mit Kurt Scheer sowie Wilhelm Heidorn (Werner Hansen) und Robert Neumann die britischen Inseln in Richtung Westdeutschland 872 ; letztere kamen beide zunächst in Köln zum Einsatz. Bis Ende März, als die Alliierten den Rhein auf breiter Front überschritten hatten, waren insgesamt 31 Personen als "guides" ausgewählt, einige bereits in Marsch gesetzt. Etwa die Hälfte von ihnen kam aus den USA, aus Frankreich oder der Schweiz. Eine achtköpfige Gruppe von Exilfunktionären, die sich dann in Stuttgart, Braunschweig, Köln oder München in den Aufbau von Organisationen der Arbeiterschaft einschalteten, war beispielsweise Mitte April 1945 aus England ausgeflogen worden - als "Todesfallsumme" war pro Kandidat übrigens ein Höchstbetrag von 10.000 Dollar vorgesehen. 873 Die zahlreichen zwischen Herbst 1944 und Sommer 1945 parallel laufenden, zum Teil eher subversiven, zum Teil mehr nachrichtendienstlichen Einschleusungsaktionen, die zum Teil vor, zum Teil hinter die eigenen Linien führten, zum Teil von Amerikanern und Briten gemeinsam, zum Teil auf eigene Faust vorgenommen wurden, sind vielleicht nie mehr säuberlich zu entwirren. Immerhin läßt sich aber mit einiger Sicherheit sagen, daß in jenen Monaten insgesamt wohl zwei- bis dreihundert, zweifels frei nachweisbar aber über 130 Personen mit Unterstützung des amerikanischen und britischen Geheimdienstes in das Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen gelangten. 874 Von diesen 130 waren gut die Hälfte Sozialdemokraten, die übrigen Kommunisten. In großen deutschen Städten sind für die Zeit zwischen März und Juni 1945 bisher die Einsätze von annähernd 25 sozialdemokratisch orientierten Männern und Frauen des Exils als "guides" nachgewiesen. Die meisten von ihnen kamen von London über Maastricht nach Westdeutschland. Am 15. März 1945, gerade als die erste Gruppe sozialdemokratischer Emigranten von OSS außer Landes gebracht worden war, begab sich Louis A. Wiesner erneut nach London. Diesmal traf er mit Walter Auerbach und Hans Jahn (er tauchte, kaum des Englischen mächtig, keine vier Wochen später in amerikanischer Uniform als "guide" in Leipzig auf) zusammen, die die Londoner Gruppe des Internationalen Transportarbeiterverbandes organisierten und ebenfalls über seit längerem gewachsene Kontakte zu OSS verfügten. Im Urteil Wiesners war Jahn "der aktivste, erfahrenste und nützlichste deutsche Arbeiterführer im Untergrund, von dem ich Kenntnis habe"875. Auch 871
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Vgl. die stichwortartigen Notizen Gottfurchts für diesen Monat; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/ Secret, BI. 20. Siehe auch den Erinnerungsbericht von Alfred Kiss, "Der Neubeginn in Augsburg 1945", S.2 ff.; Stadtarchiv Augsburg, Nr. 289l. Vgl. Gottfurchts handschriftliche Notizen für eine Besprechung mit Auerbach und Ollen hauer am 14.3. 1945; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret, BI. 23. Handschriftliche Notizen für Gottfurchts Besprechung mit Auerbach und Ollenhauer am 29.3. 1945; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret, BI. 24. Siehe hierzu Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 333 f. "Memorandum of Conversation" Wiesners über die Unterredung mit Auerbach und Jahn v. 15.3. 1945; NA, RG 260, 17/257-2/7.
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in dieser Unterredung wurde Robert Murphys Gewerkschaftsexperte bestürmt, die amerikanische und die britische Militärverwaltung sollten so bald wie möglich der Rückkehr von erfahrenen Gewerkschaftern zustimmen, die nichts anderes vorhätten, als ihre Arbeiterorganisation wieder aufzubauen; das liege im deutschen wie im alliierten Interesse. Wiesner ließ erkennen, daß er dagegen keine prinzipiellen Einwände erhebe, stellte zugleich aber klar: "Unter keinen Umständen würde das bedeuten, daß die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Bewegung stützt." Außerdem werde die Militärverwaltung anderen anti-nationalsozialistischen Organisationen gegebenenfalls dieselben Privilegien einräumen. Im übrigen erwarte er die Zusage, daß alle Funktionäre, die eine ordnungsgemäße Einreisegenehmigung erhielten, "sämtliche Verbindungen zu OSS oder irgendwelchen anderen amerikanischen Dienststellen abbrächen". Einmal in Deutschland, sollten die Arbeiterfunktionäre keine Versuche mehr machen, weiterhin mit OSS-Agenten direkt zu verkehren, sondern sich der regulären Organe der Besatzungsarmee bedienen. Auerbach, der sich so selbstbewußt gab wie jemand, der wußte, daß er nicht ausschließlich von der Unterstützung seines Gesprächspartners abhängig war, zeigte sich über die strikte Haltung Wiesners verwundert und verwies darauf, daß die Genossen der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) in Italien mit dem amerikanischen Geheimdienst die besten Erfahrungen gemacht hätten: "Sie sind mit OSS-Fahrzeugen gereist und von OSS versorgt worden. Der Vorteil dabei, so erklärte er, liege darin, daß OSS die Leute schnell und unbürokratisch transportiere. Die ITF, so fuhr er fort, wolle sich sofort ans Werk machen." Darauf erhielten Jahn und Auerbach von Wiesner eine sehr bestimmte, den Konflikt zwischen den amerikanischen Dienststellen nicht verhehlende Replik: "Was immer OSS in Italien getan haben mag, die deutsche Situation ist viel delikater und erlaubt OSS oder sonstigen Regierungsstellen, die hier operieren, nicht die gleiche Autonomie ... Wir werden die autonome Nutzung seiner Mittel und seiner Großzügigkeit, sofern sie politische Bedeutung hat und über seine legitimen Kompetenzen hinausgeht, nicht dulden." Aber dieser Versuch, die sozialistischen Exilpolitiker davon abzuschrecken, sich weiterhin mit dem Geheimdienst abzugeben, verfing nicht recht. Auerbach ließ nicht locker und erkundigte sich danach, was geschehen würde, falls man die nützlichen Verbindungen nicht aufgebe, worauf Wiesner ihm sagte, dann werde man das Alliierte Oberkommando eben bitten müssen, die sozialistischen Emissäre aus dem Besatzungsgebiet wieder zu entfernen. Ob er dies als Ultimatum auffassen solle, fragte Auerbach. "Ich antwortete, daß es so aufgefaßt werden kann." In seinem Kommentar zu der stürmischen Unterredung in London machte Wiesner klar, daß er nicht prinzipiell gegen den Einsatz und die amerikanische Unterstützung von Arbeiterfunktionären sei, welche, im Gegenteil, "höchst wertvolle Verbündete" sein könnten, sondern lediglich gegen das anmaßende und sorglose Vorgehen der Geheimdienste in dieser delikaten Angelegenheit: "Die Zulassung internationaler Gewerkschaftsvertreter ist mit politischen Implikationen befrachtet, und ich werde mich energisch dagegen wehren, wenn die politischen Repräsentanten der Alliierten in dieser Sache vor ein Fait accompli gestellt werden sollten, wie es uns durch die ,Nachrichten'-Mission von OSS in Köln passiert ist." Wiesner sah auf der anderen Seite sehr genau die politischen Nachteile, die aus einer allzu puristischen Einstellung der Westmächte in der Frage der Zulassung und Förderung "politischer Aktivität" im
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
Besetzungsgebiet erwachsen konnten: ,,Angesichts dessen, was die Russen in Ostdeutschland machen, laufen die westlichen Alliierten Gefahr, den größten Teil Deutschlands von Kommunisten überrannt zu sehen, während wir noch immer versuchen, ,politische' Betätigung in unserer Zone niederzuhalten." Es konnte nach Wiesners Ansicht gerade auch für das Verhältnis gegenüber der Sowjetunion nur von Vorteil sein, wenn der ganze sensible Komplex der Förderung und auch Benutzung deutscher anti-nationalsozialistischer Kräfte aus der Grauzone gegenseitigen Argwohns herausgenommen und zwischen den Alliierten offen zur Sprache gebracht würde: "Wir sollten die Angelegenheit natürlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit den Briten besprechen. Auch die Franzosen könnten konsultiert werden, ebenso, wenn es schnell geschehen kann, die Russen. Ein Grund, warum ich so beharrlich auf strikter Unabhängigkeit der ITF-Delegation von ass bestanden habe", schloß Wiesner seinen Bericht, "liegt darin, daß ich vermeiden wollte, den Russen eine Ausrede für weiteren Regierungsdruck zugunsten des Komitees Freies Deutschland zu liefern." ass London war über das Vorgehen Wiesners außerordentlich verärgert 876 , das State Department dagegen mit dem Kurs, den sein Political Advisor in Deutschland gegenüber ass einschlug, sehr einverstanden. Am 23. März stellte sich das State Department definitiv auf den Standpunkt, einstweilen sollten noch keine emigrierten Funktionäre in das besetzte Deutschland zurückkehren, um bei dem Aufbau der Organisationen der Arbeiterbewegung mitzuwirken. "Übermitteln Sie diese Auffassung aSS", wies das State Department Murphys Dienststelle an, "so daß kein Schritt unternommen wird, der in Gegensatz zu unserer Politik steht"877 Das Ausmaß der Einschleusungsaktionen zwischen Frühjahr und Sommer 1945 zeigt, daß ass von der Opposition gegen seine Operationen nicht in dem Maße zu beeindrucken war, wie das State Department und Robert Murphy es gewünscht hätten. Immerhin führten dessen Interventionen aber dazu, daß der Geheimdienst jetzt auf eine stärkere Entpolitisierung seiner Schützlinge hinzuwirken versuchte. 878 Es war ass allerdings nur sehr begrenzt möglich, deren "politische Aktivität" vor Ort zu unterbinden. Eine Zwischenbilanz, die ass und die führenden Exilfunktionäre der deutschen Arbeiterbewegung in London Mitte April nach den ersten Einsätzen gemeinsam zogen, ließ freilich schon keinen Zweifel mehr daran zu, daß sich die Erwartungen niemals erfüllen würden, die die deutschen Sozialisten an ihre Zusammenarbeit mit den westlichen Geheimdiensten geknüpft hatten. Gewiß hatten sie ihre eigene politische Bedeutung im Rahmen der westalliierten Besatzungsplanung immer überschätzt, dazu verführt vielleicht auch durch Analogieschlüsse, die sie aus der politisch ungleich gewichtigeren Funktion deutscher Kriegsgefangener und Exilfunktionäre in der Sowjetunion und später im sowjetischen Besatzungsgebiet zogen. Von einer Schlüsselrolle sozialistischer Westemigranten beim Aufbau von Arbeiterorganisationen und der Umsetzung linker politischer Programmatik zwischen Aachen und Leipzig kann nicht die Rede sein. Die Analyse der ersten Schritte der "guides" im besetzten Deutschland, die 876 877
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VgL Fichter, Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 82. Telegramm des State Department an Polad v. 23.3. 1945; NA, RG 260, 17/257-217. Zu einer ähnlichen Intervention Mitte Februar siehe Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 326. Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 15. Zu der im folgenden beschriebenen Bestandsaufnahme Mitte April 1945 wiederum Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 33Of.
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in einer gemeinsamen Bilanz jetzt unter die Lupe genommen wurden, zeigte das sofort. 879 Ein Mitarbeiter des OSS eröffnete die Aussprache in London Mitte April 1945 mit dem Vorwurf, "daß ein Mitglied der ersten Gruppe im Gegensatz zum unterschriebenen Vertrag sofort mit politischen Aktivitäten begonnen habe. In einem Falle sei jemand als Inlandssekretär der SPD aufgetreten und hätte versucht, sich selbst eine Legitimation auszufertigen, in einem anderen Falle", so Gottfurchts Aktennotiz, "sei unser Gewerkschaftswiederaufbauprogramm verwendet und aus der Hand gegeben worden. Erfahrungen dieser Art zwängen nun dazu, noch einmal mit jedem Einzelnen der zweiten Gruppe zu sprechen und ganz klar zu machen, wie die Funktionen aussähen. Außer Korrespondenz persönlicher Art mit der Familie könnten Berichterstattungen nicht geduldet werden. Die Leute haben nur eine Aufgabe: sich mit der Bevölkerung zu mischen und mit ihr zu leben. Nur so seien sie wichtig, nicht irgendwie als ,Officials'. Für eine bestimmte Periode, deren Dauer nicht genau fixiert werden kann, seien diese Leute für uns nicht vorhanden (,For a certain period you will loose them')." Ein anderer OSS-Mitarbeiter ergänzte die Vorhaltungen über die "unangebrachten politischen Aktivitäten. Er wies darauf hin, daß gute Leute in größerer Zahl an Ort und Stelle gefunden wurden, daß diese z. T. schon direkte Verbindungen mit anderen USA-Stellen hatten, daß sich Überschneidungen und unangenehme Situationen ergaben." Gottfurcht und Ollenhauer entgegneten auf diese Vorhaltungen, sie wollten diese voreiligen Aktivitäten nicht entschuldigen, aber die Leute seien ursprünglich für die "guide"-Funktion ausgesucht worden, und dann sei das besprochene Training ausgeblieben. Gewerkschaftliche Aktivitäten seien durch Eisenhowers Verordnungen erlaubt, und es sei nur nötig, sich über den richtigen Zeitpunkt zu verständigen. Die Erörterung des nächsten Tagesordnungspunktes fiel nicht weniger ernüchternd aus: "Eine längere Aussprache", so die Notiz, "fand statt über die Möglichkeit einer Abreise für Ollenhauer und Gottfurcht. Abweichend von bisherigen Unterhaltungen wurde darauf hingewiesen, daß unser Erscheinen in D. bereits in sich selbst eine politische Handlung sei, daß wir verständlicherweise sofort politisch oder gewerkschaftlich aktiv sein wollten und daß man demzufolge für eine im Augenblick nicht übersehbare Periode Funktionären unseres Grades kaum Gelegenheit bieten könne. Das könne sich ändern, aber Erfahrungen und Beobachtungen an Ort und Stelle zeigten, daß die Entwicklung langsam sein würde. (In der ganzen Unterhaltung wurde nicht einmal der Versuch gemacht, uns zu fragen, ob wir etwa für die jetzt vorgesehene mehr technische Arbeit Interesse hätten.) Wir wiesen darauf hin, daß wir bis jetzt andere Stellen nicht bemüht hätten, wir haben uns darauf verlassen, daß auch für uns die Reisemöglichkeiten geschaffen werden würden durch OSS, wir hätten weder mit USGCC noch mit Engländern verhandelt, bei denen wir wahrscheinlich sowieso wegen der zu engen Beziehungen mit USA-Stellen tabu seien. Wir betonten, wie ernsthaft die Sache sei und welche Konsequenzen sich ergeben können, wenn wir etwa 6 Monate nach einer von den Russen in Berlin geförderten Gewerkschaftsgründung dort erscheinen würden." Zum Schluß brachten Gottfurcht und Ollenhauer ihr "Bedauern darüber zum Ausdruck, daß die Kollektiv-Idee des ganzen Planes geopfert worden sei zugunsten 879
Vgl. dazu die Aktennotiz Gottfurchts über eine Besprechung zwischen mehreren Mitarbeitern des OSS, ihm selbst und Ollenhauer am 12.4. 1945; DGB-Archiv, Material Gottfurcht, 8444/Secret, BI. 28.
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einer individuellen Auswertung von Persönlichkeiten, und wir wiesen darauf hin, daß wir den Versuch, die Dinge ,unpolitisch' zu behandeln, für mehr als bedenklich halten und vor den Folgen warnen". Ollenhauer war von den ersten Resultaten so enttäuscht, daß er den Einsatz der Genossen in Deutschland ein "Trauerspiel" nannte. 880 Es waren wohl nicht nur die Interventionen des State Department gewesen, sondern auch die unerhörten militärischen Fortschritte, die die Alliierten im Westen seit Mitte März - genau zu der Zeit, als von OSS die ersten "guides" in das besetzte Gebiet eingeschleust wurden - gemacht hatten, sowie die unerwartet guten Erfahrungen mit der Kooperationsbereitschaft einheimischer Regimegegner, die den Kurswert der Emissäre aus dem Exil rasch hatten sinken lassen. Die Berichte der nach Deutschland eingeschleusten Arbeiterführer, die jetzt nach und nach in London eingingen, geben einen Eindruck davon, welchen schier unübersteigbaren Hindernissen die sozialistischen Emissäre im Besatzungsgebiet gegenüberstanden, und sie zeigen auch, wie unzureichend die Vorstellungen waren, die sich die Londoner Exilpolitiker von den Verhältnissen im zerstörten Deutschland gemacht hatten. Wilhe1m Heidorn alias Werner Hansen, der von der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis zur Zerschlagung der Gruppe durch die Gestapo 1937 die Widerstandstätigkeit des ISK in Köln und im Rheinland organisiert hatte88I , traf keine Woche nach der amerikanischen Besetzung am 6. März 1945 wieder in der Stadt ein, von der aus er Jahre zuvor in die Emigration gegangen war. Zunächst sah er sich um in Köln. Wie die Bevölkerung dort seit vielen Monaten in den Trümmern ihrer Stadt hauste, erschien ihm "unfaßbar", unfaßbar auch, wie der Bombenkrieg die Menschen dort verändert hatte. Gegenwärtig würden zwar "alle Schwierigkeiten dieser Übergangszeit" noch davon überdeckt, "daß es keine Bombenteppiche mehr gibt", schrieb er einige Wochen später, doch was ihm darüber alles erzählt worden sei, könne er mit Worten nicht wiedergeben: "Selbst starke Männer denken noch mit Grauen an diese Zeit, die all ihre FronterIebnisse aus dem vorigen Krieg in den Schatten stellte. Fast alle haben dadurch irgendeinen kleinen Knacks bekommen. Entweder sind sie mit den Nerven runter, haben einen Herzfehler oder ihre Lunge ist nicht in Ordnung."882 Nationalsozialismus und Krieg, schrieb Hansen den Genossen in London, hätten der Arbeiterbewegung schwerste Schäden beigebracht: "Im ganzen haben die Nazis und die Bombardierungen in der Arbeiterbewegung eine grauenhafte Ernte gehalten, schlimmer offenbar, als wir annahmen. Es ist eine mühselige Arbeit, die wenigen Menschen zusammenzusuchen, die diese furchtbare Zeit lebendig und noch einigermaßen gesund an Leib und Seele überstanden haben." Doch entdeckte Hansen auch Glut unter der Asche. Sie scheine, berichtete er nach England, nur der Zufuhr frischer Luft zu bedürfen, um wieder aufzuglimmen: "Daß die alte Gesinnung der Arbeiterbewegung nicht tot ist, habe ich bereits in einigen Unterhaltungen spüren können. So hatte ich z. B. eine einstündige Unterhaltung mit fünf früheren kleineren Funktionä880 881
882
Brief Ollenhauers an Ernst Roth v. 17.4. 1945; zit. nach Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 33l. Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kamplbundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim 1964, S. 185. Die außerordentlich lebendigen und aufschlußreichen Berichte Hansens von seiner Mission in Köln 1945 an Willi Eichier in London wurden erstmals bei Rüther, Zusammenbruch, umfassend ausgewertet. Dieser Arbeit, S. 35 ff. (Manuskriptfassung), sind die folgenden Zitate aus Hansens Berichten entnommen.
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ren der SPD und der Gewerkschaften (Betriebskassierer, Betriebsfunktionäre). Auch bei ihnen war zunächst die Meinung vorhanden, daß man auf Entscheidungen von oben zu warten habe und daß die Amerikaner es schon machen würden. Doch als ich ihnen im Laufe der Unterhaltung klar machte, wieviel von ihrer eigenen Initiative im Betrieb und in ihren Wohnbezirken abhängt, kam etwas von dem Geist in unsere Diskussion, den ich oft in unserer illegalen Zeit spürte. Sie wurden erregt, bekamen rote Ohren, machten Vorschläge und eine schöne Stimmung von Bereitschaft und Mitarbeit wurde lebendig." Motivierung und Aufforderung zu Eigeninitiative waren gewiß Aufgaben, die ein Mann wie Werner Hansen, der in der Illegalität erfahren hatte, wie mühselig es war, wenigstens Anspruch und Idee der Arbeiterbewegung lebendig zu erhalten, nicht geringschätzen konnte, doch von den Zielen, die die Londoner sozialistische Emigration bei ihrer Zusammenarbeit mit OSS ansteuerte, so mußte er sich sagen, war er mit dem, was er in Köln tun konnte, sehr weit entfernt. Nach fast einem Vierteljahr hatte er bereits den Eindruck, daß sich der Einfluß der Linken in der Stadt nach wie vor in sehr engen Grenzen hielt. Am 26. Mai 1945 schrieb Hansen an Willi Eichler: "Manchmal bin ich verzweifelt, wenn ich sehe, wie begrenzt meine Möglichkeiten sind, hier etwas wirklich Positives zu tun. Doch ich mache weiter, wenn im wesentlichen auch als Beobachter." Dieselbe Desillusionierung erlebte Robert Neumann, SAP-Mitglied und seit 1942 in wichtigen Programmkommissionen des sozialistischen Exils in Großbritannien tätig. Ebenso wie Hansen hatte er London mit der ersten OSS-Gruppe am 9. März 1945 verlassen. Auch er kam zunächst nach Köln. Auf einer Postkarte an seine Lebensgefährtin in England schrieb er drei Wochen später von dort: "Hier ist es ganz milde gesagt, Sch ... Nicht nur was Du siehst ist so furchtbar, nein, auch die Menschen sind so. Du hast den Eindruck, sie sind alle verrückt. Was die alles glauben und was sie nicht glauben, ist so unlogisch, daß Du aus der Haut fahren möchtest." Mitte April berichtete er ganz ähnlich wie Hansen: "Hier sieht alles anders aus als wir uns das je vorstellen konnten. Eine deutsche bombardierte Stadt ist auf Jahre fertig. Es gibt hier Orte, wo nicht mehr ein Haus steht. Es ist sehr bitter, aber die Menschen sind besser als wir gedacht haben. Es gibt noch eine ganze Menge Genossen und auch andere, die ausgesprochen Anti sind." Ein weiterer Brief Neumanns datiert vom 7. Mai 1945, als bereits weitere "guides" aus England zu ihm gestoßen waren. Es ginge ihm persönlich sehr gut in seiner "Field Base" der U.S. Army ("leben wie Gott in Frankreich"). "Wir wären ja schon feste an der Arbeit", fuhr er dann fort, "wenn wir wüßten, was wir sollten. Ein Teil hatte gedacht, daß sie Präsident vom Arbeitsamt oder Bürgermeister werden würden, und sind jetzt ganz geknickt, daß damit nichts ist ... Hier wäre es schon möglich, etwas anzufangen, aber hier wollen sie uns nicht haben."883 Als regelrechtes Desaster erlebte Neumann seinen Einsatz in Wiesbaden: 10 von 27 Gewerkschaftern im Alter zwischen 40 und 70 Jahren, die auf vorbereiteten Listen standen, waren tot, drei waren noch bei der Wehrmacht oder in Kriegsgefangenschaft, einer wohnte nicht mehr in Wiesbaden. Nur hinter fünf Namen konnte er "lebt" vermerken; als die Liste nach
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Postkarte bzw. Briefe Neumanns v. 28. 3.1945,12./13.4.1945 und 7. 5.1945; zit. nach Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 41 H.
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London zurückgelangte, stand darauf nur eine einzige Anschrift, mit der etwas anzufangen war. 884 Die deutschen "guides" des OSS mußten als erste erfahren, daß die revolutionär getönten sozialistischen Sofort- und Übergangsprogramme des Exils mit ihren detaillierten Vorgaben zum sofortigen Aufbau der Organisationen der Arbeiterklasse innerhalb und außerhalb der Betriebe auf falschen Vorstellungen und übertriebenen Erwartungen beruhten. Ihnen wurde klar, daß der Einsatz von eingeschleusten Arbeiterfunktionären, an den das Londoner Exil große Hoffnungen geknüpft hatte, letztlich ein "Schlag ins Wasser"885 war und der erhoffte politisch-praktische Effekt der Aktion nur "gering"886 sein würde. Gleichwohl gaben sie den entstehenden lokalen und betrieblichen Ausschüssen in den großen Städten aber doch "bedeutende programmatische und organisatorische Hilfestellung"887. Die eingeschleusten Funktionäre kannten die Debatten des Exils und brachten die wichtigsten Programmschriften mit. Sie waren sowohl für die Besatzungsoffiziere wie für die deutschen politischen Aktivisten gutinformierte und damit auch mit einem gewissen (wenn auch konkret schwer nachweisbaren) Einfluß ausgestattete Gesprächspartner und Mittler. Die "guides" konnten in ihrem überzeugenden sozialistischen Engagement für eine Arbeiterschaft, die sich politisch wieder zu finden versuchte, von unmittelbar motivierender und beflügelnder Wirkung sein, und schließlich öffneten sie mit ihren Berichten aus dem besetzten Gebiet den Exilpolitikern frühzeitig die Augen über die wirklichen Verhältnisse im Deutschland nach Hitler. Wahrscheinlich zählten die von OSS eingeschleusten sozialdemokratischen und kommunistischen Kader sogar zu den kräftigsten Initiatoren der gemeinhin als autochthon beschriebenen ,,Arbeiterinitiative" im Jahre 1945; in der Tat fällt "die Identität der Einsatzorte der OSS-Abgesandten und deren Verbindungsstrukturen mit lokalen Schwerpunkten der Antifa-Bewegung unmittelbar ins Auge"888. Daß hinter der Einschleusungsaktion bzw. deren Entpolitisierung eine gezielte amerikanische Strategie zur Eindämmung der links VOn der Sozialdemokratie stehenden politischen Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung gestanden habe, wird nicht allein dadurch widerlegt, daß Louis A. Wiesner von der Political Division der Militärregierung - gewiß kein Sympathisant kommunistischer Bestrebungen - nicht unbedingt die Tatsache der Rückführung der Exilfunktionäre als solche, sondern die eigenmächtig-konspiratorische Art des Vorgehens des amerikanischen Geheimdienstes ein Dorn im Auge war, sondern insbesondere auch durch die Tatsache, daß OSS bzw. Special Force Headquarters vor und nach der Kapitulation mindestens so viele orthodox kommunistische wie linkssozialistische und sozialdemokratische Emigranten als "guides" in das Besatzungsgebiet brachten.
884 885 886 887
888
Vgl. Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 337. Ebenda. Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 15. Lutz Niethammer, Strukturreform und Wachstumspakt. Westeuropäische Bedingungen der einheitsgewerkschaftlichen Bewegung nach dem Zusammenbruch des Faschismus, in: Heinz-Oskar Vetter (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 337. Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 341. Im Lichte von Umfang und regionaler Verteilung der Einschleusungsaktionen der westlichen Geheimdienste 1945 könnte eine Reinterpretation der Ergebnisse des von Lutz Niethammer, Ulrich Borsdorf und Peter Brandt herausgegebenen Pionierwerks Arbeiterinitiative 1945 zu weiterführenden Resultaten gelangen. Zum Verhältnis der Anzahl der eingeschleusten Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten vgl. ebenfalls Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 339f.
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Im Frühsommer 1945 hatte die Kontroverse um die Einschleusung sozialistischer Emigranten für den Political Advisor viel von ihrer anfänglichen Schärfe verloren. Mitte Juni erfuhr er, daß entgegen der von OSS gegebenen Zusagen mittlerweile bereits "einige dreißig" im Solde des Geheimdienstes stehende Emigranten aktiv am Aufbau von Gewerkschaftsgruppen mitarbeiteten, also nicht nur als "guides" fungierten, sondern sich politisch betätigten. In einem Memorandum für Murphy hielten zwei seiner Mitarbeiter nunmehr dazu fest: "Die Dinge sind schon zu weit vorangeschritten, als daß wir jetzt noch eine große Sache daraus machen sollten." Außerdem erscheine es angebracht, den anfangs bezogenen strikten Standpunkt im Lichte der Entwicklung zu überprüfen, zumal es Anzeichen gebe, daß dies das State Department auch tue. 889 Der Political Advisor unterließ es denn auch, in dieser Sache einen weiteren Konflikt mit OSS oder mit Stabsoffizieren bei SHAEF zu riskieren, die dem Einsatz von Emigranten ebenfalls nicht strikt ablehnend gegenüberstanden. Er wahrte jetzt Zurückhaltung, denn gegenüber den Problemen der Besatzungspolitik, wie sie sich nach und nach herausschälten, war die Emigrantenfrage nicht einmal mehr von drittrangiger Bedeutung. Außerdem zeichnete es sich ab, daß das politische Betätigungsverbot bald auch im Besatzungsgebiet des Alliierten Oberkommandos fallen würde. Angesichts der Praktiken im sowjetisch besetzten Territorium wirkte es ohnehin nicht nur unzeitgemäß puristisch, es war auch politisch unklug. Vielleicht hätte der Politische Berater General Eisenhowers den Einsatz von deutschen sozialistischen Emigranten schon eher mit etwas mehr Gelassenheit betrachtet, wenn OSS und die Intelligence-Organe von SHAEF nicht auch diesmal wieder - ähnlich wie einige Wochen zuvor im Verlaufe des ,,Aachen Scandal"890 - ihr Quentchen Öl ins Feuer gegossen hätten. Im Apparat der amerikanischen Besatzungsmacht erschraken auch diesmal wieder einige vor dem, was andere Angehörige desselben Apparates aufgebaut, aufgebauscht und als "deutsche Realitäten" ausgegeben hatten. Mitte April 1945 lieferte nämlich die Psychological Warfare Division der 9. US-Armee in einem Intelligence-Bericht, der von den Offizieren der Militärverwaltung natürlich aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde, einige (wie sie es nannte) "Fakten aus dem Ruhrgebiet"891. Zu diesen "Fakten" gehörte eine "lockere regionale Organisation auf einer Anti-Nazi-Plattform" im Raum Dortmund: "Ein Teil der Leitung", so war erläutert, "wird von Arbeiterführern gestellt, die rechtzeitig nach England entkommen sind und mit Hilfe sowohl von OSS wie auch der Briten zurückkehrten, um Untergrundbewegungen ins Leben zu rufen." Militärverwaltung wie Political Advisor konnten aus dieser knappen Feststellung immerhin herauslesen, daß im Ruhrgebiet offenbar eine über das Lokale hinausgreifende, womöglich schwer kontrollierbare Antifa-Bewegung im Entstehen war und daß dahinter vom Geheimdienst eingeschleuste deutsche Arbeiterführer steckten. Dortmund war für PWD aber nicht das einzige Zentrum solcher und ähnlicher Initiativen. Über Bochum wurde eine Mitteilung gemacht, die wahrlich aufhorchen lassen mußte: "Diese Stadt ist eines der Zentren, von denen eine vereinigte Anti-Nazi-Organisation, die nach nationalem Rahmen strebt, 889
890 891
Siehe hierzu Wiesners Memorandum ,,Activities of German Refugees Brought into Germany by OSS" v. 15. 6. 1945 und den für Robert Murphy gedachten Kommentar von Perry Laukhoff v. 19. 6. 1945 dazu; NA, RG 84, Polad TS 32/10. Vgl. dazu III/2. Ninth V.S. Army, PWD, Report v. 16.4. 1945; NA, RG 407, Box 2906, File Nr. 109-2.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
sich nach Dortmund, Essen und anderen Gemeinden des Ruhrgebiets ausbreitet. JuPP Kappius, früher führend im Internationalen Sozialistischen Kampfbund, einer Organisation, die in der Mitte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten stand, traf im September 1944 in Bochum ein, um den Versuch zu machen, eine anti-nazistische Revolte zu organisieren. Er wurde mit Hilfe von OSS und der Spezialverbände der Briten dorthin geschickt, scheiterte aber mit seiner primären Aufgabe. Jedoch hat er ein Siebenerkomitee und etliche hundert weitere verläßliche Männer für die künftige Arbeit organisiert." Eine ausführliche, ebenfalls Mitte April 1945 erstellte "Socialist Activity and Opinion in the Ruhr" überschriebene Studie des OSS892 zu derselben "Organisation" in Bochum beschrieb deren informelles, bereits vor der Kapitulation existierendes, von Bremen bis Ulm, von Bochum bis Göttingen beinahe über ganz Deutschland gespanntes Kontaktnetz. Zudem konnte sich auch ein skeptischer Leser kaum des Eindrucks erwehren, von Bochum aus sei offenbar beinahe jederzeit so etwas wie eine deutsche sozialistische Massenbewegung ins Leben zu rufen. "Für den Fall formeller Organisation dieser Gruppe", so schätzte der Informant, "könnten im Ruhrgebiet einige 20.000 Mitglieder auf die Beine gebracht werden, ein Viertel davon Frauen. Die Anhänger sind zumeist alte Sozialisten und Gewerkschaftsmitglieder, die Mehrheit Metallarbeiter." Seine Professionalität verbot es dem OSS zu enthüllen, wer der Informant war, und vor allem, daß OSS diesen selbst nach Westdeutschland eingeschleust hatte. Durch Lüftung dieses Geheimnisses hätte der Geheimdienst zwar die Standards der Branche verletzt, ansonsten damit aber kaum Schaden stiften können. Beides, Operation und Namen des Agenten, war schon der drei Wochen früher vorbereiteten Studie von Psychological Warfare zu entnehmen gewesen. Ein Blick auf die tatsächlichen Ereignisse um JupP Kappius in Bochum zeigt schnell, daß die beiden Intelligence-Agenturen die Sorgfalt bei der Berichterstattung wieder einmal zugunsten der Ressortprofilierung durch Mitteilung besonders erstaunlicher Sachverhalte hintangestellt hatten. Der 1907 in Bochum geborene Josef Oupp) Kappius 893 , Konstrukteur im Stahlbau, war in seiner Heimatstadt schon vor 1933 Gewerkschafter und führendes Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfhundes mit engen Kontakten nach Köln (dem westdeutschen Zentrum des ISK) gewesen. Insgesamt hatte der Bund 1933 etwa 300 ordentliche Mitglieder und einen Freundeskreis zwischen 500 und 1000 Personen. Aus Köln kannte Kappius auch Wilhelm Heidorn alias Werner Hansen. Nach der Zerschlagung des konspirativen Netzes des "Kampfhundes" durch die Gestapo 1937 verließ er Deutschland. Auf verschlungenen Wegen, zeitweilig als "feindlicher Ausländer" nach Australien verschickt, gelangte Kappius 1944 nach England zurück, wo er zusammen mit elf weiteren deutschen Sozialisten im Frühjahr und Sommer für subversive Aktionen in den noch unbesetzten Teilen Deutschlands ausgebildet wurde. Dies war nun freilich ein Einsatz, der mit den geschilderten, im März 1945 beginnenden Einschleusungen deutscher OSS-"guides" in das westliche Besatzungsgebiet
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OSS, London, Studie A-55294 v. 18.4. 1945, verbreitet am 8. 5. 1945; NA, RG 226, 12 9300. Zu Lebenslauf und Einsatz von JupP Kappius 1944/45 vgl. die Darstellung bei Link, IjB/ISK, S. 313 ff. Vgl. auch: Pietsch, Militärregierung, S. 15. Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 331 ff. Grebing (Hrsg.), Lehrstücke, S. 343 f.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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nichts zu tun hatte. 894 Am 1. September 1944 wurde Kappius (Deckname "Downend"), dessen Frau zu diesem Zeitpunkt von der Schweiz aus bereits eine vorbereitende Reise unternommen hatte, in der Nähe des emsländischen Papenburg mit dem Fallschirm abgesetzt. Von dort aus schlug er sich nach Bochum durch. JuPP Kappius und seine Frau waren die einzigen an diesen höchst riskanten Infiltrationsoperationen beteiligten Mitglieder des ISK ("einer politischen Untergrundgruppe, die gegen den Kommunismus ist, gegen Kapitalismus, Schnaps, Fleischgenuß, Tabak USW."895), die sich bis zur Ankunft der Amerikaner in Deutschland halten konnten. Die ins Auge gefaßte Durchführung von Sabotage-Aktionen oder gar der Aufbau einer militanten Widerstandsorganisation erwiesen sich bald als illusorisch, schon allein deswegen, weil offenbar sämtliche ISK-Angehörige, mit denen Kappius Kontakt aufnahm, diese Art von hazardeusem Aktionismus als Gefährdung der verbliebenen Rumpforganisation ablehnten. Wahrscheinlich hatte auch Kappius selbst von Anfang an neben der Informationsbeschaffung für OSS hauptsächlich die Bildung sozialistischer Kader im Auge gehabt. JuPP und Anne Kappius wollten im Ruhrgebiet Kontaktgruppen aufbauen, "die im geeigneten Moment die Führungspositionen in Betrieben und Kommunen besetzen sollten"896. Diese Aufgabe schien um so dringlicher, als die Londoner Spitze des ISK befürchtete, nach Etablierung der Militärregierung werde es unmöglich sein, sozialistisch-revolutionäre Maßnahmen durchzusetzen. Deshalb kam alles darauf an, in der Übergangszeit "eine sozialistische Umgestaltung auf lokaler Ebene - ausgehend von den Betrieben - einzuleiten und vollendete Tatsachen zu schaffen", die von der Militärverwaltung vielleicht anerkannt würden. In Bochum gelang es Kappius (der im April 1945 dann dem OSS seinen Einsatz in einem ausführlichen "Erlebnisbericht" beschrieb) offenbar, bald nach seiner Ankunft einen engeren Informationszirkel von sieben Sozialisten unterschiedlicher Herkunft zu bilden, von denen jeder wiederum über einige Kontaktpersonen in Betrieben und Behörden verfügte; auch im nahe gelegenen Essen, Witte oder Schwerte konnte Kappius zu "illegalen Vertrauensleuten in direkte oder indirekte Verbindung" treten. 897 Große Schwierigkeiten bereitete wegen der Bombenangriffe und der immer schlechter werdenden Verkehrsverhältnisse bereits der Kontakt zu Gesinnungsgenossen in etwas entfernter gelegenen Städten des Reviers. Über ein ISK-Mitglied, der als Vertreter einer Großhandlung weiter herumkam - so schreibt Kappius in seinem "Erlebnisbericht" -, sei es ihm auch gelungen, Verbindung zu einer Handvoll Gesinnungsgenossen bis nach Hamburg und Darmstadt (sporadisch sogar bis Ulm) herzustellen. Der ebenfalls dem ISK verbundene Großhändler, so Kappius weiter, unterhalte übrigens einen aus Sozialisten und ehemaligen Gewerkschaftern gebildeten Kreis, der sich "Friedensgesellschaft" nenne: "Diese Friedensgesellschaftsleute", teilte er dem Geheimdienst im April 1945 mit, "haben es vermocht, ihre Anhänger in Westdeutschland zusammenzuhalten, und sie schätzen
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"Direct Penetration of Gennany", die ab August 1944 durchgeführten Infiltrationsoperationen des OSS gegen Deutschland - darunter auch der Einsatz von Kappius - sind beschrieben bei Brown, Secret War Report, S. 541 ff . So beschrieb der 1946 unter der Federführung von Kermit Roosevelt erstellte "Official War Report of the Office of Strategie Services" den ISK; ebenda, S. 545. Link, IjB/ISK, S. 315; ebenda, S. 313, auch das folgende Zitat. Ebenda, S. 317. Das Zitat aus dem "Erlebnisbericht" von Kappius findet sich ebenda, S. 315, Anm. 37.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ihre Gefolgschaft, d.h. die Zahl derer, die sofort Mitglieder würden, sobald die Partei sich organisieren darf, auf 20.000." Dies also waren die Informationen, aus denen OSS und Psychological Warfare ihre machtvollen Organisationen und Aktionszentren im eben besetzten Deutschland konstruiert hatten. Was sie den Offizieren der Militärregierung nicht mitteilten, Kappius selbst aber detailliert berichtet hatte, war, daß die Gestapo mit Hilfe eines Spitzels in das mühevoll geknüpfte Kontaktnetz eingedrungen und es schon Ende 1944 zerrissen hatte. Immerhin gelang es einigen der Genossen, auf der Basis der eingeschleusten Informationen weiterzuarbeiten und programmatische Anregungen (z. B. nach Bremen 898 ) weiterzutragen und bei Kriegsende nutzbar zu machen. Kappius selbst wurde nach der Besetzung Bochums am 9. April 1945 von den Amerikanern nach England ausgeflogen und kehrte erst im Juli ins Revier zurück. Sogar am Ort seines Einsatzes selbst trugen die mutigen Aktivitäten von Kappius und seinen "unionistischen" Freunden nur sehr karge Früchte. Sie gewannen keinen Einfluß in der Stadt und auf die von der Militärregierung eingesetzte Stadtverwaltung, sondern scheinen lediglich als Hilfsorgane des Field Secret Service eine Zeitlang eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Auch in den Betrieben konnten sie nicht wirklich Fuß fassen. Im Sommer gingen die "Unionisten" um Kappius in der wiedergegründeten SPD auf. "Dem Gewicht der Tradition hatte die Union keine Bewährung in der Aktion gegenüberstellen können."899
Der Schein der "Einheit der Arbeiterklasse"
Der von OSS am Tage der deutschen Kapitulation herausgegebene, auf den Mitteilungen des ISK-Mannes Kappius beruhende Überblick über sozialistische Auffassungen und Aktivitäten im Ruhrgebiet enthielt Informationen zum Verhältnis von Sozialisten und Kommunisten, über die mancher Offizier der Militärverwaltung erstaunt gewesen sein muß. Der Informant des Geheimdienstes, so war nämlich zu lesen, unterscheide zwischen solchen Kommunisten, die noch immer linientreue Parteigänger seien, und solchen, die inzwischen mit der KPD und der Dritten Internationale gebrochen hätten. Nur letztere seien "anständige Leute, die die Welt, nach ihren Vorstellungen, zu bessern suchten"90o. Eine Zusammenarbeit mit orthodoxen Kommunisten könne es nicht geben: "Der Informant sagte, daß ein Bericht, der deutsche Sozialisten mit Kommunisten in Verbindung bringe, ohne Grundlage sei ... Einheit der Anhänger der Linken in Deutschland könne nicht erreicht werden, wenn die Kommunisten der Leitung Rußlands folgten." Eine so radikale Absage wie diese, formuliert von einem scheinbar aktiven und einflußreichen Sozialisten, war bemerkenswert, denn sie widersprach den vereinzelt laut gewordenen programmatischen Erklärungen der Arbeiterschaft, die die Besatzungsoffiziere bis dahin in Deutschland vernommen hatten. In der Proklamation von Belegschaftsvertretern des Bergbaus, die Ende April 1945 auf der Zeche Prinz Regent in Bochum zusammengetroffen waren 90 \ standen beispielsweise emphatische Sätze wie: "Niemals wieder darf es zu parteipolitischen oder religiösen 898 899 900 901
Vgl. den Hinweis bei Foitzik, Revolution und Demokratie, S. 331. Pietsch, Militärregierung, S. 148. OSS, London, Studie A-55294 v. 18.4. 1945, verbreitet am 8. 5. 1945; NA, RG 226, 12 9300. Der Text ist abgedruckt bei Kleßmann, Friedemann, Streiks und Hungerrnärsche, S. 93 f.
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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Auseinandersetzungen kommen, wie sie früher in kräftezehrenden Bruderkämpfen scheußlichen Ausdruck gefunden hatten. Keine Macht der Welt soll noch einmal die Arbeiterschaft allgemein und die Bergarbeiter insbesondere zerklüften, spalten und gegeneinander hetzen. Nicht noch einmal werden wir uns zerfleischen, während die Todfeinde der Arbeiterklasse billige Triumphe feiern und ihre Knute über uns schwingen." In den höheren Stäben der Militärregierung dürften im Mai 1945 noch weitere die "Einheit der Arbeiterklasse" propagierende Aufrufe bekannt gewesen sem. Für die Militärverwaltung war es unmöglich, bereits in den ersten Wochen der Besetzung abzuschätzen, wieviel politischer Gehalt in solchen Erklärungen steckte und ob sich aus der da und dort zu beobachtenden Kooperation ehemaliger Sozialdemokraten und Kommunisten in Betrieben oder gewerkschaftlichen Gründungszirkeln eines Tages eine Einheitspartei entwickeln würde. Auch in anderen europäischen Ländern war eine Annäherung bei der Arbeiterparteien zu beobachten, und es war nicht auszuschließen, daß der mörderische Druck, dem in Deutschland Kommunisten wie Sozialdemokraten ausgesetzt gewesen waren, zu einer nachhaltigen Umformung und ideologisch-strategischen Umorientierung in den beiden großen Arbeiterparteien und den sozialistischen Splittergruppen geführt hatte. Allenfalls die Beobachtung der Londoner "Union" deutscher Linkssozialisten und Sozialdemokraten hätte der Besatzungsmacht Indizien dafür liefern können, daß dort - spätestens seit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 - die Idee der "Einheit der Arbeiterklasse" endgültig ad acta gelegt worden war, weil die demokratischen Sozialisten dem orthodoxen Kommunismus und Stalinismus inzwischen in "schroffer Unversöhnlichkeit" gegenüberstanden. 902 Doch das Exil, so mußte die Überlegung bei der Militärregierung andererseits lauten, würde für die Entfaltung der Arbeiterbewegung im Nachkriegsdeutschland vermutlich nicht maßgebend sein. Zweifellos bestand in Deutschland nach der Befreiung 1945 auf der Linken eine "gefühlsmäßige Disposition", eine "eher emotional begründete Neigung" zu gemeinsamer sozialistischer Aktion und zum Aufbau einer einheitlichen sozialistischen Partei 903 ; dies galt für die einfachen Mitglieder in den Gewerkschaften und Arbeiterparteien wahrscheinlich in stärkerem Maße als für die Masse der Funktionäre. 904 Bis zum Sommer machte sich in der Form verschiedener "politischer und gewerkschaftlicher Kooperationsgebilde" an mehreren Orten in Deutschland der Wille zu einer "neuen sozialistischen Einheit"90:; bemerkbar, wobei die Sozialdemokraten meist den drängenden Part hatten. Die vermeintliche Kraft dieser frühen Kooperationsgebilde galt manchem rückschauenden Betrachter sogar als Gradmesser und Beleg für den Ein-
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Mehringer, Waldemar von Knoeringen, S. 14. Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Hannover 1964, S. 286. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin 1982, S. 67. Vgl. dagegen Sywottek, Volksdemokratie. In Hamburg hatten sich nach Konstituierung der von ehemaligen Funktionären der SPD, der KPD, des ISK und der SAP gegründeten "Sozialistischen Freien Gewerkschaften" binnen weniger Wochen mehr als 55.000 Mitglieder eingeschrieben. Das stützt die Vermutung, daß Widerstand von der "Basis" kein ausschlaggebender Grund für das Scheitern der "Einheit der Arbeiterklasse" gewesen sein dürfte. Die Zahlen der SFG-Mitgliedschaft bei Holger Christier, Sozialdemokratie und Kommunismus. Die Politik der SPD und der KPD in Hamburg 1945-1949, Hamburg 1975, S. 76. Klotzbach, Staats partei, S. 68.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
heitswillen auf der Linken. 906 Inzwischen herrscht eine nüchternere Auffassung von den Verwirklichungschancen neuer sozialistischer Einheit vor. Nachdem sich die Kenntnis der von Ort zu Ort höchst unterschiedlichen Voraussetzungen der Einheitsbestrebungen907 inzwischen erweitert hat, werden die beiden lange Zeit als Hauptursachen genannten Beweggründe eines vermeintlich so mächtigen Trends zur "Einheit der deutschen Arbeiterklasse" nicht mehr so stark betont wie früher, als gesagt wurde, der elementare Wunsch nach politischer Einheit gehe auf die Lehren zurück, die auf beiden Seiten aus der "Spaltung vor 1933 als einer Bedingung für die Niederlage" der Arbeiterbewegung gezogen worden seien, "psychisch" liege er in der "gemeinsamen Erfahrung der Unterdrückung und des antifaschistischen Widerstandes" begründet. 90s Es hat sich gezeigt, daß es zu kurz griffe, von "einer Art proletarischer Harmonie" auszugehen 909 , sondern daß die Funktionäre bei der Arbeiterparteien vielmehr meist eben doch "sehr schnell in die Atmosphäre der Feindschaft zurückfielen, die das Verhältnis von SPD und KPD vor 1933 bestimmt hatte"910, und daß sich "rasch wieder die traditionellen Strukturen von sozialistischer bzw. sozialdemokratischer sowie kommunistischer Organisationen und Politik durchsetzten"911. Die von Einheitsrhetorik oft noch überdeckten Differenzen im Praktischen und Ideologischen drangen nicht überall sogleich über die Gründungszirkel der örtlichen Kooperationsgebilde hinaus, doch schon lange bevor sich Kurt Schumachers strikter Abgrenzungskurs gegenüber der KP ab Sommer 1945 durchzusetzen begann, war bei Kommunisten und Sozialdemokraten das Trennende mindestens ebenso gegenwärtig wie das Einende, emotional begründete Neigungen nicht weniger virulent als emotional begründete Abneigungen. Zu tiefe Verletzungen hatten die feindlichen Brüder schließlich standen sich vielfach die gleichen Personen gegenüber - aus den erbitterten Grabenkämpfen der Weimarer Zeit zurückbehalten. Zu tief saß im übrigen bei den Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten in Deutschland und in der Emigration der durch das Verhalten der Kommunisten sofort wieder bestärkte Zweifel daran, ob die Kommunistische Partei trotz ihrer angeblichen ideologisch-programmatischen Wendung zum demokratischen Reformismus in Wahrheit nicht doch die altvertraute stalinistische Partei geblieben war. Es konnte auf seiten der Sozialdemokraten wie der Kommunisten den Betriebsräten, Gewerkschaftern und Parteisekretären, die nach der Besetzung mit der Rekonstruktion der Institutionen der Arbeiterbewegung begannen, nicht leichtfallen, eine wirkliche innere Kehrtwendung zu vollziehen. 912
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Vgl. Christoph Kleßmann, Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland 1945-1952, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1979, S. 53. So der Hinweis schon bei Sywottek, Volksdemokratie, S. 197. Diese Lesart übernahm Mooser, Arbeiterleben, S. 206, in seine eindrucksvolle Studie. Brandt, Betriebsräte, S. 165. Siehe auch Borsdorf, Ein großer Tag, S. 244. Christier, Sozialdemokratie und Kommunismus, S. 263. Vgl. allgemein die sehr differenzierte zusammenfassende Beurteilung dieser Frage bei Grebing (Hrsg.), Entscheidung für die SPD, S. 25 f. Siehe auch bereits Horst W. Schmollinger, Entstehung und Zerfall der antifaschistischen Aktionseinheit in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstands und des Wiederentstehens der Leipziger Arbeiterparteien 1939 bis September 1945, Diss., Berlin (West) 1976, S. 464 und S. 513fl. So Dietrich Staritz und Herrnann Weber in dem von ihnen herausgegebenen Band: Einheitsfront, Einheitspartei: Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944-1948, Köln 1989, S. 14. Vgl. Klotzbach, Staatspartei, S. 69, zur sozialdemokratischen Seite und die Hinweise bei Pietsch, Militärre-
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Schon bei der Gründung des FDGB in Aachen am 18. März 1945, an der sich zahlreiche Gewerkschaftszirkel orientierten, hatte der Schleier der Einheitsrhetorik verhüllt, daß bei den Wahlen zur Besetzung des Vorstandes von einem einheitlichen sozialdemokratisch-kommunistischen politischen Willen keine Rede sein konnte. 913 Im Konzentrationslager Buchenwald, wo bereits am 1. Mai 1944 eine gemeinsame "Plattform" dort inhaftierter bürgerlicher, sozialistischer und kommunistischer Politiker zustandekam, war nach der Befreiung durch die Amerikaner von der Einheit der Arbeiterklasse ebenfalls nichts zu bemerken. "Symbolisch faßbar" wurde die fortbestehende Spaltung bereits am 1. Mai 1945. An diesem Tag fanden sich die Vertreter aller Nationen mit ihren Landesflaggen auf dem Appellplatz ein. Die deutschen Kommunisten hatten das von den Sozialdemokraten geforderte Schwarz-Rot-Gold abgelehnt und traten unter der roten Fahne mit gelbem fünfzackigem Stern an. 914 "Schon am zweiten Tag nach der Befreiung mußten wir erkennen", schrieb der demokratische Sozialist Hermann Brill nach Jahresfrist, "daß die KPD die alte geblieben war."91j Über vergleichbare Erfahrungen berichtete Werner Hansen aus Köln schon bald nach seiner Einschleusung als OSS_"guide".916 Am 20. April 1945, nach zahlreichen Gesprächen mit unteren und mittleren Funktionären, schrieb der ISK-Mann nach London: "Es ist sogar eine gewisse Bereitschaft da, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, allerdings findet man bei allen, die früher führend in der Arbeiterbewegung waren, nach wie vor ein tiefes Mißtrauen gegenüber einer ,Einheit', die nur kommunistischen Manövern dient." Es habe eine gewisse ,,Auflockerung", aber kaum ein "wirklicher Gesinnungswandel" stattgefunden. Es seien nur wenige, fuhr er fort, "die ihre politische Vergangenheit wirklich kritisch unter die Lupe nehmen wollen. Darum meine ich auch, daß das Aufgelockertsein vielleicht mehr eine gewisse Hilflosigkeit ist, sich in einer neuen Situation zurechtzufinden." Er halte es für möglich, daß sich "alles sehr schnell wieder verhärten" könne: "Bei etwas grundsätzlicheren Unterhaltungen sehe ich die alten Züge bereits wieder herauskommen."917 Die Kluft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten war in Köln bereits bei den ersten Versuchen zur Reorganisation der Arbeiterbewegung zutage getreten. Der erste Versuch zur Gründung einer Gewerkschaft hatte in Köln Ende März 1945 stattgefunden. Nachdem die Kommunisten - die auch hier nicht so bald zu ihrer Linie fanden - zunächst erklärt hatten, die "Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition" (RGO) wieder aufbauen zu wollen, da diese als einzige den Kampf gegen die Nazis geführt habe, lenkten sie dann doch ein und schlossen sich der von alten Funktionären des ADGB und der christlichen Gewerkschaften getragenen Initiative zur Bildung einer Einheitsgewerkschaft an. Die amerikanische Militärregierung vertröstete den sozialdemokratischen Delegationsführer jedoch auf einen späteren Termin. Die acht Mitglieder der kleinen Abordnung verständigten sich deshalb darauf, die Idee der Einheitsgewerkschaft zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Ungeachtet die-
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gierung, S. 126, zur "alten feindlichen Einstellung gegenüber den Sozialdemokraten" bei einem Teil der Altkommunisten. Vgl. oben in diesem Kapitel. Vgl. Manfred Overesch, Hermann Brill und die Neuanfänge deutscher Politik in Thüringen, in: VfZ 27 (1979), S. 524fl.; Zitat auf S. 538. Hermann Brill, Gegen den Strom, in: Wege zum Sozialismus, 1946 H. 1, S. 96. Siehe hierzu oben in diesem Kapitel. Bericht Hansens v. 20.4. 1945; zit. nach Rüther, Zusammenbruch, S. 492. Hervorhebung von mir. Der folgende Abriß zu den Divergenzen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten folgt dieser Studie.
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ses Übereinkommens starteten die Kommunisten jedoch einen Alleingang, eröffneten ein Büro und nahmen nun doch Aufnahmeanträge für die RGO entgegen. Von sozialdemokratischer Seite zur Rede gestellt, räumten die KPD-Vertreter zwar ein, "einen Fehler gemacht" zu haben, fuhren aber nichtsdestoweniger mit ihren Aktivitäten zur Wiederbelebung der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition fort. Das veranlaßte Werner Hansen zu dem Kommentar, es würden bereits wieder die "alten bekannten Taktiken der kommunistischen Apparatepolitik" sichtbar. Die amerikanische Besatzungsmacht in Köln scheint den Kommunisten von vornherein ablehnend gegenübergestanden zu sein, denn der Adjutant des Stadtkommandanten scheute sich nicht, in seinem ersten Gespräch mit Hans Böckler - der in der Stadt schnell zum bestimmenden Kopf der Gewerkschaftsbewegung wurde - diesen mehr oder weniger unverhüllt zu Spitzeldiensten gegen die Kommunisten aufzufordern. Der weitere Gang der Gründungsgeschichte im Kölner Raum zeigt, daß auch die beteiligten sozialdemokratischen und christlichen Funktionäre, "die eine stärkere Zusammenformung der staatsbejahenden Kräfte" wünschten, über eine Beteiligung der Kommunisten an der Einheitsgewerkschaft nicht glücklich waren. Als diese sich im Juni dann entsprechend der im Gründungsaufruf der KPD in Berlin festgelegten Parteilinie auf den Kurs einer Zusammenarbeit mit allen antifaschistisch-demokratischen Kräften begaben, waren die parteipolitischen Fronten bereits verhärtet. Der programmatische Schwenk der Kommunisten war nicht dazu angetan, das alte und neue Mißtrauen zwischen den Arbeiterparteien abzubauen. Der gerade aus dem Konzentrationslager zurückgekehrte und nunmehr führende Kölner Gewerkschaftsmann der KPD, Heinz Gerard, so schrieb Werner Hansen damals, sei zwar von den "dummen RGO-Seitensprüngen" abgerückt, doch bedeute das nicht, daß Gerard "in der Zusammenarbeit ehrlicher und zuverlässiger wäre als seine Vorgänger. Er hatte offenbar nur das Glück, spät genug gekommen zu sein, um in dieser Frage die offizielle Parole des Berliner Senders zu hören."91S Auch in Solingen war von "euphorischem Einheitswillen" nichts zu bemerken. Die Beziehungen der Kommunisten (die in der Metallarbeiterstadt vor 1933 die bei weitem stärkste Kraft waren) zu den dortigen Sozialdemokraten seien "nicht gut", fand OSS in einer Field Intelligence Study vom Juni 1945 heraus. 919 Das war nur eine schwache Umschreibung für die Auseinandersetzungen, die sich dort sofort nach der amerikanischen Besetzung entsponnen hatten. Wie häufig, wenn es nicht allein um die Beteuerung der Wünschbarkeit und der historischen Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse, sondern um die rasche Sicherung von lokalen oder innerbetrieblichen Machtpositionen ging, entflammten Streit und erneute Gegnerschaft sofort wieder. 920 Schon geraume Zeit vor der Besetzung gab es hier nämlich Gruppen verschiedener politischer Couleur, die sich vor allem eine Nichtverteidigung ihrer Stadt zum Ziel gesetzt hatten. Lediglich die sozialdemokratische Gruppe war auch auf die Zeit nach dem Einmarsch vorbereitet, denn sie hatte schon über die Besetzung wichtiger Verwaltungsposten debattiert, verfügte bereits über einen Oberbürgermeisterkandidaten, der von der Militärverwaltung dann auch tatsächlich akzeptiert wurde. 918 919
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Ebenda, S. 62 (Manuskriptfassung). Die Field Intelligence Study Nr. 7 des ass ist abgedruckt bei Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 98 ff.; Zitat auf S. 1Ol. Zum folgenden Marßolek, Arbeiterbewegung, S. 79 ff.
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Die Kommunisten, die sich in der Endphase des Krieges sehr aktiv betätigt hatten, konnten bis zu diesem Zeitpunkt in engerem politischen Sinne auf nicht viel mehr als auf ein Flugblatt verweisen, das sie am Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner verbreitet hatten. Es war mit "KPD Solingens" gezeichnet und zielte auf die Wiedergründung der Kommunistischen Partei. Am 18. April 1945, zwei Tage nach der Besetzung, versammelten sich an die hundert Arbeitervertreter, konstituierten die ,,Antifaschistische Volksfront Solingen" und wählten als Vorsitzende einen Sozialdemokraten und einen Kommunisten. Bei dieser feierlichen Gelegenheit, bei der die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterbewegung betont wurde, entstand auch der mit vier Kommunisten, zwei Sozialdemokraten und zwei parteilosen Gewerkschaftern besetzte Aktionsausschuß der "Volksfront". Er sollte die "Organisierung des Überlebens" sowie die Entnazifizierung in die Hand nehmen und trat mit dem Anspruch auf, die Politik und die Personalpolitik der Stadtverwaltung zu bestimmen. Kaum daß sich der Ausschuß konstituiert hatte, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der beiden Arbeiterparteien, weil sich der sozialdemokratische Oberbürgermeister seine Mitarbeiter nach eigenen Vorstellungen ausgesucht hatte. Das Klima im Solinger Ausschuß, der in den folgenden Tagen um eine starke bürgerliche Komponente erweitert wurde und nun über Unterausschüsse in die einzelnen Stadtteile hineinzuwirken suchte, verschlechterte sich Anfang Mai immer mehr. In den Stadtteilausschüssen kamen Übergriffe, Eigenmächtigkeit und sogar Fälschungen von Ausweisen der Militärregierung vor, in den Betrieben forcierte ein dafür abgeordnetes kommunistisches Ausschußmitglied den Aufbau provisorischer, als Vorformen einer Gewerkschaft betrachteter Betriebsvertretungen. Diese sollten sich zwar um die Anerkennung durch die Firmenleitung bemühen (und sich deren Bestätigung in dreifacher Ausfertigung schriftlich geben lassen), doch bei der Mititärregierung wie vermutlich auch bei den Sozialdemokraten im Ausschuß - die aggressiven Betriebskampagnen der Kommunisten von vor 1933 vor Augen - wuchsen das Mißtrauen und der Argwohn. Bereits Mitte Mai kam es aus verschiedenen Anlässen zum Knall, wobei die "parteipolitische Patronage führender Sozialdemokraten in der Kommunalverwaltung"921 nicht der geringste war. Wenige Tage später löste die Militärverwaltung, die immerhin auf untragbare Unregelmäßigkeiten verweisen konnte, den gesamten Solinger Antifa auf. Dies ging ohne irgendwelche Zwischenfälle sang- und klanglos vonstatten. Das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im Solinger AntifaAusschuß war nicht von beiderseitigem Einheitswillen, sondern gegenseitiger Beargwöhnung und scharfer Konkurrenz bestimmt. Der "offene Bruch" stand ohnehin bevor, als die Amerikaner den Ausschuß auflösten, wie auch OSS befand: "Für den Stand der Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ist es bezeichnend", hieß es im Junibericht, "daß die letzteren den Befehl zur Auflösung auf ein Manöver der Sozialdemokraten zurückführten und dazu tendierten, die Militärregierung nur als nichtsahnende Figuren in einer politischen Intrige zu sehen." Die Lage der Gewerkschaften spiegele dieselben "heftigen Konflikte" wider. Die "alte sozialdemokratische Bürokratie", behaupteten die Kommunisten, versuche sie und die katholischen Gewerkschaftsführer von allen Verhandlungen mit der Militärregierung "auszu921
Ebenda, S. 88.
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booten und alle führenden Positionen an sich zu reißen"922. Welche der beiden Seiten hier der anderen mit größerer Berechtigung böse, sich an der Idee der proletarischen Einheit versündigende Absichten unterstellen durfte, ist mit Bestimmtheit nicht zu sagen. Was der maßgebende kommunistische Funktionär Solingens, der nach eigenem Bekenntnis von Anfang an auf eine Volksfront unter kommunistischer Führung hingearbeitet hatte, Anfang Mai 1945 von einer sozialdemokratisch-kommunistischen Einheitspartei auf der Grundlage der Gleichberechtigung hielt, legte er in seiner Schrift über die "Proletarische Einheit" nieder: "Die bolschewistische Partei lehrt", führte er darin aus, "daß gerade die Entfernung der opportunistischen reformistischen und menschewistischen Elemente die leninistische Partei gestärkt hat. Darum ist die Bildung einer solchen Einheitspartei, die auf einem Mischmasch von revolutionären Phrasen und reformistischen Handlungen fundiert ist, falsch."923 Auch hier sollten die Kommunisten ihre sozialdemokratischen Genossen wenige Monate später mit viel gewinnenderen Tönen überraschen. Der Realisierung der "Einheit der Arbeiterklasse" standen in den Industriebetrieben wie in den zahllosen örtlichen Gründungszirkeln der Gewerkschaftsbewegung und der Arbeiterparteien immense, für beide Seiten letztlich nicht übersteigbare Hindernisse entgegen, und zwar schon in den allerersten Wochen nach der alliierten Besetzung. Es waren auch durchaus nicht in erster Linie "auswärtige Einflüsse"924, die den Traum von einer einigen Arbeiterbewegung zunichte machten, sondern das kaum verwunderliche Unvermögen auf beiden Seiten, den aus der Zeit bitterster Fehden herrührenden, tiefsitzenden Argwohn beiseite zu schieben und neues Vertrauen zueinander zu fassen. Nichts fügte jedoch der Idee der Einheit der Arbeiterklasse größeren Schaden zu als "die perfekte Rekonstruktion der ,Linie' in der neuen und doch wieder nur alten KPD"925, deren irritierende Manöver und taktische Wendungen sich bereits bemerkbar zu machen begannen, als die deutsche Kapitulation noch nicht verkündet war. In dem Vierteljahr zwischen der amerikanischen Besetzung des Reviers und dem Berliner Gründungsaufruf der KPD im Juni 1945 kann den Kommunisten kaum verborgen geblieben sein, daß sie, zusätzlich zu der enttäuschenden Tatsache, daß die Masse der Arbeiterschaft nicht recht mobilisierbar war, über nicht eben viele Verbündete verfügten. Die ohnehin skeptischen sozialdemokratischen Funktionäre waren durch den anfänglichen Konfrontationskurs alter Linie verprellr9 26 , fanden sich in ihrem Mißtrauen bestärkt und dachten jedenfalls gar nicht daran, von ihrer betont nichtradikalen, "verantwortungsbewußten" Haltung abzugehen. Fraglos hatten die Kommunisten auch beim Personal der Militärverwaltung nicht allzu viele Sympathisanten. Doch sogar bei den wohlwollendsten, von antikommunistischen Regungen 922
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OSS, Field Intelligence Study Nr. 7 von Juni 1945; abgedruckt bei Borsdorf, Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 98 ff. Programmschrift von Willy Dickhut von Anfang Mai 1945; zit. nach Marßolek, Arbeiterbewegung, S. 244, Anm. 241. Zu den sofort wirksam werdenden "Hypotheken der Vergangenheit" siehe auch die Darstellung der Einigungsbestrebungen in Fürth bei Hans Woller, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 179 f. Christier, Sozialdemokratie und Kommunismus, S. 105. Behr, Pohlmann, Betriebsratshandeln, sprechen von einer "frühen parteipolitischen Spaltung betrieblicher [nteressenvertretung". Vgl. dagegen Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 487. Grebing (Hrsg.), Lehrstücke, S 39. Siehe oben in diesem Kapitel.
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freien Offizieren in den Detachments waren die nach dem Einmarsch auf den Plan tretenden kommunistischen Arbeiterführer rasch in den Ruf von "Störenfrieden" gekommen, weil sie (noch in Unkenntnis der gewandelten "Linie") mit radikaler Rhetorik von sich reden machten und schnell als die treibenden, auch Übergriffe und Unregelmäßigkeiten nicht scheuende Kräfte hinter den vereinzelten frühen Konflikten in Zechen und Stahlwerken zu identifizieren waren. Dies allein genügte, daß die Offiziere der Militärverwaltung - ganz so, wie es auch die Analytiker um Franz Neumann im OSS empfohlen hatten - im Zweifel eher dazu neigten, auf sozialdemokratische als auf kommunistische Arbeitervertreter zu setzen. Beinahe überflüssig zu erwähnen, daß auch die Industrieführer und Manager der großen Unternehmen keinen Anlaß fanden, ihre traditionell feindschaftliehe Einstellung gegenüber den Kommunisten nun einer Überprüfung zu unterziehen. Im Gegenteil, sie wußten, daß Radikale am besten durch die Unterstützung Gemäßigter zu bekämpfen waren. In einem internen Aktenvermerk der Industrie- und Handelskammer Dortmund ist diese Strategie in Zusammenhang mit der Gewerkschaftsbildung auch deutlich formuliert: "Es kann jetzt nur darauf ankommen", hieß es dort, "daß die nichtradikalen Elemente in der Arbeiterschaft in dieser Einheitsgewerkschaft den ihnen zukommenden Einfluß zu gewinnen suchen, um ein Abgleiten in das radikale Extrem zu verhindern. Von seiten der Industrie sind daher die nichtradikalen Elemente in jeder Hinsicht zu unterstützen."927 Im ganzen scheint es, daß Militärverwaltung, Unternehmerschaft und die gemäßigten sozialdemokratischen wie christlichen Arbeiterfunktionäre inden ersten Monaten der Besatzungszeit - ehe ab Herbst 1945 die Organisationen der großen gesellschaftlichen Gruppen und die Parteien wieder strategiebestimmenden Einfluß gewannen mehr Gemeinsamkeiten miteinander verbanden als die Vertreter der verschiedenen Flügel der Arbeiterbewegung untereinander, daß in diesen Monaten also die eigentlichen Konfliktlinien nicht entsprechend dem üblichen Muster zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft verliefen, sondern zwischen jenen auf der einen Seite, die zu einer alsbaldigen Stabilisierung der prekären Lage gelangen wollten, und jenen, die die Krise bei Kriegsende zur Erreichung alter, weit über diese Art von Pragmatismus hinausweisender umwälzender Ziele zu nutzen gedachten. Bei der Beobachtung der Haltung der Arbeiterschaft standen für die Industriellen immer Einstellung und Aktivitäten der kommunistisch orientierten Belegschaftsmitglieder im Vordergrund des Interesses. Hermann Kellermann, Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte, ist kommunistischen Aktivitäten in den Betrieben seines Konzerns während der ersten Tage nach dem amerikanischen Einmarsch nicht nur scharf entgegengetreten 928 , er brachte seine Ansichten über die Haltung der Arbeiterschaft und über die besondere Rolle der Kommunisten auf Bitte der britischen Militärverwaltung von Oberhausen im Juli 1945 auch zu Papier. 929 Man kann es zwar nur vermuten, aber es ist wahrscheinlich, daß seine Kollegen in den Vorständen anderer Konzerne ähnlich dachten. Der Zulauf zu den Kommunisten in der reinen Arbeiterstadt Oberhausen, die lange von Zentrum und Sozialdemokratie geprägt gewesen sei, so erläuterte der Generaldirektor, habe während der Wirtschaftskrise Ende der zwan927
9" 929
Aktenvermerk "Bildung von Gewerkschaften" v. 16.8.1945, gez. Or. A.; WWA Oortmund, K 1, Nr. 2475. Vgl. oben in diesem Kapitel. Schreiben Kellermanns an die Militärverwaltung Oberhausen v. 24. 7. 1945; Haniel-Archiv, 4001016/15.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ziger Jahre begonnen. Dies sei "von allen einsichtigen Kreisen aufs ernsteste beobachtet worden", wenn auch die Kommunisten im Oberhausener Raum "bei weitem nicht" die Resonanz wie in den benachbarten Industriestädten gefunden hätten. Das hänge auch mit der betrieblichen, durchaus auch Aufstiegsmöglichkeiten eröffnenden Sozialpolitik der GHH zusammen, bei der Arbeiter und Angestellte aus manchen Familien bereits in der vierten und fünften Generation beschäftigt seien, sich einen kleinen Besitz erworben hätten und sich mit dem Werk "aufs engste verbunden" fühlten. Es sei deshalb verständlich, "daß diese Männer mit ihrer großen Zahl von Familienangehörigen Ruhe und Ordnung lieben und sich für revolutionäre Anschauungen nicht begeistern" könnten. Inzwischen, 1945, habe sich die Lage aber grundlegend gewandelt. Fänden jetzt Wahlen statt, dann drohe - das unterliege für ihn gar keinem Zweifel - die Gefahr, daß die kommunistische Partei "trotz der gesunden Lebensauffassung der hier tätigen Menschen" die Mehrheit erlange. Dies klinge nach den vorangegangenen Ausführungen vielleicht überraschend, meinte er, doch bemächtige sich der Oberhausener Bevölkerung angesichts der im Krieg erlittenen persönlichen, ideellen und materiellen Verluste "zur Zeit" eine "geradezu verzweifelte Stimmung". Zusätzlich genährt werde die Verzweiflung durch die Sorge um den Arbeitsplatz, da das gesamte Wirtschaftsleben am Boden liege. Hinzu komme die Sorge vor dem Winter mit einem wahrscheinlich eintretenden Mangel an Baustoffen, Brennstoffen und Nahrungsmitteln; der Bevölkerung stehe "die Hungersnot vor Augen". Außerdem lasse sie sich "zur Zeit viel zu sehr durch die geschickte Propaganda der Sowjets beeinflussen" und glaube, daß die Lage in deren Okkupationsgebiet viel günstiger sei als an der Ruhr. Die Besatzungsmächte hätten es allerdings in der Hand, so Kellermann weiter, dieser Misere und einer "radikalen Linksorganisierung, wie sie sich anzubahnen scheint" (die eine große Gefahr für alle Beteiligten und für den gesamten europäischen Westen darstelle), abzuhelfen und vorzubeugen. Sie müßten mit für eine bessere Verteilung der deutschen Lebensmittel sorgen und "notfalls" Lebensmittel nach Deutschland einführen; dabei müsse die Frage der Finanzierung erst einmal zurücktreten. Zum anderen müßten alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden, die einer vollen Beschäftigung der Betriebe im Wege stünden. Und hier liege es vor allem an den Besatzungsmächten, Abhilfe zu schaffen und grünes Licht für die Produktionsaufnahme zu geben. Unternähme man auf beiden Feldern die notwendigen Schritte, "um die Voraussetzungen für eine kommunistische Umgestaltung aller Verhältnisse hier im Land gar nicht aufkommen zu lassen", geschehe das, "dann herrschen Ruhe und Ordnung hier im Lande, und danach lechzen alle gut und anständig denkenden Bevölkerungskreise, die gottlob auch heute trotz der unglücklichen Zeiten in der Überzahl vorhanden sind". Kellermann ging in seinem passagenweise fast schon plumpen Szenario für die Militärregierung so weit zu schreiben, einige leitende Angestellte des Konzerns wagten gar nicht mehr, "energisch aufzutreten, da sie der Meinung sind, daß in nicht zu ferner Zeit der Kommunismus sich doch durchsetzen werde und daß sie alsdann in erster Linie dieser Entwicklung zum Opfer fallen würden". Es gelte also, "diesen wertvollen Männern die Sorge zu nehmen und ihnen die Arbeitsfreude zu erhalten". In Wahrheit hatten der Vorstandsvorsitzende und seine Mitarbeiter - wie die Militärregierung (die das nicht ungern gesehen hatte) wußte - nicht das geringste Zögern gezeigt, die in den
3. Arbeiterschaft, Unternehmer, Besatzungsmacht
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ersten Tagen nach der Besetzung in manchem Betrieb forsch auftretenden kommunistischen Arbeiterfunktionäre scharf in ihre Schranken zu weisen. Für jene Offiziere der Militärverwaltung, die bei der Lektüre bis zu dieser Passage noch nicht erkannt hatten, daß Kellermanns Analyse mehr ein Appell an sie war, der Ankurbelung der Produktion nicht länger im Wege zu stehen, als eine nüchterne Wiedergabe seiner Beurteilung der Situation, gab der Vorstandsvorsitzende im siebenzeiligen Schlußabsatz des Sechs-Seiten-Briefes selbst Entwarnung: "Von kommunistischen Umtrieben und Verhetzungen in den Betrieben", meldete er nämlich aus seinem eigenen Beobachtungsbereich, "kann man zur Zeit nach den mir bekannt gewordenen Mitteilungen übrigens nicht sprechen. Jedenfalls sind Beobachtungen nach dieser Richtung hin nicht gemacht worden." Im Oktober 1945, sechs Wochen vor seiner Internierung 930 , äußerte Kellermann sich gegenüber der Militärregierung noch einmal zur "Stimmung der Arbeiterschaft", von der er sich durch "Befragung von vertrauenswürdigen Männern" ein Bild gemacht habe. Politische Erörterungen seien inzwischen "ganz zurückgetreten", alle Gespräche drehten sich um die Ernährungssituation und den bevorstehenden Winter. Die "kommunistische Hetze" im Zusammenhang mit den Kohlezuteilungen sei ganz verschwunden, die Arbeiterschaft wolle "von Politik zur Zeit nichts wissen". Freilich drohe es durch die alliierten Maßnahmen zur Stillegung von Betrieben zu einer Radikalisierung unter den arbeitslos gewordenen Beschäftigten zu kommen: "Nach wie vor kann ich daher immer nur wieder darauf hinweisen, daß von einer kommunistischen Gefahr dann nicht mehr die Rede sein kann, wenn für die an und für sich vernünftig und ruhig denkenden Arbeiterkreise dadurch gesorgt wird, daß sie keinen Hunger leiden, ihre Arbeit behalten und vor der Kälte im Winter geschützt sind." Abschließend kam der Generaldirektor mit offenkundiger Befriedigung auf die Ergebnisse der Betriebsratswahlen zu sprechen. Es interessiere vielleicht, schrieb er, "daß in dem radikal verseuchten Bezirk Hamborn bei den vor einigen Tagen durchgeführten Arbeiterratswahlen auf den Zechen die Kommunisten keinen Erfolg gehabt haben, bis auf Zeche Walsum, wo angeblich etwa 50 % der Stimmen auf die Kommunisten gefallen sind, während auf den übrigen Zechen der Anteil der Kommunisten bei etwa 20 % liegen soll. Auch auf den Zechen des Oberhausener Bezirks haben die Mehrheitssozialisten und die frühere Christliche Gewerkschaft bei weitem die Mehrheit erhalten. Die Kommunisten mußten sich mit einem verhältnismäßig schwachen Prozentanteil zufrieden geben; wiederum ein Beweis dafür, daß der Kommunismus hier trotz der Schwere der Zeit keinen Boden findet und daß die vernünftig denkenden Arbeiter den Kommunismus ablehnen. Das gilt insbesondere auch für die aus dem russischen Bereich zurückkehrenden Kriegsgefangenen, die, wie ich höre, durchweg vor dem Kommunismus russischer Prägnanz warnen."931 Robert Murphy hatte in einem Telegramm an das State Department bereits einige Monate zuvor, Mitte Juni 1945, zur Tendenz in manchen Berichten und in manchen deutschen Kreisen Stellung genommen, den großen Einfluß der sowjetischen Propaganda und die zunehmende Attraktivität des orthodoxen Kommunismus zu betonen; 930 931
Siehe V/2. Vgl. die bei den Lageberichte Kellermanns v. 4. 10. 1945 und 19.10. 1945; Haniel-Archiv, 400 1016/15. Siehe auch: Pietsch, Militärregierung, S. 103. Fichter, Aufbau und Neuordnung, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 503 f.
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V. Die Besetzung des Ruhrgebietes
ein "gefährlicher Trend zum Kommunismus im russischen Sinne ist in den letzten zwei Wochen aufgetreten", hatte ein Beobachter aus Heidelberg nämlich vermeldet. Er, Murphy, halte diese angebliche Radikalisierung für ein allenfalls lokales Phänomen. "Diese Behauptung", schrieb der politische Berater des amerikanischen Militärgouverneurs an das Außenministerium in Washington, "wird für das alliierte Besatzungsgebiet nicht als allgemein gültig angesehen."932
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Telegramm Murphys an das State Department v. 12.6. 1945; PRUS 1945, III, S. 944. Hervorhebung von mir.
VI. Die Amerikaner an der EIbe 1. Die Besetzung Mitteldeutschlands Für First Lieutenant Albert L. Kotzebue war es ein Soldat der Roten Armee gewesen, der da eben zu Pferde in der Einfahrt eines Bauernhofes verschwunden war. Die Patrouille der 69th Infantry Division fuhr mit ihren Jeeps eilig die Dorfstraße von Leckwitz hinauf, bog in den Hof des nämlichen Gehöftes ein, und vor ihnen stand, umringt von einer Schar Zwangsarbeitern, tatsächlich ein russischer Kavallerist. Sofort begannen die Amerikaner, ihn mit Fragen zu bombardieren, woher er komme, von welcher Einheit er sei, wo diese liege, zu welcher Division sie gehöre. Doch der bestürmte Reiter blieb reserviert, mißtrauisch, wies nur ein paarmal in östliche Richtung, sagte, einer der polnischen Fremdarbeiter könne den amerikanischen Spähtrupp ja führen, und galoppierte davon. Man schrieb den 25. April 1945. Die Uhr zeigte halb zwölf an diesem Vormittag, als sich die Spitzen der beiden großen Armeen der AntiHitler-Allianz mitten in Deutschland erstmals berührten.· Kotzebues Patrouille folgte dem Polen die kaum drei Kilometer bis zur Eibe, zu einer Stelle einige hundert Meter nördlich des sächsischen Städtchens Strehla, das gut vierzig Kilometer stromaufwärts von Torgau auf dem linken Ufer des Flusses liegt. Ein Blick durch das Fernglas brachte die Bestätigung, daß es sich bei der Ansammlung von Soldaten auf der anderen Elbseite nicht um einen der zahllosen Trupps flüchtender Wehrmachtsangehöriger, sondern tatsächlich um eine Einheit der Roten Armee handelte; immer wieder war das Aufblitzen der runden Medaillen an den Uniformrökken zu sehen. Als die Amerikaner, wie zwischen den Stäben beider Armeen vereinbart, als Erkennungszeichen grüne Signalmunition abfeuerten, kam Bewegung in die Gruppe am Ostufer. Neugierig beobachteten die Männer, wie Lieutenant Kotzebue mit einer Handgranate die Verankerung eines angetäuten Bootes sprengte und zusammen mit fünf G.I.s zu ihnen herübergerudert kam. Dem sowjetischen Major, an den sich der amerikanische Trupp nach Anlanden am rechten Elbufer wandte, mußten Umstände und Bedeutung dieser Begegnung nicht erst eingehend auseinandergelegt werden. Es vergingen nur Minuten, bis Oberstleutnant Alexander T. Gardiev, der Kommandeur des 175. Schützenregiments, auf der historischen Szene erschien und den Vorschlag machte, den Kommandeur der amerikanischen 69. Infanteriedivision offiziell einige hundert Meter flußabwärts bei dem Dorf Kreinitz zu treffen; dort gab es eine Kabelfähre mit Handbetrieb, die das amerikanisch-sowjetische Zusammentreffen zweifellos erleichtern würde. Außerdem sollten dort die beiden russischen Kamerateams bereitstehen, die sich inzwischen ebenfalls schon eingefunden hatten. Doch First Lieutenant Albert L. Kotzebue verdarb dieses geschichtliche Arrangement durch I
In anen Einzelheiten beschrieben ist der ,,American-Russian Linkup" bei Charles B. MacDonald, The Last Offensive, Washington 1973, S. 445 H.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
einen peinlichen Schnitzer. Er gab in der Positionsmeldung versehentlich falsche Koordinaten an sein Regiment durch, und so fand der von der Welt gefeierte ,,AmericanRussian Linkup" vierzehn Tage vor Kriegsende nicht bei dem Dörfchen Kreinitz statt, sondern er konnte vierzig Kilometer Eibe abwärts im preußischen Torgau zelebriert werden, einer Stadt, die der Militärgeschichte ohnehin besser vertraut war. In Torgau war am späten Nachmittag des nämlichen 25. April eine kleine Gruppe amerikanischer Soldaten unter Führung von 2nd Lieutenant Robertson aus Los Angeles (in der Armeezeitung "The Stars and Stripes" mit großem Foto auf der ersten Seite bald als "der erste Amerikaner, der offiziell sowjetische Truppen begrüßt"2, gefeiert) ebenfalls auf russische Truppen getroffen, hatte sich aber cleverer verhalten. Sie kehrten zum Gefechtsstand des Bataillons zurück und brachten auch gleich drei Offiziere und einen Feldwebel der bei Torgau liegenden russischen Einheit, dem 173. Schützenregiment, mit. Die verschiedenen Patrouillen und Spähtrupps der 69th Infantry Division waren bei ihren Erkundungsfahrten in dem von ehemaligen Zwangsarbeitern, befreiten alliierten Kriegsgefangenen, zurückströmenden Wehrmachtsoldaten und flüchtender Zivilbevölkerung überfüllten Niemandsland zwischen den Flüssen Mulde und Eibe nicht immer ganz befehlsgemäß verfahren ("Hohe Aufregung herrschte, als in dem Abschnitt Gerüchte über die Möglichkeit einer Begegnung mit den Russen die Runde machten."3), doch die Tatsache, daß es seine Division sein würde, die in der Sensationsmeldung über den Kontakt mit der Roten Armee genannt werden würde, erleichterte es General Emil F. Reinhardt, von disziplinarischen Maßnahmen gegen seine Späher abzusehen. Nachdem Reinhardt in seinem von Reportern und Fotografen umringten Quartier mit den sowjetischen Offizieren gesprochen, Trinksprüche getauscht und manches Glas auf die gemeinsame Waffenbrüderschaft geleert hatte, meldete er das Ereignis dem Kommandierenden General des V. Corps, und Generalmajor Huebner ordnete die erste offizielle "Linkup"- Zeremonie der beiden Divisionskommandeure für den Nachmittag des nächsten Tages, den 26. April 1945, an. So trafen sich an diesem Tag in Torgau Generalmajor Reinhardt und sein Gegenüber Generalmajor Vladimir Rusakov, der Kommandeur der 58. Gardeschützendivision. Am 27. April hielten der amerikanische und der russische Korpskommandeur dort eine ähnliche Zeremonie ab, und am 30. April schüttelten schließlich der Befehlshaber der First United States Army und der Befehlshaber der 5. Gardearmee der 1. Ukrainischen Front einander die Hände. 4 Händeschütteln und Schulterklopfen waren nun keineswegs der einzige Ausdruck des Überschwanges, der bei den Waffenbrüdern in diesen Tagen an der Eibe aufkam. Eine der zahlreichen amerikanischen Patrouillen, die den Lorbeer, als erste "die dramatische, historische Verbindung" bewerkstelligt zu haben, ebenfalls nur sehr knapp verfehlte - ein kleiner Spähtrupp der "Timberwolves" (104th Infantry Division) unter Führung von Lieutenant Harlan W. Shank -, hat ihr privates historisches Zusammentreffen sehr lebendig geschildert. Es fand in der Nähe des Ortes Bad Pretzsch statt, der 2 3
4
The Stars and Stripes, 28. 4. 1945. So die Pictorial History of the 69th Infantry Division. 15 May 1943 to 15 May 1945, München 1945, S. 87. Das Zusammentreffen im Raum Torgau ist in Band 5 ("Die siegreiche Beendigung des Krieges mit dem faschistischen Deutschland - Die Niederlage des faschistischen Japans") der "Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion", Berlin (Ost) 1967, S. 323, beschrieben.
1. Die Besetzung Mitteldeutschlands
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halben Weges zwischen Torgau und Wittenberg auf dem linken Elbufer liegt. "Die Sonne begann den Horizont zu berühren", dichtete Corporal Bob Gilfillan über diesen 26. April 1945, "und die Stunden mit Tageslicht waren zu zählen, so fuhr unser Jeep etwas schneller. Wir wußten, daß wir bald die Eibe erreichen mußten, aber noch waren ein paar Ortschaften zu passieren. Im nächsten Dorf befanden sich nur schwache deutsche Einheiten in voller Auflösung, und alle wollten von uns wissen, wo die Amerikaner seien und wie sie sich ergeben könnten. Wir taten ihnen den Gefallen. Bald tauchte das Straßenschild ,Pretzsch' vor uns auf, und nach unseren Instruktionen sollten wir in dieser Gegend auf die Russen treffen. Ich glaube, wir hatten vor den Russen ein bißchen mehr Angst als vor den Deutschen, da wir nicht sicher waren, ob sie uns erkennen würden. Der Jeep fuhr langsamer, unsere Augen wanderten aufmerksam über 360 Grad. Die halbe Stadt durchfahren und keine Russkis; die andere Seite der Stadt, und immer noch keine Russkis. Der Jeep näherte sich der Spitze eines Hügels gerade außerhalb von Pretzsch, und da, über dem Kamm, tauchten vier Köpfe auf sehr langsam zuerst, und dann ein lautes Hurra, und die amerikanische Flagge hatte es wieder einmal geschafft. Ich habe Männer gesehen, die sich monatelang nicht rasiert hatten, aber sie waren nichts gegen diese Burschen. Entweder hatten sie ihren Rasierapparat verloren oder vergessen, wie man ihn benützt, da ich wirklich die Stoppeln wie Sandpapier über mein Gesicht kratzen spürte, als sie uns den guten alten Kuß auf beide Backen verpaßten. Für fünfzehn Minuten waren wir, wie auch die Russen, so glücklich wie noch nie - die Welt hatte lange auf diesen Moment gewartet. Als wir zur Eibe fuhren, kletterten mehr und mehr russische Soldaten auf unseren Jeep." Unter lauten ,,Amerikanski"Rufen ging es zum Gefechtsstand der sowjetischen Einheit. "Den General zu grüßen", so Gilfillan weiter, "war schon eine große Ehre, denn ich bekam das Gefühl, daß es mir zugefallen war, Bande zu knüpfen, die das Ende bedeuteten. Wir unterrichteten sie dann über den Verlauf der amerikanischen Front. Es dauerte nicht sehr lange und wir wurden zu unserem Speisesaal eskortiert. Wir aßen im Speiseraum für Offiziere, und was für eine Mahlzeit! Unser Menü: Fett, Fisch, Brötchen, eine Art Teigpastetchen, Dinge, die ich nie zuvor gesehen hatte, und Wodka. Wer je Benzin mit einem Schlauch angesaugt hat und dabei zufällig welches geschluckt hat, der weiß, wie Wodka schmeckt. Er wurde in Wassergläser eingeschenkt. Ich versuchte, eines auszutrinken, und hatte das kaum fertiggebracht, als mein Glas auch schon wieder gefüllt war ... Jedesmal, wenn wir glaubten, die Toasts hinter uns zu haben, kam ein neuer Offizier herein ... Später hörte ich einen russischen Offizier, wie er am Telefon zu erklären versuchte, daß er hier vier Amerikaner habe, für die er Orden brauche." Am nächsten Morgen wurde die "Timberwolf"-Patrouille mit Blumensträußen verabschiedet, "und als Krönung hatte der Jeep an der Windschutzscheibe die russische Flagge, Blumen, Bilder von Stalin, Roosevelt und Churchill"5. Es war der Morgen des 27. April 1945. Um 18 Uhr gaben die Regierungen in London, Washington und Moskau in einem gemeinsamen Kommunique das Zusammentreffen ihrer Armeen an der Eibe bekannt. Das Echo von Torgau war gewaltig. Omar Bradley, Befehlshaber der amerikanischen Twelfth Arrny Group, feierte in einem Tagesbefehl an seine vier Armeen den , Leo A. Hoegh, HowardJ. Doyle, Timberwolf Tracks. The History 01 the 104th Inlantry Division 1942-1945, Washington 1946, S. 352 ff.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
,,1400-Meilen-Marsch" der sowjetischen Truppen, der sie "von den Ruinen Stalingrads und Sewastopols über die verwüsteten Städte der Ukraine an die Eibe" geführt habe. Stalin grüßte die "heldenmütigen Truppen" der Alliierten, die nunmehr Schulter an Schulter mit der Roten Armee in Deutschland stünden. Truman, seit zwei Wochen im Amt, schlug den feierlichsten Ton an: "Die Vereinigung unserer Waffen im Herzen Deutschlands hat eine Bedeutung für die Welt", verkündete der Präsident: "Die letzte schwache, verzweifelte Hoffnung Hitlers und seiner Gangsterregierung ist ausgelöscht worden ... Zweitens signalisiert die Verbindung unserer Streitkräfte in diesem Augenblick uns selbst und der Welt, daß die Zusammenarbeit unserer Nationen für die Sache von Frieden und Freiheit eine wirkungsvolle Zusammenarbeit ist, weiche die größten Schwierigkeiten des gewaltigsten Feldzugs der Militärgeschichte überstehen kann und Erfolg haben wird."6 Ende April 1945 bestand nach zahlreichen weiteren Begegnungen zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen im Raum Magdeburg-Torgau bereits auf über 100 Kilometer Länge fester Kontakt zwischen bei den Armeen. 7 Der noch unbesetzte Rest des Großdeutschen Reiches war in zwei Hälften gespalten. Nichts hätte das vollkommene Desaster von Hitlers Politik und Kriegführung vier, fünf Tage vor dessen Selbstmord sinnfälliger demonstrieren und symbolisieren können. Die strategische Entscheidung, den Hauptstoß der alliierten Invasionsstreitkräfte ins Innere des Reiches geradewegs in östliche Richtung zu führen, war nach dem geglückten Rheinübergang gefallen, keine vier Wochen vor dem "Linkup" bei Torgau. Da die rechtsrheinischen Operationen der Westmächte naturgemäß auf keiner der Konferenzen der Verbündeten Gegenstand der Beratung gewesen waren, trugen sie in Anlage und Durchführung allein die Handschrift General Eisenhowers und seines engsten Beraters, General Omar N. Bradley.8 Im Herbst 1944 hatte der Oberste Befehlshaber der Invasionsarmee (trotz des hitzigen, mit Eifersüchteleien und Prestigepunkten gespickten Disputs mit den britischen Verbündeten, ob im Endkampf gegen Deutschland das Vorrücken auf breiter Front oder ein einziger, nördlich des Ruhrgebietes angesetzter konzentrierter Vorstoß in Richtung Berlin die erfolgversprechendere Strategie sei 9 ) als ein Hauptziel seiner Operationen durchaus noch die Reichshauptstadt im Auge gehabt. Welche strategische Entscheidung er nach einer geglückten Überschreitung des Rheins fällen würde, hing aber nicht von alten Plänen, sondern von der aktuellen Entwicklung der militärischen Lage ab. Oberstes und seit dem 6. Juni 1944 unverrückbar feststehendes Ziel der Alliierten war es nach wie vor, die Wehrmacht so rasch wie möglich zu zerschlagen. Amerikaner 6 7
B
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Zitate nach The Stars and Stripes, 28.4. 1945. Vgl. First United States Army, Report of Operations 23 February - 8 May 1945,0.0.,0.]., S. 84; lfZ-Archiv, Material Henke. Vgl. auch Conquer: The Story of the Ninth Army 1944-1945, Washington 1947, S. 328. 1945 und in den folgenden Jahrzehnten ist immer wieder über die politischen und militärischen Implikationen der Entscheidung Eisenhowers debattiert worden, seine Truppen an der EIbe anzuhalten und nicht auf Ber/in marschieren zu lassen. Was zum historischen Sachverhalt zu sagen ist, hat Forrest C. Pogue bereits Anfang der fünfziger Jahre dazu gesagt: The Decision to Halt at the EIbe, in: Kent Roberts Greenfield (Hrsg.), Command Decisions, Washington 1960, S. 479 ff; dort auch weitere Literaturangaben. Vgl. ebenso die folgenden Darstellungen: Stephen E. Ambrase, The Supreme Commander: The War Years of Dwight D. Eisenhower, New York 1969, S. 618ff. Forrest C. Pogue, George C. MarshalI: Organizer of Victory 19431945, New York 1973, S. 547ff. Omar N. Bradley, Clay Blair, A Genera!'s Life, New York 1983, S. 416ff. David Eisenhower, Eisenhower: At War 1943-1945, New York 1986, S. 736ff. Vgl. 1I/1 und IV/3.
1. Die Besetzung Mitteldeutschlands
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und Engländer waren sich im Frühjahr 1945 deshalb auch vollkommen einig darin, daß der Verlauf der Demarkationslinie zwischen den Westzonen und der Ostzone sie stand seit einem halben Jahr fest und war von den "Großen Drei" Mitte Februar in Jalta definitiv sanktioniert worden - bei der militärstrategischen Planung des Endkampfes auf deutschem Boden kein ins Gewicht fallender Faktor sein konnte. Die entscheidende Rolle bei den Überlegungen des Alliierten Oberkommandos spielten die Gruppierung ihrer Armeen nach dem Rheinübergang, die vermuteten Absichten und Möglichkeiten der Deutschen sowie die von der Roten Armee inzwischen erreichte Position. Am 28. März, drei Tage bevor die Operationen zur Umfassung des Ruhrgebietes durch die 1. und 9. U.S. Army erfolgreich abgeschlossen waren, traf Eisenhower die Entscheidung über den weiteren Fortgang des Feldzuges östlich des Rheins. In dieser Phase des Krieges im Westen, in der sich die Ereignisse auf dem Schlachtfeld überschlugen, bestimmte der Oberste Befehlshaber der Invasionsstreitkräfte allein, welche Schlüsse nun aus der militärischen Lage zu ziehen und wie sie am besten umzusetzen waren. Da spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen war, den Vorstoß der westlichen Streitkräfte und der Roten Armee in das Innere Deutschlands miteinander abzustimmen - darüber gab es bisher keinerlei konkrete Vereinbarungen -, faßte er seinen Feldzugsplan in einer knapp gehaltenen "Persönlichen Botschaft an Marschall Stalin" zusammen, die dem Obersten Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte von der Militärmission in Moskau zu überbringen war. Er konnte sich um so mehr dazu veranlaßt fühlen, als in Jalta eine solche Koordinierung ins Auge gefaßt worden war und ihm obendrein General MarshalI, der Chef des amerikanischen Generalstabes, tags zuvor geraten hatte, mit den Russen unverzüglich zu einer Abstimmung zu kommen. 1O Die Combined Chiefs of Staff und der britische Generalstab erhielten "zur Information" einen Durchdruck des Telegramms vom 28. März. Noch knapper gefaßt war Eisenhowers Instruktion an Feldmarschall Montgomery vom gleichen Tage, in der der Oberste Befehlshaber der Invasionsstreitkräfte nicht darauf hinzuweisen vergaß, daß er im Begriffe sei, den Feldzugsplan mit Stalin abzustimmen. Montgomery war nämlich einen Tag vor der Entscheidung Eisenhowers wieder einmal mit eigenen, wieder einmal von dessen Plänen abweichenden Vorstellungen über den Fortgang der Kämpfe hervorgetreten.!! Es ist nicht ausgeschlossen, daß General Eisenhower die direkte Abstimmung mit den sowjetischen Streitkräften als ein geeignetes Mittel ansah, nicht erneut in eine der leidigen Strategiedebatten mit dem britischen Verbündeten eintreten zu müssen.
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Telegramm Eisenhowers für Stalin an die Militärmission in Moskau v. 28.3. 1945; Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. IV: The War Years, Baltimore 1970, S. 2551 f. General Marshalls Empfehlung vom Vortage ist ebenda, S. 2553, wiedergegeben. Am 30.3. 1945 bemerkte Eisenhower in einem Telegramm an MarshalI: "I have been instructed to deal directly with the Russians conceming military coordination." Am 7.4. 1945, als die britischen Angriffe wegen der direkten Kontaktaufnahme mit Stalin überstanden waren, kam Eisenhower noch einmal darauf zurück. An Marshall telegraphierte er am selben Tag: "The message I se nt to Stalin was a purely military move taken in accordance wi th the ample authorizations and instructions previously issued by the Combined Chiefs of Staff ... I have assumed that I am held responsible for the effectiveness 01 military operations in this theater and it was a natural question to the head 01 the Russian forces to inquire as to the direction and timing of their next major thrust, and to outline my own instructions." Eisenhower-Papers, IV, S. 2560 und S. 2590. Telegramm Eisenhowers an Montgomery v. 28.3. 1945; ebenda, S. 2552. Dort auch die entscheidenden Passagen des Telegramms von Montgomery an Eisenhower v. 27.3. 1945.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
Zwei Faktoren waren es vor allem, die mittlerweile die militärstrategische Lage bestimmten: Die sowjetischen Truppen standen an der Oder und hielten bei Küstrin, nur gut fünfzig Kilometer vom Stadtrand Berlins entfernt, einen festen Brückenkopf westlich des Stromes; die Alliierten waren Ende März 1945 noch ungleich viel weiter von der Reichshauptstadt entfernt. Im Westen hatte sich ferner das Gravitationszentrum der alliierten Armee durch die ebenso unerwarteten wie durchschlagenden amerikanischen Erfolge im mittleren Rheinabschnitt l2 nach Süden hin in den hessischen Raum verschoben; damit hatte die britisch-amerikanische strategische Dauerdebatte (breite Front contra Einzelstoß) ihr natürliches Ende gefunden. Hinzu kam, daß SHAEF zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit letzter Sicherheit ausschließen konnte, daß Hitler im Süden nicht tatsächlich eine ,,Alpen festung" aufzubauen versuchte; einmal konsolidiert, würden für deren Eroberung erhebliche Opfer zu bringen sein. Erneut inspiriert durch den brillanten Strategen Omar Bradley, zielte Eisenhower nunmehr also darauf ab, nach der Ausschaltung des deutschen Industriezentrums möglichst rasch die Spaltung der restlichen Streitmacht und des verbliebenen Territoriums des Feindes zu erzwingen. Das mußte die endgültige Paralysierung des Dritten Reiches herbeiführen. Es lag in der Logik dieses Ansatzes, daß die Spaltung des Reiches durch einen "Link-up" der Armeen der Anti-Hitler-Koalition - gewissermaßen durch Verschmelzung von Ost- und Westfront im Innern Deutschlands - auf kürzestem Wege dann erreicht werden würde, wenn Eisenhower den Hauptstoß aus dem nach dem Rheinübergang neu gewonnenen Schwerpunkt seiner Streitkräftekonzentration im Raum Kassel heraus "schnurgerade nach Osten"13 entlang der Achse Erfurt-Leipzig-Dresden führte. Dies war der einfache, durch eine allein an militärischen Erwägungen orientierte Argumentation nicht zu widerlegende Kerngedanke der Strategie Eisenhowers. Aus ihm ergaben sich alle weiteren Schlußfolgerungen für die alliierte Operationsführung in den letzten Kriegstagen. Der Angriff durch Mitteldeutschland wurde der amerikanischen 12. Armeegruppe unter Omar Bradley übertragen. Die Flankendeckung im Norden war von der britischen 21. Armeegruppe unter Montgomery, nach Süden hin von der amerikanisch-französischen 6. Armeegruppe unter Generalleutnant ]acob L. Devers zu übernehmen, wobei "Flankendeckung" vielleicht eine allzu armselige Vorstellung von dem Auftrag der alliierten Armeen im Norden und im Süden der Angriffsachse gibt, denn es war zugleich vorgesehen, daß - sobald das Hauptziel der Offensive in Mitteldeutschland erreicht war - Montgomery die norddeutschen Häfen öffnen und durch einen Vorstoß in den Raum Kiel-Lübeck die dänische Halbinsel und damit die in Norwegen stehenden Wehrmachtseinheiten abschneiden sollte. Am rechten Flügel hatten die amerikanischen Armeen, unterstützt von de Lattre de Tassignys 1. Französischer Armee, durch Süddeutschland vorzurücken, um im Donautal einen weiteren Kontakt zu den sowjetischen Streitkräften herzustellen. Kriegführung und Politik waren innerhalb der Anti-Hitler-Koalition ebenso wie im Lager der Westmächte natürlich immer auf das engste miteinander verknüpft gewesen. Und selbstverständlich haben Stalin, Roosevelt und Churchill (gar erst de Gaulle) 12
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Vgl. IV/3. Das Telegramm Eisenhowers an General Marshall v. 30. 3.1945, in dem dieser seine Strategie noch einmal umfassend erläuterte, ist bereits in den Memoiren von Dwight D. Eisenhower, Kreuzzug in Europa, Amsterdam 1948, S. 4601., abgedruckt. Zitat eben da, S. 461. Vgl. auch Eisenhower-Papers, IV, S. 2560ff.
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zu keinem Zeitpunkt des Krieges die spezifischen Interessen ihres Landes aus den Augen verloren. Doch solange die Niederlage Hitlers nicht besiegelt und die Besetzung des deutschen Reichsgebietes nicht gesichert schien - und das war nicht vor dem Februar 1945 der Fall -, blieben die im Hinblick auf die Nachkriegszeit geführten Positionskämpfe insgesamt doch verhalten. Bis zu einem gewissen Grad mußte jeder der Partner das Odium scheuen, durch politische Ambitionen der gemeinsamen militärischen Sache zu schaden. Zwischen der Konferenz von Jalta im Februar 1945 und der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Reiches im Mai 1945 begann sich diese Zurückhaltung innerhalb der Anti-Hitler-Koalition, aber auch im Lager der Westmächte zunehmend zu verflüchtigen. So war es nur typisch, daß Eisenhower, kaum hatte er die Umrisse seines Feldzugsplanes skizziert, unter heftigsten britischen Beschuß geriet. Diesmal stand hinter diesen Angriffen jedoch mehr als die übliche Rivalität um den führenden Part auf dem Schlachtfeld, die mittlerweile schon zu einem festen Bestandteil der besonderen angelsächsischen Beziehungen geworden war. Im Kern wurde jetzt der Vorwurf erhoben, daß der amerikanische Verbündete, und besonders der von ihm gestellte Supreme Commander, durch eine Überbetonung militärischer Erwägungen den Spielraum der Westmächte für einen politischeren Einsatz ihrer Koalitionsarmee über Gebühr einenge. Als erstes beschwerte sich der britische Generalstab in scharfer Form bei General Marshall. Durch die Kontaktaufnahme mit dem Oberkommandierenden der Roten Armee habe Eisenhower seine Befugnisse überschritten, ferner sei er von dem ursprünglichen Plan abgewichen, den Hauptstoß durch Norddeutschland gegen Berlin zu führen, er habe den britischen Streitkräften eine zweitrangige Rolle zugewiesen, und schließlich wecke die Verlegung der Hauptangriffsachse nach Mitteldeutschland bei den britischen Stabschefs Zweifel daran, "ob Fragen eine genügende Würdigung erfahren haben, die von größerer Tragweite sind als die Vernichtung der feindlichen Hauptstreitkräfte in Deutschland"14. Das bezog sich explizit zwar auf Auswirkungen, die von Eisenhowers Entscheidung für die Seekriegsführung sowie die Lage in Holland und Skandinavien befürchtet wurden, implizit enthielt die Beschwerde aber den Vorwurf an den Supreme Commander, ohne Not auf die politisch und psychologisch hochbedeutsame Einnahme Berlins verzichtet zu haben. Die Intervention seiner Stabschefs in Washington, die Churchill erst nachträglich zu Gesicht bekam, stieß in Details der militärischen Lagebeurteilung zwar auf Kritik des Premierministers, doch gab es in London niemanden, der die politische Weisheit der Strategie Eisenhowers schärfer in Zweifel gezogen hätte als er. Churchill holte weit aus in seinem Memorandum und rief seinen Stabschefs erst einmal ins Gedächtnis, daß das amerikanische Gewicht innerhalb des westlichen Lagers im Laufe der zurückliegenden Monate enorm zugenommen habe. Außerdem stehe Eisenhower nach seinen gewaltigen Erfolgen an der Rheinfront gerade im Zenit seines Ruhmes und Einflusses; man werde sich auf eine geharnischte Antwort der Amerikaner gefaßt machen müssen. Neben der für Großbritannien bedauerlichen Tatsache, daß die Armeegruppe Montgomerys zu einer beinahe statischen Rolle im Norden verurteilt werde und daß Eisenhower die Fähigkeit der Wehrmacht, Widerstand zu leisten, wohl im-
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Telegramm der britischen Chiefs of Staff an Marshall v. 29. 3. 1945; zit. nach lohn Ehrmann, Grand Strategy, Bd. VI: October 1944 - August 1945, London 1956, S. 135. Vgl. auch Eisenhower-Papers, IV, S. 2559. Churchills Memorandum für die britischen Stabschefs ebenfalls bei Ehrmann, Grand Strategy, IV, S. 135 ff.
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mer noch zu hoch einschätze, kritisierte Winston Churchill an dem Plan des amerikanischen Obersten Befehlshabers aber vor allem, daß dieser nicht genügend Verständnis für den Faktor "Berlin" erkennen lasse: "General Eisenhower irrt sich vielleicht, wenn er annimmt, Berlin sei ohne größere militärische und politische Bedeutung", schrieb er den Stabschefs. "Solange sich Berlin behauptet und in seinen Trümmern einer Belagerung standhält, was leicht der Fall sein kann, wird der deutsche Widerstand stimuliert. Der Fall Berlins hingegen wird womöglich fast alle Deutschen verzweifeln lassen."15 In seinem Memorandum, in dem der Premierminister einen milden Rüffel für die Stabschefs mit einer Demonstration seiner überlegenen strategischen Urteilsfähigkeit verknüpfte, behandelte Churchill bewußt nur die militärischen Aspekte von Eisenhowers Plan (auch sein Kommentar zu "Berlin" war nicht eigentlich politisch, sondern eher psychologisch gefärbt), denn schließlich hatte er den Stabschefs ja selbst angekreidet, sich mit ihrer Beschwerde in Washington nicht auf eine militärische Argumentation beschränkt zu haben. Seine Stellungnahme zeigte darüber hinaus sogar selbst, daß man unter rein militärischem Aspekt durchaus die Auffassung Eisenhowers teilen und einige der Vorstellungen der britischen Chiefs of Staff für wenig plausibel halten konnte. Der Premierminister wußte, daß Eisenhowers Plan mit militärischfachlichen Argumenten nicht überzeugend zu begegnen war. Ihn selbst bewegte bei der Analyse der Strategie Eisenhowers denn auch nichts weniger als deren militärische Aspekte und nichts heftiger als deren politische Implikationen. An Roosevelt gewandt, entfaltete Churchill alsbald seine Sicht der Lage, die ihm eine "politischere" Strategie der alliierten Streitkräfte erforderlich zu machen schien. Es waren die Besorgnis und Bestürzung infolge der "sowjetischen Ignorierung von jalta"16 - insbesondere das Vorgehen Stalins in Polen -, die das Denken des Premierministers in den sechs Wochen seit der Konferenz immer heftiger bewegten. Sein Argwohn gegenüber Stalin, dessen Empfindlichkeiten, Grobheiten und Eigenmächtigkeiten Churchill gleichermaßen beunruhigten, hatte sich mittlerweile so verdichtet, daß es ihm geraten erschien, sich mit den vermutlich letzten militärischen Aktionen Platzvorteile zu verschaffen, die den sowjetischen Verbündeten zur Vorsicht mahnen und die Position der Westmächte stärken sollten. In dieser Situation Stärke zu signalisieren, hatte freilich nichts mit einem angeblichen Kalkül Churchills zu tun, zu diesem Zeitpunkt etwa bereits die Koalition mit Stalin aufzukündigen oder gar ein "Roll back" der Sowjetunion anstreben zu wollen. Am l. April 1945, dem Tag, an dem die Truppen Eisenhowers die Zange um das Ruhrgebiet schlossen, wandte sich der britische Premierminister mit einem Telegramm an Roosevelt. Nachdem er eingangs das volle Vertrauen der Regierung Seiner Majestät in die Kriegskunst General Eisenhowers betont hatte, sprach Churchill von "Mißverständnissen zwischen den treuesten Waffengefährten, die jemals Seite an Seite gefochten haben," und stellte klar: "Mir scheint, unsere Meinungsverschiedenheiten sind geringfügig und wie gewöhnlich nicht grundsätzlicher Art, sondern eine Frage der Akzentuierung." Dann folgte die entscheidende Passage: "Die Russen werden 15
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Memorandum Churchills zur Reaktion der britischen Chiefs of Staff und Eisenhowers Feldzugsplan; zit. nach Ehnnann, Grand Strategy, VI, S. 135ff. Hermann Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941-1948, Frankfurt 1985, S. 63.
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ohne Zweifel ganz Österreich überrennen und in Wien einziehen. Wenn sie auch noch Berlin nehmen, wird sich dann nicht ihr Eindruck, daß sie an unserem gemeinsamen Sieg den Löwenanteil hatten, über Gebühr bei ihnen festsetzen, und kann sie das nicht in eine Stimmung bringen, die in der Zukunft zu ernsten und formidablen Schwierigkeiten führen wird?" Deshalb sei es vom politischen Standpunkt aus geboten, jetzt in Deutschland so weit als möglich nach Osten vorzustoßen und, falls die Stadt in Reichweite der Alliierten liege, Berlin zu nehmen. 17 Wenige Tage nach seiner Intervention wegen der Eroberung Berlins sprach Churchill gegenüber Roosevelt kaum verhüllt sogar den Verdacht aus, die Russen könnten Österreich besetzen, ohne sich weiter um eine einvernehmliche Regelung der Zonenaufteilung zu bekümmern. Was Churchill Anfang April 1945 den Amerikanern unterbreitete, war nichts anderes als der Vorschlag, daß die Beziehungen zu Stalin nicht nur von einem anderen Geist bestimmt sein sollten, sondern daß sich die Westmächte jetzt, im Grunde von einem Tag auf den anderen, auch von einer neuen politischen Strategie gegen den sowjetischen Verbündeten leiten lassen sollten. Roosevelt, dem es selbst dann, wenn er die Auffassung Churchills uneingeschränkt geteilt hätte, schwergefallen wäre, sich von den strategischen Vorstellungen Eisenhowers und seiner Stabschefs in Washington zu distanzieren, erteilte der Beschwerde der Briten eine Abfuhr. In der im Ton wie immer verbindlich gehaltenen Antwort an den Premierminister drei Tage später (die möglicherweise aber gar nicht mehr von dem kranken Präsidenten selbst stammte, sondern von General Marshall konzipiert wurde) entgegnete er, es leuchte ihm nicht ein, weshalb der Verbündete plötzlich von einer tiefgreifenden Änderung der in Malta vereinbarten gemeinsamen Militärstrategie spreche. Das sei keineswegs der Fall. Andererseits müßten die großen amerikanischen Erfolge im mittleren Rheinabschnitt, südlich des Ruhrkessels, natürlich maßgebliche Auswirkungen auf die weitere Operationsführung haben. Auf Churchills Hauptanliegen, die Invasionsarmee jetzt "politischer" einzusetzen, ging der Präsident mit keinem Wort ein. Statt dessen ließ er sein Bedauern anklingen, "daß wir es im Augenblick eines großen Sieges unserer vereinigten Streitkräfte mit so unglücklichen Reaktionen zu tun bekommen sollen"18. Damit war die hohe Wellen schlagende Debatte im amerikanischen Sinne entschieden, einem "politischen" Einsatz der Koalitionsarmee in den letzten Kriegstagen eine eindeutige Absage erteilt. Der Premierminister zeigte sich mit seinem postwendenden Telegramm an Roosevelt als ebenso glänzender wie charmanter Verlierer. Er betrachte es zwar nach wie vor als "schade", daß sich Eisenhower ohne vorherige Information der Briten an Stalin gewandt habe, die vom Supreme Commander vorgenommenen Änderungen an dem ursprünglichen Feldzugsplan dagegen seien doch sehr viel geringfügiger als man in London zunächst angenommen habe; er betrachte die Angelegenheit als erledigt. In seiner unnachahmlichen Eleganz setzte er hinzu: "Um meine
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Telegramm v. 1. 4. 1945; in: Warren F. Kimball (Hrsg.), Churchill & Roosevelt. The Complete Correspondence, Bd. II1: Alliance Declining, February 1944 - April 1945, Princeton 1984, S. 603 ff. Teile auch bei Winston S. Churchill, Memoiren, Bd. VI/2: Der Eiserne Vorhang, Stuttgart 1954, S. 142 ff. Der Passus hinsichtlich des möglichen sowjetischen Verhaltens in Österreich ist in dem Telegramm Churchills an Roosevelt v. 5.4. 1945 enthalten; vgl. Kimball (Hrsg.), Churchill & Roosevelt, II1, S. 613. Telegramm Roosevelts an Churchill v. 4. 4. 1945; ebenda, S. 607 ff. Telegramm Churchills an Roosevelt v. 5.4. 1945; ebenda, S.612.
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Ernsthaftigkeit zu beweisen, werde ich mich eines meiner wenigen lateinischen Zitate bedienen - ,Amantium irae amoris integratio est!'" Genau wie Churchill es zu Beginn der Krise vorhergesehen hatte, bezeichneten die amerikanischen Joint Chiefs of Staff die von Eisenhower in eigener Verantwortung vorgenommene Abstimmung mit den Russen als "operative Notwendigkeit angesichts der Schnelligkeit des Vordringens in Deutschland"19. Erfolgreich waren die Briten mit ihrer Beschwerde in diesem Punkt insoweit, als Eisenhower jetzt gehalten war, in vergleichbaren Fällen die Combined Chiefs of Staff einzuschalten, ehe er sich an die sowjetische Armeeführung wandte. Das Dilemma Churchills, der Stalin lieber weniger genau eingeweiht gesehen hätte, war damit aber nicht behoben. Der Vormarsch der Armeen der Anti-Hitler-Koalition im Herzen Deutschlands mußte - zumal die Invasionsarmee jetzt die weiträumigeren Operationen führte - gegenseitig abgestimmt werden. Das konnte nur durch Eisenhower geschehen, der diese Operationen befehligte. Dagegen war mit plausiblen Argumenten kaum anzugehen, und dagegen war zumal General Marshall ein unerschütterlicher Verfechter der weitgehenden Eigenständigkeit des Supreme Commander war - auch das Combined Chiefs of Staff Committee nicht einzunehmen. Politischen Argumenten, aus denen sich Anweisungen an die CCS und aus diesen wiederum Befehle an Eisenhower hätten entwickeln können, war der amerikanische Präsident nicht zugänglich; sie hätten - selbst wenn dieser einem solch abrupten Wandel der Politik wirklich sein Plazet gegeben hätte - bei der rapiden Entwicklung der Lage in Mitteleuropa vielleicht nicht einmal rechtzeitig und ohne Pannen umgesetzt werden können. Eisenhower blieb die Schlüsselfigur. Er dachte, ja er mußte in militärischen Kategorien denken. Und das taten er und sein Stab - in dem ihm übrigens führende britische Offiziere zur Seite standen - so professionell, daß ihnen im Lager der Westmächte niemand eine wirklich zwingende strategische Alternative entgegenhalten konnte. 2o Weder für die amerikanischen Stabschefs noch auch für den britischen Premierminister gab es einen Zweifel daran, daß niemand die militärische Lage auf dem Kriegsschauplatz in Deutschland besser beurteilen konnte als der Oberste Befehlshaber. Das war natürlich auch Eisenhowers Ansicht, der sich im übrigen gar nicht geweigert hätte, auch eine ganz andere Strategie für die Endphase der Kämpfe in Deutschland zu entwerfen, wenn die Combined Chiefs of Staff ihn auf Weisung ihrer Regierungschefs dazu angehalten hätten. Das war nicht der Fall, ja diese Frage ist im gemeinsamen amerikanisch-britischen Generalstab nicht einmal erörtert worden. 21 "Ich bin der erste zuzugeben", telegrafierte Eisenhower am 7. April an General MarshalI, "daß ein Krieg in Verfolgung politischer Ziele geführt wird, und wenn die Vereinigten Stabschefs zu dem Schluß kommen sollten, daß dem alliierten Bemühen, Berlin zu neh19
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Vgl. die Stellungnahme der JCS zur Beschwerde der britischen Stabschefs v. 31. 3. 1945 bei Ehrmann, Grand Strategy, VI, S. 139. Am 6. April, zum Uni ted States Army Day, erhielt Eisenhower mitten in der Auseinandersetzung mit dem Verbündeten ein Telegramm, in dem ihm der britische Generalstabschef Feldmarschall Sir Alan Brooke zu seiner, wie er schrieb, "superleadership" im Westen gratulierte: "The overwhelming victories which you are winning will go down in history among the greatest military achievements of all time." Der Oberste Befehlshaber war gerührt. "This was especially pleasing", schrieb Eisenhower an General MarshalI, "because of the past arguments we have had and to my mind shows that there is a bigness about him that I have found lacking in a few people I have run into on this side of the water." Telegramm Eisenhowers an Marshall v. 6.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2587. Der Text von Brookes Telegramm ebenda, S. 2588. Vgl. Pogue, Decision to Halt at the Eibe, in: Greenfield (Hrsg.), Command Decisions, S. 486.
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men, auf dem Kriegsschauplatz größeres Gewicht zukommt als rein militärischen Erwägungen, würde ich meine Pläne und meine Gedanken mit Vergnügen berichtigen, um eine dementsprechende Operation durchzuführen."22 Was die damaligen und späteren Kritiker Eisenhowers - der weder über die Hintergründe noch die Anlässe der aufbrechenden Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion im Bilde war - verlangten, läuft auf nichts anderes als die erstaunliche Forderung hinaus, der Supreme Commander hätte mit den ihm zu Gebote stehenden militärischen Mitteln auf eigene Faust Politik machen sollen. 23 Vielleicht hatte Eisenhower tatsächlich die Neigung, die Stärke der Wehrmacht zu überschätzen, sogar noch Ende März 1945. Aber war das nach dem Schock der Ardennen-Offensive verwunderlich? Weshalb sollte er, ruhmbedeckt wie auch er inzwischen war, in dem Augenblick, als der Sieg über Hitler nur noch eine Angelegenheit weniger Wochen sein konnte, eine von manchen für kühn gehaltene strategische Variante der soliden strategischen Variante vorziehen? General Omar Bradley hatte die wahrscheinliche Verlustziffer der Invasionsarmee bei einer Operation gegen Berlin bei 100.000 Mann angesiedelt. "Ein ganz schön hoher Preis für ein Prestigeziel", nach Meinung des Oberbefehlshabers der 12. Armeegruppe 24 ; und dies obendrein für die Besetzung eines Territoriums, aus dem man sich aufgrund der Zonenvereinbarung ohnehin wieder zurückziehen mußte. Generell darf man annehmen, daß selbst das streng militärische Denken Eisenhowers und auch Marshalls Raum genug für die Erwägung ließ, ob die amerikanischen Kriegsanstrengungen im Bündnis mit Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges wirklich ihren glücklichsten Ausdruck darin finden würden, wenn Feldmarschall Sir Bernard Law Montgomery als Sieger von Berlin in die Geschichtsbücher einginge. 2; Es schmerzte Eisenhower seit längerem, daß sein herausragender Heerführer General Omar Bradley ("der größte Frontbefehlshaber, dem ich in diesem Krieg begegnet bin", wie er ihn Marshall gegenüber bezeichnete 26 ) im Gegensatz zu manchem publicity-bewußte ren General in der Öffentlichkeit bislang zu wenig von dem Ruhm geerntet hatte, der ihm wegen seiner überlegenen Operationsführung seit der Invasion in der Normandie eigentlich zugekommen wäre. Das würde sich nun ändern, denn es war General Bradley, dem der Supreme Commander jetzt den Auftrag erteilen konnte, mit der aus 48 amerikanischen Divisionen bestehenden, über 1,3 Millionen Mann starken Twelfth Army Group einen letzten gewaltigen Stoß zu führen, der Hitler endgültig zu Boden werfen und den Krieg in Europa beenden mußte. Insgesamt gab es für die Amerikaner neben den am Rande vermerkten Prestigegesichtspunkten genügend ausgezeichnete militärische und politische Gründe, um ihre Strategie gegenüber Winston Churchill, dessen eigene politisch-militärischen Schachzüge schon des Ersten Weltkrieges nicht immer alle von Weisheit gekennzeichnet und von Erfolg gekrönt gewesen waren, bestimmt und selbstbewußt zu verteidigen. Schon der Blick auf die Landkarte lehrte, daß auch die Rote Armee, die bald Wien und den größten Teil Österreichs überrannt haben würde, über genügend Faustpfän22
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Telegramm Eisenhowers an Marshall v. 7.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2592. So Pogue, Decision to Halt at the EIbe, in: Greenfield (Hrsg.), Command-Decisions, S. 492. Omar N. Bradley, A Soldier's Story 01 the Allied Campaigns lrom Tunis to the EIbe, London 1951, S. 535. Vgl. Pogue, George C. MarshalI, S. 550, S. 555 und S. 563. Telegramm Eisenhowers an Marshall v. 30. 3. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2565.
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der verfügte. Auch sie konnte sehr leicht auf manche für die Westmächte ebenso nachteiligen militärischen Operationen verfallen, wenn sich in Moskau erst einmal der sichere Eindruck festgesetzt hatte, die alliierte Invasionsarmee beginne in den letzten Wochen des Krieges tatsächlich eine Jagd nach Faustpfändern in Gebieten, die am Konferenztisch bereits anderweitig verteilt waren. Nicht ganz ohne Berechtigung konnte Stalin ja bereits Sachsen und Thüringen, die jetzt in unmittelbarer Reichweite der Amerikamer lagen, als solche "Faustpfänder" ansehen. Konnte irgend jemand in London dafür garantieren, daß eine dabei ja nicht von vornherein auszuschließende rapide Eskalation der Spannungen in der Anti-Hitler-Allianz unter Kontrolle zu halten war? In einem solchen Falle, so konnte man sich in Washington leicht ausrechnen, wären es außerdem kaum die Briten gewesen, die dann die Hauptlast des Konflikts zu tragen haben würden. Es gab seit langem die von den alliierten Regierungschefs bestätigten Vereinbarungen über die Zonengrenzen im besetzten Deutschland, und die Amerikaner spürten wohl, daß hinter dem von Churchill favorisierten "politischeren" Einsatz der Streitkräfte Eisenhowers mindestens die Neigung steckte, Abmachungen der Großen Drei über Deutschland gegebenenfalls zu brechen, und zwar allein zu dem Zweck, um ein Wohlverhalten Stalins anderswo - namentlich in Polen - zu erzwingen. Hier steckte ein Grundirrtum Winston Churchills. Nach diesem Krieg hatten die von den "Großen Drei" während des Krieges getroffenen Entscheidungen über Deutschland, Mittel- und Südosteuropa keineswegs alle die gleiche Wertigkeit. Sie funktionierten, wollte man damit Druck auf den sowjetischen Verbündeten ausüben, gerade nicht wie kommunizierende Röhren. Gemeinsame Entscheidungen über den Staat, von dem dieser Weltkrieg ausgegangen war, waren von überrragender politischer und emotionaler Qualität, viel schwerer antastbar als alle jene anderen, die das Land des gemeinsamen Feindes nicht betrafen. Deshalb eigneten sie sich per se weniger, als der britische Premierminisier unter dem frischen Eindruck des sowjetischen Verhaltens in Osteuropa gehofft haben mochte, als politische Manövriermasse und diplomatische Hebelwerkzeuge. Es erübrigt sich beinahe anzumerken, daß die Öffentlichkeit weder in den USA noch in Großbritannien, wo der leidgeprüften Sowjetunion noch immer sehr viel Sympathie entgegengebracht wurde, eine derart abrupte, unter den gegebenen Umständen in den Augen der Welt dann zweifellos eindeutig von den Westmächten zu verantwortende Wende mitvollzogen, geschweige denn unterstützt hätte. Um die Weisheit und Plausibilität der amerikanischen Weigerung, mit Churchill zu gehen, anzudeuten, genügt ferner ein Hinweis darauf, daß die Vereinigten Staaten das Gros ihrer Truppen - am 1. April begann die mörderische Schlacht um Okinawa - baldigst nach Fernost zu verlegen und nicht zur Sicherung im Endspurt des Krieges eingeheimster Territorien in Mitteleuropa einzusetzen gedachten. Auf die bösen Folgen, die die Amerikaner von einer abrupten Aufkündigung in der Anti-Hitler-Koalition noch vor Kriegsende für ihre noch kaum beeinträchtigte Vision von einer globalen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion befürchten mußten, ist hier ebenfalls nur am Rande aufmerksam zu machen. Historisch gesehen ist die Ansicht, es sei ein Segen gewesen, daß sich der britische Premierminister Anfang April 1945 gegenüber Roosevelt, Marshall und Eisenhower nicht durchgesetzt hat, jedenfalls sehr viel plausibler als die von Churchill auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges geäußerte Vermutung, die amerika-
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nische Art der Behandlung der strategischen Differenzen im Lager der Westmächte habe Europa vielleicht "um den dauernden Frieden gebracht, um den so lang und so schwer gerungen wurde,m. Das wirklich harte militärische Ringen lag bereits hinter den Westmächten, als ihre Armeen Anfang April 1945 das "Rennen vom Rhein zu den Russen"28 aufnahmen: Im Norden der über 200 Kilometer langen Ausgangslinie der amerikanischen Armeen, am linken Flügel der 12. Armeegruppe, trat die Ninth U.S. Army (die Montgomery am 4. April an Bradley abgeben mußte) unter General William H. Simpson an, in der Mitte General Courtney H. Hodges, First V.S. Arrny, am rechten Flügel im Süden die Third U.S. Arrny unter der Führung von General George S. Patton. 29 Der Feindlagebericht der 12. Armeegruppe von Anfang April begann mit der Feststellung: "Deutschland, das einen totalen Krieg geführt hat, sieht sich nun einer totalen Niederlage gegenüber." Die Verfassung der deutschen Streitkräfte im Westen schien den Offizieren von Omar Bradleys G-2 Stab am treffendsten mit dem Wort "verzweifelt" beschrieben. 30 Als operatives Handikap kam hinzu, daß die Einkesselung der deutschen Heeresgruppe B eine riesige Bresche in die "Westfront" geschlagen hatte. Damit war, so der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, "das Schicksal des mitteldeutschen Raumes besiegelt"31. General Bradley sagte später über die Bewegung seiner Verbände und den Stil seiner Operationsführung, welche ihm nun keine Probe seiner Kriegskunst mehr abverlangte: "Größtenteils ließ ich sie ohne Leine laufen."32 Die Offensive durch die Mitte des Reiches hatte eigentlich erst um den 14. April herum beginnen sollen, da bis dahin wohl sichergestellt sein würde, daß vom Ruhrkessel keine Bedrohung im Rücken der amerikanischen Armeen mehr ausgehen könne, doch Omar Bradley ging, wie er später sagte, "ein kalkuliertes Risiko"33 ein und ließ seine Divisionen schon zehn Tage vorher aus der Bewegung heraus entlang der Hauptachse Kassel-Leipzig nach Osten los.34 Da die Kommandeure nicht in die Entscheidung, auf eine Eroberung der Reichshauptstadt zu verzichten, eingeweiht waren, schien der Lorbeer dieses Krieges der im Raum Paderborn stehenden 9. U.S. Arrny im Norden zu winken, in deren Stoßrichtung die Städte Hannover, Magdeburg Churchill, Memoiren, VI/2, S. 133. Ernie Hayhow, The Thunderbolt across Europe. A History of the 83rd Infantry Division 1942-1945, München 1946, S. 84. 29 Die maßgebende Schilderung des .. Sweep to the EIbe" bei MacDonald, Last Offensive, S. 373ff. Auch die erwähnten Memoirenwerke von Eisenhower und Bradley geben einen guten Überblick. Die Operationen der 9. US-Armee sind detailliert beschrieben in: Conquer (Ninth Army). Zu den Kämpfen im Bereich der l. und 3. US-Armee vgl. deren offizielle After Action Reports: First United States Army. Report of Operations, 28 February - 8 May 1945, 0.0., 0.J.; HZ-Archiv, Material Henke. After Action Report, Third US Army, 1 August 1944 - 9 May 1945; HZ-Archiv, Material Henke. Neben den einschlägigen Unit Histories (BA/MA und MGFA) siehe vor allem auch das mehrbändige Werk Twelfth Army Group, Report of Operations. Final After Action Report, 0.0.,0.]. (1945); HZ-Archiv, Material Henke. Siehe auch den Report by the Supreme Commander to the Combined Chiefs of Staff on the Operations in Europe of the Allied Expeditionary Force, 6 June 1944 to 8 May 1945; ebenda. 30 Twelfth Army Group, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 34 v. 3.4.1945; NA, RG 331, Twelfth Army Group, Hqs, G-2, Intelligence Branch, Entry 176. 3I Albert Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953, S. 388. 32 Bradley, Blair, A General's Life, S. 424. " Ebenda. " Der allgemeine Befehl Eisenhowers zu den Schlußoperationen im Westen v. 2. 4. 1945; in: Eisenhower-Papers, IV, S. 2576 f. 27
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und eben auch Berlin - "das begehrte Ziel aller alliierten Streitkräfte"35 - lagen. Die 1. Armee begann ihren vom V. und VII. Corps geführten Vorstoß in Richtung HalleLeipzig-Dresden von Kassel her. Patton, dessen Panzerspitzen schon am 1. April Ostersonntag - in Thüringen eingedrungen waren, winkte im Süden die Einnahme von Erfurt, Weimar und vielleicht Chemnitz. Der ganze jammervolle Zustand der deutschen Abwehrkräfte spiegelt sich in einigen eher nebenher erwähnten Einzelheiten, die dem Bericht zu entnehmen sind, den General Rudolf Freiherr von Gersdorff, der Stabschef der deutschen 7. Armee, später in amerikanischer Gefangenschaft von den Kämpfen gegen die Divisionen Pattons gab. 36 Jede Einheit habe sich die Kräfte und Vorräte gegriffen, schrieb er, derer sie in ihrem momentanen Einsatzraum gerade habhaft werden konnte. Jegliche Versorgung auf normalem Wege war längst zusammengebrochen. An einem Tag stand die Truppe mit nichts da, am nächsten schwelgte sie im Überfluß. "Es war besonders bezeichnend, daß in fast jedem Ort durch die örtliche Parteileitung eine mehr oder weniger große Betriebsstoffmenge (bis zu 100 cbm) zurückgehalten worden war, um rechtzeitig ,evakuieren' zu können. Innerhalb der Armee wurde es damals ,Fluchtbenzin' genannt. Von diesem gefundenen Sprit hat die Armee bis zur Kapitulation gelebt." Als die 7. Armee Mitte April den Überblick über die Lage an ihrem Nordflügel gänzlich verloren hatte, hob sie das Aufklärungsmittel der von ihr so genannten "Telefonaufklärung" aus der Taufe, d.h., um die Positionen der eigenen und der feindlichen Truppen festzustellen, wurden laufend "die öffentlichen Fernsprechämter und Sprechstellen bestimmter Bezirke abgefragt". Sogar zur benachbarten 11. Armee bestand Funkund Fernsprechverbindung "im allgemeinen nicht". Als der Stab der 7. Armee bereits Anfang April den Verdacht äußerte, die Amerikaner seien offenbar dabei, den Versuch zu machen, "Deutschland in zwei Hälften zu spalten und in Mitteldeutschland die erste Verbindung mit den Russen zu suchen", war den Offizieren zugleich auch bewußt, daß "eine erfolgreiche Abwehr unmöglich" geworden war. Auch die von Hitler in letzter Minute aus zusammengewürfelten Einheiten aufgestellte 12. Armee unter General Walther Wenck 37 kam in den Tagen von Bradleys Ansturm, so General Gersdorff, "zwischen Ost- und Westfront eingequetscht, niemals zur Auswirkung". Die deutschen Städte in den preußischen Provinzen Westfalen, Hannover, Sachsen, in den Ländern Lippe, Anhalt, Braunschweig, Thüringen und Sachsen fielen jetzt zu Dutzenden an die Amerikaner. Im Süden, wo die 3. US-Armee die deutsche 7. Armee vor sich her trieb, etwa Eisenach (5. 4.), Gotha (4. 4.), Erfurt (12./13. 4.), wo noch Kämpfe von Haus zu Haus entbrannten, Weimar (11. 4.), Jena (13./14. 4.), Gera (14. 4.); im Abschnitt der First U.S. Army die Städte Göttingen (8. 4.), Halle (15./19. 4.) hier wurden mehr als 100.000 Flugblätter "Surrender or Destruction" über der noch von mehreren tausend Verteidigern gehaltenen Stadt abgeworfen 38 -, Dessau (21./ 23. 4.). In Leipzig, in das die Amerikaner am 18./19. April eindrangen, lieferte der deutsche Stadtkommandant mit 250 Mann auf dem Gelände des Völkerschlachtdenk" Conquer (Ninth Army), S. 286. J6 German Foreign Military Studies, A-893, Generalmajor Rudolf-Christoph Freiherr v. Gersdorff, Die Endphase des Krieges. Vom Rhein zur tschecho-slowakischen Grenze, S. 31 ff.; MGFA, Dokumentenzentrale. Zitate S. 32, S. 49, S. 47, S. 38, S. 48, S. 59. 37 Vgl. Günther W. GelIermann, Die Armee Wenck - Hitlers letzte Hoffnung. Aufstellung, Einsatz und Ende der 12. deutschen Armee im Frühjahr 1945, Koblenz 1984. J8 Hoegh, Doyle, Timberwolf Tracks (104th Infantry Division), S. 338 ff.
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mals ein vermeintlich geschichtsträchtiges, gespenstisches letztes Gefecht bis zum Morgengrauen des 20. Apri!.39 Im Norden nahmen die Soldaten General Simpsons Bielefeld (4. 4.), Hannover (10. 4.), Hildesheim (7. 4.), Braunschweig (10./12. 4.). Magdeburg, "ein wunder Punkt an der Front der Ninth Army"40, dessen Kampfkommandant die amerikanische Aufforderung zur Übergabe der Stadt am 16. April zurückgewiesen hatte, wurde am Mittag des 17. April von mehr als 300 mittelschweren Bombern attackiert, gleichzeitig mit schwerem Artilleriefeuer belegt und am 18. April von der 2nd Armored Division ("Hölle auf Rädern") genommen. Diese amerikanische Panzerdivision hatte Ende 1942 an der Invasion Nordafrikas teilgenommen, die Landung in Sizilien im Sommer 1943 mitgemacht, sie war am 9. Juni 1944 in Omaha Beach in der Normandie an Land gegangen, danach kamen Carentan, St.La, die Siegfried-Linie, Houffalize/Ardennen, der Ruhrkessel und schließlich Magdeburg an der EIbe. Noch bevor dieser Verband den Rhein überschritt, hatte ihr Divisionskommandeur einen Plan für den Vorstoß nach Berlin ausarbeiten lassen. Generalmajor Isaac D. White war dann auch der erste an der Eibe. Am 1l. April 1945 ("in der Gefechtsgeschichte der 9. Armee ist kein Tag denkwürdiger"41), gegen acht Uhr abends, setzte die Division von Schönebeck aus, zwanzig Kilometer stromauf von Magdeburg, die elektrisierende Meldung ab: "Wir sind an der Eibe". Bald darauf setzte eine Einheit der Division sogar über den Strom. Über achtzig Kilometer lagen an diesem Tage bereits hinter dem Combat Command B. "Es war wahrhaftig ,Blitzkrieg in Umkehrung"', bemerkte der Chronist der 9. US-Armee. Wie die meisten Verbände Bradleys war auch die 2nd Armored Division in ein "Vakuum"42 vorgestoßen. Bis Mitte April hatten die Spitzen der 12. Armeegruppe auf einer Breite von etwa 350 Kilometern, ungefähr zwischen Wittenberge und Zwickau, Eibe und Mulde erreicht. Dies war die bald mit dem Generalstab der Roten Armee vereinbarte "Meeting Line"43, die Demarkationslinie, bis zu der Eisenhower seine Truppen vorrücken ließ. Da die sowjetische Großoffensive zur Einschließung Berlins und der Vorstoß an die Eibe erst am 16. April begannen, sollte es noch etwa zehn Tage dauern, ehe Generalmajor Rusakov und Generalmajor Reinhardt mit ihren Stäben bei Torgau vor die Kameras der Kriegsberichterstatter treten konnten. Anders als noch vier Wochen zuvor, gab es jetzt niemanden mehr, weder Beteiligte noch außenstehende Beobachter, dem nicht unzweideutig vor Augen gestanden wäre, daß die Wehrmacht im Westen erledigt war. Gleich zu Beginn des amerikanischen Stoßes nach Mitteldeutschland hatte sich der Oberbefehlshaber der deutschen Heeresgruppe G, General Friedrich Schulz (den Hitler persönlich beschwor, die Westfront bis zum Erscheinen der neuen, düsengetriebenen Maschinen der Luftwaffe über dem Kampfgebiet unbedingt noch wenigstens drei oder vier Wochen zu halten 44 ), im Raum Gotha mit eigenen Augen davon überzeugen können, wie es an der Front aussah. ,,Auf Nachricht vom Anrollen fd!. 39
40 41 42 43
44
Charles B. MacDonald, The Mighty Endeavour. American Armed Forces in the European Theater in World War 11, New York 1969, S. 487. Conquer (Ninth Army), S. 305. Ebenda, S. 298. Die nächsten beiden Zitate ebenda. MacDonald, Last Offensive, S. 385. Vgl. hief2u Forrest C. Pogue, The Supreme Command, Washington 1954, S. 461 ff. Siehe auch das Tele· gramm Eisenhowers an die Militärrnission in Moskau v. 21. 4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2632 ff. Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 411 f.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
Panzer setzte Fluchtbewegung übelster Art ein, die erst bei Erfurt abflaute. Dabei war von fd!. und eigener Seite weit und breit kein Schuß zu hören", schrieb er in einem Befehl an seine Armeen: ,Je weiter von der vordersten Linie entfernt, um so mehr Soldaten! Ein unmöglicher Zustand."45 Der Feindaufklärungsbericht des Alliierten Oberkommandos war zu Beginn der Offensive zu der Feststellung gelangt: "Die simple Tatsache sticht hervor, daß der Feind im Westen nicht genügend Kräfte hat, um unser Vordringen auch nur zu verlangsamen."46 Auch die "Festung Harz"47, die von der deutschen 11. Armee als Versammlungsraum für die Vereinigung mit der dort aber nie eintreffenden Armee Wenck bis zum 20. April gehalten wurde, hatte das Tempo der zur Eibe stürmenden Verbände Simpsons und Hodges' nicht beeinträchtigen können. Schon eine Woche zuvor war in der Neuen Zürcher Zeitung für jedermann zu lesen gewesen, es gebe "keine Westfront" mehr. 48 Mitte April zogen die Stäbe der Allied Expeditionary Force dann eine eindeutige Bilanz: "Von jedem Standpunkt aus", bemerkte der G-2 Stab, "ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der organisierte Widerstand im Hitler-Deutschland völlig zusammenbricht. .. Nichts vermag jetzt die Fehler Hitlers und der Offiziere seiner Umgebung zu korrigieren, um den Krieg zu verlängern oder gar die Lage teilweise wieder zu wenden. Die Fähigkeiten des Feindes sind in der Tat gleich Null. Keine Schritte, die er mit den gegebenen Mitteln der Kriegführung tun kann, sind solcher Art, daß sie das Ergebnis beeinflussen oder auch nur nennenswert hinauszögern werden."49 Die gleiche Gewißheit, die jetzt auch die Neue Zürcher Zeitung verbreitete ("Kriegsende in Sicht")50, sprach aus der Lagebeurteilung, die die Psychological Warfare Division zur selben Zeit traf: "Man kann nun unbesorgt sagen, daß die deutsche Armee auf ihrem Weg zur Niederlage und zum Bewußtsein der Niederlage das letzte Stadium erreicht hat."5! Der Nachfolger von FrankIin Delano Roosevelt war erst einen Tag im Amt, da gab es bereits eine Brücke, die nach dem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten benannt war. An architektonischer Eleganz konnte sich die "Truman-Brücke" nicht mit anderen berühmten amerikanischen Brückenbauten messen, aber sie verband immerhin das Westufer mit dem Ostufer der Eibe, und auf dem mächtigen Schild, das die 83rd Infantry Division davor aufgepflanzt hatte, stand: "Tor nach Berlin"52. Als die 9. US-Armee am 13. April die Pionierbrücke bei dem kleinen Städtchen Barby, ungefähr 25 Kilometer südlich von Magdeburg, legte, nahmen General Simpson und seine Soldaten noch immer an, sie befänden sich in einem Wettlauf zur deutschen Reichshauptstadt. Erst recht wurde bei den Einheiten der 12. Armee von General Wenck,
" Befehl des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe G v. 5.4. 1945, wiedergegeben in einem Befehl der 19. Armee an die unterstellten Verbände v. 7.4. 1945; BAIMA, RH 20-19/5. " SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 55 v. 8.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-2, Intelligence Reports 1942-1945, Entry 13. 47 German Foreign Military Studies, T-123, Geschichte des Oberbefehlshabers West, von Generalfeldmarschall a.D. Albert Kesselring u.a., Teil III, Bd. 2, S. 284. Zu Einzelheiten vgl. MacDonald, Last Offensive, S.402fl. ,. Neue Zürcher Zeitung, 13.4. 1945. '. SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 56 v. 15.6.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-2, Intelligence Reports 1942-1945, Entry 13. '0 Neue Zürcher Zeitung, 15.4. 1945. 51 SHAEF, Psychological Warfare Division, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 29 v. 16.4.1945; NA, RG 331 PWD, Decimal file 1944-45, Entry 87. " Hayhow, Thunderbolt across Europe (83rd Infantry Division), S. 88.
1. Die Besetzung Mitteldeutschlands
673
die den Brückenkopf mit allen ihnen verbliebenen Mitteln berannten, vermutet, die Amerikaner wollten von Barby aus über die "Truman Bridge" nach Berlin marschieren. Während die deutschen Verteidiger einen wenige Kilometer flußaufwärts gelegenen zweiten Brückenkopf wieder eindrücken konnten (wobei sich ein Hauptmann das letzte an der "Westfront" vergebene Ritterkreuz verdiente), gelang das bei Barby selbst mit dem Einsatz von Treibminen und Kampfschwimmern nicht. 53 Im Gegenteil, die amerikanische 83. Infanteriedivision konnte ihn mit Unterstützung der 2nd Armored Division nach und nach auf über 40 Quadratkilometer ausweiten. Simpsons Stab hatte mittlerweile schon Pläne ausgearbeitet, in denen der Marsch auf Berlin als Absicht der Armee beschrieben war, "den Brückenkopf an der Eibe so zu erweitern, daß er Potsdam einschließt". Doch die Truman-Brücke blieb ein "Brükkenkopf nach Nirgendwo"54. Weiter Eibe-abwärts, bei Stendal, war der Berliner Autobahnring sogar nur noch gut 60 Kilometer entfernt. Von hier aus glaubte der Kommandierende General der Ninth U.S. Army mit seinen Truppen binnen dreier Tage in Berlin sein zu können. Am 15. April flog Simpson deshalb zum Hauptquartier Omar Bradleys und unterbreitete diesem seine Pläne für die Eroberung der Reichshauptstadt. Bradley hörte ruhig zu, meinte, darüber müsse er mit Eisenhower sprechen, rief diesen auch sofort an und sagte nach kurzem Wortwechsel mit dem Supreme Comman der in die Telefonmuschel: "In Ordnung, Ike, das hab' ich mir schon gedacht. Ich werd's ihm sagen. Wiedersehn." Das war das Ende des Traumes, der "Big Simp"55 und seine Truppen in den Tagen zuvor beflügelt hatte. An der bereits Ende März vom Obersten Befehlshaber gefällten Entscheidung, an der Eibe haltzumachen, änderte sich nichts mehr. "Wenn es auch zutrifft, daß wir einen kleinen Brückenkopf an der Eibe gewonnen haben", telegrafierte Eisenhower am selben Tag an General MarshalI, "so darf doch nicht vergessen werden, daß nur unsere Spitzen am Fluß sind; unser Schwerpunkt ist noch ein gutes Stück zurück."56 Schon am nächsten Tag kam die Meldung von Marschall Schukows Großangriff auf Berlin, das eine Woche später eingeschlossen war und am 2. Mai 1945 kapitulierte. 57 Die "Berliner Operation" kostete noch einmal mindestens 100.000 sowjetischen Soldaten das Leben. Die Zahl der Opfer lag damit nicht allzuweit unter der Gesamtzahl der amerikanischen Gefallenen auf dem europäischen Kriegsschauplatz. 58 Nachdem mit dem Erreichen der Eibe-Mulde-Linie und dem Kontakt mit den Armeen Konjews, Schukows und Rokossowskis das Hauptziel der letzten amerikanischen Großoffensive in Europa erreicht war, verlagerte sich der Schwerpunkt der Ope" GelIermann, Armee Wenck, S. 54ff. " MacDonald, Last Offensive, S. 384. Zitat, S. 399 (überliefert von Simpsons G-3, Oberst Mead); dort auch das folgende. S> Bradley, A Soldier's Story, S. 537. ,. Telegramm Eisenhowers an Marshall v. 15.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2615. Vgl. auch Conquer (Ninth Army), S. 311: "With troops fighting on the tip ends of overextended supply lines, the Army began to resort to supply by air." " Am amerikanischen Brückenkopf bei Barby trafen die ersten sowjetischen Einheiten am 30. April ein, am 6. Mai 1945 wurde er ihnen übergeben; ebenda, S. 328 f. " Vgl. Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 430, wo der General nicht vergaß, auf die hohe Zahl der sowjetischen Opfer bei der Eroberung Berlins hinzuweisen. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz fielen im Zweiten Weltkrieg 135.576 amerikanische Soldaten. Die Zahl der sowjetischen Opfer der gesamten "Berliner Operation" wird mit 102.000 angegeben; andere Schätzungen liegen höher. Vgl. eben da, S. 436. Vgl. auch Horst Giertz, Die Schlacht um Berlin vom 20. April bis zum 2. Mai 1945, in: Militärgeschichte 18 (1979), S. 350.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
rationen auf die "Flanken" in Norddeutschland und Süddeutschland. Die Hauptvormarschrichtung führte die 3. US-Armee, die den Auftrag erhielt, nach Südosten einzudrehen, jetzt das Donautal abwärts binnen vierzehn Tagen nach Linz. Die Sixth Army Group unter General Jacob L. Devers, die sich nebenher mit allerlei Extravaganzen ihrer 1. Französischen Armee herumschlug, hatte während Bradleys mitteldeutscher Offensive ebenfalls gute Fortschritte erzielt. Als Hodges die Eibe erreichte, standen ihre Einheiten in Nordbaden und Nordwürttemberg; am 21./22. April fiel Stuttgart. 59 . Lediglich im Bereich der britischen 21. Armeegruppe ging es, nachdem Montgomery der Einzug in Berlin versagt worden war, nicht mehr so recht voran. Der Supreme Commander bot dem Feldmarschall im Norden, der schnellstens die dänische Halbinsel abriegeln sollte, in taktvollster, von dem Briten aber nur als subtile Kränkung zu empfindenden Form mehrfach Unterstützung durch amerikanische Verbände an. 60 In Omar Bradleys zweitem Erinnerungsbuch, das 28 Jahre nach Kriegsende erschien und in der Bewertung der britischen Operationen unüblich offen ist, kommt einiges von dem amerikanischen Unwillen gegenüber dem schwierigen Kampfgefährten zum Vorschein. Es schwingt auch einige Schadenfreude darüber mit, daß der verhinderte Eroberer von Berlin durch die Provinz Hannover so gar nicht vorangekommen war: "Im Norden", so Bradley über die letzten Apriltage 1945, "schleppte sich Monty weiterhin mühsam vorwärts, viel zu langsam." Dessen letzte Operation, der Vormarsch vom Rhein nach Lübeck, das er mit kräftiger Unterstützung des amerikanischen XVIII. Airborne Corps unter General Matthew B. Ridgway am 2. Mai 1945 erreichte, sei die vorsichtigste und "uninspirierteste" des ganzen Krieges gewesen. 61 Am Tag, als Lübeck fiel, stießen die Spitzen der alliierten Einheiten an der Ostseeküste auf die sowjetischen Truppen, gegen neun Uhr abends, beim mecklenburgischen Wismar. 62
2. Die rettenden amerikanischen Linien Zusammengepreßt in jenem nur noch hundert Kilometer breiten Streifen zwischen "Ostfront" und "Westfront", einem schmalen Korridor, der in den drei Wochen zwischen der sowjetischen Berlin-Offensive und der Kapitulation mit jedem Tag weiter dahinschwand, flammten für die Zivilbevölkerung, für Hunderttausende von Flüchtlingen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, aber auch für die geschlagenen Soldaten der Wehrmacht noch einmal Entsetzen, Angst und Panik, die rasende Furcht davor auf, von den Kampftruppen der Roten Armee überrollt zu werden. Gewiß, die "Russenangst" war von Goebbels beständig geschürt worden, aber im Frühjahr 1945 war sie in Ost- und Mitteldeutschland keine Propagandachimäre oder eine unbegründete Obsession. Seit dem ersten Einbruch der Roten Armee in den östlichen Teil Ostpreußens im Sommer 1944, spätestens jedoch seit der Überrennung Pommerns und Schlesiens ab Mitte Januar 1945, wußten neben den Soldaten an der Front auch die 5. Zur amerikanischen Besetzung vgl. VII/I. 60
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Vgl. das Telegramm Eisenhowers an Alan Brooke v. 27.4. 1945, in dem er sich auf seine vorangegangenen Angebote an Montgomery bezieht; Eisenhower-Papers, IV, S. 2650f. Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 433 f. Dort auch beide Zitate. "Mission Accomplished". A Summary of Military Operations (Airborne) in the European Theater of Operations 1944-1945 (XVIII Airborne Corps), Schwerin 1945, S. 32.
2. Die rettenden amerikanischen Linien
675
Männer und Frauen zu Hause, mit welcher Wucht die Brutalität des Weltanschauungskriegs gegen die Sowjetunion jetzt auf die Deutschen zurückschlug. 63 Der Schutz der zurückflutenden Trecks vor der andrängenden Roten Armee war für viele Soldaten, auch für viele zivile Helfer und Beamte, häufig die einzige Motivation ihres Einsatzes, die ihnen verblieben war 64 ; das ist gut an dem Verhalten etwa des unglückseligen Volkssturms abzulesen, der dort bei Feindannäherung - ganz anders als im Westen - keineswegs grundsätzlich sofort auseinanderlief. Hatte es zwischen Weichsel und Oder über zwei, drei Monate hin noch viele gegeben, die versuchten, "zu retten, was noch zu retten war", so wollten Soldaten und Bevölkerung sich nun vor allem selbst retten. Wer jetzt noch in der Lage dazu war, versuchte hinter die amerikanischen Linien zu flüchten, die sich seit der dritten Aprilwoche unübersehbar längs der Eibe zu konturieren begannen. Über die Gemütsverfassung der Deutschen vor den Stellungen der U.S. Army gab es bei den Amerikanern nicht den leisesten Zweifel: "Die deutsche Furcht vor ,Asiaten' und der deutsche Haß auf ,Asiaten' sind sehr stark", hieß es in der als streng geheim klassifizierten, auf Intervention des amerikanischen Political Advisor in Ton und Aussage ohnehin bereits erheblich abgeschwächten Analyse des Alliierten Oberkommandos zu Verhalten und Politik der sowjetischen Besatzungsarmee. Weiter war darin ausgeführt: "Die Ereignisse der letzten Wochen des Krieges zeigen, um wieviel mehr die Deutschen eine russische Besetzung fürchteten als die Besetzung durch die Alliierten. ,Sieg oder Sibirien' war eine Parole, die von den Deutschen zweifellos geglaubt wurde. Während der ersten vier bis fünf Tage des Einmarsches scheint die Rote Armee auch für die Schrecklichkeiten, die der russischen Zivilbevölkerung von den Deutschen zugefügt worden sind, Rache genommen zu haben."65 John J. McCloy, Assistant Secretary of War, hatte während eines internen Disputs über die richtige Politik und Propaganda gegenüber den Deutschen in einem Memorandum für die amerikanischen Stabschefs bereits im Februar 1944 einmal festgestellt, daß es der Schrekken vor der Roten Armee und deren voraussichtlichen Racheakten sei, der die Deutschen weitermachen lasse. Und er fügte schon damals hinzu: "Sie können nicht in jeder Generation ihre Verwüstungen anrichten, ohne selber etwas davon abzubekommen."66 Wenn sich die fliehenden Soldaten und die flüchtende Bevölkerung in ihrem Los manchmal auch kaum voneinander unterschieden, so blieb den Soldaten wenigstens die Hoffnung, sich einzeln oder in geschlossenen Verbänden in die amerikanische oder britische Kriegsgefangenschaft zu retten. Die Aussicht, daß die Alliierten Vgl. allgemein hierzu bereits die Bemerkungen von Martin Broszat zu den "Übergriffen und Gewalttaten der sowjetischen Truppen beim Einmarsch in Ostdeutschland" in seiner Einleitung zu Bd. 1/1 ("Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße") der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bonn 1953, S. 60E ff. 64 Vgl. Andreas Hillgruber, Der Zusammenbruch im Osten als Problem der Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte, in: ders., Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986, S. 13 ff. Dort auch Literaturangaben zum Kriegsende in Ostdeutschland. Das Zitat findet sich auf S.36. Zum unterschiedlichen Verhalten des Volkssturms im Osten und im Westen vgl. VII/4 . • 5 SHAEF,JIC, Political Intelligence Report v. 30. 5.1945. Zugleich das Anschreiben des Political Advisor for Germany v. 4. 6. 1945; NA, RG 59,740.00119 Control (Germany), 6-445. Gouverneur Gore aus Tennessee sagte am 19. März 1945 im amerikanischen Repräsentantenhaus: "The Germans mortally fear the Russians." 79th Congress, 1st Session, vol. 91, Part 2, S. 2453 . •• Memorandum McCloys für die Chiefs of Staff v. 25.2. 1944; zit. nach Maurice Matloff, The War Department. Strategie Planning for Coalition Warfare 1943-1944, Washington 1959, S. 429. 63
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
die abgerissenen Flüchtlingsmassen in ihr Besetzungsgebiet lassen würden, war demgegenüber gering. Die letzten Kriegstage brachten auf dem Reichsgebiet und außerhalb eine förmliche Kaskade von Teilkapitulationen deutscher Armeen gegenüber den Westalliierten. 67 Die einzige Übergabe, die noch vor Hitlers Selbstmord am 30. April 1945 ausgehandelt wurde, war die am 2. Mai in Kraft tretende Kapitulation der deutschen Italienarmee. Hitler erfuhr nicht mehr davon, hatte ein Vierteljahr zuvor aber die vor allem von SS-Obergruppenführer Karl Wolff angebahnten Verhandlungen sanktioniert, weil er darin ein gutes Mittel erblickte, Zwietracht in der Anti-Hitler-Koalition zu säen. Tatsächlich führten die Anfang März aufgenommenen Kontakte Wolffs zum OSS-Chef Allen W. Dulles zu einem der vehementesten Zerwürfnisse zwischen Stalin und den Westmächten während des gesamten Krieges. Stalin, der Separatfriedensverhandlungen witterte, wandte sich Anfang April mit denkbar groben Telegrammen an Roosevelt. Er unterstellte seinen Verbündeten darin nicht nur ziemlich unverhohlen, daß sie die Sowjetunion hintergingen, er machte in galligen Bemerkungen auch deutlich, wie er sich die gewaltigen Erfolge Eisenhowers in diesem Frühjahr erklärte: Nach Zusage milderer Friedensbedingungen hätten die Deutschen den Alliierten im Westen einfach ihre Front geöffnet: "Zur Zeit haben die Deutschen an der Westfront den Krieg gegen England und die Vereinigten Staaten tatsächlich eingestellt", schrieb Stalin am 3. April nach Washington. Das kam einer Beleidigung der Expeditionary Force recht nahe. Deshalb lag dem Präsidenten, der die sowjetischen Vorwürfe indigniert von sich wies, tags darauf auch sehr daran, gegenüber dem Marschall festzuhalten, es seien vor allem "die fürchterliche Wirkung unserer Luftrnacht" und die vernichtenden Niederlagen der Wehrmacht links des Rheins gewesen, die den rasanten Vormarsch ermöglicht hätten. "Es fällt schwer, dem beizupflichten, daß der Mangel an Widerstand seitens der Deutschen an der Westfront allein dadurch zu erklären ist, daß sie geschlagen sind", beharrte Stalin am 5. April in seiner Antwort an Roosevelt aber auf seiner Theorie eines amerikanisch-britischen Komplotts mit den Deutschen zum Schaden der Sowjetunion: "Sie kämpfen weiterhin erbittert mit den Russen um eine unbekannte Bahnstation Zemlianitsa in der Tschechoslowakei, die sie ebenso brauchen wie ein toter Mann einen heißen Umschlag, übergeben aber ohne jeden Widerstand so wichtige Städte in Mitteldeutschland wie Osnabrück, Mannheim, Kassel. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß ein solches Verhalten der Deutschen mehr als eigenartig und unbegreiflich ist?"68 Einige Tage später lenkten beide Seiten, weil beide es nicht zu einem Bruch kommen lassen wollten, wieder ein (Stalin: "Ich hatte und habe nicht die Absicht, irgend jemanden zu beleidigen"; Churchill: "Kommt einer Enschuldigung so nahe, wie ihnen das nur möglich ist"; Roosevelt: "Kleinere Mißverständnisse"69). Damit war die Krise vorerst beigelegt. Die ganze Wahrheit hatte freilich in Roosevelts Erläuterungen der Gründe für die Erfolge Eisenhowers an der Westfront nicht 67
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Vgl. hierzu Reimer Hansen, Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, Stuttgart 1966, S. 6911. Zur Kapitulation der deutschen Italienarmee siehe ebenda, S. 6911. Telegramm Stalins an Roosevelt v. 3.4. 1945; Telegramm Roosevelts an Stalin v. 4.4. 1945; Telegramm Stalins an Roosevelt v. 5.4. 1945; PRUS 1945, III, S. 7421., S. 745 I., S. 7491. Zitate S 742, S. 745 und S.750. Telegramm Stalins an Churchill v. 7.4.1945; Telegramm Churchills an Roosevelt v. 11. 4.1945; Roosevelt an Stalin v. 12.4. 1945, dem Todestag des Präsidenten; ebenda, S. 753, S. 752, S. 756.
2. Die rettenden amerikanischen Linien
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ausgesprochen werden können. Eine kapitalistisch-faschistische Verschwörung existierte zwar ausschließlich in Stalins Phantasie, aber es war eine allen Dreien wohlbekannte Tatsache, daß die deutschen Soldaten im Westen nicht jenen von Verzweiflung und Panik befeuerten Kampfesmut an den Tag legten, der im Osten bis zum Schluß zu beobachten war. Das hatte sich in den linksrheinischen Kämpfen gezeigt, das zeigte sich beim amerikanischen Vormarsch vom Rhein an die Eibe und erst recht in den letzten Tagen des Krieges, als die rettenden amerikanischen und britischen Linien eine magnetische Anziehungskraft auf die Wehrmachtssoldaten auszuüben begannen. Daß Hitler den Krieg im Westen im Frühjahr 1945 eingestellt habe, blieb deshalb keine weniger unsinnige Unterstellung. Bei den Westmächten hatte die bittere Kontroverse in der Anti-Hitler-Koalition zur Folge, daß Truman und Churchill die Kapitulationsgespräche in Italien vorübergehend suspendierten, bei der Unterzeichnung der strikt militärisch gehaltenen Urkunde dann zwei sowjetische Generalstabsoffiziere zugegen waren, und daß die amerikanischen und britischen Befehlshaber die weiteren Kapitulationsbegehren deutscher Verbände an ihren Fronten mit allergrößter Umsicht behandelten. Kapitulationsangebote erhielten die Westmächte nach Hitlers Tod genügend. Großadmiral Dönitz, Staatsoberhaupt für 23 Tage, sah es als seine Hauptaufgabe an, "den Kampf gegen die Bolschewisten so lange fortzusetzen, bis die kämpfende Truppe und die Hunderttausende von Familien des deutschen Ostraumes vor der Versklavung oder Vernichtung gerettet sind" - so sein Tagesbefehl vom 1. Mai 1945. "Gegen die Engländer und Amerikaner muß ich den Kampf so weit und so lange fortsetzen, wie sie mich in der Durchführung des Kampfes gegen die Bolschewisten hindern."7o Der Chef des Wehrmachtsführungsstabes hatte schon eine Woche zuvor eine besondere Weisung herausgegeben, nach der alle verfügbaren Kräfte "gegenden bolschewistischen Todfeind" einzusetzen seien. 71 Dönitz konnte seine Strategie bemerkenswert erfolgreich umsetzen. Mit dem "Verfahren der zentral gesteuerten schrittweisen Gesamtkapitulation", wie es genannt wurde 72 , gelang es ihm in der ersten Maiwoche, ungefähr 1.850.000 Soldaten (etwa 55 Prozent der an der Ostfront stehenden deutschen Truppen) hinter die amerikanischen und britischen Linien zu bringen. Wieviel Hunderttausende von Flüchtlingen es gewesen sein mögen, die in letzter Minute in das westliche Besetzungsgebiet "abfließen" konnten, läßt sich nicht mehr ermitteln. An einigen Frontabschnitten, insbesondere bei den in der Nähe der Demarkationslinie stehenden Verbänden, bedurfte es der zentralen Steuerung ihrer nächsten Schritte nicht mehr. Seit der Aufspaltung des verbliebenen Territoriums (die am 25. April 1945 ihren Ausdruck in der Aufspaltung des Wehrmachtsführungsstabes in die '0 Zit. nach Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 127. Vgl. hierzu auch Marlies G. Steinert, Die 23 Tage der
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Regierung Dönitz, Düsseldorf 1967, S. 165 ff. Die kurze Skizze der deutschen Teilkapitulationen vor dem 8. Mai 1945 stützt sich auf diese beiden Werke und auf den konzisen Überblick bei Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg. Kriegführung und Politik, München '1982, S. 457fl. Vgl. den Eintrag im Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes v. 24.4. 1945; Joachim Schultz-Naumann, Die letzten dreißig Tage. Das Kriegstagebuch des OKW April bis Mai 1945, München 1980, S. 45. Noch am 25. April 1945 hatte Jodl zu dem bald darauf abgelösten Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel, Generaloberst Gotthard Heinrici, gesagt: "Solange der Führer lebt, gibt es keine Verhandlungen." Persönliche Aufzeichnungen Heinricis; zit. nach Joachim Schultz-Naumann, Mecklenburg 1945, München 1989, S. 75. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 161. Die Einzelangaben ebenda und auf der folgenden Seite.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
Führungsstäbe Nord und Süd gefunden hatte 73 ) machte sich die Anziehungskraft der westlichen Linien auf die deutschen Truppen täglich stärker bemerkbar. Im nördlichen Abschnitt der Demarkationslinie an der Eibe stehend, hatten sich die Amerikaner zwischen dem 22. und 25. April weiter südlich für den Rest des Krieges auf ihre Stellungen entlang des gut 200 Kilometer langen Westufers der Mulde zurückgezogen. Die Rote Armee blieb in Sachsen zunächst an der Eibe stehen und rückte dort erst am 5. Mai zu der vereinbarten, entlang der Mulde verlaufenden "meeting line" auf. 74 Dadurch wurde das Niemandsland, in dem es Amerikaner und Russen bei leichten Spähtruppaktivitäten beließen, zu einem überquellenden Sammelbecken nach Westen strebender Flüchtlinge und Soldaten. "Feindtruppen gegenüber der Mulde-Linie", beschreibt die First United States Army die Lage von Soldaten und Zivilbevölkerung zwischen Eibe und Mulde nüchtern, "fürchteten vor allem die Annäherung der russischen Spitzen in ihrem Rücken und fielen, in Angst vor russischer Kriegsgefangenschaft, in unsere Linien ein, um sich zu ergeben." Im Abschnitt der amerikanischen 104th Infantry Division ("Timberwolves"), die den Mittelabschnitt der Mulde gegenüber von Torgau im Raum Bitterfeld-Eilenburg hielt, begann die Flucht von Wehrmachtssoldaten schon, als die Timberwolves ihre Stellungen auf dem linken Flußufer gerade erst bezogen hatten. Mit unkonventionellen Mitteln mußten die Amerikaner versuchen, des Massenproblems Herr zu werden, mit dem sie sich nun konfrontiert sahen. Im Abschnitt der 104th Division warfen sie über den Flüchtenden Flugblätter ab, in denen die Landser aufgefordert wurden, sich - angeführt von einem "spokesman" - in Abständen von jeweils einer halben Stunde in Dreierreihen in Gruppen zu fünfhundert Mann mit entladener Waffe am Ostufer einzufinden: "Von den Divisionspionieren wurden Brücken gebaut. Gruppen von Feinden verhandelten mit Spähtrupps oder folgten der schriftlichen Direktive", vermerkt die Chronik der Division. "Tag und Nacht ergoß sich für die nächsten zehn Tage ein endloser Strom über die Brücken." Auf diese Weise gaben sich mehr als eine Woche, ehe die Teilkapitulationen in großem Stile begannen, an der Demarkationslinie zwischen Ost und West allein zwischen dem 24. und 27. April 1945 16.800 Kriegsgefangene in die Hände dieser einen amerikanischen Division. 75 Bei der nördlich von ihr liegenden 9. Infantry Division inspizierten in den gleichen Tagen ebenfalls Patrouillen wiederholt das von Flüchtenden wimmelnde Ostufer der Mulde. Sie kehrten jedesmal mit "unglaublichen Massen von Kriegsgefangenen" zu den eigenen Linien zurück. 76 Unter welcher ungeheueren inneren Anspannung die hier zusammengedrängten deutschen Soldaten standen, offenbart eine Episode, die Lieutenant William Toothman überliefert hat. 77 Toothman war am 25. April 1945 im Raum Wittenberge-Sten73
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"Regelung der Befehlsführung nach der Aufspaltung des deutschen Kriegsschauplatzes in einen Nord- und einen Südraum (25. April)", in: Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtsführungsstab), eingeleitet und erläutert von Percy Ernst Schramm, Bd. IV/2, Frankfurt 1961, S. 1590f. Vgl. First United States Army, Report of Operations, 23 February - 8 May 1945, S. 82 (dort das folgende Zitat) und S. 87. Vgl. Hoegh, Doyle, Timberwolf Tracks (104th Infantry Division), S. 3501. Ähnliche Berichte sind in den meisten "Unit Histories" der an der Demarkationslinie stehenden amerikanischen Verbände zu finden. joseph B. Mittelman, Eight Stars to Victory. A History of the Veteran Ninth Infantry Division, Columbus 1948, S. 371. Alan H. Mick, With the 102nd Infantry Division through Germany, Washington 1947, S. 223 ff.; dort auch die Zitate.
2. Die rettenden amerikanischen Linien
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dal, ungefähr gegenüber der Havel-Mündung, mit einer kleinen Patrouille über die Eibe gegangen, um im Auftrag der 102nd Infantry Division herauszufinden, ob sich von Osten her bereits sowjetische Einheiten annäherten. Dabei erging es dem Spähtrupp zunächst wie allen amerikanischen Patrouillen in diesen Tagen. Noch kaum einen Kilometer vom Ostufer entfernt, hatte die kleine Gruppe, ohne einen Schuß abzufeuern, schon hundert Gefangene gemacht. Bald darauf kam den Amerikanern ein deutscher Major entgegen, der ihnen sagte, der Kommandant der Stadt Havelberg wolle ihnen gerne seine gesamte Garnison mit mehr als zweitausend Mann übergeben. Doch dann wurde der Patrouille plötzlich in Erinnerung gerufen, daß der Krieg noch nicht vorüber war: Der Trupp sah sich in ein Scharmützel mit SS-Soldaten verwickelt, die in später Stunde noch den vergeblichen Versuch machten, durch drakonisches Eingreifen die Kampfmoral der Wehrmacht zu heben. Die verdutzten Amerikaner gingen nach kurzer, aussichtsloser Gegenwehr nach Havelberg in Gefangenschaft. Hier registrierte der bei dem Scharmützel leicht verwundete Toothman, daß die Wehrmachtssoldaten kaum noch Waffen bei sich trugen. Am Tag nach dem "Überfall" auf die Amerikaner statuierte der befehlshabende deutsche Oberst am Rande der Stadt ein gräßliches Exempel: Er stellte seinen amerikanischen Gefangenen etwa 150 deutsche Soldaten verschiedener Dienstgrade und Einheiten gegenüber und bat sie dann, jene Männer zu identifizieren, die am Vortage auf den Spähtrupp geschossen und an der Gefangennahme des seit langem sehnlichst erwarteten Feindes mitgewirkt hatten: "Ich sah mir die ganze Gruppe an und identifizierte einen deutschen Gefreiten als Mitglied des Trupps, der mich gefangengenommen hatte", berichtete Lieutenant Toothman nach seiner Rückkehr zur 102d Infantry Division. ,,Als ihn der Oberst befragte, gab der Gefreite seine Teilnahme an dem Gefecht zu. Daraufhin zog der Oberst seine Pistole und schoß den Gefreiten durch den Kopf ... Dann sprach der Oberst zu seinen Männern. Er erklärte, Befehl gegeben zu haben, daß seine Truppe nicht auf amerikanische Soldaten schießen werde." Jeden, der diesen Befehl mißachte, sagte er, werde dasselbe Schicksal treffen. ,,Anscheinend", vermerkt die Chronik der Infantry Division, "machten die Deutschen einen ernsthaften Versuch, das Wohlwollen der Amerikaner zu gewinnen." Die Deutschen, bei denen nach dem Eindruck Toothmans ein "stilles Einverständnis" darüber bestanden habe, "daß die einzige befriedigende Lösung ihres Dilemmas der Übergang über die Eibe sei", ließen der amerikanischen Patrouille während ihrer "Kriegsgefangenschaft" dann noch eine erlesene Vorzugsbehandlung angedeihen, und bereits fünf Tage nach seinem Aufbruch kehrte Lieutenant Toothman zu seiner Einheit auf dem Westufer der Eibe zurück. Seine "Gastgeber" in Havelberg hatten ihn zuvor bedrängt, nach seiner Rückkehr auch wirklich von deren Großzügigkeit und Weitherzigkeit zu erzählen. Zweierlei konnte der Leutnant aus seinen Gesprächen mit deutschen Offizieren außerdem noch weitergeben: "Sie wollen sich nur zu gerne den Amerikanern ergeben. Sie wollen unter keinen Umständen vor den Russen kapitulieren." Bald nachdem sein Spähtrupp zurückgekommen war, konnte sich General Frank A. Keating - Kommandeur dieser 102nd Infantry Division und später Lucius D. Clays Stellvertreter in Deutschland - auch persönlich ein genaues Bild davon machen, wie die ihm gegenüberliegenden deutschen Einheiten der 12. Armee des General Wenck (mit der sich inzwischen die Reste der 9. Armee vereinigt hatten) ihre Lage sahen. Das Besondere der Situation der 12. Armee war, daß sie an einem für sie unüberwindli-
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chen Flußhindernis stand und ihr Wohl und Wehe ganz vom amerikanischen Verhalten abhing. Wenn die 9. U.S. Armee den Übergang gestattete, waren Wencks Soldaten gerettet, verweigerte sie ihn, würden viele in den allerletzten Kriegstagen in einen besonders sinnlosen Tod, die meisten von ihnen in die gefürchtete sowjetische Gefangenschaft gehen müssen. Es gab für die Amerikaner jetzt keinerlei Anlaß mehr, in der Kapitulation der 12. Armee noch irgendeinen militärischen Vorteil zu sehen. Sie standen seit über vierzehn Tagen an der Eibe, hatten den Kampf praktisch eingestellt und wußten, daß sie ihn bis zur deutschen Kapitulation nicht mehr würden aufzunehmen brauchen. Nichts konnte ihnen noch militärisch an einer Ausschaltung dieser deutschen Armee liegen. Ab 2. Mai 1945 begannen an allen Frontabschnitten nach und nach die "stückweisen Kapitulationen"78 der deutschen Wehrmacht gegenüber den Amerikanern und Briten, und es war keine andere als Keatings 102. Infanterie-Division, der Wenck sein Kapitulationsersuchen überbringen ließ. 79 Als Emissär Wencks begab sich General der Panzertruppen Maximilian ReichsfreiheIT von Edelsheim, Kommandeur des XXXXVIII. Panzerkorps, gegen Mittag des 3. Mai in einem Schwimmwagen über die Eibe zur 102nd Infantry Division. Bei sich führte er ein an den Befehlshaber der hier stehenden 9. U.S. Army gerichtetes Schreiben Wencks 80 , das er an General Simpson weiterzuleiten bat. "Ich werde den Kampf gegen den Bolschewismus mit meiner Armee bis zur letzten Patrone fortführen", lautete der zweite Satz in dem Schreiben Wencks. Bei weniger selbstbewußten Allianzpartnern, als es die Amerikaner waren, hätte das sehr leicht als ein unverschämter Spaltungsversuch verstanden werden und zur definitiven Zurückweisung aller weiteren Sondierungsversuche führen können. Wencks Diktion, ganz im Stile der gerade veröffentlichten Erklärungen von Großadmiral Dönitz gehalten, spiegelte die Vorstellungen, die nicht nur von der NS-Propaganda beständig verbreitet wurden, sondern die sich wohl auch der Armeeoberbefehlshaber selbst von der inneren Verfassung der gegen Deutschland kämpfenden "unnatürlichen" Koalition machte. Dennoch war es riskant, in seiner Lage so zu reden, denn General Wenck hatte seinem Gegenüber Simpson nicht die geringste Gegenleistung dafür zu bieten, daß dieser nun seine Soldaten vor dem sowjetischen Zugriff in Sicherheit brachte. Im weiteren Text beschrieb Wenck knapp die Lage auf dem Ostufer des Stromes, erwähnte die auf dichtem Raum zusammengedrängte, "vom bolschewistischen Feind geschändete und ausgeplünderte" Masse von Flüchtenden und äußerte dann den Wunsch, der amerikanische Befehlshaber möge der Übernahme verwundeter Soldaten zustimmen, den Übergang der Zivilbevölkerung auf die andere Elbseite gestatten, Soldaten ohne Waffen hinüberlassen und "nach dem Ende des letzten Kampfes der Armee" deren Einheiten organi78
7'
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Pogue, Supreme Command, S. 480. Einzelheiten zur Kapitulation der Armee Wenck gegenüber der Ninth V.S. Army in: Conquer (Ninth Army), S. 329. Pogue, Supreme Command, S. 481 f. Mick, With the J02nd Infantry Division, S. 227 H. Gellermann, Armee Wenck, S. 109ft Wilhelm Tieke, Das Ende zwischen Oder und Eibe - Der Kampf um BerIin 1945, Stuttgart 1981, S. 478ff. Vgl. ferner die im Rahmen des Foreign Military Studies Program entstandenen Studien B-220 (General Max von Edelsheim, Surrender of the Twelfth Army [4 May 1945]) und B-606 (Oberst Günther Reichhelm, Twelfth Army [12 Apr-7 May 1945)); MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Siehe auch das Memorandum des Chefs des Stabes der Ninth V.S. Army, Generalmajor James E. Moore, für General Simpson v. 7. 5. 1945 über die Kapitulationsgespräche mit General von Edelsheim; abgedruckt bei GelIermann, Armee Wenck, S. 186 ff. Das Schreiben Wencks an den Kommandierenden General der Ninth V.S. Army ist im Original offenbar nicht erhalten. Zitiert ist hier deshalb - in deutscher Rückübersetzung - nach der Fassung, die englisch abgedruckt ist bei Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 227.
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siert zur eigenen Verfügung - im Klartext konnte das nur heißen: für einen Kampf gegen die Rote Armee - zu übernehmen. Diese letzte Passage, in der der vollkommen irreale Versuch unternommen wurde, eine Art von deutscher Gegenleistung vorzugaukeln, offenbarte erneut ein ebenso ungewöhnliches Maß an Chuzpe wie an naivem Grundvertrauen in die amerikanische Langmut und Großzügigkeit. Es konnte den Amerikanern eigentlich gleichgültig sein, was aus den Zehntausenden von Landsern am östlichen Elbufer wurde. Gewiß war es ruhmvoll, die Kapitulation einer ganzen Armee entgegenzunehmen, doch das war für die Alliierten Anfang Mai 1945 nichts Spektakuläres mehr, ganz abgesehen davon, daß die Übernahme von Wencks Soldaten die kaum noch zu bewältigende Masse deutscher Kriegsgefangener neuerlich vergrößerte. Jedoch: Obwohl sie mit der Entgegennahme von Teilkapitulationen riskierten, das gespannte Verhältnis zum sowjetischen Verbündeten weiter zu strapazieren, gingen die Amerikaner an der Demarkationslinie längs der Eibe und Mulde in den letzten Kriegstagen dennoch nicht so weit, soldatische Gepflogenheiten ganz zu verleugnen und die 12. Armee - sie war immerhin "Hitlers letztes Aufgebot" gegen die U.S. Army gewesen - in ihrer Falle sitzen und tatsächlich bis zur letzten Patrone gegen die Rote Armee kämpfen zu lassen. Die Delegation des Generals von Edelsheim konnte von Glück sagen, daß sie das von ihr überbrachte Schriftstück nicht unverrichteter Dinge wieder über die Eibe mit zurücknehmen mußte. Die Übergabeverhandlungen fanden am nächsten Vormittag (4. Mai) im Rathaus von Stendal statt. Für die Ninth U.S. Army war deren Stabschef Generalmajor James E. Moore zugegen. Mit dem Ergebnis der Unterredung konnte General von Edelsheim mehr als zufrieden sein. Die amerikanische Delegation lehnte im Hinblick auf ihre Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion zwar eine förmliche Kapitulation ab, akzeptierte aber "die individuelle Kapitulation"81 von Soldaten der deutschen 9. und 12. Armee. "General Edelsheim wurde gesagt", so das Memorandum des Stabschefs für General Simpson über die Kapitulationsgespräche am 4. Mai, "daß die Russen unsere Verbündeten seien und mit uns gegen die Deutschen kämpften - daß wir so viele deutsche Gefangene hätten, wie wir nur wollten, ja mehr als genug. Es wurde ihm jedoch auch gesagt, daß Deutsche, die am Westufer der Eibe mit erhobenen Händen oder unter einer weißen Flagge erschienen, nach Kriegsbrauch als Gefangene akzeptiert würden."82 Die Übernahme von Verwundeten wurde unter der Voraussetzung genehmigt, daß diesen genügend Begleitpersonal und Medikamente beigegeben waren. Den Übergang von Flüchtlingen gestattete die Ninth U.S. Army nicht - wenigstens formal nicht. Es durften für die Transaktion von den Deutschen auch nicht eigens Brücken errichtet werden, ihren Pionieren war es aber gestattet, die im Fluß liegende riesige Brücke bei Tangermünde soweit zu reparieren, daß eine ganze Armee trockenen Fußes ans Westufer gelangen konnte; an zwei weiteren Stellen war sogar Fährverkehr erlaubt. Während in den vordersten Linien der Armee Wenck noch drei Tage gegen die andrängenden Russen weitergekämpft wurde - auch dabei sahen die Amerikaner zu -, begann am Fluß "eine mehr oder weniger organisierte Massenbewegung deutscher Truppen zum Westufer der Elbe"83. Der Chef des Generalstabes der 81 82
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Vgl. ebenda, S. 228. Vgl. auch Conquer (Ninth Army), S. 329. Memorandum von Generalmajor Moore für General Simpson v. 7. 5. 1945, abgedruckt bei GelIermann, Armee Wenck, S. 186ft. Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 228.
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12. Armee hatte nach dem Krieg wahrlich allen Grund zu der Feststellung: "Was die Kapitulationsbedingungen anlangte, war das Armeeoberkommando dankbar für die vornehme und soldatisch korrekte Art" der Amerikaner. 84 Das amerikanische Verhalten bei der deutschen Massenkapitulation im mittleren Elbabschnitt war korrekt und inkorrekt zugleich gewesen. Mehr als korrekt, ungewöhnlich entgegenkommend und human war es aus der Sicht der insgesamt nicht weniger als 118.000 deutschen Soldaten 85 , denen der Gang in die russische Kriegsgefangenschaft erspart worden war. 86 Aus sowjetischer Sicht aber nahm sich die von der 9. U.S. Army gewährte "Fluchthilfe" alles andere als korrekt aus. Sie war, im Gegenteil, bestens geeignet, den seit den Kapitulationsverhandlungen in Italien schwelenden Argwohn erneut anzufachen. Daran vermochte die in diesen Tagen stereotyp vorgenommene Unterscheidung - sophistische Unterscheidung - der amerikanischen und britischen Kommandeure zwischen "mass surrender" und "individual surrender" natürlich nichts zu ändern. Eher schon war sie ein Indiz für das schlechte Gewissen der westlichen Bundesgenossen. An sich wäre eine solche Unterscheidung gar nicht nötig gewesen, denn die Combined Chiefs of Staff hatten bereits im August 1944 - als es schien, die Wehrmacht werde jeden Tag zusammenbrechen - Richtlinien an Eisenhower gesandt, nach denen die Kapitulation einzelner Verbände akzeptiert werden konnte, wenn diese "bedingungslos" erfolgte und sich ausschließlich auf die militärischen Belange der örtlichen Übergabe beschränkte. 87 Nichts anderes war am 4. Mai 1945 im Rathaus von Stendal zwischen den Generälen Moore und von Edelsheim vereinbart worden. Die alles in allem doch recht glatte Verständigung der beiden Generäle läßt nichts ahnen von jenen Szenen am Elbufer bei Tangerrnünde, "die zu ungeheuerlich waren, um sie gleich zu begreifen", wie der Chronist von General Keatings Division fand: "Schreckenerregend", so beginnt die Schilderung, "waren die angstbesessenen Herden, die sich am Ostufer der Eibe zusammendrängten, als die Russen, jetzt, da durch die Kapitulation rückwärtiger deutscher Einheiten der Druck gelöst worden war, rasch nach Westen zur Eibe drängten. Diese Massenangst, wurzelnd in einer Mischung aus Herdenpsychose und schuldbeladenem Gewissen, erreichte ihren Höhepunkt in einer hysterischen Panik unter den Tausenden von schreckerfüllten Soldaten und Zivilisten aller Nationalitäten. Der durcheinandergewürfelte Haufen wartete in gemeinsamer und fast abergläubischer Furcht vor den näherkommenden Sowjets. Sie drängten zum Fluß, bettelten um die Erlaubnis zum Übersetzen und stürzten sich oft auf jedem Gegenstand, der schwamm, ins Wasser. Sie strömten zum Fluß wie die Toten der Mythologie zur Fähre am Flusse Styx - aber anders als die Toten der Mythologie hielten sich viele nicht damit auf, auf Boote zu warten. Sie überquerten den Fluß auf Treibholz, auf hastig zusammengestückten Flößen, auf Gummireifen, in Waschzubern, auf Brettern. Sie überquerten den Fluß zu Hunderten, zu Tausenden. Die Szene wurde noch chaotischer und hektischer, als die Russen näher kamen." Ein AP-Korrespondent, der sich 84
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So Oberst i. G. Günther Reichhelm in seiner Foreign Military Study B-606 über den Einsatz der Armee Wenck, S. 38; MFGA Freiburg. Hervorhebung im Original. Diese Zahl nennt die 102nd Infantry Division, in deren Abschnitt die Übergabe vonstatten ging. Vgl. Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 228. Weshalb eine ganze Reihe von Soldaten der 12. Armee nach dem 8. Mai 1945 dann wieder an die Sowjetunion ausgeliefert wurde, ist laut GelIermann, Armee Wenck, S. 121, ungeklärt. Telegramm der CCS an Eisenhower v. 16.8. 1944; zit. nach Pogue, Supreme Command, S. 480.
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bei der 102nd Infantry Division aufhielt, schrieb nach Hause: "SS-Panzerleute - einst Deutschlands Elite - paddeln auf behelfsmäßigen Flößen über den Fluß. Manchmal schwimmen sie auch und lassen ihre ordenbedeckten Waffenröcke zurück. Der Schwarm von Soldaten, der sich an den Ostufern zu Zehntausenden zusammenklumpt, ist schlimmer als eine geschlagene Armee. Hier ist eine von Angst gejagte Horde - die vor den Russen eine Angst empfindet, wie sie nur ein schlechtes Gewissen einflößen kann." Dann bedienten sich die Souvenirjäger: ,,Am Westufer, wo die Stapel der Handfeuerwaffen von Minute zu Minute höher wuchsen, gaben herumstreifende alliierte Soldaten der in der menschlichen Natur angelegten Gier nach und eröffneten eine wilde Jagd nach deutschen Armeepistolen. Solche Szenen spielten sich an den Ufern der EIbe ab. Nicht in ihren schrecklichsten Träumen hätten die Nazihalbgötter, diejenigen, die für diese äußerste Entwürdigung ihrer eigenen Leute im Grunde verantwortlich sind, die herzergreifenden Schrecken von Deutschlands Zusammenbruch vorhersehen können."88 Mancher der über die EIbe Geretteten hat damals zweifellos nicht einsehen können, weshalb die U.S. Army ihr üppiges amphibisches und sonstiges Brückengerät nicht einsetzte, um die bedrohten Soldaten noch rascher und bequemer über den Strom zu bringen. Aber letztlich war die tiefergehende Grunderfahrung, daß sich die Amerikaner mit ihrer Einwilligung in den Elbübergang der Armee Wenck insgesamt "anständig" und menschlich verhalten hatten, dadurch auf Dauer nicht zu überdecken. Vielmehr ist diese Erfahrung in tausendfacher privater Erzählung reproduziert, beschworen und lebendig gehalten worden. Sie hat sich so ohne Frage nicht nur bei den Soldaten, sondern weit über diese unmittelbar betroffene Gruppe hinaus tief in das kollektive Gedächtnis gegraben. Nach ähnlichem Schema wie im mittleren Elbabschnitt, aber in noch gewaltigerer Dimension, vollzog sich die Übergabe der Verbände der Heeresgruppe Weichsel im westlichen Mecklenburg in denselben Tagen. 89 Wiederum ermöglichte es die "Einsicht der Westgegner", wie es Kurt von Tippelskirch in seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs später nannte, daß ganze deutsche Armeen "im letzten Augenblick hinter den amerikanischen Linien" verschwanden 90 ; als OB der 21. Armee und für drei Tage "kommissarischer" Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel hat der General persönlich höchst aktiv an den Übergabeverhandlungen in Norddeutschland mitgewirkt. Nachdem Montgomery mit Unterstützung der amerikanischen 82nd Airborne Division unter General Gavin 91 die dänische Halbinsel am 2. Mai abgeriegelt hatte und im Rücken der durch Pommern und Mecklenburg vor den Verbänden der 2. Belorussischen Front zurückweichenden deutschen Truppen (3. Panzer-Armee, 21. Armee) auftauchte, war die bunt zusammengewürfelte Heeresgruppe Weichsel auf einen zwanzig, dreißig Kilometer breiten Streifen zusammengepfercht. Ohne die Hilfe der Amerikaner und Briten war der Heeresgruppe, die (bis zum 20. März unter Führung 88 89
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Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 230. Die Kapitulation der Heersgruppe Weichsel ist wiederholt beschrieben worden. Vgl. dazu: Kurt von Tippelskirch, Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Bann, 2. neu bearbeitete Auflage 1956, S. 580. Jürgen Thorwald, Die große Flucht. Es begann an der Weichsel. Das Ende an der Eibe, Stuttgart 1962, S. 499ff. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 137 ff. Steinert, 23 Tage, S. 182 ff. Tieke, Ende zwischen Oder und EIbe, S. 426 H. Siehe auch Walter Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, Leoni 1980, S. 61 ff. V. Tippelskireh, Geschichte des Zweiten Weltkriegs; Zitate auf S. 583 und S. 580. Vgl. unten in diesem Kapitel.
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Heinrich Himmlers) gegen die Rote Armee gekämpft hatte und erst auf deutschem Boden mit den Westalliierten in Kontakt kam, die Vernichtung oder Gefangennahme durch Rokossowskis Truppen sicher. Auf höchster Ebene begannen deshalb sofort deutsche Sondierungen zu Feldmarschall Montgomery. Großadmiral Dönitz hatte sich noch am 2. Mai zu einer Teilkapitulation im Nordraum entschlossen und an die dortigen Oberbefehlshaber den Funkbefehl herausgegeben, "örtliche Verhandlungsmöglichkeiten" mit "örtlichen englischen und amerikanischen Befehlshabern" dürften genutzt werden. 92 Anderntags schickte er eine Delegation des OKW unter Generaladmiral von Friedeburg zum Hauptquartier der britischen 21. Army Group in der Lüneburger Heide. Die Verhandlungen, die keine mehr waren, liefen auch hier nach genau dem gleichen, für die deutschen Beteiligten nicht zu verkennenden Muster verdeckter Großzügigkeit ab, das sämtliche Gespräche über die Teilkapitulationen an der Demarkationslinie kennzeichnete: demonstrative Betonung der Loyalität mit dem sowjetischen Verbündeten (vor dem die Verbände, die gegen diesen gekämpft hatten, jetzt eigentlich auch die Waffen strecken mußten) durch die amerikanischen und britischen Kommandeure und strikte Ablehnung einer förmlichen Übergabe geschlossener Verbände, gleichzeitig aber Beherzigung hergebrachter Kriegsgebräuche und stillschweigende Akzeptierung des massenhaften "individual surrender", das Hitlers geschlagenen Armeen die Rettung brachte. Das war das Entscheidende, auch wenn die Kapitulationsgespräche im einzelnen von den beteiligten deutschen Offizieren natürlich oft als kaum tragbare Demütigung empfunden wurden. Als etwa Admiral von Friedeburg am Vormittag des 3. Mai beim britischen Oberbefehlshaber vorstellig wurde und ihm klarzumachen versuchte, daß es undenkbar sei, "sich den Russen zu ergeben, da sie unzivilisierte Menschen seien", versäumte es Montgomery nicht, dem Emissär des Großadmirals kühl zu entgegnen, "all das hätten die Deutschen bedenken sollen, ehe sie den Krieg anfingen, und besonders, ehe sie im Juni 1941 die Russen überfielen"93. Auch sonst war die Behandlung im Hauptquartier des Feldmarschalls zwar korrekt, aber doch nicht unbedingt so, wie es der Oberbefehlshaber der traditionsbewußten Kriegsmarine wohl erwartet hatte. Nach einigem Hin und Her unterschrieben v. Friedeburg und seine vier Begleiter die Kapitulationsurkunde (sie bezog sich jetzt auch auf alle deutschen Streitkräfte in Holland und Dänemark) am frühen Abend des 4. Mai, wenige Stunden nach der Kapitulation der Armee Wenck in Stendal. Das Dokument, das am nächsten Morgen in Kraft trat, besiegelte, daß ungefähr 350.000 Soldaten und Offiziere der Heeresgruppe Weichsel (sie gehörten zur 3. Panzerarmee Manteuffels und zur 21. Armee) im letzten Augenblick - so Tippelskirch - hinter der Demarkationslinie im westlichen Mecklenburg verschwanden, bevor kurz darauf überall die Einheiten der 2. Belorussischen Front aufschlossen. Für das Schicksal der hier anbrandenden Flüchtlingsmassen hatte sich Montgomery gewissermaßen für unzuständig erklärt, Friedeburg gegenüber jedoch schon vor der Kapitulation durchblicken lassen, daß er kein "Unmensch" sei. 94 92
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Eintrag v. 2. 5. 1945 im Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes; Schultz-Naumann, Dreißig Tage, S.78. Bernard L. Montgomery, Memoiren, München 1958, S.376. Der Text der Kapitulationsurkunde eben da, S. 381. Faksimile des Originals bei Schultz-Naumann, Dreißig Tage, S. 159. VgL Steinert, 23 Tage, S. 183.
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Sichergestellt hat die gigantische Rettungsaktion im Norden allerdings weniger diese oft beschriebene und von den Briten auch gerne ausgekostete Teilkapitulation der Heeresgruppe Weichsel in Montgomerys Hauptquartier als vielmehr die selbständige Initiative der beiden deutschen Armeeoberbefehlshaber von Manteuffel und von Tippelskireh. Ohne von dem Schritt Friedeburgs zu wissen, hatte General der Infantrie Kurt von Tippe\skirch, der Oberbefehlshaber der aus hunderterlei verschiedenen Einheiten zusammengewürfelten 21. Armee, schon am 2. Mai Kontakt zu der 82nd Airborne Division von General James M. Gavin aufgenommen. Dieser amerikanische Verband, der Montgomerys Operation an der Untere\be so wirkungsvoll unterstützt hatte, stand seit diesem Tag an der von Wismar an der Ostsee entlang des Westufers des Schweriner Sees über Ludwigslust nach Dömitz an der Eibe führenden "meeting line" zwischen Roter Armee und der alliierten Expeditionary Force. Noch am Abend dieses Tages sollte Gavin, dessen Fallschirmjäger schon bei der Invasion Siziliens im Juli 1943 eine bemerkenswerte Rolle gespielt hatten, von dem deutschen Übergabebegehren erfahren. 95 In der näheren Umgebung von Ludwigslust - hier hatte er seinen Gefechtsstand - konnte er bereits al1e Anzeichen von Auflösung und Panik erkennen: ,Junge und Alte, Verkrüppelte und Verwundete, Robuste und Schwächliche, Männer und Frauen, vor allem aber Männer, suchten durch die Stadt in unseren rückwärtigen Bereich zu kommen. Die Konfusion wurde noch durch Zivilisten und Ladeninhaber gesteigert, die ihre ganze Habe in Wägen und kleine Handkarren luden, mit Gesichtern, die verzerrt waren von der Angst davon, was geschehen würde, wenn die Russen sie erwischten." Inzwischen hatte sich aus dem nahegelegenen Hauptquartier der deutschen 21. Armee eine dreiköpfige Offiziersde\egation nach Ludwigslust aufgemacht. Unter ihnen Friedrich Franz Erbgroßherzog von Mecklenburg, in dessen prachtvollem elterlichen Schloß Gavin mittlerweile seinen Gefechtsstand eingerichtet hatte. ,,Am Eingang zur Stadt Ludwigslust", erinnerte sich das großherzogliche Delegationsmitglied später, "waren zu beiden Seiten der Straße übergroße weiße Zeichen aufgebaut, weiße Tücher, quadratisch gespannt. Dort mußten wir anhalten, Koppel und Pistole wurden abgenommen, und nach kurzem Gespräch wurden wir in einen Jeep verfrachtet, und zwei Cowboy-ähnliche Gestalten fuhren uns in die Stadt. Mitten in der Stadt, nahe dem Hotel Fürst Blücher, sah man einen einsamen amerikanischen Soldaten in abgetragenem Tarnanzug, ohne Abzeichen, auf der Straße. ,Das ist der General', wurden wir belehrt, woraufhin dieser in einen anderen Jeep stieg und rief: ,Folgen Sie mir zum Schloß!'" Das eigentliche Gespräch zwischen den Deutschen und den Amerikanern, das der Vorbereitung eines Treffens zwischen Gavin und von Tippelskirch diente, fand dann unter einem Ölgemälde statt, das die russische Großmutter Anastasia des großherzoglichen Wehrmachtsoffiziers zeigte. "Beim Hinausgehen", schreibt Friedrich Franz, "zögerte ich nicht, ihr leise zuzuwinken."96 Gavin, der spätere amerikanische Botschafter in Paris, hat diese Begegnung ebenfal1s geschildert. Er muß in seinem 95
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James M. Gavin hat die Kapitulation der 21. Annee in seinen Erinnerungen "On to Berlin. Battles of an Airborne Commander 1943-1946", New York 1978, S. 286fl., anschaulich beschrieben. Dort auch die Zi· tate. Jürgen Thorwald, dessen frühe Arbeiten bei allen Vorbehalten, die gegen sie zu machen sind, die At· mosphäre des Kriegsendes doch gut eingefangen haben, hat die Kapitulation der 21. Armee in Ludwigslust auch ausführlich beschrieben. Vgl. sein Buch "Die große Flucht", S. 499fl. Niederschrift "Begegnung im Schloß" von Friedrich Franz Erbgroßherzog von Mecklenburg aus dem Jahre 1987; zit. nach Schultz-Naumann, Mecklenburg 1945, S. 133 I.
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ausgebleichten Fallschirmjägeroverall, das M-1-Gewehr über der Schulter, an diesem 2. Mai von einem einfachen G.I. tatsächlich kaum zu unterscheiden gewesen sein. Schon dies, so erschien es ihm, gab den in tadellosem, strengem Feldgrau auftretenden Deutschen das Gefühl, nicht nur einer fremden Armee, sondern auch einer fremden Welt zu begegnen. "Nachdem man ihm erklärt hatte, ich sei der amerikanische General", schilderte Gavin später amüsiert die Szene, "sah er mich mit einer gewissen Geringschätzung an und sagte, das könne ich nicht sein; ich sei zu jung und sehe ihm nicht nach einem General aus."97 Es war eine kurze Begegnung. Das Treffen mit Tippelskirch wurde auf abends 8 Uhr terminiert, und die kleine Delegation kehrte alsbald zum Befehlsstand der deutschen 21. Armee zurück. General James M. Gavin empfing Kurt von Tippelskirch im Thronsaal des großherzoglichen Schlosses zu Ludwigslust, der mit den Stars and Stripes geschmückt war. "Die Begegnung war kalt und sehr korrekt", erinnert sich Gavin. ,,Als wir Deutschland erreichten, waren meine Fallschirmjäger dem deutschen Establishment alles andere als wohlgesonnen." Um 21.30 Uhr setzten beide Generäle ihre Unterschrift unter das fünfzeilige Übergabedokument, das - wie Tippelskirch (der nicht wußte, wieviel Mann es letztlich sein würden) formulierte - nur für diejenigen Truppen der 21. Armee gelten sollte, "welche die amerikanischen Linien passieren"98. Das waren dann praktisch alle Angehörigen der Armee. 144.000 Soldaten zählte die 82nd Airborne Division, ungefähr zwei Fünftel der noch vor der Gesamtkapitulation am 8. Mai 1945 in die Gefangenschaft der Westalliierten entwischten Heeresgruppe Weichsel. Hätte Tippelskirch am 2. Mai nicht sofort und unabhängig von der eben erst anlaufenden Gesamtkapitulation der deutschen Truppen im Nordraum gehandelt, und hätte General Gavin sich nicht sofort ganz im Geiste und im Stile der verdeckten Großzügigkeit der Westalliierten auf das Begehren des deutschen Oberbefehlshabers eingelassen, dann wäre die Hälfte der Heeresgruppe doch noch in sowjetische Gefangenschaft gegangen. Die deutsche Massenflucht im Raum Ludwigslust nahm - da hier am 3. Mai bereits die Spitzen des sowjetischen 8. Mechanisierten Korps des Generalmajors Firsowitsch auftauchten - solche Formen an, daß der kriegserfahrene Fallschirmjägergeneral Gavin im Rückblick schreiben konnte: "Wir hatten dergleichen noch nie gesehen."99 Auch die am selben Tag stattfindenden Übergabeverhandlungen der im Norden der 21. Armee stehenden 3. Panzer-Armee von Manteuffels, die ebenfalls ausschließlich gegen die Rote Armee gekämpft hatte, verliefen nach genau demselben Muster. loo Und auch diese Teilkapitulation wurde wirksam, ehe von Friedeburg und Montgomery im Hauptquartier des britischen Feldmarschalls ihre Unterschriften unter die Kapitulationsurkunde gesetzt hatten. Die entscheidende, nach einigem Hin und Her von einem amerikanischen Offizier "informell" gegebene Zusage, die Generalstabschef Müller-Hillebrandt (der die Verhandlungen führte) bei seiner Rückkehr zum Armeeoberkommando mitbrachte, lautete: Wenn die sich nach Westen bewegenden 97 98
99 100
Gavin, On to Berlin, S. 286 f. Dort auch das folgende Zitat. "Records of the Unconditional Surrender of the Gerrnan Twentyfirst Arrny to the 82nd Division, 022130 May 1945", Anhang zu: ,,82nd Airbome Division. Action in Central Europe. April-May 1945"; Fort Leavenworth, N-14777.8. Die Gefangenenziffer findet sich auf S. 15 des Berichts. Gavin, On to Berlin, S. 286. Vgl. die persönlichen Aufzeichnungen von Oberst i.G. Ludendorff; zit. nach Schultz-Naumann, Mecklenburg 1945, S. 83 f.
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Teile der Panzerarmee "unbewaffnet, nicht in geschlossenen Formationen eine bestimmte Linie überschritten, würden sie von den Amerikanern gefangengenommen und nicht an die Sowjetunion ausgeiiefert"lOl. Kein Entkommen gab es für jene Verbände der geschlagenen Wehrmacht, denen es nicht mehr gelang, sich bis zum Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 hinter den amerikanischen und britischen Linien in Sicherheit zu bringen. Da in der Kapitulationsurkunde bestimmt war, daß danach keine Truppenbewegungen mehr stattfinden durften, war es selbst für den gutwilligsten Befehlshaber vollkommen ausgeschlossen, mit der bewährten Taktik verdeckter Großzügigkeit fortzufahren. Dies hätte mit Sicherheit zu einer offenen Konfrontation mit dem sowjetischen Verbündeten geführt, dessen Geduld durch die massenhaften "individual surrenders" des halben deutschen Ostheeres ohnehin schon auf das Äußerste strapaziert war. Von der in Jugoslawien stehenden Heeresgruppe E etwa erreichten ungefähr 150.000 Soldaten die westlichen Linien vor dem 9. Mai nicht mehr. Auch die Massenflucht der Heeresgruppe Mitte in Böhmen auf die von Budweis über Pilsen nach Karlsbad verlaufende amerikanisch-sowjetische Demarkationslinie zu kam zu spät. Die Front der Third U.S. Army war bereits geschlossen. Eine Million Mann gingen in sowjetische Gefangenschaft. Peinlich genau achteten die amerikanisch-britischen Combined Chiefs of Staff und der Supreme Commander vom Tage der Waffenruhe an darauf, daß der sowjetische Verbündete nicht den geringsten Anlaß zu dem Verdacht finden konnte, die westlichen Alliierten wollten etwa gar die Bestimmungen der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, die sie der Welt soeben gemeinsam feierlich verkündet hatten, von dem geschlagenen Gegner antasten lassen. 102 Unter den Geschlagenen waren die Flüchtlinge, die sich vor der Roten Armee in Sicherheit zu bringen suchten, die Schutzlosesten. Für die Truppen der Sieger waren sie Spielball oder Ballast. Zumeist Mitglieder eines Trecks oder einer größeren Marschkolonne, in den eiskalten Wintermonaten mit der verbliebenen armseligen persönlichen Habe deswegen aber nicht weniger auf sich selbst gestellt, konnten diese Menschen mit noch weniger Erfolgsaussicht als die Soldaten der zerfallenden Armee auf völkerrechtliche Konventionen oder die Einhaltung der Gebräuche des Krieges pochen. Sie konnten auch keine Übergabeverhandlungen führen, sondern bloß auf die Menschlichkeit der Besatzungsmächte hoffen. Wie bis Anfang 1945 vor allem die Bewohner der großen Städte im Westen, so mußten jetzt auch im Osten Millionen vom Kriegsgeschehen lange nur wenig Berührte am eigenen Leibe erfahren, daß in diesem totalen Krieg der Status des Zivilisten nicht mehr den geringsten Schutz bot; die Zivilbevölkerung war der Willkür des Krieges zuletzt sogar noch schärfer ausgesetzt als die Soldaten. Hinzu kam, daß die Zivilisten über die Entwicklung des Kampfgeschehens weniger genau informiert waren als die Befehlshaber der bedrohten Wehrmachtsverbände. Mancher Treck brach daher zu spät auf, bewegte sich zu langsam und entkam nicht mehr. Einige hunderttausend ostpreußische Flüchtlinge lagen im Frühjahr 1945 101
102
Von Dr. Georg Meyer, MGFA Freiburg, 1979 aufgenommene Aktennotiz des Generals a.D. Müller-Hillebrandt; zit. nach ebenda, S. 130. Siehe auch die eigenwillige Interpretation zu den Hintergründen der Teilkapitulationen im Westen bei Arthur Smith, Churchills deutsche Armee. Die Anfänge des Kalten Krieges 1943-1947, Bergisch-Gladbach 1978, S. 54fl. Vgl. Pogue, Supreme Command, S. 505.
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schon seit einem halben Jahr auf der Straße. Über drei Millionen Menschen aus Schlesien, von denen dann Hunderttausende unterwegs überrollt wurden, hatten sich Anfang 1945 nach Westen aufgemacht. Sie flohen nach Bayern, Thüringen und Sachsen, die Hälfte von ihnen auf das Territorium der Tschechoslowakei. 10 3 Dort saßen sie Anfang Mai 1945 und gerieten jetzt zusammen mit Millionen Sudetendeutscher in den Strudel des Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte. Ebenso wie Schörners Soldaten versuchten sie - nach dem Aufstand in Prag und dem sowjetischen Einbruch in die westliche Tschechoslowakei im letzten Augenblick -, noch vor der deutschen Kapitulation das amerikanische Besatzungsgebiet westlich der Linie Karlsbad-PilsenBudweis zu erreichen. Das glückte nur einem kleinen Teil von ihnen. Durch Braunau im nordwestlichen Böhmen, unweit des Riesengebirges und der schlesischen Grenze, wo man sich an den Anblick langer Flüchtlingskolonnen längst gewöhnt hatte, fuhren am 7. Mai 1945 Evakuierte aus dem nahen Glatz. "Sie sitzen", schrieb eine Lehrerin unter diesem Datum in ihr Tagebuch, "auf Militärfahrzeugen, die, z. Zt. mit Grün geschmückt, endlos durchfahren in Richtung Trautenau - nach Westen. Sie alle wollen zum Amerikaner, auf den Zivilist und Soldat unendliche Hoffnungen setzen trotz Bombengreuel." Die Lehrerin selbst machte sich keine Hoffnung, auf den verstopften Straßen noch fortzukommen. Die ganze Nacht über fluteten Wehrmachtskonvois durch die Stadt, nicht ahnend, daß sie ebenso wie die Flüchtlinge aus Niederschlesien bereits am nächsten Tag ihre Hoffnungen würden begraben müssen. Am 9. Mai kamen die Russen nach Braunau. In den Stunden vor deren Eintreffen beobachtete die Lehrerin dann "nichts als ein ungeheures Chaos". Darüber notierte sie an diesem Tag: "Sämtliche Straßen waren unpassierbar, da alles gedrängt war mit Menschen und Wagen, fast nur Militär. Fluteten gestern in der Mehrzahl noch Zivilisten durch, und waren es gestern noch Kolonnen, so waren es heute regellose Haufen von Infanterie, Artillerie usw., die so rasch als möglich ihr militärisches Aussehen loswerden wollten. Vor unserem Hause am Kleinen Ring staute sich alles und spielte sich ein Drama höchster Eindruckskraft ab. Hier zerschlug einer am Randstein mit aller Kraft sein Gewehr, dort schüttete ein anderer in größter Eile seinen Tornister direkt auf die Straße, so daß Briefe bündelweise, Zahnbürste, Rasierzeug u. a. tägliche Bedarfsartikel, die vielleicht schon in Rußland waren, unbeachtet in die Gasse fielen." Im Erlebnisbericht einer bei Kriegsende in dem nur etwa 50 Kilometer von Karlsbad entfernten Kaaden einquartierten Frau lesen wir: ,,Am 7. Mai, dem Tage vor der Kapitulation, kam eine deutsche Truppe zur Einquartierung; wie erschraken wir, als sie nachts um 11 Uhr den Befehl zum Weiterziehen bekamen! Sie trösteten uns, es würden die Amis bei uns einziehen. Auch vom Bürgermeister war mitgeteilt worden, daß wir höchstwahrscheinlich amerikanische Besatzung bekämen, sollten jedoch die Russen kommen, würden mit den Luftschutzsirenen drei dumpfe Heultöne gegeben werden. - Nachts halb 2 Uhr wurden sie gegeben. Ein wildes Rennen begann im Dunkel der Nacht: Kinderwagen und Fahrräder wurden mitgeschoben, fort, von den Russen weg! Aber die rettende Landstraße nach dem Westen zu hat ungefähr 1 km von uns entfernt eine Abzweigung nach rechts, dem Erzgebirge zu. Von dort herunter kamen wenig später die ersten Russen." Einige Tage später wälzte sich der Strom der Durchziehenden nicht mehr von Osten nach Westen, sondern nunmehr in entgegen103
Vgl. hierzu Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, 1/1, S. 59E.
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gesetzter Richtung durch den Ort: ,,Auf der Straße vor unserem Hause fuhren stundenlang LKW in umgekehrter Richtung wie vorher der Menschenstrom gezogen war: gefangene Landser fuhren in Richtung Osten. Selten einmal hielt ein Wagen aus technischen Gründen, und wir beeilten uns, vor allem Trinkbares herbeizuschaffen. Von ihnen hörten wir auch, daß eine große Zahl Soldaten, aber auch Zivilpersonen, die bis gegen Karlsbad vor den Russen geflohen waren, dort von den Amerikanern in einem Sammellager zusammengefaßt und den Russen übergeben worden waren." Ein Ehepaar, das schon eine viermonatige Odyssee aus dem Innern der Slowakei hinter sich hatte, erlitt auch dieses Schicksal und berichtete nach dem Krieg darüber. Inmitten "nach Westen flüchtender Kolonnen" seien sie auf die amerikanischen Linien zugezogen. "Man sah zurückflutende Panzer neben schweren Fahrzeugen mit Geschützen, Lastkraftwagen mit Soldaten, Flüchtlinge in Zivil aus den Ostgebieten und dem Sudetenland mit Ochsen-, Kühen- und Pferdegespannen, andere wieder zu Fuß gehen; jeder war bestrebt, möglichst bald über die tschechische Grenze zum Amerikaner zu kommen." In manchen Orten halfen ihnen die Tschechen, in manchen Orten wurden sie von ihnen bedroht und bespuckt: "Nachdem diese Flucht bereits zehn Tage gedauert hatte", so die Schilderung weiter, "hieß es auf einmal, daß wir nicht mehr weit von unserem Ziel sind, wir hätten bald die deutsche Grenze erreicht. Die Kolonnen blieben stecken. Nun machten wir Rast, wir waren bereits in der neutralen Zone und wollten uns zur Übernahme durch die Amerikaner fertig machen. Die Fahrer aller Fahrzeuge machten Inventur über Personen (Wehrmacht oder Zivil) und Sachen, damit es dann schneller gehen kann, so wurde durchgegeben. Jeder freute sich auf die ,Erlösung'. Ein russisches und ein amerikanisches Flugzeug - in beiden Offiziere - landeten auf einer in der Nähe gelegenen Wiese. Deutsche Offiziere wurden zu einer Verhandlung hinzugeholt. Nach einer längeren Aussprache zwischen den Verhandlungspartnern kamen die deutschen Offiziere kopfhängend zurück. Die Mannschaft äußerte darauf, jetzt sind wir dem Russen verkauft worden. Diese Ahnung stimmte auch."lo4 Mit dem 8. Mai 1945 war für die fliehenden Soldaten und die flüchtenden Zivilisten das plötzliche Ende ihrer Hoffnungen gekommen. An den anderen Abschnitten der Demarkationslinie durch Mitteleuropa haben sich die Siegermächte nach Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nicht anders verhalten als im westlichen Sudetengebiet, es wurde an der Linie Karlsbad-Pilsen-Budweis lediglich in so drastischer Weise deutlich, weil damit Millionen aus ihrer Perspektive - im letzten Augenblick willkürlich der Weg in den rettenden Westen verlegt war. In Sachsen und Mecklenburg gelang es einer halben Million Soldaten und ungezählten Flüchtlingen, sich in Sicherheit zu bringen. Dies geschah um einige entscheidende Tage früher, vor Inkrafttreten der Kapitulation. Sogar ein nüchtern urteilender Autor wie von Tippelskirch zieht angesichts des unerhörten Dramas, das sich nach dem 8. Mai zwischen Budweis und Karlsbad abspielte, abwegige Deutungen zur Erklärung mit heran. "Neben der den Russen gegenüber geübten Korrektheit" sei die Handlungsweise der Amerikaner wohl auch dem "gegen jeden Deutschen
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Die hier wiedergegebenen Berichte sind der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. IV/2: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, entnommen. Es handelt sich um die Dokumente Nr. 126, Nr. 128 und Nr. 135; die Zitate auf S. 559, S. 561, S. 680ff., S.777f.
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entfachten Kreuzzughaß" zuzuschreiben, der durch "die Zustände in den kurz zuvor befreiten Konzentrationslagern zur Siedehitze gebracht worden war."I05 Diese Wut und dieser Groll waren bei Briten und Amerikanern im Frühjahr 1945 tatsächlich aufgekommen lo6 , die Einhaltung der Kapitulationsbedingungen durch die Deutschen aber hätten sie in jedem Falle und ungeachtet ihres angeblichen "Kreuzzughasses" kalten Mutes erzwingen müssen. Daß der Abscheu vor den deutschen Verbrechen die Amerikaner dennoch nicht davon abhielt, im Siege Großmut und Humanität zu zeigen, hatten sie nur vier, fünf Tage vor den Ereignissen im Sudetengebiet an den sächsischen, brandenburgischen und mecklenburgischen Abschnitten der Demarkationslinie unter Beweis gestellt. Auch wenn es dort vor allem die in Gefangenschaft gehenden Soldaten waren, die in erster Linie davon profitierten, gegenüber den Flüchtlingen verhielten sich die Einheiten der U.S. Army ebenfalls durchaus nicht immer so, wie es die buchstabengerechte Respektierung ihrer Befehle von ihnen verlangt hätte. Immerhin hatten sie den unmißverständlichen Auftrag, der deutschen Zivilbevölkerung den Durchgang durch die Linien zu verwehren. 107 Von den Ostflüchtlingen zog seit Herbst 1944 bzw. Ende Januar 1945 nur ein Teil sofort bis in diejenigen Reichsgebiete weiter, die dann im Laufe des April und Mai von den Truppen Eisenhowers in Besitz genommen werden sollten. Für die meisten der vor allem aus Ostpreußen und Ostpommern Kommenden, die dies doch getan hatten, war ihre Flucht - falls sie die Strapazen überstanden hatten - in SchleswigHolstein zu Ende. Ein großer Teil hatte in den Wochen relativer Ruhe an der Oderfront in Vorpommern oder in Mecklenburg haltgemacht und zog erst nach der sowjetischen Apriloffensive weiter. Südlich Wismars, zwischen Ostsee und Eibe, stand den Trecks das Tor in den Westen am längsten offen, doch am 2. Mai 1945 schienen es die Alliierten mit ihrem Vorstoß nach Lübeck und Wismar zugeschlagen zu haben. Aber obwohl die Amerikaner und Briten jetzt an der vereinbarten Demarkationslinie standen, stemmten sie sich hier den andrängenden Flüchtlingsmassen nicht entgegen. Bevor die Generäle von Manteuffel und von Tippelskirch in diesem Raum ihre Armeen übergaben und - bis zum Auftauchen der sowjetischen Panzerspitzen - auch noch einige kostbare Stunden danach, hielt der Strom der nach Westen Flüchtenden unvermindert an. "Der Strom von Gefangenen und Flüchtlingen dauerte den ganzen Tag und auch noch den ganzen folgenden Tag an", schrieb General Gavin später. lOB Die aus Mecklenburg zwischen dem 1. und 3. Mai nach Schleswig-Holstein hineinbrandende Fluchtwelle hätte von den Alliierten nur durch brutales Einschreiten gestoppt werden können, lag zwischen den Flüchtlingen und dem von den Alliierten besetzten Territorium doch kein natürliches Hindernis (wie weiter südlich die Eibe), das einen massenhaften Übergang über die Demarkationslinie von vornherein unmöglich machte. Als dann aber der geordnete ,,Abfluß" der 21. Armee begann, mußten die Flüchtlingskolonnen vielfach zurückstehen. "Um den Überblick über die Kriegsgefangenen nicht zu verlieren und ein uferloses Untertauchen der Soldaten in den Scharen der Zivilisten zu verhindern", schreibtJürgen Thorwald in seiner dramatischen Repor-
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Tippelskirch, Geschichte des Zweiten Weltkriegs, S. 584. Vgl. 1/3. Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 448. Gavin, On to Berlin, S. 286.
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tage 109, "hielten Amerikaner und Engländer diese Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder zurück." Viele schafften es noch, ehe die Rote Armee an die Demarkationslinie herangerückt war 110 , eine unbekannte Zahl von Menschen aber wurde nach dem 3. Mai in greifbarer Nähe ihres Zieles von den sowjetischen Truppen überrollt. Als General der Panzertruppen Maximilian Reichsfreiherr von Edelsheim am 4. Mai im Rathaus von Stendal dem Stabschef der Ninth V.S. Army gegenübersaß, um ihm die an der Eibe zusammengedrängte Armee Wenck zu übergeben, bezifferte er die Zahl der am Ostufer ebenfalls auf eine Übergangsmöglichkeit wartenden Flüchtlinge auf etwa 100.000. 111 Das war eine sehr zurückhaltende Schätzung. Vielleicht wollte der General den Amerikanern nicht allzuviel zumuten, denn in Wahrheit könnten es - wie von Edelsheim später selbst sagte - gut dreimal so viele gewesen sein. 112 Die Haltung Moores dazu war eindeutig: "Es werde keine Bewegung von Zivilisten vom Ost- zum Westufer der Eibe geben." Als die Evakuierung der deutschen Armee begann, zeigte es sich dann aber rasch, daß die Amerikaner keine Anstalten machten, die Beachtung dieser Kapitulationsbedingung um jeden Preis zu erzwingen. Ähnlich wie in Mecklenburg hatte zwar auch hier der Übergang der Kriegsgefangenen Vorrang, doch ist in der Chronik der 102nd Infantry Division, die den Übergang überwachte, festgehalten: "Daneben überquerten den Fluß natürlich ungezählte Tausende von Zivilisten, um den russischen Streitkräften zu entkommen."113 Bald nach Anlaufen der Evakuierung hätten, wie Edelsheim sich nach dem Krieg erinnerte, die G.I.s Anweisung bekommen, keine Zivilisten mehr auf das Westufer zu lassen. Es seien an der Übergangsstelle sogar Soldaten mit Peitschen aufgestellt worden, doch "diese einfachen Soldaten benahmen sich anständig und schlugen nicht"114. Viele Menschen versuchten schwimmend hinüberzukommen. "Mädchen zogen ihre Kleider aus, um durch den eiskalten Fluß zu schwimmen", beobachteten die Amerikaner, "und eine junge Mutter mit einem kleinen Kind versuchte, mit Hilfe eines großen Ölbehälters zu schwimmen, ging aber in der strudelnden Strömung der Flußmitte unter"115. Vielen anderen gelang es ebenfalls nicht, das rettende Vfer zu erreichen. So auch der Familie des Pädagogen Wolfgang Wachtsmuth nicht, der von 1929 bis 1934 Chef des deutschen Bildungswesens in Lettland gewesen war. Sie war 1940 mit der deutschen Volksgruppe nach Posen umgesiedelt worden, seit Januar wiederum von dort auf der Flucht in die Provinz Sachsen. Aus Bergzow, einer kleinen, nur sechs Kilometer östlich der Eibe und innerhalb des Brückenkopfes der Armee Wenck gelegenen Ortschaft, brach die Familie am S. Mai gemeinsam mit anderen Fliehenden zur Über109
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Thorwald, Die große Flucht, S. 503 f. Vgl. hierzu etwa den Treckbericht einer Frau v. Romberg, abgedruckt bei Schultz-Naumann, Mecklenburg 1945, S. 163ff. In der Schilderung von Annetrud von Gallwitz, .. Flucht im Treck, April/Mai 1945", heißt es: .. Und dann reihten wir uns in den endlosen Treck ein. Wir mußten uns auf der rechten Seite halten. Auf der linken Seite strömte die Wehrmacht vorbei, Soldaten, die nicht in russische Hände fallen wollten." Zit. nach Rudolf Mühlfenzl (Hrsg.), Geflohen und vertrieben. Augenzeugen berichten, Königstein 1981, S.163. Memorandum von Generalmajor Moore v. 7. 5. 1945 für den Kommandierenden General der Ninth U.S. Army über seine Unterredung mit Edelsheim am 4.5. 1945; als Faksimile abgedruckt bei Gellermann, Armee Wenck, S. 186 ff. Das folgende Zi tat ebenda. Von dieser Zahl sprach Wenck nach dem Krieg; vgl. eben da, S. 111, Anm. 11. Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 228. Zit. nach Gellermann, Armee Wenck, S. 119. Mick, With the 102nd Infantry Division, S. 230.
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gangsstelle bei dem Elbdorf Ferchland auf.l 16 Ein Oberst der Wehrmacht hatte ihnen gesagt gehabt, wenn sie noch "den Russen entrinnen" und zum "amerikanischen Ufer hinüberkommen" wollten, dann müßten sie schnellstens aufbrechen. ,,Alles strebte so schnell als möglich zur Eibe, hinüber über die Eibe zu den rettenden Amerikanern", erinnerte sich Wachtsmuth. "Die Massen sammelten sich am Ufer und starrten hinüber in das ,gelobte Land'." Aber die Fähre fuhr nicht. Soldaten, die auf primitiven Flößen hinüberzugelangen suchten, wurden von der Strömung immer wieder an das "russische Ufer" zurückgetrieben. Als es hieß, die am Ufer vertäute Fähre würde bald ablegen, kamen russische Tiefflieger. Auch am nächsten Tag gab es bei Ferchland für die meisten kein Hinüberkommen. "Es zeigte sich das Vergebliche weiteren Wartens", schrieb Wachtsmuth. "Wir mußten kehrt machen, dem Russen entgegen, in seine Arme. Ein furchtbarer Gang, noch böser als der Hinweg! Gegen Mittag waren wir alle wieder im Pastorat. Am frühen Nachmittag war Bergzow in russischer Hand." Wolfgang Wachtsmuth berichtet von 20 Selbstmorden in dem kleinen Dorf. Gegen Mittag des 7. Mai brachen sowjetische Panzer in den inzwischen auf wenige Quadratkilometer zusammengedrückten Brückenkopf ein, spalteten ihn und begannen die Übergangsstellen unter Feuer zu nehmen: ,,Als sich die Russen näherten, verschwanden viele deutsche Soldaten im Gebüsch und hinter Pfeilern, Hunderte von Zivilisten im Stich lassend, die in Panik zur Brücke rannten", beobachteten die Amerikaner nun vom Westufer aus. ,,Andere deutsche Soldaten begannen zusammen mit Zivilisten über die Brücke auszuweichen, wobei sie die Zivilisten zur Seite boxten und oft in den Fluß stießen, wo sie den Tod fanden. Bald waren dann deutlich russische Soldaten am Ostufer zu sehen. Sie gaben zum Wasser hin mehrere kurze Feuerstöße mit ihren Maschinenpistolen ab, aber auch das vermochte die in Panik geratene Menge nicht zu stoppen. Nun fingen deutsche Soldaten an, miteinander um Platz auf der Brücke zu kämpfen, und Jahre nazistischer Hetzpropaganda trugen schreckliche Frucht, als die Deutschen, wahnsinnig vor Angst, in einem letzten Versuch, den Russen zu entkommen, in wilder Flucht davonliefen. Ein Trupp Russen, geführt von einem blutjungen Offizier in Reitstiefeln und Breeches, ging unter dem Feuer der eigenen Granatwerfer gelassen bis fast zur Brücke vor. Ohne zu feuern, winkten sie den Deutschen fortwährend zu, stehenzubleiben. Die Russen hatten die stoßende schiebende Menge fast erreicht, als deutsche Soldaten, die bei ihrem ersten Erscheinen verschwunden waren, hinter Pfeilern und aus dem Gebüsch das Feuer eröffneten. Der russische Offizier fiel, und der im Hinterhalt gelegene deutsche Trupp erfocht sich eine Schneise durch die Menge, auf dem Weg zur Brücke und zur Sicherheit alles niedertrampelnd. Jetzt richteten die Russen eine Artilleriesalve auf den Brückenraum, und Granaten krepierten unter Zivilisten ebenso wie unter Soldaten, Leiber durch die Luft schleudernd. Dann stellte die Artillerie das Feuer ein, und das Gros der Roten Armee wogte zum Fluß vor, alles davor einschließend."117 Damit war zwölf Stunden nachdem Generaloberst Jodl in Reims die Kapitulationsurkunde unterzeichnet hatte, auch für die Amerikaner das "Ende an der Eibe" gekommen. Entlang der Mulde versuchten die Flüchtlinge nicht weniger energisch, "das freund-
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Vgl. Wolfgang Wachtsmuth, Wege, Umwege, Weggenossen. Lebenserinnerungen eines Balten (18761950), München 1954, S. 332 ff. Dort auch die Zitate. Mick, With the 102nd Inlantry Division, S. 233.
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liehe Ufer des Flusses" - "the friendly side of the river"118 - zu erreichen. Die Demarkationslinie zwischen Dessau und Zwickau hielten Soldaten der 1. US-Armee, für die der Krieg in Europa hier bereits um den 20. April herum zu Ende gegangen war. Seitdem sickerten Tag für Tag deutsche Soldaten und Flüchtlinge in ihre Linien ein. 119 Das war insbesondere am Oberlauf der Mulde, die dort nur ein Flüßchen ist, an sich leicht zu bewerkstelligen, und vielen gelang das auch, ohne einen Posten zu Gesicht zu bekommen. Andere wurden zurückgeschickt. 120 Insgesamt war der Druck durch Flüchtlingstrecks aus dem Osten in Sachsen weniger stark als an der Ostsee, da die meisten Kolonnen von den sowjetischen Panzern überholt wurden, die im Südabschnitt der Oder-Front sehr rasch vorgestoßen waren. Wie überall, so hing aber auch hier alles davon ab, wie sich die einzelne amerikanische Streife verhielt. Viele G.I.s müssen den Kopf tatsächlich weggedreht haben 121, wenn sich die Grenzgänger einzeln oder in kleinen Trupps zum "freundlichen Flußufer" hinüberschlichen. Viele G.I.s haben sich wohl auch ahnungslos gegeben, wenn deutsche Zivilisten mit immer dem gleichen Trick versuchten, sich als Displaced Persons auszugeben. So war auch dieser Flußlauf für die westwärts fliehenden Menschen eine zwar nicht problemlos zu überwindende, aber doch durchlässige Demarkationslinie. Die handschriftlich geführte Kladde jenes amerikanischen Military Government Detachments, das am weitesten östlich im besetzten Deutschland Dienst tat - in Rochlitz an der Mulde -, etwa vermerkt: "Flüchtlinge vom Ostufer der Mulde strömen herein.«122 Weder längs der Mulde noch längs der Eibe waren es ausschließlich gewöhnliche Flüchtlinge, die in das amerikanisch besetzte Territorium einströmten. Verborgen in den Kolonnen der Zurückflutenden, überquerten natürlich auch Hunderte von "Sicherheitsverdächtigen" die Demarkationslinie. Einer der dickeren Fische schlüpfte den Amerikanern beispielsweise während des Elbübergangs der Armee Wenck durch die Maschen. Rudolf Jordan, der Gauleiter von Magdeburg-Anhalt, hatten von General Wenck persönlich den Tip erhalten, sich bei Ferchland - dort, wo Wolfgang Wachtsmuth und seine Familie hatten aufgeben müssen - dem Übergang der 12. Armee anzuschließen; seine Papiere lauteten auf den Namen "Richard Gabriel".123 Der Gauleiter und seine Familie gelangten mit einem Schiffskonvoi, von dem sie wußten, daß er den Russen entzogen werden sollte, am 7. Mai über die Eibe. An sich hätte aufgrund eines amerikanischen Befehls am Westufer niemand das Schiff verlassen dürfen, berichtet Jordan, aber es sei ihm gelungen, den deutschen Hilfspolizisten mit dem Hinweis auf seine verängstigte Familie und ihr fünf Monate altes krankes Baby zu erweichen: "Im Sturmschritt holte ich Frau und Kinder aus ihrem Versteck, eine Arbeitsmaid half uns beim hastigen Aufbruch und beim Überklettern des Schiffsdecks. So erreichten wir außer Atem das westliche Ufer. Der brave Mann wies uns die Richtung zum nächsten Dorf und mahnte zur Eile: ,Schnell-schnell!'" 118
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First United States Army, Report of Operations, 23 February - 8 May 1945, S. 82; HZ-Archiv, Material Henke. Vgl. Hoegh, Doyle, Timberwol! Tracks (104th Infantry Division), S. 350. Vgl. auch Mittelman, Eight Stars (9th Infantry Division), S. 372. Memorandum von Generalmajor Moore v. 7. 5. 1945, abgedruckt bei GelIermann, Armee Wenck, S. 186 H. So MacDonald, Last Offensive, S. 448. Eintrag im War Diary des Provisional Military Govemment Detachment in Rochlitz v. 24.4. 1945; NA, RG 407, 606-52. Civil Affairs Section, Box 154209. Vgl. zum folgenden auch Rudol! Jordan, Erlebt und erlitten. Wege eines Gauleiters von München bis Moskau, Leoni 1971, S. 273 H. Dort auch die zitierten Passagen.
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Das ein gutes Stück Eibe aufwärts eingesetzte 83. Counter Intelligence Detachment bemühte sich in diesen Tagen sehr darum, keine Zivilisten in das amerikanisch besetzte Gebiet einsickern zu lassen. In seinem Periodic Report traf es aber gleich selbst die fatalistische Feststellung, es müsse befürchtet werden, daß es vielen besonders gesuchten Personen ("Personen vOn Interesse für die Abwehr") dennoch geglückt sei durchzukommen: "Einige wichtige Nazifunktionäre, vor allem aus Berlin, dürften nun, ob versteckt oder nicht, in den amerikanischen und britischen Besatzungsgebieten zu finden sein", fügte das Detachment hinzu. 124 Diese Befürchtungen trafen zu. Allein aus Sicherheitsgründen war deshalb eine Öffnung der Demarkationslinie für die westwärts strömende Zivilbevölkerung nicht zu verantworten; das Gespenst einer nationalsozialistischen Untergrundbewegung hatte sich Ende April, Anfang Mai 1945 noch nicht in Luft aufgelöst. Im Gegenteil, das amerikanische Besetzungsgebiet schien jetzt zum Tummelplatz gefährlicher Elemente zu werden. Im Raum Leipzig hatte das CIC des VII. Corps nämlich folgende Beobachtung gemacht: "Die erste Reaktion der Naziverbrecher bei der Annäherung amerikanischer Truppen bestand darin, die Gegend, in der man sie kannte, zu verlassen und irgendwohin zu gehen, wo sie untertauchen konnten, jedenfalls bis die erste Aufregung der Nazitreibjagd abgeklungen und Gelegenheit gewesen war, unsere Behandlung der Nazis zu beobachten." Das sei sogar hier in Mitteldeutschland so, obwohl vOn einem Deutschland, in das die Nazis hätten fliehen können, schon nicht mehr viel übrig sei. Unvermeidlich seien die Parteifunktionäre oder Gestapo-Mitarbeiter so in das vOn der Roten Armee besetzte Gebiet geraten: "Das hat sie zweifellos angespornt, zurückzukehren, in der vagen Hoffnung, daß sie, wenn identifiziert, vOn uns besser behandelt werden als von den Russen." Die Aussicht auf ein Leben mit falscher Identität war für manchen augenscheinlich eine schrecklichere Perspektive als eine Enttarnung durch die Amerikaner. Die Aussage eines der maßgeblichen Gestapo-Beamten vOn Leipzig, der sich selbst gestellt hatte, gibt das CIC mit den Worten wieder: "Die Aussicht darauf, das Leben im Untergrund fortzusetzen, als ein Mann, nach dem gefahndet wird, begann an seiner Seele zu nagen, und das Verlangen, endlich zu wissen, was eigentlich aus ihm werden soll, wurde zu stark." Andere Angehörige der Gestapo seien zwar nicht so gefällig wie dieser Gesuchte, schloß der CIC-Bericht, "aber sie kommen allmählich zurückgetröpfeit" 125. Während der zehn, zwölf Wochen, bevor die Amerikaner gemäß der alliierten Vereinbarungen über die Zonengrenzziehung wieder aus Sachsen und Thüringen abrückten, konnten die Detachments des Counter Intelligence Corps und des Military Government nie wirklich sicher sein, ob aus dem Einsickern solcher "Sicherheitsverdächtigen" nicht eine zusätzliche ernste Herausforderung für sie entstehen würde. Diese Ungewißheit war deshalb so belastend, weil die Militärverwaltung im vorübergehend okkupierten Mitteldeutschland ohnehin unter besonders schwierigen Bedingungen arbeiten mußte.
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83rd CIC Detachment, Counter Intelligence Report für die Zeit vom 18. April bis 15. Mai 1945. Zit. nach CIC-History, Kap. XX, S. 75; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. Erfahrungsbericht aus dem Bereich des VII Corps "The Nazis Return to the Scene of their Crimes", Anhang zum Weekly Intelligence Summary der 80th Infantry Division (G-2) v. 29.5. 1945; NA, RG 407, Operations Reports, 380-216, Box 12004.
3. Provisional Military Government in einem vorübergehend besetzten Gebiet
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3. Provisional Military Government in einem vorübergehend besetzten Gebiet Solange die Kämpfe gegen die Wehrmacht andauerten, stand die Militärverwaltung aller vier Mächte der Anti-Hitler-Koalition im Zeichen des Vorläufigen. Wenn es den Military Government Detachments gelang, der in Deutschland kämpfenden Truppe den Rücken freizuhalten, hatten sie den Beweis ihrer Daseinsberechtigung schon erbracht. In jeder der vier Zonen verstrich auch nach der deutschen Kapitulation und der Errichtung der Vier-Mächte-Verwaltung noch geraume Zeit, ehe die einzelnen Militärregierungsapparate Fuß fassen und sich zu leistungsfähigen Instrumenten ihrer Regierungen entwickeln konnten. Was die Professionalität der Militärverwaltung angeht, so gab es aber natürlich selbst in den von Improvisationen und Vorläufigkeiten geprägten zehn, zwölf Monaten zwischen Herbst 1944 und Herbst 1945 ein beträchtliches Qualitätsgefälle sowohl zwischen den Besatzungsmächten als auch innerhalb der jeweiligen nationalen Militärregierungsorganisationen selbst. Die Franzosen beispielsweise konnten anfangs nur höchst dürftige oder überhaupt nicht geschulte Detachments einsetzen, wogegen während des Frühjahrs 1945 im Besetzungsgebiet der U.S. Army, im Rheinland und im Ruhrgebiet, in Hessen wie in Baden, Württemberg und Bayern, immerhin Offiziere und Soldaten des Military Government Dienst taten, die zumindest eine ernsthafte, wenn auch keineswegs immer hinreichende Ausbildung für ihre Aufgaben in Deutschland hinter sich hatten. 126 Doch als es galt, für einige Wochen Sachsen und Thüringen besetzt zu halten, waren selbst die Amerikaner gezwungen, zu absolut unzureichenden Notlösungen Zuflucht zu nehmen. Das war um so fataler, als gerade dieses Gebiet von Flüchtlingen, Displaced Persons und Kriegsgefangenen überquoll, ein brodelndes Sammelbecken war, das in besonderem Maße nach einer scharfen Überwachung durch die Besatzungsmacht verlangt hätte. Die Offiziere der Army dort wußten genau, daß sie auf sehr dünnem Eis gingen. Ein Mitarbeiter des Stabes von Robert Murphy hat das auf seiner Informationstour nach Mitteldeutschland Anfang Mai sogleich erfahren: "Einige Offiziere erklärten", schrieb er, "daß Schwierigkeiten, die sie derzeit hätten, verschwinden werden, wenn sich ihr Truppenkörper in der vorgesehenen amerikanischen Zone zusammenziehe, statt, wie im Augenblick, zu dünn über ein großes, schwer zu handhabendes Territorium verteilt zu sein, das die amerikanische Armee erobert habe. Die Bereitschaft der Deutschen, in dieser Anfangsphase zu kooperieren oder jedenfalls zu gehorchen, hat geholfen, ihre Aufgabe leichter zu machen. Man fragt sich, was sie getan hätten, wenn sie auf eine widerspenstige, rebellische oder destruktive Bevölkerung gestoßen wären." 127 Schon im Herbst 1944 war bei SHAEF die Frage berührt worden, was geschehen solle, falls die Alliierten mit ihrer letzten Offensive bis in Landesteile und Provinzen vorstießen, die nach den getroffenen Vereinbarungen Teil der sowjetischen Besat126
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Vgl. III/1. Einige Bemerkungen zur Situation der französischen Militärverwaltung zu Beginn der Besatzungszeit enthält mein Aufsatz: Aspekte französischer Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1980, S. 169ff. "Report on Trip to Germany May 2 to 6", Anlage zum Schreiben Murphys an den Secretary of State v. 10. 5. 1945; NA, RG 84, Polad Box 734.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
zungszone sein würden. 128 Damals war das nicht mehr als die akademische Erörterung einer sehr unwahrscheinlichen Entwicklung gewesen. Ende März, Anfang April, als der Rhein auf breiter Front überschritten, die Ruhr eingeschlossen war und die Eibe zum operativen Ziel der Armeen Eisenhowers wurde, war im G-5 Stab des Oberkommandos plötzlich nichts vordringlicher und aktueller, als in eiliger Improvisation zusätzlich zu dem ohnehin schon gefährlich weit und licht ausgelegten Netz der Military Government Detachments auch noch eine einigermaßen funktionstüchtige Militärverwaltung für Mitteldeutschland aus dem Boden zu stampfen. Als die amerikanischen Verbände Anfang April in Thüringen einzudringen begannen, war aber bereits das gesamte ausgebildete Military Government-Personal anderswo in Deutschland im Einsatz. Der offenkundig unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch der deutschen Streitkräfte erlaubte es dem Alliierten Oberkommando, am 12. April 1945 die Grundannahmen der "Eclipse"-Planungen I29 für teilweise als gegeben zu erklären. In Eclipse waren jene Maßnahmen vorbereitet worden, die vom Oberkommando nach der deutschen Kapitulation oder - falls es zu einer formellen Kapitulation nicht kommen sollte - der völligen Desintegration der Wehrmacht zu ergreifen waren. Dazu gehörte im Bereich der Militärverwaltung neben der definitiven Dislozierung der Detachments in den ihnen zugewiesenen Landkreisen und Städten auch die Autorisierung der Kommandierenden Generäle der Armeegruppen, "in jenen Gebieten Deutschlands, in denen die Niederlage des Feindes zum Faktum geworden ist", größere Personalkontingente aus den Kampfeinheiten herauszuziehen und zur Unterstützung des Military Government zur Verfügung zu stellen. Für die inzwischen chronisch unterbesetzte Militärverwaltung war "die teilweise Erklärung von Eclipse-Bedingungen" ein Wendepunkt 130 , denn damit wurden die amerikanischen G-5 Stäbe in die Lage versetzt, aus dem Reservoir der jetzt verfügbar gewordenen Soldaten und Offiziere dringend benötigte "Provisorische Aushilfsmilitärregierungseinheiten" zusammenzustellen. Bald darauf genehmigten die zuständigen Stellen der U.S. Army für den Einsatz in der Militärverwaltung dann eine "temporäre Überstärke" von nicht weniger als 850 Offizieren, 75 Unteroffizieren und 1500 Mann. Das war eine ad hoc vorgenommene Aufstockung des Gesamtpersonalbestandes von nicht weniger als 30 Prozent bei den Offizieren und 25 Prozent bei den Mannschaften. In Sachsen und Thüringen kamen zwischen April und Juli 1945 bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen nur die aus diesem Reservoir geschöpften "Provisional Military Government Detachments" zum Einsatz. Die Army hatte etwa 130 solcher Aushilfseinheiten aufgestellt, eine beträchtliche Anzahl im Vergleich zu den insgesamt 269 regulären Detachments, die im August in der US-Zone Dienst taten. Die provisorischen Militärregierungseinheiten waren Eintagsfliegen, deren Existenz mit dem Abzug der
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Bericht Robert Murphys v. 12.11. 1944 an den Außenminister über eine Stabskonferenz bei SHAEF am 8. 11. 1944, betitelt "Coordination of Planning for the Occupation of Germany"; NA, RG 84, Polad 826134. Als Ergebnis hielt er fest: "It was decided that if such a contingency arises, it could only be met by spreading the ,carpet of occupation' thinner." Eine knappe Erläuterung von "Eclipse" in Conquer (Ninth Army), S. 331 f. USFET, General Board, Study Nr. 32, Civil Affairs and Military Government Organizations and Operations, S. 95 f.; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, General Board Studies, Box Nr. 9. Zu den folgenden Zahlen vgl. ebenda S. 92 ff., S. 118 und S. 122.
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Amerikaner aus Mitteldeutschland auch schon wieder ihr Ende fand. l3l So ist es nicht verwunderlich, daß deren Leistungsfähigkeit nicht dem Niveau der regulären Detachments entsprechen konnte und die Schulung ihres Personals über die dürftigsten Standards kaum hinausgelangte. Bei der 9. US-Armee dauerten die im Army Military Govemment Training Center in Bielefeld 132 abgehaltenen Ausbildungskurse gerade zwei Wochen, die 3. Armee veranstaltete in Frankfurt gar ein "Charlottesville in drei Tagen" 133. Bei den von der Ninth Army gestellten provisorischen Detachments waren einige dringend benötigte elementare Hilfsmittel, "Fahrzeuge und Schreibmaschinen", zunächst praktisch nicht zu bekommen. 134 All dies genügte, um eine auch nur einigermaßen geordnete Besatzungsverwaltung von vornherein illusorisch zu machen, doch sind damit noch nicht alle Elemente aufgezählt, die sich zu einem einzigen großen Handikap der amerikanischen Militärverwaltung in diesem Teil der künftigen sowjetischen Besatzungszone summierten. Hinzu kamen in diesen drei Monaten auch noch die Folgen zweier einschneidender Umwälzungen der Kommandostruktur. Als die First United States Army Mitte Mai auf den pazifischen Kriegsschauplatz verlegt wurde, mußte die Ninth Army das Okkupationsgebiet im südlichen Thüringen und Sachsen mit übernehmen, wodurch sich deren Kontrollareal etwa verdoppelte. m Vier Wochen später wurde die 9. Armee selbst aus Deutschland abgezogen und hatte deswegen ihr Okkupationsgebiet bis zum 15. Juni an die 7th U.S. Army zu übergeben. 136 Da mit jedem Wechsel in den G-5 Stäben der Armeen und Korps neue Gesichter auftauchten, blieb den ohnehin mit wenig professionellem Selbstbewußtsein gesegneten Provisional Detachments meist nicht einmal die Chance, wenn schon nicht in ihrem Besatzungsgebiet, so wenigstens in der eigenen Besatzungsorganisation Fuß zu fassen. Unter diesen außerordentlich erschwerten Bedingungen mußte sich die amerikanische Militärverwaltung in Thüringen und Sachsen mehr noch als anderswo ganz darauf verlegen, sich der üblichen Routineaufgaben möglichst ohne größere Pannen zu entledigen. Die "Politik" des Military Govemment folgte dabei in diesem Teil der späteren sowjetischen Besatzungszone bei der Einsetzung der Bürgermeister wie bei den
Die Stationierung der Detachments in Sachsen und Thüringen kann u.a. aus folgenden Unterlagen ersehen werden: "Deployment of Military Govemment Detachments as of 1 May 1945", Anlage zu einem Memorandum der First U.S. Army an die unterstellten Verbände v. 6. 5. 1945; NA, RG 332, ECAD, Army Administration 380.-399. Ninth U.S. Army, Bi-Weekly Civil Affairs Summary v. 20. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 543.31 Ninth Army Operation Reports. "Location of Detachments", Anhang zu Ninth U.S. Army Weekly Military Govemment Summary Nr. 2 v. 4.6. 1945; NA, RG 331, Ninth U.S. Army, 17.14 Historical Report, Inclosure Nr. 7. m Vgl. Conquer (Ninth Army), S.338. Das Kapitel 8 "Occupation and Military Govemment", ebenda, S. 331 ff., gibt einen Überblick über die Tätigkeit der Ninth Army auf diesem Felde. 133 Zit. nach Earl F. Ziemke, The U.S. Army in the Occupation of Germany. 1944-1946, Washington 1975, S.236. 134 Ninth Army, G-5, Civil Affairs Summary v. 8. 5. 1945; NA, RG 407, Records of the Adjutant Genera!'s Office, 109-5, Ninth Army, G-5 Seetion. 135 Vgl. Ninth U.S. Army, Bi-Weekly Civil Affairs Summary v. 20. 5. 1945; NA, RG 407, Records of the Adjutant Genera!'s Office, 109-5, Ninth Army, G-5 Section. 136 Zur Umgruppierung der U.S. Army im Frühjahr 1945 allgemein vgl. VII/5, im Hinblick auf die Konsequenzen für die Besatzungsverwaltung die Studie Nr. 32 des General Board von USFET "CiviI Affairs and Military Govemment Organizations and Operations" von Ende 1945; Dwight D. Eisenhower Library, Abilene/Kansas, General Board Studies, Box Nr. 9. Vgl. auch Conquer (Ninth Army), S. 332 f. und S. 361. 131
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obligatorischen Entlassungen und Verhaftungen, gegenüber den Displaced Persons wie bei den Entscheidungen im Bereich der "Legal Affairs", bei "Labor" oder "Public Works" keinen anderen Prozeduren und Direktiven als in den übrigen Gebieten 137, die die U.S. Army im zurückliegenden halben Jahr besetzt hatte - nur, daß in Mitteldeutschland eben alles noch deutlicher im Zeichen des Vorläufigen stand und vieles von den Provisional Detachments um einiges unroutinierter angepackt wurde. Die Reaktion der Bevölkerung wie der Politiker und Beamten auf die Maßnahmen der amerikanischen Militärverwaltung unterschied sich deshalb in Jena oder Halle qualitativ nicht im mindesten von jener aus einer Mischung von Zustimmung, Gleichgültigkeit und Irritation bestehenden Haltung, die etwa bei den Bewohnern von Aachen, Kassel oder Augsburg beobachtet werden konnte. Beim Einmarsch der Truppen Bradleys wußte die Masse der Bevölkerung in Thüringen und Sachsen noch nicht, daß die Amerikaner bei ihnen nur ein nicht einmal hundert Tage währendes Gastspiel geben würden. Die Menschen, bei denen der Strom angsterfüllter Flüchtlinge aus dem Osten an der Haustüre vorbeigezogen war, waren auch hier erst einmal erleichtert, daß ihnen eine sowjetische Besetzung erspart geblieben war. Das Schweizerische Konsulat Leipzig, das in eine kleine Ortschaft in der Nähe ausgelagert war, berichtete einen Tag nach dem Einrücken der amerikanischen Truppen dem Politischen Departement in Bern: "Der Kontakt zwischen den Amerikanern und der Bevölkerung war ein erstaunlich freundlicher, so sehr, daß man kaum den Eindruck hatte, eine fremde und feindliche Truppe sei einmarschiert."138 Wie desperat die Deutschen östlich von Eibe und Mulde demgegenüber ihre Lage einschätzten, hatte sich bei der amerikanischen Militärverwaltung diesseits der Eibe längst herumgesprochen. Die Kampftruppen konnten nach ihren Erlebnissen an der Demarkationslinie ein Lied von der deutschen "Russenangst" singen, und einer der ersten Trupps der Army, der durch das sowjetische Besatzungsgebiet nach Berlin unterwegs war, bestätigte das aus eigener Anschauung. Ein CIC Military Intelligence Interpreter Team, das am 7. Mai von Wittenberge aus eine Tagestour in die Hauptstadt unternommen hatte, berichtete nach seiner Rückkehr aus dem Brandenburgischen : "Die deutsche Bevölkerung scheint völlig eingeschüchtert und verängstigt zu sein. Die meisten reden überhaupt nicht, doch haben uns ein oder zwei gesagt, daß ,wir zu spät gekommen' seien."139 Die Art, wie die Military Government Detachments ihre Arbeit in Thüringen und Sachsen versahen, erlaubte zunächst keine Rückschlüsse auf einen bald bevorstehenden Besatzungswechsel. Auch hier galt ein striktes politsches Betätigungsverbot, auch hier versuchten die Amerikaner, politisch einigermaßen vertretbare Persönlichkeiten in die wichtigsten Verwaltungspositionen zu bringen, und auch hier schenkten sie der
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Zum eklatant abweichenden Verhalten der amerikanischen Besatzungsmacht bei der Zwangsevakierung von Wissenschaftlern vgl. VI/5. Bericht des Schweizerischen Konsulats Leipzig (z.Zt. Otterwisch) nach Bern v. 17.4. 1945; Schweizerisches Bundesarchiv Bern, 2300/Leipzig. "Visit to Berlin" am 7.5. 1945, Bericht des Military Intelligence Interpreter Team 440-G v. 8.5. 1945; Sammlung K. Frank Kor!, Boca Raton/Florida. Herrn Kor! danke ich für die Überlassung des Dokuments, Frau Dr. Elke Fröhlich, für die Vermittlung dieses Kontakts. Zum Schluß des zitierten Berichts v. 8. 5. 1945 heißt es: "In conclusion we would like to say that from all evidence, and from talking with many Red Army officers in Berlin it appears that we were the first U.S. Army men to enter the German captital since its capitulation."
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allgemeinen Stabilisierung der Lage zunächst mehr Aufmerksamkeit als einer durchgreifenden Entnazifizierung; ansonsten Routine, die sich in nichts von der Routine der Militärverwaltung anderswo unterschied. 140 Das spiegelt sich recht gut in dem Rechenschaftsbericht, den der Oberbürgermeister von Naumburg an der Saale am 12. Juni an das Regierungspräsidium in Merseburg sandte. 141 Seit dem Tag der amerikanischen Besetzung am 12. April 1945, schrieb er, arbeite die Stadtverwaltung mit dem Military Government "in voller Übereinstimmung und ohne jeden Widerspruch". Ende April sei der bisherige Oberbürgermeister suspendiert und ein Rechtsanwalt als kommissarisches Stadtoberhaupt eingesetzt worden. Acht Angehörige der Stadtverwaltung seien von den Amerikanern festgenommen, 18 weitere entlassen worden; die nächsten Entlassungen würden nach Rückkehr der Kriegsgefangenen vorzunehmen sein. Polizei und Kriminalpolizei habe die Militärregierung aufgelöst und eine neue Hilfspolizei aufgestellt. Ihr Leiter sei Ende Mai vom CIC verhaftet worden. Dann wurden die Verhältnisse bei den einzelnen Abteilungen der Stadtverwaltung und deren bisherige Aktivitäten beschrieben, ,,Administration of the Building and Estates Office", "Public Welfare", "Public Health", "Office for Economy", "Food-Office" usw. Das Fazit des Rechenschaftsberichts hätte so oder ähnlich auch irgendeine beliebige der vielen hundert vergleichbaren vorläufigen Bilanzen abschließen können, die in diesen Monaten von den Kommunalverwaltungen bei den übergeordneten Behörden eingingen: "Die schwierige Situation, die in Naumburg durch den Zusammenbruch des Dritten Reiches entstanden ist, wird durch den Einsatz aller Kräfte und Mittel überwunden werden. In diesem Zusammenhang müssen wir insbesondere die harmonische Zusammenarbeit mit der Militärregierung hervorheben. Der derzeitige Stadtkommandant ist in jeder Weise bemüht, der Gemeinde zu helfen. Das wird von der Bevölkerung dankbar anerkannt." Wie im gesamten Besetzungsgebiet, so waren auch in Thüringen und Sachsen auf der Linken Stimmen zu vernehmen, denen die Militärverwaltung die politische Säuberung nicht radikal genug anpackte. 142 Die USFET-Direktive vom 7. Juli 1945, die schärfste Entnazifizierungsbestimmung, die in Deutschland überhaupt erlassen und
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Die in der DDR erschienenen älteren Arbeiten zur kurzen Phase der amerikanischen Besetzung Sachsens und Thüringens kranken zumeist an der verständlichen Unkenntnis der Arbeitsbedingungen des amerikanischen Military Govemment in jenen Monaten. Das führte sie dazu, die Maßnahmen, die die Militärverwaltung in der späteren sowjetischen Besatzungszone im Zeichen von militärischer Sicherheit und Stabilisierung der Lage ergriff, als Ausfluß einer umfassenden politischen Strategie des "amerikanischen Imperialismus" zu sehen. Damit geschah diesen gewissermaßen aber zu viel der Ehre. Vgl. z. B. Ludwig Fuchs, Die Besatzungspolitik der USA in Thüringen VOn April bis Juni 1945, Diss., Leipzig 1966. Ders., Die Besetzung Thüringens durch die amerikanischen Truppen. Die Behinderung des Kampfes der KPD um die Neuformierung ihrer Reihen und die Entwicklung einer breiten antifaschistischen Bewegung zur Herstellung antifaschistisch-demokratischer Verhältnisse, in: Beiträge zur Geschichte Thüringens 1 (1968), S. 53ff. Robert Büchner, Hannelore Freundlich, Zur Situation der amerikanisch besetzten Gebiete der sowjetischen Besatzungszone (April bis Anfang Juli 1945), in: BZG 14 (1972), S. 992ff. Ferner die Behandlung dieser Phase in den verschiedenen lokal- und regionalgeschichtlichen Arbeiten, die genannt sind in: Martin Broszat, Hermann Weber (Hrsg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltung, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949. München 1990. Englische Übersetzung des Berichts des Oberbürgermeisters der Stadt Naumburg an der Saale über "Wichtige Ereignisse seit Beginn der Besatzung" an den Regierungspräsidenten in Merseburg v. 12.6.1945; NA, RG 332, ECAD, Special Reports. Vgl. Helga A. Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948), München 1989, S. 22ff.
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auch durchgeführt wurde 14 3, kam dort wegen des Besatzungswechsels zwar nicht mehr zur Anwendung, aber untätig waren die Amerikaner auch hier nicht geblieben; von der Behinderung einer gründlichen Säuberung kann jedenfalls keine Rede sein. 144 Aus den Akten des im Raum Zwickau operierenden CIC-Detachments beispielsweise geht hervor, daß das Counter Intelligence Corps hier allein in der zweiten Aprilhälfte fast 18.000 Zivilisten überprüfte und dabei mehr als 700 "counterintelligence arrests" machte. Dabei sah sich das CIC häufig vor ein Dilemma gestellt: "Vernehmungen konnten nicht immer abgeschlossen werden, nicht einmal im Falle automatisch Verhafteter, und CIC-Agenten hatten es oft mit Personen zu tun, deren Schuld offensichtlich größer war, gegen die aber Beweise fehlten." Dies schien sich in mehreren Fällen zu bestätigen, als Festgenommene, denen im Verhör nicht einmal genügend nachgewiesen werden konnte, um sie festzuhalten oder anzuklagen, plötzlich Selbstmord begingen ("Sie ... wären freigekommen, hätte sie nicht ihr Gewissen oder ihre Angst überrnannt").145 Auch im Kreis Sonneberg an der bayerisch-thüringischen Grenze konnte das Military Government Detachment für Mai keine schlechte Bilanz seiner Zusammenarbeit mit dem CIC vorlegen. In diesem Monat waren dort 14 Angehörige von SS und SA sowie der übrigen angeschlossenen Verbände der NSDAP verhaftet worden, 13 Ortsgruppenleiter bzw. Mitglieder der Ortsgruppenleitungen, 12 Funktionäre von NSDAP-Kreisleitungen und weitere vier Personen, die sich jetzt wegen "Mißhandlung Gefangener" oder "Nazi-Greuel gegen Juden" verantworten mußten. 146 In Leipzig hatte die für die Entnazifizierung zuständige Special Branch des Provisional Military Government Detachment A unter Major Richard J. Eaton bis Ende Mai einige tausend Fälle geprüft und immerhin 805 Entlassungen aus der Stadtverwaltung vorgenommen. 147 Natürlich blieb während des kurzen Gastspiels der Amerikaner in Mitteldeutschland bei der Entnazifizierung dennoch sehr viel liegen, waren die Ergebnisse der ersten Säuberungsmaßnahmen von Stadt zu Stadt höchst unterschiedlich 148, und es ließen sich vermutlich leicht Beispiele dafür finden, daß die Militärverwaltung auf diesem Felde in manchen Orten bis zum Abzug der U.S. Army nur wenig Initiative an 143
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Die Auswirkungen der Juli-Direktive in der Region Ansbach und Fürth sind minutiös beschrieben bei Hans Woller, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 95 ff. So noch Wolfgang Meinicke, Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone unter Berücksichtigung von Aspekten politischer und sozialer Veränderungen (1945-1948), Diss., Bcrlin (Ost) 1983, S. 4. Darstellung der Tätigkeit des Counter lntelligence Corps im Raum Zwickau auf der Basis der Akten des 89th CIC Detachment, in: CIC-History, Kap. XX, S. 131 f.; U.S. Army Intelligence and Securiry Command, Fort George G. Meade, Maryland. Military Government, Der. H3H3, Sonneberg, Germany: Monthly Report Information and History, No. 2, v. 5.6.1945 an Ninth U.S. Army, G-5; NA, RG 331, Ninth U.S. Army, 17.14 Historical Reports,June 1945 (Final Report),Jacket Nr. 9. Dies war eines der wenigen in Thüringen eingesetzten regulären Detachments. Diese Zahl findet sich im "Weekly Military Government Summary No. 3" der Ninth U.S. Army v. 11. 6. 1945; eben da, Enclosures Nr. 1-5.9334/3. Die Zahlen sind in DDR-Veröffentlichungen bestätigt; Welsh, Revolutionärer Wandel, S. 32. In den vorzüglichen Erinnerungen von Dietrich Güstrow heißt es über das amerikanische Vorgehen bei der Säuberung der Stadtverwaltung von Gernrode im Harz, nach der Inspektion der Personalakten hätten die Amerikaner "tatsächlich alle Belasteten vom Dienst suspendiert und ihnen das Betreten des Rathauses verboten". Dietrich Güstrow, In jenen Jahren. Aufzeichnungen eines "befreiten" Deutschen, München 1983, S. 40 f. Vgl. den Bericht von Hermann BrilI, Präsident der noch von der amerikanischen Militärregierung eingesetzten Provinzialregierung Thüringens, an die neu aufgezogene sowjetische Militärverwaltung v. 4.7. 1945, in dem er von außerordentlich verschiedenen und von örtlichen Zufällen abhängigen Gegebenheiten bei der Entnazifizierung spricht; zit. nach Fuchs, Besatzungspolitik der USA, S. 115.
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den Tag gelegt hatte. General Clay schrieb unmittelbar nach dem Besatzungswechsel an den Chef der Civil Affairs Division im War Department, die Säuberungsmaßnahmen hätten im amerikanischen Besetzungsgebiet in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Fortschritte gemacht, die langsamsten aber in den "von SHAEF besetzten Gebieten der sowjetischen Zone"149 In manchen Orten stand es, wie gesagt, aber gar nicht so schlecht, als Anfang Juli 1945 die sowjetische Militärverwaltung aufzog. Major F. Clarke, der Chef des Provision al Military Government Detachment in Grimma an der Mulde, hatte vor seinem Abzug noch eine seinem unbekannten Nachfolger zugedachte (,,An den das Detachment 24 ablösenden sowjetischen Offizier") Bilanz seiner Arbeit verlaßt. Darin war festgehalten: ,,Alle Beamten und ZivilangesteUten, einschließlich der Bankangestellten, haben Fragebögen ausgefüllt, die ausgewertet wurden. In allen Fällen, in denen die Fragebögen Tätigkeit für die NSDAP oder andere Gründe zur Entfernung ergaben, ist die betreffende Person unverzüglich aus dem Amt entfernt oder entlassen worden."15o
Die amerikanische Militärverwaltung und das Nationalkomitee Freies Deutschland, Leipzig Alles andere als Routine war für die Amerikaner die Begegnung mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland in Leipzig. Im Ruhrgebiet, in Frankfurt oder in Hannover etwa waren der Besatzungsmacht zwar auch schon die unterschiedlichsten ,,Aktionsgruppen", "Notstandskoalitionen"151, "Kooperationsgebilde"152 und Antifa-Initiativen begegnet, doch wurde den Offizieren des CIC und des Military Government nach Einnahme der Stadt am 18. und 19. April sogleich klar, daß sie es hier mit einer Gruppe ganz anderen Kalibers zu tun bekamen. "Unsere Militärbehörden", so das Counter Intelligence Corps in einer frühen Analyse, "sahen sich zum ersten Mal im deutschen Feldzug einer deutschen Untergrundbewegung von Größe und Gewicht gegenüber." I53 Leipzig, damals die viertgrößte Stadt des Reiches und seit jeher eine Hochburg der deutschen Arbeiterbewegung, war beim Einmarsch der Truppen von General Hodges im Vergleich zu anderen Großstädten noch "ein relativ intaktes deutsches MetropoIis"I54, wenn natürlich auch überfüllt von Flüchtlingen und Displaced Persons. Die
Telegramm Clays an Hilldring v. 5.7.1945; in:Jean Edward Smith (Hrsg.), The Papers of General Lucius D. Clay: Germany 1945-1949,2 Bde., London 1974, S. 46. 150 Seventh Army Provisional Military Government Detachment 24, "Brief Resume of Operations - To Soviet Officer Relieving Detachment 24" v. l. 7. 1945; NA, RG 332, ECAD, 20l. ,,, Diese bei den Qualifizierungen verwendet die im G-5 Weekly Journal of Information Nr. 15 des Alliierten Oberkommandos v. 16.6. 1945 enthaltene Studie ,,Action Groups in Post-Collapse Germany"; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, 131.11, Entry 54. '>2 So Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin 1982, S. 68. '>3 Anfang Mai 1945 vom CIC vorgenommene Analyse "National Committee for Free Germany (Leipzig Version)", Annex Nr. 1 zum G-2 Periodic Report des XIII Corps v. 17.5. 1945; RG 338, Operation Reports XIII Corps, Box l. Vgl. auch die in der CIC-History, Kap. XX, S. 54, genannten FundsteIlen im Berichtsmaterial der First und Ninth U.S. Army; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. 15' OSS, R & A Branch v. 8. 6. 1945, vol. 11, Nr. 23: "The Political Atmosphere in Leipzig"; NA, RG 226, XL 16957. 149
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Amerikaner waren in der Stadt verschiedentlich noch auf hartnäckigen Widerstand gestoßen, aber gleichzeitig zeigten sich bereits überall weiße Fahnen. Es war für die Soldaten bald klar, daß die Kapitulationsbereitschaft in der Bevölkerung auch auf eine Reihe von Flugblättern zurückging, die eine offenkundig gut organisierte Gruppe am 14. April - als die Besetzung unmittelbar bevorzustehen schien - und an den folgenden Tagen verbreitet hatte. 155 Die Losungen lauteten "Schluß mit dem wahnsinnigen Krieg der Nazis!", "Heraus mit den weißen Flaggen!", verlangten nach "widerstandsloser Übergabe unserer Stadt", forderten die Bevölkerung auf, den Anordnungen der Besatzungsbehörden in jeder Hinsicht Folge zu leisten, aktive Nazis festzunehmen, für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung zu sorgen und "die besten antifaschistischen Kräfte aus allen Schichten der Bevölkerung in den Straßen, Orten und Betrieben für das Nationalkomitee Freies Deutschland" zu gewinnen. Welch tödliches Risiko die Männer der Leipziger Untergrundbewegung mit ihren Aktionen eingegangen waren, erschloß sich der Besatzungsmacht erst nach den am 19. April beendeten Kämpfen. Die Blutspur war unübersehbar, die der Terror von Gestapo und SS durch die Stadt gezogen hatte. Am 12. April waren 52 wegen "staatsfeindlicher Einstellung" von der Gestapo verhaftete Männer auf einem Leipziger Exerzierplatz erschossen worden. Tags darauf ermordete die SS im Zuge der Evakuierung von Konzentrations- und Arbeitslagern neuerlich mehr als 200 Personen. Am 19. April entdeckten Soldaten des V. Corps eine weitere Schreckensszene. Als sie im Leipziger Vorort Thekla ein Zwangsarbeiterlager überrannten, schwelten dort noch vom Vortage die Trümmer einer großen Unterkunftsbaracke. Dort hinein hatten die deutschen Wachmannschaften über 300 Insassen getrieben, das Holzgebäude mit Benzin getränkt und dann mit Panzerfäusten in Brand geschossen. Viele, die den Flammen zu entkommen suchten, fielen den Kugeln der flüchtenden Aufseher zum Opfer. 75 Leichen fanden die G.I.s im Stacheldraht der Umzäunung hängend. l56 Am Tag dieses Massakers waren auch noch mehrere Leipziger Volkssturmführer erschossen worden, in deren Einheiten Desertionen zu den Amerikanern hinüber vorgekommen waren. Für die Besatzungsmacht lag es bei Übernahme der sächsischen Metropole vollkommen im Dunkeln, mit wem sie es bei dieser offenkundig außerordentlich mutigen und weitverzweigten Widerstandsgruppe zu tun hatte. Zum Stadtkommandanten hatte das V. Corps der 1. Armee Oberst Jim Dan Hili bestellt, seines Zeichens Kommandeur der 190th Field Artillery Group. Chef des aus 16 Offizieren und 24 Mann bestehenden Provisional Military Government Detachment A war Major Richard
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Die Vorgänge während der Besatzung Leipzigs und die Geschichte des NKFD sind gut erforscht, vor allem durch die Dissertation von Horst W. Schmollinger, Entstehung und Zerfall der antifaschistischen Aktionseinheit in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte des Wiederentstehens der Leipziger Arbeiterparteien 19391945, Diss., Stuttgart 1976. Vgl. auch dessen Beitrag: Das Bezirkskomitee Freies Deutschland in Leipzig, in: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, hrsg. von Lutz Niethammer, Ulrich Borsdorf, Peter Brandt, Wuppertal 1976, S. 219ff. In beiden Arbeiten auch ausführliche Quellen- und Literaturhinweise. Soweit nicht anders angegeben, stützt sich die folgende Skizze, die die Ereignisse um das Leipziger NKFD einmal bewußt aus der Perspektive der einrückenden Besatzungsmacht und des Military Government schildern will, auf Schmollingers zuverlässige Arbeiten . Vgl. Ziemke, U.S. Army, S. 2441. Ebenda, S. 243, Angaben zum Stadtkommandanten und zum Military Government von Leipzig.
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Eaton, von dem der kritische Walter L. Dom in seinen Erinnerungen sagte, über diesen werde er "keine Bemerkungen" machen. 157 Das Detachment hatte keinerlei "vorherige Military Government-Ausbildung oder -Erfahrung", nur zwei der Ofiziere waren mit solchen Dingen schon einmal kurz in Berührung gekommen. 158 Es wäre kaum überraschend, wenn die nun für Leipzig verantwortlich gewordenen Amerikaner nicht selbst ihre Zweifel daran gehabt hätten, ob sie zur Bewältigung der vor ihnen liegenden Aufgaben tatsächlich die notwendigen Voraussetzungen mitbrachten. Ausgerechnet Provisional Military Government Detachment A, das nur dann hoffen konnte, einigermaßen zu bestehen, wenn es fehlende Professionalität durch strikte Anwendung und enge Auslegung der Direktiven des Alliierten Oberkommandos kompensierte, traf nun auf die nach dem Urteil des Counter Intelligence Corps erste und einzige wirklich kraftvolle deutsche Untergrund- und Antifa-Organisation, die im Bewußtsein ihrer Stärke und ihrer Verdienste jetzt die Geschicke der befreiten Stadt mitbestimmen wollte. Wie eigenständig das Komitee dabei vorzugehen gedachte, erfuhr Major Eaton sofort nach Beginn seiner siebzigtägigen Amtszeit in Leipzig. Aus den Indizien, die er in den nächsten Tagen sammeln konnte, war für ihn nur der Schluß zu ziehen, daß das NKFD, von dem jetzt beinahe täglich Zehntausende von Flugblättern und Plakaten in den Straßen und Plätzen der Stadt zu sehen waren, durchaus mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten, aber sich nicht von dieser den Takt vorgeben lassen wollte. Am 20. April bekam Richard Eaton einen offenbar von den fünf führenden Köpfen des Komitees unterzeichneten Brief. "Darin baten sie um Erlaubnis, Geschäftsstellen zu eröffnen, den Nazismus und Rassismus mit Broschüren und Plakaten zu bekämpfen, die Bevölkerung in Schule, Kirche, Presse und Film für die Demokratie vorzubereiten", notierte sich Walter Dom während seines Besuches bei der Leipziger Militärregierung. "Sie wollten Kraftfahrzeuge und Personalausweise für die Mitglieder des Komitees und hofften, mit dem CIC zusammenzuarbeiten."159 Diese weitreichende Bitte erfüllte die Militärverwaltung nicht, sagte dem Komitee aber, es solle sich bei der Aufspürung von Nazis und Wehrmachtssoldaten nützlich machen. Am selben Tag nannte der Sekretär des "Freien Deutschland" (ein in Leipzig geborener linksliberaler Zahnarzt, der noch am 12. April zum Tode verurteilt worden war, aber hatte fliehen können) den Amerikanern den Kandidaten des Komitees für das Oberbürgermeisteramt. Am nächsten Tag erschien wieder ein Flugblatt ("Katyn") des NKFD. Die Militärregierung bekam es zu Gesicht, als es bereits an die Bevölkerung verteilt worden war. Auf dem Zettel wurden den Leipzigern die Mordtaten der Gestapo kurz vor der Besetzung der Stadt geschildert und die Namen der Opfer genannt, außerdem enthielt es die Information: "Meldestellen des NKFD ab heute in allen Stadtteilen in den ehemaligen Nazipartei- und Arbeitsfrontgeschäftsstellen". Das Military Government stand solcher Dynamik zunächst etwas ratlos gegenüber, aber was Major Eaton sofort stark irritieren mußte, war, daß das Komitee nicht nur eigenmächtig Mitteilungen mit der Ankündigung eigenmächtiger Schritte herausgab, 15'
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Walter L. Dorn, Inspektionsreisen in der VS-Zone. Notizen, Denkschriften und Erinnerungen aus dem Nachlaß hrsg. von Lutz Niethammer, Stuttgart 1973, S. 39. Das Zitat in einem bei Schmollinger, Entstehung und Zerfall, S. 386, (ohne Datierung) wiedergegebenen Bericht der Political Advisor an das State Department, die Information bei Ziemke, V.S. Army, S. 243. Dorn, Inspektionsreisen, S. 35.
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sondern daß es diesen obendrein auch noch den Anschein amerikanischer Autorisierung gab. "Mitteilungen wurden neben den Proklamationen der Militärregierung angeschlagen, als wenn militärische Deckung ihrer Aktivitäten zu verstehen gegeben werden sollte", berichtete der Political Advisor Eisenhowers darüber nach Washington. 160 Es ist nicht verwunderlich, daß sich bei der Militärverwaltung und ihrem Chef - der, so Dorn, "die Elemente, die er vorfand, nicht richtig einschätzen konnte und nicht richtig einschätzte"161 - schon nach zwei, drei Tagen Arbeit in der sächsischen Metropole der Eindruck verdichtete, das NKFD wachse ihnen mit seiner unerhörten Aktivität und Dynamik bereits über den Kopf. Am 23. April sahen sich die Amerikaner schon wieder mit einer Erklärung konfrontiert, diesmal mit einem "Offenen Brief des ,Nationalkomitees Freies Deutschland' Leipzig". Er begann mit der Erklärung an die Leipziger Bevölkerung, das NKFD gewähre ihr "absolute Selbständigkeit ihrer Überzeugung". Weiter hieß es, das Komitee wolle "nichts anderes als die Befreiung unseres Volkes von dem furchtbaren Erbe einer zwölf jährigen Diktatur". In dem Brief, der die Bereitschaft zu enger "Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen" betonte, wurden aber auch solche Forderungen erhoben wie die "Bildung einer Volksfrontregierung und die Vorbereitung einer freien, geheimen Wahl" oder die sofortige Aufnahme der Friedensproduktion "unter Kontrolle der Werktätigen". Am Tag, an dem der Offene Brief herauskam, gab die Militärverwaltung ein erstes überraschendes Signal. Sie berief nicht den Kandidaten des augenscheinlich von den Arbeiterparteien dominierten und in der Stadt breit verankerten Komitees zum Oberbürgermeister, sondern einen als ehemaliges "Stahlhelm"-Mitglied konservativ-national gesinnten Rechtsanwalt, der dem Provisional Detachment von bürgerlicher Seite anempfohlen war; auch bei der Besetzung wichtiger Verwaltungspositionen kamen Komitee-Mitglieder nicht zum Zuge. Aus den Quellen ist nicht zu ersehen, weshalb sich Eaton so entschied und damit dem seit und trotz ,,Aachen"162 favorisierten Vorgehen der amerikanischen Besatzungsoffiziere bei Erstbesetzungen von hohen Verwaltungspositionen in größeren Städten folgte. Es mag mangelndes Fingerspitzengefühp63, Arglosigkeit, politische Kurzsichtigkeit oder Unüberlegtheit gewesen sein, es ist aber auch nicht auszuschließen, daß die Militärverwaltung in Leipzig bewußt so vorging, um ihre Unabhängigkeit vom Freien Deutschland zu demonstrieren und damit zu unterstreichen, daß sie nicht nur der Theorie nach eine selbst von einer noch so ambitionierten autochthonen deutschen Bewegung nicht zu schmälernde Handlungsfreiheit besaß. Auf welche Kräfte sich das NKFD eigentlich stützte, war ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht recht klar. Auch das Counter Intelligence Corps hatte vier, fünf Tage nach Besetzung der Stadt noch nicht mehr als dunkle Befürchtungen und haltlose Spekulationen anzubieten. "Es kann angenommen werden", mutmaßte der Abschirmdienst der Armee einstweilen nur, "daß Infor160
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Bericht des Political Advisor an das State Department; zit. nach dem bei Schmollinger, Entstehung und Zerfall, S. 407, wiedergegebenen Berichtsausschnitt. So Dorn in seinen aus dem Jahr 1949 stammenden "Erinnerungen"; Dorn, Inspektionsreisen, S. 39. Bei Dorn fällt auf, daß er die Situation und die Maßnahmen der Leipziger Militärregierung in seinen Tagebuchaufzeichnungen von 1945 noch mit mehr Verständnis zu beurteilen scheint als in seinen aus dem Jahr 1949 stammenden Erinnerungen oder in seinem Manuskript "The Unfinished Purge", 0.0.,0.]. (1%1); HZ-Archiv, ED 127. Vgl. III/2 und IV/2. Vgl. Eatons recht burschikose Darlegung seiner Arbeitsprinzipien bei earl]. Friedrich (Hrsg.), American Experiences in World War 11, New York 1948, S. 243.
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mationen von jedem ,Freien Deutschland'-Komitee oder von russischen Agenten nur den Russen übermittelt werden."164 Fast dramatisch häuften sich für das Provisional Detachment A jetzt die Indizien dafür, daß das NKFD trotz der vermutlich aufrichtig gemeinten Versicherungen seiner Kooperationsbereitschaft binnen weniger Tage zu einer Bewegung von einem Umfang und einer Stoßkraft angewachsen zu sein schien, die von deren Führern nicht mehr im Zaum gehalten werden konnte oder womöglich gar nicht mehr im Zaum gehalten werden wollte. In einer auf den 24. April datierten ,,Arbeitsanweisung Nr. 2"165, in der erneut darauf hingewiesen wurde, nichts am Military Government und am Counter Intelligence Corps vorbei zu unternehmen, waren die NKFD-Mitglieder dann aber andererseits dazu aufgefordert, alle Gebäude der NSDAP zu besetzen und "als Volkseigentum sicherzustellen". Normalerweise nehme das NKFD niemanden fest, hieß es weiter, es könne zu einem solchen Schritt aber gezwungen sein, "um die Flucht eines aktiven Nazis oder ein Verbrechen zu verhindern"; danach habe sofortige ÜbersteIlung an die Besatzungsbehörden zu erfolgen. Dann folgten Anweisungen zur inneren Organisation, die die Ambitionen des Leipziger Komitees klar erkennen ließen: "Überall, wo möglich, sind Orts- und Betriebsausschüsse des NKFD ins Leben zu rufen. Jeder Stadtteil muß mehr als ein Komitee haben. Diese Komitees müssen täglich vergrößert werden. Jedes neue örtliche Komitee muß gemeldet werden. Zusammensetzung der örtlichen Komitees: Leitung (sowie Abteilungen für) Organisation, Werbung, Abwehr. Zur Leitung gehört eine ,Personalabteilung', zur Organisation ein ,Mitgliederstab', dann die ,technische Abteilung' und die Kasse. Zur Werbung gehören die ,Aufklärung', die ,Berichterstattung' und die ,Materialverteilung'; ,Abwehrdienst' gegen eingedrungene Nazis und Provokateure. Dann soll es eine ,Produktionsabteilung' für Fabriken und Geschäftsleute geben. Daneben muß es eine verantwortliche Verbindungsstelle mit den Fremdarbeitern geben und einen Mann für Verpflegung (Plünderer)." Daß dies nicht nur Wünsche, sondern zum Teil bereits die Realitäten spiegelte, wußte Major Eaton wohl, denn sonst hätte sich Walter Dorn einige Tage später kaum notieren können: "In Leipzig 38 Ortsausschüsse, 4500 Mitglieder, die ihren Willen zur Mitarbeit bekundeten. Schätzung, daß es in Leipzig 150.000 (Anhänger) gibt, die nicht aktiv sind." In den übrigen Punkten der ,,Arbeitsanweisungen" wurde die Notwendigkeit betont, die "Basis des Komitees" zu verbreitern, "Intellektuelle aller Art wie Ärzte, Künstler, Geschäftsleute, Händler, Mittelständler etc." müßten gewonnen, Personen mit Verwaltungskenntnissen "auf die weiße Liste gesetzt und uns angezeigt" werden. Da das NKFD keine "Mitglieder", sondern nur "Mitarbeiter" haben sollte, könne es auch keine Mitgliedsbeiträge geben: "Finanzierung geschieht durch freiwillige Spenden, jeweils am 1., 10.,20. (eines Monats). Das örtliche Komitee gibt 5 % des einlaufenden Geldes an die Bezirksstelle." Wenn Major Eaton all dies nicht als eine gelinde Tangierung des Verbots der Versammlung von mehr als fünf Personen und des "Verbots politischer Betätigung" der Besatzungsmacht auffassen sollte, dann hätte er getrost auch sämtliche anderen Direktiven des Alliierten Oberkommandos in den Papierkorb werfen können. Gelegentlich mag ihn auch der Gedanke beschäftigt haben, ob es denn mitten im Krieg mitten im Land des Feindes ei16'
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Counter Intelligence Bulletin Nr. 3 der 1. US·Armee v. 24.4. 1945; zit. nach der CIC-History, Kap. XX. S. 11; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. Vollständiger Text bei Dom, Inspektionsreisen, S. 371. Das folgende Zitat ebenda, S. 38.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
gentlich seine Aufgabe sein konnte, in Leipzig eine Art von, ja, großer Koalition mit einer selbstbewußten deutschen Bewegung auszuprobieren. Am 25. April, das Detachment befand sich noch keine Woche in der Stadt, waren wieder zwei Erklärungen des Nationalkomitees Freies Deutschland zur Kenntnis zu nehmen, ein an die Militärverwaltung adressierter Brief und ein öffentlicher Aufruf ,,An die Leipziger Arbeiterschaft". In dem Brief um riß das NKFD in eher allgemeinen Zügen seine politische Position. Es bekannte sich zur Demokratie und zu einer republikanischen Regierungsform, zur Sicherung des Friedens und zu sozialer Gerechtigkeit, zu einer rücksichtslosen Entnazifizierung und zum Aufbau einer "freien allgemeinen Gewerkschaft der deutschen Werktätigen". Versuchte das Komitee, mit solchen auch öffentlich immer wieder proklamierten allgemeinen Zielen "eine Massenbasis zu erlangen", so zielte der Aufruf an die Arbeiterschaft darauf ab, die auch in Leipzig beim Einmarsch allenthalben entstandenen Betriebsausschüsse zu erfassen und im Sinne des NKFD zu "vereinheitlichen"166. So hieß es in dem Aufruf an die Leipziger Arbeiterschaft denn auch selbstbewußt, jeder Ortsausschuß des Freien Deutschland schaffe "sofort" einen Dreierausschuß für die Gewerkschaftsarbeit; in den wieder produzierenden Betrieben sollten, falls noch nicht vorhanden, provisorische Betriebsausschüsse geschaffen werden, eine enge Verzahnung zwischen den Ortsausschüssen des NKFD, den Gewerkschaftsunterausschüssen und den provisorischen Betriebsräten sei herbeizuführen, ,,Arbeitsanweisungen und Materialien ergehen stets vom provisorischen Ortsausschuß an die Unter- und Betriebsausschüsse". Am Tage nach diesem Aufruf verbot Major Eaton das Leipziger Nationalkomitee. Den eigentlichen Anlaß, das Komitee aufzulösen, bot der Aufruf des Freien Deutschland zu einer Demonstration anläßlich des 1. Mai. Auch die Displaced Persons, von denen es in Leipzig noch einige zehntausend gab und unter denen das NKFD seine Propaganda inzwischen ebenfalls verstärkt hatte, waren zur Teilnahme aufgefordert. Offenbar war es, wie Walter Dorn notierte, der Plan des Komitees gewesen, ihre Bewegung am Tag der Arbeit auf eine "demokratische Grundlage" zu stellen. 167 Zu diesem Zeitpunkt war den Offizieren der Besatzungsbehörden sehr wahrscheinlich auch schon die ziemlich offene Kritik zu Ohren gekommen, die enttäuschte Mitglieder des NKFD nach der Einsetzung der neuen Stadtverwaltung an der amerikanischen Politik geübt hatten. OSS konnte jedenfalls bald die Ansicht einer ungenannt bleibenden "Quelle" in dem Komitee referieren, die dem Agenten des Geheimdienstes ihre Mißbilligung unverblümt zu Protokoll gegeben hatte: ",Wir sehen, daß Sie sich gegen Nazis wenden, und wir zollen Ihnen Beifall', so schloß eine Quelle, ,doch meinen wir, daß Sie logisch sein und andererseits für diejenigen eintreten sollten, die Ihre Sache unter Lebensgefahr unterstützt haben. Sie sollten nicht Männern den Vorzug geben, die gegen uns sind. Wir wollen unser Teil tun, und das Volk ist für uns."4
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Hierzu Lasby, Paperclip, S. 75 ff.; das Zitat findet sich auf S. 77. Vgl. McGovern, Spezialisten und Spione, S. 213. Vgl. ebenfalls Bower, Verschwörung Paperclip, S. 156, der das Thema in der für ihn typischen Weise abhandelt. Zahlenangaben nach Lasby, Paperclip, S. 5. So die Formulierung im undatierten Entwurf eines Schreibens des Länderrates an die amerikanische Militärregierung von Anfang 1948 über die Lage der Zwangsevakuierten; BA, Z 1/1024, BI. 216. Gimbel, U.S. Policy and German Scientists, S. 443 ff., geht genauer auf das Schicksal der Evakuierten zwischen Sommer 1945 und Sommer 1948 ein.
S. Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker
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Dieser bitteren Einsicht konnten sich die Fachleute und ihre Familien, die ihre Heimat fast alle unfreiwillig verlassen hatten 359 , schon im Herbst 1945 nicht mehr entziehen. Die wenigsten von ihnen, insgesamt wahrscheinlich nur drei bis vier Prozent, erhielten einen Arbeitsvertrag mit der Regierung der Vereinigten Staaten. Und bereits Ende 1945 klagte FIAT, das seine Schützlinge in umfänglichen Listen zur ,,Ausbeutung" feilbot, über das "geringe Interesse", das sich bei den alliierten Stäben und Behörden regte. 360 Als Strandgut des Sieges hatten die hochqualifizierten Fachleute deprimierende Monate, manche sogar Jahre vor sich. Die Experten aus Thüringen und Sachsen besaßen zunächst nur einen besseren Interniertenstatus, blieben in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt, waren, an den Versprechungen gemessen, miserabel untergebracht, gekleidet und versorgt (auch wenn die Militärregierung bald Extrarationen für sie zur Verfügung stellte), in den Dörfern und kleinen Städten der US-Zone mehr oder weniger zum Müßiggang verurteilt; viele von ihnen wurden krank, mutlos, verzweifelten. 361 "Es ist doch erschütternd zu sehen, welch große Anzahl durchaus ernst zu nehmender, gut ausgebildeter Menschen jetzt mehr oder weniger arbeitslos herumsitzen müssen"362, schrieb Otto Hahn noch im Juli 1948 als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, an den sich das Sekretariat des Länderrates der amerikanischen Zone mit der Bitte gewandt hatte, bei der beruflichen Unterbringung von noch immer beschäftigungslosen Zwangsevakuierten zu helfen. Selbst drei Jahre nach ihrer unverschuldeten Verschleppung hatten längst nicht alle Wissenschaftler und Techniker ein neues Betätigungsfeld gefunden, lebten viele statt dessen noch immer beinahe wie Unpersonen, von der Aura der Hochgeheimen umgeben, noch immer von Army und Military Government abhängig, ohne Instanz, an die sie sich mit Aussicht auf Erfolg wenden oder bei der sie gar auf die Erfüllung ihrer Ansprüche pochen konnten. Einige der Verschleppten hatten noch im Sommer und Herbst 1945, als sie merkten, daß sie unter den im Westen angetroffenen Bedingungen keine Zukunft haben würden, den Versuch gemacht, in die Ostzone zurückzukehren. Manch einem Wissenschaftler gelang das auch. 363 Sie wußten, daß sie in ihren neuen, oft ohnehin schon überfüllten Einquartierungsorten nicht durchweg willkommen waren 364 , an ihren al359
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Zahlreiche weitere in den Jahren der Verschleppung entstandene Dokumente belegen ebenfalls den Zwangscharakter der Evakuierungsmaßnahmen der Army. Professor Adolf Smekal, der Sprecher der Vereinigung der aus Mitteldeutschland Zwangsevakuierten, berichtete dem Länderrat, die Wegführung sei "fast in allen Fällen mit nur wenigen Ausnahmen zwangsweise erfolgt". Interne Notiz des Länderrats v. 24. l. 1948; BA, Z 1/1024, BI. 242. In dem Memorandum der Heidenheimer Gruppe heißt es, bei der von der Army abtransportierten Gruppe sei nur eine kleine Minderheit, die sich den Evakuierten freiwillig angeschlossen habe; Memorandum für die Militärregierung v. 12.4. 1948; ebenda, BI. 167. In einer internen Anweisung an seinen Abteilungsleiter Preller v. 28. 6. 1948 schließlich spricht der Generalsekretär des Länderrates, Erich Roßmann, von "verschleppten" Wissenschaftlern; eben da, BI. 72. Das hessische Kabinett sprach in seiner Sitzung v. 7.8. 1946 übrigens ebenfalls von "zwangsevakuierten Wissenschaftlern". Vgl. Weinrich, Abderhalden-Transport, in: Paul Kluke zum 60. Geburtstage, S. 217. In der FlAT-Aufstellung v. 19. 12. 1945 heißt es: "Up to the present, little interest has been shown by agencies in the exploitation of these personneI, even in cases where personnel have been specifically requested for retention"; NA, RG 243, European War, G-2 Library, Entry 36, Envelope 760. Der mehrfach zitierte Länderratsbestand des Bundesarchivs enthält zahlreiche Schriftstücke, in denen die Lebensverhältnisse der Zwangsevakuierten in der US-Zone ausführlich dargelegt sind; BA, Z 1/1024. Schreiben Otto Hahns an den Länderrat in Stuttgart v. 8.7. 1948; ebenda, BI. 59. Vgl. etwa Borusiak, Universität Leipzig, in: Karl-Marx-Universität Leipzig, 2, S.37l. Der Bürgermeister von Bad Vilbel sah in einer Rückkehr der ungebetenen Gäste in die Ostzone den besten Weg zur Verbesserung des Loses der Evakuierten und gab entsprechende - der Politik der Besatzungs-
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
ten Instituten andererseits jetzt noch mit offenen Armen empfangen werden würden. General Clay, der stellvertretende amerikanische Militärgouverneur, bereitete im Herbst 1945 sogar eine Regelung vor, die den Zwangsevakuierten die Möglichkeit gegeben hätte, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Aber daraus wurde dann nichts, denn Washington gedachte keinen einzigen potentiellen Kandidaten für die Unternehmen "Overcast" und "Paperclip" preiszugeben. 365 Am 6. Januar 1948 entledigte sich OMGUS des lästig gewordenen Problems - inzwischen häuften sich schon die Schadenersatz forderungen -, indem es die Zuständigkeit für die Zwangsevakuierten dem Länderrat der amerikanischen Zone übertrug. 366 Eine Zeitlang ging die Debatte zwischen der amerikanischen und deutschen Seite noch hin und her, ob die Verschleppten zu entschädigen seien oder nicht. Die Besatzungsmacht ließ sich aber schließlich zur Erstattung einer Summe von 69,5 Millionen Reichsmark herbei, die wenige Wochen vor der Währungsreform zur Auszahlung kam. Das war angesichts des von der Army angerichteten Schadens zwar nur ein bescheidener Betrag (umgerechnet etwa 400 DM pro Familie), bedeutete immerhin aber das offizielle Eingeständnis der Besatzungsmacht, daß sie den Wissenschaftlern und Technikern mit ihrer Gewaltaktion schweres Unrecht zugefügt hatte, und daß sie nunmehr - man steuerte auf die Gründung des Weststaates zu - die Verantwortung dafür übernahm. Auch wenn dies keineswegs als Ergebnis einer freimütigen und selbstkritischen Erörterung (General Clay behauptete gegenüber den Mininisterpräsidenten, "er wisse nichts von irgendwelchen tatsächlichen Versprechungen" der Army 367), sondern hauptsächlich aus politischer Opportunität und unter dem Druck der Fülle unwiderleglicher Beweise geschah, so war es doch ein bedeutsamer Fortschritt. In den Jahren zuvor waren die Amerikaner immer sehr darum besorgt gewesen, daß von der geheimen Verschleppungsaktion, mit der sie so eklatant gegen ihre eigenen, immer wieder proklamierten Maßstäbe des Rechts und der Humanität verstoßen hatten, kein Schatten auf ihr Ansehen bei den Deutschen oder ihr Prestige in der internationalen Arena fiel. Am 31. Juli 1945, in der 11. Plenarsitzung der Potsdamer Konferenz, war die Siegermacht international zum ersten Mal mit ihrem Verhalten in Sachsen und Thüringen konfrontiert worden. Stalin sagte dem amerikanischen Präsidenten und dem britischen Premierminister auf den Kopf zu, daß die Westalliierten bei ihrem Abzug aus der sowjetischen Zone beträchtliche Mengen wertvollen Materials (darunter 11.000 Güterwaggons) mitgenommen hätten. Er stützte sich dabei auf eine lange und detaillierte - bei weitem aber nicht vollständige - Aufstellung Marschall Schukows, in der neben den Güterentnahmen auch die Zwangsevakuierung einiger hundert deutscher Experten nachgewiesen war. Diesen Bericht hatten die Russen den Amerikanern wäh-
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macht zuwiderlaufende - Instruktionen an seine Behörden. Vgl. den Erlaß v. 24. 8. 1945; NA, RG 260, 17/ 3/13-19. Siehe auch allgemein den Schriftwechsel und die Memoranden in dem BA-Bestand Z 1/1024. Zu den Abwanderungen in andere Zonen siehe auch Lasby, Paperclip, S. 136 ff. Zum Scheitern der Initiative Clays vom Frühherbst 1945 und der weiteren Entwicklung vgl. Gimbel, U.S. Policy and German Scientists, S. 444 ff. Schreiben des Direktors des Regional Government Coordinating Office an den Generalsekretär des Länderrates v. 6. 1. 1948; BA, Z 1/1042, BI. 245. 30. Tagung des Länderrates des amerikanischen Besatzungsgebietes in Stuttgart am 2./3. 3. 1948; AVBRD, 4, S.385.
5. Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker
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rend der Konferenz zugeleitet. 368 Sehr in Verlegenheit, konnte Truman darauf nur entgegnen, solche unautorisierten Wegnahmen, von denen er selbst gerade erst erfahren habe, seien nicht auf Anordnung der amerikanischen Regierung erfolgt. Außerdem fügte er hinzu: "Von der amerikanischen Armee sind keine Menschen weggeführt worden." Tatsächlich hatte der Präsident die Aktion der Streitkräfte in Mitteldeutschland weder persönlich angeordnet - wie er gegenüber Stalin wohl andeuten wollte -, noch war er davon im vorhinein informiert worden; der Coup war tatsächlich nur eine Angelegenheit der Stabschefs und des Kriegsministeriums gewesen. Weniger wahrheitsgetreu war die zweite Feststellung des Präsidenten. Zwar hatte er von der Zwangsevakuierung erst im nachhinein erfahren, immerhin aber war er von seinem Stab zwei Tage vor dieser peinlichen Plenarsitzung darüber informiert worden, daß die amerikanischen Truppen bei ihrem Abzug aus Sachsen und Thüringen durchaus auch Personen fortgeführt hatten. Seine Berater hatten sich dabei mit einer falschen und salvierenden Erläuterung aus der peinlichen Affäre gezogen: "Das weggeführte Personal stand im Verdacht, Kriegsverbrechen begangen oder zum deutschen Kriegspotential beigetragen zu haben." Damit war die Angelegenheit in Potsdam beigelegt, ohne größeren politischen Schaden anzurichten. Stalin hatte sie im Zusammenhang mit der Beratung der Reparationsregelung ans Tageslicht gezogen, um in einem passenden Moment zu demonstrieren, daß, wie er sagte, "nicht nur die Russen gesündigt hätten". Ende Oktober 1946, als sich das Klima in der einstigen Anti-Hitler-Koalition schon drastisch verschlechtert hatte, kamen die Verschleppungen aus Mitteldeutschland zwischen den Amerikanern und Russen noch einmal zur Sprache. Nachdem die Sowjets in der "Operation Ossavakim" einige tausend Experten und Facharbeiter mitsamt ihren Familien in die UdSSR deportiert hatten, erhoben die Westmächte im Kontrollrat scharfen Protest dagegen. 369 General Clay zitierte in der Sitzung des Coordinating Committee den sowjetischen Hauptankläger von Nürnberg als Kronzeugen und ging dabei so weit, auf seinen Kollegen aus der UdSSR gemünzt, eine Parallele zu den Zwangsdeportationen des NS-Regimes zu ziehen ("eines der abscheulichsten Verbrechen des Nazismus").37o In einer Unterredung mit Robert Murphy zeigte sich der sowjetische Militärgouverneur Marschall Sokolowski aufs äußerste empört über die pharisäerhafte Art und Weise, mit der die Amerikaner in dieser Angelegenheit agierten. Ihm fehle jegliches Verständnis für dieses Vorgehen, sagte er, da doch jedermann wisse, daß die Amerikaner im Juni 194) eine große Zahl deutscher Wissenschaftler aus Sachsen und Thüringen zwangsdeportiert hätten. Clays Political Advisor stritt diese Tatsache gegenüber seinem Gesprächspartner rundweg ab. 368
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Vgl. FRUS, Conference of Berlin, 11, S. 514ff.; die Zitate finden sich auf S. 517 und S. 90S. Der SchukowBericht (undatiert) und die amerikanischen Stellungnahmen v. 29.7. 1945 dazu ebenda, S. 904fl. Ein Vergleich der bislang bekanntgewordenen Evakuierungen mit dem Schukow-Bericht ergibt, daß darin höchstens ein Drittel der von der amerikanischen Besatzungsarmee vorgenommenen Zwangsevakuierungen aufgeführt sind. Die Verschleppung des Personals der Universität Leipzig etwa wird nicht erwähnt, die Zahl der aus dem I.G.-Werk in Bitterfeld Entführten setzt er wohl um die Hälfte, die Anzahl der von der Solvay AG Abtransportierten etwa um zwei Drittel zu niedrig an. Die Auseinandersetzung ist dokumentiert in FRUS 1946, V, S. 736fl. Vgl. auch Gimbel, U.S. Policy and Gennan Scientists, S. 433. Gimbel schließt nicht aus, daß Murphy nichts von den Zwangsevakuierungen gewußt haben könnte. Bericht Murphys an den Secretary of State v. 30. 10. 1946 über die 86. Sitzung des Coordinating Office am 29. 10. 1946; FRUS 1946, V, S. 742 ff. Lasby, Paperclip, S. 183, schreibt noch, die Amerikaner hätten bei ihren Evakuierungsmaßnahmen im Juni 1945 keine Gewalt angewendet.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
In der nächsten Sitzung des Coordinating Committee, in der die Vertreter Großbritanniens und der USA ihren sowjetischen Kollegen erneut hart bedrängten, drehte sich die Debatte wieder um die Frage, ob die westlichen Besatzungsmächte im Juni 1945 und die Russen im Oktober 1946 Gewalt angewandt hätten oder nicht. Die Kontroverse endete damit, daß beide Seiten die Anwendung von Gewalt in Abrede stellten. Obwohl den britischen und amerikanischen Vertretern im Koordinierungsausschuß, und gewiß auch Clay und Murphy persönlich, bewußt gewesen sein muß, daß die Dinge in Wirklichkeit ganz anders lagen, waren sie in der Offensive geblieben. Sie dachten gar nicht daran, den Druck auf die Russen zu mindern und sich einen politischen Vorteil durch ein Eingeständnis selbst zunichte zu machen. Murphy berichtete über diese Sitzung nach Washington: "Sowohl das britische wie das amerikanische Mitglied erklärten kategorisch, daß in ihrem Hoheitsbereich keine Deutschen gewaltsam weggeführt worden seien und auch künftig keine weggeführt würden. Das US-Mitglied setzte hinzu, seine Regierung halte nichts von Gewaltanwendung beim Transfer von Arbeitskräften."371 Die Westmächte mochten ihr Gewissen damit beschwichtigen, daß einige deutsche Fachleute und überhaupt viele Flüchtlinge aus Sachsen und Thüringen freiwillig mit den amerikanischen Einheiten gegangen waren, die Aktion der Army zudem nicht in dem Maße von der Anwendung unmittelbarer Gewalt geprägt war wie die russische, eine Deportation Ende 1946 außerdem viel weniger entschuldbar schien als eine Zwangsevakuierung durch eine kriegführende Nation. Dies alles mochten die Vertreter Großbritanniens und der Vereinigten Staaten insgeheim zu ihrer Rechtfertigung vorbringen, es verschaffte ihnen, wie sie wohl wußten, dennoch nicht das moralische Recht, nunmehr ausgerechnet mit Argumenten, die sie auf Moral und Recht meinten stützen zu sollen, gegen ihren ehemaligen Verbündeten vorzugehen. Großes politisches Kapital ließ sich aus dieser Angelegenheit denn auch nicht schlagen, weil den Amerikanern 1946 und in den späteren Jahren sehr wohl bewußt war, daß ihnen hier die Hände gebunden waren, und sie sich dementsprechend verhielten. Die Verschleppungen deutscher Wissenschaftler und Techniker aus Sachsen und Thüringen hatten - betrachtet man die Vorgänge rückblickend - im Juni 1945 als hochgeheime Aktion von Spezialstäben der amerikanischen Streitkräfte stattgefunden. Darüber war insgesamt so wenig an die Öffentlichkeit gedrungen, daß Anfang 1948 selbst der Länderrat von den Betroffenen erst einmal über das Ausmaß und die näheren Umstände der Zwangsevakuierung ins Bild gesetzt werden mußte. Für die Besatzungsmacht waren die Rahmenbedingungen des Coups insofern besonders günstig gewesen, als sie ihre Nacht-und-Nebel-Aktion im Schatten des eben beendeten Krieges gegen Hitler erledigen konnte - kaum auffällig in den Wochen, in denen die Streitkräfte der Siegermächte am stärksten dazu neigten, von ihrer Omnipotenz im Lande der Besiegten auch Gebrauch zu machen, eine Aktion, die scheinbar bloß Teil eines beträchtlichen Exodus nach Westen war, angesichts der unerhörten Größenordnung der kaum sechs, acht Wochen zurückliegenden Massenflucht von Wehrmachtssoldaten, der Ströme von Flüchtlingen, Evakuierten oder Kriegsheimkehrern leicht als Quisquilie abzutun. 371
Bericht Murphys an den Außenminister v. 6. 11. 1946 über die 87. Sitzung des Coordinating Office am 4.11. 1946; FRUS 1946, V, S. 7461.; das Zitat findet sich auf S. 746.
5. Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker
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Die in diesen Wochen bei den Soldaten der V.S. Army ohnehin verbreitete Stimmung des Beutemachens, Ausräumens und Mitnehmens schlug natürlich besondere Wellen in einem Landstrich, den man selbst erobert hatte und nun wieder an eine Armee herauszugeben genötigt war, welcher der Ruf vorauseilte, nichts Brauchbares an Ort und Stelle zu lassen und mit der Zivilbevölkerung umzuspringen, wie es ihr beliebte. In dieser Atmosphäre hatten die an den Entführungen Beteiligten im allgemeinen wenig Skrupel, Befehle durchzuführen, die so offensichtlich den Interessen ihrer im Pazifik im Krieg befindlichen Nation dienten. Wie hätten sie sich zum Beispiel rechtfertigen wollen, wenn eines Tages der Vorwurf erhoben worden wäre, die Army habe ihre Hand bereits auf neuestern Kriegsgerät und modernsten Waffen (die von den ]apanern vielleicht bald gegen die eigenen Piloten oder Marinesoldaten eingesetzt würden) und deren Konstrukteure gehabt, doch habe sie aus völkerrechtlichen und humanitären Erwägungen heraus nicht zugreifen wollen? Und waren die Deutschen und erst recht deren wissenschaftliche und technische Koryphäen, die Hitler schließlich dessen wirksamste Waffen an die Hand gegeben hatten -, deren Brutalitäten und Unmenschlichkeiten während des Einmarsches Stück für Stück ans Licht gekommen waren, jetzt nicht erst einmal die letzten, die Anspruch auf völkerrechtskonformes Verhalten und Humanität des Siegers erheben konnten? Erleichtert wurde den T -Forces und dem Counter Intelligence Corps ihr Geschäft auch dadurch, daß sie praktisch nirgends brachial und unter Anwendung unmittelbarer physischer Gewalt gegen ihre Opfer vorzugehen brauchten. Das verbot sich sogar, denn schließlich sollten die Verschleppten ja nicht im Steinbruch oder am Fließband arbeiten, sondern eine erhebliche geistige Leistung für die Vereinigten Staaten erbringen. So wurde es geradezu zu einem Wesensmerkmal dieser Zwangsevakuierung, Zwangsmaßnahmen in unausgesprochener Drohung in der Hinterhand zu behalten, ihre Anwendung nach Möglichkeit aber zu vermeiden, die Opfer vielmehr (was meist nicht sofort verfing und die Offiziere der Besatzungsmacht in vielerlei Verlegenheiten stürzte) mit allen erdenklichen Zusagen zu locken und zum Mitkommen zu überreden. Erleichtert wurde den T-Forces ihr fadenscheiniges Geschäft ferner durch das Bewußtsein der so genötigten Experten, daß sie als zumeist direkt oder zumindest indirekt an der Rüstungsproduktion Beteiligte einer Verhaftung durch die Sicherheitsorgane der Besatzungsmacht ohnehin nicht entgehen konnten. Als Menschen, die zum Teil in unmittelbarer Nähe der gerade in Mitteldeutschland so zahlreich aufgedeckten Zwangsarbeiter- und Konzentrationslager gearbeitet hatten, würden sie bei der Berufung auf die allgemeinen Gesetze der Menschlichkeit außerdem völlig unabhängig von ihrer, den fremden Truppen gegenüber von einem Tag auf den anderen ja auch gar nicht zu belegenden persönlichen Haltung zum NS- Regime ohnehin kaum Gehör finden. Bei den Naturwissenschaftlern und leitenden Angestellten zielten die Amerikaner auf die Festsetzung und Wegführung einer Gruppe, in der - ganz anders als etwa bei hohen Staatsbeamten oder gar den Repräsentanten des untergegangenen Regimes die Tendenz mit am schwächsten war, die Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee zu nutzen und Sachsen, Thüringen und Mecklenburg in dem allgemeinen Flüchtlingsstrom zu verlassen. Gerade die führenden Mitarbeiter von Industrieunternehmen waren von ihren Konzernen normalerweise gehalten, ihre Fabriken während der kriti-
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
schen Umbruchsmonate keinesfalls sich selbst oder der Arbeiterschaft zu überlassen, sondern dort vielmehr die Stellung zu halten und darauf zu achten, daß das Firmeneigentum nicht zu Schaden kam, die Belegschaft zusammenblieb und alle Vorbereitungen für eine baldige Friedensproduktion getroffen wurden. Für die allermeisten Manager verstand sich eine solche Betriebstreue ohnehin von selbst, für die Eigentümer oder Betriebsleiter kleinerer Unternehmen allemal- vorausgesetzt, sie hatten aus politischen Gründen die sowjetische Besatzungsmacht nicht mehr zu fürchten als die amerikanische. Das galt auch für die Wissenschaftler und Ingenieure in den Labors und Instituten der mitteldeutschen Universitäten. Wer sich von ihnen der großen Masse der Mitläufer und Unbelasteten zurechnen konnte oder keine ausgeprägt antisozialistische Vergangenheit hatte, für den war (von den persönlichen und familiären Härten ganz abgesehen) kaum ein einschneidenderer Schritt vorstellbar, als aus der akademischen Welt, dem Forschungsverbund, den eingespielten Teams herausgerissen zu werden und die oftmals unersetzlichen Apparaturen und Versuchsanordnungen im Stich lassen zu müssen. Außerdem war den meisten von ihnen zweifellos klar, daß sie für die sowjetische Besatzungsmacht bedeutend wertvoller sein mußten als für die Westmächte, in deren Ländern Forschung und Technologie einen ähnlich hohen Standard hatten wie in Deutschland. Gleichwohl war Widerstand, wie ihn einige der Verschleppten den T-Forces und den Agenten des Counter Intelligence Corps entgegensetzten, ein Weg, den die meisten Zwangsevakuierten nicht betreten wollten. Ihrer Internierung als Rüstungsexperten konnten sie sich praktisch nicht erfolgreich widersetzen. Die prinzipielle Ablehnung jeglicher Kooperation kam für sie ebenfalls nicht in Frage, weil damit Internierung und Evakuierung nicht zu vereiteln waren, sondern dies nur die Verschüttung jeglicher Zukunftsperspektive bringen mußte, die bei der Mehrzahl der Spezialisten nun eben einmal in der Möglichkeit zur Fortführung ihrer Forschungen und anderer Arbeiten auf ihrem Fachgebiet bestand. Dieser Zwiespalt führte die meisten - so sie ihn empfanden - dazu, sich auf keine kompromißlose Konfrontation mit der Besatzungsmacht einzulassen. Mochten die Betroffenen im Juni 1945 dem qua Recht des Siegers praktizierten Vorgehen der Amerikaner zwar kein Verständnis abgewonnen haben, aber immerhin doch eine gewisse Plausibilität zubilligen, so mußten sie bald feststellen, daß ihr eigentliches persönliches Drama erst nach der Verpflanzung in die US-Zone begann. Denn die hochqualifizierten, bis vor kurzem noch hofierten und in ihrer allseits geschätzten Arbeit zumeist auch aufgehenden Spezialisten kamen nach und nach zu der Gewißheit, vergessen, entbehrlich, Strandgut des Sieges und Verfügungsrnasse für Großmachtwillkür geworden zu sein. Hinzu kamen die größtenteils schwer erträglichen Lebensbedingungen, die immer sinnloser erscheinende Beschneidung ihrer Freizügigkeit und die wachsende Verbitterung über die Schäbigkeit einer Besatzungsmacht, die sie einfach fallengelassen hatte, weil nach dem unverhofft raschen Sieg in Fernost keine Verwendung mehr für sie bestand. Da half es wenig, daß sich die Amerikaner 1948 - auch aus politischer Opportunität heraus - doch noch dazu herbeiließen, ihnen eine bescheidene Entschädigung zuzubilligen und die Verschleppten, die zwei Jahre lang im Grunde mundtot, rechtlos und perspektivlos leben mußten (obwohl sie in ihrer Heimat bereits im Herbst 1945
5. Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker
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wieder dringend gebraucht worden wären), dann wie lästigen Ballast an deutsche Stellen abzuschieben. So schwer die Evakuierten unter dem herben Unrecht litten, für die Besatzungsmacht blieben ihre beim Abzug aus Mitteldeutschland vollführten Übergriffe mehr oder weniger folgenlos. Sie schadeten nicht einmal ihrem Ansehen bei der Bevölkerung des besetzten Landes. Nur ganz wenigen Deutschen war die Entführungsaktion bekannt geworden, und wer davon wußte, mochte versucht sein, sie unter den allgemeinen Kriegsfolgen abzubuchen. Auf das Military Government fiel ohnedies kein Schatten, da es die Verantwortung für diese Unternehmung zu Recht und auch glaubhaft höheren amerikanischen Gewalten zuweisen konnte. Die Beziehungen zu den Alliierten, von denen die Briten direkt an einigen Aktionen beteiligt waren und die Franzosen in solchen Dingen erst recht keine Zurückhaltung kannten, wurden durch die amerikanische Aktion in Sachsen und Thüringen ebenfalls nicht nachhaltig tangiert oder gar beeinträchtigt. Stalin verschaffte sich, indem er in Potsdam den Finger auf die Verfehlungen seiner Alliierten legen konnte, vielleicht eine gewisse vorübergehende Entlastung von den massiven Vorwürfen der Westmächte wegen der Ausplünderung des sowjetischen Besatzungsgebiets durch die Rote Armee. Wären da nicht die Zwangsevakuierungen gewesen, hätten die Amerikaner in Potsdam sogar mit einer gewissen Berechtigung darauf hinweisen können, daß ihre Güterentnahmen der völkerrechtlichen Definition von "Kriegsbeute" entschieden näherkamen als die unterschiedslosen Totalrequirierungen ihres sowjetischen Verbündeten. Aber mit der gewaltsamen Wegführung einiger tausend Männer, Frauen und Kinder, die sie während der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges auf der internationalen Bühne niemals eingestanden, hatten auch die Amerikaner ihre Unschuld verloren. Andererseits war diese Sünde wider den Geist der selbstgesetzten und im allgemeinen auch beherzigten Maßstäbe einer zivilisierten Besatzungsherrschaft nur einem kleinen Kreis wirklich in allen Einzelheiten bekanntgeworden, gehörte sie so sehr noch zur Strategie einer kriegführenden Nation, unterschied sie sich qualitativ dann doch so sehr von den sowjetischen Gewaltmaßnahmen und politischen Vergewaltigungen in der SBZ und in Osteuropa, daß sie den amerikanischen Bewegungsspielraum bei den ab 1946/47 immer massiver werdenden, dezidiert auch mit Argumenten moralischer Kategorie untermauerten Angriffen auf den einstigen Verbündeten nicht merklich einengen konnte. Zu den Mitursachen des Kalten Krieges kann die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker aus der SBZ im Juni 1945 erst recht nicht gezählt werden, wie schon Lasby und Gimbel betont haben. Sie war tatsächlich zuallererst als Beihilfe zur Kriegsbeendigung im Pazifik geplant und durchgeführt worden, wenn in Washington immer auch schon die weitergehende Nutzbarrnachung der gekidnappten Fachleute für die amerikanische Rüstung mit im Auge behalten wurde. Das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, daß die Streitkräfte nach der Kapitulation Japans von einem Tag auf den anderen das Interesse an den meisten Experten in ihrem Reservoir in den Dörfern und Städtchen der US-Zone verloren. Desgleichen spielte das Ziel- wie ebenfalls gemutmaßt wurde - einer vorsätzlichen Schädigung der SBZ (die durch die Verschleppungen allerdings einen gewaltigen Aderlaß erlitt) in Planung und Durchführung der Evakuierungen keine Rolle, wenn diese Schädigung von Amerikanern und Briten denn auch ziemlich bedenkenlos in Kauf genommen wurde.
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VI. Die Amerikaner an der Eibe
Stalin, der selbst ein Meister ähnlicher Coups war, sah in der Nacht-und-Nebel-Aktion höchstwahrscheinlich nicht mehr als ein Kavaliersdelikt, eine Trübung oder gar wirkliche Belastung ihres Verhältnisses zu den Westmächten ergab sich daraus für die Sowjetunion erst recht nicht. Es genügt, Spekulationen in dieser Richtung mit dem Hinweis abzutun, daß die Ursachen und Anlässe der seit JaIta dramatisch an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb der zerfallenden Anti-Hitler-Koalition natürlich in einem ganzen Bündel von Interessengegensätzen und Meinungsunterschieden zu suchen sind, die lange vor dem Rückzug der Amerikaner aus der SBZ aufzubrechen begannen. Auch in der späteren Zuspitzung der Konfrontation zwischen den beiden Großmächten - selbst in den erbitterten Auseinandersetzungen in den Kontrollgremien der Vier Mächte in Deutschland - spielte der Abtransport der deutschen Wissenschaftler und Techniker aus Mitteldeutschland überhaupt keine Rolle. Das Charakteristische bei dem schweren Zusammenstoß zwischen den Amerikanern und Russen nach den sowjetischen Zwangsevakuierungen im Herbst 1946 war es ja gerade, daß sich Marschall Sokolowski zuerst wunderte und sich dann verständlicherweise aufs heftigste darüber erregte, wie ausgerechnet die Westmächte, die ein immerhin vergleichbares Vergehen auf dem Kerbholz hatten, die sowjetischen Maßnahmen derart scheinheilig öffentlich aufbauschen konnten. Implizit gab der sowjetische Militärgouverneur damit nichts anderes zu verstehen, als daß Zwangsevakuierungen gewiß unfeine Unternehmungen seien, die besser auch im Geheimen abliefen, Großmächte wie die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten aber ab und an eben zu solchen Methoden greifen durften. Genau dies war immer auch das amerikanische Verständnis des Coups vom Juni 1945 gewesen. 372
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Auf die Schilderung manch anderer Beute-, Sicherstellungs- und Konservierungsaktion der U.S. Army in der späteren SBZ zwischen April und Juni 1945 wurde verzichtet; einiges - z. B. die Sicherstellung von Dokumenten, Kunstschätzen oder des Reichsbankgoldes und erheblicher Devisenmengen - kann nachgelesen werden bei Ziemke, U.S. Army, S. 228fl. und S. 314ff. Vgl. z.B. auch solche Spezialstudien wie die von Klaus Goldmann vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte: Berliner Kulturschätze - unterwegs, in: Die Reise nach Berlin, Berlin 1987 (überarbeitete Fassung des Ausstellungskatalogs mit Apparat 1988; Ms.). Eine nicht zu überblickende Zahl umfangreicher Spezialberichte von SHAEF, aber auch von USGCC und OMGUS behandeln solche Funde: z. B. der Report des zu SHAEF, G-2, gehörenden Ministerial Control Stall (Br), "Report on discovery of Secret Archives of German Foreign Ministry" v. 24. 5. 1945; NA, RG 260, 17/16/25-29. SHAEF, G-4, "Re port covering the discovery, removal, transporting and storage of gold, silver, platinium and currency, fine art treasures and German patent records from salt mine in the Merkers and Heringen area to Frankfurt area in Germany" von April 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-2, Intemal Allairs Branch, 451. Public Monuments, Fine Arts. SHAEF, G-5, "Report on Monuments, Fine Arts and Archives for Month of April 1945" vom Juni 1945; NA, RG 165, War Department, Civil Affairs Division, 1943-44, OOOA.B.P. Eine Darstellung zu diesem Komplex steht noch aus.
VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und die Konsolidierung der Militärregierung 1. Letzte Kämpfe Ende Januar 1945, nach dem Scheitern der Offensive In den Ardennen und dem mächtigen sowjetischen Vorstoß von der Weichsel an die Oder, hatte die deutsche Kriegführung jegliche realistische Perspektive verloren. Nun war auch das in der politisch-militärischen Spitze des Reiches verbreitete, immerhin nicht gänzlich abwegige Kalkül dahin, die bedingungslose Kapitulation und der Untergang des Reiches ließen sich vielleicht doch noch irgendwie abwenden. Die Erklärung von Jalta und die Vernichtung Dresdens setzten im Februar Ausrufungszeichen hinter das Menetekel. Im März, nachdem Eisenhower dem Westheer das Rückgrat gebrochen und den Rhein glatt forciert hatte, konnten in Deutschland weder Fachmann noch Laie weiterhin mit akzeptablen Argumenten behaupten, der totalen Niederlage im sechsten Jahr des totalen Krieges sei zu entrinnen. Die alliierten Stäbe waren über die verzweifelte Lage des Feindes genau im Bilde, dem neben der bedingungslosen Kapitulation nur noch eine einzige Handlungsmöglichkeit geblieben sei, nämlich das bevorstehende Ende einige Augenblicke lang hinauszuzögern. [ Der SD kam in einer zusammenfassenden Analyse zur selben Erkenntnis: Der Zweifel am Sinn des weiteren Kampfes zerfresse die Einsatzbereitschaft und das Vertrauen der Bevölkerung: "Der bisher bewahrte Hoffnungsfunke ist am Auslöschen".2 Dennoch war den Amerikanern Anfang April 1945 ebenso klar wie dem deutschen Sicherheitsdienst, daß es trotzdem nicht zur naheliegenden Konsequenz, der einer Aufgabe des aussichtslos gewordenen Kampfes, kommen würde: "Es wird nicht erwartet, daß Hitler in diesen letzten Tagen der nationalen Katastrophe einen Versuch macht, zu kapitulieren, abzutreten oder mit den Alliierten zu verhandeln", sagte die Intelligence Division des War Department Ende März 1945 voraus.) Nicht nur die Lage im Reichsgebiet, über dem die alliierten Bomberflotten weiterhin ihre Last abluden, auch die Entwicklung an ferner gelegenen Fronten hätte späteI
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Sixth Anny Group, G-2, Weekly Intelligence Summary v. 8. 4. 1945: "The enemy is completely restricted to a single capability: To delay his defeat." Zit. nach Sixth Anny Group History, Section I, Chapter IX, S. 254; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, Sixth Army Group, 1944-4~. Vgl. auch die Analyse des Joint Intelligence Committee von SHAEF v. 24. 3. 194~; zit. bei Harry S. Butcher, Drei Jahre mit Eisenhower, Bem 1946, S. 78 L Zusammenfassender Bericht des SD von Ende März 194~; IfZ-Archiv, MA 660. Abgedruckt bei Marlis L. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. ~72. War Department, General Staff, Military Intelligence Division, G-2: "Expected Developments of April, 194~, in the German Reich" (o.D.), Analyse von Ende März 194~. Anlage zum Schreiben General Clayton BisseIls an den Direktor der Civil Affairs Division, General Hilldring, v. 2. 4. 194~; NA, RG 165, CAD 014. Germany, 7-10-42, Sec. 12. Das folgende Zitat ebenda.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
stens jetzt die Kapitulation zwingend nahegelegt. Mitte März war die Offensive der 6. SS-Panzerarmee Sepp Dietrichs am Plattensee liegengeblieben, bald darauf begann der Kampf um Wien, das am 13. April an die Rote Armee fiel. In Jugoslawien begannen die Partisanenverbände Titos Ende März ihre Generaloffensive, am 9. April startete Feldmarschall Alexander in Italien den letzten Großangriff gegen die Heeresgruppe C. Ebenfalls Anfang April setzte die 1. Kanadische Armee zu Operationen an, die bald zur Befreiung großer Teile Hollands führen sollten. Die deutsche Kriegsmarine war am Ende, die Luftwaffe längst zur quantite negligeable reduziert. "Übergangsperiode vom organisierten Widerstand zur endgültigen Niederlage" nannte das Kriegsministerium in Washington die Phase, in die das Deutsche Reich nunmehr eingetreten war. Hitler selbst zog sich ganz in den Bunker unter der Reichskanzlei zurück, nachdem er am 20. März in einem letzten öffentlichen Auftritt einigen Hitlerjungen das Eiserne Kreuz verliehen und dabei, wie Goebbels fand, "eine außerordentlich sympathische und aufmunternde Ansprache"4 gehalten hatte. Drastischer noch als der Zusammenbruch der Fronten in Ungarn, Jugoslawien und Italien bestätigte die militärische Entwicklung im Westen während der ersten beiden Aprilwochen, als das Ruhrgebiet besetzt wurde und die Invasionsstreitkräfte an die Eibe vorstießen 5 , daß das War Department in seiner Prognose zu Recht vom unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Wehrmacht gesprochen hatte. Trotzdem gab sich auch der Oberste Befehlshaber Dwight D. Eisenhower zu Beginn des letzten Kriegsrnonats nicht der Hoffnung hin, es sei mit einer Kapitulation der Wehrmacht noch vor der vollständigen Eroberung des Reichsgebietes zu rechnen 6 und damit den Soldaten beider Seiten wie der einheimischen Bevölkerung die Besetzung Süddeutschlands mit Waffengewalt zu ersparen. "Der Feind fiel auseinander, wartete aber darauf, überrannt zu werden", stellt Forrest C. Pogue dazu treffend fest. 7 Ebenso wie Norddeutschland waren auch Baden, Württemberg und Bayern in Eisenhowers Strategie des geraden Stoßes nach Osten freilich zunächst nur nebengeordnete Schauplätze. Die alliierten Operationen gegen Süddeutschland während der letzten acht Wochen des Krieges begannen in etwa zeitgleich mit dem amerikanischen Vormarsch vom Rhein zur Eibe. Die im Süden der Westfront stehende Sixth Army Group unter General Jacob L. Devers hatte in den ersten Apriltagen vor allem zwar den Auftrag, die rechte Flanke der durch Mitteldeutschland vorgehenden Verbände Omar Bradleys zu decken 8 , doch die drei US-Armeen im Norden machten in Thüringen, Sachsen und Anhalt so rasche Fortschritte, daß die Armeegruppe im Süden bald nach ihrem 4
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Tagebucheintragung v. 20.3.1945; zit. nach Joseph Goebbels, Tagebücher 1945: Die letzten Aufzeichnungen, mit einer Einführung von Rolf Hochhuth, Hamburg 1977, S. 265. Vgl. V/I und VI/I. Vgl. die Lagebeurteilung Eisenhowers für Roosevelt v. 31. 3. 1945, in der er die Vermutung äußerte, es werde an der Westfront wahrscheinlich nicht zu einer Kapitulation der Wehrmacht im üblichen Sinne kommen; Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. IV: The War Years, Baltirnore 1970, S. 2566 ff. Forrest C. Pogue, The Suprerne Cornrnand, Washington 1954, S. 448. Vgl. die beiden grundlegenden Befehle Eisenhowers an die drei alliierten Armeegruppen v. 25.3. 1945 und 2.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2541 f. und S. 25761. Im einzelnen ferner die folgenden Darstellungen: Sixth Army Group History, Section I, Chapter IX, S. 246fl.; NA, RG 332, ETO, Historieal Division Program Files, Sixth Army Group, 1944-45. CharIes B. MacDonald, The Last Offensive, Washington 1973, S. 407fl. Dwight D. Eisenhower, Kreuzzug in Europa, Amsterdarn 1948, S.473. Omar N. Bradley, Clay Blair, A General's Life, New York 1983, S. 420.
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Rheinübergang ziemlich ungebunden operieren konnte. Zu Devers' Army Group, die im Sommer 1944 an der CDte d'Azur gelandet war und das Land zusammen mit französischen Verbänden von Süden her freigekämpft hatte, gehörte zu Beginn ihrer rechtsrheinischen Offensive die 1. Französische Armee unter General Jean de Lattre de Tassigny9 und die 7. U.S. Army von General Alexander M. Patch. Die Premiere Armee Franr;:aise ("Rhin et Danube"), deren Wohl und Wehe ganz von amerikanischen Lieferungen abhing, kämpfte am rechten Flügel der Armeegruppe, die Truppen von Patch bildeten den linken, nördlichen, Flügel, der sich etwa auf der Linie FrankfurtFulda-Meiningen-Coburg an General Bradleys Twelfth Army Group anlehnte. Die 7. Armee hatte mit ihrem XV. Corps den Rhein am 26. März nördlich und südlich von Worms bezwungen und sofort einen großen Brückenkopf gebildet!O; in den letzten Märztagen setzten das XXI. und VI. Corps über den Strom, und bei Monatsende standen die amerikanischen Divisionen, die zunächst nur auf geringen Widerstand trafen, bereits vor Aschaffenburg und an der Spitze des Main-Dreiecks bei Ochsenfurt. Mannheim und Heidelberg waren kampflos an sie gefallen. Wie in den letzten Kriegswochen üblich, war auch in Süddeutschland binnen weniger Tage aus einem Brückenkopf ein gewaltiger Einbruch in das Hinterland geworden. "Wenn man die Karte betrachtet", notierte Goebbels am 31. März 1945 in sein Tagebuch, "so könnte man den Eindruck gewinnen, daß es sich im Westen um den Beginn der Katastrophe handelt."!! Am selben Tag richtete Eisenhower einen Aufruf an die Zivilbevölkerung und die Wehrmachtsangehörigen, mit dem er den Deutschen die Hoffnungslosigkeit der militärischen Lage vor Augen führen und an die Vernunft jedes einzelnen appellieren wollte. Die Bauern, sagte er darin, sollten ihrer Feldarbeit nachgehen statt zu kämpfen und die Soldaten die Waffen strecken, "um weiteres unnötiges Blutvergießen und Opfer an Menschenleben zu vermeiden"!2. Während sich im mittleren und nördlichen Abschnitt der "Westfront" der Vormarsch ins Reichsinnere so entwickelte, als seien Bevölkerung und Soldaten dem Appell des Obersten Befehlshabers gefolgt, entbrannten im unwegsamen, den Verteidiger begünstigenden Gebiet des nördlichen Baden, Württemberg und Bayern während der ersten drei Wochen im April noch einmal Kämpfe, deren Heftigkeit "zu diesem Zeitpunkt des Krieges befremdlich deplaziert war"13. Stand den Amerikanern nach der am 1. April vollzogenen Umfassung der Heeresgruppe B im Ruhrgebiet, mit der eine riesige Bresche in die deutsche Front gerissen worden war, in Mitteldeutschland praktisch kein Gegner mehr gegenüber, so hatte die links des Rheins vernichtend geschlagene Heeresgruppe G immerhin Teile der weitgehend zertrümmerten 1. Armee und der 7. Armee auf das Ostufer retten können. Da beide bestrebt waren, den im Norden fehlenden Anschluß doch noch zu finden, taten sich zwischen den Armeen, die mit ihren schwachen Kräften einen viel zu breiten Abschnitt zu decken hatten (die deutsche 19. Armee stand am Oberrhein), gefährliche Lücken auf. 9 10
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Vgl. dessen Memoiren, Histoire de la Premiere Armee Fran~aise: Rhin et Danube, Paris 1949. The Seventh United States Army, Report of Operations, France and Germany 1944-1945, Bd. III, Heidelberg 1946, S. 741 ff.; HZ-Archiv, Material Henke. Tagebucheintragung v. 31. 3. 1945; zit. nach Goebbels, Tagebücher 1945, S. 388. Aufruf Eisenhowers v. 31. 3. 1945. Der an die Soldaten gerichtete Teil ist abgedruckt bei Erich Spiwoks, Hans Stöber, Endkampf zwischen Mosel und Inn. XIII. SS-Armeekorps, Osnabrück 1976, S. 419f. Vgl. auch Eisenhower, Kreuzzug in Europa, S. 465 f. eharles B. MacDonald, The Mighty Endeavour, New York 1969, S.476.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Aber was bedeutete in diesem Stadium des völligen Bankrotts noch das Wort von den "gefährlichen Lücken"? Eine wirkliche Kriegführung gab es im Westen seit dem Desaster der Wehrmacht links des Rheins nicht mehr, jedenfalls auf deutscher Seite nicht. Die gewohnten Termini der Befehle und Meldungen aus diesen Tagen, Begriffe wie "Kampfführung", "Schwerpunktbildung", "operative Ideen" vermitteln eine Illusion von Kriegs-"Normalität" und Handlungsfähigkeit, die inzwischen längst dahin war. Eine ,,Armee" war Anfang April 1945 keine Armee, eine "Division" keine Division mehr. Bei der Heeresgruppe G, die am 2. April von General Friedrich Schulz übernommen wurde, verfügte "lediglich die 1. Armee noch über einzelne Divisionen, die ". noch eine wenn auch eingeschränkte Kampfkraft besaßen"14. Damit war nur gesagt, daß sie weniger gründlich demoliert war als die benachbarte, gänzlich zerfledderte 7. Armee. Wie es um die 1. Armee von General Foertsch im nördlichen Württemberg bestellt war, wird aus einem Lagebericht ersichtlich, den dieser Mitte März dem neuen OB West erstatte, zu einem Zeitpunkt also, als der 1. Armee die "ungeheuren Verluste an Menschen und Material" (so deren Stabschef l5 ) im "Saar-Pfalz-Dreieck" erst noch bevorstanden: "Der materielle Ausrüstungszustand der Truppe entspricht zur Zeit etwa dem des Jahres 1918. Von den modernen Waffen sind meist nur noch wenige Museumsstücke vorhanden oder der Munitionsnachschub hat so gut wie ganz aufgehört", stellte Foertsch fest. "Die Beweglichkeit der Truppe wird durch Ausfall von L.K.W. und Mangel an Betriebsstoff immer geringer ... Insgesamt ist die Panzerabwehr gegenüber den starken feindlichen Panzerverbänden völlig unzureichend."16 Dem XIII. Armeekorps etwa, das den Odenwald sperren sollte, durch den die Amerikaner dann aber im Handumdrehen bis zur Spitze des Main-Dreiecks vorstießen, stand nach dem Desaster in der Pfalz keine einzige Panzerabwehrkanone und kein einziger Panzer mehr zur Verfügung. Aber selbst an den Stellen, wo die 7. US-Armee noch einmal zum Kampf gezwungen werden konnte, hatte sie es mit einem bizarren Sammelsurium zu tun - Ausbildungskompanien, "Magenbataillone", Flughafenbesatzungen, Wehrkreisbedienstete, Hitlerjungen, Kampfgruppen mit klingenden Namen und erschöpften Soldaten sowie natürlich dem Volkssturm. Ähnlichkeiten mit einer halbwegs intakten Truppe waren nicht mehr zu erkennen. Freilich standen zwischen Main und Neckar auch das XIII. SS-Armeekops unter SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon und die 1944 neu aufgestellte, zum Teil aus "Volksdeutschen" aus der UdSSR bestehende 17. SS-Panzergrenadier-Division "Götz von Berlichingen". Simon, der seine militärische Karriere vornehmlich seiner strammen nationalsozialistischen Gesinnung verdankte, war einer der ärgsten Durchhaltegenerale, die in den letzten Kriegswochen auf deutschem Boden noch einen großen Verband führten, unnachsichtig gegenüber seinen eigenen Soldaten und gnadenlos gegen die kriegsmüde Bevölkerung in Württemberg und Franken 17. Er prägte natürlich die Haltung der ihm unterstellten Kommandeure und
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Studie B-703 des Gennan Foreign Military Studies Program ,,Army Group G (22 March - 6 May 1945)", S. 12; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Studie B-238 "First Anny (10 February - 24 March 1945)"; zit. nach MacDonald, Last Offensive, S. 264. Studie T-123 "OB West, Part Three", S.79; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Zum Zustand des XlII. A.K. Ende März die bei MacDonald, Last Offensive, S. 412, zitierten Foreign Military Studies. Vgl. die breite Presse berichterstattung und Kommentierung zu den Gerichtsverfahren gegen Max Simon; HZ-Archiv, Zeitungsausschnittsammlung, Nachkriegsprozesse B IV -Ansbach.
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Soldaten, den Stil der Kriegführung hier, und ganz gewiß zählte er nicht zu jenen deutschen Truppenführern, die im Westen in diesem Stadium des Krieges auf eigenem Territorium darum bemüht waren, "Verluste zu vermeiden und sinnlose Maßnahmen, auch wenn sie befohlen wurden, zu boykottieren" 18. Sehr zustatten kam der deutschen Seite das unwegsame, von vielen Flußläufen durchschnittene Gelände zwischen Main und Neckar, das auch schwachen Kräften noch Verteidigungsmöglichkeiten bot. Allenthalben wurde hier denn auch der unverantwortliche Versuch gemacht, durch die "Verteidigung" aus Ortschaften und Städten heraus das Handikap mangelnder eigener Manövrierfähigkeit wettzumachen. Ernsthafte Verteidigung der Heimat unter Ausnutzung jedes Geländehindernisses, jeder Ortschaft und jedes "Stützpunktes" durch eine immobile und miserabel ausgestattete Truppe mußte bei der überwältigenden Feuerkraft des Feindes unweigerlich zur Zerstörung der Heimat führen. Die verantwortlichen Kommandeure waren sich der verheerenden Konsequenzen dieser Art der Kampfführung bestens bewußt, denn die meisten von ihnen kämpften seit Monaten gegen die Amerikaner und kannten deren Gewohnheit, bei geringstem Widerstand die feindlichen Stellungen mit Bomben und Granaten gründlich zu "saturieren". Die deutsche Kampfführung in Süddeutschland ist deshalb ein Paradebeispiel bedenkenlosen Soldatentums. Nach der problemlosen Rheinüberschreitung hatten die drei Corps der 7. U.S. Army zunächst zügige Fortschritte gemacht 19 Am linken Flügel stieß das XV. Corps am schwer umkämpften Aschaffenburg 20 vorbei zur Rhön vor, im Sektor des XXI. Corps ging am 6. April der viertägige, nicht weniger hartnäckige Kampf um Würzburg 21 (das vor allem durch den Bombenangriff vom 16. März verheerende Zerstörungen erlitten hatte) zu Ende. Auch bei dem an der Südflanke der Seventh Army operierenden VI. Corps von General Brooks ging es nach der Bezwingung des Rheins eine Woche lang über Heidelberg den Neckar aufwärts rasch voran, doch am 3./4. April waren die Tage der leichten Erfolge am Südflügel der Armee vorbei. An der hier hastig improvisierten deutschen Verteidigungslinie wurden die amerikanischen Divisionen, die mit keinem ernsthaften Widerstand mehr rechneten, mit einem Mal "abrupt gestoppt"22. Die deutsche "Verteidigungslinie" war keine zusammenhängende Abwehrfront; dazu reichten die Kräfte längst nicht mehr. Die Verteidiger machten sich hier lediglich die natürliche Barriere der Flußläufe zunutze, an denen Schlüsselstellungen notdürftig befestigt und besetzt wurden. Nachdem es nicht gelungen war, den Odenwald entlang der Linie Miltenberg am Main und Eberbach am Neckar abzuriegeln, lief die neue "Sperrlinie" Anfang April in etwa von der Spitze des Main-Dreiecks bei Ochsenfurt über Bad Mergentheim an der Tauber zum Jagst-Knie bei Dörzbach. In diesem IB
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Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, Soldat im Untergang, Frankfurt 1977, S. 180. Die Skizze der Kämpfe im nördlichen Baden, Württemberg und Bayern während der ersten Aprilwochen stützt sich, falls nicht anders angegeben, im wesentlichen auf die folgenden Werke: Seventh United States Arrny, Report of Operations, III, S. 759ff. MacDonald, Last Offensive, S. 406ff. Friedrich Blumenstock, Der Einmarsch der Amerikaner und Franzosen im nördlichen Württemberg im April 1945, Stuttgart 1957, S. 35 ff. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 171 ff. Ygl. die beiden Studien, in denen das Kriegsende in dieser Region minutiös rekonstruiert ist: Alois Stadtmüller, Aschaffenburg im Zweiten Weltkrieg, Aschaffenburg 1971, sowie ders., Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, Aschaffenburg 1982. Ygl. Hans Oppel! (Hrsg.), Würzburger Chronik des denkwürdigen Jahres 1945, Würzburg 1947. Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, I1I, S. 776. Das folgende Zitat ebenda, S. 789.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
nördlichen Abschnitt war sie freilich weniger stabil als in ihrem südlichen Verlauf. Dort lief sie nämlich die Jagst entlang bis zu deren Mündung in den Neckar, von hier neckaraufwärts nach Süden. Schlüsselstellung war der Verkehrsknotenpunkt Heilbronn auf dem Ostufer des Flusses. Die Stäbe beider Seiten begannen vom ,JagstNeckar-Bogen" zu sprechen, für die Amerikaner "die stärkste Verteidigungslinie, die der Feind im letzten Kriegsmonat noch aufbauen konnte". Zehn Tage lang - ihre Kameraden im Norden hatten mittlerweile die Eibe erreicht - mühten sich hier die drei Divisionen des VI. Corps ab, das eigentlich Heilbronn nehmen und dann zügig durch die Löwensteiner Berge auf Stuttgart hätte vorstoßen sollen. Der deutsche Widerstand gegen die vom Rhein kommenden Einheiten der amerikanischen 10. Panzerdivision und der 63th und 100th Infantry Division 23 hatte sich schon im Raum der Jagst- und Kochermündung versteift, und der Kampf um Heilbronn wurde mit beinahe noch größerer Erbitterung geführt als zuvor die Gefechte um Aschaffenburg und Würzburg. "Die Schlacht um Heilbronn" ging als Großtat der U.S. Army in amerikanische militärhistorische Darstellungen und in das Erinnerungsschrifttum der Veteranen ein: "Dort lieferte der Feind eines der heftigsten Gefechte des ganzen Krieges", befand aus etwas reduziertem Blickwinkel beispielsweise die Geschichte der 100th Infantry Division ("Story of the Century") im Jahre 1946. 24 In den frühen Morgenstunden des 4. April begann die Division mit dem Übergang erster Kräfte über den Neckar den Angriff auf eine Stade', die bereits durch den Luftkrieg "nahezu ausradiert"26 war. Fast 7000 Tote hatte ein einziger Luftangriff vier Monate zuvor gefordert, und es hat auch hier beinahe den Anschein, als habe es den deutschen Kommandeuren besonders wenig Skrupel bereitet, die bereits im Luftkrieg vernichteten Städte in Bodenkämpfen noch einmal besonders hartnäckig zu "verteidigen". Die deutschen Verteidiger, das typische Truppenkonglomerat der letzten Stunde, fügten den angreifenden amerikanischen Regimentern empfindliche Verluste zu, und bald war den Amerikanern klar, daß Heilbronn nicht im Vorübergehen zu nehmen war wie all die anderen Städte links des Rheins und auch Mannheim und Heidelberg noch. Neun Tage, bis zum Nachmittag des 12. April, dauerten die Kämpfe in den Straßen, Häusern und Industrievierteln einer Stadt an, in der die verbliebenen Bewohner in Luftschutzkellern, Bunkern und Eisenbahntunnels zusammengedrängt das Ende des Spuks abwarteten. "SS-Leute verteidigten Heilbronn wie ,Hurensöhne' ", berichteten die "Stars and Stripes". Ein Lieutenant Colonel sagte dem Army-Blatt, es seien für seine Division die härtesten Kämpfe seit der Bezwingung des Westwalls gewesen. 27 Der verbissene Widerstand im zerstörten Heilbronn, der nicht zuletzt auch durch das terroristische Gebahren des Kreisleiters Drauz 28 , eines üblen NS-Verbrechers, anVgl. deren Darstellung der Kämpfe in Nordwürttemberg: Lester M. Nichols, Impact: The Battle Story of the Tenth Armored Division, New York 1954. Michael A. Bass, The Story of the Century (lOOth Infantry Division), New York 1946. Für die 63rd Inlantry Division liegt keine brauchbare Unit History vor. " Bass, Story 01 the Century (100th Infantry Division), S. 137. 25 So in der Unit History der lOOth Infantry Division. Blumenstock, Einmarsch, S. 93, nennt den 3. April als Tag des amerikanischen Übergangs über den Neckar. Er bietet (S. 901f.) die ausführlichste Darstellung des "Kampfes um Heilbronn". 26 Thomas Schnabel, Kommunalpolitik in einer zerstörten Stadt. Parteien und Wahlen in Heilbronn a. N. von 1945-1948, Examensarbeit an der Universität Freiburg 1975, S. 31. 27 The Stars and Stripes, 16.4. 1945. 28 Siehe VII/2. 23
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gefacht worden war, brachte den Kommandierenden General des VI. Corps auf den Gedanken, gleichzeitig mit der fortgesetzten Berennung der Stadt und der deutschen Stellungen an der Jagst eine spektakulär angelegte Umfassungsoperation einzuleiten: Die 10th Armored Division sollte in einem weiträumigen Raid bis nach Crailsheim die deutsche Verteidungslinie des Jagst-Neckar-Bogens umgehen, über 60 Kilometer tief im Rücken der Verteidiger auftauchen und dann von Osten her gegen Heilbronn vorstoßen. Der amerikanische Panzervorstoß quer durch Nordwürttemberg machte zunächst auch ganz die erwarteten Fortschritte. 29 Die Combat Commands, die sich ihre Sporen im Dezember 1944 während der Ardennen-Offensive in Bastogne verdient hatten, legten entlang des Jagst-Neckar-Bogens innerhalb zweier Tage über 120 Kilometer zurück und fuhren am Abend des 6. April, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, in Crailsheim ein. Dieser unerwartete Einbruch zwischen dem deutschen XIII. Armeekorps und dem XIII. SS-Armeekorps bedrohte nicht nur die gesamte notdürftig aufgebaute nordwürttembergische Sperrlinie, er zerschnitt zugleich die Verbindungen zwischen Nürnberg und Stuttgart und eröffnete der 7. Armee eine glänzende Ausgangsposition für einen raschen Vorstoß in Richtung Ulm, Augsburg und München. 30 Die 10th Armored Division versuchte, den schmalen Einbruchskorridor zu festigen und sofort nach Westen über Schwäbisch Hall in den Rücken der Heilbronner Front vorzustoßen. Doch dazu reichten die Kräfte des Verbandes mit seinen überdehnten rückwärtigen Verbindungen nicht mehr. Zehn Kilometer vor Schwäbisch Hall mußten die Panzerspitzen abdrehen, und es begann, wie es der Chronist der "Tiger" nannte, "eine der frustrierendsten Gefechtsoperationen in der brillanten Kriegsgeschichte der Division"31. Die erklärliche Tendenz in den amerikanischen Darstellungen, die Stärke der deutschen Verteidiger an Neckar,Jagst und Kocher herauszustreichen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich im Crailsheimer Einbruchsraum wiederum nur um jenes armselige Sammelsurium jammervoll unterlegener Kampfgruppen und Kompanien handelte, das von ihren Kommandeuren - ohne einen einzigen eigenen Panzer - gnadenlos gegen Tanks der U.S. Army ins Feuer geschickt wurde. Dazu gehörten hier Mannschaften einer Genesenenkompanie aus Bad Mergentheim, 16- bis 17jährige Hitlerjungen der dortigen Oberschule (zum Teil aus Duisburg evakuierte Gymnasiasten), rückwärtige Dienste und Teile eines Regiments der Aufstellungsdivision ,,Alpen", ein Baubataillon, Ersatzeinheiten der Waffen-SS aus Ellwangen, ein aus Heilbronn herbeigeholtes Bataillon des Regiments "Rosenheim", darunter durch Zufall in
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Die Beschreibung der Crailsheimer Operation fußt vor allem auf den folgenden Darstellungen: Die detaillierte Beschreibung bei Blumenstock, Einmarsch, S. 51 H. Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 223 ("The Battle for Crailsheim"). Siehe auch die Darstellung im Report of Operations der Seventh Uni ted States Army, IIl, S. 783 H. Vgl. auch den Lagebericht der Gauleitung Württemberg-Hohenzollem (Stuttgart) v. 18.4. 1945 zu den Kämpfen in Nordwürttemberg; BA, Sammlung Schumacher, Nr. 248. Zahlreiche Schilderungen hierzu auch in HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. Ferner die Pfarr- und Dekanatsberichte im LKA Stuttgart, 311a, 1945. Der Ia der Heeresgruppe G sah später in der Operation der amerikanischen 10. Panzerdivision eine "besonders günstige Chance ... , den Gesamtwiderstand in Süddeutschland durch rücksichtslose Ausnützung des erzielten Durchbruches mit einem Schlage zu brechen". German Foreign Military Study B-703 von Horst Wilutzky, "Der Kampf der Heeresgruppe G im Westen. Abschlußkämpfe in Mittel- und Süddeutschland bis zur Kapitulation (22. 3. 45-6. 5.45)", S. 39; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 252.
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der Nähe auf dem Transport befindliche Truppen. 32 Diese drückten nicht nur gegen die Stadt selbst, zwei Tage nach dem amerikanischen Einmarsch dort gelang es aus unwegsamem Gelände immer wieder überraschend vorgehenden deutschen Kampfgruppen, die nach Norden führende Nachschubstraße ("Kaiserstraße") zu unterbrechen. Mehrere deutsche Jäger und sogar neue Düsenflugzeuge vom Typ Me 262 tauchten zum ungläubigen Erstaunen der Amerikaner zeitweise am Himmel auf. General Piburn, Kommandeur des Combat Command A, hatte seit dem Feldzug in Afrika nicht mehr so viele deutsche Flugzeuge gesehen wie über Crailsheim 33 , die 7. US-Armee seit ihrer Landung in Südfrankreich keine solche Luftwaffenunterstützung mehr beobachtet wie bei den Kämpfen in Nordwürttemberg. 34 Am 8. und 9. April begann die Lage für die abgeschnittenen amerikanischen Panzerbrigaden "alle Charakteristika eines zweiten Bastogne anzunehmen"35, und selbst ein massiver Einsatz von Transportflugzeugen, die auf dem Flugplatz nahe der umkämpften Stadt landeten und große Mengen von Benzin, Munition, Verpflegung, auch Blutplasma, herbeischafften, konnte die Situation nicht entscheidend verbessern. Die Amerikaner, die keine Vorstellung davon hatten, wie stark die deutschen Kräfte, die ihnen hier zusetzten, tatsächlich waren, und die bei der Besetzung eines Landes, das den Krieg definitiv verloren hatte, keinerlei Wagnis eingehen wollten, brachen deshalb das mißglückte Umfassungsmanöver an Jagst und Neckar ab, nahmen ihre Panzerspitzen auf kurzem Wege um etwa 20 Kilometer nach Norden zurück und räumten Crailsheim am Abend des 10. April. Dieser Rückzug sollte als die einzige größere Schlappe der Invasionsarmee während ihrer Schlußoffensive gegen Deutschland in die Militärgeschichte eingehen. Die Ortschaften des Taubergrundes, der Hohenloher und Haller Ebene im Bereich des relativ schmalen amerikanischen Panzerkeils gegen Crailsheim, die bis dahin beinahe ganz vom Krieg verschont geblieben waren, hatten den Widerstand der Wehrmacht, der in diesem Stadium des Krieges durch nichts mehr zu rechtfertigen war, mit fürchterlichen Zerstörungen und zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung zu bezahlen. Etwa 40 Dörfer und Weiler waren allein hier im Raum Crailsheim von den gut zwei Wochen hin- und hergehenden Kampfhandlungen direkt betroffen, manche Ortschaften mehrfach. Nachweisbar ist, daß dabei mindestens 110 Zivilpersonen - vermutlich aber sehr viel mehr - ums Leben kamen, über 300 landwirtschaftliche Gebäude und etwa 300 Wohngebäude von amerikanischen wie deutschen Bomben und Granaten total zerstört wurden. Eine noch viel größere Zahl wurde beschädigt. 36 Besonders verheerende Verwüstungen erlebte beispielsweise die Gemeinde Zu den in Crailsheim eingesetzten deutschen Truppen vgl. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 223 und S. 233. Blumenstock, Einmarsch, S. 48 und S. 71. Siehe auch die German Foreign Military Study B-348 ("Bericht über die Kampfhandlungen im Bereich der 1. Armee in der Zeit v. 24.3. bis 8.5. 1945"; Wolf Hauser), S. 11, und B-703 ("Der Kampf der Heeresgruppe G im Westen. Abschlußkämpfe in Mittel- und Süddeutschland bis zur Kapitulation"); MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. J3 Vgl. Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 243. H Seventh United States Army, Report of Operations, 1II, S. 777. " So stark überzeichnend Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 239. 36 Berechnet für die Zeit v. 4. 4. bis 21. 4.1945 nach den Angaben bei Blumenstock, Einmarsch, S. 47ff. Die folgenden Angaben eben da, S. 179, S. 180, S. 62, S. 131 und S. 185fl. Vergleicht man die Angaben bei Blumenstock, Einmarsch, mit den Zahlen im Historischen Atlas von Baden-Württemberg, hrsg. v. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landesvermessungsamt Baden-Württemberg, Stuttgart 1972-1988, so zeigt sich, daß die Zahl der Opfer insgesamt höher gewesen sein muß als noch bei Blumenstock Dorf für Dorf und Stadt für Stadt angegeben. j2
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Wolpertshausen, in der 34 Häuser und 60 Scheunen vernichtet wurden, oder etwa Ilshofen, wo 96 Gebäude in Trümmer gelegt wurden. Während der Beschießung des Weilers Gütach erstickten in einem Keller 16 Einwohner, die dort Schutz gesucht hatten; in dem kleinen Städtchen Niederstetten wurden bei taktischen Bombardements und Artilleriebeschießungen 18 Einwohner getötet, 86 Wohnhäuser, 40 Scheunen, 20 Ställe und 9 andere Gebäude zerstört. Untergegangen war auch das alte Crailsheim, das die Amerikaner am 21. April wiedereroberten. Nicht weniger als 570 der 1082 Gebäude waren durch Bomben, Granaten und Brände völlig vernichtet, die übrigen fast alle stark beschädigt. Von den einst 10.000 Einwohnern hielten sich noch ganze 540 Personen in Crailsheim auf. "Die Stadt ist noch ein roter Feuerofen und der Brandgeruch dringt überall ein", schrieb eine Studienrätin in ihr Tagebuch, als in dem nordwürttembergischen Kreisstädtchen der Krieg schließlich vorüber war. 37 Jedoch, bevor die Nachkriegszeit begann und eine allgemeine Erleichterung über das Ende der Bedrohung durch Bomben und Granaten wie über das Ende der Bedrohung durch den Terror von Parteifunktionären, Kampfkommandanten und unerbittlichen SS-Führern 38 die Oberhand gewinnen konnte, kehrten die Deutschen noch einmal für zehn gespenstische Tage nach Crailsheim und in die umliegenden Dörfer zurück. Die wenigen hundert Menschen in den Trümmern der Stadt nahmen von der unerwarteten Rückkehr der "Verteidiger der Heimat" mit wenig Begeisterung Notiz. So zog im Morgengrauen des 11. April ein "großer ungeordneter Haufen" von Gebirgsjägern durch die Straßen, wie eine Lehrerin in ihrem Tagebuch festhielt: "Erschöpft, mutlos, fast waffenlos ziehen sie dem Feind entgegen. Nirgends ein Maschinengewehr, etwa jeder fünfte Mann hat ein Gewehr, hie und da baumelt eine Eierhandgranate am Gürtel. Manche schieben den Tornister auf Kindersportwägen vor sich her. Keiner von den frierend am Straßenrand Stehenden freut sich über die Landsleute und darüber, daß wir ,wieder deutsch' sind. ,Die bringen uns feindliche Tieffliegerangriffe!' - ,Wenn es nur zu Ende wäre!'''39 Kurz nach dem Wiedereinzug der deutschen Truppen erscheinen auf dem Crailsheimer Flughafen ein General und ein Major, die dort gründliche Untersuchungen anstellen. Sie wollen Offiziere und Mannschaften des Horstes vor ein Militärgericht stellen, weil die befohlenen Sprengungen nicht gründlich genug ausgeführt worden waren und die amerikanischen Transportflugzeuge hier fast ungehindert landen und starten konnten. Am 14. April wagt sich Kreisleiter Hänel in die Stadt zurück, der inzwischen einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat und vom Kampfkommandanten der Stadt, einem SS-Hauptsturmführer, selbst heftig unter Druck gesetzt wird. Wüste Drohungen mit Aufhängen und Erschießen gegenüber jedermann sind jetzt an der Tagesordnung. Alle arbeitsfähigen Männer werden zum Bau von Panzersperren in den Straßen und Gassen der Stadt befohlen, deren Sinn, zumal es keine Verteidiger für sie gibt, niemand mehr einzusehen vermag. Bei den amerikanischen Aufklärungsflugzeu" Tagebucheintragung der Studienrätin Elise Walter, Crailsheim, v. 22. 4. 1945; zit. nach Konrad Rahn, Kriegschronik der Stadt Crailsheim im Frühjahr 1945, masch., Crailsheim 1955, S. 141. In allen Details hat Werner Martin Dienei, dem ich für seine Unterstützung danke, die letzten Kriegswochen in Crailsheim beschrieben. Vgl. z. B. dessen Artikelserie "Es geschah vor 20 Jahren: Ende des Zweiten Weltkrieges im Kreis Crailsheim" vom April 1965 im Hohenloher Tagblatt. 38 Vgl. VII/2. 39 Tagebucheintragung der Studienrätin Elise Walterv. 11.4.1945; zit. nach Rahn, Kriegschronik, S. 133. Das folgende nach ebenda, S. 103 H.
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gen und Spähtrupps muß freilich der Eindruck entstehen, Crailsheim werde in eine wahre Festung verwandelt, die um jeden Preis verteidigt werden soll. Von der Bevölkerung wird dieses Spiel mit dem Feuer "mit großer Erbitterung"40 verfolgt. Zu einer Verteidigung Crailsheims am 20. und 21. April 1945 ist es dann nicht mehr gekommen, aber es fand sich auch niemand, der die Stadt übergeben hätte. Der Kreisleiter der NSDAP und die SS-Truppen flüchteten, und nachdem die Amerikaner die Stadt mit fürchterlichen Bombardements und Beschießungen "sturmreif" gemacht hatten, zogen sie elf Tage nach ihrem überraschenden Rückzug erneut und nun auf Dauer in Crailsheim ein. Von den Bauern der umliegenden Ortschaften wurden die für einige Tage zurückgekehrten deutschen Soldaten ebenfalls mit großem Argwohn betrachtet. Im ungefähr 20 Kilometer nördlich der Stadt gelegenen Blaufelden bestürmte der Bürgermeister die Verteidiger, den Ort "zu verlassen, da sie doch bloß Unglück brächten. Der Offizier war darüber etwas aufgebracht, verstand aber doch, daß es hier um mehr ging als um militärische Gesichtspunkte. Er unternahm wenigstens nichts gegen die Bürger, die diese Wünsche vortrugen."41 In dem etwa auf halbem Wege zwischen Blaufelden und Crailsheim gelegenen Wallhausen wehte bereits ein schärferer Wind. Nach der Wiederbesetzung war hier ein Kaufmann erschossen worden, weil er angeblich "deutsche Soldaten verraten" hatte, und am Abend seiner Ankunft in Crailsheim rief Kreisleiter Hänel hier einen Mann seines Vertrauens an und befahl diesem, die Straße mit einer Panzersperre blockieren zu lassen - "auf Weigerung stehe der Kopf"42. In dem Dörfchen Roßfeld war der Bürgermeister, seit 38 Jahren im Amt und erst seit 1942 NSDAP-Mitglied, dem Feind bei der ersten Besetzung mit der weißen Fahne entgegengegangen und hatte damit eine Beschießung seiner Ortschaft verhindern können. Dann kam die Wehrmacht nach Roßfeid zurück: "Die Parteigenossen jubelten über den ,Sieg' und die ,Befreiung"', einige Sodaten "nahmen den Einwohnern ihre Fahrräder ab, ,um dem flüchtenden Feind nachzujagen"', schildert der evangelische Pfarrer die Tage des deutschen Interims. ,,Aber jedem Einsichtigen war klar, daß die Amerikaner wiederkommen würden, und daß bis dahin erneut schwere Tage bevorstünden." Besonders hart traf es nun den Bürgermeister. Zwei deutsche Offiziere holten ihn nachts "unter den gemeinsten Umständen" aus dem Bett und brachten ihn nach Ellwangen, wo er von der SS verhört wurde. Von dort kam er in ein Stuttgarter Gefängnis. Unmittelbar vor dem Anrücken der Amerikaner wurde er mit anderen Gefangenen und etwa 200 Zwangsarbeitern in einem der berüchtigten Fußmärsche nach Süden evakuiert. Über Friedrichshafen gelangte er Ende April schließlich wieder nach Roßfeld zurück; die Besatzungsmacht ließ ihn - "nach dem, was er erlebt habe" - im Amt. Zu welcher Dramatik sich die Ereignisse um Crailsheim herum gesteigert hatten, zeigte sich kurz vor der Wiederbesetzung durch amerikanische Truppen. Da traf in Roßfeld nämlich ein deutscher Meldefahrer mit dem Befehl an die Einwohnerschaft ein, "sie sollten beim Einrücken der Amerikaner ihre Häuser anzünden! Daß die Umfangreicher ungezeichneter Bericht "Crailsheim in den letzten Kriegsmonaten" aus dem Jahre 1948; HStA Stuttgart, J 170, Gemeindeberichte 2. Weltkrieg, Büschel 4. " "Gemeinde Blaufelden. Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage im März und April des Jahres 1945" v. 15.9.1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 4. 41 "Orts-Chronik von Wall hausen 1945"; ebenda. 40
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Stimmung dementsprechend bei den Bauern gegen die Soldaten und vor allem gegen die SS war", berichtet der Pfarrer von dort, "läßt sich denken. Es waren das kritische Tage. Und die Nachrichten über Erhängung, Erschießung und Verschleppung deutscher Zivilisten durch eigene Truppen ließen Schlimmstes erwarten."43 Am 21. April zogen die Amerikaner, ohne daß es noch zu nennenswerten Kampfhandlungen gekommen wäre, dann in Roßfeld ein. In Goldbach, einem westlichen Nachbarstädtchen von Crailsheim, hingen aus einigen Fenstern noch weiße Tücher, als die Wehrmacht am 10. April in den Ort zurückkehrte. 44 Hier war es der evangelische Pfarrer, der mit viel Geschick versuchte, einzelne deutsche Soldaten und Spähtrupps ebenso rasch wie huldvoll weiterzukomplimentieren. Er hatte damit offenbar auch einigen Erfolg, denn die SS-Einheiten begnügten sich damit, überall die schreiend roten Plakate mit einer "Bekanntmachung" des Kommandierenden Generals des XIII. SS-Armeekorps Simon auszuhängen. Sie waren nach der am 10. April im nahegelegenen Brettheim erfolgten Erhängung dreier Bürger45 gedruckt worden und drohten allen "feigen, selbstsüchtigen und pflichtvergessenen Verrätern" und deren Familien mit der ,,Ausmerzung". Nahm irgendein Offizier oder SS-Mann Anstoß an den weißen Fahnen in Goldbach, so konnte es hier zu denselben Terrormaßnahmen kommen. "Nicht wahr", sagte der Ortsgruppenleiter der NSDAP mit Blick auf das Verhalten der Einwohnerschaft zu dem Pfarrer, "diesmal hat die SS noch Gnade walten lassen!" Außerdem bat er den Geistlichen, den selbstbewußten Goldbacher Bürgermeister doch schon einmal von dem Befehl Himmlers 46 in Kenntnis zu setzen, in dem es hieß: ,,Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen." Keinerlei Gnade dagegen ließen jene Häscher walten, die vom 11. bis zum 19. April 1945 noch einmal in das wenige Kilometer flußabwärts von Crailsheim gelegene Kirchberg an der Jagst einzogen. Diese eine Woche benutzten Gestapo-Beamte und ein SS-Kommando nämlich dazu, "Säuberungsaktionen gegen Ortsanwesende" durchzuführen, "die beschuldigt worden waren, mit dem Feind in Verbindung gestanden zu haben. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde auch der damals amtierende Bürgermeister Wirth von der SS abgeführt, weil der das Hissen weißer Fahnen angeordnet hatte. Am 14.4.45 wurden drei polnische und ein französischer Kriegsgefangener als der Spionage verdächtig festgenommen und noch am gleichen Tage ohne nähere Untersuchung der einzelnen Fälle auf dem freien Platz in Kirchberg erschossen. Eine Frau Karszinskij wurde unter dem gleichen Verdacht von SS-Offizieren Verhören unterzogen und am 16.4. 45 außerhalb der Stadt an einer Feldscheuer ebenfalls erschossen."47 Diese Ereignisse hätten großes Aufsehen und Empörung unter der Einwohner-
" Bericht des evangelischen Pfarramts von Roßfeld über die letzten Kriegstage an den Oberkirchenrat der württembergischen Landeskirche v. 5.6. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-45. 44 Vgl. die Darstellung des evangelischen Pfarrers zu den letzten Kriegstagen in Goldbach vom Oktober 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. " Vgl. hierzu Elke Fröhlich, Die Herausforderung des Einzelnen. Geschichten über Widerstand und Verfolgung, in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. VI, hrsg. von Martin Broszat und Elke Fröhlich, München 1983, S.235ff. 46 Befehl Himmlers v. 29.3. 1945; BA/MA, RH 20-19/196. 47 "Kirchberg-Jagst. Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage und der Besetzung im April 1945", ungezeichneter Bericht vom Herbst 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 4. Der Name des weiblichen SS-Opfers wurde geändert. Vgl. auch den Bericht des evangelischen Stadtpfarramtes Kirchberg/Jagst an das Deka-
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schaft erregt, "die keinerlei Gründe für eine derartige brutale Maßnahme finden konnte", heißt es in dem Bericht aus Kirchberg weiter. Der kampflose Einzug der amerikanischen Besatzungstruppen am 20. April, so steht darin ferner zu lesen, habe in der Bevölkerung "eine gewisse Beruhigung" erweckt, und zwar vor allem wegen des Bewußtseins, "daß damit wenigstens die Kämpfe ihren Abschluß gefunden haben". Mit der erneuten Besetzung von Crailsheim und Umgebung durch die U.S. Army ging ein im Verlaufe der amerikanischen Besetzung Deutschlands singuläres Intermezzo zu Ende - die Rückkehr deutscher Soldaten und SS-Kommandos in ein Gebiet, in dem man den Krieg schon überstanden geglaubt hatte. 48 Diese Episode läßt erahnen, was die kriegsmüden "Volksgenossen" erwartet hätte, wenn Wehrmacht und SS noch die Kraft besessen hätten, den Streitkräften Eisenhowers wirkungsvolleren Widerstand entgegenzusetzen und häufiger als nur ein einziges Mal in größerem Umfange "Gelände zurückzugewinnen". Dann hätte der Terror gegen die eigene Bevölkerung, gegen die insbesondere die SS-Verbände manchmal nicht schonender vorgingen als zuvor gegen die Bevölkerung in den besetzten Ländern, ein Vielfaches an Blutopfern gefordert, dann hätten die Zerstörungen noch viel verheerendere Ausmaße angenommen, und die Zahl der bei Kampfhandlungen umgekommenen Zivilisten wäre ungleich höher gewesen. Doch so blieben viele Orte verschont, und manchem Terroristen in Uniform fehlten einfach Zeit, Gelegenheit und die genügende Ermutigung, seine Drohungen auch in die Tat umzusetzen. Im Falle einer amerikanischen Besetzung erst nach einer Serie hin und herwogender Gefechte hätten auch die Military Government Detachments in Deutschland nicht so problemlos Fuß fassen können, sondern viel länger und zunächst mit viel weniger Erfolg nach kooperationswilligen Männern und Frauen Ausschau halten müssen. In Crailsheim jedenfalls stieß die Militärregierung, wie einem After Action Report des XXI. Corps zu entnehmen ist, anfänglich auf für sie gänzlich ungewohnte Schwierigkeiten: "Crailsheim war die erste Stadt", lesen wir in dem Bericht, "in der es auf beträchtliche Schwierigkeiten stieß, einen Bürgermeister zu finden, der sich bereit zeigte zu amtieren. Es wird angenommen, daß der Grund für das Zögern von Anti-Nazis, ein öffentliches Amt zu übernehmen, in der Tatsache zu sehen ist, daß die 10. Panzerdivision die Stadt genommen hatte und sich dann wieder zurückzog, mit dem Resultat, daß die Anti-Nazis, die Farbe bekannt hatten, Repressalien durch die Nazis ausgesetzt waren. Anscheinend zauderten sie aufgrund dieser Vorkommnisse, sich hervorzuwagen."49 In den übrigen Städten und Landkreisen des bis um den 20. April 1945 herum umkämpften nördlichen Süddeutschland wiederholte sich zwar nirgends ein ähnlicher Vorgang wie im Raum Crailsheim, doch brachte das Kriegsende im Dreieck der Region Aschaffenburg-Ansbach-Heilbronn fast überall noch einmal Terror, Tod und Zerstörung im Übermaß. In einem Gemeindebericht aus dem unmittelbar an der württembergisch-bayerischen Landesgrenze gelegenen, noch zum Kreis Crailsheim gehörigen Hausen am Bach, das nicht von wechselnden Besetzungen heimgesucht,
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natamt Langenburg v. 4. 5. 1945, in dem diese Ereignisse ebenfalls geschildert sind; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-45. Im Herbst 1944 hatte die Wehrmacht im Westen unter ganz anderen Rahmenbedingungen lediglich einige kleinere Ortschaften des Saarlandes und des Gebietes südlich Aachens vorübergehend zurückgewinnen können. Siehe II/3. XXI Corps, After Action Report for Week Ending 28 April 45 v. 28.4. 1945; NA, RG 407, Box 5272.
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aber dennoch furchtbar zerschossen wurde, ist die verzweifelte Lage vieler Ortschaften und Städte in Nordbaden, Nordwürttemberg und Nordbayern im April 1945 in die Sätze gefaßt: "Vor uns ein Feind, der rücksichtslos auch unsre wehrlosen Dörfer beschoß, und hinter uns der Terror der SS, die jeden Versuch, nutzloses Zerstören und Blutvergießen zu verhindern durch unsere Bevölkerung, als Verrat mit Erhängen bestrafte! Schweigend und gedrückt erwartete man den weiteren Gang der Ereignisse."5o In den beiden Wochen zwischen der ersten (6. April) und zweiten Besetzung Crailsheims (20./21. April) waren in den übrigen Abschnitten der 7. U.S. Army die Kämpfe gegen die Reste der Heeresgruppe G überall zügig vorangegangen. Die raschesten Erfolge machte dabei das XV. Corps am linken Flügel der Armee, das bereits am 7. April Neustadt an der Saale am Fuße der Rhön erreichte und anderntags Kontakt zu den Verbänden General Pattons herstellte, die dabei waren, durch Mitteldeutschland zur Mulde vorzustoßen. Im mittleren Abschnitt der Armee von Alexander M. Patch hatten die Divisionen des in Richtung Nordwesten vorgehenden XXI. Corps am 6. April Würzburg, am 7. April Bad Mergentheim und vier Tage später Schwein furt besetzt. Am 12. April war im Südabschnitt der Armee inzwischen Heilbronn an das VI. Corps gefallen. Mit der Eroberung der Stadt und dem Übergang der Amerikaner über Jagst und Kocher brach die deutsche Verteidigung auch hier zusammen. Durch die Löwensteiner Berge stießen die 63rd und die 100th Infantry Division dann binnen einer Woche nach Stuttgart vor. Am 17. April fiel Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd am 20. April. Die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung und die Zerstörungen, die der Widerstand der zurückgehenden deutschen Heeresgruppe allein in Nordwürttemberg und Nordbaden provoziert hatte, waren (ähnlich wie in dem schmalen Crailsheimer Einbruchsraum) wiederum enorm. 51 In den ersten drei Aprilwochen wurden allein im nördlichen Württemberg bis etwa zur Linie Stuttgart-Schwäbisch Gmünd und im äußersten Norden Badens östlich des Neckars wenigstens 200 Städte, Dörfer oder Weiler von Kampfhandlungen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Dabei fanden unter der Zivilbevölkerung insgesamt 2170 Männer, Frauen und Kinder den Tod, im Landkreis Heilbronn allein 596 Menschen. Nachweisbar ist ferner die totale Zerstörung von ungefähr 4500 Kirchen, Schulen, Wohnhäusern, Scheunen und Ställen. Manche Ortschaft fiel dabei in letzter Stunde in Schutt und Asche. In Baden traf es das vom Infanterie-Regiment 316, von Flak-Kampftrupps der SS-Kampfgruppe Dirnagel und 17jährigen Marinekadetten verteidigte Königshofen an der Tauber mit am schwersten. Nach der Besetzung durch die 4th Infantry Division waren 75 Prozent der Stadt, 612 Gebäude, völlig zerstört, 13 Einwohner kamen um. 52 Das kleine Ödheim an der unteren Kocher, wo sich ebenfalls Waffen-SS verschanzt hatte, lag zehn Tage lang im Feuer. Es verlor dabei 35 Einwohner; 120 Gebäude, meist Scheunen, wurden völlig zerstört. Weinsberg, von wo aus die deutsche Artillerie in die Kämpfe um Heilbronn eingegriffen hatte, wurde am 12. April von amerikanischen Jagdbombern angegriffen "Die letzten Kriegstage in Hausen am Bach im April 1945", ungezeichneter Gemeindebericht von Herbst 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. 51 Die folgenden Angaben basieren auf der Grundlage von Blumenstock, Einmarsch. Zugleich auf den Angaben bei Heinz Badura, Kriegsschäden in Baden-Württemberg 1939-1945, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg 1939-1945, VII, 11, Erläuterungen. " Vgl. Blumenstock, Einmarsch, S.44. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 208 f. Die folgenden Angaben nach Blumenstock, Einmarsch, S. 116 und S. 144f. 50
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und in ein Trümmerfeld verwandelt. 280 Gebäude waren danach total zerstört, 1200 Einwohner obdachlos geworden, 14 Weinsberger starben, 70 Prozent der Altstadt waren vernichtet. Man schätzt, daß allein im nördlichen Württemberg und Baden etwa 2000 deutsche Soldaten gefallen sind, beinahe dreimal mehr als auf seiten der Amerikaner. Die in allen Belangen überlegene 7. U.S. Army verlor während des April- dem Monat, in dem sie gleichwohl die höchsten Verluste seit der Landung in Südfrankreich erlitt - in ihrem gesamten süddeutschen Operationsraum nur ungefähr die gleiche Zahl von Soldaten, die von den deutschen Kommandeuren allein zwischen Main und Neckar in den Tod geschickt wurde. 53 In den Tod geschickt deshalb, weil hier ein immobiles, miserabel ausgerüstetes und vollkommen ungenügend bewaffnetes Sammelsurium von Truppen ohne Panzerfahrzeuge und ausreichend Munition zum Kampf gegen eine turmhoch überlegene Armee befohlen wurde: Sie sollten Eisen mit Blut aufwiegen. Kein Kommandeur, der nicht gewußt hätte, daß dies nicht bloß ein ungleicher Kampf, sondern pures "Verheizen" war. Argumente militärischer Vernunft, aus denen irgendein Sinn, irgendeine Berechtigung für eine so hartnäckige Versteifung des Widerstands gewonnen werden konnten, gab es im Westen im letzten Kriegsmonat für keinen Befehlshaber und keinen Kompanieführer mehr. Am 1. April war das Ruhrgebiet eingeschlossen; als die 10th Armored Division Crailsheim räumte, hatte die 9. U.S. Army die EIbe erreicht; am 16. April begann die Schlußoffensive der Roten Armee aus der Oder-Stellung heraus; als die Amerikaner sich Crailsheim wieder zu nähern begannen, gingen nach der Liquidierung des "Ruhrkessels" über 300.000 Soldaten der Wehrmacht in Gefangenschaft. Die Tatsachen sprachen jetzt eine unmißverständliche Sprache. Doch es waren inzwischen weniger denn je die nüchternen Tatsachen, an denen die deutsche politische und militärische Führung ihr Handeln orientierte. 54 Eisenhower setzte mittlerweile sein strategisches Konzept Zug um Zug in die Realität um. Nachdem die erste Phase der Schlußoffensive der Allied Expeditionary Force mit dem Erreichen der EIbe am 11. April abgeschlossen war, legte der Oberste Befehlshaber die Grundzüge für den zweiten Abschnitt des Vorstoßes fest. Es war Eisenhowers letzte operative Entscheidung im Feldzug gegen Deutschland. Am 11./12. April besprach er sich mit den Generälen Bradley, Patton und Hodges 55 und unterbreitete am 14. April den Combined Chiefs of Staff seinen Plan 56 : Sein Ziel sei es, "die Niederlage der Deutschen in kürzest möglicher Frist zu vollenden". Dazu sollten die Armeen im Norden nach Lübeck vorstoßen und so Dänemark und Norwegen abschneiden, wo noch mehrere deutsche Divisionen standen. Die Armeen an der EIbe und Mulde sollten ihre Positionen konsolidieren, die Verbände im Süden durch Bayern entlang der Linie Nürnberg-Regensburg-Linz donauabwärts vorstoßen und den Kontakt mit der Roten Armee herstellen. Durch eine solche Operation könne auch
Berechnungen nach den Angaben im Report of Operations der 7. US-Armee, I1I, S. 1037 H. Zugleich nach Blumenstock, Einmarsch, S. 221. 54 Vgl. VII!2. " Vgl. Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 426 ff. Vgl. auch George S. Patton, Krieg, wie ich ihn erlebte, Bem 1950, S. 210. 56 Telegramm Eisenhowers an die ces v. 14.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2604ff. 53
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der Verfestigung des deutschen Widerstandes in einer ,,Alpenfestung" ("National Redoubt")57 vorgebeugt werden. Schon am nächsten Tag wurde dieser Plan in den entsprechenden Befehlen an die drei Army Groups umgesetzt. 58 Die Hauptrolle bei der Besetzung Süddeutschlands fiel der Third United States Army unter dem frischgebackenen Vier-Sterne-General George S. Patton am rechten Flügel der 12th Army Group zu. Die Seventh Uni ted States Army am linken Flügel der 6th Army Group hatte deren Flanke zu decken und dabei ihrerseits in der groben Richtung Augsburg - Garmisch-Partenkirchen - Innsbruck vorzugehen. Die Trennungslinie zwischen den beiden Armeen lief von Darmstadt über Würzburg, Ansbach, Freising, Dorfen, Rosenheim zur österreichischen Grenze bei Kufstein. Eisenhowers Plan machte eine diffizile, aber rasch bewältigte Drehung der Angriffsachse notwendig, die bereits eingeleitet wurde, noch ehe der entsprechende Befehl des Obersten Befehlshabers ausgefertigt war. 59 Die Corps von General Patton starteten am 19. April ihren Angriff in Richtung Regensburg; zuvor waren schon Kulmbach (13. 4.), Bayreuth (14. 4.) und Hof (15. 4.) gefallen. Bei der 7. US-Armee begannen - während im Südabschnitt General Brooks seinen Angriff gegen Stuttgart startete - das linke und das mittlere Corps am 11. April von nordöstlicher auf südöstliche Richtung zu drehen. Im Zuge ihres Vorstoßes von der Rhön auf Nürnberg wurde die 7. U.S. Army erneut in Kämpfe verwickelt, die westlich von Regnitz und Ludwigskanal für wenige Tage noch einmal ähnlichen Charakter annahmen wie die mühseligen Gefechte im nördlichen Württemberg und Baden. Wiederum war es das XIII. SS-Armeekorps unter Max Simon - nach dem zähen Widerstand an Main und Neckar und dem "Sieg" von Crailsheim in Selbstbewußtsein und Kampfmoral gestärkt 60 -, das ungeachtet der militärischen Gesamtlage und ohne die geringste Rücksichtnahme auf die einheimische Bevölkerung jeden Weiler als willkommene VerteidigungssteUung mißbrauchte; vor allem die Einheiten des amerikanischen XXI. Corps bekamen es im Steigerwald und südlich davon mit Simons Truppen zu tun. Das zwischen Bamberg und Bayreuth operierende XV. Corps von General Haislip dagegen kam gegen die abgekämpften Einheiten des Generalleutnants Tolsdorf zügig in Richtung Nürnberg voran. Dabei konnten sich die 3rd und die 45th Infantry Division aus der Perspektive der beinahe mit leeren Händen dastehenden Verteidiger schier unglaublicher Finessen bedienen. Zur Unterstützung des nächtlichen Vormarsches setzten die amerikanischen Verbände Flutlicht ein, tagsüber forderten sie Unterstützung durch tieffliegende Aufklärungsflugzeuge (P-51) an: "Dicht über dem Boden fliegend, meldeten die Piloten ihre Beobachtungen per Funk direkt an die Leitstelle des Corps, die dann die Informationen über Straßen, Brücken, Gewässer, Flußufer, feindliche Stellungen und eigene Linien weitergab. P-51-Piloten dirigierten auch Artilleriefeuer, leiteten Jagdbomber zu lohnenden Zielen und fotografierten auf Anforderung ArtilleriesteIlungen, Truppenkonzentrationen oder Gelände. Die Negative
Siehe hierzu VII/4. ,. Telegramm an die 21., 12. und 6. Armeegruppe v. 15.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2611 f. ,. Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 421 und S. 425. 60 So die nützliche, aber schwer verdauliche Darstellung von Spiwoks, Stöber, Endkampf, S.233. 57
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wurden zum Stützpunkt geflogen, entwickelt und beim Gefechtsstand des Corps abgeworfen."61 Am 13. April war Bamberg, am 14. Forchheim und am 16. Erlangen erreicht. 62 Am selben Tag begann Haislips Corps den Angriff auf Nürnberg, den "Schrein der Nazipartei". Das benachbarte, aus dem Raum Schweinfurt-Kitzingen in Richtung Ansbach vorgehende XXI. Corps unter Generalmajor Frank W. Milburn wurde nach Durchquerung des Steigerwaldes in den mittelfränkischen Landkreisen Scheinfeld, Uffenheim, Neustadt an der Aisch, Rothenburg ob der Tauber, Ansbach und Fürth - insbesondere längs der Aisch und der Zenn - an mehreren Brennpunkten in Gefechte mit Einheiten und Kampfgruppen wiederum des XIII. SS-Armeekorps verwickelt. 63 Manche von ihnen verfügten zwar noch über einige erfahrene Soldaten und eine Handvoll Panzerfahrzeuge, insgesamt aber standen im Corps-Abschnitt auf etwa 100 Kilometer Breite den drei mächtigen amerikanischen Divisionen nur mehr gut 3000 Mann gegenüber - wiederum die bekannte, für die deutschen Soldaten von Anfang an vollkommen aussichtslose, selbstmörderische Ausgangslage. Die Versteifung der Kämpfe hier im Vorfeld Nürnbergs wurde sowohl in der Wochenanalyse der Feindaufklärung von SHAEF wie vom Wehrmachtsbericht aufmerksam registriert. 64 Am 14. April hatte Höchstadt an der Aisch noch gegen geringen Widerstand genommen werden können, doch an diesem und den drei folgenden Tagen wurden wegen der gewissenlosen Kampfführung der eigenen Truppen ähnlich wie zuvor schon in Mainfranken 65 und in Nordwürttemberg auch hier zahlreiche vom Krieg bisher kaum gezeichnete Dörfer und Städtchen noch schwer in Mitleidenschaft gezogen. Bei vielen von ihnen glich das Resultat ganz den traurigen Bilanzen aus Baden und Württemberg. Im westlichen Steigerwald etwa wurden die Dörfer Hellmitzheim, Dornheim und Neuzenheim stark betroffen, Gollhofen und Ulsenheim im Landkreis Uffenheim zu Dreivierteln, Herbolzheim und die Kreisstadt selbst zu mehr als einem Drittel zerstört. 66 Weiter südlich erlitten Cadolzburg, Groß-Habersdorf, Heilsbronn oder etwa Leutershausen schwere Schäden 67 Dazwischen, in Langenzenn, Wilhermsdorf und Neuhof an dem Flüßchen Zenn (wo die "Kampfgruppe Hobe" am 15. und
Seventh United States Anny, Report of Operations, III, S, 791 f. Das folgende Zitat ebenda, S. 790. Hierzu Donald G. Taggart (Hrsg,), History of the Third Infantry Division in World War 11, Washington 1947, S. 352 ff. Leo V. Bishop, Frank J. Glasgow, George A. Fisher (Hrsg.), The Fighting Forty-Fifth. The Combat Report of an Infantry Division, Baton Rouge 1946, S. 170 ff. Zum Kriegsende in Erlangen vgl. auch Hildebrand Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945, in: Martin Broszat, Elke Fröhlich, Anton Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München 1981, S. 656, 6, Die Situation auf der deutschen Seite nach Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 234 ff. Zugleich nach den Tagesmeldungen des Ia des Generalkommandos XIII. SS-A.K. an das Anneeoberkommando; BA/MA, R 5213/1. 64 SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary v. 22. 4.1945; NA, RG 331, Intelligence Reports 1942-45, Entry 13. Wehnnachtsbericht v. 16.4. 1945: "Unsere Front zwischen Neustadt an der Aisch und dem Neckar südlich Heilbronn hielt starken Angriffen stand." Die Wehnnachtsberichte 1939-1945, Bd. 3:Januar 1944 bis Mai 1945, München 1985. " Die Bilanz der sinnlosen Zerstörungen in Nordwestbayern ist in allen Einzelheiten der akribischen Studie von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, zu entnehmen. 66 Vgl. Rainer Hambrecht, Geschichte im 20. Jahrhundert: Die Bezirksämter/Landkreise Neustadt a.d. Aiseh, Scheinfeld und Uffenheim 1919-1972, in: Landkreisbuch von Neustadt/Aisch-Bad Windsheim 1981, S.406. 67 Hans Woller, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 55 f. 61
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1. Letzte Kämpfe
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16. April mit einigen hundert Mann und acht Panzern eine ihrer berüchtigten "Verteidigungslinien" aufbaute), brachte der von jedermann als nutzlos und gefährlich angesehene deutsche Widerstand ebenfalls Schrecken und Verwüstung im Übermaß. In der Marktgemeinde Wilhermsdorf, am 16. April heftigem Beschuß ausgesetzt, gelingt es, den Feind sieben Stunden lang aufzuhalten. Dabei verlieren 29 junge Soldaten, überwiegend des Jahrgangs 1926 oder 1927, ihr Leben. 68 Im Nachbarort Neuhof an der Zenn gehen am 15. April ebenfalls ganz junge Soldaten der Waffen-SS, "Kinder-SS"69, in Stellung. Die Bevölkerung verkriecht sich in den Kellern, und am Abend beginnt die ganze Nacht hindurch anhaltender Beschuß durch die Amerikaner. Der Marktflecken geht in Flammen auf. Hitze und Qualm treiben die Schutzsuchenden schließlich aus den Kellern: "Durch Rauch und Asche, glühende Balken und Steine flohen wir aus dem brennenden Häusermeer hinaus aufs freie Feld", beschreibt eine Frau diesen Tag später. "Das erste was wir sahen, war eine Kette amerikanischer Soldaten, mit dem Gewehr im Anschlag. Deutsche verwundete Soldaten riefen im Hof und Garten bei K. um Hilfe. Wir machten die Amerikaner auf sie aufmerksam, damit sie sich ihrer annahmen. Uns wiesen sie an das Zennufer. Gegenüber auf der anderen Seite standen Panzer an Panzer, die immer noch in das lichterloh brennende Neuhof schossen."7o 75 Wohnhäuser, 62 Scheunen und 90 Nebengebäude waren ein Raub der Flammen geworden, sieben Männer, Frauen und Kinder starben. Für die größeren Städte westlich Nürnbergs ging der Einmarsch der U.S. Army dagegen relativ glimpflich ab. Neustadt an der Aisch wurde am 16. April besetzt1\ in Ansbach zogen die Amerikaner am 18., in Fürth am 19. April ein, ohne daß es dort noch zu größeren Gefechten gekommen wäre {"schwacher Widerstand").72 Der Stoß des XXI. Corps auf Ansbach und Fürth war natürlich Teil der Operation der 7. US-Armee gegen Nürnberg, das vor allem durch den Bombenangriff vom Januar bereits vollständig verwüstet war. Hitler hatte befohlen, die "Stadt der Reichsparteitage" bis zum letzten Mann zu verteidigen 73 , und in Gauleiter Karl Holz hatte er ausnahmsweise einen Reichsverteidigungskommissar, der solch einen Befehl wirklich wörtlich nahm, sogar persönlich Stoßtrupps gegen amerikanische Panzer anführte. Nach dem Fall der Stadt wurde er tot in einem Keller aufgefunden. 74 Noch am 17. April hatte er in einem Gaulagebericht einerseits die Aussichtlosigkeit der Lage angedeutet, andererseits aber bekräftigt, "unter allen Umständen in Nürnberg zu bleiben
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Vgl. die Dokumentation von Theodor Georg Riehert, Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges im Gebiet des Sehulverbandes Wilhennsdorf (masch.); StA Nümberg, Bestand: Die letzten Tage des 2. Weltkrieges in Wilhennsdorf, Nr. 2454/4. So tituliert Reinhold Maier, Ende und Wende. Das schwäbische Schicksal 1944-46. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, Stuttgart 1948, S. 232, die in Württemberg eingesetzten Einheiten der Waffen-SS. Schilderung von Fränzi Reuter aus Neuhof; zit. nach Theodor Georg Richert, Neuhof an der Zenn im April 1945, in: Fürther Heimatblätter 17 (1967), Nr. 5, S. 160. Die Schadensangaben ebenda, S. 167. Hugh C. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division. A Combat History of World War 11, Baton Rouge 1946, S. 841. Die Besetzung beider Städte ist in allen Einzelheiten beschrieben bei Woller, Gesellschaft und Politik, S. 45 ff. Das Zitat aus dem Report of Operations der Seventh U.S. Anny, III, S. 795. Vgl. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 254 und S. 301. Zu den Kämpfen um Nürnberg ebenda, S. 300ff. Vor allem auch Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 505 ff. Eine ausführliche Schilderung von Kampfeinsatz und Ende der NSDAP-Gauleitung in Nürnberg gibt der Bericht ,,An Old Fighter" im Anhang 3 des Weekly Intelligence Summary Nr. 7 der 80th Infantry Division v. 10.7. 1945; NA, RG 407, Box 12004.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
und lieber kämpfend zu fallen, als diese Stadt zu verlassen"75. Zwei Tage später standen die Soldaten der 45th Infantry Division am alten Stadtmauerring, am Abend des 20. April 1945 hißten die Amerikaner die Stars and Stripes am Adolf-Hitler-Platz, auf dem der "Führer" bei den Reichsparteitagen die endlosen Vorbeimärsche abgenommen hatte. Der Symbolgehalt dieser Zeremonie hätte kaum größer sein können, und die Besatzungsmacht wußte das auszukosten. Am Tag nach der Eroberung des "Schreins des Nazitums"76 hielt das XV. Corps in Anwesenheit der Generäle Patch und Haislip auf dem weltberühmten Platz im Herzen der Stadt eine große Siegesparade ab, ,Jagdbomber schlossen sich der Parade an, indem sie den Zug aus der Luft deckten"77. Am nächsten Tag sprengten die Amerikaner das große, die Parteitags tribüne überragende Hakenkreuz in die Luft. Über 90 Prozent aller Gebäude der Stadt waren zerstört, als in Nürnberg die Waffen schwiegen. 8076 Luftkriegsopfer waren zu beklagen, 371 Zivilisten hatten bei den letzten Kämpfen noch ihr Leben verloren. 78 Mit dem Fall Nürnbergs und Stuttgarts war der Zusammenbruch des letzten Widerstands in Süddeutschland besiegelt. Auch in Leipzig stand die U.S. Arrny inzwischen, in Berlin schoß sowjetische Artillerie bereits in das Stadtzentrum, jeden Tag war die Vereinigung der amerikanischen Divisionen mit den zwischen Oder und EIbe rasch vorankommenden Verbänden der Roten Armee zu erwarten; danach würde die Lage auf den Flügeln in Norddeutschland und in Süddeutschland "bedeutungslos" (Kesselring) sein. 79 Damit war das Ende da. Hitler stellte das höchstpersönlich in jener Konferenz im Bunker der Reichskanzlei am 22. April 1945 fest, die mit seiner "Generalanklage gegen die Feigheit, die Niedertracht und die Treulosigkeit der Welt" begann und mit dem Nervenzusammenbruch des "Führers" endigte. Hitler hatte sich jetzt entschlossen, in Berlin zu bleiben. Den Vorschlag der Wehrrnachtsführung, die im Westen verbliebenen Einheiten jetzt nach Osten zu werfen, lehnte er ab, da "doch alles auseinanderginge". Dem Kreis seiner militärischen Berater habe er nach einer AufzeichnungJodls an diesem 22. April zugerufen: "Was heißt: Kämpfen!, da ist nicht mehr viel zu kämpfen."80 Am selben 22. April 1945 war sich auch General Patton, dessen 3. Armee an diesem Tag zu ihrer Schlußoffensive beiderseits der Donau in Richtung Linz, zum "großen Kehraus" startete, vollkommen darüber im klaren, daß jetzt das "Kriegsende in Sicht war"81. Auch im Bereich der benachbarten Seventh U.S. Arrny war mit dein Erreichen der Linie Stuttgart-Nürnberg bereits vierzehn Tage vor der bedingungslosen 75
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"Lagebericht Gau Franken, 17.4. 1945, durchgegeben von Gauleiter Holz 23.30 Uhr", zit. nach Martin Broszat, Elke Fröhlich, Falk Wiese mann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. I: Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München 1977, S. 688. Am 20. 4. 1945 wechselten Hitler und der Gauleiter zwei letzte, heroisch-dramatisch gefärbte Funksprüche. Vgl. Report of Operations der Seventh U.S. Army, III, S. 795 f. Allgemein zum Kriegsende in Nürnberg: Erhard Mossack, Die letzten Tage von Nürnberg, Nürnberg 1952. Robert Fritzsch, Nürnberg im Krieg. Im Dritten Reich 1939- 1945, Düsseldorf 1984. The Stars and Stripes, 21. 4. 1945. Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, BI,' S. 796. Siehe auch Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Fourty-Fifth (45th Infantry Division), S. 178 f. Fritzsch, Nürnberg im Krieg, S. 107. Albert Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953, S. 392. Zit. nach Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt 1973, S. 1007. Ebenda, S. 1006f., auch die übrigen Zitate. Zum Nervenzusammenbruch Hitlers vgl. auch Marlis G. Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, Düsseldorf 1967, S. 37. Patton, Krieg, S. 221.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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Kapitulation das Ende militärischer Operationen, die diesen Namen noch verdienten, gekommen. Überall begann nun, was das Alliierte Oberkommando "Entwaffnung des Feindes durch Gefecht" nannte. 82 Sogar der Generalstabschef des berüchtigten XIII. SS-Armeekorps, das in den ersten drei Wochen des April 1945 in Nordwürttemberg und Franken der Hauptwidersacher der Amerikaner gewesen war, räumte später ein, daß nach dem Fall Nürnbergs "infolge der eigenen Unterlegenheit und völligen Erschöpfung der Truppe kaum noch ernstlich Widerstand geleistet werden konnte"83. So waren die letzten Operationen der alliierten Armeen in Süddeutschland in der Tat weniger vom Widerstand der Wehrmacht als von den schwierigen Verkehrsbedingungen auf den verstopften bayerischen Landstraßen bestimmt. 84
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus":
Die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung Ein Krieg bis "fünf nach Zwölf" Die Führung des Deutschen Reiches, an deren Spitze Hitler bis zu seinem Selbstmord unangefochtene Autorität ausübte, dachte nicht daran, die naheliegende Schlußfolgerung aus dieser Kriegslage zu ziehen. Statt dessen setzte sie in einzigartiger Bedenkenlosigkeit und bewußtem Verrat 85 am eigenen Volk den Anfang 1945 völlig aussichtslos gewordenen Kampf auch tatsächlich "bis fünf nach Zwölf" fort - genau so, wie es Hitler immer angekündigt hatte. Wann immer der Moment anzusetzen ist, zu dem eine patriotisch gesinnte Staatsführung die Waffen spätestens hätte strecken müssen, im Januar 1945 war die Uhr jedenfalls abgelaufen. Jetzt war sogar die noch 1944 nicht gänzlich irreal erscheinende Chance dahin, wenigstens ein glimpfliches Kriegsende herbeizuführen. Der Entschluß zur Kapitulation nach dem Scheitern der Offensive im Westen und dem Durchbruch der Roten Armee im Osten hätte Hunderttausenden von Soldaten und Zivilisten das Leben gerettet und Dutzenden von deutschen Städten und Dörfern die Vernichtung erspart. Doch - und auch hier zeigen Anfänge und Ende des Nationalsozialismus verwandte Züge - was ohne Hitler vorstellbar gewesen wäre, war mit ihm undenkbar. Da Hitler auch im Fall nichts von seiner Stärke, der "Verachtung der Wirklichkeit"86, eingebüßt hatte, diese, im Gegenteil, wieder in unerhörtem Ausmaße in den Vordergrund trat, war es für sein Handeln bedeutungslos, wie die wirkliche Lage des Reiches war. Ohne einen einzigen Gedanken der Einsicht in die Konsequenzen zu zeigen, die seinem Volk aus diesem monomanischen Starrsinn entstanden, folgte er allein dem Dogma seiner politischen Laufbahn, "niemals, niemals" zu kapitulieren. Man kann das eine "Strategie des grandiosen Untergangs"87, "Zerstörungssucht"88, mit einigem Recht sogar ein Programm zur "Staatsvernichtung" Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, III, S. 805. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 309. 84 So Pogue, Supreme Command, S. 456. Zur militärischen Entwicklung in Süddeutschland während der letzten vierzehn Tage des Krieges siehe VII! 4. " Vgl. Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 185. 86 Fest, Hitler, S. 926. 87 Ebenda, S. 911. 88 Allan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1967, S. 763. 82
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
und des "Volkstods"89 nennen, sicher ist, daß das Handeln der deutschen Führung im letzten Vierteljahr des Krieges an keinerlei realem, an der tatsächlichen Situation entwickeltem Kalkül, sondern nur und ausschließlich an Dogmen, Axiomen und Illusionen orientiert war. Die Entfremdung zwischen Führung und Volk erreichte jetzt noch einmal eine ganz neue Stufe. Vieles deutet darauf hin, daß Hitler ebenso wie sein Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, schon 1942 keine Möglichkeit mehr gesehen hat, die deutschen Kriegsziele mit Waffengewalt zu erreichen. 90 Die Rückschläge des Jahres 1943 konnten diese Einsicht nur bestätigen, und im Spätsommer 1944 war nach den Maßstäben der Vernunft der Zeitpunkt gekommen, die Konsequenzen aus der katastrophalen militärischen Lage zu ziehen. Genau dies hatten die Feldmarschälle Rommel und von Kluge vor ihrem Tod dem Obersten Befehlshaber in eindringlichen Appellen auch nahegelegt ("Das deutsche Volk hat solch unsagbare Leiden erduldet, daß es Zeit ist, diesem Schrecken ein Ende zu bereiten."91). Auch Hitler selbst hatte in den Monaten zuvor keinen Zweifel daran gelassen, daß ein Einbruch des Feindes auf breiter Front im Westen in kurzer Zeit zu unabsehbaren Folgen führen müsse. 92 Andererseits wird man in solchen Äußerungen weniger eine nüchterne Prognose als den Versuch Hitlers sehen müssen, seinen Soldaten die Bedeutung der kommenden Schlacht im Westen möglichst eindringlich vor Augen zu führen. Im Spätsommer 1944 war der Oberste Befehlshaber dann zu dem Kalkül gelangt, in einer gewaltigen Anstrengung noch einmal alles auf eine Karte zu setzen und den Versuch zu wagen, mit einer letzten großen Offensive die Initiative zurückzugewinnen. Hitler gelang es dann auch, für diesen Versuch in der Spitze des Reiches, bei der Armee und in weiten Teilen der Bevölkerung noch einmal Reserven zu mobilisieren und Funken von Begeisterung freizusetzen. Dieser letzte Versuch, der sich in dem Großangriff in den Ardennen manifestierte 93 , hatte einige Logik für sich, und es ist wohl eine verkehrte Deutung, bereits in diesem von breiter Unterstützung getragenen Schritt ein Unternehmen zu sehen, mit dem Hitler das deutsche Volk bestrafen ("und zwar mit dem Tode") wollte. 94 Mehr als fraglich ist es andererseits freilich, ob Hitler einen erfolgreicheren Verlauf der Winteroffensive im Westen tatsächlich zum Ausgangspunkt einer politischen Initiative gemacht hätte. Nach der Kriegswende von seinen Mitarbeitern und Beratern wiederholt gebeten, politische Schritte zur Rettung der Situation zu erwägen, hatte Hitler diesen sinngemäß immer entgegengehalten, es sei "natürlich kindisch und naiv"95, ohne militärischen Erfolg politisch initiativ zu werden. Selbst oder gerade dann, wenn es ihm gelungen wäre, dem Heer der Westmächte in Belgien eine uner89 90
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Haftner, Hitler, S. 184 und S. 185. Vgl. hierzu die Einleitung Percy Ernst Schramms zum Kriegstagebuch des OKW (Wehrmachtführungsstab), Bd. IV/I, Frankfurt 1961, S. 55f. Siehe auch Haftner, Hitler, S. 181. Abschiedsschreiben des OB West, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, an Hitler v. 18.8. 1944; abgedruckt in: Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1573ft., Zitat S. 1576. Siehe die Einleitung von Percy Ernst Schramm zum Kriegstagebuch des OKW, IV/I, S. 57 f. Vgl. IV/I. Vgl. Haftner, Hitler, S. 191 H., Zitat S. 196. So in einer Lagebesprechung mit Generalfeldmarschall Keitel, Generalleutnant Krebs und Generalleutnant Westphal am 31. 8. 1944 in der Wolfsschanze; Helmut Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen. Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, Stuttgart 1962, S. 614. Vgl. überdies Fest, Hitler, S. 948 f.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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wartete Schlappe mit womöglich weitreichenden Folgen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten beizubringen, hätte wohl Hitlers prinzipielle Unfähigkeit zur Konsolidierung die Oberhand behalten. Während seiner ganzen politischen Laufbahn und noch während der ersten Kriegshälfte hatte er in Erfolgen, auch nach eigenem Bekenntnis, immer nur den Ausgangspunkt für den nächsten Schlag zu sehen vermocht. Er hatte auch seine von vielen als theatralisch zugespitzte Tirade mißverstandene Maxime "Weltmacht oder Untergang" immer wortwörtlich gemeint. Dem "Führer" und Reichskanzler war es prinzipiell unmöglich, in der einen wie in der anderen Richtung auf halbem Wege stehenzubleiben. Doch es war nicht Hitlers persönliche Unbedingtheit allein. Verhandlungen in diesem Stadium des Krieges nach dem stets verlachten bürgerlich-diplomatischen Muster - darüber wird sich in der Führungsspitze mancher im klaren gewesen sein - würden selbst bei annehmbaren Resultaten fraglos das Ende einer Bewegung und eines Regimes bedeuten, die nichts mehr verabscheuten als den Komprorniß und vom Mythos heroischer Unerbittlichkeit lebten. Ein Einlenken hätte die Selbstentmachtung des Nationalsozialismus nur beschleunigt. Da Hitler weiterhin unangefochten an der Spitze stand, Staat und Streitkräften nach dem 20. Juli 1944 schärfer denn je diktierte, stand das rasch wachsende Lager der Kriegsmüden, Desillusionierten und Oppositionellen nach der Jahreswende 1944/45 vor der erschreckenden Erkenntnis, der Fortführung eines jetzt offenkundig sinnlos gewordenen und noch dazu auf eigenem Territorium auszufechtenden Kampfes beizuwohnen, eine "lenkende Energie am Werk" zu sehen, "die gleichsam bewirkte, daß das Reich nicht einfach endete, sondern unterging"96. Für Hitler und Goebbels, für Teile der SS und für ein dahinschmelzendes Häuflein von Funktionären der NSDAP trifft die Diagnose des "Katastrophenwillens" und der "Untergangsromantik"97 gewiß zu. Das gilt schon nicht mehr für die meisten anderen Figuren des engsten Führungszirkels (weder für die Göring, Himmler und Ribbentrop oder gar für einen Speer), und selbstverständlich trifft für alle Schichten der kriegsmüden deutschen Gesellschaft gerade das Gegenteil dieses Befundes zu, nämlich die Diagnose eines unbedingten Willens, dieses Regime und diesen Krieg zu überleben. Ende Januar, Anfang Februar 1945 war für jeden, der keinem realitätsblinden Wunder- und Führerglauben anhing, einsichtig geworden, daß Wehrmacht, Staat und Partei überhaupt kein plausibles Ziel mehr verfolgten, sondern nur noch die eigene Existenz zu verlängern trachteten, ein sinnloses und verbrecherisches "Vabanque-Spiel auf Kosten der eigenen Bevölkerung"98 betrieben. In den Augen dieser Bevölkerung war das nach einem Bericht der SD-Außenstelle Schweinfurt von April 1945 nichts anderes als "hinhaltender Widerstand bis zur Katastrophe", einer Katastrophe, "die unsere Führung aus naheliegenden Gründen möglichst weit noch hinausschieben möchte, da sie selbst dabei zu Grunde gehe"99. Angesichts derartiger Gewissenlosigkeit war die seit 1942/43 sich ständig erweiternde Kluft zwischen Volk und Führung im letzten Vierteljahr des Krieges schließlich unüberwindlich geworden. Nun, da keinerlei Möglichkeit mehr bestand, den wei96
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Ebenda, S. 988. Ebenda, S. 996 und S. 997. Manfred Messerschmidt, Die Wehnnacht in der Endphase. Realität und Perzeption, in: APuZ B 32/33 (1989), S. 38. Bericht der SD-Außenstelle Schweinfurt an die Hauptaußenstelle Würzburg v. 22.4. 1945; zit. nach lan Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 186.
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teren Kriegsverlauf noch nennenswert zu beeinflussen, traten in der Propaganda, aber auch bei Hitler und seiner Umgebung, bizarre Dogmen und Motive vollends in den Vordergrund. Sie fanden keinen wirklichen Adressaten mehr, sondern dienten vor allem der Autosuggestion einer Führung, die das Land in eine ausweglose Lage manövriert hatte. Eine Karte, auf die die deutsche Führung nicht ganz ohne Berechtigung zu setzen schien, war die gegen Kriegsende immer häufiger wiederholte Prophezeiung, die "unnatürliche Koalition" der beiden großen kapitalistischen Staaten mit der kommunistischen Sowjetunion werde über kurz oder lang an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen. Das war die eingestandenermaßen "letzte politische Kriegsthese" (Goebbels)100, an die sich eine deutsche Führung klammerte, die aus eigener Kraft nichts mehr zum Bruch der Anti-Hitler-Koalition beitragen konnte. Dies war nach dem Sommer 1944 aber kaum mehr als eine illusionäre Hoffnung, wie Hitler und seine Umgebung, die die strikten Forderungen und Erklärungen der Feindmächte genau kannten, geahnt haben müssen. Darauf die Fortführung des Kampfes zu gründen, bedeutete nach der geglückten Invasion der Alliierten nichts anderes, als Wunschdenken zur Grundlage der eigenen Entscheidung zu machen. Spätestens seit Frühjahr 1945 hatte sich überall im Volk die Überzeugung durchgesetzt, daß auch von den Konflikten innerhalb der gegnerischen Koalition kein Heil mehr zu erwarten war. Die Bevölkerung sehe keinen Ausweg mehr aus der gegenwärtigen Lage, hieß es Ende März in einem Stimmungsbericht aus Berlin: "Daß Kriegsmüdigkeit oder politische Gründe den Feind zum Aufgeben zwingen könnten, hält man allgemein für ausgeschlossen. Ein Volk, das eine gut begründete Aussicht auf den Sieg habe, gebe nicht auf, wenn es auch noch große Opfer bringen müsse. Und bis Deutschland am Boden läge, würde das Bündnis der Alliierten schon halten, soviel Konfliktstoffe auch zwischen den Feindmächten vorhanden wären."IOI Als die Alliierten den Rhein bereits auf breiter Front überschritten hatten, suggerierte man sich in der Spitze des Reiches gegenseitig nach wie vor den abwegigen Gedanken, es werde vielleicht doch noch zu einer wunderbaren politischen Wende kommen. Der "Führer" vertraue "unentwegt auf seinen guten Stern", hielt der Propagandaminister am 28. März 1945 in seinem Tagebuch fest. "Man hat manchmal den Eindruck, als lebte er in den Wolken. Aber er ist ja schon so oft wie ein Deus ex machina aus den Wolken herniedergestiegen. Er ist nach wie vor überzeugt, daß die politische Krise im Feindlager uns zu den größten Hoffnungen berechtigt."lo2 Noch wirklichkeitsfremder als die These vom Bruch des feindlichen Bündnisses waren bereits auf den ersten Blick zwei weitere ,,Argumente", die während der Schlußphase zur Rechtfertigung der Fortsetzung des Krieges herhalten mußten: zum einen die Behauptung, der Verlust des Krieges und der Sturz des Regimes sei gleich100
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Eintragung v. 5.3.1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 95. Dieses Thema nahm den ganzen März über breiten Raum ein. Die Eintragung v. 22.3. 1945 nach einem Gespräch mit Hitler lautete hierzu: "Die feindliche Koalition wird unter allen Umständen zerbrechen; es handelt sich nur darum, ob sie zerbricht, bevor wir an der Erde liegen, oder erst dann, wenn wir schon an der Erde liegen. Wir müssen also unter allen Umständen dafür sorgen, daß ein militärisches Desaster bis zu diesem Zeitpunkt vermieden wird."; ebenda, S. 289. ,,24. Bericht über den ,Sondereinsatz Bedin' für die Zeit vom 23.3.-29.3. 1945" der Amtsgruppe Wehrmachtspropaganda im OKW v. 31. 3. 1945; zit. nach Volker Berghahn, Meinungsforschung im "Dritten Reich". Die Mundpropaganda-Aktionen der Wehrmacht im letzten Kriegsjahr, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/1967, S. 114. Eintragung v. 28.3. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 361.
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bedeutend mit der Vernichtung des deutschen Volkes, zum anderen die primitive Parole, Glauben und Wille des einzelnen seien jetzt ebenso wie zur "Kampfzeit" Faktoren, von denen der Ausgang des Krieges vor allem abhänge. 103 Nicht anders als sein Propagandaminister in einer Flut von Artikeln, verstand es auch Hitler selbst, diese bei den Motive eindringlich und scheinbar plausibel miteinander zu verknüpfen. Es sei nur eine Frage, "wer es länger aushält", sagte er einem hohen Offizier beispielsweise zur Jahreswende 1944/45. "Derjenige muß es länger aushalten, bei dem alles auf dem Spiel steht. Bei uns steht alles auf dem Spiel. Wenn der andere eines Tages sagt: Jetzt haben wir es satt, passiert ihm nichts. Wenn Amerika sagt: Aus, Schluß, wir geben keine Jungens mehr für Europa, passiert nichts; New York bleibt New York, Chicago bleibt Chicago, Detroit bleibt Detroit, San Francisco bleibt San Francisco. Es ändert sich gar nichts. Wenn wir heute sagen würden: Wir haben es satt, wir hören auf dann hört Deutschland auf zu existieren."lo4 Offensichtlich war es Hitler im Eifer seiner Argumentation entgangen, daß die souveräne Stärke der Vereinigten Staaten und die verzweifelte Schwäche Deutschlands in diesem Stadium des Krieges kaum anschaulicher gegeneinandergehalten werden konnte. Die mit allerlei Vergleichen aus der Geschichte umkleidete These von der Kraft des Willens und die Beschwörung des Endes deutscher Existenz, die in internen Besprechungen bezeichnenderweise mit derselben Selbstverständlichkeit gebraucht wurden wie in der Propaganda und die den Vorzug hatten, einstweilen weder bewiesen noch widerlegt werden zu können, waren allzu gesucht und allzu offensichtlich aus der Verlegenheit geboren, keine näherliegenden Argumente präsentieren zu können, als daß solche luftigen Ausreden der Bevölkerung noch irgendwelche Impulse vermitteln konnten. Allein die von Goebbels weiterhin kräftig geschürte "Russenangst" war nach wie vor ein enormer psychologischer Faktor, obgleich auch eine Besetzung durch die Rote Armee von der Bevölkerung nicht mit dem Untergang des deutschen Volkes gleichgesetzt wurde. Prekär nahm sich die Lage 1945 vor allem für die Eliten des Regimes aus. Der alten Garde der Partei, aber auch manchem Soldaten, Beamten oder Wirtschaftsführer blieb jetzt wenig mehr, als sich verzweifelt an die Hoffnung zu klammern, "daß der Mann, dem sie alles verdankten, doch noch einen Ausweg finden werde"lo5. Nach dem Rhein-Übergang der Alliierten bestätigte Hitler während einer der zahlreichen Lagebesprechungen erstmals und eher beiseite Dritten gegenüber, daß er den Krieg verloren wußte 106 - angesichts der militärischen Entwicklung im Westen (die inzwischen auch nach Auffassung des wahrlich nicht zum Fatalismus neigenden Goebbels "in ein außerordentlich kritisches, fast tödlich erscheinendes Stadium hineingeraten"lo7 war) an sich keine überraschende Feststellung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, andererseits aber doch eine sensationelle Eröffnung für einen
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Vgl. beispielsweise: Fest, Hitler, S. 915 und S. 987. Herfried Münkler, Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg, Berlin 1985, S. 54f!. Besprechung Hitlers mit Generalmajor Thomale am 29.12.1944 im ,,Adlerhorst" bei Ziegenberg; zit. nach Kriegstagebuch des OKW, IV /2, S. 1647. Bullock, Hitler, S. 766. Das berichtete General der Flieger Kammhuber als Ohrenzeuge nach dem Krieg. Vgl. Walter Baum, Der Zusammenbruch der obersten deutschen Führung, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 10 (1960), S. 237. Eintragung v. 25.3. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 310.
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Mann, "der lieber Millionen Menschenleben opferte, als seine Niederlage zuzugeben"loB. Nicht einmal in engeren Führungszirkeln wurde dieses Eingeständnis vorerst freilich wirklich publik. Daß Hitler seine Sache verlorengegeben hatte, wurde den engsten Mitarbeitern erst klar, als der "Führer" am 22. April 1945 den erwähnten Nervenzusammenbruch erlitt. Zu dieser Zeit war Hitler, der keineswegs in einer "Scheinwelt" lebte und ebenso wie die Wehrmachtsführung genau wußte, "was die Stunde geschlagen hatte"I09, allerdings bereits seit drei, vier Wochen mit der Umsetzung seines "letzten Kriegsführungskonzepts, der Strategie des grandiosen Untergangs" 110, befaßt. Neben den ungerührt erteilten Befehlen zur Zerstörung lebensnotwendiger Industrie- und Versorgungsanlagen 111 stehen die theatralischen und lächerlichen Details des Versuchs, einen HeldenMythos zu kreieren, steht die Neigung, "außerhalb der Realität nach Zeichen und Hoffnungen zu suchen". Und seine Umgebung folgte ihm, wie es von Joachim Fest so eindringlich beschrieben wurde, "auch jetzt noch nahezu widerspruchslos in die immer durchsichtiger gewobenen Gespinste aus Selbsttäuschung, Wirklichkeitsverzerrung und Wahn". Dr. Ley sah in soeben erfundenen "Todesstrahlen" den Ausweg, Dr. Goebbels besorgte zwei günstige Horoskope, und als am 13. April die Nachricht von Roosevelts Tod in Berlin eintraf, kam im Bunker vierzehn Meter unter der Reichskanzlei Sektlaune auf, wurden kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal schiefe Parallelen zu den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts gezogen. Außerhalb des Führerbunkers erwartete niemand mehr ein zweites "Mirakel des Hauses Brandenburg". Reinhold Maier notierte an diesem Tage, "nichts, gar nichts" spreche dafür, daß sich die Geschichte wiederholen werde. 112 Im Landkreis Aalen schrieb ein Lehrer, der durchaus national dachte und sich darüber hinaus auch einige Versatzstücke der nationalsozialistischen Propaganda zu eigen gemacht hatte, am 16. April entmutigt in sein Tagebuch: "Präsident Roosevelt von U.s.A. ist plötzlich gestorben. Damit ist einer der größten und einflußreichsten Kriegstreiber vom Schauplatz des Krieges abgetreten. Leider ist unsere Niederlage schon so weit gediehen, daß dieser Todesfall kaum einen Einfluß auf den Krieg in Europa haben wird. Die Kriegsmaschine läuft auch in den U.s.A. auf vollen Touren und so nahe an ihrem Ziele wird wohl niemand ihr Einhalt tun können und wollen. Wir werden das ganze Leid und Elend, in das wir hineingezerrt worden sind, durchstehen und durchkosten müssen. Wer hätte das noch vor einem Jahrzehnt gedacht, als Hitler auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Macht stand."113 An diesem 16. April begann die Rote Armee mit zweieinhalb Millionen Mann und über 6000 Panzern ihre Offensive gegen Berlin, zwei Wochen später erschoß sich Hitler in seinem Bunker. Der "Führer" und Reichskanzler hatte seine Prophezeiung wahrgemacht. Es gab kein zweites 1918. Alle konnten mit eigenen Augen sehen, daß das deutsche Heer im Felde und noch dazu auf eigenem Boden besiegt worden war. 108 109
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Bullock, Hitler, S. 783. Messerschmidt, Wehnnacht in der Endphase, S. 45. Fest, Hitler, S.989. Die beiden folgenden Zitate S. 1000 und S. 994. Vgl. auch den Klassiker von Hugh Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, Frankfurt 1965. Vgl. VII. Maier, Ende und Wende, S. 209. "Kriegstagebuch 1945 u. ff." eines Gewerbeschulrats a.D. aus Hofen im Landkreis Aalen; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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Wie die übrigen Verantwortlichen, so hatte auch die hohe Generalität in der engsten Umgebung Hitlers, ein Keitel, Jodl oder Dönitz etwa, und im Westen Soldaten vom Schlage eines Model und Kesselring, nichts unternommen, um dem Untergangskurs ihres Führers entgegenzusteuern. Dabei wäre es von den objektiven Einflußmöglichkeiten her vor allem das hohe Offizierkorps gewesen, das dem "um fünf nach Zwölf" entfachten Blutbad unter dem eigenen Volk am ehesten hätte Einhalt gebieten können. Aber die Generalität, der nach dem Scheitern des 20. Juli das Rückgrat gebrochen war und gegen die Hitler einen elementaren Vernichtungshaß zu entfalten begann 11 \ fand insgesamt nicht mehr die Kraft zur mäßigenden Einwirkung. Gewöhnlicher Opportunismus, inhaltsleer gewordene Loyalität, das Wissen um die eigene Verstrickung in die deutschen Verbrechen, Angst vor dem Terror des Regimes und ein pervertierter Patriotismus, der dem Vaterland zu dienen meinte, aber nur der spätestens seit Anfang 1945 klar zutage liegenden Selbstzerstörungssucht Hitlers zuarbeitete, lähmten alle Initiative einer militärischen Führung, die sich inzwischen längst jedes eigenen militärischen Urteils begeben hatte. Als der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht dann zur Inszenierung seiner Untergangsstrategie schritt, fanden sich zwar einige Generäle, die resignierten, sich abberufen, auswechseln und beurlauben ließen, aber in den Arm fiel dem Diktator keiner mehr. Zehn Tage nach der Kapitulation fragte ein hoher amerikanischer Offizier der Army Air Force den Chef des Wehrmachtführungsstabes, weshalb die Deutschen nach dem Rheinübergang der Alliierten Ende März nicht die Konsequenzen gezogen hätten. Generaloberst Alfred Jodl wußte nach den Aufzeichnungen im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht darauf nur zu antworten: "Politisch war es nicht möglich. Krieg hatte ganz andere Formen als frühere Kriege angenommen. Für unsere Staatsführung blieb kein anderer Weg als bis zum letzten zu kämpfen."1l5 Unter den Truppenkommandeuren zeigte während der "apokalyptischen Phase"116 des letzten Vierteljahres des Krieges manch einer mehr Zivilcourage als seine Vorgesetzten. Auf heimischem Boden kämpfend, führte bei einer ganzen Reihe von Offizieren die erschütternde Erfahrung, daß die Bevölkerung in den eigenen Soldaten nunmehr die größte Bedrohung erblicken mußte, zu einer von Augenmaß und dem Bestreben nach größtmöglicher Schonung der Heimat bestimmten Operationsführung. Viele verantwortliche Truppenführer verstanden es, nun verantwortlich zu handeln, und taten wirklich "nur noch als ob", wie der Generalstabschef des OB West, Siegfried Westphal, nach dem Kriege schrieb. 117
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1"
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VgJ. die Äußerungen Hitlers gegenüber seinem Propagandaminister unmittelbar nach dem Attentat vom 20. juli 1944; Eintragung v. 23.7. 1944, Goebbels-Tagebücher 1944, HZ-Archiv, ED 172. Aufzeichnungen von Major i. G. joachim Schultz-Naumann über die Ausführungen des Generalobersten jodl bei den Lagebesprechungen 12.5.-20.5. 1945, Notiz v. 19.5. 1945; in: Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1506. Dieter Rebentisch, Hitlers Reichskanzlei zwischen Politik und Verwaltung, in: ders., Kar! Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986. VgJ. Siegfried Westphal, Erinnerungen, Mainz 1975, S. 333. Einer der ersten, der sich bereits im September 1944 nicht scheute, seine Division in diesem Sinne zu führen, war Generalleutnant Gerhard von Schwerin; er geriet deswegen zu Beginn der amerikanischen Besetzung Deutschlands in einen schweren Konflikt mit seinen Vorgesetzten. Ein abstoßendes Beispiel realitätsblinden Haltens und Durchhaltens, das noch im April 1945 zu sinnlosem Blutvergießen unter Soldaten und Zivilisten führte, lieferte das XIII. SS-Armeekorps unter Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon mit seiner Kampfführung in Nordwürttemberg und Mittelfranken. VgJ. VIII 1.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Die Wehrmacht Seit sich die Wehrmacht auf heimischem Territorium zum Kampf stellen mußte, hatte der nun schon fünf Jahre währende Krieg noch einmal sein Gesicht gewandelt und Soldaten wie Zivilbevölkerung in eine ganz neue Situation versetzt. Die Propaganda des Regimes beschwor sogleich das Volk als Quell eines neuen Kampfesmutes, die Vision eines engen Schulterschlusses von Volk und Armee, der beide Seiten beflügeln und jene Kraftreserven mobilisieren werde, vor denen eine materiell und zahlenmäßig zwar überlegene, letztlich aber "seelenlose" feindliche Kriegsmaschinerie am Ende kapitulieren müsse. Zusammengeschmiedet würden Bürger und Soldat auch durch die politischen Leiter der NSDAP, die Wesen und Ziel dieses Ringens deuten und zugleich Gelegenheit erhalten würden, im Angesicht unmittelbarer Bedrohung durch den Feind ihre politisch-moralische Führerschaft unter Beweis zu stellen. War in den vom Luftkrieg besonders betroffenen Regionen seit 1942/43 die Bedrohung des Soldaten und des Zivilisten bereits einander ähnlicher geworden, so wurde ab Herbst 1944 die Unterscheidung Heimat - Front nach und nach gegenstandslos. Wehrmacht, Partei, Bevölkerung saßen jetzt überall (wenigstens einige Tage lang) "im gleichen Boot"118. Es war zunächst ungewiß, ob diese Notstandskonstellation die deutschen Verteidiger lähmen oder beflügeln würde. Die Amerikaner taxierten, als sie den Westwall erreicht hatten 119, mit einigem Unbehagen die Möglichkeiten, die Hitler nun zur Verfügung stehen mochten, um den Invasoren in einer von Patriotismus und Furcht beflügelten Kraftanstrengung von Partei, Volk und Armee entgegenzutreten. Die Amerikaner erkannten freilich, daß dies nur die eine Seite war. Sie zogen von vornherein auch die düstere, für jedermann in Deutschland auf der Hand liegende Kehrseite der jetzt drohend bevorstehenden Verteidigung des Vaterlandes ins Kalkül. Den Krieg fortzusetzen und Deutschland nicht nur in fernen Ländern oder äußerstenfalls an den Landesgrenzen, sondern auf heimischem Boden zu "verteidigen", bedeutete, ungeheure Opfer und Verwüstungen in Kauf zu nehmen und die Heimat verteidigend zu zerstören. Es würde jetzt sehr auf die Art und Weise der "Wechselwirkung" zwischen Zivilbevölkerung und Armee ankommen, wie auch Hitler und Goebbels bewußt war 120 . Entscheidend bestimmt war dieses Verhältnis einerseits von der Verfassung, "der Moral" der Truppe, die auf heimisches Territorium zurückgekehrt war, und andererseits von "Stimmung und Haltung" einer Bevölkerung, die der Hauptleidtragende des Krieges im eigenen Lande sein würde. Es war klar, daß beides, die Moral der Soldaten wie die Haltung der Zivilisten, eng mit der Glaubwürdigkeit des Regimes und seiner Repräsentanten auf sämtlichen Ebenen, vor allem aber der "Bewährung" des mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Parteiapparates der NSDAP verknüpft war. Ständiger Bezugspunkt dabei war das Ende des Ersten Weltkrieges, als gemäß der 118
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Münkler, Machtzerfall, S. 9. Münkler versteht es, in subtiler Weise die während des Einmarsches der U.S. Army tausendfach ähnlich wiederkehrende Konstellation vor und nach der Besetzung eines Ortes zu beschreiben und sie in ihren wesentlichen, über lokale Besonderheiten hinausgehenden Grundzügen zu interpretieren. Vgl. I1!2. Vgl. die Eintragungen von Goebbels in seinem Tagebuch unter dem 28. 3.1945 und dem 31. 3.1945; in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 356 und S. 389.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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nach wie vor gültigen Lesart die unbesiegt im Felde stehende Armee von der Heimat, in der Bolschewismus und Defätismus die Oberhand gewonnen hatten, um die Fruchte des Sieges gebracht worden war. Die Wehrmacht hatte schon mehrere Kriegsjahre hinter sich, als sich in ihrem Gefüge die ersten ernstzunehmenden Anzeichen von "Defätismus" bemerkbar zu machen begannen. 121 Obwohl der Aderlaß an Gefallenen, besonders auch unter den jüngeren Frontoffizieren 122, längst nicht mehr auszugleichen war, obwohl die verlorenen Schlachten des Jahres 1943 und die schweren Niederlagen in Rußland und Frankreich im Sommer 1944 auch vom einfachen Soldaten als deprimierende Rückschläge empfunden wurden, und obgleich die materielle Überlegenheit der Gegner und die immer unzureichender werdende Ausstattung der eigenen Armee im fünften Kriegsjahr nicht mehr wegzudiskutieren waren, konnte von einer allgemeinen Desintegration der Wehrmacht auch im Herbst 1944 - als die Invasionsarmee der Alliierten am "Westwall" auftauchte - noch keine Rede sein. Ein Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht sprach im September nach dem Zusammenbruch der Armee in Frankreich zwar von ,,Auflösungserscheinungen der Truppe"123 im Westen, doch nach der Stabilisierung der Front im Grenzgebiet'24 wurden solche Erscheinungen wieder seltener. Bis Ende November, Anfang Dezember 1944 hatte die Masse der Soldaten des Westheeres nach den erstaunlichen Abwehrerfolgen dort wieder Mut geschöpft, machte sich bei ihnen, ähnlich wie bei einem Teil der Bevölkerung, eine "langsame Stärkung der Stimmung"125 bemerkbar. Die Hälfte der Wehrmachtssoldaten glaubte (nach amerikanischen Erhebungen unter den deutschen Kriegsgefangenen) zu diesem Zeitpunkt, es werde gelingen, die Alliierten wieder aus Frankreich zu vertreiben. Das war der höchste bei solchen Meinungsumfragen ermittelte Wert seit der Invasion. 50 Prozent glaubten nach eigenen Angaben noch an einen deutschen Sieg, und beinahe zwei Drittel der Landser bejahten gar die Frage, ob sie nach wie vor Vertrauen in den "Führer" hätten; sechs Wochen zuvor, nach dem Fall Aachens, hatten auf dieselbe Frage nur gut 40 Prozent eine zustimmende Antwort gegeben. 126 Einen Höchststand in der Moral der gleichwohl angeschlagenen deutschen Truppe registrierten die Amerikaner mit Beginn der Ardennen-Offensive I 27, bei der es nach den Worten von Generalfeldmarschall Rundstedt "ums Ganze" ging, ein ähnliches ,,Aufleuchten", das der
Die wohl eindringlichste Darstellung zur Situation insbesondere des Führerkorps der Wehrmacht in den letzten Kriegsmonaten bei Georg Meyer, Zur Situation der deutschen militärischen Führungsschicht im Vorfeld des westdeutschen Verteidigungsbeitrages 1945-1950/51, in: Roland G. Foerster, Christian Greiner, Georg Meyer, Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München 1982, S. 577 ff. 122 Hierzu Bernhard R. Kroener, Auf dem Weg zu einer "nationalsozialistischen Volksarmee". Die soziale Öffnung des Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg, in: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 673f. l2J Befehl des OKW v. 23.9. 1944; zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 42. 124 Vgl. I1/1. m So der Tenor in der Berichterstattung der Oberlandesgerichtspräsidenten von Anfang Dezember 1944; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 527. 126 Die Befragungsergebnisse bei M. I. Gurfein, MorrisJanowitz, Trends in Wehrmacht Morale, in: The Public Opinion Quarterly 10 (1946), S. 81. Beide Autoren waren führende Mitglieder der Psychological Warfare Division von SHAEF, Gurfein Chief of Intelligence dieser Division. Vgl. III/3. 127 "First-Hand Report on the German Soldier", zusammenfassende Analyse des Verhaltens der Wehrmachtsoldaten, in: 103rd Infantry Division, G-2 Periodic Report v. 23.4. 1945; NA, RG 407, Box 14545. 121
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
SD auch in der Bevölkerung zu beobachten meinte. [28 Zweifellos waren die meisten Soldaten subjektiv tatsächlich mit dem Bewußtsein in diesen Kampf gegangen, an einer Schlacht teilzunehmen, die den Ausgang des ganzen Krieges mitentscheiden konnte. Um so größer war dann die Ernüchterung, als die Offensive liegenblieb und im Januar 1945 der ursprüngliche Frontverlauf von den Alliierten in etwa wiederhergestellt war. Kriegsverlauf und Kriegsaussichten waren aber nur ein, und nicht einmal der wesentlichste Faktor, von dem die Kampfmoral der Wehrmachtsoldaten beeinflußt wurde. Wie bei anderen Streitkräften auch, hing der Kampfwert der Wehrmacht, so hatten Sozialforscher im Dienste des Alliierten Oberkommandos herausgefunden, in erster Linie vom Zusammenhalt in den Primärorganisationen der Armee, von der Kameradschaft in den Spähtrupps, Zügen und Kompanien ab[29 - stärker jedenfalls als von der Gesamtlage des Krieges oder gar von der Bindung an das Regime. Bis Jahresbeginn hatten sich in der inneren Struktur des Heeres offenbar noch nicht solche gravierenden Verschiebungen ergeben, existierten wohl eine gerade noch ausreichende Anzahl gewachsener, in vielen gemeinsam erlebten Gefechten "zusammengeschweißter" Einheiten, so daß es bis dahin noch nicht zu einem übermäßigen Verlust des Kampfwertes der Wehrmacht und einer offenen Desintegration kam. Ende Januar, Anfang Februar 1945 scheint dann aber der qualitative Sprung erfolgt zu sein, der die unaufhaltsame äußere und innere Auflösung der deutschen Streitkräfte binnen eines Vierteljahres einleitete. In den Ardennen waren viele der besten noch verfügbaren Regimenter und Bataillone vernichtet worden, durch die Mitte Januar beginnende überaus erfolgreiche sowjetische Großoffensive wurden noch einmal Hunderte von noch leidlich intakten deutschen Einheiten zertrümmert. Ab Februar 1945, als die Rote Armee ihre neue Front vor den Toren Berlins konsolidierte und im Westen Amerikaner und Briten ihre rasante Schlußoffensive starteten, hatten in der Wehrmacht gewachsene, über den notwendigen inneren Zusammenhalt verfügende Einheiten bereits Seltenheitswert. Befremdliche Konglomerate, zusammengewürfelte Haufen, in denen kein Kameradschaftsgeist und kein Kampfgeist mehr entstehen konnten und in denen sich nun die Atmosphäre des Rette-sich-wer-kann auszubreiten begann, bildeten nunmehr das schwächliche Rückgrat einer geschlagenen Armee, die keinem ernsten Ansturm mehr trotzen konnte. Diese Diagnose war vom einfachen Soldaten nicht schwerer zu treffen als von einem Generalfeldmarschall. Die Psychological Warfare Division erkannte die Verfassung der Wehrmacht Anfang Februar recht genau. "Eine Armee verfällt" überschrieb sie ihre Analyse für das Alliierte Oberkommando: "Ungeachtet der Effektivität militärischer Disziplin und der Gewalt von Zwang", schrieb PWD, "gibt es einen Punkt, an dem körperliche Strapazen und Versorgungsschwierigkeiten selbst das Verhalten des automatisch gehorsamen Soldaten zu beeinflussen beginnen. Vereinzelte Zusammenbrüche ausgenommen, ist die deutsche Armee im Westen in der Lage gewesen, für die persönlichen 118
129
SO-Bericht von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Der Tagesbefehl des Oberbefehlshabers West v. 16. 12. 1944 ist zitiert bei Steinert, Hitlers Krieg, S. 527. Grundlegend hier der Aufsatz von Edward A. Shils und Morris Janowitz, in dem die Autoren ihre Erfahrungen als Offiziere der Psychological Warfare Division von SHAEF verwertet haben: Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in the World War H, in: The Public Opinion Quarterly, Summer 1948, S.280ff.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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Bedürfnisse ihrer Männer leidlich zu sorgen. Aber man kann nicht umhin, bei Kriegsgefangenen den Eindruck zu gewinnen, daß die Mühsal ihrer Alltagsexistenz inzwischen ihre Entschlossenheit und ihren Korpsgeist ernstlich untergraben hat. Die Tatsachen sind wohlbekannt. Manch Kriegsgefangener klagt darüber, daß die Kameradschaft früherer Tage weithin aus der Wehrmacht verschwunden ist; jeder einzelne ist mittlerweile in erster Linie an seinem eigenen Überleben interessiert." Die Bindung der Soldaten zu ihren Vorgesetzten habe nachgelassen, erfuhren die Amerikaner, zudem häuften sich Fälle von Disziplinlosigkeit und Vergehen gegen das Militärstrafrecht, die immer härter geahndet würden. Es gebe außerdem einen mächtigen Trend unter den Landsern, endlich zu ihren Familien nach Hause zurückzukehren. Deswegen aber auf den bloßen Zerfall der Wehrmacht zu hoffen, so PWD zu den Offizieren einer Invasionsarmee, die im Linksrheinischen nach wie vor nicht recht vorankam, sei trotzdem nicht die richtige Strategie: "Eine Verschlechterung der Verhältnisse wird wohl nicht von selbst einen Zusammenbruch der Wehrmacht verursachen", fuhr Psychological Warfare fort: "Der Boden ist bereitet, aber allein militärische Schwierigkeiten, als Folge unseres Drucks, werden den Gnadenstoß geben." Eine Woche später ließ PWD ihren Beobachtungen eine weitere Analyse folgen: "Bis zum Scheitern der Ardennen-Offensive", hieß es darin, "wurde die Ansicht, daß die Nazis den Krieg um ihres eigenen Lebens willen fortsetzten, nur von der Minderheit überzeugter Anti-Nazis vertreten." Eine nationalistische Einstellung, das vollkommene Fehlen des Bewußtseins, an diesem Krieg schuld zu sein, und der Glaube daran, daß ein Sieg errungen werden müsse, wenn der einzelne Deutsche irgendwelche wirtschaftliche oder politische Sicherheit gewinnen solle, habe die Distanz zur Führung nicht allzu groß werden lassen. Im Laufe des Januar 1945 habe aber die Ansicht an Boden gewonnen, die Nationalsozialisten kämpften nur noch, um ihr eigenes Leben zu retten - "nicht zum Wohle Deutschlands, sondern zur Rettung der Nazis"IJo. Der doppelte Schock des militärischen Scheiterns im Westen und des Verlustes von Ostdeutschland an die Rote Armee verschärfte Ende Januar, Anfang Februar das Krisenbewußtsein in der Bevölkerung und bei den Soldaten dramatisch. Auch die Schwäche des Heeres - die Luftwaffe war seit langem abgeschrieben - lag nun vor aller Augen. Die Chancen, doch noch einen glimpflichen Ausgang des Krieges zu erkämpfen, waren angesichts der offenkundigen Überlegenheit der gegnerischen Koalition jetzt auch im Kalkül der Soldaten von einer Woche zur anderen rapide gesunken. Nach diesen neuerlichen verheerenden Rückschlägen waren die "psychologischen Reserven Deutschlands erschöpft"131; wer die bevorstehende Niederlage nun noch immer nicht wahrhaben wollte, dem blieb kaum ein anderer Ausweg als die Flucht ins Wunschdenken, in illusionäre Vorstellungen und irrationale Hoffnungen. Der größte Teil der Wehrmachtssoldaten war dazu nicht mehr bereit. Die Befragungen deutscher Kriegsgefangener durch die Psychological Warfare Division weisen aus, daß das entscheidende Absacken der Kampfmoral und des Vertrauens in die Führung in der Endphase des Krieges bei den Soldaten im Westen zwischen Mitte Januar und Anfang März 1945 erfolgte, als der Feind der Wehrmacht im Osten wie im Westen schwerste Schläge zugefügt, Rhein und Oder aber noch nicht auf breiter Front über00
131
SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary for Psychologieal Warfare Nr. 19 v. 3. 2.1945 und Nr. 20 v. 10.2. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Exeeutive Seetion, Deeimal File 1944-45, Entry 87. Gurfein, Janowitz, Wehrmacht Morale, S. 82.
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schritten hatte. Einen Endkampf im Innern des Reiches hielten offenbar die wenigsten für militärisch gerechtfertigt und politisch vertretbar. Bereits Anfang März 1945, als die Vernichtung der Masse des Westheeres rechts des Rheins erst noch bevorstand, bekundeten nur noch 31 Prozent der Befragten Vertrauen in den "Führer" (Anfang Januar: 62 Prozent), 83 Prozent (gegenüber 47 Prozent im Januar und 30 Prozent Ende November 1944) hatten inzwischen die Hoffnung begraben, die Alliierten wieder aus Frankreich bzw. aus Westdeutschland hinauswerfen zu können. Vor der Ardennen-Offensive, Ende November 1944, hatten noch 50 Prozent der befragten Soldaten an einen deutschen Sieg geglaubt, in der ersten Januarhälfte noch immer 44 Prozent; Anfang März 1945 besaßen diesen Glauben nur noch 11 Prozent. Ende März lagen diese Quoten noch niedriger. 132 Offenbar war eine Mehrheit der Soldaten, die seit mindestens zwei Jahren nur Rückschläge und Niederlagen erlebt hatten, erst dann nicht mehr bereit, den Kampf wie gewohnt fortzusetzen, als er nach menschlichem Ermessen endgültig aussichtslos geworden und deshalb gerade auch nach den Maßstäben des soldatischen Ethos nicht länger zu rechtfertigen war. Die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches hatte solche Maßstäbe freilich längst über Bord geworfen. Als sich die Rückschläge an den Fronten ab 1943/44 zu häufen begannen, unternahm die deutsche Führung alle Anstrengungen, der bedrohlicher werdenden Lage durch zahlreiche "Maßnahmen zur inneren Stabilisierung der Wehrmacht" Herr zu werden. Dieses "Krisenmanagement größten Stils" (Messerschmidt), das nun als Gegensteuerung zur beginnenden Erosion der Streitkräfte vorgenommen wurde, offenbarte besonders seit dem Herbst 1944, wie unverantwortlich weit sich die Verantwortlichen an der Spitze des Reiches inzwischen auch hier von allen gültigen Maßstäben einer ruhigen Lageanalyse und eines zivilisierten Umgangs mit den Menschen entfernt hatten, Eigenschaften und Werten, mit denen die Funktionsfähigkeit gerade einer modernen Massenarmee stand und fiel. Verstärkte Indoktrination und verschärfter Terror hießen die beiden Pfeiler, die die angeschlagene Armee stützen sollten. Als eigenes Instrument, um in der Wehrmacht endlich "ein Höchstmaß an nationalsozialistischer Erziehung und Festigkeit" zu erreichen 133, wurde um die Jahreswende 1943/44, als sich bei den Fällen von Fahnenflucht eine steigende Tendenz zeigte, von Hitler der Nationalsozialistische Führungsoffizier (NSFO) ins Leben gerufen und von der Führungsspitze der Wehrmacht bis hinab zur Divisionsebene installiertY4 Naturgemäß läßt sich über die Wirksamkeit der NSFO-Propaganda auf die Truppe wenig sagen, doch war allen Soldaten klar, daß die Schaffung eines Kommissarsystems nicht nur einen weiteren Schritt in Richtung auf eine "nationalsozialistische Revolutionsarmee" (Besson) und eine bedrohliche Verschärfung des ideologilJl
IJJ
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SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary for Psychologieal Warfare Nr. 29 v. 16.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Exeeutive Seetion, Deeimal Files 1944-45, Entry 87. Die Zahlen für Ende März 1945, die auf der Basis einer Befragung von 485 Kriegsgefangenen ermittelt waren, lauteten: Vertrauen in den Führer - 21 Prozent ,Ja", 72 Prozent "Nein"; deutscher Sieg - 7 Prozent ,Ja", 89 Prozent "Nein". Waldemar Besson, Zur Geschichte des Nationalsozialistischen Führungsoffiziers (NSFO), in: VfZ 9 (1961), S. 78. Das folgende Zitat ebenda, S. 82. Zur Installierung des NSFO vgl.: Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 441 ff. Arne W. G. Zoepf, Wehrmacht zwischen Ideologie und Tradition. Der NS-Führungsoffizier irn Zweiten Weltkrieg, Frankfurt 1988, S. 81 ff. Bemerkungen über die Wirksamkeit der NSFO-Propaganda macht Joachim Bruckner, Kriegsende in Bayern 1945. Der Wehrkreis VII und die Kämpfe zwischen Donau und Alpen, Freiburg 1987, S. 31 f.
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sehen Konfonnitätsdruckes bedeutete, sondern daß damit auch ein eigenes Spitzelsystem installiert war, das in Kombination mit der stetigen Verschärfung des "Durchhalte-Terrors"135 in der Erschöpfungskrise der Armee für jeden einzelnen Wehrmachtsangehörigen eine gefährliche Bedrohung war. Bereits in der ersten Besprechung mit dem neu ernannten Chef des NS-Führungsstabes beim OKW hatte Hitler gesagt, er halte "eine langsame Durchsetzung der ganzen Wehrmacht mit dem nationalsozialistischen Gedankengut für das Wichtigste, was es überhaupt gibt". Es müsse von vornherein klargestellt werden, "daß jedes Kritisieren und Nörgeln an Anordnungen, die auf weltanschaulichem Gebiet ergehen, genauso geahndet wird wie das Kritisieren an taktischen oder sonstigen militärischen Dingen, daß das den betreffenden Offizier Stellung und Kragen kostet"136. Unterlagen des NSFO-Stabes bei der Anfang April 1945 dann im "Ruhrkessel" eingeschlossenen und vernichteten Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall Model geben einen Einblick in das hohe Selbstverständnis und die recht parterre Kleinarbeit der NS-Führungsoffiziere zu einer Zeit, als die Krise der Streitkräfte im Westen auf dem Höhepunkt war. Nationalsozialistische Führung bedeute "in diesem Augenblick", schrieb der NSFO Models Mitte Februar, "den Dingen in ihrer entscheidenden Brutalität hart und fest ins Auge sehen ... Wir politischen Offiziere sind Führer in diesem Weltanschauungskampf. Wir tragen dabei höchste Verantwortung vor der deutschen Geschichte und werden nur dann bestehen können und dem deutschen Volk den Sieg erringen, wenn wir den fanatisierten Horden des Bolschewismus unseren eigenen Fanatismus und eine in Schwung und Tatkraft der nationalsozialistischen Idee kämpfende Truppe gegenüberstellen. Fanatisieren ist die Parole." Das müsse nicht nur gegenüber den "Bolschewisten" geschehen, sondern auch gegenüber den Engländern und Amerikanern: "Die Angloamerikaner geben durch ihre Angriffe dem Bolschewisten erst die Möglichkeit zu solchen Greueltaten und sind somit genauso dafür verantwortlich. Fanatischer Haß gegen alle unsere Feinde, auch gegen die scheinheiligen Menschheitsbeglücker aus dem Westen, muß in jedem deutschen Soldaten emporschlagen und ihn zum Kampf bis zum Äußersten entflammen!"137 Zur Entflarnmung des Landsers waren sattsam bekannte Losungen wie "Sieg oder Sibirien!", "Mit dem Führer durch dick und dünn!" oder "Glaube und Wille machen uns unüberwindlich!" vorgesehen. Die praktischen Mittel zur Vermittlung der Botschaften der Führung standen nicht selten in skurrilem Gegensatz zum tönenden Inhalt der Propaganda. Anweisungen des NS-Führungsoffiziers der Heeresgruppe B zur moralischen Aktivierung des rückwärtigen Frontgebietes zeigen nicht nur die naive Gläubigkeit und die Karl-May-Mentalität des Verfassers, sie scheinen trotz der theoretisch weitreichenden Rechte doch auch eine gewisse Armseligkeit seines tatsächlichen Status inmitten "richtiger" Soldaten und innerhalb der Stabsstrukturen zu verraten.
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So Wolfram Wette, Durchhalte-Terror in der Schlußphase des Krieges. Das Beispiel der Erschießungen in Waldkirch am 10./11. April 1945, in: Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette (Hrsg.), Wer zurückweicht wird erschossen. Kriegsalltag und Kriegsende in Südwestdeutschland 1944/45, Freiburg 1985, S. 70. Protokoll der Besprechung Hitlers mit General Reinecke am 7.1. 1944 in Anwesenheit u.a. von Keite!, Schmundt und Scherff, abgedruckt in der Dokumentation von Gerhard L. Weinberg, Adolf Hitler und der NS-Führungsoffizier (NSFO), in: VfZ 12 (1964), S. 443fl. Zitate S. 454 und S. 448. Oberkommando der Heeresgruppe B, NS-Führung, Hinweis für die NS-Führung Nr. 3/45 v. 11. 2. 1945; BAIMA, RH 19 IX/47. Hervorhebung von mir.
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"Das 6. Kriegsjahr stellt die strenge Forderung an uns, Aktivisten und Propagandisten zu sein", heißt es in der Instruktion. l3B "Hier muß der Hebel einsetzen! Auf diesem Gebiet ist bisher noch gar nichts geschehen." Überall müßten jetzt Flugblätter verteilt, Plakate geklebt und Parolen angebracht werden. "Wenn dem Landser immer wieder, wo er auch hinkommt, die politischen Schlagzeilen unserer Flugblätter in die Augen springen, dann bekommt er jedesmal einen Rippenstoß, auch wenn er vor Kälte im Schnee herumtrampelt. Es ist nicht anders, wie in der Kampfzeit der Bewegung. Auch damals hatten wir nichts als unseren Glauben." Dann folgten die praktischen Ratschläge: "Mit Improvisieren haben wir den Ost-Winter 41/42 überdauert und - gewonnen. Es gibt viele Parteigenossen unter den Männern, die genügend Erfahrungen aus der harten, aber schönen Kampfzeit der Bewegung dazu mitbringen. Man kann eine Parole an die Wand malen. Schön säuberlich und gerade mit Kalk oder Farbe, wo diese Rohprodukte und ein Maler da sind. (Kalk findet sich in den zerstörten Ortschaften mehr als man glaubt. Nachsehen.) Man kann aber auch einen Mauerbrocken oder einen Ziegelstein nehmen und damit Buchstaben zeichnen. Es liegt ja genug Schutt herum. Leider. Man kann die Buchstaben aus Zeitungspapier ausschneiden und an die Wand frieren lassen. Es geht, es ist erprobt. Nicht erst Papier und Tusche anfordern, diese Dinge haben wir nicht. Keine großen ,Bauvorhaben'. Improvisieren. Lesen muß man es können, auf Schönheit kommt es nicht an. Man kann an schrägen Hängen Parolen in den Schnee malen. Bis zum nächsten Neuschnee hält das." Mancher Landser mag diese Art Indoktrination belächelt haben, lustig machen konnte er sich darüber nur unter Lebensgefahr. Die deutsche Wehrmachtsjustiz, in deren Wirken ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Zielsetzungen des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam, war vom ersten Kriegstage an ein "potentiell allgegenwärtiges Straf- und Disziplinierungsinstrument"139 gewesen. Bereits bis Mitte 1944 waren wohl mehr als 25.000 Todesurteile gegen Soldaten und Wehrmachtsbeamte ergangen, vor allem wegen "Fahnenflucht" und "Zersetzung der Wehrkraft". Die ordentliche Militärgerichtsbarkeit, deren angebliches Versagen im Ersten Weltkrieg von Hitler immer in direktem Zusammenhang mit der Niederlage von 1918 gesehen wurde, erfüllte damit in zunehmender Ideologisierung neben ihrer genuinen Aufgabe "der Absicherung der Funktionstüchtigkeit der Streitkräfte ebenso die Absicherung des Nationalsozialismus" 140. Ein Kennzeichen der Pervertierung dieser Institution war dabei, daß es nach und nach Übung geworden war, beispielsweise auch Erschöpfungserscheinungen drako138
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Oberkommando Heeresgruppe B, NSFO, Anweisung v. 18. 1. 1945: ,,Aktivierung der NS-Führung und der propagandistischen Arbeit"; BA/MA, RH 19 lX/47. Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Die Wehrmacht justiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987, S. 50. Die Zahlenangaben ebenda, S. 77ff. Siehe auch Manfred Messerschmidt, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Jochen Vogel, Helmut Simon, Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Andern. Festschrift für Martin Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 111 ff. Auch zum folgenden. Nach den Richtlinien des Chef NSFO der Luftwaffe v. 1. 11. 1944 war der Tatbestand der Wehrkraftzersetzung mit jeder Äußerung erfüllt, "die geeignet ist, mutlos zu machen", und zwar unabhängig davon, ob eine "zersetzende Wirkung tatsächlich eingetreten ist", und auch dann, wenn sie lediglich einer einzigen Person gegenüber gemacht wurde. Vgl. Das Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, bearb. v. Rudolf Absolon, Kornelimünster 1958, S. 90ff. Messerschmidt, Wüllner, Wehrmacht justiz, S.305. Die genannten Zahlen für 1945 eben da, S.79 und S.86. Die folgende Kennzeichnung bei Messerschmidt, Militärgerichtsbarkeit, in: Vogel, Simon, Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Andern, S. 117.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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nisch zu ahnden. Seit Herbst 1944, als die Truppen der feindlichen Koalition Reichsgebiet betreten hatten, fand sich dazu besonders reichlich Gelegenheit. Der justitielle Durchhalteterror nahm jetzt noch einmal in ungeahnter Weise an Intensität zu. Nicht allein die Standgerichte arbeiteten nun auf Hochtouren. Was in den letzten vier Kriegsmonaten hinzutrat, war eine durch keinerlei Justizförmigkeit mehr gedämpfte brachiale Vernichtungswillkür, und zwar nicht nur in der SS, sondern auch innerhalb der regulären Truppe. Man schätzt die Zahl der Todesurteile der ordentlichen Militärgerichtsbarkeit zwischen Januar und Mai 1945 auf ungefähr 4000, die viel schwerer zu ermittelnde Ziffer von Todesurteilen, die von Standgerichten ausgesprochen wurden, lag im gleichen Zeitraum wahrscheinlich bei 6000-7000. Wieviel abgekämpfte Soldaten - es könnten ebenfalls Tausende gewesen sein - 1945 auf dem Höhepunkt der Erschöpfungskrise der Wehrmacht von ihren Kameraden oder SS-Kommandos kurzen Prozesses, d. h. "auf der Stelle" niedergestreckt worden sind, wird immer unbekannt bleiben. Vielleicht sind dem Durchhalteterror seit Januar 1945, als die totale Niederlage definitiv besiegelt war und sich die Desintegration der Wehrmacht in unerhörtem Maße beschleunigte, noch einmal annähernd halb so viele Soldaten zum Opfer gefallen wie in den fünf Kriegsjahren zuvor. Da die Führung nicht im Stande gewesen war, den Krieg vom Territorium des Reiches fernzuhalten, mußte sie ihn nun im eigenen Lande führen. Gerade umgekehrt wie es die Propaganda suggerierte und die Angreifer es fürchteten, entstand aus dieser Situation eben kein zusätzlicher Motivationsschub bei den Soldaten. Die seit Herbst 1944 vorgenommene barbarische Verschärfung von Strafbestimmungen und Strafpraxis, mit der die Führung die eigene Armee nun in Schach zu halten versuchte, beweist, daß Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht den Zustand ihrer ausgebrannten Truppe sehr realistisch beurteilten. Im Effekt förderten die sich nun überschlagenden drakonischen Befehle die Disziplin und "Manneszucht" nicht nur nicht, sondern sie beschleunigten die Entsolidarisierung in einer Armee nur noch, deren Desintegration seit Januar 1945 immer offener zutage trat. Diese Art von Barbarei gegen die eigene Truppe, die schlecht zu dem Propagandabild von der "Unerschütterlichkeit" des deutschen Soldaten paßte und die von einer Vielzahl von Kommandeuren bis zum Schluß bereitwillig mitvollzogen wurde, war auch deshalb genau das verkehrte Mittel zur Stabilisierung der Streitkräfte, weil sie der Berechenbarkeit der Maßnahmen der Vorgesetzten und damit dem noch verbliebenen Vertrauen in die Führung weiteren Boden entzog, der Rechtsunsicherheit und schließlich der reinen Willkür Tür und Tor noch weiter aufstieß. In diesem Dschungel von politischem Faustrecht, persönlicher Revanche und gefährlicher Bezichtigung - in der Auswirkung letztlich beinahe ein rechtsleerer Raum - konnte, selbst wenn der Feind keinen einzigen Schuß abgab, kein Soldat das Gefühl haben, seines Lebens noch sicher zu sein. Der Furor der Endphase schwächte die Streitkräfte nicht nur, weil er dem ausgebluteten Heer durch Peloton und unmittelbaren "Schußwaffengebrauch" zusätzlich noch Tausende von Soldaten entzog. Diese ideologisierte Raserei, die allen Maßstäben verantwortlichen Soldatenturns spottete, heizte die Atmosphäre noch an, in der kein Gedanke besser keimen konnte als der Wunsch, "endlich Schluß zu machen". Man muß die zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 ergangenen Richtlinien, Befehle und Verordnungen Punkt um Punkt aufzählen, um sich das Maß an Brutalität und Hilflosigkeit eines Regimes vor Augen zu führen, dessen Perspektiven sich 1945
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
auf die beiden Dogmen Hitlers "Kein zweites 1918" und "Kampf bis fünf nach Zwölf" verengt hatten. Als die zerschlagenen deutschen Verbände nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte in der Sowjetunion im Sommer 1944 über die ostpreußische Grenze zurückfluteten, befahl Hitler in einem "Führerbefehl", mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß diese "unverzüglich wieder die Formen militärischer Ordnung annehmen, die das deutsche Volk von seiner Wehrmacht erwartet"141. Wenige Wochen danach strömte die nicht weniger mitgenommene Frankreich-Armee über die "Siegfried-Linie" zurück, und die Kämpfe am Westwall und um Aachen begannen. 142 Am 16. September 1944 gab das OKW den Hitler-Befehl heraus, jeder Häuserblock und jedes Dorf müsse zur Festung und in fanatischer Kampfführung verteidigt werden. Jeder, der sich daran nicht unter vollem Einsatz seines Lebens beteilige, sei zu "beseitigen". Eine Woche später wurde Gerichtsherren und Standgerichtsherren das Recht eingeräumt, Todesurteile dann unmittelbar zu bestätigen, wenn "die sofortige Vollstreckung der Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Manneszucht und aus Gründen der Abschreckung geboten" sei. 143 Mitte November 1944 (Aachen war gefallen, die Vorbereitungen für die Ardennen-Offensive liefen auf Hochtouren) ordnete das Oberkommando der Wehrmacht auf Weisung Hitlers "Maßnahmen gegen Überläufer" an. Einige ehrlose Elemente seien zum Feind übergelaufen, um "ihr armseliges Leben in Sicherheit zu bringen". Das Volk verach te solche "eidbrüchigen Lumpen" und erwarte, daß "rücksichtslos gegen sie und ihre Sippe vorgegangen" werde. Deshalb sei auf Überläufer "das Feuer sofort aus allen Waffen" zu eröffnen. "Die Sippe rechtskräftig zum Tode verurteilter Überläufer", so der Befehl weiter, "haftet für das Verbrechen der Verurteilten mit Vermögen, Freiheit oder Leben. Den Umfang der Sippenhaftung im Einzelfalle bestimmt der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei. Hierzu sind die Vorgänge dem Reichssicherheitshauptamt unmittelbar zuzuleiten."144 Die 79. Volks-Grenadier-Division, bei der in den beiden ersten Januarwochen 53 Mann übergelaufen waren, ließ sich die Belehrung über diesen Befehl durch ,,Abverlangung der Unterschrift jedes einzelnen Mannes" bestätigen. 145 Ende Januar 1945, als der Wehrmacht definitiv das Rückgrat gebrochen war, wurden ihren erschöpften Soldaten die Daumenschrauben des Durchhalteterrors ein Stück weiter festgezogen. Jetzt ließ das OKW die bekannten "Bestimmungen über das Verhalten von Offizier und Mann in Krisenzeiten" hinausgehen, in denen Führer und Unterführer, die "mit äußerster Härte" durchzugreifen hatten, unter anderem verpflichtet wurden, "von der Waffe Gebrauch zu machen, wenn die Lage oder die Manneszucht nicht anders wieder hergestellt werden kann". Bei den Standgerichten wurde das Bestätigungsrecht bei Todesurteilen noch weiter nach unten verlegt; jetzt konnten sie sogar bei Offizieren von jedem Regimentskommandeur bestätigt werden. 146 An-
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Befehl Hitlers v. 10.8. 1944; zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 42. Vgl. 11/1. Befehl Hitlers v. 16.9. 1944 und OKW-Befehl v. 23.9. 1944; beide zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 43 und S. 42. OKW-Befehl v. 19.11. 1944, in: Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg, S. 97f. Meldung der 79. Volksgrenadierdivision an das LXXXV. Armeekorps v. 16. 1. 1945; BAIMA, RH 26-79/97. Vgl. auch die schriftliche Meldung des Volksgrenadierregiments 226 "Erfahrungen der letzten Kämpfe" v. 30. 12. 1944; ebenda, RH 26-79/98. Befehl des OKW v. 28. 1. 1945, in: Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 93ft. Vgl. auch Messerschmidt, Wüllner, Wehrmacht justiz, S. 307.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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fang Februar sollte nach einer Anweisung des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht nun auch "die Sippe" von Wehrmachtsangehörigen zur Verantwortung gezogen werden, die nach dem 15. Dezember 1944 - also nach Beginn der für kriegsentscheidend erklärten Ardennen-Offensive - in Kriegsgefangenschaft "Landesverrat" begangen hatten. Die Konsequenzen im einzelnen bestimmte wiederum Himmler. 147 Der Reichsführer-SS, Innenminister und Befehlshaber des Ersatzheeres war es auch, der um dieselbe Zeit die Gerichtsbarkeit hinter der Front faktisch ganz aufhob und die Jagd auf jeden Soldaten freigab, der nicht sofort und genauestens nachweisen konnte, daß er sich nicht eigenmächtig von der Truppe entfernt hatte. Er hatte nämlich den Höheren SS- und Polizeiführern befohlen, "durch dauernde Kontrolle und schärfstes Zupacken alle Versprengten und allenfalls Deserteure zu erfassen, sowie Plünderer und Deserteure auf der Stelle zu erschießen."148 Nach dem Debakel bei Remagen 149 folgten weitere Verschärfungen. Ein "Führerbefehl" bestimmte lapidar: "Wer in Gefangenschaft gerät, ohne verwundet zu sein oder nachweislich bis zum äußersten gekämpft zu haben, hat seine Ehre verwirkt. Die Gemeinschaft der anständigen und tapferen Soldaten stößt ihn von sich. Seine Angehörigen haften für ihn."150 Da mit dem Zusammenbruch des Widerstands links des Rheins das "Versprengten"-Problem erneut zunahm, wurde hier sofort auch von der Wehrmacht ein scharfer Pflock eingerammt. In Umsetzung eines ähnlichen Befehls der Heeresgruppe Nord, wo im Februar binnen einer Woche 58 standrechtliche Erschießungen vorgenommen worden waren, galt auf Anordnung des Oberbefehlshabers West, daß alle Soldaten, die ab dem 15. März "abseits ihrer Einheit auf Straßen, in Ortschaften, Ziviltrecks, auf Verbandsplätzen ohne verwundet oder abkommandiert zu sein, angetroffen werden und angeben, Versprengte zu sein und ihre Einheit zu suchen, standrechtlich abzuurteilen und zu erschießen" seien. l51 Am 9. März war per "Führererlaß" ein "Fliegendes Standgericht" geschaffen worden, das sogleich zusammentrat. Es unterstand Hitler unmittelbar, erhielt von ihm seine Aufträge, war für Angehörige aller Wehrmachtsteile und der Waffen-SS ohne Unterschied des Ranges zuständig, hatte uneingeschränktes Bestätigungsrecht und traf auch die Vollstreckungsentscheidung l52 ; das Gnadenrecht entfiel. Seine ersten Opfer waren, wie der Wehrmachtsbericht unter namentlicher Nennung der Delinquenten bekanntgab 1B , fünf Offiziere, die für die Nichtsprengung der Rheinbrücke bei Remagen verantwortlich gemacht wurden. Dönitz ordnete für die Marine im März ebenfalls eine "Sofortjustiz" an. 154 Nach dem Desaster rechts des Rheins schritt die Suspendierung selbst rechtsförmiger Verfahren weiter voran. Generalfeldmarschall Model befahl: "Gegen Zersetzungs147 148
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Erlaß des OKW v. 5.2.1945, in: Wehnnachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 98ff. Weitergabe dieses Befehls durch den HSSPF Südwest an die unterstellten Befehlshaber und Kommandeure durch Schreiben v. 19.2.1945; BA/MA, RH 20-19/196. Hervorhebung von mir. Vgl. IV/2. "Führerbefehl" v. 7.3.1945, in: Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 100. Zitat nach dem Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 8. 3. 1945; BA/MA, RH 20-19/196. Bereits am 10. 10. 1944 hatte das OKW durch seine sechste Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung die Spanne, in der sich ein von der Truppe abgekommener Soldat zurückzumelden hatte, von drei Tagen auf 24 Stunden verkürzt; vgl. Wehnnachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 62. "Führererlaß" v. 9. 3. 1945, in: ebenda, S. 221 f. Wehrmachtsbericht v. 18.3. 1945. Vgl. Messerschmidt, Wüllner, Wehrmacht justiz, S. 86.
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und Sabotagehandlungen auf dem Gefechtsfeld ohne Unterschied, ob der Täter Soldat oder Zivilist ist, ist mit der Waffe einzuschreiten." Wo es die Kampfhandlungen nicht zuließen, war bei der Bestrafung von Soldaten nicht einmal mehr ein Standgericht einzuschalten. 155 Auch die Aufpasser befanden sich jetzt, wenn sie nicht scharf genug aufpaßten, unter ständiger Todesdrohung. Generalfeldmarschall Kesselring, dem gemeldet worden war, daß manche "Ordnungsorgane" nicht mit der befohlenen Härte gegen "Versprengte und Drückeberger" vorgegangen waren, "verlangte" am Tag, als sich General Patton zur Überschreitung des Rheins anschickte, "daß jedes Versagen von Ordnungsorganen jeden Dienstgrades sofort an Ort und Stelle standgerichtlich geahndet wird"156. Ins Uferlose ausgedehnt wurde die Bedrohung jedes einzelnen Soldaten mit der zur selben Zeit bekanntgemachten Bestimmung "zur Abschreckung der Schwachen und Lauen", nach der jeder, der es unterlasse sofort auf Überläufer zu schießen, "gleichfalls erschossen"157 werden sollte. Von Mitte April 1945 schließlich seien zwei letzte wahnwitzige Befehle erwähnt. Der erste stammte vom Oberkommando der 19. Armee, die in Südwestdeutschland gegen die Verbände General de Lattres kämpfte. In kabarettreifer Diktion bestimmte die Anordnung: "Gegen Soldaten, die ohne Waffen und ohne Grund aufgefangen werden, ist mit schärfsten Mitteln - Todesstrafe - einzuschreiten"158; Hitler befahl zwei Wochen vor seinem Selbstmord in seinem berühmten "Aufruf an die Soldaten an der Ostfront" vom 15. April 1945: "Wer euch Befehle zum Rückzug gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofort festzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzulegen."159
Daß der deutsche Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht wie ein Räuberhauptmann von "umlegen" sprach, symbolisiert, wie komplett sich antizivilisatorische Hemmungslosigkeit und brutalste Vernichtungsideologie durchgesetzt hatten. Es zeigt den vollständigen Bankrott abendländischen Rechtsdenkens in dem in Kriegszeiten wichtigsten staatlichen Machtinstrument. Allein die Wortwahl Hitlers wirft daneben schon ein Licht darauf, daß das innere Gefüge der ausgelaugten Armee, das wenigstens ein Minimum an Berechenbarkeit zu garantieren hat, schon mindestens ein Vierteljahr vor Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde vollständig kollabiert war. Gerade in dem Augenblick, als es politisch und militärisch keinerlei Sinn mehr hatte, wurde die Nötigung zur Selbstaufopferung am stärksten, und zwar zu einer Selbstaufopferung, die von jedermann sofort und unmittelbar als sinnlos erkannt werden konnte. Dadurch wurde die seit Mitte 1944 "wachsende Diskrepanz zwischen Soldaten und militärischer Führung"160 1945 zur unüberwindlichen Kluft. Allenfalls noch bei jüngeren, im HJ-Geist Aufgewachsenen genoß diese weiterhin ein gewisses Maß an Vertrauen, nicht mehr jedoch bei der Masse der erfahrenen Soldaten, die ge'55 Befehl des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe B; zit. nach dem Befehl der 353. Infanteriedivision v. 20.3. 1945; BA/MA, 353. 1.0., Nr. 77607. Befehl des OB West v. 22. 3.1945; zit. nach dem Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 23.2.1945; BA/ MA, RH 20-19/196. '" 353. Infanteriedivision, "Besondere Hinweise für Belehrung zur Straffung der Kampfmoral", 18.3. 1945; abgedruckt bei Messerschmidt, Wüllner, Wehrmacht justiz, S. 312. 15' Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 13.4. 1945; zit. nach Müller, Ueberschär, Wette, Wer zurückweicht wird erschossen!, S. 106. Hervorhebung von mir. 159 Aufruf Hitlers v. 15.4.1945; abgedruckt im Kriegstagebuch des OKW IV/2, S. 1589f. Hervorhebung von 156
mir. 160
Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 41. Das folgende Zitat eben da, S. 44.
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nau die Grenze kannten, wo Tapferkeit und Tollkühnheit aufhörten und Torheit und Wahnwitz begannen. So grimmig ernst die Durchhaltebefehle gemeint waren, sie konnten nicht mehr ernst genommen und als legitim anerkannt werden. Obwohl das Damoklesschwert so locker wie nie über allen hing, fanden viele Soldaten in tausend Fällen die Möglichkeit, befehlswidrig, nach Vernunft und gesundem Menschenverstand zu handeln, ohne sich deshalb immer sofort selbst zu gefährden. So waren in der Atmosphäre des Durchhalteterrors der Gebrauch des gesunden Menschenverstandes und befehlswidriges Verhalten ein und dasselbe geworden - ein Zustand, der jede Armee in kürzester Frist ruinieren mußte. Die Geschichte der "Endphase-Verbrechen" in den Streitkräften ist noch nicht geschrieben; Manfred Messerschmidt weist jedoch ganz richtig darauf hin, daß die Endphase unter anderem auch deshalb nicht "zum nationalen traumatischen Erlebnis wurde, weil auch der Vernichtungswahnsinn nicht mehr voll funktionierte". Wie so vieles, war auch der Durchhalteterror im letzten Vierteljahr des Krieges nur noch begrenzt durchsetzbar, standen für das von der Führung verlangte Blutbad nicht mehr genügend Handlanger bereit. In erster Linie rein von Zufällen und der jeweiligen Situation abhängig, funktionierte er in sehr vielen Fällen freilich immer wieder doch noch, wandten sich die Führung, die vielen kleinen Führer und die ihnen verbliebenen Komplicen gegen die eigenen Soldaten, die ebenso wie diese wußten, daß solche Taten "fünf Minuten nach Zwölf" durch nichts mehr, am wenigsten durch militärische Notwendigkeiten oder gar durch Erfordernisse des soldatischen Ethos', zu rechtfertigen waren.
Bevölkerung und Partei Die deutsche Zivilbevölkerung war in den letzten Kriegsmonaten vom Endphaseterror des niedergehenden Regimes nicht minder gefährlich bedroht und "vogelfrei" als die Angehörigen der Wehrmacht, insgesamt freilich nicht so direkt zu fassen und umstandslos zu vernichten. Genauso wie das Wüten gegen die erschöpften Soldaten offenbarte auch das immer brutalere "Einschreiten" gegen die kriegsmüde Bevölkerung nur den dramatischen Verfall der spätestens seit 1943 unaufhaltsam schwindenden Legitimation des NS-Regirnes!6! Anzeichen von Kriegsmüdigkeit begannen sich bereits zu zeigen, als mit dem Stokken des Vormarsches in Rußland die beiden Jahre der bequemen Blitzsiege und des "eleganten"!62 Krieges vorüber waren. Schon 1941/42, als die Zahlen der Gefallenen, Verwundeten und Gefangenen in die Höhe schnellten, war Friedenssehnsucht "zum absolut beherrschenden Element der Volksstimmung"!63 geworden. Das StalingradDesaster markierte das Ende der "Mobilisationsfähigkeit" (Broszat) des Regimes, die Bürde der Kriegslast und die Härten des Bombenkrieges wurden jetzt bis in die noch kaum tangierten Regionen des Reiches fühlbar. So machte sich wegen der Auswirkungen des Luftkrieges in Nordbayern bereits im Herbst 1943 eine böse Mißstimmung breit. Man solle "den Krieg einstellen, wenn man nicht in der Lage sei, Angriffe auf 161
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Martin Broszat, Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: ders., Horst Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 62. So der Begriff in einem Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SO an Reichsschatzmeister Schwarz v. 23.3. 1944; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 446. Broszat, Grundzüge, in: Broszat, Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich, S. 62; das folgende Zitat ebenda.
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die Städte und Industriezentren zu verhindern", hieß es hier unter anderem. 164 Das als beschämend empfundene Versagen der Luftwaffe schadete dem Nimbus des Regimes empfindlich, der Groll gegen die Funktionäre der NSDAP wuchs. Empfindungen und Reaktionen solcher Art hatten sich unter der Wucht der eskalierenden Bombardements und unter dem Eindruck der im "Krisenjahr 1944"165 reichlich zu vermeldenden Niederlagen an allen Fronten noch weiter verschärft, doch erst nach der Jahreswende 1944/45 brach die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung voll auf: Deutschlands Reserven waren erschöpft, materiell, personell, psychologisch. Kündigte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in "dramatischen Sprüngen" (Messerschmidt) an 166, so waren es seit dem Beginn der amerikanischen Besetzung im September 1944 namentlich zwei Schwellen des Niederganges, an denen der kriegsmüden Bevölkerung der bevorstehende Fall des Regimes besonders eindringlich angekündigt wurde: die militärischen Katastrophen des Januar im Osten und die kaum weniger verheerend wirkende Rhein-Überschreitung der Alliierten Ende März 1945. 167 Beide Katastrophen haben im internen Berichtsmaterial der NSDAP und staatlicher Stellen entsprechenden Widerhall gefunden. Ausgesprochen sachlich formulierte noch der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf seinen Januarlagebericht für Justizminister Thierack: "Die Stimmung ist nach dem Aufschwung in Folge des Dezemberangriffes im Westen durch die letzten Ereignisse im Osten und die Fortdauer der Luftangriffe, auf deren erfolgreiche Bekämpfung in weiten Kreisen des Volkes gehofft worden war, stark gedrückt."168 Ein geradezu verzweifeltes, als Geheime Kommandosache laufendes Telegramm dagegen sandte ungefähr zur gleichen Zeit der bei der "Heeresgruppe Oberrhein" in einem Sondereinsatz stehende SS-Hauptsturmführer d'Alquen an seinen Bruder in Berlin, den Standartenführer Gunter d'Alquen, Kommandeur der Standarte "Kurt Eggers" und Hauptschriftleiter des SS-Organs "Das Schwarze Korps". Von der Truppe wie der Bevölkerung werde die allgemeine Lage als "so kritisch" betrachtet, telegraphierte er, "daß die nächsten Wochen bereits über unser Schicksal entscheiden könnten". Er fühle sich verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, "ein erlösendes Wort aus dem Führerhauptquartier zu erreichen", das dann über geeignete Propagandakanäle zur Front und in die Bevölkerung durchdringen könne. "Vielleicht ist es möglich", appellierte der SS-Hauptsturmführer an seinen hochgestellten Bruder, "zunächst über Kreise, die mit dem Führer zusammen sind, festzustellen, ob der Führer seiner engsten Umgebung die Frage, was nun werden soll, beantwortet hat."169 Ein gangbarer Weg aus der Erschöpfungskrise konnte von dieser Führung nicht mehr gewiesen werden, wie die Be164
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Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten in Bamberg v. 27. 11. 1943; zit. nach Kershaw, Hitler-Mythos, S. 179. Differenziert und über frühere Auffassungen hinausführend zum Komplex der Auswirkung des Bombenkrieges das gesamte Kapitel "Endphase des Krieges und Zusammenbruch: Die Aufzehrung des Führermythos", ebenda, S. 176 ff. So Elke Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944. Aus den Tagebüchern des Reichspropagandaministers, in: VfZ 38 (1990), S. 195 ff. Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 33. Eine bemerkenswerte zeitgenössische Reflexion zu den verschiedenen Stadien des Niedergangs 1944/45 spricht aus dem Bericht des Archivars der Gemeinde Wachbach/Landkreis Bad Mergentheim v. 20. 10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. Lagebericht des Generalstaatsanwaltes in Düsseldorf für Januar 1945 an Reichsjustizminister Thierack v. 1. 2. 1945; HZ-Archiv, MA 430/6. Telegramm von SS-Hauptsturmführer Rolf d'Alquen an SS-Standartenführer Gunter d'Alquen v. 26. 1. 1945; BA, NS 19 neu, Nr. 2454.
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völkerung im zerstörten Berlin im Februar längst schon erkannt hatte: "Im allgemeinen sind ein gewisser Fatalismus, eine gewisse Gleichgültigkeit und Dumpfheit festzustellen", konstatierte ein Stimmungsbericht aus der Reichshauptstadt. Zum Beleg zitierte er unter anderem die einfache Einsicht eines ausgebombten Geschäftsmannes, die vom Großteil der Bevölkerung inzwischen zweifellos geteilt, aber in dieser Freimütigkeit nur selten ausgesprochen wurde: "Es sei Wahnsinn, den Krieg weiterzuführen."17o Wer zu diesem Zeitpunkt die Illusion einer irgendwie wundersamen Wende des Kriegsglücks noch nicht verloren hatte oder, in den remoteren Regionen des Reiches, auf eine erfolgreiche Verteidigung der "Rhein-Barriere" vertraute, dem ist der Wahnsinn der sinnlosen Kriegsverlängerung endgültig vielleicht erst Ende März 1945 aufgegangen, als die Armeen der Alliierten den Strom problemlos überwanden. "Der Feind im Osten wie im Westen muß und kann wieder geschlagen werden. Das glauben wir nicht, das wissen wir auch ... Nirgendwo in Deutschland, weder an der Front noch in der Heimat, wird deshalb resigniert"171, schrieb am 25. März ein Goebbels im "Reich", der, wie seine Tagebucheintragungen von diesem Tage ausweist, selber von den schlimmsten Befürchtungen geplagt wurde. Die ihm unterstehenden Propagandaämter sprachen davon, im Westen herrsche in der Bevölkerung teilweise eine absolute "Untergangsstimmung"172. Und in einer letzten großen Lageanalyse kam der SD Ende März zu dem Resultat: "Das Vertrauen zur Führung ist in diesen Tagen lawinenartig abgerutscht."173 In den bislang frontferneren Gebieten bot sich inzwischen das gleiche Bild. Am 27. März berichtete eine SD-Außenstelle nach Stuttgart, die Nachrichten von der Rhein-Front hätten bei der Bevölkerung "schockartig" gewirkt: ,,Allgemein ist man der Ansicht, für uns in Württemberg sei der Krieg in Kürze zu Ende. Teils sind die Volksgenossen über das rasche Vordringen der Anglo-Amerikaner an der Westfront bestürzt, zum großen Teil aber ist die hiesige Bevölkerung ,beinahe froh, daß dieser Krieg endlich ein Ende für sie nimmt'." Angst vor den Amerikanern und Engländern bestehe "nirgends", denn man wisse aus den bereits besetzten Gebieten, daß es "den dortigen Bewohnern unter der alliierten Besetzung gut gehe"l74. In Bayern zeigten die Lageberichte der Verwaltung denselben Tenor. Der Gendarmerieposten im mainfränkischen Mellrichstadt teilte dem Landrat mit, "infolge der unerwarteten Geschehnisse an der Westfront" sei bei der Bevölkerung "eine Änderung in ihrer bisherigen Stimmung wahrgenommen" worden. Viele redeten "von der Aussichtslosigkeit des Endsieges", wogegen einige noch immer "auf das große Wunder" harrten. "Man spricht davon, daß der Krieg sich auch noch über unser Kreisgebiet hinwegziehen wird."175 Im mittelfränkischen Gunzenhausen meldete die Polizei: "Unter der gesamten Bevölkerung hat sich in den letzten Tagen durch den Massenansturm im Osten und Westen tiefste Bestürzung ausgelöst." Die Stimmung sei "auf dem tiefsten Stand der ganzen Kriegsdauer angelangt", ein günstiger Ausgang des Krieges werde nicht 170
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,,19. Bericht über den ,Sondereinsatz Berlin' für die Zeit vom 14.2.-20.2. 1945" v. 23. 1. 1945; zit. nach Berghahn, Meinungsforschung, S. 104 f. Das Reich, 25.3. 1945. Wöchentlicher Tätigkeitsbericht des Leiters der Propagandaabteilung im Propagandaministerium für Goebbels v. 21. 3. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 565. Zusammenfassende, undatierte Analyse des SD·Inland von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Bericht der SD-Außenstelle an den SD-Leitabschnitt Stuttgart v. 27. 3. 1945; StA Ludwigsburg, KIlO, Büschel 58. "Lagebericht für März 1945" des Gendarmeriepostens Mellrichstadt an den Landrat in Mellrichstadt v. 25.3.1945; StA Würzburg, LRA Mellrichstadt, Nr. 1091.
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mehr erwartet. 176 Der Gendarmeriekreisposten in Eichstätt kam am selben Tag zu dem Schluß: "Die Frontlage verstärkt bei der Bevölkerung die Auffassung, daß es nicht mehr gelingt, den Feind abzuwehren."177 Ähnliche Betrachtungen gingen auch im Voralpenland in die amtlichen Akten ein: "Die Bevölkerung ist im allgemeinen der Ansicht, daß der Krieg für uns verloren ist und daß es besser wäre, wenn sich die Heeresleitung zum Einstellen der Feindseligkeiten entschließen würde", beobachtete die Gendarmerie in Bad Aibling bei Rosenheim. 17B Auch der Regierungspräsident von Oberbayern ließ es Anfang April an ungeschminkten Worten nicht fehlen: "Durch militärische Ereignisse der letzten Wochen im Westen und Osten Schockwirkung bei gesamter Bevölkerung hervorgerufen, wie sie seit Kriegsbeginn noch nicht zu verzeichnen war." Man rechne nunmehr mit einer vollständigen Besetzung des Reichsgebietes. "Kriegsmüdigkeit stark zugenommen. Baldiges Kriegsende fast allgemein ersehnt." Der Glaube an den etwaigen Einsatz "neuer Geheimwaffen" sei stark gesunken, Aufrufe und Appelle der Führung fänden kaum noch Widerhall, die Rundfunkpropaganda werde größtenteils abgelehnt, "da sie als mit den augenscheinlichen Tatsachen in Widerspruch stehend empfunden wird". Da die ,,Angst vor den Russen" größer sei als die vor den Truppen der Westalliierten, werde das Vordringen der Amerikaner "mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, da Besetzung durch diese Gegner als kleineres Übel empfunden wird"179. Mit der erneuten Verwandlung der militärischen Lage des Reiches Ende Januar, Anfang Februar 1945 hatte sich auch die "einmalig erfolgreiche"IBo Wunderwaffenpropaganda weitgehend erschöpft. Beinahe zwei Jahre lang hatte diese raffiniert kalkulierte Kampagne ihren kaum zu überschätzenden Anteil daran gehabt, den Glauben an eine Wende des Krieges zu Deutschlands Gunsten wachzuhalten. Einsetzend nach Stalingrad, verstanden es die Propagandisten des Regimes in ebenso gewissenloser wie ingeniöser Manier, der wachsenden Kriegsmüdigkeit mit der Verheißung eines Einsatzes völlig neuartiger Waffen zu begegnen. Sie gaukelten der Bevölkerung damit die Existenz einer grundlegenden Alternative zu dem mittlerweile auch technisch überlegenen Potential der Engländer und Amerikaner vor und hatten verblüffenden Erfolg dabei, den strapazierten Menschen den Gedanken einzupflanzen, die sich häufenden Niederlagen auf den Schlachtfeldern seien nicht nur bequem wettzumachen, sondern der ganze Krieg sogar mit einem vernichtenden Schlag für Deutschland zu entscheiden. Dabei kam es der Glaubwürdigkeit der Propaganda fraglos sehr zugute, daß das Regime auf manch eine wissenschaftlich-technische Bravourleistung in der Vergangenheit verweisen konnte. Ursprünglich waren die "Wunderwaffen" konzipiert worden, um Großbritannien einem unerträglichen Terror aus der Luft auszusetzen und es auf diese Weise aus dem Krieg zu drängen. 1944 waren die zu Defensivzwecken untauglichen Waffen obsolet geworden. 176
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Lagebericht des Gendarmeriepostens Gunzenhausen an den Landrat in Gunzenhausen v. 27. 3. 1945; StA Nümberg, LRA Gunzenhausen, Abgabe 61, Nr. 4346. "Lagebericht für Monat März 1945" des Gendarmeriekreispostens Eichstätt an den Landrat in Eichstätt v. 25.3. 1945; StA Nümberg, Best. NSDAP, Nr. 40. Lagebericht des Gendarmeriepostens Bad Aibling an das Landratsamt in Bad Aibling v. 25.3. 1945; StA München, LRA 113 813. "Monatsbericht des Regierungspräsidenten in München (März 1945)" v. 7.4. 1945; Bay HStA München, MA 106696. Hans Dieter Hölsken, Die V-Waffen. Entstehung - Propaganda - Kriegseinsatz, Stuttgart 1984, S. 214. Auf diese Studie stützt sich der folgende Abschnitt vor allem. Vgl. auch Steinert, Hitlers Krieg, S. 490ft.
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Das in scheinbar siegesgewisser Unerschütterlichkeit und "bewußter Undeutlichkeit" (Hölsken) komponierte Lügenszenario konnte seine Wirksamkeit aber nur entfalten, weil in weiten Teilen der Bevölkerung ein hohes Maß an illusionärer Gläubigkeit, an Wunschdenken oder einfach eine Art trotziger Entschlossenheit zu der Hoffnung bestand, die bisherigen Opfer könnten unmöglich umsonst gebracht worden sein. Die Gläubigen und Hoffenden konnten sich diese orakelnden Visionen, die der Phantasie keine Grenzen setzten, begierig zu eigen machen. Den Skeptischen und Zweifelnden fehlten lange Zeit die rechten Gegenargumente, denn immerhin war die "Vergeltung" nicht nur von einem Goebbels, sondern wiederholt auch von Hitler selbst angekündigt worden. Mit der Propagierung der "V-Waffen", die im entscheidenden Moment alles zum Besseren wenden würden, verschaffte sich das Regime, das inzwischen keine militärischen Erfolge mehr vorzuweisen hatte, nicht nur das Jahr 1943 über ein Gutteil seiner "Legitimation" und Stabilität. Mit ihrer Behauptung, sie besäße "nicht nur politische, sondern auch militärische Voraussetzungen des Sieges"181, konnte die deutsche Führung in viel höherem Maße, als die reale Lage rechtfertigte, ihr Gesicht wahren. Sie stellte damit einen Wechsel auf die Zukunft aus, von dem lange Zeit außerhalb des engsten Machtzirkels niemand sagen konnte, ob er gedeckt war oder nicht. Im Oktober 1943 legte der SD eine Analyse vor, in der es hieß, die "Mehrzahl der Volksgenossen" erwarte "die entscheidende Wendung des Krieges" von den Vergeltungswaffen, und zu Jahresende kam der Sicherheitsdienst zu dem Befund: "Vergeltung und Kriegsentscheidung werden heute vielfach gleichgesetzt." Es bedurfte freilich immer stärkerer, in Presse, Rundfunk und ge zielten Mundpropagandaaktionen verabreichter Dosen, um den Glauben an die Wunderwaffen lebendig zu halten. Hitler selbst warf zu Jahresbeginn 1944 sein noch kaum geschmälertes Prestige erneut in die Waagschale, als er versicherte, die Stunde der Vergeltung werde kommen. Der Moment des Vergeltungswaffeneinsatzes war in den Augen der Bevölkerung (deren Illusionsbereitschaft bereits Ernüchterung und bissigen Witzeleien Platz zu machen begann) unwiderruflich gekommen, als die Invasionsarmee Anfang Juni 1944 in der Normandie auf dem Kontinent Fuß faßte. Und tatsächlich, zehn Tage nach der Landung der Alliierten meldete der Wehrmachtsbericht, Südengland und das Stadtgebiet von London seien "mit neuartigen Sprengkörpern schwersten Kalibers"182 belegt worden. Das war in sehr zurückhaltender Form die seit mehr als einem Jahr erwartete Sensationsnachricht. Die Reaktion beim Großteil der Bevölkerung war nach allen vorliegenden Berichten wahrhaft überschäumend. "Man kann wohl sagen, daß das deutsche Volk seit langem keinen so glücklichen Tag erlebt hat wie diesen", hielt der Reichspropagandaminister am 17. Juni in seinem Tagebuch fest. Und tags darauf: "Das deutsche Volk befindet sich fast im Fieberrausch ... Zum Teil werden bereits Wetten abgeschlossen, daß der Krieg in drei oder vier oder acht Tagen zu Ende gehe."183
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Rede vOn Joseph Goebbels in Kassel am 5. 11. 1943; zit. nach eben da, S. 100. Die beiden folgenden Zitate aus SO-Berichten v. 18. 10. und 27. 12. 1944; zit. nach ebenda, S. 98 und S. 101. S. 101 ff. auch zum folgenden. Wehrmachtsbericht v. 16.6. 1944. Goebbels-Tagebücher, Eintragungen v. 17.6. und 18. 6. 1944; IfZ-Archiv, EO 172. Der folgende Stimmungsbericht der NSOAP-Kreisleitung BuchenlOdenwald an die Gauleitung Baden v. 1. 11. 1944 in: GLAK, 465d, Nr. 24.
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Einige Tage später ersann Hans Schwarz van Berk, einer der fähigsten und leichtfertigsten Wunderwaffenpropagandisten, das von Goebbels und Hitler sogleich akzeptierte Markenzeichen "V 1". Diese Bezeichnung der Flugbombe Fi 103 war insofern ein weiterer ingeniöser Einfall, als damit allen, die noch die Versprechungen der Führung im Ohr hatten, die "Vergeltung" werde die Entscheidung bringen, signalisiert wurde, "V 1" sei nur der Einstieg in den Einsatz einer Serie "kriegsentscheidender" Waffen. Damit brauchte der enttäuschende Effekt der "Vergeltung" nicht nur nicht eingestanden werden, damit konnten die enttäuschten Hoffnungen jetzt sogar auf die noch folgenden Wunderwaffen höherer Seriennummer gelenkt werden. Gänzlich überzeugen konnte dieser Trick freilich nicht, und die anfängliche Begeisterung begann rasch abzukühlen. Auch die propagandistische Behandlung der VWaffen wurde so zurückhaltend, daß die Mitteilung über den Einsatz der V 2-Rakete erst im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 9. November herausgegeben wurde, zu einem Zeitpunkt, als bereits acht Wochen lang mehrere hundert A 4-Projektile verschossen waren. Diesmal war die Resonanz in der Bevölkerung noch kurzlebiger als im Sommer, denn schließlich hatte niemand übersehen können, daß es dieser Sommer 1944 gewesen war, der dem Deutschen Reich trotz V 1 und V 2 im Luftkrieg, an der Ostfront wie an der Westfront, in Italien wie auf dem Balkan die verheerendsten Rückschläge beschert hatte. Eine Woche vor der Nachricht über den V 2Einsatz hatte die Kreisleitung der NSDAP in Buchen im Odenwald an die badische Gauleitung durchgegeben: "Der Glauben an Wunderwaffen ist dahin, und man sagt sich heute in den meisten Kreisen, daß alles nur Propaganda gewesen ist, um den Feind zu bluffen (gegnerische und böse Menschen sagen sogar, wir sind belogen worden)." Auch wenn der Wunderwaffenglaube seit Jahresbeginn stark nachgelassen hatte, so hatten sich selbst jetzt noch längst nicht alle Hoffnungen und Illusionen verflüchtigt. Bis Ende 1944 blieb in Teilen der Bevölkerung die Bereitschaft aktivierbar, Verheißungen einer wunderbaren Wende anzunehmen. Der großen Lügenstrategie des Regimes verblieb sogar noch nach den militärischen Katastrophen des Sommers und dem Schock, den das Vordringen feindlicher Truppen auf das Reichsgebiet ausgelöst hatte, ein Rest von Plausibilität. Fingen die Sensationsmeldungen über die V 1 zeitweilig die Enttäuschung über die geglückte Invasion ab, so fielen die Nachrichten über die V 2 in die Wochen zwischen der amerikanischen Eroberung des westlichen Grenzgebietes und dem letzten Wunder, das das Dritte Reich der Bevölkerung bieten konnte, die Großoffensive in den Ardennen. Jedesmal resultierte daraus insofern ein Stabilisierungseffekt, als die Skeptiker vorübergehend widerlegt und verunsichert, die illusionsbereiten Volksgenossen in ihrem Glauben bestätigt und bestärkt wurden. Im Herbst 1944 war freilich sogar einem Goebbels bewußt, daß nach dem V 2-Verschuß, der die Alliierten weder aufgehalten noch gar eine Wende des Kriegsglücks eingeleitet hatte, in den deutschen Arsenalen keine "Vergeltungs"-Waffen höherer Seriennummer mehr lagerten. Technikern, Wissenschaftlern, Militärs, auch Rüstungsminister Speer war bei der Wunderwaffenpropaganda - die für die Lebensverlängerung des Regimes freilich unverzichtbar war - nie ganz wohl gewesen. Obgleich Speer seine Feststellung vor anderem Publikum bezeichnenderweise nicht wiederholte, vertraute er Anfang Dezember 1944 einigen seiner Mitarbeiter angeblich an, "daß wir über eine Wunderwaffe nicht verfügen
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und wohl auch nie verfügen werden"184. Hitler selbst hat sich über den militärischen Wert der V 1 und V 2 gewiß keinen Illusionen hingegeben. Im Januar 1945 sagte er, die V 1 könne "den Krieg leider nicht entscheiden"; das galt für die V 2 ebenso. 185 Aber selbst jetzt profitierte das Regime noch einige Wochen von seinem bedenkenlosen Gaukelspiel, hinter dem längst nichts anderes mehr steckte als die Absicht, ein Volk bei der Stange zu halten, dem es lange einfach an Vorstellungskraft dafür fehlte, die eigene Führung könne ein so unerhörtes Spiel treiben, Sehnsüchte und Wunschvorstellungen nicht nur auszunützen, sondern durch glatte Lügen Durchhalteillusionen sogar selbst noch zu erzeugen. Wie sehr Hoffnungen und Ängste bei einigen auf die Verheißung der "Vergeltungs"-Waffen fixiert waren, läßt der emphatische, sich gegen eine Ernüchterung noch sträubende Appell erahnen, den SS-Hauptsturmführer Rolf d'Alquen Ende Januar 1945 aus dem oberrheinischen Frontgebiet an seinen prominenten Bruder in Berlin richtete. ,,Alle Gedanken kreisen, wie wir bei der Truppe und Bevölkerung festgestellt haben, immer wieder darum", telegraphierte er, "daß die entscheidende Wendung niemals mehr durch die bisherigen Mittel erfolgen könne, sondern daß die Antwort auf die entscheidende Frage nur so lauten könne: Wir werden und müssen die Front noch eine kurze Zeit mit den alten Mitteln halten, dann aber kommt eine Waffe zum Einsatz, die alles Erduldete und alle Rückschläge ungeschehen macht und an den Fronten selbst die entscheidende Wendung bringt." Andernfalls, so d'Alquen weiter, erachte er es für seine Pflicht, darum zu bitten, daß diese Stimmung dem "Führer" bekanntgemacht werde. 186 In der Führung des Deutschen Reiches war diese Stimmung seit langem wohlbekannt, ebenso bekannt wie die Tatsache, daß zwar noch diese und jene militärische Neukonstruktion, aber absolut sicher keine Waffe zu erwarten war, die "alle Rückschläge ungeschehen" machen würde. Die deutsche Bevölkerung und die deutschen Soldaten aber wurden von einem Regime, das den Zeitpunkt zur Leistung des Offenbarungseides längst hatte verstreichen lassen, weiter hinters Licht geführt. Hitler selbst benutzte das Argument des baldigen Einsatzes neuer Waffen im März und sogar noch im April 1945 in mehreren Gesprächen, um seinen Generälen den Sinn der Fortführung dieses Krieges plausibel zu machen. 187 Obwohl noch immer ein erstaunlicher Nachhall zu vernehmen war, machte sich in der Bevölkerung endgültige Ernüchterung spätestens im Laufe des Februar und März breit, als die Russen vor Berlin, die Amerikaner in Köln standen. Die Zeugnisse aus diesem Zeitraum sprechen alle die gleiche Sprache. In Berchtesgaden, so die SD-Außenstelle in ihrem Stimmungsbericht für Februar 1945, fragten sich die Menschen, warum denn "keine der geheimen Waffen eingesetzt" werde, "um uns den Boden wieder zurückzubringen, den wir verloren haben"188. Die Schutzpolizei-Dienstabteilung Kolbermoor berichtete dem Landrat des oberbayerischen Kreises Bad Aibling am 25. 184
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Abert Speer, Erinnerungen, Frankfurt 1969, S. 579; Hölsken, V-Waffen, S. 111. Vgl. ebenda, S. 92 f. Telegramm von SS-Hauptstunnführer Rolf d'Alquen an SS-Standartenführer Gunter d'Alquen v. 26.1. 1945; BA, NS 19 neu, Nr. 2454. So etwa gegenüber Generalfeldmarschall Kesselring, dem neuen OB West, am 9. 3. 1945; Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, S. 339. Am 11. 3. 1945 bei einem Besuch im Hauptquartier der an der Oder stehenden 9. Annee; Fest, Hitler, S. 9991. Gegenüber dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe G im Westen am 2.4. 1945; MacDonald, Last Offensive, S. 412. "Stimmungsbericht für Monat Februar 1945" der SD-Außenstelle Berchtesgaden an die Kreisleitung der NSDAP Berchtesgaden v. 7.3. 1945; StA München, LRA 29 656.
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März: "Gespräche über neue Waffen, die zum Einsatz kommen sollten, hört man ganz selten noch und die großen Erwartungen haben sich gewissermaßen in Enttäuschungen gewandelt."189 Der Gendarmerieposten im mittelfränkischen Markt Berolzheim bei Gunzenhausen, das schon wenige Tage später "Frontgebiet" wurde, machte um dieselbe Zeit die gleiche Beobachtung: "Vielfach hört man jetzt auch äußern, es werde doch immer Propaganda gemacht, daß für Bekämpfung der feindlichen Flugzeuge u. dgl. wirksame Gegenmittel zur Verfügung stehen und zur gegebenen Zeit zur Anwendung kommen; man könne nicht verstehen, warum hiermit, sofern dies der Wahrheit entspreche, noch immer zugewartet werde."190 Der Spitzelbericht, der am selben Tag beim SD-Leitabschnitt Stuttgart einging, wurde in der Wiedergabe der Volksmeinung noch deutlicher: "Glaubt hie und da - dies ist jedoch, wie gesagt nur höchst selten der Fall - jemand, die Feinde würden am Ende mit Hilfe neuer Waffen, die nun in 5-6 Wochen zur Anwendung kämen, doch noch geschlagen, so wird er höchstens mitleidig belächelt. Die neuen Waffen einzusetzen, sei jetzt ebenso wenig möglich wie bisher, weil es diese neuen Waffen ja gar nicht gebe, wie vor allem auch Industrielle wissen wollen. Wo hätten die Waffen auch produziert werden sollen? Und vor allem, womit hätten sie produziert werden sollen?"191 Der SO zog die Quersumme aus den in Berlin einlaufenden Stimmungsberichten für März 1945 schließlich mit den Sätzen: "Niemand glaubt, daß wir mit den bisherigen Kriegsmitteln und -möglichkeiten noch um die Katastrophe herumkommen. Der letzte Hoffnungsfunke gilt einer Rettung von außen, einem ganz ungewöhnlichen Umstand, einer geheimen Waffe von ungeheurer Wirkung. Auch dieser Funke ist am Verlöschen. Die breiten Massen haben sich gegen die entsetzliche Hoffnungslosigkeit am längsten zur Wehr gesetzt."192 Ab Januar 1945 hatte die Entfremdung zwischen der Führung und einer Bevölkerung, die ihren inneren Rückzug aus der nationalsozialistischen Ideologie, nationalistischem Überlegenheitstaumel und zuletzt auch aus gläubiger Führerverehrung viele Monate früher begonnen hatte, noch einmal eine rasante Beschleunigung erfahren. Nicht bloß, daß die meisten Verheißungen und Versprechungen, Beschwörungen und Drohungen immer weniger zugänglich waren und die Propaganda mit Kopfschütteln bedachten - in dem Augenblick, da die von der nationalsozialistischen Führung geforderten und bis zu einem gewissen Grad auch als nationale Pflicht betrachteten Anstrengungen ihren Sinn offenkundig verloren hatten, da schlug in der Erschöpfungskrise von Wehrmacht und Bevölkerung die Kriegsmüdigkeit in einer Vehemenz durch, gegen die Befehle und Terror letztlich machtlos waren. Bei allem pflichtschuldigen "Weiterfunktionieren" im letzten Vierteljahr des Krieges trachteten die erschöpften Menschen nun überall danach, sich dem untergehenden Regime zu entziehen, legten sie es darauf an, nur noch ein Minimum an Energie für die verlorene nationale Sache, aber ein Maximum an Phantasie und Kraft in die Suche nach einem individuellen Ausweg aus dem Bankrott zu investieren. In bis dahin ungekanntem 189
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Monatsbericht der Schutzpolizei-Oienstabteilung Kalbermoor an den Landrat des Kreises Bad Aibling v. 25.3.1945; StA München, LRA 113 8\3. Lagebericht des Gendarmeriepostens Markt Berolzheim an den Landrat in Gunzenhausen v. 27.3. 1945; StA Nümberg, Bestand LRA Gunzenhausen, Abgabe 61, Nr. 4346. SO-Außenstellenbericht an den SO-Leitabschnitt Stuttgart v. 27.3. 1945; StA Ludwigsburg, KIlO, Büschel 58. Hervorhebung im Original. Undatierte Zusammenfassung der Stimmungsberichte für März 1945 durch SO-Inland; HZ-Archiv, MA 660.
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Ausmaß wurden jetzt Anordnungen unterlaufen und umgangen, folgte man nicht mehr den Befehlen einer durch Mißerfolg und Uneinsichtigkeit diskreditierten Führung, sondern dem eigenen gesunden Menschenverstand und Überlebenswillen. Das zeigte sich bei den in allen Branchen zu beobachtenden erfindungsreichen Manövern zur Substanzwahrung der Wirtschaft, bei der heimlichen Massenbewegung zur Konterkarierung der Politik der "Verbrannten Erde"[93, beim Widerstand gegen die Evakuierungsmaßnahmen [94, bei der mächtigen Initiative zur Nichtverteidigung der Städte und Dörfer, beim Einsatz des Volkssturms und des "Werwolfs". [95 Noch vor der Kapitulation der deutschen Diktatur begab sich die deutsche Gesellschaft auf den Weg zurück zur Selbstbestimmung. Auch die Anzahl der undogmatischen Beamten, der einsichtigen Kommandeure und sogar der vernünftigen NS-Funktionäre vervielfachte sich in der Endphase des Krieges mit jeder Woche. Wenig führt die Isolierung und mangelnde Durchsetzungfähigkeit der politischen Führung drastischer vor Augen als die durchgehende Weigerung der Bevölkerung, den Evakuierungsbefehlen der Partei Folge zu leisten. Da die Macht der Partei im März und April 1945 gerade noch zur Terrorisierung einzelner, aber nicht mehr zur allgemeinen Durchsetzung des politischen Willens taugte, stieß, ähnlich wie in anderen Reichsteilen, auch in Württemberg der Ende März erteilte Evakuierungsbefehl des Gauleiters und Reichsverteidigungskommissars Murr im ganzen Land auf dieselbe entschiedene Opposition wie überall. [96 Es war Karfreitag, der 30. März, als beispielsweise in der Ortschaft Bächlingen an der bald so heftig umkämpften Jagst die Anordnung der Kreisleitung Crailsheim eintraf, "daß der ganze Kreis geräumt werden sollte, das Vieh geschlachtet, die Höfe angezündet und die Menschen auf die Landstraße zu gehen hätten. Also der glatte Vernichtungsbefehl eines Wahnsinnigen ... , doch war von vornherein jedem klar, daß er Haus und Hof nicht im Stich lassen würde". [97 In Hausen am Bach an der bayerischwürttembergischen Grenze wollte man lieber "alle Gefahren und Schrecken des über uns gehenden Krieges auf sich nehmen als fort zu gehen von Haus und Hof"[98. In dem ebenfalls zum Landkreis Crailsheim gehörenden Gerabronn war die Reaktion auf den Gauleiterbefehl nach dem Zeugnis des Stadtpfarrers genauso: "Lieber daheim 193 194 19'
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Vgl. zu beidem V/1. Siehe l/6 und IV/2. Vgl. VII/4. Zum Evakuierungsbefehl des Reichsverteidigungskommissars Murr vgl. Paul Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 489. Die durchgängige Opposition gegen die Evakuierung ist eindeutig ersichtlich aus den württembergischen Ortsberichten zum Kriegsende, auf die sich das folgende unter anderem stützt. Die Sammlung dieser historisch wertvollen Berichte geht auf eine weitsichtige Initiative des Württembergischen Statistischen Landesamtes v. 14.7. 1948 zurück. In einer Rundfrage wurden von allen Landkreisen "geschichtliche Darstellungen der letzten Kriegstage" erbeten. In dem Rundschreiben hieß es u. a., es bestehe die Gefahr, daß den "Geschichtsschreibern, die einmal unsere Zeit behandeln, nur ungenügende Quellen über den hinter uns liegenden Krieg und seine Folgen für unser Land zur Verfügung stehen". Das Ergebnis dieser Aktion war überwältigend und erbrachte viele tausend Blatt detaillierter Berichterstattung aus den Landkreisen Württemberg-Badens. In ihnen spiegelt sich unter anderem in aller Deutlichkeit auch der Kontrast zwischen dem brutalen Auftreten der französischen und dem relativ gewaltlosen Vorgehen der amerikanischen Besatzungstruppen. Aufbewahrt wird dieser Bestand im HStA Stuttgart unter der Bestandsnummer J 170. Undatierter (Ende 1948) Bericht "Die Kämpfe um Bächlingen im April 1945"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. Undatierter, vom Bürgermeisteramt Hausen am Bach am 8. 10. 1948 an das Württembergische Landesamt übersandter Bericht "Die letzten Kriegstage in Hausen am Bach im April 1945"; ebenda.
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sterben, als auf der Landstraße umkommen", habe es geheißen. [99 Im ebenso schwer umkämpften Landkreis Bad Mergentheim leistete am Sitz der Kreisleitung "mit Ausnahme von einigen Familienangehörigen führender Parteimitglieder" den Räumungsanordnungen ebenfalls niemand mehr Folge. 20o Dieselbe Abfuhr erlebten die NS-Funktionäre in allen anderen Landkreisen des Gaues Württemberg-Hohenzollem, und zwar unabhängig davon, ob noch schwere Kämpfe zu erwarten waren oder ob mit einer glimpflich ablaufenden Feindbesetzung gerechnet werden durfte. In Bönnigheim, einem unweit von Heilbronn auf der linken Neckar-Seite gelegenen Städtchen, löste die Räumungsanordnung des Ortsgruppenleiters Anfang April "große Unruhe" aus, "aber der gesunde Sinn der Einwohner, sowohl der Partei- wie der Nichtparteigenossen siegte". Nur der Ortsgruppenleiter selbst und der stellvertretende Bürgermeister schwangen sich auf ihre Fahrräder. 20 [ In der zwischen Ludwigsburg und Pforzheim an der Enz gelegenen Ortschaft Roßwag berief der Ortsgruppenleiter eine allgemeine Versammlung ein, zeigt sich aber selbst unsicher, wohin die Einwohnerschaft sich eigentlich begeben solle. Nachdem der Pfarrer zu erkennen gegeben hatte, daß er das Dorf, "schon um der Alten und Kranken willen", nicht verlassen werde, setzte sich außer dem Ortsgruppenleiter und seiner Familie niemand ab. 202 Wenige Tage vor dem Einmarsch der U.S. Army in der Stadt Welzheim (Landkreis Waiblingen) am 19. April 1945 wurde die Bevölkerung vom Kreisleiter und vom Ortsgruppenleiter der NSDAP vergeblich aufgefordert, "ins Allgäu zu evakuieren", wie eine Darstellung zu den Ereignissen bei Kriegsende vermerkt: "Der ,Amerikanerschreck' wirkte nicht mehr; allgemein lachte man über diese Zumutung. Konnte ein Bauer Haus und Hof und Vieh im Stiche lassen? Sollte ein Handwerker sein Geschäft aufgeben? Wie konnte man es einem Arbeiter zumuten, sein sauer erspartes Häuslein zu verlassen! Nur ein schlechtes Gewissen und die daraus folgende Angst konnte einen Menschen vertreiben."203 Zu einem besonders perfiden Trick zur Durchsetzung ihres "blöden Parteibefehls zum Abmarsch nach Süden"204 meinte Mitte April die NSDAP in der etwa 3000 Einwohner zählenden Gemeinde Neuhausen an der Filder im Landkreis Esslingen greifen zu müssen. Dort wurde "das Märchen" verbreitet, "der Führer beabsichtige gerade auf den Fildem seine bisher zurückgehaltene fürchterliche ,Geheimwaffe' zur Anwendung zu bringen, wobei in 30 km Umkreis alles zerstört werde". Aber selbst diese Drohung machte keinen Eindruck mehr. Als die U.S. Army an der Reichsgrenze stand, waren in Deutschland seit der letzten großen Invasion durch eine feindliche Armee 130 Jahre vergangen. Die bewaffnete Macht des Deutschen Reiches hatte überhaupt keine Erfahrung mit Operationen auf 199
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Bericht des Gerabronner Stadtpfarrers Hummel "Verlauf der Kriegsereignisse in Gerabronn" v. 26.6. 1945; ebenda. Undatierter Bericht des Stadtpfarrers Gregor Botz "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage auf Grund persönlicher Erlebnisse", dem Württembergischen Statistischen Landesamt vom Bürgermeisteramt der Stadt Bad Mergentheim am 5. 2. 1949 übersandt; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. "Geschichtliche Darstellung des Feindüberfalls auf die Stadt Bönnigheim am 7. April 1945" v. 10.12. 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 11. ,,Aus der Kriegschronik von Rosswag, Kreis Vaihingenl Enz", "aufgestellt" von Pfarrer Götz im September 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in der Gemeinde Welzheim/Kreis Waiblingen" von Karl Münz v. 20.9. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20. Ungezeichnete und undatierte "Geschichtliche Darstellung der Kriegsjahre 1939-1945" der Gemeinde Neuhausen/Filder (1948); HStA Stuttgart, J 170, Büschel 5.
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eigenem Territorium, und in Hitlers Denken spielte ein Krieg auf heimischem Boden erst am Ende seiner Laufbahn eine Rolle. Erst als der Feind an die Reichsgrenzen heranrückte, traf der "Führer" und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht die Entscheidung darüber, wie die Kompetenzen zwischen Armee, Partei und Verwaltung in der Endphase des Krieges verteilt sein sollten. Einigen Gauleitern der NSDAP waren schon mit Kriegsbeginn als "Reichsverteidigungskommisaren" Aufgaben der zivilen Reichsverteidigung übertragen worden. 205 Dieser Schritt zur weiteren Befestigung der Macht des Regimes trug den "Charakter einer grundsätzlichen politischen Weichenstellung", deren Konsequenzen mit der fortschreitenden "Totalisierung" des Krieges immer fühlbarer wurden. Nach der Ernennung von Joseph Goebbels zum Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz Ende Juli 1944 erfuhren die Machtbefugnisse der Gauleiter in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare eine nochmalige erhebliche Ausweitung. Die "Machtverlagerung in der inneren Verwaltung zugunsten der NSDAP"206 wurde um so stärker spürbar, je bedrohlicher sich die Kriegslage entwickelte, da sich nun fast alle Maßnahmen und Aktivitäten als kriegsnotwendig deklarieren ließen. Die Gauleiter/Reichsverteidigungskommissare, die sich auf die mittlere und untere Verwaltung, auf die Organisation der gewerblichen Wirtschaft wie auf die Kreis- und Ortsgruppenleiter der Partei stützen konnten, waren bei Kriegsende bei so wichtigen Aufgaben federführend oder maßgeblich eingeschaltet wie etwa dem Arbeitseinsatz, beim Luftschutz, der Evakuierung der Bevölkerung, bei der u.k.-Stellung, den Auskämmungsaktionen und der Stillegung von Betrieben; auch hinsichtlich der Unterbringung und Behandlung von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, beim Stellungsbau und bei den Schanzarbeiten sowie bei der Aufstellung des Volkssturms 207 besaßen sie weitreichende Befugnisse. Der zentrale Erlaß Hitlers über die "Befehlsgewalt im Operationsgebiet des Reiches", der die starke Stellung der Gauleiter eindrucksvoll unterstrich, erging im September 1944. Seiner Kernbestimmung zufolge hatte der Reichsverteidigungskommissar im Operationsgebiet bis hin zur Front die staatlichen Hoheitsrechte und Verwaltungsbefugnisse inne. Lediglich in der "unmittelbaren Kampfzone" (verstanden als ein Streifen von etwa 20 Kilometern Tiefe), die im Frühjahr 1945 rasch ostwärts wanderte, besaß der militärische Befehlshaber die vollziehende Gewalt. 208 In den letzten Monaten des Krieges, als Regionalisierung und Isolierung die Entwicklung in weiten Bereichen von Staat und Gesellschaft bestimm-
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Übersichtlich allgemein hierzu Karl Teppe, Der Reichsverteidigungskommissar. Organisation und Praxis in Westfalen, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung, S. 278ff. Das folgende Zitat ebenda, S. 281. Die knappe Skizze stützt sich vor allem auf diese Studie. Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungsperspektive 1939-1945, Stuttgart 1989, S. 281; auch zum folgenden. Vgl. auch Peter Diehl-Thiele, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933-1945, München 1969, S. 190ft. Vgl. 1/6 und VII/4. "Zweiter Erlaß des Führers über die Zusammenarbeit von Partei und Wehrmacht in einem Operationsgebiet innerhalb des Reiches vom 19. September 1944" und "Zweiter Erlaß des Führers über die Befehlsgewalt in einem Operationsgebiet innerhalb des Reiches vom 20. September 1944"; beide in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Kablenz '1983, S. 292 ff. Die vorangegangenen, überholten Erlasse von Juli 1944 hierzu ebenda, S. 255 ff. Vgl. dazu auch Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 1881. Vgl. auch Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1294.
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ten Z09 , waren die Gauleiter/Reichsverteidigungskommissare von ihren verbrieften Kompetenzen her "absolute Herrscher"210 oder wenigstens "die eigentlichen Befehlshaber"z11 in ihren Gebieten. Diese Entwicklung war ähnlich wie die Aktivierung der Lügenpropaganda und das Anschwellen des Durchhalte-Terrors eine Funktion des rapiden Legitimationsschwunds des Regimes und ein "Eingeständnis des bevorstehenden Zusammenbruchs"z12, also gerade das Gegenteil einer Straffung oder Vereinfachung der Reichsverwaltung. Anzeichen für deren Auflösung häuften sich Anfang 1945 nicht nur infolge der immer massiver werdenden Zerstörung der deutschen Infrastruktur oder der nicht mehr steuerbaren Massenproblerne wie des Flüchtlingsstromes aus dem Osten. Das gewissermaßen normale Kompetenzchaos und die "fundamentale Abnormität", die den Führerstaat immer gekennzeichnet hatten, mündeten im letzten Vierteljahr des Krieges in eine paralysierend wirkende Komplizierung der Befehlsstrukturen an jedem einzelnen Ort. Die sukzessive Unterstellung der rechtsrheinischen Wehrkreise unter den Befehl des OB West setzte dem "System der übereinandergelagerten Befehlsstränge und der sich gegenseitig blockierenden Kompetenzen"z13 nur noch die Krone auf.2 14 Doch nicht nur dieser "Befehlswirrwarr"z15 nahm der Partei viel von ihrem Einfluß. Im letzten Vierteljahr des Krieges machten sich auch innerhalb ihrer Organisation auf der unteren Ebene Paralysierungstendenzen bemerkbar, mit denen sich die NSDAP gewissermaßen selbst schwächte. Sie war deshalb meist gar nicht imstande, ihre erweiterten Kompetenzen auch tatsächlich wahrzunehmen. Wie über die Soldaten, Beamten und die Bevölkerung allgemein, ergossen sich, je rascher der Stern des Regimes sank, auch über die Mitglieder und Funktionäre der Partei immer emphatischere Appelle. Obwohl ihr Ansehen bei der Bevölkerung mittlerweile weitgehend ruiniert war 216 , lautete das Credo der NS-Bewegung weiterhin: "Der Sieg steht und fällt mit der Partei als Führung der Heimat".217 Martin Bormann, der Leiter der Parteikanzlei, hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß die Funktionäre der NSDAP in den Gauen und Landkreisen sich nicht darauf beschränken würden, ihre weitreichenden Befugnisse im Bereich der inneren Verwaltung und der zivilen Reichsverteidigung zu nutzen, sich in der großen Krise auch nicht bloß einer intensiveren "Menschenführung" widmen wollten, sondern daß die Politischen Leiter der NSDAP bei der Verteidigung der Heimat höchstpersönlich in vorderster Front stehen würden - für die politische Elite einer Bewegung, die das Prinzip des Kampfes in den 209 210
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Hüttenberger, Gauleiter, S. 195. So Jochen Klenner, Verhältnis von Partei und Staat 1933-1945. Dargestellt am Beispiel Bayerns, München 1974, S. 339. Teppe, Reichsverteidigungskommissar, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung, S. 301. Rebentisch, Führerstaat, S. 531. Die anschließende Bemerkung eben da, S. 529. Das folgende Zitat findet sich bei Rebentisch, Hitlers Reichskanzlei, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung, S. 98. Münkler, Machtzerfall, S. 32. Die Daten der Unterstellungen der Wehrkreise finden sich bei Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 74 ff; im Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1290ff. Zu den Kompetenzkonflikten zwischen Wehrmacht und Partei vgl. auch Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, S. 384. So Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 18. Aus den zahlreichen Gesprächen mit Herrn Brückner, dem ich dafür danke, habe ich manchen Gewinn gezogen. Allgemein hierzu Kershaw, Hitler-Mythos, S. 135 ff. Internes Memorandum der Parteikanzlei v. 27.8. 1943; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 407.
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Mittelpunkt ihrer Weltanschauung gestellt hatte und die Notwendigkeit des Krieges mit der Sicherung der Existenzgrundlagen des deutschen Vokes begründete, war das an sich die pure Selbstverständlichkeit. Die Häufung der Appelle an die von der Bevölkerung weithin als Bonzen abgetanen "Goldfasanen" zeigt freilich, daß die Parteiführung von Anfang an nicht recht davon überzeugt gewesen zu sein scheint, die Gauleiter, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP würden im Kampf um Deutschland nun auch selbst ein Beispiel jenes Heroismus' geben, den sie beständig im Munde führten und ihrer "Gefolgschaft" oft bis zur letzten Minute vor dem Eintreffen der feindlichen Panzer unter Androhung drakonischer Strafen abforderten. Auch Joseph Goebbels wußte, daß mit der unmittelbaren militärischen Bedrohung des Reichsgebietes für die Partei und ihre Funktionäre die Stunde der Wahrheit angebrochen war: "Irgendwie und irgendwann muß die Partei ja auch einmal mit dem Leben ihrer führenden Männer für ihre Sache eintreten", schrieb der Gauleiter von Berlin in sein Tagebuch, nachdem der Feind die Reichsgrenze überschritten hatte. 21B Für die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP konnte es ebenfalls überhaupt keinen Zweifel geben, daß sie nunmehr an den Maßstäben gemessen würden, die sie über Jahre hin für heilig erklärt hatten. Doch die erste Gelegenheit zu persönlichem Heldentum - Mitte September 1944, als die ersten amerikanischen Einheiten bei Aachen die Reichsgrenze überschritten - ließen die NSDAP-Funktionäre dieser Stadt verstreichen. Zusammen mit dem Kreisleiter setzten sie sich bei der Annäherung amerikanischer Panzer am Abend des 12. September heimlich aus Aachen ab und ließen die dortige Bevölkerung schmählich im Stich. Erst als sich die militärische Lage im Vorfeld der Grenzstadt überraschend stabilisierte, kehrten sie kleinlaut wieder zurück. Die Gauleitung Köln-Aachen unter Josef Grohe sprach im Hinblick auf das Verhalten ihrer Politischen Leiter in Aachen selbst von "Führungslosigkeit" und "panikartiger F1ucht".219 Die erste Probe auf die Standfestigkeit der Parteifunktionäre bei Feindannäherung im westlichen Grenzgebiet war mißglückt, doch konnte das notfalls damit erklärt Werden, daß der amerikanische Vorstoß für alle überraschend gekommen und sich weder die höhere noch die örtliche Parteiführung so recht darüber im klaren war, was in einer solchen Situation zu geschehen hatte. Einerseits war die Evakuierung der Bevölkerung angeordnet, andererseits hatte Heinrich Himmler die Aachener noch bei einem Besuch am 10. September persönlich zum Ausharren und Durchhalten aufgefordert. Freilich hätte sich dies gerade die Kreisleitung zu Herzen nehmen müssen; nach der glücklichen Stabilisierung der Lage gewann dann letztlich aber die Tendenz oberhand, über das Versagen der Kreisleitung Aachen den Mantel der Nächstenliebe und Nachsicht zu breiten. Das ging um so eher noch einmal hin, als Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Grohe Ende September in einem Schreiben an Bormann erläuterte, daß die vom alliierten Vorstoß ausgelöste Belastung von Partei und Bevölkerung "in plötzlichem Stoß auftrat, da zwischen der aus den zuversichtlich lautenden Wehrmachtsberichten und Pressekommentaren sich ergebenden ruhigen Beurteilung der Situation und den plötzlich einsetzenden Ereignissen für die Bevölkerung und die Po-
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Eintragung v. 25.9. 1944; in: Goebbels-Tagebücher 1944, HZ-Archiv, ED 172. Vgl. hierzu Klaus Pabst, Die Nachkriegszeit begann in Aachen, in: Walter Först (Hrsg.), Beiderseits der Grenzen, Köln 1987, S. 14. Zu Aachen im Herbst 1944 vgl. 1JI/2.
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!itischen Leiter und Parteigenossen in den Kreisen und Ortsgruppen kein Spielraum zu innerer Umstellung und Vorbereitung blieb"220. Die Feigheit der NSDAP-Funktionäre im Westen paßte schlecht zu der Anfang August im Auftrag Hitlers ergangenen Anweisung Bormanns über das Verhalten der Parteiführerschaft, in der davon die Rede war, nach dem Attentat vom 20. Juli müsse die breite Masse "stärker denn je" die Überzeugung gewinnen, "daß seine nationalsozialistische Führerschaft die beste ist, die unser Volk haben kann"221. Unmittelbar nach den peinlichen Aachener Zwischenfällen wurden die Anweisungen an das Korps der Politischen Leiter der NSDAP wesentlich konkreter. Auf "Veranlassung" Bormanns (wie der "Sekretär des Führers" gegenüber den Gauleitern herausstellte 222 ) gab das OKW am 13. September eine Anordnung über das "Verhalten der Parteiführerschaft in Gebieten, die vom Feind besetzt werden", heraus, die einige Tage später auch als Anordnung der Parteikanzlei erging. Ihr Kernsatz lautete: "Für den Fall überraschender Besetzung von Gebietsteilen durch den Feind hat der Führer zugestimmt, daß die Parteiführerschaft sich freiwillig zum Wehrdienst meldet und sich der kämpfenden Truppe anschließt"223, und zwar, wie Bormann klarstellte, "ohne Rücksicht auf Alter und Wehrtauglichkeit".224 Freilich blieb es letztlich dem ranghöchsten örtlichen Politischen Leiter überlassen, den Zeitpunkt der "Einreihung in die Wehrmacht" im Einvernehmen mit dem lokalen militärischen Führer zu bestimmen. 225 Wie notwendig solche Anweisungen waren, demonstrierte das Verhalten der NSFunktionäre überall. Die "Goldfasanen" dachten in der Regel gar nicht daran, ihre eigenen Parolen ernst zu nehmen oder sich der übermächtigen Verlockung zu widersetzen, die von ihnen geleiteten Evakuierungsmaßnahmen dazu zu nutzen, auch sich selbst mitsamt Familie und persönlicher Habe in Sicherheit zu bringen. Mitte September berichtete der Chef des Reichssicherheitshauptamtes dem Reichsführer-SS von zwei prominenten Beamten und einem höheren Funktionär der Landesbauernschaft Moselland, die bereits im August "ihren gesamten Hausrat einschI. der Möbel mit LKW nach Koblenz" und "in andere Gebiete des Gaues" gebracht hätten. "Habe Weisung gegeben", so Kaltenbrunner, "die Genannten verhaften zu lassen".226 Der SD-Leitabschnitt Düsseldorf gab Ende desselben Monats einen Spitzelbericht nach Berlin weiter, in dem die örtlichen NS-Funktionäre ebenfalls schlecht wegkamen. Als bei Schanzarbeiten im Raum Kleve im Zusammenhang mit der fehlgeschlagenen alliierten Operation bei Arnheim feindliche Fallschirmjäger niedergingen, seien die Politischen Leiter der NSDAP "kaum noch zu sehen" gewesen. Sie hätten es "am eiligsten" gehabt, nach Hause zu kommen. Ein ,,Alt-Parteigenosse" hatte dieses Verhalten nach Darstellung des Informanten sehr abfällig kommentiert: ",Hier hat die Partei ihr letztes Renommee verloren'. Die ersten, die in den Absprunggebieten (z. B. bei KraBericht Grohes an Bonnann v. 28.9. 1944; BA, R 58/976. Anordnung 167/44 der Partei-Kanzlei v. 1. 8. 1944, in: Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben, hrsg. von der Partei-Kanzlei, Bd. VII, Teil 2 aus 1944, München 1944, S. 4; HZ-Archiv, Db 15.04 (c). 222 Schreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16.9. 1944; BA, NS 8/130. 22J Anordnung 259/44g der Partei-Kanzlei v. 22.9. 1944, in: Verfügungen der Partei-Kanzlei, VII, 1944, S. 6; IfZ-Archiv, Db 15.04 (c). Der OKW-Befehl datiert v. 13.9. 1944. 224 Schreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16.9. 1944; BA, NS 8/130. '" "Ergänzungsbefehl" des OKW zu dessen Befehl v. 13.9. 1944; BA, NS 8/130. Übennittelt als Rundschreiben 291/44g der Partei-Kanzlei v. 1. 10. 1944, in: Verfügungen der Partei-Kanzlei, VII, 1944, S. 6 f.; IfZArchiv, Db 15.04 (c). 226 Fernschreiben Kaltenbrunners an Himmler v. 16.9. 1945; BA, R 58/976. 220 221
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nenburg) türmten, waren in brauner Uniform. Die Landstraße Kleve-Kranenburg lag voller Uniformjacken und Armbinden. So zeigten die politischen Leiter ihren Mut, als es ernst wurde. Dabei hatten diese Halunken alle Pistolen. Hätten wir die gehabt, wir hätten manchen abgeknallt!"227 Die Gauleitung Moselland wußte, welche Verlockungen die Evakuierung für deren Organisatoren selbst bot, und schärfte diesen deshalb Anfang Oktober ein: ,,Auf keinen Fall dürfen in den Aufnahmekreisen bereits jetzt vorsorglich Quartiere festgelegt werden für Beamte und politische Leiter der Grenzkreise."228 Der Defätismus grassierte unter den politischen Eliten des Nationalsozialismus nicht nur im Westen. Im Januar 1945, als Himmler den SS-Standartenführer und Polizeipräsidenten von Bromberg wegen "Feigheit und Pflichtvergessenheit" degradieren und "unverzüglich" erschießen ließ, stieß Bormann aus gleichem Grunde auch den Bromberger Kreisleiter der NSDAP aus der Partei aus; er kam mit dem Einsatz in einem Bewährungsbataillon davon. 229 Bis Anfang Februar 1945 bestanden freilich genügend gute Gelegenheiten, die Rückführungsmaßnahmen zur eigenen Evakuierung zu nutzen. Als die Offensive Eisenhowers Ende des Monats wieder in Gang kam, mußten die "Goldfasane" auf dieses Mimikry aber weitgehend verzichten. Obgleich Hitler noch immer auf der nicht mehr durchsetzbaren und auch nicht mehr durchführbaren Wegführung der Bevölkerung aus dem Kampfgebiet bestand, hörten die Evakuierungen großen Stils nun bald auf. Eines war deshalb im Westen 1945 hinfort denn auch ziemlich eindeutig: Ein Politischer Leiter, der jetzt noch "auswich", floh. Deshalb ging nicht nur auf den erschöpften Soldaten und die kriegsmüde Bevölkerung, sondern auch auf die massive defätistische Tendenzen offenbarenden NSDAP-Funktionäre selbst ein dichter Hagel von Durchhalteappellen nieder. Die militärische Entwicklung im Osten wie im Westen bestimmte dabei deren schriller werdendes Crescendo. Am 8. Februar 1945 richtete Martin Bormann ein Fernschreiben ("Vorbereitung auf Feindoffensive im Westen") an die zehn Gauleiter im frontnahen Gebiet. Darin beschwor er sie, bei dem bevorstehenden Angriff der alliierten Armeen unbedingt die bei früheren Großoffensiven gemachten und "jetzt neuerdings im Osten" wieder bestätigten Erfahrungen zu beachten. Auf keinen Fall dürfe es zu einer neuerlichen großen Evakuierungswelle kommen; schon die Wegführung von Frauen und Kindern aus der unmittelbaren Kampfzone könne "erfahrungsgemäß leicht zum Signal einer Massenflucht werden". Um ein "Weichwerden" der Fronttruppenteile zu verhindern, habe er den Reichsführer-SS gebeten, schon jetzt eine größere Zahl seiner im Osten so bewährten Auffangkommandos aufzustellen. Bormanns Anweisung an die Politischen Leiter war unmißverständlich: ,Jeder Hoheitsträger und jeder Amtsträger der Bewegung hat ebenso wie jeder Funktionär des Staates auf seinem Platz unter allen Umständen und unter schonungslosem Einsatz seines Lebens solange auszuhalten, bis entweder seine Aufgabe erledigt ist, oder auch der letzte Teil seines Tätigkeitsbereichs in die HKL. einbezogen iSt."230 Eine Woche danach verbot die Parteikanzlei den
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Bericht des SD-Leitabschnittes Düsseldorf an das Reichssicherheitshauptamt v. 27.9. 1944; ebenda. Erlaß der Gauleitung Moselland v. 9. 10. 1944; LHA Koblenz, Bestand 662,5, Nr. 102. Das ergibt sich aus einem Rundschreiben des Reichspropagandaministers an die Abteilungsleiter seines Hauses "Verhalten der Dienststellen bei Feindnäherung" v. 6.2. 1945; BA, R 55/71l. Femschreiben Bormanns an die Gauleiter der Gaue Baden, Düsseldorf, Essen, Hessen/Nassau, Köln-Aachen, Moselland, Weser-Ems, Westfalen-Nord, Westfalen-Süd und Westmark v. 8.2.1945; BA, NS 19 alt/32l. Dort
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NSDAP-Funktionären, ihre Frauen zu evakuieren, bevor ein allgemeiner Räumungsbefehl ergangen war. 23l Eine weitere Woche später ordnete der "Sekretär des Führers" an, daß jeder, der seine dienstlichen Befugnisse dazu mißbrauche, sich und seiner Familie Vorteile zu verschaffen, aus der Partei auszustoßen sei. 232 Zur 25. Wiederkehr des Jahrestages der "Verkündung" des Programmes der NSDAP - im Rheinland hatte gerade die Schlußoffensive der Westmächte begonnen - wandte sich Bormann in einer großen Adresse an sämtliche Parteigenossen. Nicht ohne zuvor an die "sechzehn Märtyrer der Feldherrnhalle" erinnert zu haben, schrieb er den Mitgliedem, jetzt, da der Krieg auf dem Boden der Heimat durchgekämpft werden müsse, hänge der Bestand und die Zukunft des deutschen Volkes "von der inneren Kraft der Bewegung Adolf Hitlers" ab: "Nun ist jeder, Soldat wie Zivilist, Mann wie Frau, Jugendlicher wie Greis, eingereiht in die Front der Kämpfer. Nun scheidet sich, wie einst in der Zeit des inneren Kampfes, die Spreu vom Weizen. Nun entscheidet sich, ob wir berechnende Mitläufer waren oder selbstlose Bekenner sind." Und weiter: ,Jetzt geht es um nichts anderes als um unser aller Leben; und diese Alternative läßt keine Bedenken in der Wahl der Mittel und keine Beugung des Begriffs der Selbstaufopferung mehr zu. Wer nun noch an sich denkt, wer nun noch mit dem Gedanken des Zurückweichens und der Absetzung spielt, wird zum Verräter am Volk und zum Mörder unserer Frauen und Kinder. .. Wer niemals aufgibt zu kämpfen und lieber zwischen Trümmern fällt, als einen Schritt nur zu weichen, ist unbesiegbar; und unter diesem unbeugsamen Naturgesetz bricht jede rechnerische Kalkulation, jedes scheinbar kluge Abwägen des Für und Wider unerbitterlich zusammen, denn zu allen Zeiten haben die Starken und nicht die Feigen, die Unerschütterlichen und nicht die Wankenden, die Kämpfer und nicht die ängstlichen Rechner letztlich recht behalten und den Sieg davongetragen. Von jedem Parteiführer verlangt der Führer und erwartet das Volk, daß er durchhält bis zum Letzten und niemals auf die eigene Rettung bedacht ist. Die Parteigenossenschaft hat sich als unerschütterlicher Fels in der Brandung des Krieges zu erweisen, denn nun tritt an die Stelle vermeintlicher Vorrechte bedingungslos die Forderung der höheren Pflicht. Jeder Mann aber, der die Waffe tragen kann, hat um der Heimat willen, die er liebt, zum Schutz der Frauen und Kinder, mit seinem Leib sich gegen den Feind zu werfen. Jede Frau unterwirft sich dem Gebot der Stunde und nimmt mutig auf sich jedes Ungemach, jede Trennung von Heim und Mann, jede Beanspruchung ihrer seelischen und körperlichen Kräfte, notfalls auch Gefahr und Todesnot." Der Leiter der Parteikanzlei schloß mit dem Aufruf: "Parteigenossen! Es geht um unser Leben und das unserer Kinder! Es gibt kein Opfer, das dieses Ziel nicht Wert ist! Nun ist das Schicksal Deutschlands in jedes Einzelnen Hände gelegt! Wer siegen will, muß rückhaltlos zu opfern und anständig zu sterben wissen. Wer sein Leben zu retten versucht, ist mit Gewißheit, und sei es durch Urteil des Volkes, dem Tode verfallen. Es gibt nur eine Möglichkeit, am Leben zu bleiben: die Bereitschaft kämpfend zu sterben und damit den Sieg zu erzwingen!"233
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auch ein Schreiben Bonnanns an Himmler betreffend die "Vorbereitungen für die bevorstehende Feindoffensive im Westen" vom gleichen Tage. Rundschreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16./20.2. 1945; Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, I, Nr. 18321. Anordnung der Partei-Kanzlei 98/45 v. 23.2. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 561. Rundschreiben Bonnanns an alle Parteigenossen betreffend ,,25. Jahrestag der Verkündung des Parteiprogramms" v. 24.2. 1945; BA, R 55/460. Hervorhebung im Original.
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Ebenso wie die Goebbelssche Propaganda, hatte auch diese desperate Diktion nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit der Politischen Leiter und sonstigen NSAmtsträger zu tun, war die Kluft zwischen Parteiführung und Parteifunktionären, (ganz zu schweigen von den Parteigenossen) im letzten Vierteljahr des Krieges genauso groß geworden wie die Kluft zwischen Wehrmachtsführung und Armee, wie generell zwischen Volk und Führung. Die Partei, deren Macht am Ort mit der Verschlechterung der allgemeinen Kriegslage - in den Augen der Bevölkerung: bezeichnenderweise - stetig zugenommen hatte, galt als "verbond', sie war mittlerweile hoffnungslos diskreditiert. In ihrem Ansehen rangierte die NSDAP immer weiter hinter der Beamtenschaft, der Wehrmacht oder gar hinter Hitler selbst. Das Verhalten ihrer Führer im frontnahen Gebiet (von dem es namentlich im Osten freilich manche Ausnahme gab) schien die Berechtigung dieser Geringschätzung nur allzu deutlich zu bestätigen. Der Gauleiter von Halle-Merseburg glaubte, eine ungeschickte Berichterstattung habe mit zu diesem Vertrauenseinbruch beigetragen. In einem Schreiben an Bormann bezweifelte er im Februar, ob es "politisch tragbar" sei, "jeden 2. Tag darauf hinzuweisen, daß politische Führer oder hohe Beamte total versagt haben und dieserhalb standrechtlich abgeurteilt werden. Was soll die Bevölkerung davon denken, deren Vertrauen in die Führung durch die militärischen Ereignisse und die Nichterfüllung der von der Propaganda gemachten Prophezeiungen und Versprechungen aufs Schwerste erschüttert ist. Wie sollen sich politische Führer im Vertrauen der Bevölkerung halten, wenn täglich derartige Entgleisungen groß herausgeschrien werden", fragte Joachim Albrecht Eggeling. 234 Der Gauleiter hatte damit das unauflösliche Dilemma benannt, vor dem jetzt nicht nur die Parteiorganisation stand. Je drastischer die Führung die Abschreckungsmaßnahmen gegen ihre eigenen Funktionäre verschärfte, desto deutlicher führte sie der Bevölkerung die innere Verfassung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in deren Defätismuskrise des letzten Vierteljahrs des Krieges vor Augen. Mittlerweile hatte die Parteikanzlei auch schon einige hilflose Versuche gestartet, ihre kämpferische Rhetorik durch echtes Kämpferturn zu untermauern. Doch damit erlebte sie bei wirklich kampferprobten Männern eine schreckliche Abfuhr. Mitte Februar kehrte der (bei seinen Vorgesetzten wegen besonders guter Haltung aufgefallene) Führer eines jener gefürchteten ,,Alarmkommandos" der SS - Ritterkreuzträger und Angehöriger auch der Allgemeinen SS - nach Berlin zurück, um dem Chef des SS-Hauptamtes über seine Erfahrungen an der Ostfront zu berichten. Bei dieser Gelegenheit stattete er auch zwei führenden Mitarbeitern der Parteikanzlei einen Besuch ab, von dem er, wie SS-Obergruppenführer Gottlob Berger dem Persönlichen Stab Himmlers berichtete, "stark deprimiert wiedergekommen" sei. Die Partei, so erzählte der Führer des Alarmkommandos nach seiner Rückkehr, beabsichtige nämlich, ,,1500 Parteiführer freizumachen, um sie als ,politische Kampfkommandanten' zum Einsatz zu bringen, und zwar sollen die Offiziere in Wehrmachtuniformen, die Nichtoffiziere in Parteiuniformen ihren Dienst machen". Der darob einigermaßen fassungslose Ritterkreuzträger bat, "den Reichsführer-SS doch darauf aufmerksam zu machen, daß bei der augenblicklich an der Front befindlichen Stimmung man Leute in Parteiuniform totschlagen würde". Auch nach Bergers Ansicht brauchte man keine "Politischen
2"
Schreiben von Gauleiter Eggeling an Bormann v. 10.2. 1945; BA, R 55/1394.
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Kampfkommandanten", sondern "in dieser Härte des Krieges tapfere Soldaten ... Auch ich bin ein Gegner, daß jetzt alle möglichen Stellen in die Front hineinreden! An der Front hat nur der etwas zu sagen, der selber vorn steht."235 Diese gewiß nicht verborgen gebliebene Geringschätzung der wohlmeinenden Versuche der Parteikanzlei, mit den eigenen Leuten zur Stabilisierung der Front beizutragen, war keine Einzelerscheinung. Anfang März befahl Bormann den "Sondereinsatz der Parteikanzlei in frontnahen Gebieten" und ordnete dazu die Abstellung von fünf bewährten Führungskräften je Gau an. Auch dieser Anlauf mündete in einem "völligen Fiasko"236. Man mußte feststellen, daß ,,Anwesenheit und Einsatz" der von der Parteikanzlei abgeordneten Kräfte "nicht als willkommen angesehen" wurden. Wo sie, wie in Hessen-Nassau, doch zum Einsatz kamen, zeigten die örtlichen ParteisteIlen kaum Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Dort war das Sonderkommando überdies "relativ hilflos in den umkämpften Gebieten herumgeirrt, stets in der Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten"237. Auch den März und April über, als längst Hunderte von fliehenden Amts- und Hoheitsträgern der Bevölkerung Tag für Tag den - an den Maßstäben der Partei gemessen! - vollkommenen moralischen Bankrott der NSDAP vor Augen führten, gab Bormann Aufruf nach Aufruf heraus. Zum Zeitpunkt, als der totgeborene "Sondereinsatz" erdacht wurde, bekamen die Politischen Leiter ein Rundschreiben mit einem Vergleich aus dem Tierreich (" ... genau wie das Tier in der Natur um unser Dasein und das unserer Jungen kämpfen")238, zum 1. April den Appell, demzufolge Gauleiter, Kreisleiter und sonstige Politische Leiter "in ihrem Gau und Kreis" zu kämpfen hätten. "Siegen oder fallen", lautete die Alternative, bei deren Beherzigung kein NSFunktionär den Krieg hätte überleben dürfen. 239 Der gleiche Hohn auf die Wirklichkeit sprach aus dem am Tag vor der Berliner Operation der Roten Armee produzierten Rundschreiben. Der "Führer" erwarte, so belehrte sein Sekretär die "Hoheitsträger" über deren "Einsatzpflicht", daß diese in ihren Gauen jede Lage "blitzschnell mit äußerster Härte" meisterten. Und er fügte jetzt, zwei Wochen vor Hitlers Selbstmord, die Worte an: "Die Führernaturen haben alle hemmenden Brücken abgebrochen."24o Die meisten Gaue der NSDAP waren mittlerweile in der Hand der AntiHitler-Koalition. In den noch unbesetzten Reichsteilen in Nord- und Süddeutschland werden die meisten "Hoheitsträger" den letzten Appell aus Berlin nicht mehr vernommen haben. Das verschlug wenig, denn mittlerweile hatte sich längst gezeigt, daß der "Sekretär des Führers" ohnehin ins Leere predigte. Noch augenfälliger als in der Friedenssehnsucht der Bevölkerung, der Desintegration der Wehrmacht oder in den Funktionslähmungen von Wirtschaft und Verwaltung offenbarte sich der Bankrott des Regimes in dem geradezu unwirklichen Zerfall der Hitler-Partei und ihrem totalen Einflußverlust seit ungefähr Februar 1945 - unwirklich und gespenstisch vor allem wegen des phänomenalen Kontrastes zwischen 235
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Schreiben Gottlob Bergers an SS-Standartenführer Rudolf Brandt vom Persönlichen Stab Reichsführer-SS v. 18.2. 1945; BA, NS 19 alt/378. So Peter Longerich in seiner Einleitung zu: Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 368 f.). Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 369). Rundschreiben der Partei-Kanzlei 131/45 v. 8.3. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 562. Appell Bormanns an alle Reichsleiter, Gauleiter und Verbandsführer v. 1. 4. 1945; zit. nach Steinert, 23 Tage, S. 34. Rundschreiben der Partei-Kanzlei 211/45 v. 15.4.1945; zit. nach Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 370).
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dem in der Krise des Krieges noch gewachsenen Anspruch der NSDAP und der ad oculos demonstrierten erbärmlichen Unwahrhaftigkeit und Feigheit ihrer politischen Elite. In dem Augenblick, als sie nach Jahren heldischen Bramarbasierens zum ersten Mal in ihrer Karriere mit der eigenen Person für ihre Sache hätten "einstehen" sollen, da versagten die sogenannten Hoheitsträger. Durch die Rhetorik martialischer Unbedingtheit, besonders aber durch die bis zur letzten Minute tatsächlich auch ausgespielte Macht über Leben und Tod in ihrem Herrschaftsbereich, wurde der scharfe Kontrast zwischen hohem Anspruch und kläglicher Realität nur um so deutlicher. Die Endphase des Krieges brachte es an den Tag, daß die Bindung der Politischen Leiter der NSDAP an die Ideen und Befehle ihres "Führers" nur so lange hielt, wie sich die persönlichen Kosten dieser Art von Treue in Grenzen hielten; sie war bei ihnen zumeist nicht weniger vordergründig als bei dem Gros der Parteigenossen, der gewöhnliche Opportunismus ebenso tief eingefressen. Die allermeisten politischen Eliten des Nationalsozialismus warfen die Tür gerade nicht mit jenem von Goebbels beschworenen Krachen hinter sich zu, das die ganze Welt hören sollte 241 , vielmehr stahlen sie sich, als die Amerikaner anrückten, meist mit kläglichen Manövern aus ihrer zuvor als historisch betrachteten Rolle. Das geschah meist in einer Erbärmlichkeit und Kleinkariertheit, die den "Geist" der NS-Bewegung vielleicht nicht weniger nachhaltig ertötet hat als deren Fehler und Versagen. Die "Hoheitsträger" führten damit die Ziele ihrer Partei wie "ihre eigenen Parolen ad absurdum"242. Die Desertion der Politischen Leiter der NSDAP im amerikanischen Besetzungsgebiet war ein Massenphänomen. Zu Beginn des feindlichen Einmarsches im Herbst 1944 noch nicht in jedem einzelnen Falle als ordinäre Flucht kenntlich, gab es im letzten Vierteljahr des Krieges für einen Ortsgruppenleiter oder Kreisleiter keinerlei Rechtfertigung mehr dafür, seine in die unmittelbare Kampfzone geratenden "Volksgenossen" im Stich zu lassen. Eine grundlegende Alternative zur Flucht hätte in dem Entschluß bestanden, zur kampflosen Übergabe des Heimatortes beizutragen. Unter den Kreisleitem fand sich aber praktisch niemand zu dieser Art "Verrat" bereit. 243 Die "Hoheitsträger" saßen in der Klemme: Den "Verrat" - und damit vor allem das Risiko, in letzter Minute noch einem SS-Kommando oder einem Standgericht zum Opfer zu fallen - scheuten die "Kreiskönige" der NS-Zeit ebensosehr wie den Kampf oder gar das der Bevölkerung abverlangte und oft erzwungene persönliche Opfer. Als sich Anfang April 1945 die 7. US-Armee und die 1. Französische Armee den Grenzen des Gaues Württemberg näherten, begannen auch hier die "Goldfasanen" gen Osten und Süden zu ziehen. Die Begleitmusik dazu lieferten der Stuttgarter "NSKurier" und Gauleiter Wilhe1m Murr, der noch am 10. April zu einem "Kampf bis aufs Messer" aufrief.2 44 Zu diesem Zeitpunkt verspielte die NSDAP im nordwürttembergischen Öhringen eben ihren letzten Kredit, wie der dortige Dekan feststellte: "Ganz besonders aber hat die Partei ihren moralischen Bankrott durch die Flucht der 241 242
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Vgl. Helmut Heiber, Joseph Goebbels, Berlin 1962, S. 391. So Münkler, Machtzerfall, S. 204. Anregend zu diesem Komplex auch die Bemerkungen ebenda, S. 10, S. 96, S. 181 und S. 202. Eine seltene Ausnahme war der Kreisleiter von Fürstenfeldbruck, der die Besatzungstruppen in der Uniform des Politischen Leiters erwartete. Vgl. Barbara Fait, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 251 und S. 280. NS-Kurier, 10. 4. 1945; zit. nach Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 490. Dort und auf der folgenden Seite weitere Aufrufe und Kampfparolen.
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Parteihäupter auch in hiesiger Stadt besiegelt", berichtete er dem Evangelischen Oberkirchenrat aus dem am 13. April besetzten Städtchen: "Wie auch die Entwicklung weitergeht, der Nationalsozialismus als System hat ausgespielt, niemand wünscht es zurück, man schämt sich der von ihm begangenen Grausamkeiten, die man jetzt erst in ihrem vollen Umfang erfährt, und man haßt die bisherigen Führer, die ,das Volk ins Unglück gestürzt haben und sich jetzt der Verantwortung durch Flucht oder Selbstmord entziehen'."l45 Wo sie es irgendwie einrichten konnten, versuchten die Parteifunktionäre die Evakuierungsbefehle als Alibi und Vorwand ihrer Flucht zu nutzen. Das Verlassen von Ortschaften zusammen mit der Bevölkerung - wenn sich diese denn dazu hätte überreden oder zwingen lassen - hätte zwar auch gegen die Anordnungen Bormanns verstoßen, den "Goldfasanen" wäre es aber um einiges leichter gefallen, ihr Gesicht zu wahren. Diese Vermutung sprach der evangelische Dekan in Künzelsau bereits am Tage der amerikanischen Besetzung in seinem Situationsbericht an die Leitung der Evangelischen Kirche in Württemberg aus. Fünf Tage vor dem Fall der Stadt habe überall der Räumungsbefehl ausgehangen, schrieb er: "Von der Bevölkerung ist so gut wie alles dageblieben. Allgemeine Auffassung war: Die Bonzen wollen sich in Sicherheit begeben, und um ihre Flucht gegen den Vorwurf der Feigheit zu schützen, wird Räumung angeordnet."246 Der bedauerliche Fortfall eines Vorwandes für das eigene ,,Ausweichen" brachte die Kreisleiter der NSDAP freilich nirgends dazu, ihre Fluchtpläne deshalb aufzugeben. Im Gau Württemberg-Hohenzollern nahm keiner von ihnen die Anordnungen des Leiters der Parteikanzlei und die Beschwörung von Gauleiter Murr wörtlich. Sie griffen nicht zur Waffe, reihten sich nicht in die Wehrmacht ein, wie es ihnen befohlen war, und sie kümmerten sich nicht um das Schicksal ihrer Städte und das Geschick der Bevölkerung ihrer Landkreise. Statt dessen suchten die einstigen Kreiskönige ihr Heil in der Flucht und überließen in der kritischen Stunde des feindlichen Einmarsches ihre "Gefolgschaft" sich selbst. In der Nacht vor der Besetzung Backnangs am 20. April 1945 etwa mußte der Bürgermeister der Stadt die Feststellung machen, "daß die Bevölkerung - meist Frauen und Kinder - in den Bunkern sitzt - verängstigt, ohne jede Unterrichtung seitens der Kreis- und Ortsgruppenleitung, die seither doch alles in Händen hielt!!" Im Morgengrauen waren bereits sämtliche Befehlsstellen verlassen. Über seinen Besuch im offenstehenden Haus der Kreisleitung hielt der Bürgermeister in seinem Tagebuch fest: "Im Parterre lagen Revolver, Gewehre und Munition, in denen 1-2 Burschen kramten, die ich hinauswies. In den Büroräumen lag alles durcheinander, aber offensichtlich auch ausgeräumt, Kassenschrank offen und leer, abgesehen von einem Photografiealbum mit Originalaufnahmen der Parteigeschichte Backnangs."247 Im benachbarten Schwäbisch Gmünd 248 war den Männern des Volkssturms in Wort und Schrift "eingehämmert" worden, der Kreisleiter werde sich selbst an ihre Spitze setzen, wenn es gelte, den Amerikanern die Eroberung der Stadt zu verwehren. An den Wänden 24'
246
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Bericht des evangelischen Dekans von Öhringen an die Kirchenleitung in Großheppach v. 15. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. Schreiben Dekan Kiesers ("Betr.: Kritische Tage in Künzelsau") an den Evangelischen Oberkirchenrat in Großheppach v. 12.4. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-1945, Altregistratur. Aufzeichnungen von Bürgermeister Reinhardt v. 19. und 20.4.1945; HStA Stuttgart,j 170, Büschel 2. Zum folgenden Albert Deibele, Krieg und Kriegsende in Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1954, S. 32 ff.; Zitate ebenda.
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war in großen schwarzen Lettern überall die Parole "Wir halten durch!" aufgemalt. Als der Feind dann an die Stadt heranrückte, ergaben sich der Kreisleiter und sein Stab dem Alkohol, aßen sich noch einmal tüchtig satt, und dann sind sie, wie es der Kampfkommandant ausdrückte, "wie die Wilden abgehauen". Zuvor hatten sich die NS-Funktionäre reichlich eingedeckt: "Der Lieferwagen des Milchwerks wurde beschlagnahmt und aus dem Käsekeller aufgeladen, was hinaufging. Andere Autos brachten aus einem Lager der SS, das im Stadtgarten war, weitere Vorräte, namentlich auch Schnäpse und Rauchwaren. Aus der Schweinemästerei bei der Dreifaltigkeit wurden 6 Schweine aufgeladen und der Proviantkolonne eingegliedert." Kreisleiter Bosch von Schwäbisch Hall und seine Mitarbeiter ("nicht etwa im Braunhemd, sondern in merkwürdig harmloser Aufmachung") nahmen bei ihrem "kleinen Stellungswechsel", wie sie sagten, 60 Liter Benzin mit, die der Feuerwehr dann fehlten, als das brennende Rathaus gelöscht werden sollte. 249 Aus Waiblingen, einem Nachbarkreis von Stuttgart, verschwand die NS-Prominenz in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1945 - nicht ohne zuvor "noch die Fettration eines ganzen Monats" im Ernährungsamt für den Eigenbedarf abgezweigt zu haben. 250 Schon diese wenigen Episoden aus dem NSDAP-Gau Württemberg-Hohenzollern, denen unschwer weitere Beispiele an die Seite gestellt werden könnten25I , zeigen die durchweg "kopflose Flucht" der Politischen Leiter252 , die bei Kriegsende denn auch sofort in aller Munde war. Eine Unzahl von Ortsgruppenleitern und sonstigen kleinen Amtswaltern taten es in Württemberg und den anderen Regionen des Reiches dem Vorbild ihrer Vorgesetzten gleich. Wie ihr Kreisleiter, "verschwanden"253 auch der Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer von Untermünkheim (Landkreis Schwäbisch Hall). In Schnait (Kreis Waiblingen) gab der Ortsgruppenleiter anläßlich einer mit viel Alkohol vonstatten gehenden Feier von Hitlers 56. Geburtstag dem "unentwegten Glauben" an den "Führer" Ausdruck und setzte sich am 20. April dann mit den zurückgehenden deutschen Truppen ab. 254 Der Ortsbauernführer von Maulach im Landkreis Crailsheim drohte erst jedem, der es wagen sollte, eine weiße Fahne zu hissen, mit der Todesstrafe, und war dann selbst "in den Wald in eine gut ausgestattete
"Kriegsbilder 1945" der Lehrerin Auguste Reinhardt, undatiert (1949); HStA Stuttgart, J 170, Büschel 16. Zur Flucht der Kreisleitung Schwäbisch Hall vgl. auch: "Geschichtliche Darstellung und Erlebnisbericht der letzten Kriegstage in BühlerzeII" von Otto Kohnle v. 18.8.1949; ebenda. Siehe auch das Schreiben des Dekans von Schwäbisch Hall an die Leitung der Evangelischen Landeskirche von Württemberg v. 4.5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. 250 Undatierter Bericht "Die letzten Kriegstage in Korb" im Landkreis Waiblingen (Ende 1948); HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20. m Vgl. etwa die Schilderungen über das Verhalten der Kreisleiter: Böblingen, Bericht des Plarrers von Rudersberg "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in Magstadt" v. 6. 2. 1950; HStA Stuttgart, Büschel 3. Ellwangen, Wolfgang Högg, Ellwangen wird Kriegsschauplatz, in: Ellwanger Jahrbuch 1936- 1946, XIII, S.9 ff. Göppingen, "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage des Weltkriegs 1939/1945" in der Gemeinde Heiningen von Hauptlehrer Kanderer, Oktober 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 6. Heidenheim, Heidenheimer Neue Presse, 23. 4.1970: "Vor 25 Jahren: Weiße Fahnen retteten Heidenheim". Münsingen, Lagebericht des Evangelischen Dekanatamtes Münsingen an die Leitung der Evangelischen Landeskirche Württemberg v. 7.6. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 252 Rebentisch, Führerstaat, S. 530. '" Bericht des Plarramtes Untermünkheim "Über die Zeit von Ende März bis Mitte Mai 1945" v. 16.6. 1945; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 16. 254 "Bericht zur Lage" des Plarramts Schnait an das Evangelische Dekanatamt Stuttgart v. 18.6. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 249
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Hütte geflohen"255. Im Kreis Heilbronn flüchtete bei Anrücken der Amerikaner beispielsweise der stellvertretende Ortsgruppenleiter von Frankenbach ("auf dem Motorrad"?56 oder etwa der Ortsgruppen leiter von Schwaigern 257 (zusammen mit seinem Sohn und der Schwester des Kreisleiters und deren fünf Kindern). Ein als "Teufel in Menschengestalt" beschriebener Ortsgruppenleiter in Vaihingen an der Enz: "natürlieh geflüchtet"258; Bönnigheim/Landkreis Ludwigsburg: "Nur der Ortsgruppenleiter selbst und der stellvertretende Bürgermeister E. ließen die Stadt im Stich und suchten ihr Heil in der Flucht"259; Steinenbronn/Kreis Böblingen: ebenfalls Flucht des Ortsgruppenleiters und des stellvertretenden Bürgermeisters, "letzterer unter Zurücklassung seiner Familie, worüber die gesamte Gemeinde empört war"260; usw., USW. 261 Da die Auflösung und kümmerliche Abdankung der NSDAP ein allgemeines und hervorstechendes Merkmal des letzten Vierteljahres des NS-Regimes gewesen ist, war die Feststellung, die der SD in einer Bilanz von Ende März 1945 traf, noch mehr als zurückhaltend formuliert: Überall grassiere die Kritik an der Partei, es breche nun "ungestüm, gereizt und zum Teil gehässig die Enttäuschung darüber heraus, daß die nationalsozialistische Wirklichkeit in vieler Hinsicht nicht der Idee" entspreche. 262 Joseph Goebbels, der zu Beginn der amerikanischen Besetzung in sein Tagebuch geschrieben hatte, der Moment komme 263 , wo die NS-Funktionäre mit ihrem Leben für die Idee einstehen müßten, legte über ein halbes Jahr später Rechenschaft darüber ab, daß die politische Elite der nationalsozialistischen Bewegung nicht einfach bloß versagt, sondern betrügerischen Konkurs gemacht hatte. "Das Verhalten unserer Gauund Kreisleiter im Westen hat zu einem starken Vertrauensschwund innerhalb der Bevölkerung geführt", notierte er Anfang April 1945. "Die Bevölkerung glaubte erwarten zu können, daß unsere Gauleiter in ihrem Gau kämpfen und, wenn nötig, in ihm fallen. Das ist in keinem Falle der Fall gewesen. Infolgedessen hat die Partei im Westen ziemlich ausgespielt."264
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Bericht des Pfarramts Roßfeld an die Leitung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg v. 5. 6. 1945; eben da. "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes Frankenbach von Dezember 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. Darstellung des Bürgermeisteramtes "Die letzten Kriegstage in Schwaigern" v. 27. 10. 1948; ebenda. "Reisebericht vom Bezirk Vaihingen und Maulbronn" des Amtmanns Hermann Winnenden v. 22. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. "Geschichtliche Darstellung des Feindüberfalls auf die Stadt Bönnigheim am 7. April 1945" von C. Koppenhöfer v. 10.12. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1l. "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in der Gemeinde Steinen bronn" des Bürgermeisteramtes v. 18. 10. 1949; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 3. Vgl. beispielsweise: Undatierter (Sommer 1948) Bericht von Walther Walz, "Die letzten Kriegstage in EIpersheim (Kreis Mergentheim)"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. ,,Aus der Kriegschronik von Rosswag, Kreis Vaihingen/Enz", Bericht des Pfarrers Götz von September 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. "Kurzbericht über Gemeinden im Murrtal" des Pfarrers von Kirchberg an das Evangelische Dekanatamt Marbach v. 2.5.1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. Undatierter zusammenfassender Bericht des SD von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Eintragung v. 25.9.1944; Goebbels-Tagebücher, 1944; HZ-Archiv, ED 172. Eintragung v. 4.4. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 420. In einer der letzten Lagebesprechungen, am 27. April 1945 in Berlin, sagte Hitler, er bleibe auch deswegen in der Reichshauptstadt, "damit ich etwas mehr moralisches Recht bekomme, gegen Schwäche vorzugehen. Ich habe sonst das moralische Recht nicht. Ich kann nicht dauernd andere bedrohen, wenn ich selbst in der kritischen Stunde von der Reichshauptstadt weglaufe." Zwei Tage zuvor hatte er gesagt, er müsse denen, die flüchteten, "einmal das Beispiel geben, daß ich mich nicht absetze". Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hrsg. und bearb.
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Vielleicht lag es an seiner Ferne zur untersten Ebene der Parteihierarchie, daß der Reichspropagandaminister und Berliner Gauleiter die Ortsgruppenleiter der NSDAP nicht erwähnte, vielleicht war ihm aber auch bewußt, daß sich das Verhalten der örtlichen Politischen Leiter bei der Annäherung des Feindes nicht durchweg mit der beschämenden Haltung der Kreisleiter und Gauleiter deckte. Gewiß, auch eine große Zahl von Ortsgruppenleitern floh vor den amerikanischen Truppen, doch zwischen diesen kleinen "Hoheitsträgern" und der örtlichen Einwohnerschaft hatte sich bei Kriegsende nicht überall eine unüberwindlich breite Kluft aufgetan. Die Ortsgruppenleiter waren in noch viel geringerem Maße als die Kreisleiter eine milieufremde Elite gewesen. Mancherorts führten sie ihr Amt eher wie Interessenvertreter der Gemeinde gegenüber "oben", denn als verlängerter Arm oder als bloße Exekutoren der Kreisleitung. Zweifellos wuchs gegen Kriegsende bei vielen von ihnen die Distanz zu ihren unmittelbar vorgesetzten Führern noch, die viel mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit und unter strengerer Kontrolle der hierarchischen Organisation standen, die Partei und Staat unmittelbarer verpflichtet waren als die Ortsgruppenleiter selbst. Dem entsprach in der Endphase des Krieges eine Verbesserung und Intensivierung der bei entsprechender "Volkstümlichkeit" oftmals ohnehin wenig getrübten Beziehungen zur örtlichen Einwohnerschaft, die inzwischen bloß noch an einem einzigen Ziel orientiert war, nämlich die zermürbenden Wochen existentieller Unsicherheit und Bedrohung einigermaßen glimpflich zu überstehen und so viel wie möglich von ihrem Besitz zu retten. Dabei konnte der Ortsgruppenleiter im entscheidenden Augenblick der Feindannäherung gut behilflich sein. Für den "Hoheitsträger" am Ort verband sich damit die persönliche Chance, durch eine vernünftige Haltung vielleicht einen Teil seiner unbestreitbaren Mitverantwortung als Repräsentant des Hitler-Regimes vor den Augen der ehemaligen "Gefolgschaft" abtragen zu können. Besonders deutlich wurde dieses Bemühen in Württemberg im Landkreis Heilbronn, der von einem ausgesucht brutalen und blutrünstigen Kreisleiter, dem "Schlächter von Heilbronn", Richard Drauz, regiert wurde. 265 Der hatte Ende März seinen Ortsgruppenleitern strenge Anweisung erteilt, jedes Dorf in eine Festung zu verwandeln. Der Ortsgruppenleiter wie der Bürgermeister der Gemeinde Gronau (der in den kommenden Tagen den aktiven Part übernehmen sollte) waren sich bald darin einig, diesen Befehl "auf Verteidigung des Dorfes wie auf Räumung desselben nicht durchzuführen"266. Daran änderte sich auch nichts, als Drauz persönlich erschien, "schwer bewaffnet und von einer großen Schar schwer bewaffneter SS und Parteibegleiter umgeben", und seine Anordnung bekräftigte, die in der Einwohnerschaft "ungeheure Aufregung" verursachte. Nachdem der gefürchtete Kreisleiter weitergezogen war, gelang es, den örtlichen Truppenführer kurz vor dem Einrücken der Amerikaner am 20. April zum Abzug seiner Einheit aus der Gemeinde zu bewegen. In der ebenfalls im Landkreis Heilbronn gelegenen Ortschaft Neipperg sollte bald nach einer Besprechung des Kreisleiters mit seinen Ortsgruppenleitern der Bau von Panzersperren
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von Herber! Michaelis und Ernst Schraepler, Bd. XXIII: Das Dritte Reich. Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Dritten Reiches, Berlin 0.]. (1976), S. 170, S. 157fl. Zitate S. 170 und S.161. So das Epitheton der "Geschichtlichen Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes Frankenbach/Kreis Heilbronn vom Dezember 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 8. Zu Drauz vgl. unten in diesem Kapitel. Hierzu und zum folgenden der Bericht des Bürgermeisteramtes der Gemeinde Gronau v. 7. 12. 1949; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8.
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beginnen. Da trat der Pfarrer auf den Plan und warnte den örtlichen "Hoheitsträger" davor, "den Befehl des Kreisleiters Drauz, dieses Lumpen und Narren, zu befolgen. Der Ortsgruppen leiter Schmid führt die Anordnung des Kreisleiters nur zum Schein durch. Es werden im Ort und im Weichbild des Ortes keine Panzersperren angelegt."267 Als im Städtchen Möckmühl der Befehl zur Evakuierung eintraf, dachte niemand in der Bevölkerung daran, ihm Folge zu leisten. "Der Befehlsstab der Ortsgruppenleitung war offenbar der gleichen Meinung, denn er begnügte sich mit der formellen Bekanntgabe der Befehle der Kreisleitung Heilbronn, er selbst traf keine Vorbereitungen zur Evakuierung." Bald darauf erschien ein Trupp Soldaten der von der Bevölkerung viel gehaßten 17. SS-Panzer-Grenadier-Division "Götz von Berlichingen", die, wie sie frivol erklärten, in dem Städtchen, in dem der Ritter Götz einstmals gefangengenommen worden war, einen "Traditionskampf" führen wollten. Daraufhin wurden Bürgermeister und Ortsgruppenleiter ("in der Hoffnung, daß die Partei auf die SS mehr Einfluß hätte als die Zivilbehörden") mehrfach beim Kommandeur vorstellig, um ihm die Verteidigung Möckmühls auszureden; sogar an den Divisionskommandeur persönlich wandten sich die beiden. Dieses Ansuchen wurde aber "schroff abgewiesen". Die Folge war, daß amerikanischer und deutscher Beschuß noch erheblichen Schaden anrichtete, bevor die Besatzungstruppen einige Tage später schließlich in das kleine Städtchen einzogen. 268 Noch gefährlichere Bekanntschaft mit der SS machte der NSDAP-Ortsgruppenleiter der Gemeinde Herlikofen im Landkreis Schwäbisch GmÜnd. Er hatte veranlaßt, eine Panzersperre zu öffnen, um dem Ort die Beschießung zu ersparen. In der folgenden Nacht wurde er von einem SS-Kommando verhaftet, vor ein Standgericht gestellt und zum Tod verurteilt. Dem "raschen Nachdrängen der Amerikaner" hatte er es zu verdanken, daß das Urteil nicht mehr vollstreckt wurde. 269 Auch in anderen Gemeinden beteiligten sich Ortsgruppenleiter direkt an der Sabotierung von Parteibefehlen. Die örtliche NSDAP-Leitung in Marbach am Neckar beispielsweise unterlief eine Evakuierungsanordnung dadurch, daß sie die Blockleiter Listen zur "freiwilligen Einzeichnung" für eine Wegführung auslegen ließ. Dafür wurde ihr vom Bürgermeisteramt dreieinhalb Jahre nach Kriegsende ausdrücklich attestiert, sie sei in jenen kritischen Tagen "vernünftiger" gewesen als die NS-Führung des Kreises. 27o Auch bei der Verhinderung von Brückensprengungen zogen Gemeindeverwaltung und die Parteileitung am Ort nicht selten am gleichen Strang, so etwa - wenn letztlich auch vergebens - in Schorndorf (Landkreis Waiblingen).271 Mehr Erfolg war einer solchen Notkoalition in der Stadt Maulbronn, Kreis Vaihingen, beschieden: "Durch energisches Einschreiten des Bürgermeisters im Einvernehmen mit dem Ortsgrup267
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"Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage 1945 nach Aufzeichnungen und Erlebnissen des ev. Pfarrers a. D. G. Bunz, Neipperg" Vom Herbst 1948; ebenda. "Die letzten Kriegstage in Möckmühll", Bericht von Ernst Martin v. 18.2. 1949; ebenda. Undatierte "Geschichte der letzten Tage des Krieges in der Gemeinde Herlikofen"; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 15. "Chronik der Kriegsereignisse in Marbach a. N.", undatiert, vom Bürgerrneisteramt an das Württembergisehe Statistische Landesamt übersandt am 19. I!. 1948; HStA Stuttgart,j 170, Büschel I!. Hervorhebung von mir. Auch Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, führt Beispiele für ein mitunter "vernünftiges" Verhalten von Ortsgruppenleitern der NSDAP auf. Bericht von H. Gottwitz, Schorndorf, v. 3. 10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20.
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penleiter der NSDAP wurde dieser Unsinn verhütet, der landauf-landab unermeßlich Schaden angerichtet hat."272 Der örtliche "Hoheitsträger" im einige Kilometer westlich von Nördlingen gelegenen Bopfingen kam Anfang April derart desillusioniert von einer Besprechung bei der Kreisleitung in Aalen zurück, daß er nicht nur befahl, den Bau der Panzersperren einzustellen, sondern sofort auch eine Versammlung seiner engsten politischen Mitarbeiter und der Gemeinderäte einberief. "Diesen", so wird überliefert, "eröffnete er die Mitteilung des Kreisleiters, daß alles aus und weiterer Widerstand nutzlos sei. Er löste die Partei in Bopfingen auf eigene Faust auf und ordnete an, sämtliche Unterlagen der Partei zu vernichten."273 Die Panzersperren wurden gerade unter reger Beteiligung der Bevölkerung "mit affenartiger Geschwindigkeit" niedergerissen, als ein Stab der Kreisleitung und der SS vorfuhr und alles wieder rückgängig machte. Der Ortsgruppenleiter wurde persönlich für die Verstärkung der Panzerhindernisse verantwortlich gemacht "und ihm bei Nichteinhaltung der bestimmten Zeit das Aufhängen in Aussicht gestellt". Das bekannteste Beispiel aus dieser Region dafür, wie der Terror der eigenen Truppen selbst den örtlichen Politischen Leiter der NSDAP bedrohen konnte, sind die Vorfälle in dem nahe Rothenburg ob der Tauber gelegenen Dörfchen Brettheim im Landkreis Crailsheim. 274 Hier entwaffneten einige beherzte Männer einen Trupp von Hitlerjungen, die Befehl hatten, sich an der Sperrung der "Kaiserstraße" zu beteiligen, über die die nach Crailsheim vorgestoßenen Panzer der 10th Armored Division ihren Nachschub erhielten. 275 Der in der Nähe liegende Stab des XIII. SS-Armeekorps unter dem ausgesucht kaltschnäuzigen SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon erfuhr davon und führte ein Standgerichtsverfahren durch, in dem die "Rädelsführer" zum Tod verurteilt wurden. Der als einer der beiden Beisitzer bestellte Ortsgruppenleiter Wolfmeyer - ein beliebter Lehrer im Ort, der dafür gesorgt hatte, daß "die Partei hier keine scharfmacherische Rolle spielen konnte" - weigerte sich aber, seine Unterschrift unter das Urteil zu setzen, das deshalb nicht förmlich verkündet werden konnte. Drei Tage später wurden Wolfmeyer und der Dorfbürgermeister mit der Begründung, sie hätten die "Rädelsführer" schützen wollen, selbst zum Tod verurteilt und noch am gleichen Abend vor dem Friedhofseingang in Brettheim erhängt. Als er die Begnadigung ablehnte, hatte der SS-Gruppenführer gesagt: "Das könnte den Herren so passen, jahrelang, wo es uns gut ging, haben sie ,Heil Hitler' gerufen und jetzt will man uns in den Rücken fallen." Angewidert schrieb der Dekan des benachbarten BlaufeIden fünf Wochen später an die Leitung der Evangelischen Kirche in Württemberg mit Blick auf die Brutalität, die das Regime im Untergang gegen die besonnene Bevölkerung entfaltet hatte, "daß die Kluft zwischen dem Geist dieser Kreise und dem Empfinden des Volkes unüberbrückbar geworden" sei. 276
Bericht des ehemaligen Bürgermeisters von Maulbronn "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" v. 18.10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. 213 Hierzu und zum folgenden der undatierte Bericht "Bopfingen im Zweiten Weltkrieg"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel!. 274 Detailliert hierzu Fröhlich, Herausforderung, S. 235 H. Die zitierte Qualifizierung des Ortsgruppenleiters und der Ausspruch des SS-Generals Simon ebenda, S. 238 und S. 239. m Vgl. VII/i. 276 Schreiben des Dekans in B1aufelden an den Evangelischen Oberkirchenrat ("Kriegsschäden im Kirchenbezirk Blaufelden") v. 17.5.1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 272
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Die Bemühungen vereinzelter Hoheitsträger der NSDAP, bei Kriegsende Augenmaß und Zivilcourage zu zeigen, änderten freilich nichts daran, daß die Bevölkerung in aller wünschenswerten Deutlichkeit erkannte, daß das untergehende Regime durch Versagen, Feigheit und Verbrechen eine durch nichts mehr zu tilgende Schuld gegenüber dem eigenen Volk auf sich geladen hatte. Daß das Hitler-Regime versagt hatte, bedurfte angesichts des Einmarsches fremder Truppen keiner Erörterung. Zu seinen Verbrechen zählte neben den erst nach und nach ganz ans Licht kommenden Mordaktionen gegen die europäischen Juden und neben den Untaten gegen seine äußeren und inneren Feinde im Bewußtsein der Bevölkerung gerade auch die Tatsache, daß es sich mit einem ins Uferlose gesteigerten Terror und der sinnlosen Fortführung der Kämpfe in der Schlußphase des Krieges in einer derartig gnadenlosen Weise gegen das eigene Volk richtete, so daß - wenigstens im amerikanischen und britischen Besatzungsgebiet - schließlich nur noch von einer feindlichen Besetzung ein Minimum existentieller Sicherheit erwartet werden konnte. Mit ihrem erbärmlichen Abgang haben die Funktionäre eines Regimes dessen Ideologie in der Tat vor aller Augen ein weiteres Mal widerlegt. 277 Sie haben diese durch eine von der Bevölkerung vorher offenbar nicht für möglich gehaltene Demonstration innerer Unwahrhaftigkeit der Verachtung, ja Lächerlichkeit preisgegeben - eine Lächerlichkeit, die gerade diese "Weltanschauung" im Volk nachhaltiger ruiniert haben könnte als die bald einsetzenden Umerziehungsanstrengungen der Militärregierung. Hauptmotiv der Massendesertion der Politischen Leiter der NSDAP war die Entschlossenheit, sich nicht bei den eigenen heroischen Worten nehmen zu müssen und den Heldentod auf jeden Fall zu vermeiden. Demgegenüber ist - anders als im Osten - bei den unteren Funktionären die Furcht vor einem ungewissen Schicksal in amerikanischem Gewahrsam kaum ins Gewicht gefallen. Es hatte sich längst herumgesprochen, daß die U.S. Army keineswegs dem Bild entsprach, das Goebbels von ihr zu zeichnen versuchte. Die meisten "Goldfasanen" wußten oder ahnten zumindest auch, daß sie von den Sicherheitsorganen der Besatzungsarmee verhaftet und interniert werden würden, daß sie - falls sie keine Verbrechen auf dem Kerbholz hatten - aber nicht um ihr Leben fürchten mußten. Manche Unbill traf sie freilich nicht erst in den beschwerlichen Jahren in den Internierungslagern. 278 Schikane und Demütigungen waren - wie für den Ortsbauernführer und Bürgermeister der Stadt Weilheim an der Teck, Richard Raff - oft schon während des Einmarsches zu erdulden. Bald nach der Besetzung, berichtet der dortige Pfarrer, begaben sich die Amerikaner zu dessen Wohnung: "Der Gesuchte", heißt es zu den weiteren Ereignissen, "war aber kurz vorher von daheim weggegangen. Der Amerikaner benahm sich in der Raff'schen Wohnung sehr übel, verunreinigte z. B. das Bett des kleinen Töchterleins mit Urinieren. Er traf dann den Bürgermeister auf der Straße und fuhr mit ihm aufs Rathaus. Im Bürgermeisterzimmer schrie er ihn an: ,Pistole!' Auf dessen Erwiderung: ,Nix Pistole', schlug er ihn ins Gesicht. Dasselbe wiederholte sich dann noch ein- oder zweimal. Dann sah der Amerikaner ein Hitlerbild an der Wand und fragte, wer das sei. Als er erfuhr ,Hitler', zwang er Richard Raff, es zu zertreten, dann deutete er auf ein Hindenburgbild und fragte: ,Bismarck?' ,Nein Hindenburg'; 277
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In diesem Sinne sehr differenziert Münkler, Machtzerfall, S. 204. Vgl. hierzu Christa Schick, Die Internierungslager, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 30lff.
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auch dieses mußte der Bürgermeister zertreten. Darauf verlangte der Amerikaner eine Hakenkreuzfahne, ,in zwei Minuten, sonst erschießen!' Raff wußte nicht, wo die Fahnen im Rathaus aufbewahrt wurden. Zum Glück erinnerte er sich, in einer Kammer einmal eine gesehen zu haben. Da er keinen Schlüssel zu dieser Kammer hatte, erbrach er die Türe und fand auch richtig eine solche. Er mußte dann diese Fahne auf der Straße auf den Boden legen und der nächste daherkommende Panzer fuhr einige Male über sie. Darauf wurde sie von dem Amerikaner angezündet. Das mit der Hakenkreuzfahne kam auch sonst hier vor. Richard Raff wurde in der Folgezeit noch oft von amerikanischen Offizieren verhört. Diese Verhöre waren aber alle durchaus korrekt, ja freundlich."'79 Demütigende Machtdemonstrationen gegenüber "Nazi"-Funktionären, und wenn es nur ein Ortsbauernführer war, sind in den ersten Tagen der Besetzung keine Einzelerscheinung gewesen, sondern häufig vorgekommen. '80 Aber es blieben unsystematische, Willkür und Laune der Kampftruppen entspringende Aktionen, mit denen amerikanische Soldaten immer wieder einmal an den Symbolen und kleinen Amtsträgern des Hitler-Regimes ihr Mütchen kühlten. Sehf bald nach der Besetzung, spätestens mit der Installierung der MilitärverwaItung, flauten solche Willküraktionen ab. Wie wenig "System" hinter Ausschreitungen dieser Art steckte, wird auch an dem Zwischenfall in Weil heim an der Teck deutlich. Während die Besatzungssoldaten ihren Emotionen gegenüber Ortsbauernführer Raff ziemlich freien Lauf ließen, blieb der Ortsgruppenleiter der NSDAP, der die Stadt ebenfalls nicht verlassen hatte, ungeschoren. Die Amerikaner besannen sich erst nach einigen Tagen auf diesen, ein Offizier begab sich zu ihm und stellte ihn unter Hausarrest; Anfang Juni wurde der ehemalige "Hoheitsträger" im Zuge des "automatic arrest" interniert. Die Tatsache, daß die Besatzungsmacht mitunter recht rauh mit den kleinen Paladinen des Hitler-Regimes umsprang, hat in der Bevölkerung hier und da wohl zu rügenden Kommentaren Anlaß gegeben, Mitleid und Solidarität mit ihnen regte sich aber nirgends. Im Gegenteil, die Wendung des Regimes gegen die eigene Bevölkerung lö279
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Auf der Basis von Erlebnisschilderungen der Einwohnerschaft, Aufzeichnungen des Pfarrers und des Revierförsters von Bürgermeister Kandenwein verfaßte "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" in der Stadtgemeinde Weilheim an der Teck, Landkreis Nürtingen; HStA Stuttgart,j 170, Büschel 13. Für einen vergleichbaren Vorfall siehe Stadtmüller, Mainfranken und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 437. Ein Mann wie General George S. Patton machte sich schon zu Beginn der Besetzung des Deutschen Reiches ein Vergnügen daraus, die typische persönliche Unwahrhaftigkeit und die auch ihm kaum erklärliche Diskrepanz zwischen dem Nibelungen- und Götterdämmerungsgetön und dem anschließenden kleinlauten Einknicken führender Figuren des Regimes ans Tageslicht zu ziehen und unnachsichtig anzuprangern. Als Opfer hatte Patton sich nach der Eroberung von Metz Ende November 1944 keinen gewöhnlichen "Goldfasan", sondern den bei der Besetzung der Stadt in Gefangenschaft geratenen 39jährigen SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Anton Dunckern gewählt, der dort SS- und Polizeiführer gewesen war. Dieser sei der erste Mann gewesen, den er jemals tyrannisiert habe, sagte Patton anschließend, und er müsse zugeben, es habe ihm Spaß gemacht: "Patton: ,You can tell this man naturally in my position I can not demean myself to question hirn, but I can say this, that I have captured a great many German generals, and this is the first one who has been wholly untrue to everything: because he has not only been a Nazi but he is untrue to the Nazis by surrende ring. lf he wants to say anything he can, and I will say that unless he talks pretty weil, I will turn hirn over to the French. They know how to make people talk.' Dunckern: ,... I received orders to go in the Metz sector and defend a certain sector there, and the reason I did not perish was that I could not reach my weapons and fight back.' Patton: ,... He is a liar!' Dunckern : ,There was no possibility to continue fighting. The door was opened, and they put a gun on me.' Patton: ,If he would have been a good Nazi, he could have died then and there. It would have been a pleasanter death than what he will get now ... '" Vgl. Martin Blumenson (Hrsg.), The Patton-Papers 1940-1945, Boston 1974, S. 577 ff. Siehe auch Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 27.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
ste bei Betroffenen und Beobachtern eine Woge der Wut und des Entsetzens aus. Aus dem nordwürttembergischen Künzelsau, wo die Amerikaner am 12. April 1945 eingezogen waren, schrieb der Dekan an die Leitung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, daß die "Erbitterung der Landbevölkerung" gegen die SS "fast keine Grenzen mehr" kenne. 28l "SS" (worin die Waffen-SS durchaus mit einbegriffen wurde) und "Terror" waren jetzt Synonyme geworden, doch bedeutete diese Spezifizierung für die übrigen Träger des untergehenden Regimes im Frühjahr 1945 kaum noch eine Entlastung. Jeder konnte sehen, daß dieser "Vernichtungswahnsinn", von wem er jetzt im Einzelfalle auch exekutiert wurde, sich nur deshalb so austoben konnte, weil die politische Führung den sinnlos gewordenen Kampf nicht aufgab. "Die SS ist jetzt der schlimmste Feind, bedrohlicher als die Amerikaner, die uns erobern", schrieb Ursula von Kardorff am 24. April in ihrem schwäbischen Zufluchtsort in ihr Tagebuch. "Wie unfaßlich sind die Deutschen, daß sie sich in letzter Minute noch gegenseitig umbringen, eigenhändig ihr Land zerstören."282 Dieser Tenor bestimmte jetzt keineswegs nur die Aufzeichnungen erklärter NSGegner, wie etwa das Tagebuch eines Dorfpfarrers aus dem wenige Tage vorher besetzten mittelfränkischen Landkreis Feuchtwangen ausweist. Am Abend des 3. April hatte Pfarrer Adolf Rusam eines seiner ,,Abendgespräche" mit Wehrmachtsoffizieren geführt. Man war sich einig, "daß keine ,Wendung' der militärischen Lage mehr zu erwarten" war. "Ein Rätsel bleibt nur, warum unsere oberste Führung den sinnlosen Widerstand nicht aufgibt und die Kapitulation einleitet, um weiteres nutzloses Blutvergießen zu verhüten. Für diese Haltung gibt es nur eine einzige Erklärung, die man sich allerdings kaum auszusprechen getraut: Wahnsinn oder Verbrechen!" Am 16. April sprachen sich die ersten Berichte über die Erhängungen im nahen Brettheim 283 im Dorf herum: "Man fürchtet die SS wie die Teufel!", vertraute der Pfarrer daraufhin seinem Tagebuch an. Vier Tage später besetzten die Amerikaner, die sich hier mit einiger Hilfsbereitschaft gut einführten, die kleine Ortschaft ("Und das sind nun die ,Gangster' und ,Mordbrenner', vor denen uns eine lügnerische Propaganda gewaltsam Furcht einflößen wollte!"). Bei einem Besuch in Ansbach am 2. Mai erfährt Rusam, "daß Hitler wirklich tot" ist. Diese Nachricht löste in Oberampfrach sogar bei den Kindern Jubel aus, wie der Pfarrer verwundert in seinen Aufzeichnungen festhielt: "Eigentlich erschütternd!" schrieb er: "Der ,Führer', 12 Jahre lang Staatsoberhaupt, tot - und nun dieser Ausbruch von Freude! Und das bei den Kindern, die seit ihrer frühesten Jugend täglich mit ,Heil Hitler' grüßen mußten! Daran mag man ermessen, welch eine furchtbare Last dieser Mann zuletzt für unser armes Volk bedeutete."284 Um welche immense Distanz sich die Kluft zwischen Volk und Führung im letzten Vierteljahr des Krieges noch erweitert hatte, stand den Offizieren der amerikanischen 281
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Bericht von Dekan Kieser, Künzelsau, an den Evangelischen Oberkirchenrat ("Lage in Künzelsau") v. 11. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. Die dichte Berichterstattung Kiesers gibt ein ungewöhnlich anschauliches Bild der Wochen vor und nach der amerikanischen Besetzung. Eintragung v. 24.4. 1945, in: Ursula von KardorH, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945. Erweiterte und bebilderte Neuausgabe, München 1976, S. 253 f. Das vorangegangene Zitat eben da, S. 252. Fröhlich, Herausforderung des Einzelnen, S. 235 H. ,,Adolf Rusam, Aus meinem Leben als Dorfpfarrer in der Kriegszeit. Tagebuch über die letzten Kriegswochen, die militärische Besetzung und den politischen Umschwung in Oberampfrach 26. März - 10. Mai 1945", Anhang zu Ahnen-Liste Rusam-Kaeppel, Ergänzungsband, bearbeitet von Kirchenrat Adolf Rusam; LKA Nümberg, Berichte über Vorgänge bei der militärischen Besetzung. Zitate aus den Eintragungen v. 3.4., 16.4.,24.4. und 2.5. 1945. Hervorhebung von mir.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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Besatzungsmacht nicht weniger deutlich vor Augen als den Spitzen des NS-Regimes. Friedenssehnsucht, die durch den Durchhalteterror nur um so heftiger angefacht wurde, war jetzt zu der alles beherrschenden Emotion in der erschöpften und kriegsmüden Bevölkerung geworden, oder, wie es der SO Ende März 1945 ausdrückte: Seit der Winteroffensive der Roten Armee sei "Defätismus im bislang geläufigen Verständnis des Begriffs eine allgemeine Volkserscheinung"285. Von der Westfront war Bormann, der sich scharf gegen solche realistischen Berichte anderer Dienststellen zur Wehr setzte, kurz zuvor eine niederschmetternde Lagebeschreibung eines seiner Mitarbeiter zugegangen. Darin war die Einstellung der Bevölkerung anhand von Informationen eines im Raum Mayen eingesetzten Wehrmachtsoffiziers in den schwärzesten Farben gemalt: "Die Bevölkerung wartet offensichtlich auf das Einrücken der Amerikaner und hat jede Maßnahme der deutschen Soldaten, die zur Verteidigung der Orte getroffen wurde, direkt oder indirekt sabotiert", schilderte dieser Kommandeur die Situation. "Es wurden, wie ich selbst beobachtete, weiße Flaggen vorbereitet, sämtliche Dinge, die auf Parteizugehörigkeit schließen ließen, verbrannt und die kämpfenden Soldaten aufgefordert, sich Zivil zu beschaffen und als Zivilisten in den Orten zu verbleiben. Eine Unterstützung der Truppe in irgendeiner Weise, weder durch den Bürgermeister noch sonst jemand, war niemals festzustellen. Im ganzen sei gesagt, daß die Gesamthaltung mehr als schwach war."286 Im General Intelligence Bulletin der European Civil Affairs Division 287 wurde die "Moral in Südwestdeutschland"288 Ende März genauso beurteilt. Die Durchschnittsbevölkerung habe sich völlig vom Nationalsozialismus abgewandt, lautete die Analyse: "Es kann nicht mehr die Rede von Überzeugung sein oder von einem fanatischen Willen, das Land zu verteidigen, oder von blindem Glauben an Hitler oder die Partei." In vielen Sektoren der Gesellschaft sei die Partei nicht mehr in der Lage sich durchzusetzen, das Volk folge selbst bei Androhung von Gewalt den erteilten Befehlen nicht mehr. Der jetzt überall in der deutschen Bevölkerung durchbrechende unbedingte Wille, das größere Übel sinnlosen Kämpfens, Zerstörens und Sterbens so rasch wie möglich durch das kleinere Übel einer feindlichen Besetzung abgelöst zu sehen, ist in der amerikanischen wie in der deutschen Berichterstattung der letzten fünf, sechs Kriegswochen bis in gleichlautende Wendungen hinein übereinstimmend und klar herausgearbeitet worden; die privaten Zeugnisse sprechen die gleiche Sprache. So notierte am Montag, dem 23. April, im württembergischen Hofen, Landkreis Aalen, das eben von amerikanischen Truppen besetzt worden war, der Gewerbeschulrat a. D. Anton Hegele schweren Herzens in sein persönliches "Kriegstagebuch" die Sätze: "So sehr wir als gute Deutsche den Sieg unserer Waffen (wünschen), so ist doch die allgemeine Meinung die, daß unsere Sache ganz und endgültig verloren sei und daß jeder weitere
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Undatierter Bericht des SO von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Zu der anschließend erwähnten Kritik Bormanns vgl. Steinert, Hitlers Krieg, S. 577. Fernschreiben von Bereichsleiter Keitel an Reichsleiter Bormann v. 19.3. 1945; BA, Sammlung Schumaeher, Nr. 369. Zu dieser Organisation vgl. III/1. ECAO, General Intelligenee Bulletin Nr. 41 v. 31. 3. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Braneh, Entry 54.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Kampf zur unsinnigen Kriegsverlängerung und damit zu weiteren schweren Opfern und Leiden der gequälten und abgekämpften Bevölkerung führen müsse."289 Das höchste Intelligence-Gremium des Alliierten Oberkommandos kam Ende April zu dem Schluß, dem Durchschnittsbürger sei klar, daß Deutschland militärisch besiegt sei. Viele hätten aber dennoch das Gefühl der Befreiung - "befreit von den Schrecken des Krieges, die ihnen von oben aufgezwungen worden waren und für die sie in keiner Weise verantwortlich waren"290. Der Civil Affairs/Military GovernmentStab von SHAEF drückte in seiner für die letzte Kriegswoche geltenden Analyse dieselbe Beobachtung so aus: Es gebe in der deutschen Bevölkerung ein echtes Gefühl der Befreiung, einer Befreiung von dreierlei Furcht: "Furcht vor den Jabos, Furcht vor den schweren Bombern und Furcht vor der Gestapo".291 Fast könnten die württembergischen und bayerischen Gendarmen und Pfarrer den alliierten Beobachtern die Feder geliehen haben. Vom "Herbeisehnen" des Kriegsendes, dem "Wunsch" nach baldiger Besetzung sprechen auch sie. "Die Einwohner aller Ortschaften", schrieb ein Pfarrer im Mittelfränkischen an das Evangelisch-Lutherische Dekanat in Dinkelsbühl am 1. Juni 1945, "hatten infolge unserer eigenen falschen Propaganda vor der Besetzung viel Angst, wünschten sich aber, daß sie bald komme und ohne Zwischenfälle abgehe. Weit gefürchteter waren die eigenen Truppen, insbesondere SS-Verbände ... Ein Aufatmen ging durch die Dörfer. Genugtuung erfüllte mit Ausnahme der wenigen wirklich Parteihörigen alle über das Ende der NS-Gewalt."292 An das Dekanat Bayreuth schrieb sein Kollege, "Äußerungen des Bedauerns über den unglücklichen Ausgang des Krieges an sich habe ich nicht vernommen". Es habe allein der Wunsch geherrscht, er möge endlich aufhören. "Den Zusammenbruch des bisherigen Regimes erlebte man, so weit ich bemerken konnte, fast mit einem Gefühl der Befreiung von einem lastenden Druck."293 Für die amerikanischen Offiziere war der Vormarsch in das Innere Deutschlands ein Lehrstück darüber, daß wenige Behauptungen der eigenen Kriegspropaganda weniger ernst zu nehmen waren als jene von der angeblich verschworenen Einheit von nationalsozialistischer Führung und deutscher Bevölkerung. Das mochte in den besseren Zeiten der Hitler-Herrschaft vielleicht so gewesen sein, mußten sie sich sagen, in den beiden letzten Kriegsmonaten war jedenfalls das genaue Gegenteil mit Händen zu greifen. Tausendfach erlebten die amerikanischen Soldaten jetzt, wie sich die Bürger oft unter großem persönlichen Risiko über "Nazi-Befehle" hinwegsetzten, fast an 289
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"Kriegstagebuch 1945 u. ff." des Gewerbeschulrats Anton Hegele, geschrieben in Hofen/Kreis Aalen, Eintragung v. 23.4. 1945 (im Original "würden" statt "wünschen"); HStA Stuttgart, J 170, Büschel!. SHAEF, JIC, Political Intelligence Report v. 30.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, SGS, Decimal File, May 1943 - August 1945, Entry 1. SHAEF, G-5, Weekly Journal of Information Nr. 12 v. 11. 5.1945; NA, RG 331,131.11, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. Vgl. auch "The Mind and Mood of the People", in: Times, 26.4. 1945. "Bericht über die Feindbesetzung der Kirchengemeinde bezw. über vorausgehende Kampfhandlungen" des Pfarramtes Obermichelbach über Wassertrüdingen an das Evangelisch-Lutherische Dekanat Dinkelsbühl v. 1. 6. 1945; LKA Nürnberg, Dekanat Dinkelsbühl, 548. "Bericht über die infolge der feindlichen Besetzung der Umgegend in der Pfarrgemeinde Obernsee eingetretenen Kriegsereignisse" an das Evangelisch-Lutherische Dekanat Bayreuth von Mitte Juni 1945; LKA Nürnberg, Dekanat Bayreuth, VII. Die gesamte staatliche Berichterstattung in Süddeutsch land ist voll von in ähnlichem Tenor gehaltener Berichterstattung. Vgl. als ein Beispiel etwa den "Lagebericht für den Monat März 1945" des Gendarmeriepostens Adlkofen an das Landratsamt Landshut v. 21. 3.1945; StA Landshut, 164/10, Nr. 5095/6. Vgl. auch das übrige Berichtsmaterial dort und in den anderen bayerischen Staatsarchiven, über deren hierzu einschlägige Bestände das "Verzeichnis der Berichtsprovenienzen" im Anhang von Broszat, Fröhlich, Wiesemann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, I, S. 689 ff., orientiert.
2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus"
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jedem Ort in direkter Konfrontation mit den Funktionären der NSDAP und anderen Fanatikern des Untergangs standen. Die Amerikaner registrierten diese Feindseligkeiten genau. Am 2. Mai befaßte sich die Psychological Warfare Division des Oberkommandos mit dem zivilen Ungehorsam an der "Deutschen Heimatfront". Sie stellte dabei auch eine Verbindung zwischen dem Kurs der Führung und dem Verhalten der Bevölkerung her: "Mit dem verzweifelten Widerstand, der in Berlin geleistet wurde", begann diese Studie, "hat der harte Kern der Nazipartei nur in der Hauptstadt ein Beispiel jener Politik gegeben, die er, motiviert vom Wunsch nach persönlichem Überleben und von langfristigen politischen Aspirationen, im ganzen Reich anzuwenden suchte." Nach dem Hinweis auf die drakonischen Befehle und Anordnungen Himmlers, Bormanns und Keitels fuhr PWD fort: "Diese Befehle, dazu unmittelbare Beobachtung und anderes dokumentarisches Material zeigen deutlich das weitverbreitete Zögern der deutschen Zivilisten, die totale Verteidigung des Vaterlandes zu stützen. Dieses Zögern hat sich in einigen Fällen zu offener Feindseligkeit gegen die Wehrmacht gesteigert und ist zu einer ernstzunehmenden Kraft hinter Versuchen zur Beendigung der Kämpfe geworden, jedenfalls auf lokaler Ebene."2 94 Fast überall erlebten die Soldaten der Besatzungsarmee nun die Manifestationen dieser "gewichtigen Strömung" zur örtlichen Beendigung der sinnlos gewordenen Kämpfe, ganz im Sinne jener alliierten Analyse, die festgestellt hatte, nachdem die Partei ihre Durchsetzungskraft verloren habe, sei mittlerweile überall die "Initiative des einfachen Mannes" in den Vordergrund getreten. 295 Es ist klar, daß diese Nichtverteidigungsinitiativen in den Dörfern und Städten und die damit verbundenen couragierten und oftmals lebensgefährlichen Unternehmungen der um Leben und Besitz besorgten Bürger die Besatzungsmacht - wie richtig gesagt wurde - nicht unbeeindruckt gelassen und zu mancher Korrektur ihres Bildes von "den Deutschen" Anlaß gegeben haben müssen. 296 Es erübrigt sich, die in beinahe jeder Gemeindechronik und jedem einschlägigen Bericht amtlicher oder privater Herkunft detailliert beschriebenen Übergabeaktionen hier an hand dieses oder jenen Beispiels aus Süddeutschland nochmals 297 in extenso vor Augen zu führen. Die "aus den Fugen gehende Ordnung des Regimes in der letzten Phase des Dritten Reiches" bot jedenfalls den zahllosen kurzlebigen, im Wortsinne als Bürgerinitiativen zu bezeichnenden Gruppen gute Gelegenheit, jene "Freiräume"298 zu nutzen, die sich jetzt trotz des wachsenden Durchhalteterrors eröffneten, um den "Widerstand gegen die Kriegsverlängerung" zu organisieren. Tatsächlich tru294
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SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare NT. 31 v. 2. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Decimal File 1944-45, Entry 87. ECAD, General Intelligence Bulletin Nr. 41 v. 31. 3. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. Vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NSZeit, IV, S. 689. Vgl. die ausführlich geschilderte Übergabe von Bad Godesberg, IV/2. Siehe auch die Studie von Münkler, Machtzerfall, in der unter besonderer Berücksichtigung des Verhaltens des Kampfkommandanten die Situation im hessischen Friedberg analysiert ist. Vgl. auch Woller, Gesellschaft und Politik, S. 46ff., für eine minutiöse Rekonstruktion am Beispiel der Stadt Fürth in Mittelfranken. Die beiden Zitate bei Broszat, Grundzüge, in: Broszat, Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich, S. 63. Vgl. hierzu auch die treffende Beschreibung des "Systems der übereinandergelagerten Befehlsstränge und der sich gegenseitig blockierenden Kompetenzen" bei Münkler, Machtzerfall, S. 32 f., das die Übergabeaktionen bei Kriegsende begünstigt hat.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
gen solche Aktionen zur örtlichen Beendigung des Krieges in aller Regel einen "ideologiefreien Zug"299. Trotz der beim Einmarsch von einem Ort zum anderen tausendfältig verschiedenen Konstellation war es ein Hauptmerkmal solcher Initiativen (manche seit Monaten im geheimen vorbereitet, manche aus dem Augenblick geboren), daß mutige Bürger, und zwar in der Regel maßgebliche Angehörige der Gemeindeverwaltung oder örtliche Honoratioren und Respektspersonen (Pfarrer, Lehrer, Unternehmer, Handwerksmeister, Ärzte, o. ä.) - mitunter auch einfache Gemeindemitglieder und des öfteren Frauen 300 - in offen verabredetem oder unausgesprochenem Zusammenspiel mit dem jeweiligen Kampfkommandanten oder einem anderen Wehrmachtsoffizier, oft auch gänzlich auf eigene Faust, die Initiative ergriffen und den entscheidenden Schritt zur Rettung ihrer Ortschaft wagten. Diese Bürger besaßen dank ihrer herausgehobenen Stellung am Ort einerseits das Vertrauen der Einwohnerschaft für ihre gefährliche Mission, andererseits lag es auf der Hand, daß sie von den Kommandeuren der Besatzungstruppen am ehesten als Garanten dafür angesehen wurden, daß die Wehrmacht den Feind nicht in eine Falle zu locken versuchte. Sehr oft waren Beamte der Stadt- oder Gemeindeverwaltung beteiligt. Neben dem grassierenden Defätismus des nationalsozialistischen Führungspersonals aller Ebenen die einzige Gruppe der Zusammenbruchsgesellschaft, auf die diese Qualifizierung wirklich paßte - hob sich das oftmals vom gesunden Sinn für die Realitäten geleitete, viel mutigere Handeln der vielen hundert Bürgermeister, stellvertretenden Bürgermeister, Beamten und Angestellten scharf ab, und das war ein bemerkenswerter Kontrast, der auch der Besatzungsmacht nicht verborgen bleiben konnte. Was die Bürger anging, so vergaßen sie es nicht, wem sie das glimpfliche Kriegsende zu verdanken hatten. Das dürfte zur Stärkung der Autorität der regulären Verwaltung beigetragen haben. Und nun konnten, mit kräftiger Unterstützung der jungen Militärverwaltung, auch "Neue" an verantwortlicher Stelle in den Ämtern und Behörden Positionen einnehmen, die zuvor persönlichen Anteil an der Verschonung ihrer Stadt gehabt hatten. 30l Nationalsozialistischer Durchhalteterror: Verbrechen der Endphase
War den meisten dieser Aktionen zur Verschonung des Besitzes und zur Verhinderung sinnloser Opfer auch Erfolg beschieden, so doch nicht allen. Viele Bürger - im ganzen Reichsgebiet wohl einige hundert 302 - gerieten noch in letzter Minute in die Mühlen des Regimeterrors und verloren wegen mutiger Intiativen zur Kriegsbeendigung ihr Leben. Wer sich im falschen Augenblick aus der Deckung wagte, verfrüht vorzuckte, der wurde von der Mordwelle verschluckt, "umgelegt", "abgeknallt", erhängt und erschlagen - ebenso wie nun noch einmal Tausende von kriegsmüden Sol299
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Zitate bei Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 647 und S. 689. Zu dem durchaus nicht singulären Phänomen des "Weibersturms von Bad Windsheim" vgl. ebenda, S. 650ff.; weitere Beispiele ebenda, S. 654. Siehe auch Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 372 und S. 459. Woller, Gesellschaft und Politik, S. 99. Allein in Bayern sind ungefähr 50 Opfer solcher Endphase-Verbrechen unter der Zivilbevölkerung bekanntgeworden, die Dunkelziffer ist gewiß beträchtlich. Vgl. die Aufstellung der Untersuchungs- und Gerichtsverfahren zu dieser Art von NS-Verbrechen im Archiv der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg.
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daten, Häftlingen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. 303 Der Weg aus dem Krieg führte auch für die Zivilbevölkerung durch ein "Nadelöhr" (Reinhold Maier).304 Neben den "normalen" polizeilichen und justiziellen Terrorinstrumenten des Regimes, der Wehrmachtsjustiz sowie der Erfassung und Disziplinierung der männlichen Bevölkerung im Voikssturm 305 wurde unter dem Eindruck des Zusammenbruchs im Osten auf Befehl Hitlers ein weiteres Werkzeug zur Knebelung des eigenen Volkes kreiert: Die Verordnung des Reichsministers der Justiz über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 306 , die das Ende aller "gerichtsverfassungsrechtlicher Garantien für den Angeklagten" brachte. 307 Bormann pries die neuen Standgerichte in einem Rundschreiben an die Gauleiter im Westen als eine "Waffe zur Vernichtung aller Volksschädlinge", die "im Sinne des Führers rücksichtslos und ohne Ansehen von Person und DienststeIlung" zu handhaben sei. 30B Standgerichte waren in allen "feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken" zu bilden und dienten nach dem sich kaum noch vom Parteijargon unterscheidenden Wortlaut der Verordnung dazu, jeden sofort scharf zur Rechenschaft zu ziehen, der sich insbesondere aus "Feigheit und Eigennutz" seinen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit entzog; diese erforderten laut Justizminister jetzt "von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum Äußersten". Wie zur Symbolisierung der vom Regime ebenso krampfhaft wie vergebens angestrebten Einheit von Volk und Führung sollte sich das Gericht (es war für alle "Straftaten" zuständig, die die "deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit" gefährdeten) aus einem Strafrichter, einem NSDAP-Funktionär und einem Offizier der Wehrmacht bzw. der Waffen-SS oder der Polizei zusammensetzen. Es konnte auf Todesstrafe, Freispruch oder Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit erkennen. Notfalls konnte der Anklagevertreter selbst Ort, Zeit und Art der Vollstreckung des Urteils bestimmen. Diese Vorschriften waren nicht weniger durchsichtig und krude wie das dahinterstehende Bemühen, mit einem derartigen Terrorinstrument die "Volksgemeinschaft" zu erzwingen. Die Realität zeigte nämlich alsbald, daß sich weder die Führung noch das Personal der Standgerichte selbst sonderlich um die Beachtung solcher Minimalbestimmungen und eine wenigstens formal korrekte Durchführung der Verfahren bekümmerten. Die Tribunale waren Vernichtungsinstrumente in juristischer Drapierung, "Urteile" meist nichts anderes als "Ermordungsbefehle"309, wie Opfern und Tätern durchaus auch bewußt war. Sogar mehr noch, bei einer bestimmungskonforVgl. zu diesen Morden beispielsweise die Gerichtsurteile, die abgedruckt sind in: Justiz und NS-Verbreehen. Sammlung deutscher Stralurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966, 22 Bde., bearb. von Adelheid L. Rüter-Ehlermann u.a., Amsterdam 1968-1981. Zum "Blutrausch der nationalsozialistischen Verfolgungs behörden", die in den letzten Kriegstagen im Ruhrgebiet massenhaft Zwangsarbeiter umbrachten, vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986, S. 171 I.; Zitat ebenda, S. 172. j04 Maier, Ende und Wende, S. 231. '0' Vgl. VII/4. ,o6 Verordnung des Reichsministers der Justiz "Über die Errichtung von Standgerichten" v. 15.2. 1945; Reichsgesetzblatt 1945, I, S. 30. '07 Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich. 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988, S. 1134. '08 Fernschreiben Bormanns an zehn Gauleiter im Westen, o. D., Anlage zu seinem Schreiben an Himmler v. 8.2. 1945; BA, NS 19 alt, Nr. 321. '09 So eine treflende Qualifizierung in der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts München im Revisionsverfahren gegen Alfred Salisco u.a. vom Juni 1948 (Az: 1 Ss 22/48); HZ-Archiv, Gm 07.28. JOJ
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men Verhandlungsführung konnten Standrichter mitunter selbst sehr schnell in den Verdacht geraten, den politischen Zweck der Verordnung durch juristische Filibusterei vereiteln zu wollen. Partei und Staatsführung, denen das Ethos abendländischen Rechtsdenkens immer wenig gegolten hatte, leisteten damit - durch das massenhafte Sterben auf den Schlachtfeldern und in den Bombennächten psychologisch wohl begünstigt - einen letzten Beitrag zur weiteren Verschärfung eines Klimas, in dem ein Menschenleben wenig galt. Es lag eine Atmosphäre des Ausmerzens und Abknallens über dem Land, die den Mördern Stimulanz und "Entlastung" verschaffte, den Bürger von einer Minute zur anderen vogelfrei werden ließ. Deshalb konnten die im Februar 1945 installierten Standgerichte, die immerhin die Kompetenz hatten, den Delinquenten durch Freispruch oder Verzögerung von Urteil und Exekution zu schützen, in dem apokalyptischen Stadium des NS-Regimes nur noch als anachronistische Relikte bürgerlicher Rechtstradition gelten. Manchem "Hoheitsträger" und manchem SS-Mann war der Umweg über ein Standgericht jetzt deshalb auch zu mühsam. Durch Scheinverfahren und Selbstjustiz war mittlerweile rascher ans Ziel zu gelangen. So wahllos und von tausenderlei Zufälligkeiten bestimmt das Morden in der Endphase auch vonstatten ging, einige gemeinsame Konturen sind zu erkennen. 310 Sie zeigen, daß Schwerpunkte des Schreckens in Regionen auszumachen sind, in denen die amerikanischen Truppen nur langsam vorankamen, den Schergen des Regimes deshalb genügend Zeit zur Verrichtung ihres blutigen Handwerks blieb. Eine Verdichtung des Terrors findet sich etwa auch dort, wo das NS-System von besonders kaltschnäuzigen und brutalen Funktionären repräsentiert war, oder dort, wo die Waffen-SS den Kampf führte oder einzelne Desperados, die bereits die Brücken hinter sich abgebrochen hatten und von einem Leben nach der Kapitulation nicht mehr viel zu erwarten hatten, am Werke waren. Reiche Ernte hielt der Durchhalteterror auch an Orten, wo Bürgerinitiativen zur Kriegsbeendigung zu unzeitigem Verlassen ihrer Dekkung verleitet wurden oder sich von selbst zu früh vorwagten. Der nationalsozialistische Terrorismus blieb bis zum Moment der Ankunft der Besatzungstruppen, bis zum Tage der Kapitulation (an manchen Orten sogar noch eine Weile darüber hinaus) für jeden einzelnen ein allgegenwärtiges, unberechenbares tödliches Risiko. Als auffallendes Merkmal dieser Untaten sticht schließlich hervor, daß die Täter bei den Endphaseverbrechen gegen die eigenen Landsleute nur zu einem geringen Prozentsatz von ideologischen oder "patriotisch-nationalen" Beweggründen im engeren Sinne geleitet waren, es ihnen überhaupt nicht darum ging, etwa die "Kampfentschlossenheit" der Bevölkerung zu festigen. Die Morde der Endphase gründeten viel häufiger in dem Verlangen nach einer definitiven Bereinigung schon länger zurückliegender Konflikte, in der Entladung alter Reibereien und Animositäten im politisch-gesellschaftlichen Leben des jeweiligen Ortes. Manche Endphasenverbrechen wiederum entsprangen einfach dem "esprit de corps" einer Einheit, dem Loyalitäts- und Bekenntnisdruck innerhalb eines kleinen Funktionärszirkels. Einige Täter hatten einen Moment lang nur 310
Das folgende beschränkt sich auf die Endphase-Verbrechen im April und Anfang Mai 1945 im amerikanischen Besetzungsgebiet in Süddeutsch land. Eine systematische Untersuchung dieses Komplexes steht noch aus. Ansätze dazu bei Egbert Schwarz, Die letzten Tage des Dritten Reiches. Untersuchung zu Justiz und NS-Verbrechen in der Kriegsendphase März/April1945, Magisterarbeit bei Peter Hüttenberger, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf 1990. Ich danke Falk Wiesemann für diesen Hinweis. Ansonsten immer noch unübertroffen das Werk von HerbertJäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Olten 1967.
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die Nerven verloren, und oftmals ist als Antrieb der Amokläufer wenig mehr auszumachen als eine individuelle Disposition zu kalter Vernichtung von Menschenleben. Das Begleichen offener Rechnungen, privater Machtrausch, pathologischer Blutdurst, die Wut und desperate Aggression von schwer belasteten "Hoheitsträgern" oder SSOffizieren, denen es auf ein Opfer mehr oder weniger nicht ankam, weil ihr Schicksal mit der Verhaftung durch die Besatzungsmacht ohnehin besiegelt sein würde, bestimmten die Szene vor allem. Die sogenannte Stärkung des Widerstandsgeistes im "Ringen um den Bestand des Reiches", von dem die Standgerichts-Verordnung vom Februar sprach, war im Frühjahr 1945 häufiger Alibi als Beweggrund des Mordens. Nicht für alle Verbrechen fand sich auch ein Zeuge, bei manchen zwar ein Kläger, aber nur bei einigen ein Richter. Neben den vielen Situationsmördern taten sich bei Kriegsende einige systematisch mordende Figuren besonders hervor, der Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon etwa, der mit seinem XIII. SS-Armeekorps die süddeutsche Bevölkerung bis zur Kapitulation des Dritten Reiches unnachgiebig gequält hat, oder NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz in dem durch alliierte Bombardements und sinnlose deutsche Abwehrkämpfe schwer in Mitleidenschaft gezogenen Landkreis Heilbronn. Ohne die hier vierzehn Tage lang hin und her gehenden Gefechte 311 , vor allem aber ohne das von diesem "Hoheitsträger" geschaffene und beständig geschürte Mordklima wäre die schreckliche Aufgipfelung des Regimeterrors gegen die Bevölkerung zwischen Neckar und Jagst nicht möglich gewesen. Drauz, aus kleinen Verhältnissen stammend, seit 1928 NSDAP-Mitglied und bei Kriegsende 51 Jahre alt 312 , war ein Duzfreund und Günstling von Gauleiter Murr gewesen und in ganz Württemberg als Wüstling, rüder Fanatiker und skrupelloser Despot bekannt. In einem Gemeindebericht aus dem Jahre 1948 figuriert Drauz als "Schlächter von Heilbronn"313, mehrfach hat er sich das "Recht über Leben und Tod der Bevölkerung"314 angemaßt. Bei der von Goebbels systematisch entfachten Lynchjustizkampagne gegen mit dem Fallschirm abgesprungene Piloten 315 tat er sich höchstpersönlich hervor und erschoß mindestens einen amerikanischen Kriegsgefangenen. Im April 1945 konnte sich der Kreisleiter unschwer ausrechnen, daß ihm die Amerikaner kein Pardon gewähren würden. Mit Bart und falschem Namen wurde der untergetauchte Drauz auch bald gefaßt, von einem Gericht der U.S. Army zum Tode verurteilt und am 4. Dezember 1946 in Landsberg gehängt. Die Brutalität von Drauz übertraf freilich bei weitem seine Tapferkeit. Denn als die Amerikaner den Neckar überschritten und die mehrtägigen erbitterten Kämpfe um den Stadtkern von Heilbronn begannen 316 , da zog es auch dieser "Hoheitsträger" vor, das Weite zu suchen. 317 Kaum hatte die Geschäftsstelle der Kreisleitung Beschuß erJII
Vgl. VII/1.
>" Zu Drauz vgl. Uwe Jacobi, Die vermißten Ratsprotokolle. Aufzeichnung der Suche nach der unbewältigten Vergangenheit, Heilbronn 1981, S. 59ft. und S. 125ft. >13
>14
>15 >16 >17
"Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes der Gemeinde Frankenbach/ Lkrs. Heilbronn von Ende 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. So das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Heilbronn gegen Oskar Bordt u.a. v. 3. 7. 1947 (Az: KLs 49-51/47); HZ-Archiv, Gh 08.01. Vgl. die Beispiele in: Justiz und NS-Verbrechen. Vgl. Blumenstock, Der Einmarsch der Amerikaner und Franzosen, S. 90ft. Das folgende basiert vor allem auf dem Urteil der Strafkammer des Landgerichts Heilbronn gegen Oskar Bordt U.a. v. 3.7.1947 (Az: KLs 49-51/47); HZ-Archiv, Gh 08.01.
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halten, ließ Drauz am Morgen des 6. April Akten und Partei fahne verbrennen und machte sich mit zwei zusammengekoppelten Fahrzeugen auf die Flucht aus der Stadt. Mit ihm fuhr der 30jährige Os kar Bordt, ein Schreinergeselle, der früh in die Hitlerjugend eingetreten, dann in die SA und schließlich in die Stadtverwaltung übernommen worden war. Dort arbeitete er - wegen einer Lungenkrankheit wehruntauglich - den Krieg über als Bademeister und Botenmeister. Eine gewisse Chance zur kämpferischen Bewährung schien sich diesem SA-Obertruppführer zu bieten, als er im März 194~ zum Volkssturm einberufen und dort als Zugführer der Hitlerjugend eingesetzt wurde. Außerdem befanden sich in dem Troß des flüchtenden Kreisleiters ein 39jähriger Harmoniumbauer-Gehilfe, der nach der Teilnahme am Rußlandfeldzug lange im Lazarett gelegen hatte und jetzt ein führender Mann beim Heilbronner Volkssturm war, sowie der 33jährige Fahrer des Kreisleiters. Alle vier waren Familienväter. An diesem Morgen waren nun einige abrückende Wehrmachtsoldaten durch einen bestimmten Straßenzug der Stadt gekommen und hatten gegenüber den Anwohnern die Meinung kundgetan, daß gegen die Übermacht der Amerikaner "nichts mehr zu machen sei". Als ein an der Straße stehender Zivilist einen der durchziehenden Offiziere fragte, wie man denn jetzt Frauen und Kinder schützen könne, bekam er von diesem zur Antwort, "es sei am besten, wenn man ein weißes Tuch" heraushänge. Bald hingen aus fünf, sechs der gutbürgerlichen Häuser weiße Fahnen. Die Katastrophe begann damit, daß der Kreisleiter und sein Gefolge etwa eine Stunde später auf der Flucht durch eben diesen Straßenzug kamen. Bordt machte seinen Chef auf die weißen Tücher aufmerksam, sofort läßt dieser anhalten und brüllt: "Raus, erschießen, alles erschießen!" Es beginnt ein zwanzigminütiges Morden, dem vier Menschen zum Opfer fallen und vier weitere nur knapp entrinnen. Willfähriges Werkzeug des Kreisleiters und treibende Kraft bei diesem Massaker ist der hünenhafte, lungenkranke Bordt, die beiden anderen bleiben eher widerstrebende Mittäter. Im ersten Hause trifft das Trio niemanden an. Die Männer schlagen die Türen und Fenster ein und holen die weiße Fahne herunter. Anschließend stürmen sie zum benachbarten Anwesen des 73jährigen Pfarrers Beyer. Als die Schergen des Kreisleiters dort gegen die Tür schlagen, öffnet ihnen der Stadtamtmann Kübler. Ein Wehrmachtsoffizier habe ihm das Heraushängen der weißen Fahne befohlen, rechtfertigt er sich. Drauz beobachtet die Szene von der Straße aus und schreit: "Erschießen, die Feiglinge, erschießen!" In diesem Augenblick erscheint Küblers Ehefrau in der Tür: ,,Aber meinen Mann erschießt ihr nicht!" Schon fallen Schüsse, und das Ehepaar flüchtet in das Haus zurück. Die drei Häscher drängen hinterher und geben - so die gerichtlichen Ermittlungen später - mindestens weitere sechs Schüsse ab. "Nachdem die Angeklagten das Haus wieder verlassen hatten", stellt das Gerichtsurteil 1947 nüchtern fest, "lagen tot am Boden im vorderen Zimmer nahe an der Eingangstüre die Ehefrau Kübler mit Schußverletzungen am Hals sowie am Nacken und in dem anschließenden hinteren Zimmer, und zwar in der Mitte der vorderen Hälfte in einer großen Blutlache, der Amtmann Kübler mit einer Einschußwunde am Unterkiefer, einer breiten Ausschußwunde am Hinterkopf, aus der das Gehirn herausquoll, mit einer Schußverletzung an der rechten Hand und einer Streifschußverletzung am rechten Unterarm. Der Pfarrer Beyer war, von einem Schuß ins Herz getroffen, vom Flur aus die Kellertreppe hinabflüchtend, von seiner Frau aufgefangen worden und dabei in ihren Armen verstorben. Auf Kübler ist im Hause von dem Angeklagten Bordt geschos-
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sen worden; Bordt räumt selbst ein, daß er vom vorderen Zimmer aus auf ihn von hinten einen Schuß abgegeben habe, als er (Kübler) aus diesem Zimmer in das hintere gelaufen sei; weiter hat Bordt nach der glaubhaften Angabe des angeklagten R. in einem der bei den Zimmer vor dem in einer Ecke kauernden Kübler mit seinem Gewehr gestanden und dabei vor sich hingesprochen; nach Ablauf der ganzen Aktion aber hat Bordt sich den anderen gegenüber gerühmt, er habe den Stadtamtmann Kübler ,fertiggemacht' (oder so ähnlich), dieser sei sein größter Feind bei der Stadtverwaltung gewesen, und Drauz gegenüber hat er erklärt, jetzt habe er sein Mütchen an Kübler gekühlt, dieser Mann habe ihn von jeher schikaniert." Von der Stätte der Bluttat geht es zum nächsten Haus. Zwei erschreckte Frauen, die öffnen, sind sofort bereit, die weißen Tücher wieder einzuziehen, wollen dazu die Treppe hinaufeilen. Bordt aber tritt mit seinem Kumpanen unter die Haustüre und schießt hinter den beiden her. Nur weil sie sich instinktiv auf die Treppe fallen lassen und sich tot stellen, kommen sie mit dem Leben davon. Wieder im Freien, sehen die drei jemanden über die Straße auf das ebenfalls weiß beflaggte Haus des Milchhofdirektors zueilen, schießen sofort, verfehlen ihr Opfer aber, das sich auf die Straße wirft. Der Mann verschwindet in einem Haus, die Schergen des Kreisleiters hinterher. Hier feuern sie ebenfalls die zum Luftschutzkeller führende Treppe hinab, fehlen aber erneut. Damit ist der Amoklauf noch nicht beendet. Als der Mann, den das Gericht wiederum als Bordt identifizierte, am gegenüberliegenden Haus klopft, öffnen ihm die Hausfrau D. und deren Schwägerin. Bordt schreit: ",Wer hat die weiße Fahne herausgehängt, wo ist der Mann?' Die Ehefrau D. antwortete: ,Ich, der Mann ist nicht da.' Darauf zog (Bordt) eine Pistole, richtete sie auf die Brust der Ehefrau D. und gab einen Schuß auf sie ab, von dem getroffen sie sofort tot zusammenbrach." Für die wahllosen Erschießungen und Mordversuche, bei denen sich Bordt nach Meinung des Gerichts in einen förmlichen "Blutrausch" hineingesteigert hatte, wurde Bordt nach dem Krieg vom Landgericht Heilbronn zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt; seine weniger aktiven Komplizen kamen glimpflicher davon. Es ist klar, daß dieses wahllose, von persönlichen Rachemotiven befeuerte verrückte Wüten eines zurückgesetzten, selbst auf der Flucht befindlichen Adlaten - dieses Wüten wäre nicht einmal mit dem berüchtigten und rechtswidrigen "Flaggenbefehl" zu rechtfertigen gewesen, nach dem alle männlichen Bewohner eines weiß beflaggten Hauses zu erschießen waren - nicht das geringste mit dem Versuch zu tun hatte, etwa im Sinne der Führung die "Kampfentschlossenheit" der Bevölkerung zu stärken. Sogar der württembergischen NS-Spitze scheint nach diesen Vorgängen unwohl gewesen zu sein, denn sie gab bald darauf eine "Tod den Verrätern!" überschriebene Zeitungsmeldung heraus, in der es hieß, Stadtamtmann Kübler sei von einem Standgericht zum Tod verurteilt und erschossen worden. 318 Diese Heilbronner Gewalttat war zwar ein besonders schweres und abstoßendes, aber nicht das einzige Tötungsverbrechen, das bei Kriegsende im Herrschaftsgebiet des Kreisleiters Drauz von diesem selbst oder von ihm unterstellten Funktionären verübt wurde. 319 Gemeinsam war diesen Untaten, daß allein die von jedem halbwegs 318
319
Vgl. Blumenstock, Einmarsch, S. 29. Vgl. die bei Jacobi, Ratsprotokolle, S. 125 f., und Blumenstock, Einmarsch, S. 34, geschilderten Fälle. Ferner etwa die Unterlagen des Landgerichts Heilbronn mit den Aktenzeichen KLs 4-6/47, KLs 158/47, KLs 49-51/47 sowie 1 Js 22372/61 und 1 Js 20129/60.
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plausiblen Motiv losgelöste Willkür die Hand der Täter führte. Reine, offenbar anstekkend wirkende Willkür kennzeichnete auch die Vorfälle, die sich in Binswangen, nahe Neckarsulm, ereigneten. Nach Überzeugung des Landgerichts Heilbronn spielte dabei das "traurige Vorbild" des Kreisleiters eine nicht zu unterschätzende Rolle. 320 Der habe seine Amtsträger zu "besonderer Härte und Rücksichtslosigkeit" erzogen und diesen "gerade in den Tagen des Zusammenbruchs die Beseitigung von Saboteuren irgendwelcher Art zur Pflicht gemacht". Das habe eine "verheerende Wirkung" auf den Angeklagten L., einen 56jährigen Feinmechaniker und Kleinlandwirt, gehabt, der seit zwanzig Jahren in dem kleinen Binswangen ansässig war, wo die Tat geschah. L. galt nicht als sonderlich arbeitsam und hatte sich gegen Kriegsende zudem als stellvertretender Ortsgruppenleiter bei den Einheimischen "sehr unbeliebt" gemacht. Bei seiner Tat spielten auf taktisch-militärische oder disziplinarische Erwägungen zurückgehende Motive eine beinahe noch geringere Rolle als bei den anderen Terrortaten im Landkreis Heilbronn, denn für Binswangen war die Nachkriegszeit bereits angebrochen. Am Nachmittag dieses 13. April 1945 stießen amerikanische Einheiten an dem Ort vorbei, "was von der Einwohnerschaft mit Aufregung verfolgt wurde. Die Bevölkerung stand auf der Straße herum und gab ihrer Freude Ausdruck, daß der Krieg für sie nun überstanden sei". Einige Bauern begannen sogleich damit, Panzersperren zu beseitigen. Dem herzueilenden L. machten sie klar, jetzt, wo die Amerikaner da seien, habe er nichts mehr zu sagen. Solche triumphierenden Sticheleien versetzten den stellvertretenden Ortsgruppenleiter derart in Rage, daß er ausrief: "Solang wir da sind, haben wir noch zu bestimmen! Wenn ich einen Revolver hätte, würde ich ein paar erschießen!" Diesen Worten verlieh er durch geschäftiges Herumkramen in seinen Hosentaschen Nachdruck. Die Bauern wurden unsicher und zerstreuten sich. Kurze Zeit danach ging der kleine Parteifunktionär unvermittelt auf zwei Soldaten los, die ihre Uniform bereits mit Zivilkleidern vertauscht hatten. Als inneren Antrieb für das erneute "Einschreiten" sah es das Heilbronner Landgericht später unter anderem an, daß L. "mit dem Einzug amerikanischer Truppen seine bisherigen Machtbefugnisse davonschwimmen" sah, daß er "sich Sorgen um seine Person für die Zukunft gemacht und dadurch selbst in eine Untergangsstimmung hineingesteigert hat, die vor nichts mehr Halt machte". ",Wie kommt es, daß ihr in Zivil seid und gestern habt ihr doch als Soldaten noch Uniform angehabt?''', fuhr L. die beiden Soldaten an, die ihrerseits guter Dinge und froh darüber waren, den Krieg heil überstanden zu haben. Der eine gab zunächst gelassen zuriick: ",Du warst doch gestern auch noch beim Volkssturm und müßtest heute auch dort sein"'. Doch da L. ihn sofort am Ärmel packte, gerieten sie in ein Handgemenge. Dabei zog der Amtswalter seine Pistole, schoß, doch traf er den Soldaten nur in die Hand. Dieser holte daraufhin seine Armeepistole und ging nun seinerseits auf L. zu, der den Soldaten wenige Augenblicke später aus zwei, drei Metern Entfernung niederstreckte. Das Gericht billigte dem rasenden Ortsgruppenleiter, der auf den vor ihm liegenden "halbtoten" Soldaten allerdings noch zwei weitere "Fangschüsse" abgefeuert hatte, Notwehr zu. Jetzt eilte der andere Soldat hinzu und wollte L. beruhigen, wobei er ihm sagte, "er solle doch das dumme Zeug bleiben lassen. Mit 320
Urteil des Landgerichts Heilbronn gegen den Gastwirt und Weingärtner L. wegen Totschlags und versuchten Totschlags v. 12.4. bzw. 4. 11. 1947, in: Justiz und NS-Verbrechen, I, S. 727fl.
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den Worten: ,Ach Quatsch' schoß der Angeklagte aus einer Entfernung von etwa 1 Meter auf (den zweiten Soldaten), der sich alsbald zur Flucht wandte, aber nur noch wenige Schritte bis zum Treppenabsatz vor der Kegelbahn des L.'schen Anwesens kam und dort tot zusammenbrach." Selbstjustiz und Scheinjustiz, Willkür- und Vernichtungsmaßnahmen waren es auch, die zur selben Zeit im ebenfalls noch hart umkämpften Franken die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten. Daran änderte die Tatsache nicht das geringste, daß der Terror hier oftmals im Gewande Justitias auftrat und unter dem Vorwand praktiziert wurde, die deutsche Kampfkraft stärken zu wollen. Neben dem als fanatischer Nationalsozialist bekannten Kommandeur des XIII. SS-Armeekorps, der in Mittelfranken sein Unwesen trieb 32I , war es im Mainfränkischen eines der berüchtigten Standgerichte 322 , das "Fliegende Standgericht Helm", das sich dort mit seinen mörderischen "Urteilen" gegen Zivilisten hervortat. Das Klima am Main war infolge der harten Kämpfe um Würzburg und Aschaffenburg zwar ohnehin sehr rauh geworden 323 , doch hatte der Chef jenes "Gerichts" einen gehörigen persönlichen Anteil an den entsetzlichen Brutalitäten dort. Erwin Helm, ein Berserker eigener Qualität, war noch als Berufsoffizier der Reichswehr übernommen worden, hatte es in der Wehrmacht aber lediglich zum Major gebracht und war gegen Kriegsende Führer eines ,,Auffangstabes" der zerschlagenen 7. Armee gewesen, bevor er sein eigenes "Gericht" bekam, eine Mördertruppe, die eine Blutspur vom Rhein bis ins Sudetenland zog.324 Major Helm pflegte in einem grauen Mercedes zu reisen, an dem ein Schild mit der Aufschrift "Fliegendes Standgericht" prangte. Auch sonst zeichnete er sich nicht durch Feinsinn aus. Er war ein Fanatiker reinsten Wassers, von dem des öfteren Sprüche wie "Nun werden Rüben fallen" zu vernehmen waren. War er aufgeräumter Stimmung, gab er seinen Kameraden auch schon einmal eine besondere Fertigkeit zum besten: "Er hielt sich die Nase zu und preßte aus einer handtellergroßen, von einer Verletzung stammenden Lücke der Schädeldecke das Gehirn heraus, groß wie die Faust eines Kindes." Die Anzahl der in Unterfranken mit oder ohne juristische Verbrämung "umgelegten" und "aufgeknüpften" Soldaten und Zivilisten wird nie mehr festzustellen sein; wie das "Fliegende Standgericht Helm" bei der Rechtsfindung verfuhr, unterliegt jedoch keinem Zweifel. Ende März 1945 war in der unterfränkischen Gemeinde Zellingen (Landkreis Karlstadt am Main) der Volkssturm in Stärke von drei Kompanien zum Appell angetreten. Der Bataillonskommandeur hielt eine scharfe Ansprache, die Front riicke näher, wer nicht pariere, werde erschossen, usw., ust. Daraufhin schallten ihm aus der Front weithin vernehmliche "Oho!"-Rufe entgegen. Unter den angetretenen Männern war auch der 60jährige Landwirt Karl Weiglein. Zwei Tage nach diesem Zwischenfall wurde dessen Anwesen durch die bei der Sprengung einer nahe gelegenen Mainbriicke ausgelöste Druckwelle beschädigt, was den aufgebrachten Bauern zu der Bemerkung veranlaß te : "Es gehören die aufgehängt, welche die Briicke gesprengt haben." Diese 321 312
323
324
Vgl. Fröhlich, Herausforderung, S. 228f., insbes. S. 253. Vgl. die Qualifizierung bei Meyer, Militärische Führungsschicht, in: Foerster u.a. (Hrsg.), Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, S. 594. Siehe etwa Stadtmüller, Aschaffenburg im Zweiten Weltkrieg, S. 249. Die Darstellung der Endphase-Verbrechen im fränkischen Raum folgt im wesentlichen dem akribischen Werk von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 510ff. Den Fall Weiglein beschreibt Stadtmüller auf den S. 520ff., Zitat auf S. 522.
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Worte wurden dem Kommandeur des Volkssturmbataillons, einem Stabsarzt, hintertragen, der sie dem auf der Durchfahrt befindlichen Major Helm weitergab und ihm bei dieser Gelegenheit auch von dem Zwischenfall bei dem Volkssturmappell drei Tage zuvor erzählte. Helm rief sofort: "Der Mann wird gehängt!" Vielleicht um dem Arzt zu imponieren, diktierte er sodann das Todesurteil und ließ auch schon einen Strick herbeischaffen. Auf dem Weg zum Wohnort von Weiglein bestimmte Helm rasch Vorsitzenden und Beisitzer eines Standgerichts, Verteidiger und Protokollführer gab es nicht. Dann wurde der Bauer aus seinem Hause geholt. Den Anklagepunkt der Meuterei ließ das "Gericht" fallen, da Weiglein leugnete, bei dem Volkssturmappell "Oho!" gerufen zu haben. Über die Brückensprengung habe er geschimpft, das räumte er ein. Die Beisitzer beantragten, den Denunzianten als Zeugen herbeizuholen. Das wurde vom "Gericht" abgelehnt und statt dessen sofort die Todesstrafe wegen Meuterei und Zersetzung der Wehrkraft "beantragt". Während der Beratungen machten die Beisitzer, zwei Volkssturmführer aus Zellingen, weitere Einwände, lehnten insbesondere ein Todesurteil strikt ab. Daraufhin wurden die beiden abgesetzt. Major Helm, der nun auch noch den beiden Beisitzern ein Standgerichtsverfahren androhte, war während der "Beratungen", immer unruhiger werdend, beständig durch das Dorf gestrichen, hatte des öfteren an das Fenster des Verhandlungszimmers geschlagen, um die Sitzung des Standgerichts zu beschleunigen. Schließlich stürmte er in den Raum und brüllte: "Wenn ihr nicht fertig werdet, dann spreche ich das Urteil!" Das wirkte. Alsbald kam der von ihm selbst Stunden vorher abgefaßte Urteilsspruch zur Verlesung, Helm bestätigte diesen auch gleich selbst und hängte dem Bauern Weiglein ein Pappschild mit der Aufschrift um den Hals: "Wegen Sabotage der Wehrmacht und Meuterei zum Tode verurteilt". Dann führte er den Delinquenten persönlich zur Richtstätte. Helm hatte sie selbst ausgesucht und präparieren lassen, während das Standgericht noch nach dem Urteil suchte. Etwa fünf Meter vom Küchenfenster des Bauernhauses entfernt stand damals ein Birnbaum auf dem Weigleinschen Anwesen. An ihm hing der Strick, daneben standen eine Leiter und ein Stuhl. Es war Gründonnerstag, der 29. März 1945, ungefähr halb zwei Uhr nachts. Auf seinem Hof angekommen, rief der Todeskandidat laut nach seiner Frau. Dora Weiglein öffnete das Küchenfenster, konnte trotz der Dunkelheit Leiter, Stuhl und Strick erkennen: "Laßt doch meinen Mann in Ruhe, er hat euch doch nichts getan!", schrie sie entsetzt das Dorf hinab. Von den Henkern rabiat angefahren, mußte sie das Fenster wieder schließen. Ihr Mann stieg auf den Stuhl unter dem Birnbaum, bekam den Strick um den Hals gelegt und wurde in die Schlinge gestoßen. "Helm, so hieß es, habe selbst noch am Strick gezogen." Vier Tage später wurde in der etliche Kilometer mainabwärts gelegenen Kreisstadt Lohr ein bekannter und geschätzter Krankenhausarzt erschossen, der sich mit der Absicht getragen hatte, die Stadt an die herannahenden Amerikaner zu übergeben. 32 > Auch dieser Urteilsspruch war, rechtlich gesehen, nichtig, da das Standgericht nicht nur falsch zusammengesetzt war, sondern auch eine Reihe von Verfahrensfehlern machte. Doch solche "Formalia" spielten bei der inzwischen beinahe freien Verfügungsgewalt des untergehenden Regimes über Leben und Tod ihrer Bürger längst keine Rolle mehr. Den meisten "Hoheitsträgern", Gestapo-Beamten oder SS-Angehö325
Auch dieses Beispiel ist der Studie von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 551ff., entnommen.
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rigen war auch längst klar, daß die Führung von ihnen keine umständliche Rechtsfindung, sondern einen "kurzen Prozeß" erwartete. Seit die alliierte Schlußoffensive die Amerikaner in raschem Tempo durch das linksrheinische Deutschland und über den Rhein ins Innere des Reiches geführt hatte, trafen sie auf immer eindeutigere Anzeichen dafür, daß das zum Untergang verurteilte NS-Regime nicht nur mit den in letzter Minute verübten Morden an politischen Oppositionellen und Widerstandskämpfern und den Greueltaten gegen die überlebenden Häftlinge der Konzentrationslager Blutorgien feierte 326 , sondern mit kaum glaublicher Brutalität auch gegen die eigenen erschöpften Soldaten und jene "Volksgenossen" wütete, die keinen anderen Wunsch hatten, als wohlbehalten durch jenes "Nadelöhr" zwischen Krieg und Frieden zu schlüpfen. Die im westlichen Süddeutschland operierende Seventh United States Army kam in ihrem After Action Report explizit auf den Durchhalteterror in Franken zu sprechen. "Es war zu erwarten gewesen, daß die deutschen Führer in den letzten Tagen des Krieges ihre Zuflucht zum Terror nehmen würden, um ihre kriegsmüden Leute bei der Stange zu halten und die vordringenden alliierten Streitkräfte im Rücken zu stören", hieß es darin. In Lohr am Main habe die SS sechs der einflußreichsten Bürger der Stadt gehängt. 327 Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, aber Dimension und Qualität des auf Schritt und Tritt anzutreffenden deutschen Terrors war damit dennoch recht gut gekennzeichnet. Der berüchtigte Standgerichtsmord an dem "jungen Märtyrer"328 Robert Limpert in Ansbach am 18. April war in der Chronik der 7. US-Armee, die sogar eines der von ihm heimlich verteilten Flugblätter in englischer Übersetzung abdruckte, ebenfalls registriert. Der Intelligence-Stab der Sixth Army Group, die bereits große Teile Badens, Württembergs sowie des westlichen Bayern erobert hatte und sich eben anschickte, über München bis nach Tirol vorzustoßen, war schon Ende April zu der Feststellung gekommen: "Die Gewalt der Nazi-Herren über die Wehrmacht und das Volk wird spürbar schwächer, vor allem in Bayern. Der Zivilist findet sich in der Lage, sein Heim und seinen Besitz nicht gegen die Alliierten schützen zu müssen, sondern gegen jene Fanatiker, die sich mit der Niederlage nicht abfinden wollen und können."329 Auf ihrem Marsch von Franken zu den Alpen stießen die amerikanischen Soldaten überall auf weitere Exempel oder die noch kaum verwischten Spuren nationalsozialistischer Schein- und Selbstjustiz, im Kampfgebiet des XIII. SS-Armeekorps beispielsweise in Ergersheim und Windsheim im mittelfränkischen Landkreis Uffenheim. In Ergersheim fuhren am 12. April kurz vor Ankunft der Amerikaner zwei deutsche Offiziere auf einem Motorrad umher, um sich ein Bild von der unübersichtlich gewordenen Feindlage zu verschaffen. Dabei machten sie vor einem Einzelgehöft bei Ergersheim halt, an dem nach dem Bericht des evangelischen Pfarrers ein weißes "Fähnchen" hing, "verlangten in barschem Ton nach dem Besitzer des Hofes, jagten dessen Frau und Töchter in Richtung Ergersheim fort und führten ihn dann hinter das Haus, wo sie ihn durch Genickschuß töteten. Nicht genug damit, zündeten sie darauf auch
326 321 328 319
Vgl. VIII3. Seventh U.S. Army, Report of Operations, 111, S. 777 f. Fröhlich, Herausforderung, S. 228 ff. Sixth Army Group, G-2, Weekly Intelligence Summary NT. 32 v. 28.4. 1945; NA, RG 407, Operations Reports, Box 1742.
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noch das Anwesen an, welches zum allergrößten Teil niederbrannte."33o Am selben Tag hatte im benachbarten Windsheim eine lärmende, größtenteils aus Frauen und Kindern bestehende Ansammlung auf dem Marktplatz, die für einen Abzug der Wehrmacht aus dem Städtchen eintrat, den dortigen Kampfkommandanten in arge Verlegenheit versetzt. Anderntags erschienen zwei Gestapo-Beamte aus Nümberg. Ohne irgendwelche Ermittlungen geführt zu haben, schoß der eine von ihnen kurze Zeit später einer 39jährigen Frau, die an der Demonstration teilgenommen hatte, aber dabei nicht besonders hervorgetreten war, ohne Warnung kaltblütig ins Genick. Vor den Augen ihres Mannes brach sie zusammen. Da die Niedergeschossene noch Leben zeigte, gab der Gestapo-Beamte, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, aus nächster Nähe noch einen Schuß in das Auge und die Mundhöhle ab 33 '; das Fabrikantenehepaar hatte NSDAP und Gestapo schon länger als politisch unzuverlässig gegolten 332 Ganz ähnliche Verbrechen, die den erwähnten in Willkür und Brutalität nicht nachstanden, wurden unmittelbar vor dem Eintreffen der Besatzungsmacht in Burgthann bei Nümberg am 16. April oder etwa in Regensburg am 23./24. April verübt. 333 Das letzte Aufbäumen und mörderische Finale der nationalsozialistischen Machthaber in Süddeutschland wurde zehn Tage vor Kriegsende von der unglücklichen "Freiheitsaktion Bayern" unter Führung des Hauptmanns Rupprecht Gemgroß, des Majors Alois Braun und des Leutnants Ottoheinz Leiling provoziert. Mit ihren am frühen Morgen des 28. April 1945 über Rundfunk verbreiteten Proklamationen ("Fasanenjagd") und Aufrufen ("Beseitigt die Funktionäre der nationalsozialistischen Partei!") sowie insbesondere der leichtfertigen Behauptung, die FAB habe "heute Nacht die Regierungsgewalt erstritten"334, verleitete sie die Bürger in vielen Dörfern und Städten Ober- und Niederbayerns dazu, ihre Deckung in gutem Glauben vorzeitig zu verlassen. Der ungenügend vorbereitete und dilettantenhaft bewerkstelligte Aufstandsversuch der FAB lieferte damit in vollkommener Verkennung der Gesamtlage den Anlaß zu der in diesen Wochen wohl gräßlichsten Mordwelle. Wenige Tage und Stunden vor Ankunft der amerikanischen Besatzungstruppen fielen ihr zwischen Penzberg und
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"Bericht über die Besetzung von Ergersheim durch die Amerikaner" des eV.-luth. Pfarramtes Ergersheim an den Landeskirchenrat in Ansbach v. 2.6. 1945; LKA Nümberg, Bestand Landeskirchenrat München. Bei diesem Bericht handelt es sich um eine erste Schilderung des später auch gerichtlich verfolgten Falles "Rummelsmühle". Vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, S. 657 ff. Vgl. das in dieser Sache am 20.8. 1948 ergangene Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth, in: Justiz und NS-Verbrechen, III, S. 173 ff. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 652. Zur Ermordung des Bürgermeisters von Burgthann bei Nürnberg durch den Kommandeur eines SS-Bataillons am 16.4. 1945 vgl. ebenda, S. 655f. Die Ermordung des Regensburger Dompredigers Johann Maier, des Bezirksoberinspektors Michael Lottner und des Lagerhausarbeiters Josef Zirkel ist unter anderem beschrieben bei Dieter Albrecht, Regensburg in der NS-Zeit, in: ders. (Hrsg.), Zwei Jahrtausende Regensburg. Vortragsreihe der Universität Regensburg zum Stadtjubiläum 1979, Regensburg 1979, S. 179 ff. Zur militärischen Entwicklung, die zur Räumung Regensburgs von deutschen Truppen in der Nacht vom 26. zum 27. April führte und in keinem Zusammenhang mit der dortigen berühmten "Friedensdemonstration" stand, vgl. Robert Bürger, Regensburg in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 123 (1983), S. 379ff. Siehe auch Josef Weishaupt, Die geplante Schlacht um Regensburg, April 1945, in: Regensburger Almanach 1990, S. 92 ff. Zit. nach Heike Bretschneider, Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933-1945, München 1968, S. 232. Zur FAB vgl. neben dieser Studie die Darstellung bei Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 660ff. BTÜckner, Kriegsende in Bayern, S. 187ff.
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Burghausen, Landshut und Miesbach noch über 40 Bürger zum Opfer. J35 Der Rachefeldzug, der dieser binnen weniger Stunden zerschlagenen Aktion folgte, führte die bis zum letzten Tag des Krieges unverminderte terroristische Schlagkraft Hitler-treuer Funktionäre und Fanatiker auf drastische Weise vor Augen. Bei der bis zum Schluß gegebenen "Unberechenbarkeit des Risikos"H6 war der Versuch einer zentral gelenkten Erhebung gegen das Regime im Endstadium des Krieges gerade das ungeeignetste Mittel zu einer Abkürzung des Kampfes und zur Vermeidung weiterer unnötiger Opfer: Nur der zum Handeln entschlossene einzelne oder eine örtliche Bürgerinitiative zur Nichtverteidigung war in der Lage, nach genauer Beobachtung der lokalen Machtverhältnisse wie der voraussichtlichen Bewegung der deutschen und amerikanischen Einheiten in der unmittelbaren Umgebung sowohl das Für und Wider wie den richtigen Zeitpunkt einer solchen gefahrvollen Aktion halbwegs verläßlich zu taxieren. So mutig die Protagonisten der "Freiheitsaktion Bayern" bei ihren Aktionen in der Landeshauptstadt - ein Erfolg hier wäre die Voraussetzung für ein Gelingen der Erhebung gewesen - und in anderen Orten zu Werke gingen, schwerwiegende Fehlkalkulationen und Unzulänglichkeiten ihrer führenden Köpfe verurteilten das oft beschriebene Unternehmen von Anfang an zum Scheitern. Schon die geglückte Kontaktaufnahme zur 86th Infantry Division nördlich der Altmühl bei Pappenheim beispielsweise war nicht geeignet, den Amerikanern ein Zusammenspiel mit der "Freiheitsaktion" schmackhaft zu machen. Der Emissär der FAB, der die Pläne der Gruppe darlegte, bot auf der einen Seite die kampflose Übergabe des Verteidigungsbereichs nordöstlich von München an, sprach zugleich aber die Warnung aus, mit modernsten Waffen ausgerüstete "SS-Elitetruppen" rund um die Hauptstadt "könnten das Übergabevorhaben gefährden"337. Charakteristisch für die führenden Köpfe der Verschwörung war ferner eine gefährliche "Unkenntnis über die Kriegslage im großen" und eine "Unterschätzung der Machtverhältnisse in München"338. Die Chance, mit ihren Aufrufen die Kampfgruppen des LXXXII. Armeekorps und des XIII. SS-Armeekorps des Max Simon zur Niederlegung der Waffen zu bewegen, war von vornherein minimal. Die Hoffnung auf den Reichsstatthalter in Bayern, General Ritter von Epp, zu setzen, den die FAB in ihre Gewalt gebracht hatte, war aus einer ganzen Reihe von Gründen leichtfertig, nicht zuletzt deshalb, weil allein Generalfeldmarschall Kesselring und nicht Epp die Befehlsbefugnis gehabt hätte, von den Soldaten in Bayern die Streckung der Waffen zu verlangen. Dieser hatte aber bereits eine Woche vor dem Putschversuch gegenüber Epp keinen Zweifel daran gelassen, daß auch in Bayern weitergekämpft werden müsse. Major Günther Caracciola, Epps Adjutant und ein Mitverschwörer der FAB, war das gewiß nicht verborgen geblieben, und er hatte Gerngroß '" Diese Zahl nennt Zorn, Bayerns Geschichte, S. 526. 336 So Martin Broszat in seinem Vorwort zu: ders., Hartrnut Mehringer (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. V: Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand, München, Wien 1983, S. XV. 337 "Proposal of Surrender by Gerrnan Unit", Bericht des MII Team 536 G der 86th Infantry Division an den S-2 des 342nd lnfantry Regiment v. 24.4. 1945 über die Mission des von Major Braun entsandten Oberleutnants Mahlke (der Kontakt fand in Neudorf nördlich Pappenheims statt); NA, RG 407, Box 3297. 33. Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 191. In dieser Arbeit, der ich hier vor allem folge, sind die Unzulänglichkeiten des Aufstandsversuchs am klarsten herausgearbeitet. Sie tritt auch einer gewissen Selbststilisierung der Führer der Aktion nach dem Krieg entgegen und rückt manche Behauptung hinsichtlich des Effekts des Aufstandsversuchs für die militärische Entwicklung in Bayern bis zur Kapitulation und für die glimpflich ablaufende Besetzung Münchens zurecht. Zum folgenden Zitat vgl. ebenda, S. 203, Anm. 72.
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deshalb wohl auch wiederholt "vor verfrühtem Losschlagen ohne höhere Führung dringendst gewarnt". Doch selbst wenn der OB West tatsächlich einen Aufruf im Sinne des Hauptmann Gerngroß von der Dolmetscherkompanie beim Wehrkreiskommando VII an seine Soldaten gerichtet hätte - freilich ein abwegiger Gedanke -, so hätten ihm die Angehörigen des XIII. SS-Armeekorps ziemlich sicher nicht Folge geleistet und ihre Waffen vermutlich sogar gegen jene Landser gerichtet, die sich zu einer Kapitulation im Gefolge des Putsches bereit gefunden hätten. Die Durchführung der Aktion, zu der die Verschwörer ganze drei Panzer und insgesamt kaum mehr als 200 Soldaten aufbieten konnten, war genauso unzulänglich wie ihre Planung. Zwar bekam die FAB für kurze Zeit den Sender Freimann im Norden Münchens in die Hand, doch für eine Erstürmung des Befehlsstandes des Reichsverteidigungskommissars und Gauleiters Paul Giesler in der Innenstadt - für das Gelingen der Aktion von entscheidender Bedeutung - waren ihre Kräfte viel zu schwach. Ein zweiter kleiner Trupp konnte zwar die Telefonvermittlung des Wehrkreiskommandos in der Nähe von Starnberg vorübergehend außer Betrieb setzen, doch das war nicht nur deswegen bedeutungslos, weil es genügend andere Nachrichtenverbindungen gab, sondern vor allem deshalb, weil der mobile Korpsstab gar nicht von dort aus agierte. Ein dritter Trupp sollte den südlich Münchens in Quartier gegangenen, am 28. April bis auf Generalfeldmarschall Kesselring dort auch vollständig versammelten Stab des Oberbefehlshabers West ausheben, doch er mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil er das Hauptquartier gar nicht erst fand. Der Stabschef, General Siegfried Westphal, der von der FAB-Aktion erst durch einen Anruf Jodls erfuhr, nennt das Unternehmen, das schon wenige Stunden nach dem Auftakt scheiterte, in seinen Memoiren "eine Arabeske im Irrsinn dieser Zeit"339. Mit der "Freiheitsaktion Bayern" war in größerem Maßstabe fehlgeschlagen, waS in manchem Ort oftmals nur wegen eines unglücklichen Zufalls oder einer unvorhergesehenen Lageveränderung gescheitert war. Diese Entlastung konnte die FAB nach ihrem Abenteuer nicht für sich reklamieren. Im Gegensatz zu den später "frei erfundenen"34o Behauptungen ihrer Akteure hat das Unternehmen auch nichts zur Schwächung der deutschen Verteidigung in und um München beigetragen, sondern im Effekt den Einmarsch der Amerikaner sogar verzögert, da als Folge des Putschversuches noch am 28. April die letzte in Süddeutschland verfügbare Heeresreserve an die Isar verlegt wurde. Außerdem wurde der zufällig in München weilende berüchtigte Generalleutnant Rudolf Hübner nach Auflösung seines "Standgerichts West" auf Befehl Kesselrings zum Kampfkommandanten der bayerischen Landeshauptstadt bestellt. Die Einnahme der Stadt ging am 30. April 1945 dann aber trotz der vom Aufstandsversuch der FAB ausgelösten Turbulenzen relativ glimpflich vonstatten. Ein Satyrspiel zur Tragödie der blutigen Racheorgie, die nun begann, sei nicht unerwähnt gelassen: Es gingen nach dem Fall Münchens nämlich zwei der übelsten NS-Terroristen aufeinander los, denn als General Hübner341 sich sang- und klanglos aus der Landeshauptstadt abgesetzt hatte, war es nie-
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Westphal, Erinnerungen, S. 338. BTÜckner, Kriegsende in Bayern, S. 191. Der Generalstabschef des OB West, Siegfried Westphal, erklärte nach dem Krieg, daß jeder Offizier im Westen Hübner abgelehnt habe und "kein anständiger Offizier" sich zu dessen Amt hergegeben hätte.
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mand anderer als der SS-General Max Simon, der gegen diesen ein Standgerichtsverfahren wegen Fahnenflucht beantragte 342 - erfolglos. Die "Freiheitsaktion", deren konservativ-bayerisches Programm 343 am 28. April ebenfalls über den Äther gegangen war, hatte leichtfertig darauf spekuliert, ein Aufstand gegen das Regime werde in dem mittlerweile erreichten Stadium des offenen Zerfalls wohl schon irgendwie gelingen, wenn ihre Radioaufrufe nur entschlossen genug klängen. Die scheinbar mit geringem Risiko behaftete Erhebung werde den Amerikanern die Existenz eines wenn nicht "anderen Deutschland", so doch eines "anderen Bayern" vor Augen führen und deren Protagonisten eine so starke Legitimation verschaffen, daß selbst die Besatzungsmacht schwerlich umhinkönnen würde, der FAB und ihren Führern eine maßgebliche Rolle beim politischen Neuanfang zuzugestehen. Auch diese von persönlichem Ehrgeiz der Beteiligten nicht freie Kalkulation ging nicht auf. Nicht nur die Amerikaner, auch deutsche NS-Gegner 344 empfanden die Eigenmächtigkeiten und das großspurige Auftreten der FAB nach der Kapitulation als anmaßend und störend. In einer internen Chronik des Counter Intelligence Corps figuriert die "Freiheitsaktion" als eine wenig eindrucksvolle Gruppe ("selbststilisierte, pro-alliierte Gruppe von Deutschen, die sich als die Führer eines Neuen Deutschland dünken"), die der Militärregierung durch die Anmaßung von Kompetenzen das Leben schwer machte. Das Urteil, das zwei Spezialagenten des CIC nach einem Gespräch mit Gerngroß Anfang Mai 1945 über den FAB-Chef abgaben, entsprach dieser Einschätzung: "Ein Opportunist ohne grundlegende Glaubensprinzipien, nur mit einem gewissen Genuß an der Macht und an dem Einfluß, den er plötzlich auszuüben vermochte."345 Der monatliche Counter Intelligence-Bericht der Sixth Arrny Group reihte die FAB denn auch umstandslos unter jene Organisationsformen von NS-Gegnern ein, die jetzt vor allem ein Anliegen hätten: "Selbsterhöhung"346. Am 17. Mai 1945 verbot die Militärregierung die "Freiheitsaktion Bayern", eine Maßnahme, die nach Auffassung des Political Advisor des Militärgouverneurs zwar zu Recht, aber doch in einer "etwas kruden Art und Weise" erfolgte. 347 Aussage Westphals am 11. 6. 1948 im Prozeß des Landgerichts München gegen Rudolf Hübner; IfZ-Archiv, Gm 07.94/4. 34' Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 347. 343 Zur Qualifizierung des FAB-Programms vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 1982, S. 128f. 344 Vgl. z.B. die schriftliche Reaktion von Berthold Spangenberg v. 30.4.1946 auf einen Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 26.4. 1946 über die FAB-Aktivitäten nach der Besetzung Münchens sowie dessen kritische Bemerkung zur FAB in dessen Tagebuch; Material Spangenberg, IfZ-Archiv, Material Henke. Spangenberg (1916-1986), 1945/46 einflußreicher Berater des ICD in Fragen der Verlagslizenzierung und später bekannter Münchener Verleger, war führendes Mitglied einer bemerkenswerten Bürgerinitiative, die die kampflose Übergabe Stambergs am 30.4. 1945 organisierte und aus der dann ein ,,Aktionsausschuß" und provisorischer Stadtrat hervorging. ", CIC-History, Kapitel XXVI, S. 64ft.: ,,A Typical Opportunist Group: The FAB", Zitate S.64 und S.67; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. Zur Qualifizierung der Persönlichkeit von Gerngroß vgl. auch Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 187. 346 Sixth Army Group, Monthly Intelligence Report Nr. 14. v. 30.5. 1945; NA, RG 407, Operations Reports, Box 1742. 34' Die "Notice" des Münchener Military Government Detachment v. 17. 5. 1945 findet sich als Anlage zu einem Schreiben der Dienststelle der Political Advisor an den Secretary of State v. 2.6. 1945; NA, RG 59, 740.00119 Control (Germany), 6-245. In den Akten von Besatzungstruppen und Militärregierung findet sich noch eine ganze Reihe von Analysen, die sich mit der FAB befassen: So etwa der 32seitige, von Gemgroß und Leiling gezeichnete (undatierte) Bericht "Conclusive Report about the Activities of the F.A.B."; NA, RG 260, 10/130-3/1. Seventh Army, Psychological Warfare Branch, Special Report Nr. 31 v. 7.5.
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Die mitunter sehr harten Urteile der Besatzungsmacht über die FAB waren im Kern zwar nicht falsch, der aufrichtigen und schon lange vor Kriegsende bestehenden NS-Gegnerschaft ihrer führenden Persönlichkeiten wurden und wollten sie wohl auch nicht gerecht werden. Die abfälligen Qualifizierungen waren mindestens auch insofern ungerecht, als die Aktion trotz ihres gefährlichen Dilettantismus den Beteiligten einigen Mut und persönlichen Einsatz abverlangt hatte. Daß ein Verdienst, das die "Freiheitsaktion" bald als ein wichtiges Resultat ihres Unternehmens besonders herausstellen sollte, ebenfalls sehr viel weniger wert gewesen ist, als die Beteiligten vor und nach dem Aufstandsversuch annahmen, konnten die Protagonisten bei Planung und Durchführung der Aktion nicht ahnen, nämlich daß es dieses mit so fatalen Folgen behafteten Unternehmens gar nicht bedurft hätte, um, wie Gerngroß es nach dem Krieg ausdrückte, "dem anderen Deutschland und der Welt" zu beweisen, daß es "vaterlandsliebende Männer gab, die es wagten, der Vernichtungspolitik entgegenzutreten, um noch so viel von der Heimat zu retten, als zu retten war"348. Die Bürgerinitiative zur Bewahrung von Heimat und Besitz, der verdeckte Widerstand gegen die Vernichtungspolitik des Regimes, war seit den ersten Tagen der Besetzung eine heimliche, dezentrale Massenbewegung, die insgesamt große Erfolge verbuchen konnte das brauchte der Besatzungsmacht und der Welt nicht erst durch ein zweifelhaftes Fanal nahegebracht zu werden. Das Erfolgsrezept dieser Aktivitäten war das vorsichtige, Mut, Fingerspitzengefühl und genaue Risikoabwägung erfordernde verdeckte Taktieren. Gerade darin lag der Grund, daß der blutigen Terrorwelle des Regimes gegen die eigene Bevölkerung in der Endphase des Krieges nicht eine noch viel größere Anzahl von Männern und Frauen zum Opfer fiel. In diesem Lichte betrachtet, waren die Opfer, die auch die FAB mitprovozierte, in tragischer Weise unnötig. Da es im Rundfunk geheißen hatte, in der Landeshauptstadt sei "die Regierungsgewalt erstritten", verließen viele im guten Glauben ihre Deckung und lösten oft nur um Stunden verfrüht die Nichtverteidigungs- und Übergabemaßnahmen aus, die sie bei Annäherung der Amerikaner fast überall in ähnlicher Weise ohnehin getroffen hätten. Nur weil der Arm der Häscher längst nicht mehr in alle bayerischen Dörfer und Städte reichte, in denen die Menschen dem FAB-Aufruf gefolgt waren 349 , hatten diese unzeitigen Initiativen vielfach glücklicherweise keine tödlichen Konsequenzen mehr. Dennoch wurden selbst jetzt noch einmal mehr als drei Dutzend Menschen von dem nationalsozialistischen Endphaseterror verschlungen. In München wurden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Putsch auf Befehl des Gauleiters mindestens fünf Menschen verhaftet und erschossen. 35o In einem südlichen Villenvorort erschoß ein Volkssturmkommando einen Arzt, der die dortigen Parteifunktionäre dingfest gemacht und sich darum bemüht hatte, die Sprengung der
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1945 "Impressions of the Situation in Munieh"; NA, RG 260, 10/111-2/33. SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare v. 16.5. 1945: "The ,Putsch' in Munieh"; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Decimal File 1944-45, Entry 87. Twelfth Army Group, Publicity and Psychological Warfare, Studie "Bavarian Seperatists" v. 11. 5. 1945; PRO, WO 219/4731, XP/83. Undatiertes Interview mit Rupprecht Gerngroß; zit. nach Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 190. Ein umfassender Bestand von zumeist 1946 entstandenen Einzelberichten über die verschiedenen Aktivitäten in Bayern vor und nach dem FAB-Aufruf v. 28. 4. 1945 findet sich unter der Bezeichnung ,,Archiv der bayerischen Widerstandsbewegung" im HZ-Archiv, ZS/A4. Im einzelnen hierzu die Gerichtsverfahren vor dem Landgericht München I gegen Rudolf Hübner u. a. v. 25. 11. 1948 (Az: 1 KLs 143/48, 1 KLs 152/48) und Alfred Salisco u.a. v. 24. 11. 1947 (Az: 1 als 164446/47); HZ-Archiv, Gm 07.27 und Gm 07.28.
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Isarbrücke zu verhindern. 35I In einem östlichen Stadtteil mußte der 76jährige Vater die Tat seines Sohnes mit dem Leben bezahlen. Der arglose alte Mann wurde auf den bloßen Befehl des "Hoheitsträgers" hin im Kellergang der Kreisleitung erschossen, weil sein Sohn, der an dem Versuch beteiligt gewesen war, einige NSDAP-Funktionäre zu entwaffnen, nicht gefunden werden konnte. 352 In Dachau schlug aus dem Konzentrationslager herbeigerufene SS den Aufstand vom 28. April nieder, bei dem sich entflohene Häftlinge und Arbeiter zusammengetan und das Rathaus vorübergehend besetzt gehalten hatten; dabei starben drei Häftlinge und vier Arbeiter. "Kurzer Prozeß" wurde auch in dem kleinen Götting im oberbayerischen Landkreis Bad AibIing gemacht, wo sogleich nach dem mit Erleichterung vernommenen Aufruf der "Freiheitsaktion" demonstrativ die weiß-blaue Fahne auf dem Kirchturm gehißt worden war. Den Pfarrer tötete die SS nach schwerer Mißhandlung, den Lehrer durch einen Kopfschuß. Ebenfalls ohne besondere Sorgfalt auf ein Verfahren zu verschwenden, erhängten SS-Leute auf dem Viehmarktplatz im niederbayerischen Landshut, wo die FAB auch die "trügerische Hoffnung" genährt hatte, "alles Schreckliche wäre nun vorbei"35J, einen Regierungsrat, der mit einem kleinen Kreis Gleichgesinnter seit längerem an den Vorbereitungen zur kampflosen Übergabe der Stadt gearbeitet und nach dem Rundfunkaufruf von Gerngroß weiß-blaue Fahnen hatte setzen lassen. Die blutigste Ernte hielt das Regime nach der unglücklichen FAB-Aktion in dem Bergbaustädtchen Penzberg im Landkreis Weilheim und in dem Wallfahrtsort Altötting, beides Gemeinden, in deren von der Arbeiterbewegung bzw. katholischer Religiosität bestimmten Milieus der Nationalsozialismus nie heimisch geworden war. Dort verschafften sich einige Schergen in dem klaren Bewußtsein des bevorstehenden Endes in einer monströsen Rache- und Abrechnungsaktion die Genugtuung, politische Gegner, Mißliebige und gänzlich Unbeteiligte mit in den eigenen Untergang zu reißen. Diese Rasereien führen besonders klar vor Augen, daß das Morden bei Kriegsende nicht einmal mehr aus der Perspektive der Täter irgend etwas mit dem vorgeblichen "Strafzweck" einer Festigung der Haltung der Bevölkerung oder der Aufrechterhaltung der offenkundig zerfallenen staatlichen Ordnung zu tun hatte. In der "Penzberger Mordnacht"3j4 vom 28./29. April 1945 erschossen und erhängten die Mörder nicht weniger als 16 Männer und Frauen. Vor allem die bekannten sozialdemokratischen und kommunistischen NS-Gegner waren es hier, die die Verlautbarungen der "Freiheitsaktion" zum Anlaß nahmen loszuschlagen. Sie legten den Zechenbetrieb still, schickten den NS-Bürgermeister nach Hause und unterstellten sich die Verwaltung. Es dauerte nicht lange, bis ein Oberstleutnant einer Wehrmachtseinheit eingriff, die Aufständischen verhaftete und nach Rücksprache mit Gauleiter Giesler in München erschießen ließ - insgesamt acht Männer, darunter den früheren SPD-BürgerZu den Mordaktionen nach dem FAB-Aufruf vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 667 H. Das folgende basiert weitgehend auf dieser Studie. 352 Vgl. das Urteil des Landgerichts München I gegen Albin Übel acker u.a. v. 2. 7. 1948 (Az: 1 KLs 98-100/ 47); HZ-Archiv, Gm 07.26 '53 "Landshuts schwerste Tage", Artikel in der Isar Post, 30.4. 1946. 354 Georg Lorenz, Die Penzberger Mordnacht vom 28. April 1945 vor dem Richter, Garmisch-Partenkirchen 1948. Vgl. auch Klaus Tenfelde, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900-1945, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 369fl.; dort auch weitere Literaturangaben. Der Fall ist dokumentiert in dem Urteil des Landgerichts München II v. 7. 8. 1948, in:Justiz und NS-Verbrechen, III, S. 65ff. 351
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meister. Den zweiten Teil des Massakers vollzog der Hitler-Literat Hans Zöberlein, Parteigenosse der ersten Stunde, der sich dann aber mit dem Establishment der Partei überworfen hatte und bei Kriegsende den einige hundert Pgs umfassenden "Freikorps Adolf Hitler" genannten "Werwolf"-Haufen anführte. Er hatte von Gauleiter Giesler den Auftrag erhalten, in der Stadt blutige Rache zu nehmen. Im Zusammenspiel mit einem Wehrmachtoffizier, dem am Morgen aus dem Rathaus gewiesenen Bürgermeister und anderen ließ Zöberlein ("Die Wehrmacht erschießt, der Werwolf hängt") nun nach rasch zusammengestellten Listen "politisch Unzuverlässiger" - persönliche Animositäten und offene Rechnungen aus der Vergangenheit genügten, um auf die Proskriptionsliste zu geraten - die "Mord- und Vernichtungsaktion"355 anrollen. Zwei Ehepaare und vier Männer wurden an verschiedenen Stellen der Stadt aufgehängt, um den Hals ein Schild mit einer Warnung des "Oberbayerischen Werwolf" an "alle Verräter und Liebediener des Feindes"356. Einige konnten fliehen, einer kam mit dem Leben davon, weil der Strick riß und mehrere auf ihn abgefeuerte Schüsse ihn lediglich in die Hände trafen. Schon am nächsten Tag, zu spät, kamen die Amerikaner. In Altötting machte sich der als Tyrann bekannte Kreisleiter Schwägerl aus Mühldorf, der den Marienwallfahrtsort der "Schwarzen" seit jeher gehaßt und schikaniert hatte, ein persönliches Vergnügen daraus, gegen eine Reihe angesehener Bürger dort einzuschreiten, die nach dem Signal der FAB aktiv geworden waren und mit Hilfe der Feuerwehr einige prominente NS-Funktionäre festgesetzt hatten. Schon bald nach dem Mittag des 28. April traf der Kreisleiter, "ungemein erregt", die Maschinenpistole umgehängt, mit einem SS-Kommando in der Stadt ein und setzte fort, was ein Wehrmachtsoffizier dort auf eigene Faust schon begonnen hatte. Auch hier existierte mittlerweile eine kurzerhand kompilierte Proskriptionsliste, auf die mindestens ein Name, der des 70jährigen Administrators der Heiligen Kapelle, rein zufällig geraten war. Das konnte den Kreisleiter freilich nicht daran hindern, die willkommene Gelegenheit zu nutzen, mit dem alten Widersacher des Nationalsozialismus blutig abzurechnen; fünf Männer fielen hier den Kugeln der SS zum Opfer. 357 Auch in das benachbarte Burghausen schickte Kreisleiter Schwägerl (er beging nach der Kapitulation Selbstmord) ein SS-Kommando. Dort waren nach dem FAB-Aufruf in der Belegschaft der Wakkerwerke ebenfalls alte NS-Gegner - sie fürchteten eine Sprengung der Werksanlagen - mit der Unterstützung mehrerer Dutzend, schon seit längerem in ihrer Zielsetzung einigen Arbeiter zur Tat geschritten, hatten Waffenlager erbrochen und Parteifunktionäre festgesetzt. Als gegen Mittag das Scheitern der Münchener Aktion bekannt wurde (mehrere Beteiligte hatten den Zeitpunkt des Losschlagens von Anfang an für verfrüht gehalten), bliesen die Arbeiter in stillem Einvernehmen mit der Werksleitung, dem Stadtkommandanten von Burghausen und dem Leiter der Schutzpolizei das gefährliche Unternehmen wieder ab. Das bewahrte einen Meister, einen Vorarbeiter und den Buchhalter des Werkes aber nicht vor Verfolgung und Rache; das SSKommando unter der Führung eines 22jährigen war bereits unterwegs. Die drei Männer wurden zum Tod "verurteilt" und vier Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner '" Tenfelde, Proletarische Provinz, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 380. 356 Lorenz, Penzberger Mordnacht, S. 11. .157 Vgl. hierzu auch den Artikel von Herbert Riehl-Heyse, Mord in unserer kleinen Stadt. Widerstand in den letzten Kriegstagen - das Beispiel Altötting, in: SZ, 27./28. 4.1985. Der Fall ist dokumentiert in den Urteilen des Landgerichts Traunstein v. 17. 12. 1948 und des Oberlandesgerichts München v. 20. 7.1949, in:Justiz und NS-Verbrechen, 111, S. 679ff.
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neben dem Direktionsgebäude durch Genickschuß getötet. "Was, nur drei?" brüllte der Kreisleiter, als er die Vollzugsmeldung erhielt. 358 Dem in der Salzach-Stadt auch am nächsten Tage noch in fahriger Geschäftigkeit wütenden Standgericht wären wohl noch weitere Bürger zum Opfer gefallen, aber "das Näherkommen der amerikanischen Truppen ließ es den Gerichtsmitgliedern ratsam erscheinen" - so eine Dokumentation der Vorgänge 359 -, "an die eigene Sicherheit zu denken und sich von hier abzusetzen". Auch in anderen Fällen ist die Errettung manches Delinquenten vor dem sicheren Tod durch die rechtzeitige Ankunft der U.S. Arrny bezeugt. In einem Dorf im Landkreis Crailsheim kam aus einem Haus, an dem ein weißes Laken hing, ein 14jähriger Junge seinem Vater entgegengerannt: "Vater, du darfst nicht mehr heim, ein Feldwebel will dich erschießen!" rief er ihm zu. Kurzentschlossen wechselten die beiden über die Linien zu den amerikanischen Truppen, wo sie freundlich aufgenommen wurden. Zwei Tage später kehrten Vater und Sohn wohlbehalten in ihre inzwischen ebenfalls besetzte Ortschaft zurück. 360 In Kleingartach im Landkreis Heilbronn hatten sich einige Honoratioren geweigert, dem Befehl eines benachbarten Divisionsstabes zu folgen, ihre Häuser zu unterminieren, um sie beim Herannahen des Feindes in die Luft zu sprengen. Daraufhin wurden der Ortsbürgermeister, drei Gemeinderäte und der Lehrer von Feldgendarmerie verhaftet. Nach kurzem Verhör erteilte deren Führer den auf Erhängen lautenden Befehl. Die vier kamen mit dem Leben davon, weil wenige Minuten später ein Radfahrer das Anrollen feindlicher Panzer meldete. Das gleiche widerfuhr vier Männem aus Jettingen im schwäbischen Kreis GÜnzburg. Dort waren der Pfarrer, der Bürgermeister, der Gendarmeriemeister und der Ortsgruppenleiter wegen Hissens der weißen Fahne festgenommen und in das benachbarte Scheppach gebracht worden, wo ein Standgericht unter Vorsitz eines SS-Generals ihren Fall verhandelte: "Nach Aussage eines Oberleutnants", berichtete der Pfarrer später an seine vorgesetzte Kirchenbehörde, "hatten wir die Todesstrafe durch Erhängen zu erwarten. Inzwischen fuhren ein paar amerikanische Panzer an den Ortsrand von Scheppach heran. Die S.S.-Feldgendarmerie ergriff sofort die Flucht. Wir waren gerettet."361 Gewiß, die Entmachtung der Schergen wurde nur selten in solch augenfälliger und geradezu symbolhafter Weise deutlich, mehr oder weniger dankbar registriert wurde die Erlösung von den Schrecken des Krieges auf heimischem Boden und dem Terror der eigenen Führung durch die Ankunft der Amerikaner freilich überall. Auch wenn solche Empfindungen von dem Bewußtsein der totalen Niederlage Deutschlands und der Vergeblichkeit aller in den zurückliegenden Jahren gebrachter Opfer kräftig überlagert wurden, niemand konnte übersehen, daß es unzweifelhaft der Feind gewesen war, der der ,,Ära des Aufhängens und Totschießens"362 ein Ende gemacht hatte. J58
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Vgl. neben der Darstellung bei Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 675, die 1967 von Georg Schuhbeck verfaßte 88seitige, als Manuskript gedruckte "Dokumentation der Vorgänge in Burghausen zum Kriegsende 1945". Siehe auch das Urteil des Landgerichts Traunstein v. 29.6. 1956 und des Bundesgerichtshofes v. 26.4. 1957, in: Justiz und NS-Verbrechen, XIII, S. 771 H. Schuhbeck, Dokumentation, S. 67. Dieses Beispiel überliefert Blumenstock, Einmarsch, S. 33 f. Die folgende Episode ebenda, S. 33. Undatierter Bericht des Pfarrers Leonhard von Moll über die Vorgänge in Jettingen und Scheppach am 24.4. 1945; Archiv des Bistums Augsburg, BO 5790. Vgl. auch Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 679 f. SO der Bericht "Die letzten Kriegstage von Aalen" v. 9.10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau Die Endphase des Lagers Die ,,Ära des Aufhängens und Totschießens", des Quälens, Ausmerzens und Vernichtens beendeten die Alliierten freilich vor allem für jene Verfolgten des Regimes, die bis zum Frühjahr 1945 überlebt hatten. Im April konnten sie die Arkana des KZ-Staates endlich aufbrechen, betreten und der Weltöffentlichkeit sofort auch darüber berichten, was sie dort vorgefunden hatten. Das Entsetzen über das, was zuerst die Soldaten, dann die Publizisten, Politiker und Parlamentarier der Alliierten und Neutralen im Herzen des einstigen Kulturlandes "entdeckten" (wie sie es meist selbst nannten), rührte nicht davon her, daß diese schockierten Zeugen des Grauens in Deutschland etwa bislang Ungeahntes enthüllt hätten, sondern weil sie an sich Erwartetes und vage Bekanntes jetzt mit eigenen Augen sahen. Daß das "Dritte Reich" trotz nationaler Aufbruchsstimmung und Führerbegeisterung ein rassistischer und terroristischer Polizeistaat war, ist in den westlichen Demokratien schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Allgemeingut gewesen. Das erste deutsche Konzentrationslager wurde nicht nur rasch zu einer notorischen Institution 363 , "Dachau" avancierte schon in den dreißiger Jahren zum Symbolnamen politischer und rassischer Verfolgung schlechthin. So sprach die Weltpresse von einem "anderen", einem "weiteren" oder etwa von einem "französischen" Dachau, wenn irgendwo im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich ein Lager für politische Häftlinge errichtet wurde. 364 Die Befreiung des Konzentrationslagers bei München durch Soldaten der amerikanischen 7. Armee am 29. April 1945 symbolisierte deshalb das Ende "Dachaus" als eines Systems der Unterdrückung in Deutschland und Europa in ähnlicher Weise, wie der Selbstmord Hitlers am darauffolgenden Tage das definitive Ende des Dritten Reiches signalisierte. Ungefähr eine Woche vor der Befreiung Dachaus hatte in Bayern der Widerstand der Wehrmacht praktisch aufgehört und der militärische "Kehraus" (wie General Patton gerne sagte) in Süddeutschland begonnen. 365 Das rasche Vorgehen der Amerikaner und die desolate Verfassung der zurückflutenden Einheiten der deutschen 1. Armee machten den Aufbau irgendwelcher "Verteidigungslinien", die diesen Namen verdienten, im Norden der bayerischen Landeshauptstadt illusorisch. Im Raum der etwa 15 Kilometer nordwestlich von München gelegenen Kreisstadt Dachau befanden sich am 28. April 1945 nur noch Reste zerschlagener Gebirgsjäger- und WaffenSS-Einheiten sowie die Relikte der völlig aufgeriebenen 212. Volksgrenadierdivision unter Generalmajor Max Ulich. 366 Dieser bemerkenswerte Heerführer zog seine Soldaten in der Nacht zum 29. April aber in den Süden Münchens zurück, so daß bei Dachau eine "Lücke" und infolgedessen eine - in diesem Stadium der Kämpfe freilich belanglose - "kritische Lage" entstand. '6'
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Vgl. Hermann Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit. Reaktionen auf die Befreiung des Lagers, in: Dachauer Hefte 1 (1985). S. 12. Ein Bericht des Daily Telegraph 1940 etwa bezeichnet ein Konzentrationslager in den Pyrenäen als ein "zweites Dachau". das Deutsche Volksblatt in Porto Alegre, Brasilien, brachte am 27.6.1941 die Reportage "Das französische Dachau. Ein Bericht über das ,Suspekten'-Lager Le Vernet". Vgl. VII/I und insbesondere VII/4. Zur Lage im Norden Münchens am 28./29. April 1945 im einzelnen Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 186fl. und S. 196fl. Die beiden folgenden Zitate ebenda, S. 202 und S. 201.
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Max Ulich, bei Kriegsende 49 Jahre alt, war aktiver Offizier der Reichswehr, dann Bataillons- bzw. Regimentskommandeur in Rußland und Italien, 1944 in München Chef des Stabes im Wehrkreis VII gewesen. Seinen Kameraden und wohl auch dem Verschwörerkreis des 20. Juli als Gegner des Nationalsozialismus bekannt 367 , nach dem gescheiterten Putsch auch vorübergehend festgenommen, hatte Ulich seit seiner Ernennung zum Divisionskommandeur am 1. April 1945 vor allem darauf gesehen, bei den Kämpfen in Süddeutschland sinnlose Opfer und Zerstörungen zu vermeiden. Als Mann von Mut und Augenmaß ließ er sich darin weder von der Flut scharfmachefischer Befehle der letzten Stunde 368 noch von den wiederholten scharfen Rügen seiner Vorgesetzten beirren. Diese GrundeinsteIlung veranlaßte ihn auch dazu, seine Division aus dem Raum Dachau abzuziehen. Dieser Entschluß war freilich eine lebensgefährliche Eigenmächtigkeit, denn damit verstieß er gegen einen Befehl des Kommandierenden Generals des XIII. SS-Armeekorps, SS-Gruppenführer Max Simon, dem er unterstellt war. Von diesem nationalsozialistischen Durchhaltegeneral, der schon eine breite Blutspur quer durch Süddeutschland gezogen hatte 369 , war Ulich am Abend des 28. April nämlich unmißverständlich angewiesen worden, nördlich Dachaus Verteidigungsstellung zu beziehen, sich die dort liegende Waffen-SS zu unterstellen und das Konzentrationslager gegen die andrängenden Amerikaner zu verteidigen. Dazu gab sich General Ulich in Übereinstimmung mit seinem Stab (der den Kampf um das KZ ebenfalls lieber den "SSOHz. aus dem Lager" überlassen wollte 370 ) aber nicht her: "Ich war der Überzeugung", so Ulich nach dem Krieg, "daß ein Wehrmachtsteil sich keineswegs mit der Verteidigung von ,Dachau' befassen dürfe."37I Außerdem habe er es für seine Pflicht gehalten, das Leben seiner meist 16-, 17jährigen Soldaten zu schonen. Diese "Befehlsverweigerung" führte für ihn sofort zu bedrohlichsten Konsequenzen. Sowohl von Simon wie offenbar auch vom Oberbefehlshaber der 1. Armee wurde Ulich nicht nur schwer gerüffelt, General Foertsch leitete auch ein Kriegsgerichtsverfahren gegen ihn ein. Nur wegen der Auflösung jeglicher militärischen Ordnung in den Tagen der Kapitulation und vor allem dank seiner rechtzeitig arrangierten Einweisung in ein Lazarett kam es zu keiner Verhandlung mehr. 372
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Vgl. die Eidesstattliche Erklärung Achim Osters V. 12.1. 1947, die sich neben anderen Dokumenten und Zeugnissen, in denen Verhalten und Einstellung Ulichs gut dokumentiert sind, im Besitz der Familie Ulich befindet. Für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in diese Papiere am 30. 7. bzw. 26. 6. 1991 danke ich Frau Marie-Luise Barkhausen und Herrn Dieter Ulich. Vgl. VIII!. Vgl. ebenda. Siehe den Bericht eines engen militärischen Mitarbeiters von Ulich, in: Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 333 ff.; Zitat ebenda, S. 334. Eidesstattliche Erklärung General Ulichs vom 27. September 1950; IfZ-Archiv, ED 91, NL General Leo Freiherr Geyr von Schweppenburg, Bd. 15. Über das Verhalten Ulichs, insbesondere aber die seinerzeitige scharfe Reaktion Si mons wie des Oberbefehlshabers der deutschen 1. Armee, General der Infanterie Hermann Foertsch, entspann sich Anfang der fünfziger Jahre eine in unversöhnlichem Ton geführte (im NL Geyr zum Teil dokumentierte) Kontroverse zwischen einigen beteiligten und auch unbeteiligten hohen Wehrmachtgenerälen. Dabei nahm Geyr von Schweppenburg energisch für Ulich Partei. Der Vorfall ist auch erwähnt bei Meyer, Militärische Führungsschicht, in: Foerster u.a. (Hrsg.), Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, S. 5941. "Ohne die geschickte Intervention seines Stabes wäre er [Ulich] wohl erschossen worden." So Geyr von Schweppenburg hierzu in einem Schreiben an General a. D. SmiIo Freiherr von Lüttwitz v. 21. 12. 1950; IfZ-Archiv, ED 91, Bd. 15.
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Hätte der Kommandeur der 212. Volksgrenadierdivision dem Befehl von Simon Folge geleistet und tatsächlich Anstalten zur Verteidigung des Abschnittes nördlich Münchens gemacht, in dem das Konzentrationslager lag, dann wäre es wohl zu dem makabren und symbolträchtigen Schauspiel gekommen, in dem Wehrmachtseinheiten den in der Welt damals am meisten bekannten Hort von Greuel und Terror des Nationalsozialismus sogar dann noch abzuschirmen versucht hätten, als das Regime schon in Scherben gefallen war. Eine vorübergehende Versteifung des deutschen Widerstandes bei Dachau wäre militärisch unerheblich geblieben, hätte allenfalls die Befreiung des Lagers um Stunden verzögern, den Vormarsch der 7. US-Armee auf die "Hauptstadt der Bewegung" aber nicht ernstlich behindern können. Hauptträger des Angriffs gegen München im Sektor des XV. Corps waren neben der 20. Panzerdivision die von Würzburg bzw. Aschaffenburg und dann aus Richtung Nürnberg kommende 42. und 45. Infanteriedivision. Seit Tagen ohne nennenswerten Widerstand, näherte sich die 42nd Infantry Division (mit ihrem rechten Flügel an die Autobahn München-Stuttgart angelehnt) von Nordwesten her der bayerischen Landeshauptstadt; am 25. April hatte sie ihren Gefechtsstand im ungefähr 90 Kilometer entfernten, bei Donauwörth gelegenen Buchdorf.3 73 Die Spitzen des linken Nachbarn der "Rainbow"-Division, der steiler von Norden her vorrückenden 45th Infantry Division, standen an diesem Tag noch etwa 70 Kilometer von Dachau entfernt, an der Donau zwischen Neuburg und der Mündung des Lech. Die auf München zulaufende taktische Grenze zwischen den beiden amerikanischen Verbänden führte nicht nur durch die Stadt Dachau, sondern genau "mitten durch das berühmte Nazi Concentration Camp hindurch"374. Am 25. April, dem Tag, an dem sich die beiden Divisionen zum Übergang über die Donau 37j bereit machten, kam es im Alliierten Oberkommando zu einem ungewöhnlichen Schritt: Frank J. McSherry, der Stellvertretende Chef des Civil Affairs/Military Government-Stabes von SHAEF, schlug eine Luftlandeoperation der alliierten Streitkräfte zur Befreiung des Konzentrationslagers vor. 376 Die "Hilfe für politische Häftlinge im Konzentrationslager Dachau, Deutschland" überschriebene Stabsstudie von G-5 stellte zunächst fest, jüngste Aufklärungsergebnisse hätten gezeigt, das "berüchtigte deutsche Konzentrationslager" sei nach wie vor in Funktion ("still in operation") und verwahre noch mindestens 30.000 Häftlinge; 1944 eingelaufene Schätzungen sprächen von Hunderttausenden von Internierten. Beigelegt war dem Vorschlag McSherrys ein Luftbild, das die enormen Ausmaße des Lagerareals zeigte. Die wenige Tage zuvor befreiten Konzentrationslager, vor allem Belsen und Weimar (Buchenwald), hätten die entsetzlichen Lebensbedingungen der Lagerinsassen an den Tag gebracht, fuhr McSherry fort: "Es hat mehrere Fälle von Massakern gegeben, die deutsche Wachmannschaften in letzter Minute unter Häftlingen anrichteten. Diese Massaker hatten das eindeutige Motiv, Häftlinge zum Schweigen zu bringen, die sonst gegen ihre Nazi-Folterknechte ausgesagt hätten." General Summary der Operation der 42nd Infantry Division für April 1945; NA, RG 407, Box 10666. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 96. Vgl. auch die Karten in: Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, III, bei S. 814 und S. 832. m Hierzu Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 137ft. 376 SHAEF, G-5, Stabsstudie ,,Aid to Political Prisoners in the Concentration Camp at Dachau, Germ.ny" v. 25.4. 1945; NA, RG 84, Polad 730/55. J73
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Humanitäre wie politische Gesichtspunkte ließen nach Meinung des ranghöchsten amerikanischen Vertreters im G-5 Stab von SHAEF ein Luftlandeunternehmen wünschbar erscheinen. Durch diese Aktion sollte das Lager umstellt, befreit und bis zur Ankunft der Bodentruppen gehalten werden. Damit würde man drohende Massaker vereiteln und zugleich der verantwortlichen "Gestapo"-Einheiten habhaft werden können: "Von ihrem rein humanitären Wert abgesehen, bestünde der politische Effekt einer solchen Aktion in einem enormen Ansehensgewinn für SHAEF. Eine solche Aktion wäre ein greifbarer Beweis unserer Absichten hinsichtlich des Nazi-Regimes und der von ihm verkörperten Grausamkeit." Die praktische Durchführung verlange insofern keine langwierigen Vorbereitungen, als das Oberkommando gut auf die Pläne der Luftlandeoperation ,Jubilant" zuriickgreifen könne, die für eine etwaige Befreiung von gefährdeten alliierten Kriegsgefangenen in deutschen Lagern ausgearbeitet und inzwischen genehmige 77 worden seien. Die Initiative des G-5 Stabes fand bei den anderen Stabsabteilungen im Alliierten Oberkommando ein geteiltes Echo. G-l und G-2, die von der Durchführung eines Luftlandeunternehmens freilich am wenigsten tangiert worden wären, stimmten zu, die Stabsabteilungen für Operationsführung (G-3) und Nachschubwesen (G-4) lehnten den Vorschlag ab. General Crawford von G-4 nahm als erster Stellung und betonte, bis etwa Mitte Mai sei der gesamte Nachschub auf dem Luftwege auf die Unterstützung der Bodenoperationen abgestellt; jede Abzweigung davon müsse den Vormarsch der 3. und 7. Armee beeinträchtigen. Außerdem gebe es keine verläßliche Schätzung, wie viele Luftlandebataillone bei Dachau eingesetzt werden müßten, mindestens jedoch fünf, vielleicht sogar mehr. Schon der Einsatz von fünf Bataillonen mache aber die Abstellung von 360 Transportmaschinen vom Typ C-47 erforderlich, eine Kapazität, die zur Versorgung von zwei Corps ausreiche. Aus diesen Griinden lehnte G-4 den Plan ab, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, daß humanitäre und politische Erwägungen solchen logistischen Bedenken natürlich vorgehen könnten. H8 Die Stellungnahme der Operations Division, des "Nervenzentrums" des Oberkommandos 379 , erfolgte am 27. April, als die auf München vorgehenden amerikanischen Einheiten die Donau hinter sich gelassen hatten und bereits auf Höhe der Linie Augsburg-Ingolstadt standen. 380 Auch deswegen fiel sie wohl deutlicher aus als die Ablehnung durch G-4. "Informelle Gespräche" mit Offizieren der Sixth Army Group, so das Memorandum, hätten ergeben, daß mit dem Eintreffen der eigenen Bodentruppen im Raum Dachau innerhalb der nächsten drei bis fünf Tage gerechnet werde; vorher sei eine Luftlandung ohnehin schwerlich durchführbar. Im übrigen schloß sich G-3 den logistischen Bedenken der Supply Division an, nannte aber zwei weitere gewichtige Griinde, die gegen den Plan General McSherrys sprachen. Eine Luftlandeoperation wäre nicht nur riskant und möglicherweise schon deshalb ein Schlag ins Wasser, weil die amerikanischen Fallschirmjäger leicht ein von den Deutschen rechtzeitig evakuiertes Areal vorfinden könnten, eine solche Aktion berge sogar immense Gefahren für die Häftlinge selbst: ,,Angesichts der Art und der Stärke des Wachpersonals dieses La377
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Der FA.A.A. Airbome Outline Plan der Operation ,Jubilant" v. 5.4. 1945 war am 10.4. 1945 genehmigt worden; ebenda. Non-concurrence des G-4 Stabes v. 26.4. 1945 zur Stabsstudie von G-5 v. 25.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. Pogue, Supreme Command, S. 68. Non-concurrence des G-3 Stabes v. 27.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3.
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gertyps", schrieb General Nevins, der Chef der Operations Section von G-3, "kann man annehmen, daß eine Luftlandeoperation eher einen Massenmord an den Gefangenen verursachen als zu ihrer Sicherheit beitragen würde." McSherry ließ sich durch die Gegenargumente aus beiden Stabsabteilungen nicht beeindrucken und legte seinen Plan am gleichen Tag trotzdem Bedell Smith, Eisenhowers Stabschef, vor. J8l Tags darauf, am 28. April, als die deutsche 1. Armee einen weiteren "schwarzen Tag"J82 hatte und die Spitzen der 45th Infantry Division keine 10 Kilometer mehr von Dachau entfernt waren, verfaßte McSherry neuerlich ein Memorandum, mit dem er den Druck auf die Spitze des Oberkommandos noch verstärken wollte. Der französischen Presse sei zu entnehmen, so der Stellvertretende Stabschef von G-5 an Bedell Smith, daß Regierung und Öffentlichkeit in Frankreich in größter Sorge um die Dachauer Häftlinge seien. Außerdem habe ihn ein direkt aus einer Besprechung des französischen Generalstabes kommender Offizier aufgesucht, der offensichtlich die Auffassung und die Wünsche General Juins, des Generalstabschefs, und der französischen Regierung übermitteln wollte. In jener Besprechung habe General Sevez nämlich seine große Besorgnis über das Schicksal der französischen Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern, insbesondere in Dachau, zum Ausdruck gebracht. Die französische Feindaufklärung, die sicher sei, daß ein von der Gestapo geplantes Massaker in Buchenwald nur wegen des raschen Vormarsches der Alliierten nicht mehr habe stattfinden können, glaube, in Dachau seien über 100.000 Insassen jeglicher Nationalität zusammengepfercht: "Die Franzosen fürchten ein Massaker in Dachau, das alle politischen Häftlinge auslöschen soll, die sonst gegen ihre Nazi-Folterknechte aussagen könnten", zitierte McSherry den französischen Major, der zur Verhinderung einer solchen Katastrophe eine Luftlandeoperation vorschlage. Ungeachtet der Bedenken von G-3 und G-4 müsse das Oberkommando diesen Gedanken weiterhin ins Kalkül ziehen. Abgeschickt hat General McSherry das Memorandum nicht mehr; "nicht abgesandt (Dachau zu rasch genommen)", nennt ein handschriftlicher Vermerk auf dem Schriftstück den Grund dafür. J8J Seit seiner Errichtung im März 1933 waren durch das Konzentrationslager Dachau, das jetzt vor dem Tag der Befreiung stand, mehr als 200.000 Häftlinge aus aller Herren Länder "gegangen"384. Wohl an die 32.000 von ihnen waren hier gestorben, erschlagen, erschossen, "abgespritzt" oder auf andere Weise um ihr Leben gebracht worden. Die Gesamtzahl der Häftlinge in den Lagern des Regimes war seit 1943 generell stark angestiegen 385 , doch erst das rapide Zusammenschmelzen des deutschen Macht381
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Memorandum von General McSherry ,.Aid to Political Prisoners in the Concentration Camp at Dachau, Germany" an den Stabschef von SHAEF v. 27.4. 1945; ebenda. Robert Murphy gab an das State Department sogar schon die Meldung durch, SHAEF habe sich bereits für eine Luftlandeoperation gegen Dachau entschieden; Telegramm Murphys an das Außenministerium in Washington v. 27.4. 1945; NA, RG 84, Polad 2871/1. Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 197. Memorandum General McSherrys "Concern of the French Government for Aid to the Concentration Camp at Dachau, Germany" für General Walter Bedell Smith v. 28.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. Günther Kimme!, Das Konzentrationslager Dachau. Eine Studie zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: Martin Broszat, Elke Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. 11: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil A, München, Wien 1979, S. 378 (zur Zahl der Opfer siehe ebenda, S. 385). Vgl. auch Paul Berben, Dachau 1933-1945. The Official History, London 1975, S. 201 f. und S. 2281. Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolt Jacobsen, Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd. 11, Olten 1965, S. 157.
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bereichs im Laufe des Jahres 1944 führte zu einer verheerenden Überfüllung der im Innem des Reiches gelegenen Konzentrationslager. Waren in Dachau 1943 knapp 20.000 Häftlinge neu angekommen, so waren es im folgenden Jahr in Transporten aus West (aus Paris, Straßburg, Natzweiler etwa), Ost und Südost (aus Auschwitz, Stutthof und Budapest beispielsweise) nicht weniger als 76.635; abtransportiert wurden 1944 demgegenüber aber nur 36.770 Insassen. 386 Da Himmler es der SS zur Aufgabe gemacht hatte, die Spuren des deutschen Lager- und Vernichtungslagerarchipels zu verwischen, die Stätten von Tod und Terror bei Annäherung des Feindes zu räumen und die gequälten Insassen, selbstverständlich ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben, in die Konzentrationslager im Inneren des Reiches zurückzutreiben, spitzte sich mit der sowjetischen Generaloffensive seit Mitte Januar 1945 (in deren Verlauf am 27. Januar auch Auschwitz überrannt wurde) die Lage für die Häftlinge "in einem chaotischen Finale"387 noch einmal in gefährlichster Weise zu. Über 200.000 Lagerinsassen (vielleicht auch wesentlich mehr 388) dürften allein im letzten Vierteljahr des Krieges bei solchen "Rückführungen" mitten im Winter - planvoll in Rechnung genommene und zunehmend planloser ablaufende Vernichtungstransporte und Todesmärsche - sowie in den mit Menschen vollgestopften Baracken der ,,Auffanglager" im Reichsinnem noch zu Tode gebracht worden sem. In Dachau kam es zu der gleichen "kolossalen Massierung"389 von Häftlingen wie in den anderen bis Ende März 1945 frontfernen Lagern. Allein zwischen dem 1. Januar und dem 28. April 1945 kamen hier 30.958 Menschen neu an (ungefähr so viele wie im gesamten Zeitraum von 1934 bis 1939 oder in den Jahren 1942 und 1943 zusammengenommen), abtransportiert wurden demgegenüber nur 11.505 Personen. 390 In einigen Blocks sprang die Zahl der Eingepferchten in den fünf Monaten zwischen Dezember 1944 und April 1945 um 100 Prozent, in manchen der für 60, 70 Mann eingerichteten "Stuben" hausten in den letzten Wochen bis zu 400, 500, ja 600 Menschen aufeinander. 391 Der französische Häftling Edmond Michelet, wenige Monate nach seiner Befreiung Armee-Minister im ersten Kabinett de Gaulle, beschreibt die Ankömmlinge, unter ihnen Juden aus Ungarn und Polen, in den "gespenstischen Endtagen" Dachaus: "Es ist klar, daß diese Skelette kaum noch einige Tage zu leben haben. Die verbrauchte Haut ist nur noch eine graue Hülle. Sie liegt ganz eng auf dem Knochengerüst auf und läßt Rippen, Becken und Schenkelknochen heraustreten, die sich nur noch in einem letzten automatischen Reflex bewegen. Die Leute entleeren 386
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Die Angaben beruhen auf Berechnungen auf der Basis der Statistiken bei Berben, Dachau, S. 229, S. 245 ff. und S. 258 ff. Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, in: Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, 11, S. 159. Die folgende Schätzung der Todesopfer unter den Häftlingen bei Kriegsende ebenda, S. 159f. Vgl. hierzu und allgemein zu den "Todesmärschen" 1945 das Referat von Yehuda Bauer, in: Marcia Feldman (Hrsg.), The Liberation of the Nazi Concentration Camps 1945. Eyewitness Accounts of the Liberators, Washington 1987, S. 91 ff. Toni Siegert, Das Konzentrationslager Flossenbürg. Ein Lager für sogenannte Asoziale und Kriminelle, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 489. Die Zahlen beruhen auf Angaben und eigenen Berechnungen nach Berben, Dachau, S. 229 und S. 261; siehe auch ebenda, S. 220. Vgl. etwaJohann Steinbock, Das Ende von Dachau, Salzburg 1948, S. 15f. Siehe auch den bei Berben, Dachau, S. 196, zitierten amerikanischen Untersuchungsbericht. Siehe auch Joseph Joos, Leben auf Widerruf. Begegnungen und Beobachtungen im K.Z. Dachau 1941-1945, Trier, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage 1948, S. 110. Vgl. auch Joseph Rovan, Geschichten aus Dachau, Stuttgart 1989, S. 293.
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sich teilnahmslos vor uns auf den Boden. Wenn sie noch die Kraft haben, einige Laute von sich zu geben, bleibt ihr Kauderwelsch unverständlich. Aber, und das ist vielleicht die neue Tatsache, trotz der Duschenbehandlung, von der sie kommen, bleiben sie von Ungeziefer bedeckt. Mit ihnen hält der exanthem[at]ische Typhus seinen Einzug."392 Seit Kriegsbeginn hatten gefährliche Krankheiten wie Tuberkolose, Lungenentzündung und Ruhr schon etwa 10.000 Opfer unter den Häftlingen gefordert 393 ; bei den Lebensverhältnissen, wie sie sich seit November, Dezember 1944 entwickelten, aber wurden die geschwächten Gefangenen in Massen zur leichten Beute von Seuchen. Flecktyphus brach aus, und es begann "eine der erschütterndsten Tragödien in der Geschichte aller Konzentrationslager"394. "Von November 1944 an wich aus Gründen, die ich nicht kenne", schrieb Michelet, "und die vielleicht mit der beginnenden Desorganisation des ganzen Räderwerkes des Systems zusammenhingen, die unerbittliche Strenge, mit der diese Hygienesachen behandelt wurden. Sehr rasch wurde die Hälfte des Lagers, der ganze östliche Teil, ein Reich der Toten."395 Auf dem Höhepunkt der Epidemie starben jeden Tag mehr als 100 Menschen - Dezember 1944: 1915,Januar 1945: 2888, Februar 1945: 3977, März 1945: 3668, April 1945: 2625; in fünf Monaten beinahe so viele wie in den zwölf Jahren zuvor. 396 "Wir waren voller Läuse und Flöhe", berichtete der 31jährige Paul Ferrier aus Dijon nach seiner Befreiung aus Dachau. "Viele hatten keine Matratze mehr und lagen nackt auf den Brettern. Da sie nicht mehr aufstehen konnten, wurden alle Bedürfnisse am Ort verrichtet. Von den oberen Brettern fiel der Schmutz auf die unteren. War einer zu sehr beschmutzt, so wurde er auf Verlangen der Kameraden in den Waschraum gezerrt, mit groben Bürsten abgescheuert und wieder auf die Bretter geworfen. So Camille, der Controlleur general de I'armee, bald danach verstorben. Der Fischer Schulz Michel, 44 Jahre alt, blieb 3 Wochen ohne jedwede Pflege nackt auf den Brettern. Totgeglaubt, warf man ihn auf den Leichenhaufen. Unter Aufbietung letzter Willenskraft gelang es ihm, sein Bett wieder zu erreichen ... In den folgenden Tagen" - Ende Januar 1945 - "erhöhte sich die Zahl der Toten ganz erheblich. Die Leichen, mit einem Erkennungszettel am Fuß, hat man je zu zehn aufgeschichtet im Waschraum und längs der Baracke. Von da ging's zum Krematorium, nachdem Goldzähne und Plomben entfernt worden waren."397 Bis zur Ankunft der Amerikaner hatte sich das Lager in ein infernalisches Szenarium verwandelt - immer neue Bahntransporte und Evakuierungskolonnen spien täglich mehr lemuren hafte, auf den Tod entkräftete Elendsgestalten unter die "Zebramenschen" des Lagers, von denen im April 4000 im Krankenrevier dahinsiechten, 392
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Edmond Michelet, Die Freiheitsstraße. Dachau 1943-1945, Stuttgart 1960, S. 211. Zahlen nach KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S.385. Joos, Leben auf Widerruf, S. 111. Michelet, Freiheitsstraße, S. 222. Zahlen nach KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S.385. Erlebnisbericht Ferriers in der Dijoner Zeitung La Republique von Mitte Juni 1945; zit. bei Joos, Leben auf Widerruf, S. Illf. Vgl. auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 16 f. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 143 ff. oder S. 212 ff. Fran~ois Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau. Elsässer und Lothringer in Dachau, Sarreguemines 1947, S. 25 ff. Nico Rost, Goethe in Dachau, Frankfurt 1983, S. 191 ff., insbes. auch S.204.
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6000 dringend ärztlicher Hilfe bedurft hätten. 398 Die durchschnittliche Tagesration betrug im April nur noch 600 Kalorien 399 , acht Insassen hatten sich ein Brot zu teilen. 40o Am 28. April zog "eine lange Prozession von Neuankömmlingen" - weit über 5000 - "durch das Tor", beobachtete ein Augenzeuge: "Es sind meist wandelnde Leichen. Einige brechen tot zusammen ... Obendrein stehen auf dem toten Geleise des Lagers noch 15 bis 20 Waggons, in denen jetzt 2600 Leichen liegen. Es handelt sich meist um Kameraden aus Flossenbürg und Buchenwald, die in den Abteilen vom Hunger dahingerafft wurden. Das Bestattungskommando transportierte die Leichen zum Krematorium. Bis gegen Mitternacht dauert die grausige Arbeit. Berge von Toten türmen sich noch am Lagerbahnhof, am Krematorium und auf der Blockstraße der Revierbaracke auf."401 Die Verbrennungsanstalt, die seit Monaten "Tag und Nacht"402 stinkenden schwarzen Rauch in den Himmel schickte, reichte zur Beseitigung der Leichname nicht mehr aus. Zusätzlich wurden Massengräber ausgehoben. Doch es waren zu viele tote Zeugen. Zu Tausenden lagen sie am Tag der Befreiung im Lager umher. Zwei große, später oft photographierte Räume des vom Lager separierten Krematorium- und Gaskammerkomplexes sind über zwei Meter hoch mit Toten vollgestopft,403 In dem einen sind die nackten Körper "säuberlich aufgestapelt", in dem anderen auf einen wilden Haufen geschmissen 404 - an die 2000 Leichname. 405 Etwa 1500 weitere Leichen lagen hinter dem Krankenrevier und an anderen Orten des Lagers aufgeschichtet,406 Edmond Michelet und sein Freund, Joseph Rovan, waren am Abend vor der Befreiung im Lager unterwegs und durchquerten dabei einen "Laufgraben, der durch eine doppelte Reihe aufeinandergehäufter Leichen entstanden war"407. Wenige Tage später berichtet Rovan, in den vollgestopften Baracken sei es bisweilen "unmöglich, in einem Knäuel von Menschenleibern die Leichen und die Sterbenden herauszufinden"408. Aber war, wie in Auschwitz, wo die sowjetischen Soldaten in den sechs (von 35) erhalten gebliebenen Magazinen unter anderem 836.255 Damenmäntel und Kleider entdeckten 409, der Anblick abgelegter Effekten weniger gräßlich? In Dachau fanden die Amerikaner die Bekleidungsstücke der Verbrannten säuberlich zu Ballen gebunden hinter dem Krematorium: "Die Jacken für sich, die Hosen für sich usw. Wir konnten die Kleidung und das Schuhwerk kleiner Kinder sehen, Mädchen- und Frau'98
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Bericht des G-5 Stabes des XV Corps an den Kommandierenden General der Seventh U.S. Army v. 5. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3. Vgl. auch Johann Neuhäusler, Wie war das in Dachau? Ein Versuch der Wahrheit näherzukommen, München 1960, S. 29. Telegramm des Kommandierenden Generals der Seventh U.S. Army an SHAEF; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711/7.3 Edgar Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau, Bd. II: Wie es endete, Stuttgart 1960, S. 243 (Tagebucheintragung v. 15.4.1945). Bericht Fran~ois Goldschmitts; zit. nach Neuhäusler, Dachau, S. 66 I. Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 28. Generalbericht des G-2 Stabes der Seventh Army ("Dachau") von Mai 1945, S. 11. In deutscher Übersetzung in: HZ-Archiv, Fa 54; abgedruckt in: 11 Movimento di Liberazione in Italia, 1962, Nr. 66, S. 38fl. Siehe auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 40. Vgl. Berben, Dachau, S. 1961., der einen amerikanischen Untersuchungsbericht wiedergibt. Bericht des G-5 Stabes des XV Corps an den Kommandierenden General der Seventh U.S. Army v. 5. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3. Ebenda. Michelet, Freiheitsstraße, S. 248. "Bericht über die Lage der ehemaligen französischen Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, vom 8. Mai 1945", in: Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 294. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt 1990, S. 1051.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
enkleider, Schuhe und Hüte. Die Kleiderballen (ohne Schuhe) waren Seite an Seite gestapelt und nahmen einen Platz von annähernd 62 Meter Länge, 2,5 Meter Höhe und 3 Meter Breite ein."4IO Und auf dem Gleisanschluß des Lagers stand jener vermutlich aus Buchenwald abgegangene "Schreckenszug"411 mit den 39 meist offenen Waggons, der in den meisten Berichten über die Befreiung Dachaus erwähnt wird. 412 2000 auf dem Transport verhungerte Gefangene enthielt er: ,,Auf den ersten Blick schienen die Wagen mit schmutzigen Kleidern beladen. Dann sah man Füße, Köpfe, knochige Finger. Mehr als die Hälfte der Wagen war voll Leichen, hunderte Leichen. Der Hals eines Mannes war so dünn und verschrumpft, daß er kaum imstande schien, einen Kopf zu tragen, aber der Mann war noch am Leben."413 Vielleicht waren es 17 414 , vielleicht 40 Lebendige 415 , die unter den Toten lagen. Für manche Geschundene mag der Tod im Güterwaggon als Erlösung gekommen sein: "Einige wenige der Leichen", analysierte ein amerikanischer General die Fracht des Zuges, "hatten frische Schußwunden, doch wiesen die meisten keine Merkmale von Schüssen neuesten Datums auf. Viele der Leichen hatten Merkmale aller Arten von alten Verletzungswunden, so von Einstichwunden an der Brust, großen und tiefen Wundnarben am Körper, Hiebwunden, und viele hatten Quetschungen, die auf frühere Angriffe oder Mißhandlungen und Schläge hindeuteten."416 Das Konzentrationslager Dachau war 1945 derselbe Ort der Verfolgung und des Mordens wie in den Jahren zuvor, sein Gesicht hatte sich jedoch binnen weniger Monate vollständig verwandelt. Der zynisch gepredigte und von der SS sadistisch umgesetzte Imperativ von "Sauberkeit" und "Ordnung"417 hatte sich unter dem Druck immer neuer "Zugänge" einfach verflüchtigt (gegen Ende April sei das Bild des Lagers "immer mehr zigeunermäßig" geworden, fanden seit längerem einsitzende Häftlinge 418). Es war diese gründliche Metamorphose der Konzentrationslager im Innern des Reiches, die es jetzt mit einem Schlage für alle, die noch nichts oder wenig von der wahren Vernichtungsenergie des Regimes ahnten, unmittelbar offenbar machte, zu welchen UnmenschIichkeiten die Deutschen offensichtlich fähig waren. 410
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Bericht von Sergeant Jack Bessel, der zusammen mit einem Leutnant von der Sixth Army Group das Lager Dachau vier Tage nach der Befreiung besuchte, in: Sixth Army Group History, Section I, Narrative, S. 350; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, Sixth Army Group 1944-45. Karl Adolf Gross, Fünf Minuten vor Zwölf. Des ersten Jahrtausends letzte Tage unter Herrenmenschen und Herdenmenschen. Dachauer Tagebücher des Häftlings Nr. 16921, München 1947, S. 194 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 185. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 99. The Stars and Stripes, 2. 5. 1945. Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 259 (Tagebucheintragung v. 30.4. 1945). Siehe auch Howard A. Buechner, Dachau. The Hour of the Avenger (An Eyewitness Account), Metaire 1986, S. 64. AP-Bericht, in: Chicago Daily Tribune,!. 5. 1945, abgedruckt bei: Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 25. Barbara Distel, Der 29. April 1945. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, in: Dachauer Hefte 1 (1985), S. 10. Steinbock, Ende von Dachau, S. 43. Bericht von General S. R. Mickelsen, Chef der Displaced Persons Branch, G-5, an den Stabschef von SHAEF v. 19.5. 1945 über einen Besuch im Lager Dachau am 3.5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1. "Es gibt einen Weg zur Freiheit - seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!", lautete die in riesigen Lettern auf dem Dach des Wirtschaftsgebäudes an der Stirnseite des Appellplatzes aufgemalte Losung. Vgl. Konzentrationslager Dachau 1933-1945, hrsg. v. Cornit97
Vgl. die detaillierte Aufstellung des Internationalen Suchdienstes v. 28. 4. 1950 "Evacuation of the e.e. Dachau and the Kdo's Kaufering, Türkheim and Mühldorf", Anhang 7; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786. Siehe die Zeugenberichte : Rupert Schmidt, "Der Gewaltmarsch"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Heinrich Pakullis, "Verschleppungs-Todesmarsch nach Tirol", S. 3; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Erich Röhl, "Der Marsch des Schweigens und der Vernichtung. Das letzte Verbrechen der Dachauer SS"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Vgl. auch: Amicale des Anciens de Dachau, Allach. Kommando de Dachau, Paris 1986, S. 43, S. 151 f. Vgl. die Berichte ehemaliger Häftlinge in: Römer, Für die Vergessenen, S. 24ff. und S. 182 ff. Bericht des ehemaligen Häftlings Ivan Hacker; ebenda, S. 47 ff. Volker Gold, Zum Beispiel Schwabhausen: Das Kriegsende in einem oberbayerischen Dorf. Eine Zusammenstellung VOn Augenzeugenberichten, Manuskript (1985), S. 7 ff.; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau. Siehe auch Raim, Dachauer KZ-Außenkommandos, S. 329. Raim, "Unternehmen Ringeltaube", S. 211; ITS-Bericht v. 28. 4. 1950, Anhang 8 (Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786). 36th Infantry Division, Military Government Seetion, "Operations in Germany and Austria - Month of May 1945", Bericht v. 1. 6. 1945; NA, RG 407, World War II Operations Reports 336-5, Box 9866. Vgl. auch "Special Report on ,Atrocity' Camp at Hurlach (Center No. 4 at Kaufering)", in: XXI Corps, Weekly Report v. 5. 5. 1945, Anhang B; NA, RG 407, Box 5272.
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau
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12th Armored Division schilderte seine Entdeckungen dort später so: ,,Auf dem Boden in der Mitte der niedergebrannten Gebäude waren die verbrannten Reste der jüdischen Sklavenarbeiter. Der Geruch der Leichen war entsetzlich. Sie waren in allen möglichen verzerrten Formen ausgestreckt. Einige hatten ihren Mund offen in Agonie."598 Die Tausende von Überlebenden, auf die die U.S. Army im Raum Landsberg gestoßen sei, befänden sich oftmals im fortgeschrittenen Stadium von Unterernährung und Krankheit, meldete das XXI. Corps in seinem Wochenbericht von Anfang Mai: "Die Qual und der Hunger, denen sie unterworfen gewesen waren, zeigten sich an vielen Personen; sie gingen wie Marionetten - wenn sie gehen konnten; sie lagen auf bloßen Brettern, zu schwach, um mehr zu tun, als eine unsichere Bewegung zu ihrem Mund hin zu machen. Manche vermochten nicht zu sprechen, andere weinten wie Kinder."599 Die Auflassung der Lager im Raum Mühldorf begann am 26. April 1945 mit der Verladung von etwa 4000 Menschen auf Güterwaggons. Nach der Erinnerung des Häftlings Ernst Israel Bornstein ging das Gerücht, der Transport führe nach Tirol, "wo man alle Juden vernichten wolle"60o. Der Zug war aber noch keine zwei Tage unterwegs, da wurden plötzlich die Türen aufgerissen und die SS-Wachen gaben bekannt, die Häftlinge seien frei. Das geschah am 28. April bei Poing, knapp zwanzig Kilometer östlich Münchens. "Überwältigt von der neugewonnenen Freiheit", fielen sich die Gefangenen um den Hals, schüttelten im Überschwang sogar einigen Bewachern die Hand, und an der anschließenden Plünderung des Lebensmittelwaggons beteiligten sich SS-Leute und Häftlinge gemeinsam. Danach ergoß sich die Masse der Verschleppten, bei denen sich schon landsmannschaftliche Griippchen zu bilden begannen, in die umliegenden Häuser und Gehöfte. In manchem Bauernhof wurde gerade ein Kessel mit Suppe oder Kartoffeln auf den Herd gestellt, als das "Massaker von Poing" begann. Nach dem Scheitern des unbedachten Aufstandsversuchs der "Freiheitsaktion Bayern"601, der den Mühldorfer Häftlingen einen triigerischen Moment der Freiheit beschert hatte, riickte nämlich eine in der Nähe liegende Einheit der Waffen-SS an, um die Verschleppten mit Maschinenpistolen und Bajonetten wieder zusammenzutreiben und zuriick in die Waggons zu jagen. ,,Auf dem ganzen Weg vom Dorf Poing bis zum Bahnhof lagen unsere toten und verwundeten Kameraden, die bei dieser Hetzjagd auf der Strecke geblieben waren", schreibt Israel Bornstein: "Einige wälzten sich in ihrem Blut, stöhnten und baten um Hilfe, aber keiner von uns konnte sich um sie kümmern, jeder rannte um das eigene Leben. Wer nicht schnell genug vorwärtskam, wurde erstochen oder erschossen. Ich selbst fühlte die scharfe Bajonettspitze dicht an meinem Leib, aber ich wandte den Kopf nicht, sondern lief mit den letzten mir noch verblie>98
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Affidavit des Aaron A. Eiferman v. 8. 11. 1986, zit. nach Raim, .. Unternehmen Ringeltaube", S. 112. Siehe dazu auch .. Daily Journal and Report" des Military Government Officer der 12th Armored Division v. 29.4. 1945; NA, RG 407, Box 16179. Vgl. auch die unmittelbar nach der Befreiung gemachten Aufnahmen (..The German prison camp Hurlach Lager No. 4 near Landsberg") in: A History of the United States Twelfth Armored Division, 15 September 1942 - 17 December 1945, Baton Rouge 1945, S. 71. Siehe auch das Foto und den Text in Leonard Rapport, Arthur Norwood, Jr., Rendezvous with Destiny. A History of the 101st Airborne Division, Washington 1947, S. 726 f. XXI Corps, Weekly Report v. 5. 5. 1945; NA, RG 407, Box 5272. Ernst Israel Bornstein, Die lange Nacht. Ein Bericht aus sieben Lagern, Frankfurt 1967, S. 235. Die beiden folgenden Zitate ebenda, S. 236 und S. 242. Vgl. VII/2.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
benen Kräften, um dem Tod zu entrinnen ... Keuchend erreichten wir den Bahnhof. Unsere Waggons wurden bereits von der Waffen-SS bewacht, die mit Gewehrkolben auf uns einhieb, damit wir den Weg ins Wageninnere rascher fanden."602 Wie viele Opfer dieses Gemetzel gefordert hat, ist unbekannt. 603 Manch einer, der Auschwitz überlebt hatte, starb hier. Der ursprünglich wohl in Richtung Kufstein auf die Strecke geschickte, in Wolfratshausen dann geteilte Güterzug setzte seine Fahrt fort, mußte wegen Gleisschäden wiederholt umgeleitet werden, geriet noch in einen Tieffliegerangriff, doch in T utzing am Starnberger See 604 war die Reise zu Ende. Von seiner kompromittierenden Fracht und dem Gefechtslärm der anrückenden Amerikaner zunehmend beunruhigt, hängte der Lokführer in Sichtweite des Bahnhofs nämlich kurzerhand seine Zugmaschine ab und verschwand mit ihr in Richtung Norden. Eine ganze Nacht lang war der gestrandete Transport inmitten letzter Kämpfe sich selbst überlassen. 6os In den Morgenstunden des 30. April kam die Befreiung durch amerikanische Einheiten. "Langsam schob ich mich so weit nach vorne", erinnert sich Bornstein, "bis ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um einen jener grauen Riesen zu berühren. Oben auf dem Panzer saßen zwei Soldaten, die uns mitleidig verschiedene Eßwaren zuwarfen und uns englisch ansprachen. In unserem Freudentaumel umfaßten wir die Panzerrohre und legten uns auf die Raupen.''606 Bald darauf brachte die Besatzungsmacht die Überlebenden des Holocaust, von denen noch mancher an Entkräftung starb, im nahegelegenen Feldafing in der aufgelassenen "Reichsschule der NSDAP" unter. Die U.S. Army hatte solche Todestransporte und Elendszüge wie den bei Tutzing im oberbayerischen Voralpenland seit Anfang April 1945, als sie nach Mitteldeutschland und Nordbayern vordrang, auf Schritt und Tritt überrollt. Da es Zehntausende von Konzentrationslagerhäftlingen waren, die sich in den Tagen des amerikanischen Vorstoßes in großen Konvois und kleinen Grüppchen aus Hunderten von Stammund Nebenlagern über das ganze Land ergossen, bekamen auf den mit Leichen gepflasterten Evakuierungswegen viel mehr amerikanische Soldaten als nur jene G.I.s, die an den spektakulären Befreiungen der Hauptlager selbst beteiligt waren, die Horrortaten des Hitler-Regimes unmittelbar zu Gesicht. So haben die Verschleppungen, die der Vertuschung der deutschen Verbrechen dienen sollten, kräftig mit dazu beigetragen, diese den alliierten Truppen erst breit vor Augen zu führen. Wiederum erreichte das Regime, wenn auch in kleinerem Maßstab als bei den Evakuierungen des Winters 1944/45, also gerade das Gegenteil dessen, was es mit diesen Vertuschungsmanövern bezwecken wollte. 602
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Bornstein, Lange Nacht, S.239. Vgl. auch Max Mannheimer, Theresienstadt-Auschwitz-Warschau-Dachau. Erinnerungen, in: Dachauer Hefte 1 (1985), H. 1, S. 128. Raim, Dachauer KZ-Außenkommandos, S. 330. Auf der im März 1950 angefertigten Karte des Internationalen Suchdienstes "Evacuation Ce. Dachau April 1945" (Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 737), auf die sich die Beschreibungen der Räumung Dachaus meist stützen und in der auch Todesziffern genannt werden, ist Poing nicht aufgeführt. Da es, im Lichte auch später bekanntgewordener Quellen, noch mehrere solcher Diskrepanzen gibt, ist die in dieser Karte genannte Zahl der Opfer im Zuge der Evakuierung der Dachauer Haupt- und Nebenlager eindeutig viel zu niedrig. Die andere Hälfte des Zuges fuhr nach Seeshaupt am Starnberger See; Raim, Dachauer KZ-Außenkommandos, S. 330. Augenzeugenbericht Rupprecht von Kellers "Erinnerungen eines Tutzingers an das Kriegsende 1945", S. 3; HZ-Archiv, ZS 2396. Hier auch die Beschreibung der Bemühungen, die ehemaligen KZ-Häftlinge im Zusammenspiel mit der Besatzungsmacht unterzubringen und zu versorgen. Bornstein, Lange Nacht, S. 243.
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau
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,,AlItäglichkeit"607 und "entsetzlichster Horror''608 zugleich, erhielten die amerikanischen Soldaten bei ihren Begegnungen mit den Lemurenkolonnen "den augenfälligen Beweis für die unmenschliche deutsche Brutalität", wie es in der Kriegschronik des XII. Corps hieß. 609 Von den Buchenwalder Evakuierungsmärschen etwa hatten die Amerikaner mehrere im Raum Dessau, im Raum Gera und sogar in der Nähe von München gestoppt. 610 Aus diesen Erfahrungen ergab sich für sie mitunter bereits eine recht klare Einschätzung, mit welchem Phänomen sie es zu tun hatten: "Das NaziOberkommando hat offenbar eine Politik der riicksichtslosen Vernichtung der Insassen politischer Konzentrationslager wie des beriichtigten Lagers Buchenwald begonnen, damit sie nicht in die Hände der vordringenden alliierten Armeen fallen", resümierte das XII. Corps: "Statt umfassende Massaker an einer bestimmten Stelle zu veranstalten, bestand die angewandte Methode darin, potentielle Opfer, die bereits fast verhungert waren, mit keinem anderen Ziel als der Vernichtung im Auge auf Märsche zu schicken oder in überfüllten Zügen zu transportieren."611 Von überall her waren im Hauptquartier dieses Corps inzwischen Meldungen über die grauenhaftesten Ausschreitungen der SS eingegangen, die sich nicht einmal scheue, ihr "Gemetzel" bis unmittelbar zu dem Moment des Anriickens amerikanischer Panzer fortzuführen. 612 Mit der Schilderung der Unmenschlichkeiten der Wachmannschaften könne man Bände füllen, befand der G-2 Offizier der 99th Infantry Division 613 , die bei Stamsried in der Nähe von Cham im Bayerischen Wald am 23. April eine Evakuierungskolonne aus Flossenbürg kommender Gefangener befreite, unter denen die SS seit mehreren Tagen gewütet hatte. "lch befand mich gerade auf der Straße unter einem langgestreckten Hügel", so ein überlebender Häftling, "als ich Maschinengewehrfeuer in der Weite hörte, das ich zunächst als den Anfang unserer Liquidation deutete. Da sahen wir Panzerwagen auffahren, und unter ihrem Feuer fiel alles zu Boden. Wir begriffen nicht sofort, was vorging. Als wir die Erkennungszeichen amerikanischer Panzer erkannt hatten, standen wir alle wieder auf, doch die Gesten der Panzermänner wiesen uns erneut zu Boden, und schon fegten die Maschinengewehrgarben über uns hinweg in die flüchtenden Wachmannschaften hinein."614 Der Periodic Report der 99. Division bestätigt das mit dem lapidaren Satz: "Viele der SSWachen wurden von unseren Truppen getötet, einige auch von den Häftlingen, nachdem diese befreit worden waren."615 Nur wenige Tage später stießen andere G.I.s aus anderen Divisionen auf die Bahntransporte und Vernichtungsmärsche, die zwischen dem 23. und 26. April aus dem Hauptlager Dachau abgegangen waren. Im bayerischen Voralpenland erwarteten sie dieselben Eindriicke wie weiter nördlich, über die ein Stabsoffizier des XII. Corps 607 608 609
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The History of the 26th Yankee Division 1917-1919, 1941-1945, Salem/Mass. 1955, S. 122. George Dyer, XII Corps: Spearhead of Patton's Third Army, Baton Rouge 1947, S. 432. Ebenda. Vgl. Schäfer, Evakuierungstransporte, S. 32, S. 51, S. 61 und S. 64. XII Corps, G-5 Summary Nr. 242 v. 27.4. 1945; NA, RG 407, Box 4505. XII Corps, G-5 Summary Nr. 241 v. 26.4. 1945; eben da. 99th Infantry Division, G-2, Periodic Report Nr. 173; Sammlung Siegert. Erlebnisbericht über die Befreiung einer Evakuierungskolonne bei Stamsried am Vormittag des 23. April 1945; zit. nach Georg Klitta, Die blutige Straße von Flossenbürg nach Wetterfeld im April 1945, in: Heimaterzähler. Heimatbeilage für das Schwandorfer Tagblatt und die Burglengenfelder Zeitung 23 (1972), Nr. 10, S. 37. 99th Infantry Division, G-2, Periodic Report Nr. 173; Sammlung Siegert.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
schockiert nach Hause schrieb: "Es ist der Geruch, der den Besuch eines Todeslagers tatsächlich zur Realität macht. Der Geruch und der Gestank der Toten und der Sterbenden. Der Geruch und der Gestank der Hungernden ... Ich kann noch immer die Leichen riechen, die wir vom Flossenbürger Todesmarsch gefunden haben."616 Am 26. April 1945 war der Tag gekommen, den die meisten Insassen des Konzentrationslagers in Dachau gefürchtet hatten wie ein Todesurteil. An diesem Donnerstag mußte mehr als die Hälfte der insgesamt mindestens 15.000 von dort evakuierten Häftlinge das Stammlager verlassen, dessen Räumung mit Bahntransporten und Fußmärschen ähnlich wie in Buchenwald und Flossenbürg offenbar in mehreren Schüben geplant war. Auch wenn das bis zur Ankunft der Amerikaner am 29. April nicht mehr gelang und zwei Dritteln der Lagerinsassen die Verschleppung erspart blieb, hatte sich ein Drittel ihrer Kameraden doch noch in das erwartete Schicksal zu fügen. Es ist heute nicht mehr zu klären, welche Befehle und Gegenbefehle auf der Ebene der SS-Führung wie der Lagerverwaltung in Dachau die grundsätzliche Anordnung Himmlers zur Räumung der Lager von Mitte April 617 umzusetzen oder zu konterkarieren trachteten. 618 Zutreffend dürfte immerhin sein, was der Buchenwalder Lagerkommandant Pister über sein Gespräch beim "Reichsführer-SS" am 15. April berichtet. Dieser habe ihn mit seinem Befehl bekannt gemacht, so Pister, daß die Häftlinge aus den Konzentrationslagern in Süddeutschland "nach einem Tal in Tirol zu verlagern seien, [und] wenn keine Transportmöglichkeit, zu Fuß. Dort hätten sich die Häftlinge selbst Unterkünfte zu bauen[, und] wenn es sein müßte, Erdlöcher." Als der Kommandant von Buchenwald, dem Himmler eingeschärft hatte, sich persönlich um die Ausführung dieses Befehls zu kümmern, am 18. April in Dachau eintraf, waren hier bereits alle Vorbereitungen getroffen: "Die Häftlinge sollten, teils zu Fuß, teils [per] Bahn nach dem Ötztal abtransportiert werden." Pister scheint sich in den darauffolgenden Tagen auch um die organisatorische Vorbereitung der Evakuierungen gekümmert zu haben. Vom Tiroler Gauleiter Franz Hofer, bei dem er wegen der geplanten Transporte anfragen ließ, erhielt er aber nur den Bescheid, die Häftlinge würden zwar aufgenommen, es würde aber keine Verpflegung für sie bereitgestellt. Als Ende April dann der erste aus Dachau kommende Bahntransport in Seefeld in Tirol (der einzige, der die Grenze zu Österreich überschritt) ankam, hatte Hofer nichts Eiligeres zu tun, als diese kompromittierende Fracht schleunigst wieder aus dem "befreiten Österreich" über die bayerische Grenze nach Mittenwald ins "besetzte Deutschland" zurückzuschicken. 619 Mit dem Seefelder Transport waren am 23. April in einem ersten größeren Schub etwa 2000 Häftlinge (die dazu zu einem Verladebahnhof bei Fürstenfeldbruck marschieren mußten) aus dem Hauptlager Dachau fortgeschafft worden. Das geschah am selben Tag, an dem jene 1759 jüdische Gefangene in Eisenbahnwaggons gepfercht 616
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Brief eines Stabsoffiziers nach Hause, o. 0.; zit. nach Dyer, XII Corps, S. 432. Vgl. oben in diesem Kapitel. Vgl. die folgenden Aussagen: Kaltenbrunner am 11. 4. 1946 in Nümberg; IMT, XI, S. 319 und S. 3311. Die Angaben Gottlob Bergers am 20. 9. 1945 in einem amerikanischen Verhör; IMT, XXXII, S. 523 f. Vgl. auch die Eidesstattliche Erklärung des Gaustabsamtsleiters in München, Bertus Gerdus, v. 18. 12. 1945; ebenda, S. 299. Siehe auch Kimme!, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NSZeit, II, S. 410, Anm. 294. Eidesstattliche Erklärung Herrnann Pisters v. 2. bzw. 14.7.1945, S. 41 f., Zitate S. 41; HZ-Archiv, Nürnberger Dokumente, NO-254.
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau
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und auf dem Stichgleis am Lager sich selbst überlassen worden waren. 620 Weitere 3000 Menschen wurden am 25. April, am 27. April noch einmal ungefähr 2000 Personen, auf einem 20 Kilometer entfernten Bahnhof in Züge verfrachtet.62I Am 26. April hatten die seit drei Tagen in ihren Waggons ausharrenden Juden diese wieder zu verlassen und zur Verladestation zu laufen. Es war derselbe Donnerstag, an dem der Befehl zur Vorbereitung für den "Marsch des Schweigens und der Vernichtung" erging. 622 Am 26. April 1945 trat dann, so ein Häftling, das "große Ereignis ein, das wir seit Tagen befürchtet hatten"623; die Arbeitskommandos rückten nicht mehr aus, sämtliche Gefangenen hatten im Lager zu bleiben und sich auf dem Appellplatz einzufinden. Obgleich das Antreten dort so "langsam wie noch niemals in Dachau" vonstatten ging 624 , blieb den Häftlingen trotz vielfältiger Versuche, Verwirrung zu stiften und Anordnungen so schleppend wie nur möglich Folge zu leisten, selbst jetzt noch nichts anderes übrig, als den Anweisungen der Lagerleitung und der Wachmannschaften zu gehorchen. Diese befanden sich mittlerweile selbst in nervöser Anspannung, brachten es aber doch zuwege, den Abmarsch von insgesamt 6887 Lagerinsassen zu erzwingen, 1213 Deutschen, 1183 männlichen, 341 weiblichen Juden und 4150 Russen. 625 Mit ein wenig persönlicher Habe beladen, ein oder zwei Decken und dürftiger Verpflegung zogen sechs zwischen 940 und 1500 Männer starke "Marschblocks" und die Gruppe jüdischer Frauen 626 zwischen 21 und 22 Uhr durch das Tor unter dem ,Jourhaus" in die Nacht hinaus. In den folgenden Stunden und Tagen stießen zu diesem "Verschleppungs- und Todesmarsch"627 aus verschiedenen Nebenlagern und einem liegengebliebenen Bahntransport noch einmal mindestens 3500 Häftlinge, so daß es schließlich 10.000 Menschen gewesen sein müssen, die Ende April von München in Richtung Süden getrieben wurden. Außer daß es dem Gebirge zuging, war wenig darüber zu erfahren, wo dieser Treck enden und welchen Sinn er noch haben sollte. Klar war jedem einzelnen Häftling nur, daß auch er sich nun auf einem dieser inzwischen sattsam bekanntgewordenen "Todesmärsche" befand. Der Anblick der in Stärke von mehreren hundert Mann mitziehenden Wachmannschaften, "schwer bewaffnet mit Karabinern und Pistolen, Handgranaten griffbereit vorne im Koppel", mußte den Tapfersten entmutigen. Dazu kam, 620
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Siehe oben in diesem Kapitel. Vgl. die Aufstellung bei KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 409 f. Hauptquelle für die Rekonstruktion der Evakuierungen aus dem Stammlager ist die Aufstellung des Internationalen Suchdienstes v. 28.4. 1950 "Evacuation of the e.e. Dachau and the Kdo's Kaufering, Türkheim and Mühldorf" sowie die dazugehörige Karte v. 7.3. 1950, die freilich beide Ungenauigkeiten und Fehler aufweisen; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786 bzw. Nr. 737. Bericht des Häftlings Erich Röhl "Der Marsch des Schweigens und der Vernichtung. Das letzte Verbrechen der Dachauer SS"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis "Verschleppungs- und Todesmarsch nach Tirol"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Bericht des Häftlings Franz Scherz "Sieben Tage. Ein Bericht über den Todesmarsch der Dachauer Häftlinge, vom 26. April - 2. Mai 1945"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Aufstellung des Schutzhaftlagerführers des Konzentrationslagers Dachau v. 27.4. 1945 "Transporte aus dem KL Dachau am 26. April 1945"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1008. ,,Aufstellung der Evakuierten am 26.4. 1945" v. 26.4. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1011. So überschrieb der Häftling Heinrich Pakullis seinen Bericht; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Vgl. auch Hans Holzhaider, Der Elendszug nach Süden. Von Dachau nach Waakirchen: Der Marsch von KZ-Häftlingen in den letzten Kriegstagen; Süddeutsche Zeitung, 8./9. 7. 1989.
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daß in bestimmten Abständen Streifen eingeteilt waren, "die die dressierten Bluthunde an der Leine führten"628. Mehrfach ließ sich der berüchtigte Rapportführer Böttger mit der Drohung "Wer zurückbleibt, muß verrecken!" vernehmen 629 , ein SSMann gefiel sich in der Prophezeiung: "Wenn wir untergehen, dann werdet ihr mit uns zugrunde gehen!"630, und ein Wachmann soll zu einem anderen gesagt haben: "Zehn Prozent werden vielleicht ankommen"631. Schon in den ersten Stunden dieses sechs Tage und fünf Nächte währenden Exodus' begann es zu regnen. Dann sanken die Temperaturen, und am vierten Tag begann es zu schneien. Der Dachauer Elendszug führte die Würm entlang nach Starnberg und von dort durch Wolfratshausen bis über Bad Tölz hinaus; einige Marschgruppen gelangten, nachdem sie über 100 Kilometer zu Fuß hinter sich gebracht hatten, bis an den Tegernsee. Mancher Häftling, unter denen sich nicht wenige 50- und 60jährige befanden, viele von ihnen seit Jahren unterernährt, begann freilich schon in der ersten Nacht zu wanken. Einige brachen bereits nach Stunden zusammen. "Plötzlich rief vor uns jemand: ,Da liegt schon einer!' Und tatsächlich, mitten in der Kolonne lag ein Häuferl Mensch, ein Häftling am Boden. Die Nachfolgenden machten einen Bogen herum und trotteten weiter. Das wiederholte sich öfter, und immer lief es einem eiskalt über den Rücken bei dem Gedanken: ,Wann wird es Dich treffen?'." Stündlich wurden es mehr, die nicht mehr weiterkonnten: "Das war erschütternd zu sehen, wie sich Häftlinge, offenbar um zu rasten, an den Straßenrand stellten. Das eine Knie etwas abgewinkelt nach vor gestellt, den Körper gebeugt, so stand er einige Augenblicke in Ruhe bis sich mit einemmale der Körper straffte, mit einem Ruck aufrichtete und ebenso plötzlich in sich zusammensackte, wie ein leerer Sack. Ein letztes Aufbäumen vor dem Kollaps! Da lagen sie dann in Reihen, die Füße hochgezogen, wie die Hasen nach einer Treibjagd. Selbst die Straße markierte die Tragik, die sich hier abspielte. Weitverstreut lagen die Gegenstände herum, Decken, Brotsäcke, Eßgeschirr, Bücher, Hefte, Schachfiguren, Zigarettendosen."632 Die erste Etappe führte den Elendstreck, der anfangs vor allem nachts marschierte, in die Nähe von Starnberg. 633 Er glich, wie ein Überlebender später schreiben sollte, von Beginn an "einem Zug Todgeweihter, die zu ihrem eigenen Begräbnis unterwegs sind"634. Waren es zuerst nur ohnmächtig am Straßenrand Liegende, so sahen die Weiterziehenden bald auch die ersten Erschossenen. "Nur wenig Blut; ein kleiner blutiger Fleck auf der Stirn, aber im Nacken ein großes Loch. Also geht es schon los."635 Von Westen her war immer deutlicher Geschützdonner zu vernehmen; die Amerikaner standen bei Landsberg. Einige SS-Leute machten sich bereits davon. 636
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Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Ulrich Wimmer, Dem Ende entgegen; Artikelserie im Isar-Loisachboten, Juni 1965. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Der Evakuierungsmarsch führte von Dachau über Allach, Krailling, Gauting, Stamberg, Percha, Aufkirchen, Wolfratshausen, Beuerberg, Königsdorf, Bad Tölz, Waakirchen, Gmund bis nach Tegernsee. An diesem Endpunkt kamen freilich nur noch wenige an. Vgl. Distel, Vortrag v. 12.7. 1989; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824.
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In der zweiten Nacht begannen sich die an Erschöpfung Zugrundegegangenen und Ermordeten zu häufen. Einer, der am Ende des Zuges marschierte, berichtete später, "es gab keine 50 Meter, ohne daß nicht eine Reihe am Straßenrand gelegen wäre"637, ein anderer, es habe "alle paar Schritt ein Toter"638 gelegen. Was die Posten nicht schafften, erledigten die Hunde, die, wie selbst ein SS-Unterscharführer in amerikanischem Verhör zugab 639 , auf die Erschöpften und Gefallenen gehetzt wurden. "Die Hunde, die den Transport begleiteten, sind auf Häftlinge dressiert. Ein weißer Pudel", schilderte ein Gefangener später, "hatte die Gewohnheit, die im Graben liegenden Häftlinge in den Kopf zu beißen. Wer sich dadurch nicht stören ließ, wurde für tot gehalten. Ein schauderhafter Anblick, wenn 5 bis 6 Hunde zu gleicher Zeit über die bewußtlosen und toten Häftlinge herfallen. Decken und Kleiderfetzen flogen in der Luft herum. Schreie vor Schmerz und Schrecken; Kolbenschläge und Schüsse."64o Da sich die Marschkolonne zwischen den Rastorten immer weit auseinanderzog, gelang einigen Häftlingen die Flucht.64I Manche wurden wieder aufgegriffen, einige dürften in diesen eiskalten Nächten schon Stunden später erfroren sein. Dann kam am Morgen des 28. April das Städtchen Wolfratshausen. Hier lebte Ernst Wiechert, der in diesem "Todeszug der Verdammten" wie "in einem schrecklichen Spiegel die Summe der vergangenen Jahre" erkannte. 642 Einige Kilometer hinter dem Marktflekken machte der Treck, wohl gestoppt wegen einander widersprechender Meldungen über den Putschversuch der FAB 64 3, in einem Waldstück zwei Tage und Nächte lang halt. In der ersten Nacht schlief kaum jemand auf dem durchnäßten Waldboden. Neu angekommene SS-Posten "hatten frisch gebackenes Brot gefaßt und machten sich einen Jux daraus, den ausgehungerten, vor Hunger fast irrsinnigen Häftlingen, Brot hinzuhalten und sie dann durch Gewehrschüsse zurückzujagen"644. Kurz darauf starteten russische Häftlinge einen Überfall auf ein Lebensmittelmagazin. Sofort begann eine wilde Schießerei, die SS "feuerte aus ihren Karabinern und Maschinenpistolen wie wild"645. Die Wachen gingen dabei und bei der anschließenden Durchkämmung des Waldstücks offenkundig mit ungezügelter Brutalität vor, denn als der Treck am 30. April weiterzog, lagen auf den Wiesen und in den Schonungen die Leichen der Erschossenen und Erschöpften umher646 ; "Instrument der Totenbeschau waren die SSStiefel."647 Wieviele Tote bei diesem Lagerplatz zurückblieben, ist unbekannt. Wäh-
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Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Eidesstattliche Erklärung des Albin Gretsch in seinem Verhör am 31. 10.1945; ebenda, Nr. 5434. Ebenda. Vgl. den Bericht des ehemaligen Häftlings Zwi Katz im Tölzer Kurier, mehrere Folgen, beginnend 27.4. 1988. Ernst Wiechert,Jahre und Zeiten. Erinnerungen, Zürich 1949, S. 374. Vgl. VII/2. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Das zweitägige Lager zwischen Wolfratshausen und Königsdorf nimmt in allen Berichten einen prominenten Platz ein. Vgl. etwa die folgenden Schilderungen: Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Josef Vogt, "Selbsterlebnisse von Jos. Vogt pol. Häftling Nr. 30077"; HZ-Archiv, F 64. Bericht des Häftlings Rupert Schmidt v. 19.5. 1945 "Der Gewaltmarsch"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685.
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rend ein Wachmann der SS von 15 Toten sprach 648 , nannte ein Häftling nach dem Krieg eine Zahl von 100 Umgekommenen und Erschossenen. 649 Andere Zeugenberichte klingen, als ob es noch mehr gewesen sein könnten. "Regen und Schnee fiel", so Ernst Wiechert, "und dort, im nassen und dunklen Gebüsch, an den Rändern der grünen Wege und angesichts der großen Freiheit starben sie zu Hunderten wie die verlassenen Tiere, ärmer und elender als diese, und der nasse Schnee fiel in ihre offenen Augen."65o Für etwa die Hälfte der Verschleppten endeten die Qualen bald darauf, weil der hintere Teil des Trecks von amerikanischen Truppen eingeholt wurde, der Rest wurde am Nachmittag des 30. April - Dachau, München, Starnberg und das nahe Penzberg befanden sich schon in amerikanischer Hand - ohne Erbarmen weitergetrieben. Bald darauf teilte sich der Elendszug in eine Marschsäule "Reichsdeutscher" und in eine Kolonne von Juden und Russen, die nach der Beobachtung eines österreich ischen Häftlings "noch viel ärger behandelt" wurden als die deutschen Gefangenen. 6)[ Nach einem Wettersturz begann es in dicken Flocken zu schneien, und wieder blieb einer nach dem anderen auf der Strecke. "Wie wir später erfuhren", schreibt einer der Mitziehenden, "wurden sie, wenn sie noch lebten, entweder durch eine Benzinspritze oder durch einen Kopfschuß ,erlöst', je nachdem, ob es in einer Ortschaft oder auf freiem Gelände sich zutrug."652 Am Abend breitete sich unter den Häftlingen das Gefühl aus, die SS gehe daran, das lang erwartete Massaker vorzubereiten. In stockdunkler Nacht trieben die Wachmannschaften den Treck in eine Talschlucht. "Die Schlucht hatte nur einen Eingang, und da waren die SS mit ihren Gewehren. Die Wände waren so steil, daß keiner von uns Kraftlosen hinaufgekommen"653 wäre "das schönste Massengrab"654. Doch wer nicht an Unterkühlung oder Hungers starb, überlebte auch diese Nacht. Weshalb es nicht zu der sicherlich erwogenen, vielleicht sogar befohlenen Massentötung gekommen ist, ist nicht mehr zu klären. Einerseits hätte es gewiß nicht an Wachleuten - manche von ihnen in einer langen Lagerkarriere ohnehin hinreichend blutbesudelt - gefehlt, die selbst jetzt noch oder gerade jetzt dazu bereit gewesen wären, unter den ihnen Anvertrauten, die in wenigen Stunden auf der Seite der Sieger stehen würden, "aufzuräumen". Anders als das Begleitpersonal des Dachauer "Prominenten"Transports nach Südtirol 65 5, hatten es die SS-Leute hier mit einem Zug "Namenloser" zu tun. Das würde das Mordgeschäft auch einfacher machen. Andererseits konnten die Begleitmannschaften des Dachauer Evakuierungsmarsches nicht übersehen, daß der Krieg für sie jede Stunde zu Ende gehen mußte. Viele Wachen waren bereits desertiert. Anders als noch das Mordpersonal, das die Todesmärsche aus dem Osten begleitete, anders vielleicht auch noch als die Männer, die die Buchenwalder und Flos-
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Amerikanischer Bericht über die Vernehmung des Unterscharführers Albin Gretsch; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5434. Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 375. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 20.967. Bericht des Häftlings Fr_nz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 5685. Vgl. auch die Berichte der Häftlinge Malina und Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 20.967 und Nr. 25.824. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Vgl. oben in diesem Kapitel.
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senbürger Häftlinge in eine vermeintliche ,,Alpenfestung"656 trieben, gab es für die Wachen des Dachauer Zuges überhaupt nichts mehr, woran sie sich noch hätten halten können. Das erhöhte in gewisser Weise zwar die Gefahr, daß einzelne Desperados sich zu einem Amoklauf hinreißen lassen würden, doch scheint die definitiv ausweglos gewordene Situation die Mehrzahl des Wachpersonals eher dazu bestimmt zu haben, Mordbefehlen oder eigener Mordlust im Zweifel weniger schnell nachzugeben als vielleicht sonst. Einige der Überlebenden des Evakuierungsmarsches schreiben es der Intervention eines Wehrmachtsoffiziers zu, daß es zu keiner Massenexekution mehr gekommen ist,657 Doch das ist ebensowenig zu klären wie das, was in dieser Nacht in der Nähe von Bad Tölz wirklich hätte stattfinden sollen. Ein SS-Mann soll kurz nach der Befreiung des Zuges durch die Amerikaner zugegeben haben, daß die Häftlinge tatsächlich hätten "liquidiert" werden sollen. 658 "Durch einige SS-Leute, welche ihre Haut retten wollten, erfuhren wir", überliefert ein anderer Gefangener, "daß der Befehl gegeben war, uns umzulegen, falls es unmöglich sei, uns noch weiter nach Tirol mitzuschleppen."659 Als die fünfte Nacht überstanden war, bedeckten 25 bis 30 Zentimeter Schnee den Boden. Da manche sich am Vorabend in Matsch und Schnee einfach fallengelassen und den ein wenig Schutz bietenden Wald nicht mehr erreicht hatten, lagen auch am 1. Mai wiederum überall Leichen umher. "Bereits um 7 Uhr früh hieß es wieder: Auf! Wieder krachten Schüsse, wurden die Hunde auf die Verfolgten gehetzt, weil die erschöpften und zu Tode ermüdeten Gefangenen nicht schnell genug auf die Füße kamen. Anscheinend hatte es die SS wieder sehr eilig."660 Ein Häftling wurde dabei "mit dem Bajonett durchstochen, weil er sich nicht beeilte und seinen Tee fertigkochen wollte"661. An diesem Morgen kümmerten sich die SS-Posten auch das letzte Mal um Verpflegung für den Gefangenenzug. Sie bestand aus dem Kadaver eines Pferdes, das sich die Wachmannschaft zuvor geschlachtet hatte. 662 "Truppweise durften die Häftlinge darüber herstürzen. Ein wildes Balgen und Abreißen begann. Wenn der Andrang zu stark war, gab es Kolbenschläge und Schüsse fielen. Man konnte sehen, daß die SS aus bloßer Begeisterung und Vergnügen schoß, denn so schnell konnte sich kein Häftling von dem Kadaver ein Stück abreißen. Der größte Teil hatte überhaupt kein Werkzeug dazu. Ich sah, wie einige Häftlinge sich buchstäblich am Kadaver hingelegt hatten, um sich mit den Zähnen ein Stück abzubeißen."663 Auf diesem Tiefpunkt der Existenz angelangt, konnte mancher Überlebende einer oftmals jahrelangen Odyssee durch den Archipel der deutschen Lager aber doch schon ahnen, daß ihn nur noch Stunden von der Freiheit trennten. Unausdenklich, 65' 65'
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Vgl. VII/4. Vgl. die Berichte der Häftlinge: Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Siehe auch den Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Bericht des Häftlings Leopold Mahna; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Bericht des Häftlings Karl Rüdrich, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Die folgende Schil· derung ebenda. Vgl. den Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Das folgende Zitat ebenda.
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wie viele von ihnen noch in der Kälte hätten sterben müssen, wenn der Elendszug tatsächlich wie geplant bis ins Gebirge getrieben worden wäre. Ein letztes Mal ging es bei dichtem Schneefall weiter; die Wachmannschaften, von denen sich stündlich mehr in die Büsche schlugen, konnten ihre Nervosität zunehmend weniger verbergen; noch durch Bad Tölz hindurch, dann nach wenigen Kilometern erneut ein Nachtlager. Zuvor hatten sich bereits die Anzeichen dafür gehäuft, daß es inzwischen mehr und mehr Wehrmachtseinheiten zu sein schienen, die jetzt das Heft in der Hand hatten. Am Morgen des 2. Mai 1945 - wieder hatte es "Tote über Tote" gegeben 664 - lief dann tatsächlich die nach und nach zur Gewißheit werdende Nachricht durch die Reihen: "Die SS ist weg! Sie sind abgehauen!"665 Einige ihrer Hunde fand man im Wald an Bäume gebunden. 666 Der nächstgelegene Ort hieß Waakirchen, und dorthin zog der Troß der Geschundenen nun. Sie strömten in die Heustadel, Scheunen und Ställe, und es dauerte eine Weile, bis die Einheimischen ihr Mißtrauen gegenüber den "KZlern" abzulegen begannen. ,,Als man ihnen erklärte, wer wir seien und was die SS mit uns vorhatte, wurden sie langsam warm und faßten Zutrauen zu uns", erinnert sich einer der Geretteten. 667 Sogar ein Kalb sollen die Bauern für die befreiten Häftlinge geschlachtet haben. 668 Am Nachmittag dann die ersten Amerikaner: "Es mußten erst Menschen über den Ozean kommen", so wird es nicht nur dem befreiten Konzentrationslagerhäftling Heinrich Pakullis aus Köln-Ehrenfeld durch den Kopf gegangen sein, "um uns in letzter Stunde aus den mörderischen Klauen unserer ,Landsleute' zu befreien"669; für einen anderen Teil des Zuges kam die Befreiung 10,20 Kilometer weiter am Tegernsee. Unter den oberbayerischen "Landsleuten" der Konzentrationslagerhäftlinge, die mit angesehen haben, wie sich der Dachauer Elendszug in der letzten Aprilwoche 1945 durch ihre Dörfer und Städte wälzte, scheint nach allen vorliegenden Zeugnissen überwiegend Bestürzung und Entsetzen über die viehische Art und Weise geherrscht zu haben, mit der die Unglückseligen vorangetrieben wurden. Mehrere Gefangene haben nach ihrer Rettung von den "erschrockenen Gesichtern in allen Fenstern"67o, von "zum großen Teil erschütterten" Passanten 671 , von "manchen Frauen" am Straßenrand berichtet, denen bei diesem Anblick Tränen in die Augen getreten seien. 672 Meist blieb es aber nicht bei solchen Gesten stummen Entsetzens, sondern es kam längs des Marschweges überall zu einer Fülle von Versuchen, den - so der Kreisdekan von München - "wie Tieren"673 Vorwärtsgetriebenen, wenn man schon sonst nichts unter664 665 666 667 668
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Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Erich Röhl, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Siehe die Aufstellung des Internationalen Suchdienstes "Evacuation of the e.e. Dachau" v. 28. 4. 1950; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786. Bericht des Häftlings Karl Rüdrich; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Das Zitat ebenda. Einige Augenzeugenberichte von Passanten bei Ulrich Brochhagen u. a., Auf den Spuren. Evakuierung des KZ Dachau April 1945, Broschüre des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend der Erzdiözese Mün· ehen und Freising, 0.]., S. 24f. Bericht "Zur Lage" des EV.-Luth. Kreisdekans München an die Dekanate des südbayerischen Kirchenkreises v. 5.5. 1945; LKA Nümberg, Bestand Dek. Oettingen, Nr. 25.
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nehmen konnte, wenigstens etwas Wasser zu bringen oder ihnen eine Handvoll Kartoffeln und ein Stück Brot zuzustecken. Daß bereits mit kleinsten Diensten wie diesen großes Risiko verbunden war, bekam jeder zu spüren, der irgendwie helfen wollte. Dort, wo der Treck bei Tag durchzog, kam es entlang der gesamten Wegstrecke zu zahlreichen Zwischenfällen mit den Wachen. So gab etwa eine Hausfrau aus Gauting bei München bald nach Kriegsende zu Protokoll, wie es Anwohnern ergangen war, die einem gestürzten Häftling Linderung verschaffen wollten: ,,Als Leute aus der Nachbarschaft Kaffee bringen wollten, wurde vom Posten mit Erschießen gedroht. An der nächsten Straßenecke lag ein anderer Häftling, der mit den Füßen getreten wurde, worauf die Vorübergehenden scharf protestierten. Einer der Posten war besonders roh ... Er drohte den Frauen, daß [sie), wenn sie jetzt nicht ruhig sind, auch mitmarschieren müssen."674 Solche Versuche, Hilfe zu bringen, waren keine Einzelfälle. Einige Kilometer weiter, bei Höhenrain, organisierten die Dorfbewohner eine regelrechte Verpflegungsaktion. Der Bäcker teilte Brot aus, Frauen schleppten kuhwarme Milch, Kartoffeln und was sie gerade im Hause fanden zur Straße. Zahlreichen Häftlingen soll es hier und in einigen Nachbardörfern sogar gelungen sein, vorübergehend in die Häuser zu drängen, wo "sofort überall gekocht"675 worden sein soll. Entsprechend brutal reagierten die mitziehenden Wachen. Ein SS-Mann schoß kurzerhand in ein Haus hinein und verletzte dabei eine Frau. In Wolfratshausen kam es am Morgen zu ähnlichen Zwischenfällen, als die SS einige Frauen daran hindern wollte, Häftlingen Wasser zu bringen. "Darüber empörten sich einige Bewohner sehr, und vor allem die Frauen nahmen energisch gegen die SS-Bewachung Stellung", berichtet ein Häftling. 676 Nicht nur hier, sondern auch an anderen Abschnitten der Evakuierungsstrecke mußten die Posten Knüppel und Gewehrkolben einsetzen, um Bevölkerung und um Hilfe flehende Gefangene zu trennen. Manchmal ließen sie auch die Hunde von der Leine, und zwar - wie ein anderer Gefangener beobachtete - nicht nur gegen die Marschkolonne, sondern auch "gegen die wehrlose Bevölkerung"677. Selbstverständlich wird unter den Einheimischen, die jetzt so massiv wie niemals zuvor der Brutalität ihres Regimes ansichtig wurden, mancher am Straßenrand gestanden haben, der sich um die vorbeigetriebenen "KZler" wenig scherte, die manches auf dem Kerbholz haben und wahrscheinlich sogar mit schuld sein mochten am Unglück des Vaterlands, für den irgendwelche Hilfsdienste für die Verschleppten allein schon aus Abneigung gegen diese unbequeme Spezies nicht in Frage kamen. Letztlich mußten aber auch die aus Mitleid und Nächstenliebe kommenden kleinen Dienste der Bevölkerung im bayerischen Oberland nur aufmunternde Geste und bescheidene Fürsorglichkeit bleiben. Hilfe in dem dringend erforderlichen Maß konnte nur von der 674 675
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Bericht von Lisel Oppermann aus Gauting v. 9. 11. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 773. So die Darstellung des Wolfratshauser Kaplans Ulrich Winner in Teil II und Teil III seiner Dokumentation "Dem Ende entgegen"; Isar-Loisachbote, 23.6. bzw. 30.6. 1965. Dort auch zum folgenden und weitere Details zu Hilfsaktionen der einheimischen Bevölkerung. Bericht des Häftlings Pranz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Vgl. auch den "Bericht über Mißhandlung" des Gemeindeschreibers von Höhenrain v. 8. 11. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 779. Vgl. auch die Aussage des Unterscharführers Albin Gretsch im amerikanischen Verhör am 31. 10.1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5434.
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U.S. Army kommen - und die Amerikaner setzten tatsächlich sofort alle Hebel in Bewegung, um das Los der Geschundenen zu erleichtern. Die meisten der in Waakirchen und in der Umgebung Befreiten fanden vor ihrem Weitertransport in Sammellagern oder anderen Unterkünften für einige Tage in der am Stadtrand von Bad Tölz gelegenen Junkerschule der SS eine erste Bleibe. An den Jahren im Konzentrationslager gemessen, genossen die geretteten Häftlinge hier paradisische Verhältnisse - warme Zimmer, warmes Essen, Zigaretten, Zwieback. 678 "Von den Amerikanern wurden wir gut behandelt", so der einstige Häftling Leopold Malina aus Wien: "Das Essen war reichlich, und fast jeder hatte sein Bett mit Matratzen und Leintuch, was wir ja gar nicht mehr nach jahrelanger Entbehrung gewohnt waren. Einige kamen später noch nach, die sich verlaufen hatten. Das Wetter wurde zusehends schöner, so daß die Leute ohne Hemd auf der Wiese liegen konnten."679 Das Entsetzen der amerikanischen Soldaten der 36. Infanteriedivision, die die Masse der Verschleppten aus Dachau im Voralpenland befreit hatten, war nicht geringer als die Abscheu ihrer Kameraden, die solche Szenen der Brutalität und Verrohung Tage und Wochen zuvor in Thüringen oder der Oberpfalz zu Gesicht bekommen hatten. "Die ganze Division", so heißt es in einem Bericht zu dem Anblick Tausender "wie Ameisen" auf den Straßen zwischen Weilheim und dem Tegernsee Umherirrende "war beim Anblick dieser politischen Häftlinge entsetzt ... In Seeshaupt wurden mehrere Waggons voller Leichen entdeckt. Um der deutschen Zivilbevölkerung die Schwere der Grausamkeiten einzuprägen, die ihre Regierung begangen hatte, wurden Hunderte zu den Schauplätzen geschafft und dort Zeugen dieser grausigen Szenen. Viele waren tief betroffen." Mit in die Fassungslosigkeit über das Vorgefundene, die den Military Government Officer der Division aber dennoch nicht dazu verleitete, in einem ersten Impuls die einheimische Bevölkerung umstandslos für die entdeckten Greuel verantwortlich zu machen, mischte sich bei dem Verfasser zugleich auch die beträchtliche Ratlosigkeit darüber, welchen rationalen Zweck das Regime mit dieser Verschleppungsaktion so kurz vor Kriegsende verfolgt haben könnte. Das führte ihn so weit, in seinen Bericht eine aus nicht näher bezeichneten Quellen stammende Theorie aufzunehmen, nach der die Evakuierungsmärsche wohl eine Taktik der Wehrmacht gewesen seien, um den Vormarsch der amerikanischen Verbände zu behindern. 680 Für wie viele Menschen, die sich am 26. April 1945 auf den Vernichtungsmarsch aus Dachau begeben hatten, alle Hilfe zu spät kam, wird sich wie manches in dieser Endphase nicht mehr exakt klären lassen. Sicher ist nur, daß die Zahl der Opfer in die Hunderte gegangen sein muß; auf jeden Fall waren es sehr viel mehr als die knapp 170 Umgekommenen, die vom Internationalen Suchdienst bis 1950 zweifelsfrei nachgewiesen waren. 68 ! Von den Häftlingen selbst wurden die unterschiedlichsten Schätzungen (die vor allem wegen der Dunkelziffer der Geflohenen problematisch sind) an678
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Vgl. die Schilderungen der Häftlinge Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 36th Infantry Division, Military Governrnent Section, "Operations in Germany and Austria, Month of May 1945"; NA, RG 407, Box 9866. Hervorhebung von mir. Vgl. Karte und Übersicht des Internationalen Suchdienstes zu den Dachauer Evakuierungstransporten v. 7.3. bzw. 28.4.1950; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 737 bzw. Nr. 15.786.
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gestellt. Einer schrieb etwa, ,,1000 bis 1500" seien auf der Strecke geblieben, "der größte Teil davon von den Mördern und Banditen errnordet"682. Ein anderer hielt ohne nähere Spezifizierung fest: "Ungefähr 3000 Menschenleben hat dieser Todesmarsch gekostet."683 Wieder ein anderer nennt ohne Angaben von Quellen eine Reihe genauer Zahlen (sie summieren sich auf 636 Tote), zu denen zwei unspezifische Quantifizierungen für den 30. April ("Hunderte von Toten") und den 2. Mai 1945 ("Tote über Tote") hinzuzuaddieren wären. 684 Aus diesen Angaben ist mit der nötigen Vorsicht wohl der Schluß zu ziehen, daß auf dem am 26. April 1945 beginnenden Verschleppungsmarsch von über 10.000 Dachauer Häftlingen in das bayerische Oberland zwischen Starnberger See und Tegernsee wohl mindestens 1000 Häftlinge erschossen, erschlagen, "abgespritzt" worden oder gestorben sein könnten. 685
Der 29. April 1945 Zur selben Zeit als in Süddeutschland die Evakuierungstransporte aus den Dachauer Lagern abgingen, platzte in Norddeutschland die Seifenblase der Himmlerschen Sonderfriedensbemühungen. Der "Reichsführer-SS", dem die eingeschränkte Handlungsmöglichkeit Hitlers im abgeriegelten Berlin sehr zupaß kam und seinen Mut beträchtlich steigerte, hatte den Grafen Folke Bernadotte inzwischen offen dazu gedrängt, nunmehr ein förmliches Kapitulationsangebot an die Westmächte zu bringen und eine persönliche Begegnung mit General Eisenhower zu arrangieren. 686 Diese Initiative blieb aber erfolglos, die Alliierten wiesen dieses ,,Angebot" zurück 687 , das illusorische, zynische Spiel des "Reichsführers-SS" war vorbei. Hitler erfuhr vom Verrat seines "treuen Heinrich" in der Nacht vom 28. zum 29. April aus einer Reuter-Meldung - der "schwerste denkbare Schlag"688 für ihn. Habhaft werden konnte er seines Terrorchefs, den er sämtlicher Ämter entkleidete, aber nicht mehr; der brachte sich während eines britischen Verhörs selbst um. Dem "Reichsführer-SS" und seinen Hauptkomplicen war in den letzten drei, vier Tagen des April auch ihre Verfügungsgewalt über die noch nicht befreiten Konzentrationslager im Süden (Theresienstadt, Dachau, Mauthausen) abhanden gekommen. Im Stammlager Dachau brach die Evakuierungs-"Politik" der SS nach dem Ausmarsch des großen Verschleppungstrecks am 26. April faktisch zusammen. Am 27. April mußte zwar noch einmal eine letzte Gruppe von ungefähr 2000 Häftlingen zur Bahnverladung marschieren, danach ließen sich die Räumungen (schon, weil ein Großteil der Wachmannschaften mit den Evakuierten abgerückt war) nicht mehr durchsetzen. 682
6" 684 685
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Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Bericht des Häftlings Karl Rüdrich; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Aus den Angaben, die den Berichten der U.S. Anny über die Zahl der befreiten Häftlinge zu entnehmen sind, läßt sich ebenfalls keine exakte Verlustbilanz errechnen. Selbst der detaillierte Weekly Report des XXI Corps v. 5.5. 1945 ist dazu nicht ausreichend genau: In und in der Nähe von Wolfratshausen seien "ungefähr 8000 DP's, meist politische Gefangene" befreit worden, "weitere 2000" in Waakirchen. Hervorhebung von mir; NA, RG 407, Box 5272. Vgl. auch den Abschnitt "Sicherheitszustand" in dem Lagebericht des Landrats von Bad Tölz an das Regierungspräsidium München v. 11. 6. 1945; StA München, LRA 134066. Vgl. auch die Angaben in: "Kurzer Bericht eines Augenzeugen, des ehemaligen Dachauer Häftlings Wemer Groß aus Nürtingen, über den Todesmarsch in die Berge", in: Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 289fl. Vgl. oben in diesem Kapitel. Hierzu Pogue, Supreme Command, S. 476f. Fest, Hitler, S. 1015.
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An diesem Punkt hat die Lagerleitung vielleicht tatsächlich auch von sich aus darauf verzichtet. 689 Nachdem auch die letzten Gefangenen des "Prominenten"-Transports 690 aus Dachau fortgeschafft waren, begann sich im Stammlager eine "großartige Anarchie der Befehle"69I breitzumachen. Obwohl am 27. April Anordnungen zu weiteren Evakuierungstransporten ergingen, wurden sie von den Häftlingen, die statt dessen "abwartend auf den Blöcken"692 blieben, nicht befolgt. Am nächsten Morgen erging ein "neuer, schwacher Befehl, aber es wird kein Ernst"693. Ein Abgesandter des Internationalen Roten Kreuzes - er hatte als erster freier Ausländer überhaupt Zutritt zum Lager erhalten - erlebte am vorletzten und letzten Tag vor der Befreiung jene "seltsame Atmosphäre", die inzwischen das ganze Lager erlaßt hatte. Überall waren außerdem massive Anzeichen der Auflösung auszumachen: "Wohin man auch sah", schrieb er, "gab es Anzeichen dafür, daß die Truppen, die in den Baracken gehaust hatten, geflohen waren."694 Die Häftlinge selbst spürten es erst recht, daß das Ende "Dachaus" unmittelbar bevorstand; "Zwischentage"695 nannte einer von ihnen die kurze Spanne zwischen Teilevakuierung und Befreiung: Seit längerem brannten bereits die "Überreste eines Effektenzeltes, aus dem die SS die besseren Sachen herausgeholt" hatte; "die SS rafft zusammen, was irgendwie von Wert ist"696; dazwischen "Fallschirmalarm"697 (oder ist es "Panzeralarm"?698), von dem niemand weiß, was er zu bedeuten hat; dann Gerüchte, die Lagerkommandantur sei abgerückt699 , es seien nur noch 400, nur noch 250 SS-Leute im Lager 700 ; am Nachmittag des 28. April "das Allerneueste": Die "SS türmt in vollen Zügen"701. Und kurz darauf: "Mächtige Rauchsäulen steigen in der Gegend des Reviers auf. Eine Bewegung geht durchs Lager, als die Ursache bekannt wird: sie verbrennen die letzten Dokumente und Akten. Schluß in Dachau - das ist das Ende." Das nahe Ende von Dachau mußte für die Gefangenen nicht unfehlbar auch die Be689 690 691 692
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Vgl. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 281 f. Vgl. oben in diesem Kapitel. Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 196 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 37 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). Siehe auch Rost, Goethe in Dachau, S. 238 (Tagebucheintragung v. 27. 4. 1945, abends 7 Uhr). Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. Vgl. zur Verschleppung der ergehenden Befehle den Bericht des Häftlings atto Schiftan "Die Befreiung des KZ. Dachau" v. 27.4. 1946; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 11.675. Bericht des IRK-Repräsentanten Victor Maurer; zit. nach Marcus J. Smith, The Harrowing of Hell, Albuquerque 1972, S. 257. Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. Das folgende Zitat ebenda. Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 251 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). Haulot, Lagertagebuch, S. 192 (Eintragung v. 27.4. 1945). Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 194 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Siehe auch Rost, Goethe in Dachau, S. 239 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 250 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). Vgl. ebenda, S. 252 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 38 (Tagebucheintragung v.28. 4. 1945). Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 199 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Das folgende Zitat eben da, S. 202. In der Nacht vom 28. auf den 29. April konstituierte sich ein Internationales Häftlings-Komitee, das sich aus 15 Persönlichkeiten aus 12 Nationen zusammensetzte. Vgl. Berben, Dachau, S. 189. Wolfgang Benz, Zwischen Befreiung und Heimkehr. Das Dachauer Internationale Häftlings-Komitee und die Verwaltung des Lagers im Mai und Juni 1945, in: Dachauer Hefte 1 (1985), H. 1, S. 39ff. Eine ausführliche Darstellung der Schlußphase des Lagers gibt auch der Bericht von Ali Ku~i und Arthur Haulot vom Internationalen Häftlings-Komitee "The last Days of Dachau", 16.5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.633.
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau
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freiung und das Ende ihres Leidensweges bedeuten, jetzt konnte genauso gut der Moment der Vernichtung der im Stammlager verbliebenen über 30.000 Häftlinge gekommen sein. Bei den Insassen wuchs mit zunehmender Desintegration des Lagers die Furcht, daß (wie der Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz am 25. April notierte) "die SS im letzten Fanatismus noch etwas gegen uns unternehmen wird. Es wird für uns mit jeder Stunde gefährlicher."702 Das erschreckende Gerücht lief durchs Lager, alle würden in Kürze ermordet, und einzelne SS-Leute haben wohl auch angedeutet, daß die Insassen "durch Maschinengewehre oder durch Bombenabwurf niedergeschmettert werden" sollten. 703 Der berüchtigte Rapportführer Böttger sagte nach seiner Verhaftung, es sei geplant gewesen, am 29. April, um 9 Uhr abends, alle Häftlinge auf dem Appellplatz antreten zu lassen. "Dann sollten sie mit dem Maschinengewehr niedergeschossen und das Lager durch Flammenwerfer verbrannt werden."704 Es waren Mitteilungen und Gerüchte wie diese, die nach dem Zeugnis des Münchener Weihbischofes Johann Neuhäusler die Gefangenen "fast zum Wahnsinn" trieben. 705 Nicht viele, die in "Hochspannung"706 nicht zwischen "Weltuntergangsstimmung"707 und erregter Vorfreude auf die Ankunft der amerikanischen Truppen hin- und hergerissen worden wären. Am 27. April waren sogar die besonnenen und umsichtig Agierenden unter den politischen Gefangenen der Meinung, daß "jeden Moment ein allgemeines Massaker stattfinden"708 könne. Am 29. April, dem Tag der Befreiung, schien alles "auf des Messers Schneide"709 zu stehen. Daß Hitler die Häftlinge in den Konzentrationslagern mit in den Untergang reißen wollte, leidet ebensowenig ZweifeFlo wie die Entschlossenheit einer Reihe höchster SS-Führer zum Mord an ihren Gefangenen in letzter Stunde. Von Bergen-Belsen abgesehen, sind nach dem Krieg praktisch für sämtliche Lager irgendwelche Vernichtungspläne ans Licht gekommen, und die Bilanz der noch im April 1945 an den Gefangenen begangenen Verbrechen spricht dieselbe Sprache. Es fällt deshalb leicht, dem Kommandanten des Lagers Neuengamme Glauben zu schenken, der in seinem Strafprozeß aussagte, Obergruppenführer Oswald Pohl, Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes und Herr der Konzentrationslager, habe "den Lagerführern gesagt, wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie man beim Anrücken der Alliierten die Häftlinge am schnellsten mit Gas oder anderen Mitteln umbringen könnte"711. Im einzelnen sind die Pläne für die Endphasemassaker in den Konzentrationslagern aus naheliegenden Gründen freilich nur sehr schwer eindeutig nachzuweisen. Das gilt auch für Dachau. Da die Creme des nationalsozialistischen Staatsterrorismus 702 703
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Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 249 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 38. Vgl. auch Rost, Goethe in Dachau, S. 229 (Tagebucheintragung v. 24.4. 1945) und S. 240 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). So Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 264 (Tagebucheintragung v. 12.5. 1945). Siehe auch Michelet, Freiheitsstraße, S. 246. Neuhäusler, Dachau, S. 67. Bericht des Häftlings Kar! Riemer ,,Amerikaner helfen!" v. 11. 5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 7639. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 280. Ku~i, Haulot, The last Days of Dachau, 10.6. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.633. Bericht des Häftlings Otto Schiftan; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 11.675. Vgl. oben in diesem Kapitel. Aussage des Konzentrationslager-Kommandanten Max Pauly im Curiohaus-Prozeß in Hamburg am 3. April 1946; zit. nach Rudi Goguel, "Cap Arcon.". Report über den Untergang der Häftlingsflotte in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945, Frankfurt 1972, S. 29.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
nach 1945 in erster Linie damit beschäftigt war, ihre Machtkämpfe und Privatfehden fortzuführen und sich vor Gericht gegenseitig so schwer zu belasten wie es nur ging, sich in Lügengewebe einzuhüllen oder sich gar als Retter Tausender unschuldiger Gefangener aufzuspielen, wird kaum noch genauer zu klären sein, wer von ihnen wann welchen Mordplan für das Lager Dachau erdacht, befohlen oder vereitelt hat. Immerhin liegen ausreichend Erklärungen und Zeugenaussagen vor, nach denen tatsächlich geplant gewesen sein könnte, die Außen lager durch die Luftwaffe bombardieren zu lassen (Operation "Wolke Al ") und die Insassen des Stammlagers, mit Ausnahme der "arischen" Staatsangehörigen der Westmächte, zu vergiften ("Wolkenbrand").712 Möglicherweise spielte bei diesen Plänen der Münchener Gauleiter Paul Giesler, den Hitler in seinem Testament immerhin zum Nachfolger Heinrich Himmlers bestimmt hatte, eine Hauptrolle. Wie dem gewesen sein mag, jedenfalls scheint es innerhalb der Mordclique an der Spitze wie auch innerhalb der Lagerführung kurz vor der Ankunft der amerikanischen Truppen ausreichend Dissens gegeben zu haben, um den Versuch einer Massentötung der Dachauer Häftlinge scheitern zu lassen. "Ein Nichtsiegen der Amerikaner halten alle für unmöglich", notierte der Häftling Kupfer-Koberwitz am Morgen des 29. April 1945 in sein Tagebuch 713 , die Frage war nur, ob die Insassen des Konzentrationslagers diesen Sieg noch erleben würden. Auf amerikanischer Seite gab es am Sieg selbstverständlich nicht den allermindesten Zweifel, denn seit einer guten Woche konnte in Süddeutsch land von ernstlichen Gefechten nirgendwo mehr die Rede sein. 714 Die Soldaten des 157th Infantry Regiment, das an diesem Tag Dachau befreite, spotteten, "man würde überhaupt nicht merken, daß Krieg ist, wenn nicht so verdammt viele Leute in Uniform herumliefen" - "Man spürte den Sieg in der Luft liegen."715 Für die 45th Infantry Division (der das 157. Infanterieregiment unterstellt war) und die 42nd Infantry Division, die den Vorstoß der Seventh Untited States Army in Richtung München und Salzburg hauptsächlich zu tragen hatten, war die Befreiung des in der Welt bekanntesten deutschen Konzentrationslagers - militärisch gesehen - eine Unternehmung en passant. Eine gewisse Unübersichtlichkeit ergab sich lediglich daraus, daß die Grenze zwischen beiden Divisionen nicht nur durch die Stadt Dachau, sondern durch das Lager selbst lief.1 16 Die mutige Aktion einiger geflohener Häftlinge, die sich am 26. April nach Norden zu den amerikanischen Linien durchzuschlagen begannen, um die Truppen dort zu alarmieren und zu einer Blitzoperation zur Befreiung des Konzentrationslagers zu bewegen, war ohne jeden Einfluß auf den Vormarsch der U.S. Army - schon allein deshalb, weil die rettenden Kompanien zu dem Zeitpunkt schon unterwegs waren, ja das Lager bereits erreicht hatten, als der aus Dachau entkommene Häftling Karl Riemer seinen Appell an einen amerikanischen Offizier richtete. 717 Mitnichten erfolgte "das Eingreifen der Amerikaner erst auf die 712
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Ausführlich zu diesen Mordplänen Berben, Dachau, S. 179 H. Siehe auch die Erklärungen und Aussagen im Nürnberger Prozeß: IMT, IV, S. 339 ff.; IMT, XI, S. 315 ff.; IMT, XVII, S. 438 ff.; IMT, XX, S. 336 ff.; IMT, XXXII, S. 294ff. Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 253 (Tagebuch eintragung v. 29.4. 1945). Vgl. VII!4. History of the 157th Infantry Regiment (Rifle), 4 June '43 - 8 May '45, Baton Rouge 1946, S. 162. Vgl. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 96. Vgl. die Lagekarten in: Seventh United States Army, Report of Operations, bei S. 814 und S. 832. Bericht des Häftlings Karl Riemer ,,Amerikaner helfen!" v. 11. 5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte
3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau
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Intervention deutscher Häftlinge" hin, wie Os kar Müller, seit Mitte April letzter "Lagerältester" in Dachau, Mitglied des Internationalen Häftlings-Komitees und 1945/46 hessischer Arbeitsminister, nach dem Krieg behauptete. Noch weniger Wahrheitsgehalt steckt in der in die Literatur eingegangenen und zur Legende gewordenen Theorie Müllers: "Wäre es also unseren Kameraden nicht gelungen, bis zu den Amerikanern durchzustoßen, dann müßte mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, daß die 32.000 Häftlinge noch vernichtet worden wären."7IB Das 157th Infantry Regimene l9 , dem nun unversehens eine historische Rolle zufiel, war eine erfahrene Einheit, die schon in Sizilien, Salerno und Anzio gekämpft und noch Anfang April 1945 bei Aschaffenburg harte Gefechte zu bestehen gehabt hatte. Am 26. April war das Regiment bei Marxheim über die Donau gegangen, und am 28. April erhielt es den Hinweis, in seinem Gefechtsabschnitt befinde sich das Konzentrationslager Dachau. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Lieutenant Colonel Felix L. Sparks aus Arizona, der Kommandeur des 3. Bataillons, das die Spitze des Regiments bildete, keinerlei Vorstellung davon, was ihn dort erwarten würde. 720 Am frühen Morgen des 29. April hatte das Bataillon den Vormarsch auf München bereits wieder aufgenommen, als Sparks kurz danach der Regimentsbefehl erreichte, das Lager zu nehmen. Für diesen Auftrag zweigte er die während des Angriffs auf München in Reserve gehaltene I Company ab, die er bei dem Vorstoß auf das einen guten Kilometer jenseits der Grenzen seines Gefechtsstreifens liegende Konzentrationslager selbst begleitete. 721 Kurz vor Mittag erreichten die Amerikaner das Areal des riesigen SS-Lagers, wovon das eigentliche Konzentrationslager nur einen Teil bildete. Noch außerhalb der Stacheldrahtumzäumung erlitten die Soldaten einen "ersten Schock"721, als sie auf den berüchtigten, auf einem Stichgleis abgestellten Güterzug 723 mit den Leichen Aberhunderter kurz zuvor nach Dachau evakuierter Häftlinge stießen. Zur Schützenkette formiert, stürmten die Männer der I Company nun auf das Haupttor im Jourhaus zu. "Der Anblick nahe dem Eingang zur Haftstätte ließ mich erstarren. Dantes Inferno schien blaß gegen die reale Hölle von Dachau", beschreibt Sparks diesen Moment. ,,Als ich mich umwandte, um über den Lagerhof zu schauen, sah ich, meinen Augen nicht trauend, eine große Anzahl toter Insassen, die da lagen, wo sie in den letzten Stunden oder Tagen vor unserem Eintreffen umgefallen waren. Da sich all die vielen Leichen in unterschiedlichen Stadien der Auflösung befanden, war der Gestank des Todes überwältigend." Für einige unter Sparks' Soldaten war dieser Anblick zu viel: "Etliche Männer der Ersten Kompanie, allesamt kriegsgewohnte
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Dachau, Nr. 7639. Nach Riemers eigenem Bericht richtete er seinen Appell in PfaHenhofen an einen Offizier der dort liegenden amerikanischen Truppen, dessen Namen er "nicht behalten" habe, am 29.4. 1945 um 13 Uhr. Schreiben Oskar Müllers an George Walraeve, Generalsekretär der Amicale de Dachau, v. 23. 10. 1958; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 4205/49. Zu dieser Version vgl. z. B. Berben, Dachau, S. 192. Siehe auch Anhang 2 bei Rost, Goethe in Dachau, S. 249 ff. Das folgende nach History of the 157th Infantry Regiment, S. 161 H. Felix L. Sparks, Dachau and Its Liberation, Monograph Nr. 14 des 45th Infantry Division Museum, Oklahoma City, masch., Januar 1990. Mit dieser Darstellung hat Sparks manche falsche oder unzureichende Darstellung über die Befreiung des Lagers zurechtrücken können. Die detaillierte Darstellung der Befreiung sowie eine Auseinandersetzung mit der verstreuten Literatur hierzu bei Buechner, Dachau, S. 22 H., S. 68 H. und S. 115 f. Auch unter Heranziehung sämtlicher einschlägiger Dokumente läßt sich der Zeitablauf der Befreiung nur auf etwa eine Stunde genau bestimmen. Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Die folgenden Zitate ebenda. Vgl. oben in diesem Kapitel.
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Veteranen, wurden aufs höchste erregt. Manche weinten, während andere in Raserei gerieten." Inzwischen hatten die Häftlinge bemerkt, daß die Amerikaner da waren: "Sie strömten zu Hunderten aus ihren überfüllten Baracken und drängten bald gegen die Stacheldrahtumzäunung. Sie begannen unisono zu rufen, was rasch zu einem schaudererregenden Brüllen wurde." Es war wohl unvermeidlich, daß bereits am Tag der Befreiung der Wettstreit um den Lorbeer, Befreier Dachaus zu sein, entbrannte. Das führte seitdem zu einer Fülle mehr oder weniger dramatisierter und stilisierter, geschönter, verkürzter oder erfundener "Berichte" von beteiligten Einheiten und Personen 724 , ganz zu schweigen von manchen Pressereportagen. Tatsache ist, daß eine Patrouille des zur 42. Infanteriedivision gehörenden 222nd Infantry Regiment, drei Jeeps unter Führung des stellvertretenden Divisionskommandeurs Brigadegeneral Linden, in etwa zur selben Zeit beim Lager anlangte wie die Kompanie unter Sparks; eine amerikanische Zeitungskorrespondentin und ein Reporter der "Stars and Stripes" waren praktischerweise gleich mit von der Partie. Bereits am Haupttor zum Konzentrationslager kam es zu einem scharfen Zusammenstoß zwischen Oberstleutnant Sparks als dem höchstrangigen anwesenden Offizier der 45. und General Linden von der 42. Division. Sparks hatte den strikten Befehl erhalten, das Camp nach der Ausschaltung der deutschen Wachmannschaften zu übernehmen, es scharf bewachen zu lassen ("airtight guard"725) und bis zur Ankunft von DP-Teams, medizinischem Personal und Spezialisten der War Crimes Commission niemanden hinein-, aber auch keinen Häftling hinauszulassen. Diese vernünftige und an sich selbstverständliche Maßnahme war mit dem verständlichen Ehrgeiz des Generals und seiner journalistischen Begleiter, die Stunde der Befreiung Dachaus besser zu nutzen, freilich schlecht vereinbar. Als Linden Zutritt zum Lager und für die Reporterin die Erlaubnis forderte, dort Interviews mit den Häftlingen zu führen, lehnte Sparks ab. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als die kleine Gruppe des 222. Infanterieregiments trotzdem begann, sich an dem Tor zu schaffen zu machen, gegen das inzwischen schon die euphorischen und freiheitsdurstigen Häftlinge anbrandeten. Tatsächlich gelang ihnen, das Tor kurz zu öffnen und damit für einige Augenblicke ein "Pandämonium" zu entfachen. Es dauerte eine Weile, bis die Soldaten des 157th Regiment, die sich nicht mehr anders zu helfen wußten, als einige Salven über die Köpfe der Gefangenen hinweg abzugeben, das Tor wieder geschlossen und die Lage unter Kontrolle gebracht hatten. Danach zwang der mittlerweile ebenfalls schon entnervte Oberstleutnant Sparks den General (ein "Dandy", der sich darin gefiel, einen von Sparks' Männern mit einer Reitpeitsche auf den Stahlhelm zu schlagen) mit vorgehaltener Pistole und unter energischem Hinweis auf seine Befehle, das Gelände des Dachauer Lagers zu verlassen. 724
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Unter dem offiziösen amerikanischen Erinnerungsschrilttum sind zu nennen: Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Inlantry Division, S. 96ff. Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Filth (45th Inlantry Division), S. 185ff. The Fumace and the Fire. The Story 01 a Regiment 01 Inlantry (222nd), Wien 1945, S. 6411. History 01 the 157th Inlanty Regiment, S. 161 ff. Vgl. daneben auch die offizielle Kriegsgeschichte der Seventh United States Anny, Report 01 Operations, S. 831 I. Die Version dort kann ebenlalls nicht als exakt gelten. Siehe hierzu: Buechner, Dachau, S. 22 If., S. 681f., Robert H. Abzug, Inside the Vicious Hearl. Americans and the Liberation 01 Nazi Concentration Camps, New York 1985, S. 8711. Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Das lolgende Zitat eben da.
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Vielleicht war es dieser Zwischenfall, der den endlosen Kampf der beiden an der Befreiung Dachaus beteiligten amerikanischen Divisionen um die an sich nicht sehr spannende Frage angefacht hat, wessen Soldaten nun die ersten am Tor unter dem Jourhaus und im Inneren des Häftlingsteils des Lagers gewesen seien. Die bessere PRStrategie entfaltete dabei jedenfalls die 42nd ("Rainbow") Division, und auch Marguerite Higgins, die Korrespondentin des "New York Herald Tribune", die dem Ehrgeiz und der Umsicht des General Linden ihren journalistischen Scoop verdankte, tat viel dazu, den Ruhm der "Rainbow"-Division in die Welt hinauszutragen. 726 Für manchen Häftling ist die mit Uniform, Stahlhelm und Schutzbrille angetane amerikanische Zeitungsreporterin später zum kräftig stilisierten Mythos eines rettenden Engels geworden - einmal mit herabfallendem "goldblonden, lockigem Haar"727, ein andermal mit Mütze und "kurzgeschnittenen, dunkelbraunen Locken"728. Die Soldaten des 157th und des 222nd Infantry Regiment hatten die auf dem Gelände des SS-Lagers verbliebenen, aus verschiedenen Truppenteilen zusammengewürfelten deutschen Verteidiger keineswegs "in einem erbitterten Kampf"72 9 oder in einem "fürchterlichen Gefecht"730, sondern in einigen Scharmützeln hier und da binnen kurzem überwältigt. Dabei kam es unter den SS-Wachmannschaften und den oftmals erst wenige Tage vor dem 29. April nach Dachau verlegten Soldaten (insgesamt wohl um die 300 Mann) zu zahlreichen Opfern. Viele G.I.s hatten bereits über dem Anblick der Leichenwaggons außerhalb des Lagers die Fassung verloren und scherten sich in den folgenden Stunden nicht mehr allzuviel um die von ihnen normalerweise sehr wohl respektierten Gebräuche des Krieges; Oberstleutnant Sparks erwähnt selber, wie seine Soldaten nach diesem Schock zu Berserkern geworden und in kalter Wut vorgegangen seien. 731 In den ,,45th Division News" vom 13. Mai 1945 berichtete ein Offizier der I Company, nach dieser Entdeckung seien seine Soldaten nicht mehr wiederzuerkennen gewesen: "Die Männer waren toll vor Kampflust ... Sie stürmten an den SS-Baracken entlang, an jeder Ecke SS-Leute tötend, die sich zu wehren suchten."732 Ein Gefreiter erinnerte sich später an die Konfrontation mit dem Anblick des Güterzuges: "Nachdem wir dies gesehen hatten, gingen wir weiter vor, kochend vor Wut, halb von Sinnen."733 Und ein Soldat derselben Kompanie soll später sogar zugegeben haben: "Von Mann zu Mann wurde geflüstert, mach hier keine Gefangenen."734 Auch wenn darüber nichts in den Divisionsakten oder dem offiziel-
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Im einzelnen hierzu Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 2off. Vgl. die dort abgedruckten Berichte der 42th Division sowie die große Reportage von Higgins in der New York Herald Tribune v. 1. 5. 1945. Der Bericht von Peter Furst (der zu dem Trupp von General Linden gehört hatte) in Stars and Stripes, 2. 5. 1945, erwähnt ebenfalls nur die 42nd Infantry Division. Gun, Stunde der Amerikaner, S. 19f. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 282. Vgl. auch Michelet, Freiheitsstraße, S. 251. Steinbock, Ende von Dachau, S. 28. Haulot, Lagertagebuch, S. 193 (Eintragung v. 29.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 257 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). So eine AP-Meldung in der New York Times, 1. 5. 1945. The Furnace and the Fire (222nd Infantry Regiment), S.64. Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Vgl. auch das Interview von Sparks mit dem Orlando Senitel, 8.9. 1986. 45th Division News, 13. 5. 1945; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXIX. So der Gefreite lohn Degro aus Ohio in einer Erklärung v. 17.3. 1986; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXII. 45th Division News, 13. 5. 1945; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXIX. Siehe auch Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 183.
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len Schrifttum der Army zu finden ist, spricht manches dafür, daß es so gewesen sein könnte. "Die Amerikaner stürmten durch das Lager in rasender Wut", meldete AP sofort nach der Befreiung Dachaus. "Nicht weit von einem Leichenhaufen lagen die blutenden Körper von sechzehn Bewachern, die auf der Flucht erschossen worden waren."735 Der Daily Telegraph meldete am 1. Mai, "Dutzende von Bewachern wurden getötet."H6 Die 7. Armee gab bekannt, bei der Befreiung Dachaus seien ungefähr 300 deutsche Soldaten und Wachmannschaften "überwältigt", "ausgeschaltet" ("eliminated"H7) worden, bei der 45. Infanteriedivision sprach man ebenfalls von "Dutzenden" von Getöteten. HB Die am wenigsten wahrscheinliche Version der vermutlich nie mehr im Detail zu rekonstruierenden Vorgänge in Dachau am 29. April 1945 sind Darstellungen, die sich der wohlbekannten Formel "auf der Flucht erschossen" bedienen; nur wenige der in Dachau überwältigten Soldaten und Wachen dürften in ihrer vollkommen aussichtslosen Lage wirklich einen Fluchtversuch unternommen haben. Eine ganze Anzahl von SS-Leuten und Soldaten sind - obwohl auf amerikanischer Seite offenbar kein Soldat mehr sterben mußte 739 - vermutlich tatsächlich bei den Scharmützeln um das Lager gefallen. Die Mehrzahl freilich dürfte von den G.I.s vor allem der 45. Infanteriedivision erschossen worden sein, nachdem sie sich ergeben hatten. Manches wies schon früh darauf hin, daß die Amerikaner in Dachau am Tag der Befreiung des Konzentrationslagers an ihren deutschen Kriegsgefangenen ein brutales Verbrechen begangen haben könnten. "Eine nicht bekanntgegebene Anzahl von SSLeuten fand auf verschiedene Weise den Tod", berichtete sehr unbestimmt die Armeezeitung The Stars and Stripes am 2. Mai 1945. 740 Die im Jahre 1946 erschienene Unit History der 45. Division enthielt bereits eine Fotografie, die für jeden unvoreingenommenen Betrachter eine Massenerschießung vor einer Mauer zeigt, deren Bildunterschrift jedoch weismachen wollte, die am Boden Übereinanderliegenden würden nur "vortäuschen", sie seien tot ("feign death").741 Auch Berichte von amerikanischen Offizieren, die bald nach den Einheiten des 157. und 222. Infanterieregiments im Lager zu tun hatten, erwähnen tote SS-Leute nicht in derselben Weise, wie das bei im Kampf gefallenen Soldaten geschehen wäre. General Mickelsen, der Chef der Displaced Persons Branch von SHAEF, etwa meldete dem Oberkommando über seinen Besuch in Dachau am 3. Mai, eine Reihe von Wachmannschaften seien von Soldaten oder Häftlingen getötet worden: "Fakten nicht klar." Er selbst habe über 20 Leichen gesehen. 741 Im Diensttagebuch des G-5 des XV. Corps, das das Lager am 30. April 7J5
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AP-Bericht in der New York Times, 1. 5. 1945; zit nach Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 24. Daily Telegraph, 1. 5. 1945. Meldung der 7. Armee an die 6. Armeegruppe v. 30.4. 1945; NA, RG 407, Box 2700. Vgl. auch Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 832, hier: "elirninated". "Neutralized" in dem von Eisenhower gezeichneten Communique des Alliierten Oberkommandos v. 30.4. 1945; zit. nach Buechner, Dachau, S. 60. Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 185. Der Arzt des 3rd Battalion erwähnt, im Zuge der Befreiung Dachaus habe er keine amerikanischen "casualti es" zu Gesicht bekommen. Vgl. Buechner, Dachau, S. 85. "Dachau Cheers Its Liberation. From Horror of Living Death", Reportage vom 29. April 1945 von Peter Furst; The Stars and Stripes, 2. 5. 1945. Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 181. Bericht Mickelsens v. 19.5. 1945 an SHAEF, G-5, "Visit to German Concentration Camp at Dachau", 3. Mai 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1.
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vom 157th Infantry Regiment übernommen hatte, heißt es unter dem 1. Mai, 8.00 Uhr: "Es wird empfohlen, die Leichen von Deutschen, welche bei Fluchtversuchen exekutiert (,executed') wurden, zu beseitigen." Ein anderer hoher Offizier war der Meinung, das solle "sofort" geschehen. Schon um 12.30 Uhr hatte Oberst Worthing, Chef des G-5 Stabes, dann mit keinem Geringeren als dem Kommandierenden General des XV. Corps eine Besprechung darüber, wie inzwischen mit den Leichen verfahren worden warH3 , ohne in seinem Diensttagebuch jedoch festzuhalten, was mit den Toten geschehen ist. Das zeigt, daß es sich bei dieser Aktion nicht um eine Routineangelegenheit gehandelt haben kann. Die hätte der Chef des G-5 Stabes eines Corps selbstverständlich in eigener Verantwortung routinemäßig erledigen können. Auch Zeugnisse Dachauer Häftlinge gaben schon früh zweifelsfreie Hinweise auf Kriegsverbrechen, die von amerikanischen Soldaten bei der Befreiung Dachaus am 29. April begangen wurden. Der österreichische Häftling Johann Steinbock deutete bereits in seinen 1948 erschienenen Aufzeichnungen an, daß die Amerikaner sofort nach der Befreiung SS-Männer "an die Wand gestellt" hätten. 744 In zwei ebenfalls publizierten Häftlingstagebüchern kommt dieser Tatbestand noch deutlicher zum Ausdruck. Arthur Haulot, belgischer Schriftsteller, Politiker und Vize präsident des Internationalen Häftlings-Komitees, notierte am Befreiungstag: ,,Am selben Nachmittag werden die SS-Offiziere hingerichtet. In der Nacht erleiden die Soldaten das gleiche Schicksal."H5 Der tschechische Häftling Frantizek Kadles; hielt in seinem Tagebuch unter dem 29. April 1945 fest: ,,Amerikaner schießen aus Halbzirkelstellung gegen die ergebenen SS '" Im SS Lager knallen einzelne Schüsse und Rationen aus automatischen Pistolen, Amerikaner ,likvidieren' SS Männer in Dachböden, Baracken und Kanalen verkrochen."746 Am genauesten schildert Kupfer-Koberwitz mit der ihm eigenen Ausführlichkeit die Vorfälle kurz nach der Befreiung: "Die Amerikaner ließen die Posten von den Türmen steigen und aus den Bunkern kommen. Einer von ihnen schoß noch vom Turme herab, dann erst kam er mit erhobenen Händen herunter. Man ließ ihn ein paar Schritte vorwärts machen, dann erschossen sie ihn. Andere SS kam, die Hände hoch. Während die einen die Hände hoch hielten, zog einer von ihnen den Revolver. Ein Amerikaner sah es, gab ihm einen Tritt. Alle wurden erschossen, die Amerikaner ließen keinen der SS-Männer, die ihnen in die Hände fielen, leben. Ein Kamerad, der das sah und es mir erzählte, schilderte mir dann, was er dabei empfand. Es erschreckte ihn zu sehen, wie Menschen trotz erhobener Hände niedergeschossen wurden, stürzten, bluteten und stöhnend starben. Aber dann dachte er an den Tod, den sie uns bereitet hätten, wären die Amerikaner nicht gekommen, und dachte an seine Eltern, die so viel schrecklicher von der SS getötet worden waren. Es muß einen besonderen Grund haben, daß alle SS erschossen wurden."747 Der ehemalige Häftling Nerin E. Gun schließlich berichtet in seinem freilich nicht immer zuverlässigen Erinnerungsbuch: "SS-Männer, die mit auf dem Kopf gefalteten Händen regungslos stan"Log for Dachau - (Col. Kenneth E. Worthing)", Eintragung unter dem 1. 5.1945; NA, RG 407, Box 4865. Hervorhebung von mir. 74' Steinbock, Ende von Dachau, S. 29. '" Haulot, Lagertagebuch, S. 193 (Eintragung v. 29.4. 1945). 746 Tagebuch der Gruppe tschechischer Belegschaft des Blocks Nr. 8 und Nr. 14 des Konzentrationslagers Dachau von Frantizek Kadlec; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.629. 747 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 256 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). Vgl. auch ebenda, S. 254 und S. 259. Auf S. 257 schreibt Kupfer-Koberwitz: "Überall im Lager liegen die toten SS-Männer." 743
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den, wurden sofort niedergeschossen, ohne daß die Amerikaner auch nur den Anschein einer Untersuchung machten oder auch nur ein warnendes Wort sagten." An anderer Stelle schreibt Gun, die G.I.s hätten eine regelrechte ,Jagd auf alle Deutschen in SS-Uniformen" veranstaltet: "Nach einer Viertelstunde lebte nicht ein einziger von Hitlers Henkersknechten mehr im Lager."748 Die amerikanischen Morde an deutschen Kriegsgefangenen nach der Befreiung Dachaus sind in allen ihren Einzelheiten nicht mehr aufzuklären. Daß sie geschehen sind, unterliegt keinem Zweifel, wie sie genau geschehen sind und wie viele Gefangene, Soldaten und Lagerwachen diesen Exekutionen insgesamt zum Opfer gefallen sind, muß offenbleiben. Immerhin hat der im Jahre 1986 publizierte Bericht von Howard L. Buechner (im Frühjahr 1945 26 Jahre alt und als junger Arzt Angehöriger des Stabes des 3. Bataillons von Oberstleutnant Felix L. Sparks 749 ) weiteres Licht in das Geschehen gebracht, auch wenn diese Darstellung die Zahl der Exekutierten 480 Mann! - wahrscheinlich übertreibt und als Haupttäter möglicherweise zu Unrecht einen 1977 verstorbenen ehemaligen Offizier des 157th Regiment vorstellt. Die Veröffentlichung der von manchen Veteranen dieser Einheit leidenschaftlich bestrittenen Version Buechners 750 führte immerhin dazu, daß Lieutenant Colonel Sparks 1990 die Tötung von zwölf deutschen Kriegsgefangenen durch einen kopflosen 19jährigen Gefreiten seines Bataillons einräumte, eine Tatsache, die er bis dahin niemals öffentlich erwähnt hatte. 751 Als Tatort bezeichnet Sparks (der außerdem schreibt, die Zahl der insgesamt - also auch im Gefecht - getöteten deutschen Soldaten liege "so gut wie sicher" nicht über fünfzig) dieselbe Mauer auf dem Gelände des SS-Lagers wie Buechner. 1st Lieutenant Buechner, der wie alle an der Befreiung des Lagers Beteiligten von dem unbändigen Haß und Rachedurst berichtet, von dem viele seiner Kameraden nach dem Anblick der toten und sterbenden Häftlinge erfaßt wurden, war (nach seiner Version, die hier nicht ohne Vorbehalt wiedergegeben sei) am Nachmittag des 29. April 1945 mit einem weiteren Offizier und einem Fahrer im SS-Lager angekommen. Zu diesem Zeitpunkt war ein kleiner Teil der verbliebenen Wachmannschaften und Soldaten bereits in kurzen Gefechten gefallen, im Kampf von den Türmen geholt oder tatsächlich auf der Flucht erschossen worden. Sehr viel mehr deutsche Soldaten und Wachen sollen bis dahin bereits von den Männern vor allem der 45., aber auch der 42. Division niedergeschossen worden sein 752 , nachdem sie sich ergeben hatten und auf eine Behandlung als Kriegsgefangene hätten hoffen dürfen. Mehrere von Buechner mitgeteilte Äußerungen von beteiligten G.I.s wie "wir schossen auf alles, was sich bewegte", "wir erwischten all die Bastarde", "wir töteten jeden SS-Mann in Da'48 749
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Gun, Stunde der Amerikaner, S. 21 und S. 60. Buechner, Dachau. Ein Jahr zuvor erschien die Darstellung von Abzug, Vicious Heart, insbes. S. 92 H., in der auf S. 93 von 122 exekutierten deutschen Kriegsgefangenen gesprochen wird. Vgl. neben dem Sparks-Bericht vom Januar 1990 sein Schreiben an mich v. 22. 10. 1991, sein Schreiben an das VFW Magazine, Kansas City, v. 30. 12. 1987 oder das Schreiben von Bert V. Edmunds, seinerzeit Führer der Company C des 3rd Battalion, an Sparks v. 23.7. 1990; Kopien in meinem Besitz. Die Version seines Berichts "Dachau and Its Liberation" v. 20. 3. 1984, die ansonsten weitgehend mit der Fassung vom Januar 1990 identisch ist, enthält noch nichts über Tötungen deutscher Kriegsgefangener; HZ-Archiv, ZS 2350. Vgl. die Berechnungen Buechners, Dachau, S. 96 H., zur Gesamtstärke der Wachen und Soldaten auf dem Lagergelände zum Zeitpunkt der Befreiung sowie die widersprüchlichen Zahlen der bis zu seiner Ankunft im Lager um 14.35 Uhr ermordeten deutschen Wachen und Soldaten. Die folgenden Zitate ebenda, S. 98.
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chau", die genau zu dem aus anderen Quellen Bekannten passen, dürften wohl wirklich gefallen sein. Doch diese Blutorgie soll angeblich nur der Auftakt gewesen sein. Das eigentliche Massaker habe zwischen 14.45 Uhr und 14.53 Uhr an einer langen Mauer nahe des Revierbereichs am Westrand des SS-Lagers stattgefunden - ebenda, wo laut Sparks die zwölf deutschen Soldaten niedergeschossen wurden. Bataillonsarzt Buechner war eben zehn Minuten auf dem Areal, so schreibt er, als er in seiner unmittelbaren Nähe Maschinengewehrfeuer vernahm: "Die Feuerstöße schienen nicht mehr als eine Minute zu dauern. Stille folgte, und dann kam, in unregelmäßigen Abständen, der dumpfe Knall, der für 45er Pistolen so charakteristisch ist."753 Er sei zunächst überrascht gewesen, daß die Scharmützel auf dem Lagergelände noch immer nicht vorüber waren, und habe versucht, sich selbst ein Bild von den Kämpfen in seiner Nähe zu machen. Um eine Ecke kommend, sei er vor einer ungeheuerlichen Szene gestanden, im Zentrum sein 1977 verstorbener Kamerad 1st Lieutenant Jack Bushyhead, in seiner Nähe einer oder mehrere Soldaten mit einem Maschinengewehr. Unten an der langen Wand aus Ziegel und Zement hätten - das zeigt auch das erwähnte Foto in der Unit history der 45. Division - reihenweise deutsche Soldaten gelegen, "einige tot, einige sterbend, manche, die sich möglicherweise tot stellten. Drei oder vier Insassen des Lagers, in gestreifter Kleidung, jeder mit einer 45er Pistole in der Hand, gingen die Reihe von vielleicht 350 daliegenden Soldaten entlang. Während sie die Reihe passierten, schossen sie systematisch einen jeden ihrer ehemaligen Peiniger, der noch am Leben war, in den Kopf."754 Kurz darauf seien drei von Buechners Kameraden und ein weiterer Offizier am Ort des Geschehens eingetroffen. Als Buechner auf Bushyhead755 zuging und ihn fragte, warum er dieses Massaker angerichtet habe, habe der Executive Officer der I Company des 3. Bataillons ihm zur Antwort gegeben: "Doktor, sind Sie beim Krematorium gewesen? Haben Sie die Gaskammer gesehen? Haben Sie die Güterwaggons gesehen?" Wie konnte es zu dieser amerikanischen Mordaktion am Tage der Befreiung des Konzentrationslagers kommen, die zwar nicht das einzige 756, aber wahrscheinlich das schwerwiegendste Kriegsverbrechen von Angehörigen der U.S. Army während der '53 Buechner, Dachau, S. 86. Über nach der Befreiung wiederholt aufflammende "Schießereien" auf dem La-
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gergelände berichten, freilich unspezifiziert, mehrere Häftlinge. Vgl. die erwähnte Schilderung im Tagebuch des tschechischen Häftlings Frantizek Kadlec (Eintragung v. 29.4. 1945); Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.629. Vgl. auch die Schilderung des Häftlings Otto Schiftan "Die Befreiung des KZ. Dachau" v. 27.4. 1946; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1l.675. Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 40. Steinbock, Ende von Dachau, S. 28 f. Rost, Goethe in Dachau, S. 242 f. (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 209 f. (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). Buechner, Dachau, S. 86. Die Zahl der im Zuge dieser Erschießungen Ermordeten gibt Buechner, S. 99, mit 346 an. Das folgende Zitat eben da, S. 87. Zu 1st LI. Jack Bushyhead, der als Träger des Silver Star in der History of the 157th Infantry Regiment, S. 185, aufgeführt ist, gibt Buechner, Dachau, S. 77ff., folgende biographische Daten: Cherokee-Abstammung, geb. am 18. August 1919 in der Nähe von Grove/Oklahoma, 1940 eingezogen, Teilnehmer an der Landung am "Omaha"-Beach in der Normandie im Juni 1944. Als 1st Lieutenant Angehöriger der E Company, 2nd Battalion, 157th Infantry Regiment, 45th ("Thunderbird") Infantry Division seit deren verlustreichen Kämpfen bei Reipertsweiler im Unterelsaß Mitte Januar 1945. Danach Executive Officer der I Company, Feldzug durch Unter- und Mittelfranken und Oberbayem im April 1945, 1947/48 Dienst bei den amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, 1950 aus gesundheitlichen Gründen Abschied vom Militärdienst, danach Geschäftsmann, 1970 Pensionierung; Rcpresentative to the Cherokee Nation Council in Delaware County; seit 1952 verheiratet, 10 Kinder; gest. am 25. 12. 1977 in Fayetteville/Arkansas. Nach 1945 sind eine Reihe angeblicher oder tatsächlicher Gefangenenerschießungen durch amerikanische Einheiten (vor allem im April 1945 in Süddeutschland) bekanntgeworden. Anmerkungen dazu unten in diesem Kapitel.
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Besetzung Deutschlands 1944/45 gewesen sein dürfte? Recht bald nach der Invasion, während der Kämpfe in Nord- und Südfrankreich, waren die meisten G.I.s normalerweise bereits irgendwann einmal mit der Tatsache konfrontiert, daß Wehrmachts- und vor allem Waffen-SS-Soldaten (denen ohnehin ein übler Ruf vorauseilte) sich bei ihrem Rückzug viele Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung hatten zuschulden kommen lassen. Das allein hätte die Einstellung vieler amerikanischer Soldaten freilich kaum derart verhärten können, wie das während der Ardennen-Offensive Ende 1944 geschah, als Soldaten der 1. SS-Panzer-Division "Leibstandarte Adolf Hitler" und andere Einheiten von Sepp Dietrichs 6. SS-Panzer-Armee - nicht nur während des berüchtigten Massakers bei Malmedy - über 300 Kriegsgefangene und mindestens 100 belgische Zivilisten ermordeten. 757 Vor allem nach der Rhein-Überschreitung wurde den Amerikanern immer deutlicher bewußt, zu welchen Brutalitäten das NSRegime nicht nur gegenüber den alliierten Kriegsgefangenen 758 , abgesprungenen Piloten der Air Force, sondern auch gegenüber den Häftlingen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie gegenüber den Überlebenden seiner rassistischen Vernichtungspolitik fähig war; der eigentliche Schock aber kam auch für diejenigen Soldaten, die damit noch keine persönlichen Erfahrungen hatten machen müssen, als die Bilder aus den Lagern Ohrdruf, Dora-Mittelbau, Buchenwald, Bergen-Belsen oder Flossenbürg durch die Zeitungen der Army und die Weltpresse gingen. "Die SS" war nun definitiv zum Synonym für den verbrecherischen Tiefpunkt der Menschheit geworden. Hinzu kamen sowohl bei der 42. Infanteriedivision (in Unterfranken) wie insbesondere auch bei der 45th Infantry Division sehr verlustreiche Kämpfe Anfang April 1945, als der eigentliche Krieg an sich schon vorüber war und die meisten anderen Verbände weitgehend unbehindert in das Innere des Reiches vorstoßen konnten. Ganz besonders schwere Verluste erlitt bei Aschaffenburg das 157. Infanterieregiment1 59 , dessen 3. Bataillon unter Oberstleutnant Sparks allein viele Dutzend Gefallene hatte. Dieser ganz unerwartete und schmerzliche Rückschlag war ebenfalls keine Erfahrung, in deren Licht die schockierenden "Entdeckungen" in Dachau vielleicht besonnener hätten hingenommen werden können, als es am 29. April 1945 dann tatsächlich geschah. Daß das, was die Soldaten der I Company bei ihrer Ankunft im Lager dann vorfanden, ausgereicht hätte, auch jeden anderen Menschen in Wut und Rachedurst und zu Vergeltungsaktionen zu bringen, bedarf ebensowenig der Erwähnung wie ein mögliches, etwa in Lebenslauf und Einstellung eines Jack Bushyhead zu suchendes besonderes Tatmotiv. Es mag sein, daß sich Häftlinge, die jetzt - nur zu verständlich - auf Lynchjustiz aus waren, und Soldaten, die keinen Grund sahen, die von ihnen Befreiten daran zu hindern oder sich selbst an diesem Tag irgendwelche Selbstkontrolle aufzuerlegen, gegenseitig aufgeschaukelt und sich gegenseitig zu Mord und Totschlag animiert haben. Es mag auch sein, daß mancher G.I. sich durch die kleineren Schießereien, durch die vor den Erschießungen gegebene Kampfsituation bei seinem Tun genügend gedeckt '" Vgl. IV/I. 758 Zu den alliierten Reaktionen auf die Behandlung der amerikanischen und britischen Kriegsgefangenen in Deutschland vgl. EUCOM, Ramp's: The Recovery and Repatriation of Liberated Prisoners of War, Frankfurt 1947; IfZ-Archiv, Fg 38/11. 759 Vgl. Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 764 ff.
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glaubte, und es mag ebenfalls sein, daß die gefangenen Wehrmachtssoldaten und SSMänner - wie der Militärpfarrer des 3rd Battalion Leland L. Loy selbst beobachtet hatte 760 - ein ausgesprochen arrogantes Benehmen an den Tag legten und damit bei den amerikanischen Soldaten den letzten Impuls zu dem Dachauer Massaker auslösten. Von besonderer Tragik ist freilich, daß die allermeisten Ermordeten erst wenige Tage vor der Befreiung nach Dachau verlegt worden waren und mit ihrem Tod die Schuld anderer büßen mußten. Das ist den Soldaten des 157th Infantry Regiment am 29. April 1945 kaum bewußt gewesen. Es muß aber zweifelhaft bleiben, ob die Amerikaner den deutschen Soldaten und Wachmannschaften ihr Schicksal erspart und dieses Kriegsverbrechen an der Stätte tausendfachen Todes nicht begangen hätten, wenn sie besser gewußt hätten, was sie tun. Als das Morden vorüber war, legten sich (wie es aussieht) die über diese Racheorgie erschrockenen oder mindestens verlegen gewordenen vorgesetzten Offiziere und die zuständigen Army-Dienststellen die Frage vor, welche Konsequenzen nach der Untat ihrer Soldaten zu ziehen seien. Zunächst hat es offenbar Versuche gegeben, die Angelegenheit noch an Ort und Stelle zu vertuschen, indem nämlich erwogen wurde, die Leichen der Exekutierten an verschiedene Stellen des Lagers zu schaffen und so den Eindruck zu erwecken, die Deutschen seien im Kampf gefallen?61 Dieser Gedanke soll dann aber rasch wieder fallengelassen worden sein, vielleicht, weil einige Soldaten bereits Aufnahmen von den Erschießungen gemacht hatten. So blieb nichts anderes übrig, als eine amtliche Untersuchung einzuleiten. Zu einer Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen die beteiligten Soldaten des 3rd Battalion ist es aber nie gekommen. 762 Auch ein tatsächlich begonnenes Ermittlungsverfahren gegen vier Offiziere (darunter Felix L. Sparks, Jack Bushyhead, Howard A. Buechner) und mehrere Soldaten wurde eingestellt. Das soll nach übereinstimmenden Aussagen von Sparks 763 , Buechner764 und anderen Beteiligten einige Zeit nach der Kapitulation auf persönliche Intervention General Pattons geschehen sein. Der habe eines Tages sämtliche Offiziere, die an den kriegsgerichtlichen Ermittlungen beteiligt waren, zu sich befohlen; alle Dokumente und Fotografien, derer sie in dieser Sache habhaft geworden waren, hatten sie zu dieser Besprechung mitzubringen: "Nachdem er sicher war, daß niemand etwas zurückbehalten hatte", beschreibt Buechner die Szene bei Patton, "steckte er alle Papiere in einen metallenen Papierkorb, verlangte ein Feuerzeug und hielt persönlich die Flamme an die Dokumente."765
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Siehe die Aussage von Leland L. Loy v. 13.1. 1986, in: Buechner, Dachau, S. 76. Vgl. auch ebenda, S. 101 und S. 106. So ebenda, S. 117. Auf Anfrage erklärte die Legal Services Agency of the Judge Advocate General, gegen Offiziere oder Soldaten des 157th Infantry Regiment hätten keine Verfahren wegen eines Vergehens oder Verbrechens am 29. April 1945 stattgefunden. Brief an den Autor v. 30.11. 1991. Telefonisches Gespräch des Verfassers mit Felix L. Sparks am 22. 10. 1991. Siehe hierzu das Kapitel "General Patton, The Court Martial Charges and The Cover Up" bei Buechner, Dachau, S. 117 ff. Die Darstellung der Intervention Pattons eben da, S. 119. Darstellung, wie sie Bushyheads Angehörige Buechner am 22.2. 1986 gegeben haben sollen. Vgl. Buechner, Dachau, S. 119. Eine ganz ähnliche Szene beschreibt Felix L. Sparks, nach dessen Bericht die ganze Untersuchung von dem frustrierten General Linden ins Rollen gebracht worden sein soll, in beiden Versionen seines Berichts "Dachau and Its Liberation". Im Falle von Sparks soll es angeblich um den erwähnten Zwischenfall gegangen sein, bei dem dieser Linden mit vorgehaltener Pistole zwang, das Lagertor zu verlassen. Es bleibt freilich der Verdacht, daß es bei der kriegsgerichtlichen Untersuchung gegen Sparks in
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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland
Da die Dachauer Morde (vielleicht in der geschilderten Weise) vertuscht, jedenfalls aber nicht gerichtlich verfolgt worden sind und dies nur mit der Rückendeckung von ganz oben geschehen konnte, wird man annehmen dürfen, daß General Patton, der nach einer Besichtigung des Lagers Ohrdruf und dann Buchenwaids zutiefst schokkiert gewesen war766 , ein gewisses Maß an Verständnis für die Selbstjustiz seiner Soldaten hatte und daß ihm wohl auch klar gewesen sein wird, daß der U.S. Army 1945 nicht daran gelegen sein konnte, ein derartiges Kriegsverbrechen der eigenen Soldaten publik werden zu lassen - ganz gleich, wie himmelweit es sich in seinen Motiven und Dimensionen auch von den nationalsozialistischen Ausrottungsgewohnheiten unterscheiden mochte. Was den Kriegsruhm der 45. Infanteriedivision und seines 157th Infantry Regiment schließlich anbelangt, so mag es gut sein, daß bei der Army großes Interesse daran bestand, lieber die Männer der 42. ("Rainbow") Division als Befreier Dachaus nach vorne zu schieben und zu feiern, die am 29. April 1945 zwar ebenfalls in Dachau waren, aber viel weniger zu verbergen hatten als ihre Kameraden von "Thunderbird". Die Exzesse bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau waren wohl das schwerwiegendste, aber nicht das einzige Kriegsverbrechen, das von amerikanischen Soldaten auf deutschem Boden begangen worden ist. Die Army selbst ist Hinweisen und Gerüchten dazu offenbar weder 1945 noch später nachgegangen, so daß dieses düstere Kapitel wohl nie zweifelsfrei geklärt und der Aura eines zwielichtigen Lieblingsthemas apologetischer Autoren entkleidet werden kann. Es hat den Anschein, als richteten sich solche Taten vorwiegend gegen Soldaten der Waffen-SS und als seien sie seit der verantwortungslosen Werwolfpropaganda von Goebbels Anfang April 1945 und der etwa gleichzeitig einsetzenden Flut von Berichten und Bildern aus den befreiten deutschen Lagern häufiger aufgetreten als zuvor. Zugleich vermitteln die in der Regel nicht hieb- und stichfest zu verifizierenden Anhaltspunkte den Eindruck, als seien Kriegsverbrechen dort vermehrt geschehen, wo die Amerikaner in den letzten Kriegstagen - wie zwischen Main, Neckar und Jagst - noch unerwarteten Widerstand und dabei zahlreiche besonders "unnötige" Verluste hinzunehmen hatten. 767
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Wahrheit auch um die Tötung deutscher Kriegsgefangener am 29. April 1945 gegangen ist. Auch Buechner ist dieser Ansicht; Telefonat mit dem Verfasser am 31. 10. 1991. Vgl. seine Tagebucheintragung v. 11. 4. 1945, in: Patton-Papers, S.683. Siehe auch ebenda, S. 685 ff. und S.692. Zur Goebbelschen Werwolf-Agitation sowie zu den Kämpfen zwischen Main und Neckar vgl. VII/4. Besondere Aufmerksamkeit widmete alliierten Übergiffen und Kriegsverbrechen gegen deutsche Soldaten und Zivilisten seit jeher das Veteranen- und Verbandsschrifttum der ehemaligen Soldaten der Waffen-SS. Aus der einschlägigen Literatur vgl. z.B. Erich Kern, Deutschland im Abgrund. Das falsche Gericht, Göttingen 1963. Ders., Verbrechen am deutschen Volk, Göttingen 1964. Spiwoks, Stöber, Endkampf. Hans Stöber, Die Eiserne Faust. 17. SS-Panzergrenadier-Division "Götz von Berlichingen", Neckargmünd 1966. Helmut Günther, Die Sturmflut und das Ende. Mit dem Rücken zur Wand. Geschichte der 17. SS-Panzergrenadier-Division "Götz von Berlichingen", München 1991. Eine Auswertung solchen Schrifttums und von Hinweisen, soweit sie nicht apriori abwegig erschienen, aus Veteranenzirkeln (Unterlagen im HZ, Material Henke), aber auch von Publikationen wie Blumenstock, Einmarsch, und lokalem Schrifttum bzw. Aktenmaterial (allerdings nur für Süddeutschland) erbrachte 92 lokale Anhaltspunkte in Deutschland, wo bei allem prinzipiellen Vorbehalt - amerikanische Kriegsverbrechen an deutschen Soldaten geschehen sein könnten. Im Falle der Tötung von möglicherweise 20 kriegsgefangenen SS-Soldaten in der Gemeinde Jungholzhausen im Landkreis Schwäbisch Hall am 15./16. April 1945 war eine Verifizierung anhand des Evangelischen Gemeindeblattes für Württemberg von Juli 1951 (Arbeitsbeilage Orlach-Jungholzhausen), eines Elternbriefes und mehrer Zeugenaussagen mit Unterstützung des Kreisarchivars Dr. Hans Müller möglich. Dort dürfte tatsächlich die Ermordung von Kriegsgefangenen stattgefunden haben; die Zahl der Getöteten
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Im Konzentrationslager Dachau brachen sich an jenem 29. April 1945 und in den Tagen nach der Befreiung auch bei den Häftlingen Rachegefühle und Vergeltungssucht Bahn. Nach einem Wort des Rabbiners David Max Eichhorn, der am Nachmittag des 30. April das Konzentrationslager besuchte, flossen nach der Ankunft der Amerikaner viele "Tränen des Hasses", fiel eine unbekannte Zahl von Wachen, Kapos und Zuträgern der Selbstjustiz der Geretteten zum Opfer. "Wir standen beiseite", schreibt Eichhorn, "und schauten zu, als die Insassen des Lagers ihre ehemaligen Bewacher aufspürten, von denen sich viele irgendwo im Lager zu verbergen suchten. Wir standen beiseite, als diese Wachen zu Tode geprügelt wurden, so schwer geschlagen, daß ihre Körper aufplatzten und die Eingeweide heraustraten. Wir schauten mit weniger Empfinden zu, als wenn ein Hund geprügelt worden wäre. In Wahrheit, so kann gesagt werden, fühlten wir gar nichts."768 Soldaten beobachteten, wie befreite Häftlinge in Raserei mit Fäusten und Steinen über Wachmänner herfielen, einige von ihnen mit amerikanischen Waffen erschossen und in die Wassergräben warfen 769 ; nach einer Schätzung der 42. Division sollen in den ersten 24 Stunden nach der Befreiung "wenigstens 25, vielleicht auch 50 SS-Männer" auf diese Weise umgebracht worden sein. 77o Die Jagd auf die Folterknechte von gestern, die häufig versuchten, in Sträflingskleidern unterzutauchen, muß einige Tage lang angehalten haben. Jedenfalls beobachtete Marcus J. Smith, Medical Officer im Displaced Persons Team 115, das am 30. April in Dachau ankam 771, wie Häftlinge "beinahe täglich SS-Leute und Kollaborateure" aus ihren Verstecken holten. Noch am vierten Tag nach der Befreiung fielen ihm beispielsweise mehrere beieinanderstehende Soldaten auf: "Sie haben einen Kreis gebildet und schauen drei blaugestreiften Insassen zu, wie sie zwei schreiende grün gekleidete Bewacher - Kollaborateure - schlagen und treten. Wir beobachten das ein paar Minuten lang und setzen dann unseren Weg fort. Ungefähr vier Stunden später kommen wir zurück. Der Racheakt dauert noch immer an; die verschwollenen, grün und blau geschlagenen Opfer sind noch am Leben, schreien aber nicht mehr, weil sie ihren Atem brauchen, um mit Mühe nach Luft zu schnappen. Die Insassen fluchen und treten nach wie vor. Die amerikanischen Soldaten - in der Menge ist ein hoher Infanterieoffizier - schauen noch immer schweigend ZU."772 Natürlich beteiligten sich nur einige der einstigen Gefangenen an solchen weiß Gott verständlichen Quälereien und an der oft beschriebenen, unter dem "Donnerlachen der ehern. Häftlinge"773 vollführten Demütigung des berüchtigten Rapportfüh-
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ließ sich nicht mehr ermitteln. Ein Delinquent, der die Erschießung überlebte, weil er sich - unverletzt tot stellte, bestätigte den Vorfall in einem Telefonat am 14.8. 1990. "Dachau", Bericht des Rabbiners David Max Eichhorn über einen Besuch im befreiten Lager am 30. 4. 1945, geschrieben in der ersten Maiwoche; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 479. Zusammenfassender Bericht des 222nd Infantry Regiment zu den Operationen im April 1945; NA, RG 407, Box 4865. Hektographiertes Flugblatt der 42nd Inf.ntry Division v.!. 5. 1945; zit. nach Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 21. Vgl. XV Corps, G-5, "Log for Dachau - (Major Gustav M. Berg)" v. 30.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3.
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Smith, Harrowing of Hell, S. 132f. Frantizek Kadlec, "Tagebuch der Gruppe tschechischer Belegschaft des Blocks Nr. 8 und Nr. 14 des Konzentrationslager Dachau" (Eintragung v. 3. 5. 1945); Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.629. Vgl. auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 44 ff. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 285. Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 45.
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rers Böttger, der danach den Amerikanern übergeben, in den Dachauer Prozessen dann zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde. Mancher Befreite, der vielleicht weniger zu erleiden gehabt hatte oder, wie der Geistliche Karl Adolf Gross, aus innerer Überzeugung "nichts von der zähnefletschenden Engstirnigkeit"774 der Selbstjustiz wissen wollte, war enttäuscht und entsetzt über solche Wildheit. Andere Häftlinge wollen von Revanche-Exzessen überhaupt nur wenig bemerkt haben ("Exzesse sind fast nicht vorgekommen ... "775), zogen es vor, nicht darüber zu sprechen, oder stilisierten die Reaktion auf die Befreiung beinahe zu einer Art Sieg von Humantität und Gesittung ("Das Gefühl der Zusammengehörigkeit regiert die Gemüter und läßt der Rachsucht keinen Platz."776). Ein solcher Triumph des Edelmutes war die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gewiß nicht gewesen, andererseits nahmen Lynchjustiz und Rache am 29. April 1945 nur bei einigen Überlebenden Denken und Handeln ganz gefangen. An diesem Sonntag überstrahlte, wie es der Häftling Otto Schiftan sagt, ein Gedanke und ein Gefühl alles andere: "Wir zählten wieder zur menschlichen Gesellschaft!"777 Und so war der Tag der Befreiung für die beinahe 32.000 Überlebenden im Dachauer Stammlager zuallererst ein Tag des Überschwanges und der Dankbarkeit, für die Amerikaner ein "irres Schauspiel"778. Als der Ruf erscholl, "Die Amerikaner sind da!", war das ganze Lager in Bewegung geraten. "In einem einzigen, brüllenden, jubelnden, langanhaltenden Schrei entlud sich die aufgespeicherte Spannung der letzten Stunden, und Tausende stürzten auf die Amerikaner zu: lachend, weinend, rufend ...", schrieb Nico Rost in sein Tagebuch. 779 Einige Lagerinsassen "liebkosten und umarmten die amerikanischen Truppen, küßten den Boden vor ihren Füßen und trugen sie auf den Schultern herum ... Zerlumpte ausgemergelte Männer drängten haufenweise zum Tor, weinten, brüllten, kreischten ,Lang lebe Amerika!"