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German Pages 436 [452] Year 1963
LIEDE • DICHTUNG
ALS
SPIEL
Der zweite Band behandelt die unsinnigen Zeichen, Gattungen, Gesellschaften und Sammlungen als Technik des Spiels
A r d i i v - N r . 43 39 63/1
© C o p y r i g h t 1963 by W a l t e r d e G r u y t c r 8c C o . , v o r m a l s G . J . Göschcn'sche V e r l a g s h a n d l u n g — J . G u t t c n t a g . V e r l a g s b u c h h a n d l u n g — G e o r g R e i m e r — K a r l J . T r ü b n e r — V e i t & C o m p . — P r i n t c d in G e r m a n y — Alle R e c h t e des N a c h d r u c k s , der p h o t o m e c h a n i s c h c n W i e d e r g a b e , d e r H e r s t e l l u n g v o n P h o t o k o p i e n u n d M i k r o f i l m e n , auch a u s z u g s w e i s e , v o r b e h a l t e n . — S a t z u n d D r u d e : T h o r m a n n 6c G o e t s d i , B e r l i n 44
Maria Elisabeth Liede geb. Bäckert (1893-1954) in memoriam
DANK W a s dieses Buch P r o f . Dr. Walter Muschg verdankt, erkennt jeder, der mit dessen Arbeiten v e r t r a u t ist. Prof. Dr. H a r a l d Fuchs überprüfte freundlicherweise die altphilologischen Teile des Anhangs und steuerte manchen Hinweis bei. E m m y W e g m a n n - M o r a t h befreite mich von mühseliger Schreibarbeit. Im Verlag W a l t e r de Gruyter, insbesondere in D r . Annelore N a u m a n n , f a n d ich hochherzige und sorgfältige Betreuer des Werks. N i e aber w ä r e diese Arbeit zustande gekommen ohne die Opfer meiner Mutter, die den Abschluß nicht mehr erleben durfte, nie ohne die Opfer meiner Frau. Ihnen allen d a n k e ich herzlich.
INHALT I. U M G R E N Z U N G D E S T H E M A S Unsinn als Wort und Begriff Unsinnspoesie und Sprache Unsinnspoesie und Lebensgefühl Die Unsinnspoesie und das Komische Die Unsinnspoesie als ästhetische Gestalt des Metaphysischen
4 7 9 11 17
II. D I E G E I S T I G E N G R U N D L A G E N D E S S P I E L S Einleitung A.
23
DAS K I N D L I C H E SPIEL
1. Das dämonische Spiel
27
Mörikes Wispeliaden
27
2. D a s kosmische Spiel Paul Scheerbart
3. Das göttliche Spiel Gilbert Keith Chesterton
B.
73 73
93 93
D E R T R A U M V O N D E R B E F R E I U N G D E S M E N S C H E N IM S P I E L
1. Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
113
a) Friedrich Schlegels Aufsatz „Über die UnVerständlichkeit" und die romantische Ironie 113 b) Der Surrealismus und Kurt Schwitters' Merz 124 c) Karl Valentin 141
2. Höherer Blödsinn und Nonsense a) Der höhere Blödsinn Ludwig Eichrodt 147 — Scheffel 151 b) Der Nonsense Edward Lear 165 — Lewis Carroll 172
3. Die Zerstörung im Dienst einer neuen Ordnung Einleitung a) Der italienische Futurismus b) Wladimir Majakowski c) Der Aktivismus d) Exkurs über D a d a als Gesamtbewegung e) Hugo Balls Anarchie f) Der Berliner Dadaismus g) Der Surrealismus
145 145 157
205 205 206 208 212 216 224 229 245
C. DAS SPIEL DER RESIGNATION Sprachskepsis und Mystik Einleitung Fritz Mauthner Christian Morgenstern Exkurs über »Eduards Traum" von Wilhelm Busch
248 248 254 273 350
D. DIE GRENZEN DES SPIELS 1. 2. 3.
Tristan Tzaras Blague H a n s A r p und der T o d D e r A u f s t a n d der Sprache
SCHLUSS- UND NACHWORT
355 365 400
It is better to speak wisdom foolishly, like the Saints, rather than to speak folly wisely, like the Dons. Gilbert Keith Chesterton
Weil es unleugbar viele N a r r e n gibt und alles Wirkliche vernünftig ist, so zieht der konsequente Denker den Schluß, daß auch die N a r r h e i t vernünftig sein müsse. Ludwig Bauer
Erstes M o t t o : „Es ist besser, Weisheiten in törichter Form zu sagen wie die Heiligen als Torheiten weise zu verkünden wie die [Universitäts-] Bonzen." G. K. Chesterton, G. B. Shaw, London John Lane 1910, Übersetzung Wien 1925, 17; zweites M o t t o : Ludwig Bauer, Die Übersdvwänglichen, Stuttgart 1836, II 39.
I Umgrenzung des Themas
Die vorliegende, — abgesehen von einigen Nachträgen — 1957 abgeschlossene Arbeit beschäftigt sich mit einer Art von Poesie, welche am R a n d e der Literatur und damit auch der Literaturgeschichte liegt. Die hier beschriebenen und gedeuteten Erscheinungen haben oft nur noch äußere Formen, etwa Vers und Reim, mit dem gemeinsam, was sonst zur Geschichte der Dichtung gehört. Deshalb haben sie bis jetzt zum größten Teil nicht einmal in den rein historisch-lexikographischen Beschreibungen Platz gefunden. Dies ist verständlich: die Literaturgeschichte als Geschichtsschreibung nimmt lieber unbedeutende Werke in Kauf, welche einen regelmäßigen und regelgerechten Ablauf der Literaturgeschichte erkennen lassen, als d a ß sie sich in die von mir aufgesuchten Grenzen der Dichtung wagt. Nach einer wesentlichen Erkenntnis der heutigen Literaturwissenschaft können sich jedoch an den äußersten Grenzen der Dichtung Bestrebungen enthüllen, welche in einer gemäßigteren Form, durch andere K r ä f t e gebändigt, auch in den bedeutenderen Werken eines Dichters oder einer Zeit eine Rolle spielen. „Ce sont les abus qui caractérisent le mieux les tendances." Es ist dabei ein Glücksfall, wenn solche extremen Erscheinungen in bisher meist wenig oder gar nicht beachteten Poesien bekannter Dichter auftreten oder wenn bedeutende Dichter ein besonderes Interesse f ü r solche Erscheinungen bekundet haben. Ich werde diese Fälle in den Vordergrund rücken. Ursprünglich wollte ich moderne Bewegungen wie Dadaismus und Surrealismus im Zusammenhang mit ihren Vorläufern deuten und sie von allen Modeschlagwörtern befreien. Der Gang der Arbeit hat die Akzente verschoben; sie ist in ein Gebiet vorgestoßen, in welchem die modernen Ismen nur als letzte Ausläufer gelten können, von denen aus sich freilich Ausblicke in neue Möglichkeiten der Dichtung öffnen. Die Vertreter der modernen Strömungen haben anderseits ihre Geisteskinder mit Ahnen zu legitimieren versucht, von deren Blut kaum mehr etwas in ihren Adern fließt. Sogar in der Literaturwissenschaft werden oft voreilige Schlüsse aus äußern Ähnlichkeiten auf innere Gleichartigkeit der Erscheinungen gezogen. Einige solche Irrtümer zu berichtigen, ist nicht die letzte Aufgabe dieses Buchs. So bin ich zu einer Geschichte der Unsinnspoesie gekommen, von der ich hier freilich nur einen Ausschnitt vorlege. Ich verzichte auf die Darstellung der ekstatischen Formen und beschränke mich selbst beim Spiel auf einige typische Vertreter. Ich kann ohnehin nicht mehr alles zur Geltung bringen, was die Ästhetik der verschiedensten Zeiten aus der Literaturgeschichte verbannt hat; d a f ü r fehlt mir die umfassende Kenntnis. Dieser Mangel zwingt mich auch sehr oft, auf die mir wesentlich scheinenden Darstellungen von Epochen und Dichtern zurückzugreifen, sodaß ich die Vorbehalte jedes einzelnen Spezialisten zu gei»
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wärtigen habe. Trotzdem wage ich es, diese Arbeit zu schreiben und nicht zu warten, bis ich auf jedem der angeschnittenen Gebiete Fachmann geworden bin: es liegt mir daran, die grundsätzlichen Probleme darzustellen. Die Einzeluntersuchungen haben nur vorläufigen Charakter. Ich begnüge midi mit Studien zur Unsinnspoesie, mit den Prolegomena zu einer Geschichte der Unsinnspoesie. Eine solche Geschichte ist für die Sprachgroteske wenigstens schon gefordert worden, wenn Hugo Schuchardt in seiner Rezension von Leo Spitzers Morgenstern-Studie zur Beurteilung des Dichters ein Zurückgreifen auf alle ähnlichen Erscheinungen verlangt. 1 Ich habe die Dichtungen, die mir zusammenzugehören scheinen, unter dem Begriff „Unsinnspoesie" zusammengefaßt. Der erste Bestandteil dieses Worts bedarf einer Begründung. Das Wort Unsinn trägt in seinem heutigen Gebrauch als Kraftwort einen Stempel der Mißachtung, der dem Inhalt der Arbeit nicht gerecht würde und den Leser in Versuchung führen könnte, sie in einen Zusammenhang mit den Werken jener Kunsthistoriker zu bringen, die sich unter dem Schlagwort „Verlust der Mitte" zusammengefunden haben, einer Neuauflage der These von der entarteten Kunst. 2 Eine kurze Betrachtung der Wortbedeutung und ihrer sprachphilosophisch-psychologischen Seite muß deshalb dem Wort seinen verächtlichen Beigeschmack nehmen. Unsinn als Wort und
Begriff
Ein Blick in das Grimmsche Wörterbuch zeigt, daß das heutige Wort, das auf etwa demselben Niveau wie Blödsinn, Blech oder Mumpitz steht, nur nodi einen schwachen Abglanz eines ursprünglich viel umfassenderen und wesentlicheren Bedeutungskreises bietet. 3 In diesem finden sich geistige Erkrankung, Bewußtlosigkeit, deliquium animi, Raserei, Wut, Erbitterung und Zorn neben der höchsten Narrheit; alles Erscheinungen, die zwar im unmittelbaren Eindruck nicht verständlich sind, sich unserm Verständnis jedoch öffnen, wenn wir nach den Motiven fragen, die hinter ihnen stehen. Die Aufklärung hat das Wort mit einem rationalistischen Einschlag belastet. Sie benützte es als Lieblingswaffe, um die Abwesenheit alles vernünftigen Verstandes bei ihren Gegnern lächerlich zu machen. 4 So verzeichnete noch 1833 Wilhelm Traugott Krug in seinem philosophischen Lexikon die Sinngedichte des Angelus Silesius unter dem Stichwort „Mystischer Unsinn". 5 Von diesem Beigeschmack hat sich das Wort nicht mehr befreien können; er lastet selbst auf der englischen „Nonsense Literature", nur wird er 1 H u g o Schudiardt, Christian Morgensterns groteske Gedichte und ihre Würdigung durch L. Spitzer, Lose Betrachtungen, Euphorion 22 (1915) 639 ff., Forderung 654. 2 besonders H a n s Sedlmayr, Verlust der Mitte, Salzburg 1948. 3 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854—1960, X I . 3 1393 ff. 4 so Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1774—1786, I V 1276. 5 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Auflage Leipzig 1832—1838, II 958.
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des
Themas
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dort durch das Verständnis des Engländers f ü r den Spleen abgeschwächt. Trotzdem haben wir nach reiflicher Überlegung für unsere Erscheinungen das Wort „Unsinnspoesie" gewählt. Man kann beobachten, daß verständige Betrachter der modernen Dichtung an den Grenzen der Sprache das Wort „Unsinn" umkreisen, es aber seiner verächtlichen Tönung wegen doch nicht zu verwenden wagen. Sie sprechen von „UnSinn" oder von „Ohne-Sinn". „Un-Sinn" spiegelt jedoch eine Vertiefung des Sinns nur vor, indem das Wort nach dem Muster von Heideggers Wortspielen durch den Bindestrich aus dem alltäglichen Gebrauch herausgehoben wird. Sobald wir uns über das Wesen des Unsinns im klaren sind, können wir uns die Bindestrichmethode zur Vortäuschung von Tiefsinn schenken. Ebensowenig sagt ,.Ohne-Sinn" mehr als Unsinn. In dem Satz: „Dada ist für den ,Ohne-Sinn* der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet", 6 täuscht sich H a n s Arp, wenn er Unsinn von Ohne-Sinn glaubt unterscheiden zu können. Der Ersatz von „un-" durch „ohn- u ist schon im 15. Jahrhundert als eine Art Volksetymologie in Wörtern wie „ungefähr — ohngefähr" sehr häufig, ohne daß sich daraus eine Änderung oder Vertiefung des Wortsinns ergeben hätte. 7 „Ohne-Sinn" sdieint eine Bildung Nietzsches zu sein, der Zarathustra die Worte in den Mund legt: „Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn". 8 Beide Wörter werden hier durchaus gleichbedeutend verwendet. Ohne-Sinn und Unsinn sind genau dasselbe. Andere mögliche, etwa aus der Linguistik oder der Phonologie entnommene Benennungen wie „asemantisch" usw. treffen nur einen Teil der Unsinnspoesien, ebenso Arps Unterscheidung von „non-sens logique" und „sans-sens illogique", die überdies mit „non-sens logique" das meint, was wir sonst Sinn nennen!" „Sinnlose Dichtung" in der Bedeutung „Dichtung, die frei von Wortsinn, des Wortsinns ledig ist" würde ebenfalls nicht f ü r alle Arten von Unsinnspoesie gelten, zudem den gleichen Mißverständnissen wie „Unsinnspoesie" ausgesetzt sein und wäre weniger praktisch zu verwenden als unser Begriff. Deshalb wählen wir „Unsinnspoesie". Es ist nicht einzusehen, warum Unsinn in dieser Zusammensetzung nicht seinen aufklärerischen, verurteilenden Beigeschmack verlieren könnte. Die Befreiung von jeder verächtlichen Tönung, die uns am Herzen liegt, gelingt noch besser, wenn wir den Begriff Unsinn mit der Sprachphilosophie und -psychologie anleuchten. Zwar ist die Mißachtung durch die Aufklärung auch hier nie ganz überwunden worden; auch der Philosoph ist versucht, mit „Unsinn" ihm unverständliche gegnerische Ansichten abzutun, selten findet sich der Standp u n k t Jean Pauls: „Ich habe Hochachtung für ieden Unsin, weil er von und in einem Menschen ist und weil ieder Unsin bei näherer Umleuditung Gründe ver6
H a n s Arp, Unser täglicher Traum, Zürich 1955, 50. D W b . X I . 3 Sp. 1 ff. 8 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil, Von der schenkenden Tugend 2, Werke hg. v. Alfred Baeumler, Kröner Leipzig o. J., I V 82. 8 Jean Arp, On my way, N e w York Wittenborn, Schultz 1948, 91. 7
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räth, die seine Annahme entschuldigen." 10 Dies mag daran liegen, daß der Begriff nie einer eingehenderen Untersuchung gewürdigt worden ist, da dem Philosophen naturgemäß an der Betonung des Sinnfaktors liegt. Schon allein die Vorsilbe „ u n " weist aber auf die Unsicherheit unserer Negationsbegriffe hin, geht ihre Bedeutung doch bis zur Verstärkung in Wörtern wie „Unmenge" usw. Wie jede Negation heißt audi „ u n " : „Ich will nicht. Ich kann nicht." Unsinn bedeutet so: „Mein Gehirn kann keinen Sinn hinter etwas finden". D a s ist jedoch eine Feststellung, die sich nur von einer bestimmten Ordnung des Denkens her treffen läßt. 11 Unsinn gehört als Einteilungsprinzip zu einer festen geistigen Ordnung. D a s Wort drückt einen Gegensatz aus, der letztlich in der Natur nicht existiert. Wo eine feste geistige Ordnung fehlt oder wo eine bestimmte geistige Ordnung zerstört werden soll, gibt es keinen „Sinn" mehr. Wenn wir so von Unsinnspoesie sprechen, wenn in gewissen Dichtungen der Leser keinen direkten Sinn, besonders keinen Wortsinn, finden kann, so ist diese •Negation nur eine scheinbare, von einer bestimmten geistigen Ordnung der Sprache ausgehende. Die Dichtung wird damit gut charakterisiert, aber nicht gewertet. Der Unsinn läßt sich in verschiedene Arten einteilen. Die einzige uns bekannte Arbeit über den Begriff, die Studie „Sinn und Unsinn" des Husserlschülers Walter Blumenfeld, 1 8 unterscheidet analog zu fünf Sinnes- fünf Unsinnsarten: semantischen, telischen, eidischen, logischen und Motivationsunsinn. Der Motivationsunsinn und der telische, der Zwedtunsinn, fallen für uns aus, da in dieser Beziehung der Dichter äußerst frei schalten und walten kann. Im Märchen von den drei Faulen verspricht der König dem faulsten seiner Söhne das Königreich, „ein offenbarer Hohn auf den Zwecksinn". 1 3 Audi der eidische, der Gestaltunsinn, kommt nur in den wenigen Fällen in Betracht, wo er sich an der Grenze des semantischen und des logischen Unsinns bewegt, wenn etwa bei Morgenstern ein Knie einsam durch die Welt geht und so ein in der Natur nur als Teil vorkommender Gegenstand zum Ganzen gemacht wird. D a f ü r spielt der eidische Unsinn in der bildenden Kunst eine umso größere Rolle. In der Dichtung herrschen der semantische und der logische Unsinn. Im semantischen Unsinn fehlt die Relation des Zeichens um Gegenstand. Es werden Zeichen verwendet, die überhaupt keinen Gegenstand bezeichnen, so in jeder Art von Lautdiditung. Es kann aber auch dem Zeichen der Relationscharakter zum Gagenstand bewußt genommen werden, so in den mannigfachsten Arten von Sprachspielereien bis zum Kalauer, wo Klang- oder Schriftbildähnlichkeit zum komischen Effekt dienen. Eng veri a Jean Paul, Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausgabe ed. Eduard Berend, Weimar bzw. Berlin 1927 ff., I I I . l N r . 327 S. 297. 11 A u f s schönste bestätigt dies neuestens für „un-" Walter Weiss, Die Verneinung mit „un-", Muttersprache 70 (1960) 335 ff. (mit Literatur), wenn er hervorhebt, daß „un-" selten ohne negative oder auch positive Wertbetonung erscheint und einen festen Erwartungshorizont voraussetzt (343). 1 2 Walter Blumenfeld, Sinn und Unsinn, München 1933. " ebda. 97.
Umgrenzung des Themas
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wandt mit dem semantischen und oft kaum von ihm zu trennen ist der logische Unsinn, bei dem einem Satz, einer Aussage jede Begründung fehlt. In dem durch Steinchal und Croce bekannt gewordenen Satz „Dieser runde Tisch ist viereckig" 14 scheint im ersten Augenblick der Grammatiker befriedigt, und nur der Logiker muß sich entsetzen. D a aber der runde und viereckige Tisch oder Lichtenbergs Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt, nicht vorstellbar, denkunmöglich sind, werden sie auch semantisch unsinnig; nur daß da in der Relation zwischen Zeichen und Gegenstand nicht vom Zeichen, sondern vom Gegenstand her Schwierigkeiten auftreten. N u n muß aber schon hier betont werden, daß der größte semantische oder logische Unsinn in unserer Arbeit offenbar einen Sinn hat, einen Sinn freilich, der außerhalb der Semantik oder der Logik liegt. Es wird eine unserer Aufgaben sein, solche semantisch oder logisch unsinnige Gebilde in der Geschichte der Poesie von einer andern Ebene, von der geistigen Haltung, vom Lebensgefühl her, aus dem heraus sie gedichtet wurden, sinnvoll werden zu lassen. Entscheidend ist für uns nicht der direkte Sinn, sondern der Anlaß. Das Stammeln des Zungenredners wird sinnvoll als Kundgabe Gottes, die Lautdichtung als musikalisches Spiel. Unsinnspoesie und Sprache Das Werkzeug des Dichters ist die Sprache. Der westafrikanische Neger kann diese für seine Zwecke wie ein nach Belieben bildsames Material formen. Uns bindet sie an ihre Gesetze, an die der Grammatik und die der Logik kleinerer Sinnzusammenhänge. N u r für die größern Sinnzusammenhänge, für den Inhalt allgemein, werden wir heute (im Gegensatz zu früheren Zeiten) prinzipiell die größte Freiheit zubilligen. Je größer die Sinnzusammenhänge sind, umso schwerer läßt sich die Frage nach Sinn und Unsinn beantworten; sie erübrigt sich ganz, wo ein an sich unsinniges Geschehen wie Kafkas „Verwandlung" zum großen Symbol oder zur Allegorie, also sinnvoll wird. Wir begnügen uns in dieser Arbeit mit den kleinsten Wort- und Satzeinheiten, wobei wir uns aber einige eindeutige Ausnahmefälle vorbehalten. Der Sprachpsychologe definiert die Sprache als jene Kommunikationsform, durch die zum Zweck gegenseitiger Verständigung — mit Hilfe einer Anzahl artikulierter und in verschiedenen Sinnverbindungen auftretender symbolischer Zeichen — Forderungen und Wünsche zum Ausdruck gebradit, Tatbestände der innern und äußern Wahrnehmung angezeigt und Fragen zur Veranlassung von Mitteilungen gestellt werden. 15 Das eigentliche Wesen der Sprache liegt in ihrer Funktion als Werkzeug der Mitteilung, ihrer Bericht- und Kundgabefunktion. Deshalb gelangt Friedrich Kainz zu der Formulierung: „Die Sprache ist ein 14
H. Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie, ihre Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander, Berlin 1855, 220; Benedetto Croce, Dieser runde Tisch ist viereckig, Kleine Schriften zur Ästhetik, Tübingen 1929, I 223 ff. 15 G. Rivesz, Ursprung und Vorgeschichte der Sprache, Bern 1946, 151.
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soziales O r g a n , eine individuelle Sprache gibt es nicht." 1 8 M a g ein solcher Satz auch, aus dem ihn d e u t e n d e n u n d einschränkenden Z u s a m m e n h a n g herausgerissen, zu scharf p o i n t i e r t erscheinen, er drückt einen entscheidenden G e d a n k e n aus u n d ermöglicht uns, zu erklären, was mit d e m Begriff v o n G r e n z e n der Sprache gemeint ist. W o h l k a n n der Dichter den R a h m e n der konventionellen Sprache sprengen, die U m f o r m u n g der K o n v e n t i o n a l s p r a d i e ist sogar ein K r i t e r i u m der literarischen W e r tung. Sie zieht auch eine U m f o r m u n g des Weltbildes nach sich, wie schon Wilhelm v o n H u m b o l d t 1 7 u n d in neuerer Zeit besonders Ernst Cassirer 1 8 b e t o n t h a t . D a m i t geht aber d e r Dichter nidit über die oben gegebene Definition d e r Sprache hinaus. D a s geschieht erst, wenn die Sprache nidit mehr K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l ist, d. h. in einer Ausdrucksform, die mit der Sprache eigentlich nur noch Laute, W ö r t e r u n d Sätze gemeinsam hat. Diese äußern Mittel stammen aus d e m Lexikon einer bestimmten Sprache, werden aber in Zusammenhängen, die ihrer Bedeutung unangemessen sind, unter A u f h e b u n g des eigentlichen Sinns der W ö r t e r v e r w e n d e t . D i e Sinnzusammenhänge ergeben sich nicht mehr aus dem eigentlichen Bedeutungsträger, sondern aus der Sinnbeziehung zur k o n k r e t e n geistigen Situation des Sprechenden, was w i r später die geistige H a l t u n g , das Lebens- o d e r W e l t g e f ü h l des Dichters nennen werden. Für Blumenfeld ist übrigens das Vermögen, b e w u ß t vollkommenen Unsinn erzeugen zu können, ein Zeichen von Intelligenz, u n d z w a r mit d e r Begründung, die Erzeugung v o n Unsinn erfordere als schwere geistige Arbeit ständige K o n trollprozesse, weil m a n immer wieder durch die gewohnten Geleise d e r Sprache in den Bereich des Sinns gezogen werde. Schon die Bindung an die G r a m m a t i k ist gefährlich, da diese eine ausgesprochene Tendenz z u m Sinn besitzt. D a n n liegt der Sinn in der Vieldeutigkeit unserer Sprachwörter auf der Lauer. Die eigentliche Sinntendenz jedes Sprachsystems erklärt, wie wir noch sehen werden, zum Teil den E r f o l g m o d e r n e r literarischer Bewegungen. Wir sind durch den allzuhäufigen Gebrauch unserer Sprachwörter als Metaphern gewohnt, auch hinter dem Sinnlosesten noch einen semantischen Sinn zu finden; die M e t h o d e n der Psychoanalyse bestärken uns darin. 1 9 W e n n Richard M. Meyer in einem A u f s a t z darlegt, d a ß es unmöglich sei, absichtlich u n d willkürlich einen Unsinn zu k o m p o n i e r e n , u n d das an Beispielen von Spracherfindungen einiger Dichter erläutert, 2 0 so w i r d diese Be18
Friedrich Kainz, Psychologie der Sprache, Stuttgart 1941 ff., I 201. Wilhelm von H u m b o l d t , Die sprachphilosophischen Werke ed. H . Steinthal, Berlin 1884, bes. 67 ff., 152 ff. 18 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I: Die Sprache, 2. Aufl. D a r m stadt 1953, passim. 19 Gunther Ipsen, Zur Theorie des Erkennens, Untersuchungen über Gestalt und Sinn sinnloser Wörter, Neue psychologische Studien I (1926) 297 ff., war mir leider nicht zugänglich. Nach der Rezension von Walter Porzig, IF 46 (1928) 253 ff., beschreibt Ipsen, wie Versuchspersonen in an sich völlig sinnloses Material (Buchstaben, Silben, Laute, Kleckse usw.) einen Sinn hineinlesen. 20 R. M. Meyer, Künstliche Sprachen, IF 12 (1901) 33 ff., 242 ff.; ders., Grenzen des Irrtums, Die Zeit 21 (1899) Nr. 271 (9. 12. 1899) 150 ff. 17
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hauptung durch die Psychoanalyse auf eine ungeahnte Weise vertieft. Sogar der unfreiwillige Unsinn einer Friederike Kempner kann sinnvoll werden; man denke nur an die Mode der naiven Malerei in der heutigen Kunst. Welches Mißtrauen gegen die Sprache vor aller Psychoanalyse sdion allein durch die Metapher entstehen kann, wird Fritz Mauthner im Zusammenhang mit Christian Morgenstern bezeugen. Unsinnspoesie
und
Lebensgefühl
Lebensgefühl oder geistige H a l t u n g und Sprache hängen in der Unsinnspoesie eng zusammen. Die geistige H a l t u n g färbt die „Stimmung" der Unsinnspoesie und entscheidet über ihren Wert oder Unwert. Neben „Dunkel war's, der Mond schien helle" steht der Satz „Die Ewigkeit dauert eine Sekunde"; in beiden Fällen ist der sprachliche Trick — das Paradoxon — derselbe, wesentlich unterscheiden sie sidi aber im geistigen G r u n d , auf dem sie gewachsen sind. Friedrich Kainz kennt eine obere und eine untere Grenze des Sprachlichen; eine obere, w o die geistige Arbeit in ein übersprachliches Denken übergeht, w o sich das Verstehen von der Anschauung und von den Sprachzeichen emanzipiert, und eine untere Grenze gegenüber den vor- und pseudosprachlichen Erscheinungen in glossomorphen Funktionsspielereien und expressiven Verbigerationen. 2 1 Beide Fälle kommen f ü r die Dichtung an den Grenzen der Sprache in Betracht; der obern Grenze begegnen wir in den mannigfachen sprachlichen Abstraktionen, der untern in den Sprachspielereien. Wir möchten freilich die Erscheinungen, in denen die Sprache nur noch K u n d e von einer übermächtigen Empfindung gibt, nicht unbedingt zur untern Grenze des Sprachlichen rechnen; selbst Kainz erklärt in einem andern Zusammenhang, d a ß für einen absoluten Ausdruck in der Sprache kein Platz sei, weil der A k t der Bedeurungssetzung im Zustand völligen H c r r schens der Affekte nicht möglich ist. Die Erfahrung lehrt, daß eine solche Ich-Sprache — denn darum handelt es sich in allen Fällen, wie die Einreihung bei Kainz unter die monologischen Funktionen der Sprache bezeugt — besonders in zwei Grenzsituationen der Dichtung auftritt, nämlich einerseits dort, w o sie in die Ekstase, anderseits dort, wo sie in das reine Spiel übergeht. In der Ekstase kann die Sprache die Ich-Erlebnisse des Ekstatikers nicht mehr ausdrücken, die für die Sprache notwendige SubjektObjektspaltung ist aufgehoben. Im Spiel spielt das Ich mit dem Nicht-Ich, dem Gegenstand, durch das Mittel der Sprache oder entlädt durch diese gewisse Lustgefühle. Dazu kommen noch einige „uneigentliche" Situationen wie der Rausch oder die Geisteskrankheit, wo durch künstliche Mittel oder eben durch Krankheit ähnliche Zustände hervorgerufen werden. Die Ekstase, besonders in ihrer sprachlichen Sonderform der Glossolalie, wird aber von Kainz und mit ihm von Bühler und Vossler als nicht mehr zur Sprache gehörig betrachtet, weil sie den Ekstatikern selbst wie den beteiligten H ö r e r n 21
Kainz aaO I 198.
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unverständlich bleibt. Was die Zungenredner hervorbringen, „mag nodi so beseelt sein, es bleibt als blosser Sprechakt ohne das dazugehörige Verstehen unterhalb der menschlichen Sprachgrenze. Es ist religiöser Ausdruck, aber es ist keine Sprache." 2 2 „Der Ekstatiker vollbringt religiöse Expressivleistungen mit einem Material, das gar nicht als sprachliches gelten kann, da es weder dem Lexikon einer konkreten ,langue' entstammt, noch in der Verwendung seiner einzelnen Bestände die Konsequenz und Konstanz aufweist, die diesen den Charakter privatsprachlicher Symbole vermitteln würde." 2 3 Anders gesagt: es handelt sich um einmalige Augenblicksgebilde, Lautkomplexe, aber nicht um Zeichen. Dasselbe gilt nach Kainz für die glossomorphen Funktionsspielereien, eine Art höherer Lallspiele, wie sie auch beim Kleinkind vorkommen. Aber Kainz muß an anderer Stelle zugeben: „Die Bestimmung dessen, was zur Sprache zu rechnen ist, zeitigt vom Gebildeaspekt des Sprachwissenschaftlers ein anderes Ergebnis als die vom Handlungs-, Intentions- und Leistungsgesichtspunkt des Psychologen vorgenommene." 2 4 Für uns erhebt sich da die Frage, die schon Croce über dem Satz „Dieser runde Tisdi ist viereckig" für die Grammatik gestellt hat, ob denn der Sprachwissenschaft überhaupt ein besonderer Erkenntnisgehalt zukommen kann, wenn sie solch eminent wichtige Aspekte der Sprache außer acht läßt. Wenn es Kainz gefällt, berücksichtigt er die Spielereien dodi, so daß er etwa bei den ästhetischen Sekundärfunktionen zu der seltsamen Formulierung über die Glossomorphie kommt: „Diese ist, wo es sich um logische Erträge handelt, schlechthin schädlich. Auf einem Teilgebiete des Ästhetischen, dem Komischen, ist sie dagegen erlaubtes Wirkungsmittel." 2 5 Von hier aus anerkennt er dann alles, von der Scherzkatachrese, dem Unsinnsmärchen bis zu Christian Morgenstern, während er vorher den Expressionismus und Dadaismus nicht mehr dem Kulturphänomen Spradie zurechnet, 28 mit einem eindeutigen Vorurteil allerdings, wie seine Epitheta „französisierend, rumänisierend, undeutsch" 27 enthüllen. Wenn man die Rolle der Spradie beim Aufbau des Weltbildes anerkennt, muß man aber auch die Zerstörung eines bestimmten Weltbildes durch das Mittel der Zerstörung seiner Sprache zu den Kulturphänomena zählen. Deshalb werden solche Erscheinungen bestimmten Sekundärfunktionen der Sprache zugerechnet werden müssen; vielleicht sogar den ästhetischen? Für die größern Sinnzusammenhänge, für Dichtungen wie Kafkas „Verwandlung" ist das längst kein Problem mehr, und für unser Gebiet fehlt nur noch die überzeugende dichterische Leistung. Aus dem Komischen und allgemein aus dem Spiel freilich — das wird man Kainz zugestehen müssen — ist die Unsinnspoesie nicht mehr wegzudenken, so daß wir diesem Sonderfall noch einen Abschnitt zu widmen haben.
Karl Vosslcr, Geist und Kultur in der Sprache, Leipzig 1925, 50 f. Kainz a a O I I (2. Aufl. 1960) 543 f. Kainz aaO I 202. 2 5 ebda. I 223. 2 6 ebda. I 202. 2 7 Friedrich Kainz, Zur Psychologie der Sprachfunktionen, Zs. f. Psychologie (1936) 38 ff., Zitat 75. 22
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Die Unsinnspoesie und das Komische Viele der in meiner Arbeit behandelten Erscheinungen haben bis jetzt unter den Bezeichnungen grotesk und burlesk Eingang in die Literaturgeschichte gefunden, wenn auch nur als Nebenerscheinungen, da Jeans Pauls Humorbegriff unsere Wertmaßstäbe so geprägt hat, daß das Komische, sofern es nicht H u m o r im Sinne Jeans Pauls war, abgewertet wurde. Es ziemt sich deshalb, die Begriffe grotesk und burlesk kurz zu streifen. Mit der dabei auftauchenden Frage, wie weit das Groteske überhaupt zum Komischen gehört, ergibt sich der erste Ansatzpunkt für das Problem der Beziehungen der Unsinnspoesie zum Komischen. Im Bereich genauer Definitionen kommen das Groteske und das Burleske bedenklich zu kurz. Die ersten und einzig gebliebenen Materialsammlungen, Carl Friedrich Flögeis posthum erschienenen Geschichten des Groteskekomischen von 1788 und des Burlesken von 1794, begnügen sich mit reichen Zusammenstellungen des Vorhandenen und beim Burlesken der technischen Mittel. Immerhin scheint uns f ü r die folgende Auseinandersetzung bedeutsam, daß Flögel den Begriff des Groteskkomischen wählt. Es ist keine abwegige Vermutung, daß er damit die Frage, ob das Groteske immer komisdi sein muß, offen lassen will. Die gründlichste Bearbeitung des Grotesken verdanken wir Heinrich Schneegans in seiner „Geschichte der grotesken Satire", 28 mit ihm haben wir uns auseinanderzusetzen. Friedridi Theodor Vischer umschreibt das Groteske in „Uber das Erhabene und Komische" mit folgenden Worten: „Die Gestalt wird in eine Art von Wahnsinn hineingezogen und ihre festen Umrisse zu einem wilden Taumel aufgelöst. Die Tiergestalt wird mit der Menschengestalt vermischt, das Leben mit dem Unorganischen, technische Gegenstände erscheinen als Glieder des menschlichen Körpers, Tische und Stühle sprechen, der Teufel setzt sich rittlings auf ein Dach eines Klosters und reitet davon, eine Nase wird zur zielend hinausragenden Flinte, läßt sich wie ein Perspektiv auseinanderschieben." 2B Vischer gibt uns eindeutig eine Beschreibung eidischen Unsinns. Absolut zweckfreie Phantastik ist für ihn das H a u p t m o m e n t des Grotesken. Ist nun aber eine solche Phantastik wirklich komisdi? Schneegans weist Vischer nach, d a ß dessen Beispiel aus einer Venezianer Posse gar nichts Phantastisches an sich hat, sondern nur .derbkomisch genannt werden kann, daß anderseits ein phantastischer Gestaltunsinn wie der Wald der Selbstmörder in Dantes Hölle nicht komisch empfunden wird. 30 Dieses Beispiel von Sdineegans ist freilich ein Fehlgriff, da von absolut zweckfreier Phantastik bei Dante nicht die Rede sein kann; der Einwand hat jedoch etwas Richtiges an sich. Ähnliche Widersprüche kann Schneegans auch leicht in der übrigen Ästhetik finden. Schließlich gelangt er zu einer eigenen Definition, macht aber unseres Erachtens die Sache nicht viel besser, weil er einfach versucht, alle bisherigen Ansichten über das Groteske zu addieren. Zum Phantastischen, wie er es bei 28 29 30
Heinrich Schneegans, Geschichte der grotesken Satire, Straßburg 1894. Friedrich Theodor Vischer, Über das Erhabene und Komische, Stuttgart 1837, 193. Schneegans aaO 14 f.
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Visdier und im Wortgebraudi seiner Zeit findet, muß für ihn nodi etwas Behaglich-Heiteres, wie es Köstlin nach der Etymologie des Wortes und dem früheren Wortgebrauch herausgestellt, und etwas Karikierendes, was Eduard von Hartmann betont hat, hinzukommen, damit wir von grotesk sprechen können; 5 1 dazu operiert er mit Lust- und Unlustgefühlen: ein durch die Phantastik hervorgerufenes Unbehagen soll durch das Behaglich-Heitere in Wohlbehagen verwandelt werden. Seine Beispiele beleuchten die Schwächen der Definition. Wir können etwa in Rabelais* Behauptung, daß sogar der Schatten eines Klosters fruchtbar sei, gar nichts Behaglich-Heiteres entdecken. 32 Bezeichnenderweise läßt Theodor Lipps, der sonst Schneegans folgt, dieses Behaglich-Heitere in der Zitierung von Schneegans weg. 33 In jüngerer Zeit haben zwei Schüler Oskar Walzels auf verschiedenen Wegen das Groteske zu umschreiben versucht. Elli Desalm 3 4 geht nach Ablehnung aller bisherigen Definitionen vom Werk E. T. A. Hoffmanns aus und beschreibt die Erscheinungen, die sie bei diesem Dichter als grotesk ansieht. Sie begeht jedoch den Fehler, die Formen des Grotesken bei Hoffmann und die geistigen Voraussetzungen dieses Dichters zum Wesen des Grotesken überhaupt zu erklären. Ludger Vieth 3 5 versucht anhand einer bestimmten Gattung, der Wortgroteske, in die Tiefe zu dringen, kommt aber über eine Beschreibung einzelner Phänomene nicht hinaus. Volksetymologie, komisches Enjambement bei Wilhelm Busch und der unbildliche Witz Jean Pauls vereinigen sich unter einem Undefinierten Begriff des Grotesken. Eine Zusammenfassung am Schluß bezieht sich nur noch auf einen Teil der beschriebenen Erscheinungen, und wenn Vieth siegesbewußt schreibt: „Die Grundhaltung der Groteske wird sich in einem einzigen Satz niederlegen lassen", so ist er uns diesen Satz schuldig geblieben. Audi bei Wolfgang Kayser, dessen Arbeit trotz ihren offensichtlichen Schwächen grotesk zu einem Modewort der Literaturwissenschaft werden ließ, trifft das Schlußkapitel „Versuch einer Wesensbestimmung des Grotesken" nur noch einen Teil der im Buch beschriebenen Werke. Grotesk bedeutet für Kayser am Schluß ganz einfach unheimlich oder in seinem Zeitjargon „verfremdete Welt, Gestaltung des Es". 3 " Grauen ist der geistige Hintergrund. Damit ersetzt Kayser nur das „behaglich-heitere" Lebensgefühl des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts durdi eine zeitgemäßere Lebensangst; einen ästhetischen Grundbegriff, wie er glaubt, schafft er damit aber selbst dann nicht, wenn er sein Lebensgefühl in die Werke früherer Jahrhunderte einschmuggelt. Rabelais und Fischart werden zu halben Satanisten, damit sie ihren Rang in der Literaturgeschichte auch unter dem Vorzeichen des Grotesken als des Unheimlichen behaupten können; literatur-
ebda. 29. ebda. 1 7 , 2 6 . 3 3 Theodor Lipps, Komik und Humor, Hamburg-Leipzig 1898, 168. 3 4 Elli Desalm, E. T . A. Hoffmann und das Groteske, Diss. Bonn 1930. 3 5 Ludger Vieth, Beobachtungen zur Wortgroteske, Diss. Bonn 1931: Volksetymologie 34, Wilhelm Busch 36, Jean Paul 36, Zitat 41. 3 8 Wolfgang Kayser, Das Groteske, Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg und Hamburg 1957, 198 ff. 31
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geschichtlich noch ungewertete Autoren wie H a n s A r p werden damit erledigt, daß ihnen „die Tiefendimension der Unheimlidikeit, die den Grotesken eines Rabelais, Fischart und Morgenstern das Gepräge gab" 3 7 fehlt. Aus äußerlich identischen sprachspielerischen Mitteln schließt Kayser auf ein gleiches Denken und verbindet so etwa Fischart und Morgenstern 38 mit demselben Recht, mit dem man bei allen, die Meier heißen, Gemeinsamkeiten vermuten könnte. Ein Hinweis auf zwei Arten des Grotesken, eine phantastische und eine satirische, 39 bleibt bloße Andeutung, da sie nicht in die Wesensbestimmung passen. Das Lachen nimmt nach Kayser „beim Übergang ins Groteske Züge des höhnisdien, zynischen, schließlich des satanischen Gelächters an". 40 Vor lauter Abgründen, die sich um ihn herum auftun, hört Kayser das herzliche Lachen nicht mehr, das aus manchen Werken strömt, die er verunheimlicht. 41 Demgegenüber gesteht der marxistische Theoretiker des Komischen, Jurij Borew, der doch am liebsten alle Komik in satirische Gesellschaftskritik verwandeln möchte, einem Teil des Grotesken auch ein „herzlich-wohlwollendes" Lachen 42 zu und knüpft damit wiederum an die bürgerliche Ästhetik des 19. Jahrhunderts an. Die Werke der bildenden Kunst, die Kayser f ü r seine Groteske beansprucht, f a ß t Erwin Gradmann mit den Begriffen Phantastik und Komik, wobei Phantastik eine Steigerung ins Ubergroße, Übermenschliche, in eine Art Erhabenheit ohne Tiefe, und Komik eine Forcierung ins Überkleine, Entstellte, „ins Groteske" bedeutet. 43 Auch hier gelingt die gedankliche Klarstellung der Beziehungen des Grotesken zum Komischen und Phantastischen nicht; einmal ist das Groteske eine Bloßstellung des Triebhaften „ohne das Moment komischer Wirkung", 4 4 an anderer Stelle geht es nicht mehr „restlos in die Vorstellung des Komischen auf", 4 5 schwebt also gewissermaßen zwischen Phantastik und Komik auf und ab. Wir wollen es nun nicht mit einer eigenen Definition versuchen; es genügt, festzustellen, daß auch der eingehendste Bearbeiter, Schneegans, den Begriff des Grotesken und seine Beziehungen zum Komischen nicht klären konnte. Ähnlich steht es mit dem Begriff des Burlesken. Auch hier hat Schneegans nach abwegigen Versuchen wie dem Genthes, mit grotesk in der bildenden Kunst und mit burlesk in der Poesie das gleiche Phänomen zu umschreiben, 46 dem Begriff eine Fassung gegeben, der spätere Bearbeiter wie Theodor Lipps unverständlicherweise 37
ebda. 178. ebda. 166 ff. 39 ebda. 203. 40 ebda. 201. 41 Ähnliche Einwände gegen Kayser erheben nun audi neuerdings, ohne freilich auf den Begriff „grotesk" zu verzichten: Clemens Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne, Düsseldorf 1961, 286 ff.; Reinhold Grimm, Parodie und Groteske im Werk Friedrich Dürrenmatts, in: G R M 42 (1961) 431 ff., Einwände 449 f. 42 J u r i j Borew, Uber das Komische, Berlin 1960, 407. 43 Erwin G r a d m a n n , Phantastik und Komik, Bern 1957, 7. 44 ebda. 31. 45 ebda. 28. 46 F. W . Genthe, Geschichte der maccaronischen Poesie, Halle-Leipzig 1829, 32 f. 38
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folgen. Das Burleske gilt Schneegans als eine frivole Geistesrichtung, die ohne irgendwelchen G r u n d das Erhabene in den Staub zieht. Literarisch äußert es sich in der Parodie und Travestie. 47 Gerne würde man dieser Definition folgen, wenn Schneegans nicht das Mißgeschick passiert wäre, als Beispiel einer burlesken Parodie Platens „Verhängnisvolle Gabel" hinzustellen; man muß sich schon fragen, wo er da das Erhabene ohne irgendwelchen Grund in den Staub gezogen sehen will. Schneegans zwingt uns, zwischen einer burlesken und einer satirischen Parodie oder Travestie zu unterscheiden, wie er ja auch eigentümlicherweise sein Buch „Geschichte der grotesken Satire" und nidit Geschichte des Grotesken betitelt, obwohl seine Definition das Satirische als das Karikierende in der Groteske bereits enthält. Die satirische Tendenz wird dann auch in verschiedenen Poesien, etwa den maccaronischen, überbetont. D a ß Hanns Heiss in seinen „Studien über die burleske Modedichtung Frankreichs im 17. Jahrhundert" 4 8 an den wirklich frivolen Parodien und Travestien jener Literatur die Definition von Schneegans bestätigt findet, verwundert nicht; aber das Burleske wird so zu einer Geisteshaltung, die beinahe nur das Frankreich jener Zeit kennt, woran wiederum die Einengung des Begriffs durch Schneegans deutlich wird. Wohin dessen Definition führen kann, zeigt Leo Spitzer, wenn er sich zu dem Satz versteigt: Das Burleske „entspringt der zerstörend hämischen Freude des geistigen Nihilismus". 49 Mit den Begriffen des Burlesken und des Grotesken sind die Beziehungen der Unsinnspoesie zum Komischen nicht zu klären; beide Begriffe zerfließen auch in der wissenschaftlichen Literatur, vom Mißbrauch, der mit dem Wort grotesk besonders seit dem Expressionismus getrieben wird, ganz zu schweigen. Wann wirkt die Unsinnspoesie komisch? Wir müssen darauf verzichten, die Bedingungen des Komischen 50 überhaupt zu untersuchen und verweisen d a f ü r auf die entsprechende Literatur, aus der die Arbeiten von Friedrich Theodor Vischer, 51 Karl Köstlin, 52 K u n o Fischer, 53 Theodor Lipps 54 und Henri Bergson 55 hervorzuheben sind, wobei mit Vorteil deren marxistische Kritiker Georgina Baum5® und Jurij Borew 57 mitberücksichtigt werden sollten. Den Werken aller dieser Be47
Schneegans aaO 33 f. Hanns Heiss, Studien über die burleske Modedichtung Frankreichs im 17. Jahrhund e n , Roman. Forschungen 21 (1908) 448 ff. 49 Leo Spitzer, D i e Wortbildung als stilistisches Mittel, exemplifiziert an Rabelais, ZfrPh. Beih. 29 (1910) 29. 50 eine Übersicht über die Theorien des Komischen von Hobbes bis Gegenwart bei O t t o Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen, DVjs. 21 (1943) 161 ff. 51 Friedrich Theodor Vischer aaO; ders., Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen I: Metaphysik des Schönen, Reutlingen-Leipzig 1846. 52 Karl Köstlin, Ästhetik, Tübingen 1869, bes. 165 ff. 53 Kuno Fischer, Über den Witz, Kleine Schriften, Heidelberg 1888—1898, II. 54 Lipps aaO. 55 Henri Bergson, Le Rire, Paris Alcan 1900 u. ö., Übers.: Das Lachen, Jena 1914. 56 Georgina Baum, H u m o r und Satire in der bürgerlichen Ästhetik, Berlin 1959. 57 Jurij Borew aaO. 48
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trachter haftet etwas von dem Fehler an, den Kuno Fischer seinen Vorgängern angekreidet hat: „daß sie ihren Gegenstand in fertigen Formen, in einer Reihe bekannter Beispiele vor sich haben, die gemeinsamen Merkmale dieser vorhandenen Exemplare aufsuchen, sammeln und daraus die Definition zusammenstellen, die nun, wenn es gut geht, für einige Fälle, nicht für alle paßt und -darum auch nur für die wenigen scheinbar. Man kann die Dinge aus ihren äußeren Merkmalen beschreiben, aber nicht erklären, sonst wäre der Steckbrief die beste Definition. Um sie zu erklären, muß man sie aufsuchen in ihren Ursprüngen, in ihrer Entstehung. Aus der Art, wie etwas wird, erkennen wir am besten, was es ist." 5 8 Diese Arbeitsmethode ist mehr noch als beim Werk Kuno Fischers ein besonderer Vorzug von Freuds Schrift „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten". „Die Torheit ist dem Menschen gleichsam angeboren", schreibt ein französischer Geistlicher des 15. Jahrhunderts zur Verteidigung der Eselsmessen,59 und Sigmund Freud 6 0 spricht im Anschluß an die Arbeiten von Karl G r o o s " in der ästhetischpsychologischen Literatur zum erstenmale von einer Lust des Menseben am Unsinn. Diese Lust ist im ernsthaften Leben bis zum Verschwinden verdeckt, wird aber deutlich sichtbar beim Kind und beim Erwachsenen in toxisch veränderter Stimmung. In der Zeit, wo das Kind die Sprache erlernt, spielt es mit Worten, wie es mit Holzstückchen spielt. Später bekommt dieses Spiel den Reiz des von der Vernunft Verbotenen und wird schließlich dazu benützt, sich dem Druck der kritischen Vernunft zu entziehen. Der Unsinn bedeutet dann eine Auflehnung gegen den Denk- und Realitätszwang, gegen logische, praktische und ideelle Normen. D i e Freiheit des Denkens soll in der Lust am Unsinn gerettet werden, so etwa im Studentenulk gegen den Zwang der geistigen Schulung. Es ist aber bezeichnend für die Unterdrückung dieser Lust, daß beim Erwachsenen meist bereits toxische Hilfsmittel zur Befreiung nötig sind. Der Dichter einer spielerischen Unsinnspoesie — denn nur im Spiel ist diese Art möglich — hat sich diese Freiheit bewahrt; er ist noch jenes Kind, das mit Worten wie mit Bauklötzchen spielt. O b es sich um Sinn oder Unsinn handelt, entscheidet die Kritik der Vernunft; sie schützt etwa die Lust am Unsinn im Witz durch die Kunst der Witzarbeit; durch Verdichtung der Wörter, Verwendung ihres Doppelsinnes und anderer Anknüpfungsmöglichkeiten, durch akustische statt dinglicher Relationen usw. wird der kritischen Vernunft das lustvolle Spiel leicht durchschaubar. Diese leichte Verständlichkeit des Sinnes im Unsinn ist für den Witz Bedingung. Ein nur witziges Gedicht fällt deshalb nicht mehr unter unsern Begriff von Unsinnspoesie, wenn wir es auch möglicherweise bei einem Dichter um des Zusammenhanges willen betraditen werden. Lassen wir aber nur diese Art von vor der Kritik Kuno Fischer aaO 64. nach Justus Moser, Harlekin oder die Verteidigung des Groteske-Komischen, Sämtliche Werke ed. B. R . Abeken, Berlin 1842—58, I X 101. 0 0 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Ges. Schriften, Leipzig etc. 1924—34, I X bes. 140 ff. 6 1 Karl Groos, Die Spiele der Menschen, Jena 1899. 58 59
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geschütztem „sinnvollem Unsinn" als komisch gelten, wie das die meisten Ästhetiker im Gegensatz zu den Psychoanalytikern tun, so ist überhaupt keine Unsinnspoesie komisch, und wir müssen sie einer Parallelerscheinung des Komischen, der Ästhetiker würde sagen: einer Vorstufe, zuordnen, die etwa mit Lachen der kindlichen Freude und des Spaßes zu umschreiben wäre. Dies ist für uns nicht von Belang. Für den Ästhetiker ist der Unsinnswitz — das Messer ohne Klinge, an weldiem der Stiel fehlt — immer ein schlechter Witz, ein witzig scheinender Blödsinn; daß man darüber lachen kann, erklärt er höchstens damit, daß die Erwartung eines Witzes erweckt wird, der Hörer also versucht, den Sinn hinter dem Unsinn zu finden, der aber nicht vorhanden ist.62 Die Vorspiegelung eines Sinnes im Unsinn kann momentan die Lust am Unsinn befreien; da aber der Schutz vor der Kritik der Vernunft in Form der Witzarbeit fehlt, erfolgt sofort Ablehnung, wir ärgern uns. Dieser Ärger jedoch kann wiederum Absicht des Verfassers sein, wie sich noch erweisen wird. Doch vermag auch schon allein das Gewährenlassen unbewußter und verpönter Denkweisen nach Freud komische Lust zu erzeugen. Das zeigt sich an der Geschichte vom geliehenen Topf: „Erstens habe ich mir den Topf nicht geliehen, zweitens war er schon vorher beschädigt, und drittens habe ich ihn vor der Rückgabe in Ordnung gebracht" oder am Wippchen, der Scherzkatachrese. Auf ähnliche Weise rufen die Scherzrätsel vom Typus: "Was hängt an der Wand, und man kann sich damit die Hände abtrocknen?" Antwort: „Ein Hering" eine komische Wirkung hervor. Einen Sonderfall bilden die Dichtungen des unfreiwilligen Humors, etwa Friederike Kempners oder König Ludwigs I. von Bayern, bei denen der Ärger über den allzubilligen Sinn durch ein Lächeln über die hilfslose Gefühlsinnigkeit oder das monarchische Pedantentum entwaffnet wird. Wir glauben nicht, mit diesen wenigen Andeutungen endgültig geklärt zu haben, wann und warum wir über einzelne Unsinnspoesien lachen und über andere nicht; denn Dugas sagt mit Recht: „Ii n'est pas de fait plus banal et plus étudié que le rire; . . . il n'en est pas sur lequel on ait recueilli plus d'observations et bâti plus de théories, et avec cela il n'est pas qui demeure plus inexpliqué. On serait tenté de dire avec les sceptiques qu'il faut être content de rire et ne pas chercher à savoir pourquoi on rit, d'autant que peut-être la réflexion tue le rire, et qu'il serait alors contradictoire qu'elle en découvrit les causes!" 63 Vielleicht läßt sich einfacher feststellen, wann Unsinnspoesie nicht komisch wirkt: zum Beispiel in ihren ekstatischen Elementen, wo die gleichzeitige AfEektentladung die komische Wirkung tötet, oder ganz allgemein überall dort, wo wirklicher Unsinn dauernd, geschieht. Wohl wird man sich anfänglich noch an solchen Gedichten belustigen; wenn aber jede Art des Verstehens längere Zeit hindurch versagt, erweckt die Unsinnspoesie bald das Bewußtsein des Pathologischen, das sogar in ein Gefühl des Grauens übergehen kann. Selbst Nestroys Ver6 2 so etwa Eduard Eckhardt, Über Wortspiele, G R M 1 (1909) 674 ff., Sinn hinter U n i i n n 676. 6 3 L. Dugas, Psychologie du Rire, Paris Alcan 1902, 1 f.
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Wandlungszauber reicht in einen Bezirk, in dem sich „das Komische mit dem Unheimlichen berührt". 6 4 In der Spielsphäre wirkt dauernder Unsinn meist langweilig und scheinbar ungekonnt. Das können wir zum Beispiel an Gervinus' Urteil über die Lügendichtung vom Finkenritter beobachten: „Aber Verdienst ist gar nicht an diesem Buche. Es muß sich Sinn unter scheinbarem Unsinn bergen, wenn dergleichen angenehm sein soll, und wenigstens muß sich der Spaß nicht so häufen wie hier."®5 Der Ästhetiker des Komischen bricht im Literarhistoriker durch; er lehnt den Unsinn ab, der nicht durch einen leicht durchschaubaren Sinn im Unsinn vor der Kritik der Vernunft geschützt, also nicht witzig ist; oder wenigstens sollte der Spaß so kurz sein wie im Scherzrätsel und Unsinnswitz, sich also vom komischen Effekt der Enttäuschung nähren, daß kein Sinn gefunden werden kann. Man muß nur Julius Schultz' „Psychologie des Wortspiels" lesen, um zu erfahren, wie weit ästhetische Vorurteile selbst einen Psychologen irreleiten. Schultz spricht von Fischarts „blöden Reimfolgen" und fragt verurteilend: „Wie breit ist da noch der Graben, der seine Kunst von der Unkunst der Katatoniker trennt?" Er meint Fischart zu treffen, wenn er feststellt: „Wörter zu verdrehen bleibt ein witzlos gassenbubiges Spiel". Weil er völlig in seiner Typologie des Wortspiels gefangen ist, die auf den sechs Typen des infantilen, grobianischen, künstlerischen, spielerischen, witzigen und geistreichen Wortspiels ruht, sieht er nur die Witzsphäre und steht dem Unsinn hilflos gegenüber. 96 Ähnliche Urteile finden sich überall in der Literaturgeschichte, wo Unsinnspoesien gestreift werden, bis zu den modernen Kritikern Morgensterns. Die Unsinnspoesie als ästhetische Gestalt des
Metaphysischen
Julius Bahnsen hat den H u m o r als eine ästhetische Gestalt des Metaphysischen umrissen. 67 Wir stehen nicht an, auch einzelnen Unsinnspoesien schlagwortartig die gleiche Eigenschaft zuzuerkennen und uns auch so von der durch Jean Paul verursachten Uberbewertung des Humorbegriffs zu lösen. Schon Baudelaire hat in seinem Aufsatz „Vom Wesen des Lachens" das Lachen des Grotesken als etwas grundtatsächlich Tiefes und Elementares bezeichnet, das sich viel mehr dem urtümlichen Leben und der von jedem Zweck gelösten Freude nähere als das durch Satire und Karikatur hervorgerufene Lachen. Er nennt das Groteske einen Höhenmaßstab für das Komische und die absolute Komik, was in unserm Sprachgebrauch wohl bedeutet, daß es zum Humor gehöre.6* Den vehementesten Verteidiger hat jedoch die Unsinnspoesie in Gilbert Keith 64
O t t o Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie, Wien 1952, 964, 968. G. G. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung, 4. A u f l . Leipzig 1853, II 307. 64 Julius Schultz, Psychologie des Wortspiels, Zs. f. Ästhetik und allg. Kunstwiss. 21 (1927) 16 ff.; blöde Reimfolgen 31, W ö r t e r zu verdrehen 29. 67 Julius Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der H u m o r als ästhetische Gestalt der Metaphysik, Lauenburg i. P. 1877. 69 Charles Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, Zürich 1922, 22. 65
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Liede,
Dichtung
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des
Themas
C h e s t e r t o n . F ü r ihn ist der U n s i n n ein U n s i n n der F u n d a m e n t e . F ü r ihn k a n n ein W i t z so g r o ß sein, „ d a ß er das S t e r n e n z e l t d u r c h b r i c h t " ; „durch immer höher steigende A b s u r d i t ä t k a n n etwas gottgleich w e r d e n , v o m Lächerlichen z u m h a b e n e n ist nur ein S c h r i t t . " 6 9
S o h a t er um
1900
den U n s i n n
Er-
als eine neue
L i t e r a t u r und „ m a n k ö n n t e fast sagen als einen neuen S i n n " v e r k ü n d e t u n d diese L i t e r a t u r auch dichterisch, e t w a im „ M a n w h o w a s T h u r s d a y " , zu begründen versucht. 1 9 0 1 „Wenn
schreibt er in seinem
Unsinnigkeiten
wirklich
„Defendant": die
Literatur
der
Zukunft
sein
sollen,
so
müssen sie ihre eigene D e u t u n g in der S c h ö p f u n g h a b e n ; die W e l t m u ß nicht nur das Tragische, R o m a n t i s c h e u n d Religiöse, sie m u ß auch das U n s i n n i g e sein. U n d h i e r glaube ich, d a ß der U n s i n n a u f eine sehr u n e r w a r t e t e W e i s e sich zu einer geistigen A u f f a s s u n g
der D i n g e gesellen w i r d . D i e R e l i g i o n
hindurch
die Menschen
angespornt,
die , W u n d e r '
aber
ließ
außer
daß
sie
gänzlich
acht,
etwas
hat
Jahrtausende
der Schöpfung
anzustaunen;
Sinnfälliges
nicht
vollkommen
w u n d e r b a r sein k a n n . S o l a n g e w i r im B a u m e nichts w e i t e r als einen sinnfälligen G e g e n s t a n d erblicken, k a n n e r kein sonderliches E r s t a u n e n in uns erregen. E r s t , w e n n w i r in ihm eine unerklärliche W e l l e des Lebens sehen, die, m a n w e i ß nicht recht w a r u m , aus dem E r d b o d e n z u m H i m m e l e m p o r s t r e b t , erst d a n n e r f a ß t uns F u r c h t v o r d e m W a l d h ü t e r . Es h a t alles zwei Seiten, w i e der M o n d , der zugleich der P a t r o n des U n s i n n s ist. S o l ä ß t sich der V o g e l betrachten w i e eine B l ü t e , die v o n ihrem Federstengel Hinterpfoten
abfiel, der Mensch w i e ein V i e r f ü ß l e r , der a u f
bettelt, ein H a u s wie ein R i e s e n h u t , um ihn v o r
seinen
der S o n n e
beschützen, ein S t u h l wie ein A p p a r a t m i t v i e r F ü ß e n f ü r einen K r ü p p e l ,
zu der
n u r auf zwei F ü ß e n steht. D a s ist jene andere Seite der D i n g e , die uns a m sichersten zum geistigen W u n d e r f ü h r t . Es ist bezeichnend, d a ß in dem g r ö ß t e n religiösen D i c h t e r w e r k , dem Buch H i o b , nicht dasjenige A r g u m e n t a u f den G o t t l o s e n w i r k t , das die Schöpfung als ein p l a n v o l l wollendes W e r k darstellt, sondern das im G e g e n t e i l ein B i l d v o n ihrer ungeheuren, rätselhaften S i n n l o s i g k e i t
entwirft.
, H a s t D u , o G o t t , regnen lassen, w o k e i n e Menschen sind?' Dieses n a i v e Staunen ü b e r die G e s t a l t u n g des Lebens und deren n a m e n l o s e U n a b h ä n g i g k e i t von unsern intellektuellen V o r a u s s e t z u n g e n ist ebenso die G r u n d l a g e des Spiritualismus, wie es die G r u n d l a g e des U n s i n n s ist. U n s i n n u n d G l a u b e (so ungereimt dies auch k l i n g e n m a g ) sind die zwei stärksten symbolischen B e w e i s e für die Tatsache, d a ß es ebenso unmöglich ist, das Wesen der D i n g e mittels eines logischen Schlusses zu e n t r ä t s e l n , wie einen Walfisch mittels einer A n g e l zu f a n g e n . D i e gute
Seele,
welche lediglich die logische S e i t e der D i n g e zu erforschen suchte und somit zu dem Ergebnis
kam,
daß
,Glaube Unsinn'
sei, w e i ß
vielleicht k o m m t sie später d a r a u f , d a ß U n s i n n
nicht, wie richtig Glaube
sie es
trifft,
ist."
C h e s t e r t o n ist der S c h u t z p a t r o n unserer A r b e i t , und w i r k ö n n e n diesen einleitenden
ersten
Teil
nicht
besser
als
mit
seinen
Worten
beschließen:
„Der
älteste, der gesündeste und religiöseste W e r t der N a t u r " liegt in „dem W e r t , der 69
G . K . C h e s t e r t o n , Charles Dickens, London Methuen 1906. Deutsch: Wien Phaidon
o. J., 35.
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Themas
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von ihrer ungeheuren Kindlichkeit ausgeht; sie ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklich wie ein Kind. Es gibt eine Stimmung, wo wir all ihre Formen wie Formen sehen, die ein K i n d auf eine Schiefertafel kritzelt, einfach, ursprünglich, Millionen J a h r e älter und stärker als die ganze Krankheit, die man Kunst heißt. Die Gegenstände der Erde und des Himmels scheinen sich zu einem Ammenmärchen zu verbinden, und unsere Beziehung zu den Dingen scheint auf einmal so einfach, daß man einen tanzenden Narren brauchen würde, um der Klarheit und Leichtigkeit des Augenblicks gerecht zu werden. D e r Baum über meinem Kopfe schlägt wie ein Riesenvogel, der auf einem Bein steht; der Mond ist ein Zyklopenauge. Und, wie sehr sich auch mein Antlitz mit dunkler Eitelkeit oder
gemeiner
Rache
oder
verächtlicher
meines Schädels darunter lachen ewig." 1 0
Verachtung
umwölkt,
Franz K a f k a ,
die
Knochen
der in einer für ihn
bezeichnenden Mischung von leiser Bewunderung und trauerndem Mißtrauen von Chesterton gesagt haben soll: „Er ist so lustig, daß man fast glauben könnte, er habe G o t t gefunden", 1 1 steht am Gegenpol zu diesem Weltgefühl; aber auch dort endet vielleicht der Unsinn der Fundamente in einem „Credo quia absurdum".
70
G.K.Chesterton,
T h e D e f e n d a n t , L o n d o n R . Brimley J o h n s o n 1 9 0 1 u. ö. Deutsch:
Verteidigung, Ölten 1945, 57 ff. (Nachdruck einer anonymen Ubersetzung von 1 9 1 7 ) . L e i d e r ersetzt diese sonst ziemlich gute Ubersetzung englische Dichter durch deutsche, e t w a Sterne durch H e i n e (58), L e a r und C a r r o l l durch Busch (58), was Chestertons Denken verfälscht. 71
2*
G u s t a v J a n o u d i , Gespräche mit K a f k a , S. Fischer 1951, 53.
II Die geistigen Grundlagen des Spiels
Was das Spiel für die Kultur bedeutet, hat Johan H u i z i n g a in seinem Buche aufs schönste dargestellt, indem er z u m H o m o sapiens und H o m o faber den H o m o ludens gesellt. 1 D a s Spiel ist ein Urgrund menschlichen Seins, der in alle Lebensalter und in alle Geisteshaltungen h i n e i n g e w o b e n ist: „Der M e n s d i spielt als K i n d z u m Vergnügen und zur Erholung unterhalb des N i v e a u s des ernsthaften Lebens. Er kann aber audi über diesem N i v e a u spielen: Spiele der Schönheit und H e i l i g keit", 2 o d e r w i e Schiller sagt: „Der Mensdi spielt nur, w o er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, w o er spielt". 3 H u i z i n g a und Schiller im Spiel sehen, das ist ein Ideal
des Spieltriebes.
Was Wenn
P l a t o v o m Menschen als dem Spielzeug des Gottes sprach, so ist nun bei ihnen die W e l t ein Spielzeug des Mensdien. Im Anschluß an Kants freies, interesseloses Spiel der Vorstellungskräfte ästhetischen Wohlgefallen 4 verschmelzen sich bei Schiller
der Saditrieb,
im
dessen
G e g e n s t a n d das „Leben", und der Formtrieb, dessen Gegenstand die „Gestalt" ist, im Spieltrieb, dessen Objekt, die „lebendige Gestalt", alles umfaßt, was
wir
1 Johan Huizinga, H o m o ludens; ich zitiere nach der 3. Auflage Basel etc. o. J. Über die Spieltheorien der neueren Zeit orientiert ausgezeichnet Hans Scheuerl in seiner Arbeit Das Spiel, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1959, und in seiner Anthologie Beiträge zur Theorie des Spiels, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1960. Huizingas Werk hat zahllose Betrachtungen über das Spiel von sehr zweifelhaftem Wert hervorgerufen (vgl. das Litcraturvcrzcidinis bei Scheuerl). Die meisten entfernen sidi noch stärker als Huizinga von den tatsächlich gespielten Spielen. Wir besitzen nun bereits eine Theologia ludens (Hans Rahner, Der spielende Mensch, 5. Auflage Einsiedeln 1960) und eine Philosophia ludens (Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960); mit der Theorie der strategischen Spiele (John von Neumann and Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton U P 1944; Claude Berge, Sur une théorie ensembliste des jeux alternatifs . . ., Thèse Paris 1953) hat sich auch die Mathematik des Spiels bemächtigt. Aus der Vielzahl der andern Publikationen sei ausdrücklich ein Werk hervorgehoben: Roger Caillois, Les jeux et les hommes (Le masque et le vertige), Paris Gallimard 1958, deutsch: Die Spiele und die Menschen (Maske und Rausch), Stuttgart 1960, weil es nach Abschluß unserer Arbeit mit der Untersuchung der Spiele der Gegenwart und der Einbeziehung des Spielrausches über Huizinga hinausführt und unsere Gedanken mannigfach ergänzt und bestätigt. 2
Huizinga a a O 32.
3
Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen 15. Brief, Sämtliche Werke, Säkularausgabe X I I 59. * zum Spiel bei Kant vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Jubiläumsausgabe Heidelberg 1897—1904, V 410 ff.; zu den nachkantischen Spielbegriffen vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Auflage Berlin 1927—30, III 135 ff.; Georg Schläger, Einige Grundfragen der Kinderspielforschung I, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 27 (1917) 106 ff.
24
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Schönheit nennen. 5 Das Ideal der Schönheit, das die Vernunft aufstellt, setzt auch das Ideal des Spieltriebs fest, das der Mensch „in allen seinen Spielen vor Augen haben soll", 6 so d a ß sich eine doppelte Forderung ergibt: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen."1 An den Spielen kann man den Menschen erkennen. Als Beispiele zieht Schiller die Olympischen Spiele, römische Gladiatorenkämpfe, Londoner Wettrennen und Madrider Stiergefechte heran 8 und behauptet, daß sich die Spiele des wirklichen Lebens „gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten" (Kartenspiele und Kampfpreise?).' Das ist erstaunlich, der unbefangene Leser hätte eher Sprachspiele und poetisdie Spiele als gute oder schlechte Exempel erwartet. Schillers poetischer Spieltrieb ist jedoch so weit von allen sonst üblichen Spielbegriffen entfernt, daß er überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin Spiel nennen. Schillers Spieltrieb heißt für uns künstlerische Schöpferkraft. Das Zitat „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" kann nie als Motto f ü r eine Betrachtung menschlicher Spiele benützt werden. 1 0 Schillers Spieltrieb steht so hoch über allem irdischen Spiel, daß er den künstlerischen Genius an sich meint. Er ist das Spiel der Götter, wie Schiller es in einem Fragment aus dem Nachlaß am Unterschied zwischen Tragödie und Komödie formuliert: „Die Komödie setzt uns in einen höhern Zustand, die Tragödie in eine höhere Tätigkeit. Unser Zustand in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder tätig noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der Zustand der Götter, die sich um nicht Menschliches bekümmern, die über allem frei schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. — Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter dem Zwang von Gesetzen. Es m u ß also eine höhere, rüstigere Kraft in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wieder herstellen können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir unsere Kraft nicht, weil wir nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu göttlichen Menschen, oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie selbst." 11 Nicht so hoch setzt Huizinga seinen Spielbegriff an. Neben den Spielen der Schönheit und Heiligkeit kennt er auch die des Kindes. Er definiert das Spiel als eine „freiwillige H a n d l u n g oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter 5 Über die ästhetische Erziehung des Menschen 14.—16. Brief, a a O 52 ff.; vgl. allgemein: K a r l Berger, Die Entwicklung von Schillers Ästhetik, W e i m a r 1894, 276 ff.; G o t t f r i e d Baumecker, Schillers Schönheitslehre, Heidelberg 1937, 80 ff. 6 15. Brief a a O 58. 7 ebda. 59. 8 ebda. 58 f. und Anm. 9 ebda. 10 Als Motto steht dieser Satz über der Arbeit von Gustav Bally, Vom U r s p r u n g u n d von den Grenzen der Freiheit, Eine Deutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel 1945. 11 Tragödie und Komödie (Aus dem Nachlaß), Säkularausgabe X I I 329 f.
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
25
G r e n z e n v o n Z e i t und R a u m nach f r e i w i l l i g a n g e n o m m e n e n
Regeln
verrichtet
w i r d , ihr Z i e l in sich selber h a t u n d begleitet w i r d v o n einem G e f ü h l der S p a n nung u n d F r e u d e u n d einem B e w u ß t s e i n des .Andersseins' als das gewöhnliche L e b e n . " 1 2 S o k a n n er den Menschen a u f allen S t u f e n der E n t w i c k l u n g v e r f o l g e n , v o m K i n d e r s p i e l über das Spiel in der S p r a d i s c h ö p f u n g bis zu den Spielen des Geistes in der P h i l o s o p h i e , den Spielen der R e l i g i o n und der D i c h t u n g ( „ D a s Spiel ist die erste P o e s i e des M e n s c h e n " , sagt schon J e a n P a u l 1 3 ) , w o in der lyrischen S p r a c h e der Mensch „ a m nächsten bei der höchsten Weisheit, a b e r auch bei der Sinnlosigkeit"14 Funktion
steht. Kosmische E r g r i f f e n h e i t ist der U r g r u n d :
des Spiels, das eine selbständige Q u a l i t ä t ist,
findet
„In Form
und
das G e f ü h l
des
E i n g e b e t t e t s e i n s des Menschen im K o s m o s einen ersten, höchsten u n d
heiligsten
Ausdruck".15 Im
Gegensatz
zu Schillers Spielbegriff
umfaßt
der H u l z i n g a s
einen
großen
T e i l der S p i e l e dieser A r b e i t , so die S p i e l g a t t u n g e n , die literarischen, gesellschaftlichen, die gelehrten und die magischen Spiele. D a s letzte kosmische Spielgefühl finden w i r im U r g e l ä c h t e r C h e s t e r t o n s , in M ö r i k e s „ W i s p e l i a d e n " o d e r in den D i c h t u n g e n P a u l Scheerbarts u n d in dessen W o r t : „Ach, das g a n z e W e l t a l l lacht! D e r W e l t g e i s t lacht auch, u n d ich lache leise m i t ! " 1 6 A n diesen Dichtungen zeigt sich a b e r , d a ß das Spiel nicht in allen F ä l l e n
„freiwillig a n g e n o m m e n e n ,
aber
u n b e d i n g t b i n d e n d e n R e g e l n " folgen m u ß , wie H u i z i n g a es h a b e n will. Es gibt in der Unsinnspoesie eine F r e i h e i t des Spiels, die keine R e g e l n u n d G r e n z e n m e h r anerkennt,
die
„Spielverderberin"
ist gegenüber dem Spiel
der D i c h t u n g
und
k a u m m e h r eine neue S p i e l w e l t m i t festen R e g e l n a u f b a u t o d e r höchstens insofern, als sie
Regellosigkeit
des Spiels
S p i e l w e l t hinaus. I m Spiel
findet
fordert.
Damit
igreifen
wir
über
Huizingas
nicht nur das G e f ü h l des Eingebettetseins
im
K o s m o s seinen höchsten und heiligsten Ausdruck, es k ö n n e n auch andere geistige H a l t u n g e n , ein anderes W e l t g e f ü h l h i n t e r der S p i e l w e l t stehen. W i r meinen nicht n u r die unendliche G r e n z e n l o s i g k e i t , m i t der das romantische Spiel unter M i ß achtung aller Spielregeln über die W e l t hinausgelangen will. Dieses b a u t doch noch eine neue S p i e l w e l t a u f , w e n n auch unter A u f h e b u n g der gegenständlichen W e l t , also durchaus in schärfstem Widerspruch zu Schillers harmonischem
Spieltrieb-
I d e a l . S o n d e r n w i r denken v o r a l l e m an jenen unheimlichen U r g r u n d des S p i e l triebs, den H u i z i n g a verschweigt: an den Zerstörungstrieb als „so leicht h e r v o r brechenden K a m p f i n s t i n k t , der sich sogar dem t o d t e n O b j e k t —
als ob es ein
lebendiger G e g n e r w ä r e — m i t einer oft bis zum Rausche gesteigerten Zerstörurigslust z u w e n d e t u n d in der völligen V e r n i c h t u n g des O b j e k t e s seine eigene M a c h t w i e einen S i e g genießt — " . 1 7 E s gibt einen zerstörenden Spieltrieb, der die Z e r s t ö r u n g u m der rauschähnlichen W i r k u n g w i l l e n genießt, einen äußersten G e g e n 12 13 14 15 16 17
Huizinga aaO 45 f. Levana § 49, Stle. Werke hist.-krit. Ausg. 1.12 150. Huizinga aaO 229. ebda. 29. Paul Scheerbart, Idi liebe Dich! Berlin 1897, 296. Karl Groos aaO 275.
26
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
satz zu jenem heiligsten Eingebettetsein des Menschen im Kosmos. Der Spielverderber braucht nicht außerhalb der Spielwelt zu stehen, durch seinen Einbruch die Relativität und Sprödigkeit der Spielwelt zu enthüllen und die Spielwelt zu zerstören, wie Huizinga meint, 1 8 er kann selbst Spieler sein, die ganze Lust des Spiels in dessen Zerstörung genießen. Die Zerstörung ist sogar eines der häufigsten Spiele, ein Spiel mit dem Entsetzen und mit der Freude an der Macht des Menschen über die Dinge. Gerade im Spiel mit der Sprache wird der zerstörende Spieltrieb sichtbar: Wenn in der Romantik einzelne Dichter die gegenständliche Welt im Spiel mit der Sprache zerstören, um die Gegenstände zugunsten einer grenzenlosen mystischen Welt zu überwinden, so ahnen wir doch schon bei andern eine Lust am zerstörenden Spiel um der Zerstörung willen. Huizinga unterschätzt die Kräfte des spielenden Zerstörungstriebs zu allen Zeiten, wenn er erst im Spielelement der modernen Kultur Puerilismus, Habitus des Vorpubertätszeitalters zwischen Kindlichkeit und jünglingshafter Unausgeglichenheit, zu finden glaubt. 19 Nicht nur kindisches Spiel statt kindliches tritt etwa im deutschen Dadaismus zutage, sondern das Lachen des Teufels, „jene Diabolik, die von der höchsten Groteske herkommt", 2 0 das Lachen als das „Satansmal des Menschen", 2 1 das Lachen des Elends und der Tränen, von dem schon die Sprüche Salomos wissen. 22 So ist die spielende Unsinnspoesie nicht nur Spiel im Gefühl des Eingebettetseins im Kosmos, sondern auch Spiel der satanischen Zerstörungslust, Spiel des Teufels mit der Welt. Hugo Ball hat diesen völligen Gegensatz im Lachen igesehen. E r zitiert Schillers Satz aus der „Ästhetischen Erziehung": „Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören" 2 3 und fügt ironisch hinzu: „Deutschland ist also heute wild und barbarisch zugleich". 21 Die Ironie hebt sich jedoch selbst auf, wenn er ein paar Seiten später schreibt: „Die Antithese in Permanenz, das Urspiel in seinem majestätischen Gelächter — : in Berlin konnte ich diese Dinge schätzen. Ich kann das Wort Geist nicht mehr hören. Man macht mich furibond, wenn man das Wort nur ausspricht". 25 Dieses Urspiel in Permanenz ist ein anderes majestätisches Gelächter als Chesterton und Scheerbart es meinen; Schillers Spieltrieb-Ideal paßt nicht in eine Welt, in der man das Wort Geist nicht mehr hören kann. Furchtbar und erhaben zugleich aber ist die Lehre jener gnostischen Sekte Ägyptens, daß die Welt aus dem siebenmaligen Urgelächter des Gottes Abraxas entstanden sei. Huizinga a a O 19. ebda. 330, vgl. auch Johan Huizinga, Im Schatten von morgen, 17. Aufl. Zürich 1930, 140 ff. 2 0 G. K. Chesterton, Der Mann, der Donnerstag war, München 1924, 86. 2 1 Baudelaire a a O 13. 2 2 Spr. Sal. 14 V. 13. 2 3 Ober die ästhetische Erziehung des Menschen a a O 13. 2 4 Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, Ausgabe Luzern 1946, 124 f. 2 5 ebda. 141. 18 19
A. Das kindliche Spiel 1. D A S Mörikes
DÄMONISCHE
SPIEL
Wispeliaden
Dämonisch hat Goethe die Macht genannt, die in der untrennbaren, irrationalen Einheit von schöpferischer Person, Werk und Schicksal wirkt. Dämonisch ist Eduard Mörikes scheinbar harmlos-kindliches Spiel. Es ist mit unbegreiflichen Mächten geladen, durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen 1 und verleiht dem Dichter „eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe", 2 die uns furchtbar erscheint, wenn sie sich gegen Mörikes U m w e l t wendet. Denn immer wieder durchkreuzt das dämonische Spiel die moralische Weltordnung. 3 Alle sittlichen Kräfte vermögen nichts über es,4 bis die Dämonen sich gegen den Menschen wenden und ihn wieder ruinieren. 5 Dies alles sind Worte Goethes. D a ß wir sie zu Recht f ü r Mörike benützen, versuchen wir im folgenden darzulegen. Eine Beziehung ist augenscheinlich: Goethe nennt Mozart eine Verkörperung des Dämonischen, Mozart aber ist das schönste Symbol von Mörikes Spiel. Mörikes Leben und Werk ist von einem kindlichen Schimmer umglänzt. Berühmt und oft zitiert ist sein Jugendglück mit den Astlochphantasien im beschränkten Winkel. 8 Noch als Zwanzigjähriger hat sich der Dichter in seinen Spielen nidit von dieser Welt entfernt. Im „Waldhäusle" fühlt sich sein „Innerliches sonderbar geborgen und guckt wie ein Kind, das sich mit verhaltenem Jauchzen vor dem nassen Ungetüm draußen versteckt, mit hellen Augen durchs Vorhängel, bald aus jenem, bald aus diesem vergnügten Winkelchen". 7 Er macht seiner Schwester „tausend (jedoch unschädliche) Sachen und hohle Nüsse vor, wodurch sie außer sich selbst gesetzt wird u n d mich mit großen Augen ansieht, bis wohl auch zuweilen diese Bewunderung in lautes Schreien, Weinen und Hilferufen gegen das zitierte Geisterreich ausschlägt." 8 1 zu Eckermann 2. 3. 1831, Eckermann, Gcspräche mit G o e t h e ed. H . H . H o u b c n , Leipzig 1918, 373. Dichtung und Wahrheit 20. Buch, W A 1.29 177. 3 ebda. 176. 4 ebda. 177. 5 zu Eckermann 1 1 . 3 . 1828, ed. H o u b c n 542. 6 Mörikes W e r k e hg. v. H a r r y M a y n c , N e u e Ausgabe L e i p z i g - W i e n 1914, II 287. 7 an W i l h e l m Waiblinger A u g . 1824, Briefe hg. v. Friedrich Seebass (im folgenden als „Briefe" zitiert), T ü b i n g e n 1939, 26. 8 ebda. 30.
28
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Die Briefe, die von seinem Leben mit den Kindern erzählen, sind auch später wohl seine schönsten, gewiß die sonnigsten. 8 Zu seiner Kindlichkeit gehört aber noch mehr. Wie ein kleiner Bub verdreht er 1832, als er ein Pseudonym für den Maler Nohen sucht, seinen Namen in E. Meerschwein, Meerrettig, Mopsvesta, von Meerigel und Sanitätsrat Märkle; 1 0 Cleversulzbach wird Klepperfeld, Hartlaub Artiglaub, Agnes und Ada zu Baignes und Bada, Fanny zu Pfanny. E r sammelt leidenschaftlich, was ihm in die Hände gerät, Autographen, Versteinerungen usw. Er bastelt alles mögliche: „Wie er am Grabkreuz für Schillers Mutter Steinmetzarbeit verrichtete und als Bräutigam selbst dem Goldschmied das Muster des Ringes für Luise entworfen hatte, so Stadl er sich einen Siegelstock in Silber oder schnitzte . . . aus einem gewöhnlichen Stück Perlmutter ein zierliches Heft oder aus Holz die kunstvollsten Federhalter, womit er dann Nahestehende beschenkte Er richtete Flädien von Baumrinde zu, um der Mutter ein paar Verse darauf zu schreiben oder einen H o r a z k o p f daraus zu schneiden, den er alsdann in ein hübsches Kästchen klebte." 1 1 Viel Mühe und Geld verwendet er an den Versuch, Zeichnungen auf Glas zu vervielfältigen. 1 2 Im Alter geht er in Lorch zu einem Töpfermeister in die Lehre und formt nun mit größter Lust Vasen und Töpfe. 1 3 Tagelang arbeitet er kalligraphisch, zuweilen sogar für klingenden Lohn, wie bei einem Spiegelschriftgedicht. 14 Mörikes Zeichnen war nie wirklich künstlerisches Gestalten, sondern immer Spiel. Auf einem Bildchen läßt er uns durchs Sdilüsselloch in Hartlaubs Kirche von Wermutshausen blicken und spinnt so direkt die Astlodiphantasien weiter. 15 Auch seine Hilflosigkeit in praktischen Dingen gehört zu seiner Kindlichkeit; ohne weibliche Hilfe ist er verloren und kann kaum einen Ofen anzünden oder Kaffee kochen. 16 Herrlidi aber ist der alte H e r r Professor Mörike, wenn er stundenlang mit einem brennenden Lidn im Bett liegt, das auch sonst schon immer seine Zuflucht vor der Welt war — wie er einst auf der Wiese neben der Kirche lag und sich durch das geöffnete Fenster die Predigt seines Stellvertreters anhörte — , mit den Fingern an der Wand Schattenfiguren produziert und es mit Stolz von anfänglich sechs durch anhaltende Übung schließlich auf einige zwanzig bringt! 1 7 Tausendfältig spiegelt sich diese Kindlichkeit Mörikes siditbar und unsichtbar in seinem Werk wieder. Im kleinen sind die eigentlichen Kindergedichte ein 9 vgl. etwa an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f.; an Hartlaub 2 1 . 3 . 1842, ebda. 5 4 2 ; an denselben Anf. März 1862, ebda. 7 5 6 ff.; an dens. 20./25. 3. 1826, ebda. 50 ff. 1 0 an Johannes Mährlein, 5. 6. 1832, Briefe 360. 1 1 H a r r y Maync, Eduard Mörike, 5. Aufl. Stuttgart 1944, 244. 1 2 ebda. 245. 1 3 vgl. Eduard Mörike, Zeichnungen, hg. v. Herbert Meyer, München 1952, 23. 1 4 Werke I 2 4 8 ; zweifarbig lithographiertes Einzelblatt, abgebildet in: Briefwechsel zwischen T h . Storm und Ed. Mörike hg. v. Hanns Wolfg. Rath, Stuttgart 1919, T a f . 6. 1 5 Mörike als Zeichner hg. v. O t t o Güntter, Stuttgart Berlin 1930, Abb. 1; andere Fassung: Zeichnungen ed. Meyer 48. 1 8 Maync, Mörike 244. 1 7 ebda. 5 1 1 ; vgl. allgemein: Rudolf Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter, 2. Aufl. Stuttgart Leipzig 1904.
Das dämonische
29
Spiel
Ausdruck dafür, das „ K i n d e r l i e d " , 1 8 das „ M a u s f a l l e n s p r ü d i l e i n " , 1 8 das in keinem Lesebuch fehlende Vogelschutzgedicht „ U n s e r F r i t z " 4 0 und v o r allem die Gedichte an
und
für
Mörikes,
Hartlaubs
und
anderer
Kinder,
Geburtstagsgedidite, 2 1
Begleitgedichte zu Geschenken und Rätsel, wie das Reimspiel für „ Z w e i dichterische Schwestern", d a s b e g i n n t : Heut lehr' ich euch die Regel der S o n — Versucht gleich eins! Gewiß, es wird ge—, Vier Reime hübsch mit vieren zu versdi—, Dann noch drei Paare, daß man vierzehn h — . . . 2 2 Auch die eigene Schwester w i r d i m m e r wieder
ins Spiel miteinbezogen;
durch
H u n d und K a t z e läßt er ihr zu G e b u r t s - und N a m e n s t a g e n gratulieren, 2 ® wobei er
einmal
eine
sucht er sie zu
ganze
unsinnige
Kinderpredigt
einflicht. 2 4
Wenn
versöhnen: D a dein Bruder Das Ruder Des Hauswesens führt Und kein N a r r ist, Sondern P f a r r ' ist, Der ganz Sulzbach regiert, Der zwar genötigt, Auf Predigt Und manches verzicht't, Auch im Kranze Keine Lanze Für Steudel mehr bricht; D a man ihn ferner Trotz Justin Kerner Als Dichter begrüßt, Und, obgleich Dichter, E r doch die Lichter Für die Haushaltung gießt; D a er dir endlich Unendlich Viel Gutes erweist, Wie er noch gestern Seine Schwestern Mit Zimtstern gespeist: So sollt' ich schließen Aus allem diesen — Doch ist's gescheiter,
18 19 20 21 23 33 M
Werke I 255 f. ebda. 212. ebda. 213. ebda. 255, 345 ff., 350 ff. ebda. 196. ebda. 328 ff., vgl. auch Vogellied, ebda. 212 und Anm. zu 329 (449). Zum Geburtstag 1843, Werke I 330 f.
sie
schmollt,
Die geistigen Grundlagen des Spiels
30
Ich sag' nicht weiter U n d mach' ohne Zirkel Einen schönen
"
J e d e Kleinigkeit wird in Scherzversen besungen u n d jedes Geschenklein mit Versen begleitet. Wie M a l l a r m é schreibt er auf ein Ei — wobei m a n sich f r a g t , wie die achtzehn Verse des Gedichts darauf Platz gehabt haben —, 2 6 auf eine Versteiner u n g , " auf seine Blumentöpfe und Trinkschalen. 2 9 G u r k e n r e z e p t e , Salatsamen, sogar Stecknadeln werden besungen, 2 9 Kochrezepte u n d Q u i t t u n g e n 3 0 versifiziert. D a s kleinste Ereignis, etwa d a ß er aus Ärger über seine F a n n y , die nicht K l a v i e r spielen will, einen Spiegel zerbricht 3 1 oder d a ß ihn Schnaken bei der KlopstockLektüre stören, 3 2 bekommt ein Gedicht. Diese Verspieltheit ist so völlig kindlich, d a ß sie auch nicht vor derben Spaßen wie N u n , an welchem Paragraphen Sind w i r neulich eingeschlafen? — — Horch'! w a s scholl? Donnert's wohl??" — „Fritz sitzt auf dem H a f e n " — — , M
u n d vor parodistischen Verballhornungen b e k a n n t e r Gedichte U h l a n d s „ M o h n " („Scherz" 5 4 ), Goethes „Schäfers Klagelied" Klagelied" 3 5 ) oder die „ W a n d e l n d e Glocke"
zurückscheut. („Lammwirts
Es war ein Kind, das w o l l t e nie Zur Putzscher sich bequemen, U n d alle Tage fands ein W i e D e n Weg zum Markt zu nehmen.
Doch w e h e ! wehe! hinterher D i e Putzscher k o m m t gewackelt. 3 *
müssen zur Schilderung p f a r r - und wirtshäuslicher Begebenheiten herhalten. Keines andern deutschen Diditers Werk quillt in einen solchen Reichtum von Augenblicksscherzen über; darüber haben sich schon Mörikes Freunde, besonders F. T h . Visdier, geärgert, die mehr ernsten Fleiß von einem solchen Talent erwarteten und somit die eigentlidie Quelle von Mörikes Spiel u n d Dichtung nicht 25
ebda. 254 f. A u f ein Ei geschrieben, ebda. 220 f . 27 Einer Freundin auf eine Versteinerung geschrieben, ebda. 308. 28 ebda. 320 ff. 29 ebda. 348 f. 30 Frankfurter Brenten, ebda. 275 f.; Quittung ebda. 308 f . 31 D e r Spiegel an seinen Besitzer, ebda. 346. 32 Waldplage, ebda. 168 ff. 33 D i e sechs oder sieben Weisen im Unterland, ebda. 298 f. 34 ebda. 261. 35 ebda. 209 f. 36 Eduard Mörikes Haushaltungsbuch hg. v. Bezirksheimatmuscum Mergentheim o. J.. Faksimile 29. 26
Das dämonische
Spiel
31
erkannten. Es ist leicht gesagt, diese Gelegenheitsgedichte seien neben der „großen Dichtung" unbedeutende Scherze; so kann man nur sprechen, wenn man Mörike aus dem engen Blickwinkel der heutigen Dichtung sieht. Hinter Mörikes Gelegenheitspoesie steckt mehr: in ihr glänzt wohl zum letztenmal etwas von
einer
versunkenen W e l t der Dichtung auf, von der Welt des R o k o k o mit ihrer tänzelnden und scherzenden Gelegenheitspoesie. 3 6 " Zu diesem gesellschaftlich-geselligen Element gesellt sich ein Wesenszug Mörikes, der für uns wichtig ist: sein „unvergleichliches Talent humoristischer M i m i k " . 3 7 Die großartige G a b e zur Menschendarstellung läßt ihn das Theater so leidenschaftlich lieben, daß er von sich sagt, er könne „noch zum Wilhelm werden", 3 8 und einmal sogar als Hofmarschall
K a l b bei einer
Meister
Theatertruppe
einspringt, worauf die Sage geht, der V i k a r ziehe mit einer wandernden Schauspielertruppe umher. 3 9
Vor
allem aber erschafft sich Mörike
Phantasiefiguren,
mit denen er zeit seines Lebens seine Bekannten mystifiziert und seine Freunde unterhält. Immer wieder erzählt er in den Briefen, daß er bei dieser oder jener Gelegenheit Komödie gespielt habe. Die Figuren, die er vor den Augen seiner Zuschauer entstehen läßt, sind bis auf .ganz wenige Ausnahmen bürgerliche O r i ginale, Karikaturen kauziger Zeitgenossen; manche von ihnen hat er auch gezeichnet. D a gibt es einen „ P o u r q u o i " :
„Der Kerl kommt nemlich, so oft er
Gründe anführen will, in ein solches Stocken mit nemlich — ä — natürlich und dergleichen, daß der Zuhörer kaum mehr zu atmen fähig ist; und dabei hat er die Caprice, gerade immer das erklären zu wollen, was sich platterdings von selbst versteht . . . ein Mensch, der seine Gedanken nicht an den Mann bringen kann, sich darüber verhaspelt, und in die ärgste Pein gerät". 4 0 D a n n kennen wir einen „Bombeaga", eine Mundartparodie auf die Verwandten von Mörikes Frau, 4 1 einen Pächter B u n z , 4 2 einen Theatercoiffeur Monsieur Ognotet, dessen N a m e nach Zwiebelkuchen tönt und der ein französischer Verwandter Wispels ist, 4 ' einen fingierten
Kinderfreund Äderlein, 4 4 den Herrn Krägle, den kropfigen Angestellten
der Rechnungsbalance in Karlsruhe, 4 5 den groben Wüterich Kohler, 4 ® die unerträgliche Krankenpflegerin K r a u ß , die Mörikes Schwester pflegen, 47 oder die 3 6 " Eine ähnliche Fülle von Gelegenheitspoesien bietet später in der französischen L i t e r a t u r Stéphane M a l l a r m é , vgl. O e u v r e s completes pubi. p. H e n r i M o n d o r et G . J e a n A u b r y , P a r i s n r f G a l l i m a r d 1 9 5 6 , 7 9 ff. 37 38
D . F . Strauß, L u d w i g B a u e r , Ges. Schriften ed. E d . Zeller, Bonn 1 8 7 6 — 7 8 , I I 2 0 3 . an Luise R a u 17. 7. 1 8 3 1 , Briefe 2 9 1 .
Maync, Mörike 141. L u d w i g B a u e r , B r i e f v o m 9. 10. 1823, zitiert nach E d u a r d Mörike, Liebmund M a r i a Wispcl und seine Gesellen hg. v. W a l t h e r E g g e r t W i n d e g g , Stuttgart 1919, 17 ff. 39
40
ebda. 21 f. ebda. 1 9 ; vgl. an M a r g a r e t h e Meyer 47. 41
42
43 44 45 46 47
von Speeth 5 . 5 . 1 8 5 1 ,
Zeichnungen ed. M e y e r 2 9 , 5 6 . an H a r t l a u b 2 4 . 1. 1 8 6 2 , Briefe 7 5 4 . Zeichnungen ed. M e y e r 3 2 , 5 7 . ebda. 39, 6 0 . Zeichnungen ed. G ü n t t e r 5 7 .
Briefe 6 9 9 ;
Zeichnungen
ed.
32
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Kaiserin Brimsille, die ihr 50 000 Gulden schenken will. 4 8 Andere Figuren besitzen keinen N a m e n , nur einen kauzigen C h a r a k t e r : Mörike schmeichelt einem Freund, von dem das falsche Gerücht geht, er habe in der Lotterie gewonnen, als wohlbeleibter, sich räuspernder Bonvivant 4 * u n d gibt sich als alle A r t e n von P f a r r h e r r e n , als einen, der das reine „Euangel" predigt, dh. n u r den T e x t liest, ohne darüber zu predigen, oder als den P a t e r Schaffner des „Besuchs in der K a r tause", dem der K ü r a ß besser ansteht als die Kutte. 5 0 Natürlich h a t m a n auch f ü r die u n d jene Figur Vorbilder in Zeitgenossen gesucht u n d gefunden. 5 1 D o d i schreibt Mörike einmal a n H a r t l a u b : „Ich las ihnen auch den Sehrmann v o r u n d spielte endlich noch Komödie". 5 * Zu einem großen Teil sind seine Gestalten einfach das, was er Sehrmänner nennt, 5 8 Menschen mit „Schnurrbartbewußtsein" und „glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl": „Die Tugend selber zeiget sich in Sehrheit gern", Doch nicht die affektierte Fratze, nicht allein Den Gecken zeichnet dieses einz'ge Wort, vielmehr, Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt, Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier, Dies und noch manches andere begreifet es.54
Eines dieser Geschöpfe spielerischer Phantasie, der abgerundetste und durchgearbeitetste aller Sehrmänner, ist Liebmund Maria Wispel, der Dichter der „Sommersprossen". Er ist die Figur, die zur „großen" Dichtung Mörikes hinüberleitet; er ist der Schlüssel z u m innersten Wesen von Mörikes Kindlichkeit. Wispel stammt aus Mörikes Jugend, er ist ein Geschöpf der Welt von O r p l i d in jener „ziemlich weitverbreiteten See mit lieblichen, duftigen Inseln", welche die Kinder „vom schönsten P u r p u r brennend rot erleuchtet" im Astloch des Knaben N o l t e n sehen. Wispel ist mit O r p l i d u n t r e n n b a r verknüpft. D a s spüren wir schon aus den Briefen der Freunde, so wenn Bauer an H a r t l a u b schreibt: „Was meinst D u , wenn wir erst den dritten M a n n bei uns haben? wenn wir in Ernsbach oder Wermutshausen das Zelt von O r p l i d aufschlagen u n d die W e r k stätte des Uchruckers u n d die Bude des Professors eröffnen?" 5 5 Mag sein, d a ß in Wispel die Erinnerung Mörikes an ein Ludwigsburger Original, einen Perückenmacher Fribolin, weiterlebt, den Kerner als einen „ganz dürren, schlanken, langgezogenen Menschen in einem enganliegenden, weißen, gestrickten Wämschen, an welches zugleich audi die langen weißen Beinkleider samt den 48
ebda 54. an H a r t l a u b 21.8.1826, Briefe 67 ff. 60 an H a r t l a u b 24.1.1862, Briefe 754, vgl. W e r k e l 177 ff.: Besuch in der Kartause. 51 zum Präzeptor Ziborius vgl. Werke I Anm. zu 214 (442). Sehrmänner: Zeichnungen ed. Meyer 24, 42, 55, 62; Maync, Mörike Anm. zu 340 (577). 52 an H a r t l a u b 29.12.1842, Briefe 559. 53 An Longus, Werke I 164 ff. Der Ausdruck Sehrmann stammt nicht von Mörike, vgl. ebda. Anm. zu 164 V. 27 (436 f.). 54 ebda. 165. 55 Bauer an H a r t l a u b 4. 4. 1829, zitiert nach Wispel ed. Eggert Windegg 23. 49
Das dämonische
Spiel
33
Strümpfen angestrickt waren" schildert, 56 wie Maync meint; 5 7 zu wirklichem Leben ist Wispel erst in Tübingen und nur zusammen mit seinem Genossen, dem Budidrucker, gespielt von Mörikes Freund Ludwig Amandus Bauer, gekommen. Uber die „Freimaurerloge", über das geheimnisvolle „Brunnenstübchen, von dem am Tage künstlich verdunkelten und kerzenerleuchteten Gartenhause, wo er [Mörike] mit seinen Erwählten in Shakespeare lese, oder von Orplid, der Stadt der Götter, sich unterrede", von dem „nur wunderliche Sagen im Volke gingen", wie D a v i d Friedrich Strauß erzählt, 5 8 ist hier nur das nötigste zu berichten: 5 ' Orplid ist alles, was Jugend sein kann, Freundschafts- und Geheimbund, Poesie einer eigenen mythischen Welt, Zauberwort f ü r alle Träume der Ferne. Orplid bedeutet aber auch Jugendpossen und Jugendscherze, Bogen- und Pistolenschießen, Trinken und Rauchen, bedeutet auch Wispel und den Buchdrucker. Wispel ist „ein verwahrloster Mensch von schwächlicher Gestalt und kränklichem Aussehen, eine spindeldürre Schneiderfigur", aber stutzerhaft gekleidet und von affektiertem Betragen. 60 So tritt er in Larkens' phantasmagorischem Zwischenspiel vom letzten König von Orplid zusammen mit seinem Freund, einem groben, versoffenen Buchdrucker, auf. 61 Die beiden Gesellen halten mit dem geheimnisvollen Buch aus dem Tempel N i d r u - H a d d i n das Schicksal Ulmons, des letzten Königs von Orplid, in den Händen. Kollmer, der Richter von Eine, kann es jedodi den „sdimutzigen und unwissenden Burschen" 82 leidit abnehmen. In der eigentlichen Wispelszene warten die beiden auf Kollmer und träumen vom Erlös aus dem Verkauf des Buchs, den keiner mit dem andern teilen möchte. 63 Der Buchdrucker ist betrunken und grob, Wispel immer geschäftig und unruhig, von einer Affektion, die auch noch dem größten Elend seine vornehme Seite abgewinnt. Der Buchdrucker schwäbelt („Das ischt ja eine wahre Schweinerei!") und flucht; Wispel hüpft von Fremdwort zu Fremdwort, er rangiert, embelliert, transiliert usw.; er hat keine Haare, sondern Kapillen, die er sich mangels Pomade mit Schmalz bestreicht, der tolpatschige Buchdrucker ahmt ihn darin auf seine Weise nach. Wispel hat nicht nur eine geläufige Zunge, sondern auch einen geläufigen Verstand voll Unsinn und Gedankenschrullen. Sein Freund hält dem nur die Faust als Ausdrude seines Geistes entgegen. Die Szene endet mit der Enttäuschung, daß Kollmer nicht persönlich ersdieint. Der Buchdrucker bindet Wispel fest, um sich allein dem Auspacken des Profits in Form von Mehl, Honig und einem goldenen Kettlein zu widmen. Wispel „fängt an, mit dem Saft seines Mundes künstliche Blasen nach der Art der Seifenblasen zu bilden. Der Budi56 Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, Stle. poet. Werke ed. Josef Gaismaier, Leipzig o. J., I V 222. 57 M a y n c , Mörike 23. 58 D . F. S t r a u ß a a O 203. 59 vgl. etwa W e r n e r Zemp, Mörike, Elemente und Anfänge, Frauenfeld Leipzig 1939, 58 ff. 60 W e r k e II 21 f. 61 7. Szene, W e r k e II 127 f. 82 2. Szene, ebda. 111. 63 8. Szene, ebda. 128 ff.
3
Liede,
Dichtung
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Die geistigen Grundlagen des Spiels
drucker sieht ihm eine Zeitlang durch das Schlüsselloch zu. Endlich schläft Wispel ein." 4 4 Die heitere Seifenblase d e r Szene löst sich auf. Mörike ist es bei dieser Fassung nicht recht wohl, schreibt er dodi an einen J u g e n d f r e u n d : „Die Wispelszenen des Orplidstücks h a b idi ohnedem revidiert u n d alles weggestrichen, was allzuderb aussehen könnte. W o f e r n D u ' s aber sonst im Mindesten nidit passend hieltest, unterblieb' es natürlich."* 4 Freilich weicht d a n n die zweite Fassung in d e r Sammlung „Iris" (1839) k a u m v o n der ersten ab, wohl weil der Diditer auf die geplante W i d m u n g an die Prinzessin M a r i e v o n Württemberg verziditet hat. In der dritten Fassung des „Letzten Königs v o n O r p l i d " , des „Schattenspiels", wie es nun heißt, ist die Wispelszene völlig umgearbeitet u n d straffer aufgebaut.* 8 D i e beiden Figuren sind nun professionelle Schatzgräber, was den Fund des Buchs erklären soll. G u m p r e d i t , der B r a n n t w e i n z a p f , wie M ö r i k e jetzt den Buchdrucker nennt, flucht z w a r nodi u n d streicht in seiner Tolpatschigkeit zu viel Schmalz auf die H a a r e , aber er schlägt nidit mehr drein, sondern a n t w o r t e t auf Wispels Theorien mit „Guet". Wispels A f f e k t i e r t heit ist stark eingedämmt. Die Wispelszene ist kein D o r f s d i w a n k mehr, sondern der märchenhaften Südseeszenerie der Insel angeglichen. In E r w a r t u n g des jetzt exotischen Lohnes (Schildkröten, Kokosnüsse, A n a n a s und Gazellenfelle) p h a n t a siert Wispel — er h a t sich schon in der ersten Fassung als Professor ausgegeben — über das Schulwesen, er möchte ein „Gymnase, ein Collège" gründen u n d als Professor „employiert" werden. Wispel w i r d Professor Sidieré und hält seine ersten Vorlesungen. Seine neue Liebessehnsucht nach den Töchtern Anselmos, der Kollmer ersetzt, unterstreicht er mit einer „Serenade". D a s Speidielblasen ist gestrichen. Zweifellos hat diese U m f o r m u n g trotz des durchdachteren A u f b a u s , t r o t z der neuen Professorenhafligkeit Wispels und trotz der Serenade viel v o m Reiz der ersten Fassung verloren. Wispel oder Professor Sidieré — beide sind ein und dieselbe Person — ist auch in Mörikes Leben von allen kauzigen Geschöpfen des Dichters das wichtigste. So berichtet er 1824 an M u t t e r und Luise von der Rückreise nach T ü b i n g e n : „Nachher lief ich einen Berg hinauf, hinter den R ä d e r n her und spielte im T o n des vagierenden, imaginären H e r r n Professor Sicherer auf ein übriges Plätzchen in der Sdiäse an," 9 7 oder er schreibt an Johannes Mährlein in Wispels Sprache: „Noch h a t t e ich in das Bilderpäckchen erst ein u n d den a n d e r n schüchternen Blick geworfen u n d ihn sogleich wieder (wie der Professor Sicherer sagen würde) mit fröstelnder A h n u n g zurückgezogen." 6 8 Ein andermal erzählt Sicheré, er habe an einem M a n n gerochen, der einmal an einer indischen Blume u n d z w a r an einer 04
szenische Anmerkung, ebda. 134. an Hermann Hardegg 17. 2. 1839, Unveröffentlichte Briefe hg. v. Friedrich Seebaß, Stuttgart 1941, N r . 66, S. 95. 66 jetzt 4. Szene, Eduard Mörike, Maler Nohen, Vierte Auflage, Dritter Abdruck der Neubearbeitung [hg. v. Julius Klaiber], Stuttgart 1893 (im folgenden zitiert als „KlaiberAusgabe") I 177 ff. 67 an Mutter und Schwester Luise 6. 2. 1824, Unveröffentlichte Briefe N r . 10, S. 11. «8 an Johannes Mährlein 14.3. 1828, Briefe 107. 65
Das dämonische
Spiel
35
Aloe gerodien habe. 69 Einen H e r m a n n Kurz zieht Mörike gleich zu Beginn der Freundschaft in dieses Spiel hinein; wie Kurz einmal seinen Schreibtisdi und sein ganzes Zimmer verwüstet findet, hat er zuerst den Buchdrucker als Übeltäter im Verdacht: „Aber wie kam der Buchdrucker hieher, wenige Tage nachdem er mir einen excellenten Brief geschrieben hatte, wozu er sich offenbar Ihrer Feder bediente und f ü r dessen Besorgung ich Ihnen meinen gefühltesten D a n k zu sagen habe? Überdies, wenn das Papier von ihm herrührt, so mußte bei einer der beiden Strophen, die eine kritische Exegese allerdings, ohne sich zu blamiren ihm zuschreiben könnte, Wispel Mitarbeiter gewesen sein." 70 In Mörikes Briefwechsel mit den Hartlaubs würde Wispel etwa bei der Geburt von Hartlaubs erstem Sohn „zur Revanche und einiger D ä m p f u n g elterlichen Stolzes nur ganz im Gegenteil hartnäckig nur von der .lieben Kleinen', Hildegardis oder Edeltrudis reden." 7 1 Wispel hat Mörikes Schneider und Türmer in Mergentheim besucht, der ihm aus einem gestohlenen Stüde grünen Bettvorhangs ein neues Fräcklein anfertigen soll. 72 Im Alter gedenkt der Dichter wehmütig Bauers als des Buchdruckers, wie er den Maximiliansorden bekommt: „Denke dir den seligen Bauer als Buchdrucker, wenn er mich seinen Bruder, in diesem Augenblicke vor diesem H o f m a n n h ä t t e stehen sehen, um einen Orden in Empfang zu nehmen — midi! wie boshaft er hinter dem Ofen in seine Faust ,gekränkelt' hätte!" 7 ® Natürlidi hat Mörike Wispel in seiner ganzen Geckenhaftigkeit und Frechheit, mit Stöckchen, Frädtdien und H u t auch gezeichnet. 74 Für Bauer und H a r t l a u b sind zwei der drei eigentlichen Wispeliaden außerhalb des N o h e n geschrieben. Von der dritten, der zeitlich ersten, kennen wir den Empfänger nicht. D a ß es ebenfalls Bauer oder H a r t l a u b war, scheint unwahrscheinlich. Die Einleitung ist für jemanden berechnet, der Wispel noch nicht kennt. Datiert ist dieses Schreiben Wispels „den 4. Streichmonds 26"; falls das Datum stimmt, wäre es also 1826 geschrieben, sei es in Tübingen, worauf die Klagen über die Einsamkeit Wispels in Orplid hindeuten könnten, da Bauer 1825 das Stift verließ, oder in Oberboihingen, Mörikes erster Vikariatsstation, was man aus der Ortsangabe „Oxawittle" als einem Spiel mit ßoihingen — bos-oxa herauslesen möchte, oder schließlich in Möhringen. Der Brief ist offensichtlich mit Anspielungen auf dem Empfänger bekannte Orte, Begebenheiten usw. gespickt, vielleicht auf Tübinger Stiftsdinge: Oxawittle, den 4. Streichmonds 26. Verehrtester Herr und Gönner! Ich nehme mir die Frechheit, Ihnen ein Sendschreiben anzuwidmen. Mein Bruder hat mir gesagt, Sie haben hierher-geäußert, daß Sie meine Individual-Bekanntschaft zu machen wünschten. Sie kennen meine Leidenschaft für Wissen, Schönes und 89
an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 65. Kurz an Mörike 16.12.1837, Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike hg. v. Jakob Baechthold, Stuttgart 1885, Nr. 16, S. 52 ff. 71 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 9. 7. 1845, Briefe 597. 72 an Hartlaub 29. 6. 1846, Briefe ausgewählt und hg. v. Karl Fischer und Rudolf Krauß, Berlin 1903, II 127. 73 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 10. 12. 1862, Briefe 759. 74 Zeichnungen ed. Güntter Abb. 38; Zeichnungen ed. Meyer 28. 70
3»
36
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
Literaturverzweigung — so kennen Sie die Hälfte meines Ichs. Ich-Nichtich sagt schon Ficht. Indessen je länger ich auf diesem vergessenen Eiland, wo nicht die geringsten Literatur-Hebel existieren, fuße, je mehr sage ich, sich dieser Aufenthalt — in Ermangelung gehöriger Abfahrt-Navigation — verlängert, desto mehr verkürzt sich, um ein Wortspiel zu gebrauchen, mein Wirkungskreis. Das einzige, was ich hier seit 1 Jahr habe tun können, sind einige wenige Novizen über die hier vorkommenden Schwirrvögel oder Insekten; ich habe in der Gegend des Wartturmes, im Löffelgrund, eine Klasse Wanzen entdeckt, die einen viel schärferen Geruch hat als die deutsche Bettwanze, sie nistet hinter alten Baumrinden und möchte füglich die Lauerwanze genannt werden. Außerdem einige Mutmaßungen über Geschichte der Vor-Menschheit. Hierzu waren mir die Sagen, welche unter dem Volke hier umlaufen, ohne Interesse, da ich ihren Ursprung zu wenig kenne und durchaus gründlich sein möchte. Der Boden dieser Insel ist auch durchaus nicht klassisch, man findet nicht eine Statue, nicht eine. Ich muß jetzt abbrechen: es ist zehn morgens, wo ich mich gewöhnlich im Freien zu rasieren pflege. Fortgefahren nachmittags 12 Uhr. Ich bin sehr beschäftigt, eine warme Quelle hier zu entdecken, um zum Behuf des Rasements, immer sogleich warmes Wasser zur Hand zu haben." Aus Hartlaubs Nachlaß stammt die zweite Wispeliade, ein Reiseerlebnis des Professors und des Buchdruckers, das Mörike berichtet worden sein soll. 7 8 Der Professor will mit dem Buchdrucker unter Zuhilfenahme eines „Flächendeuters", das heißt einer Landkarte, nadi Aalen reisen, um eine käufliche Druckerei zu besichtigen. Unterwegs werden sie von einem H e r r n belauscht, als der Professor dem Budidrucker den Inhalt seines ersten Werkes auseinandersetzt, zu dem er sdion drei bis vier Vorreden im K o p f hat, denn „die Prolegomenen sind die Hauptsache, vielleicht geb' ich sie auch einzeln heraus." „,Ein Werk aber wird Aufsehen, Revolte veranlassen, das ist mein Sturz Linees. Du kennst diesen Naturalisten, diesen Schwärmer. Sein System ist sinnlos. Es gibt nichts Kapriziöseres als seine Einteilung der Pflanzen- und Bestial-Welt. Man kann ihn einen trocknen Verstandes-Schwärmer nennen, einen Sophisten. Ich habe 302 Sophimata bei sei'm System aufgezählt.' Buchdr.: ,Mnja.' Prof.: .Meine Gegenbehauptungen werden stark, sie werden kühn sein, aber umso gewisser werden sie siegen. Man wird sie am Ende natürlich finden, man wird Linie'n einen Pedantiker nennen: Was konnte ihn z . B . verleiten, die Rubrik der Säugetiere so einzuschränken: Ist etwa die Bremse, der Blutegel nicht so gut ein Säugetier als der Elephas helfenbeiniensis etc.? Wie? übersah Herr Linee denn gänzlich den Saugrüssel dieser Geschöpfe? Er muß wahrhaftig noch keine Biene in der Nähe betrachtet haben. Wie weise ist doch vom Schöpfer alles eingerichtet! und das sollte Herrn L. entgangen sein? Ferner wie engherzig ist bei ihm die Rubrik .Insekten'! Was will er denn? Ich werde den Satz aufstellen, daß alles Geflügel, was unter der Größe einer Schnepfe ist, zu den Insekten zu rechnen sei. Mit 8 Worten ist dies bewiesen. Ferner: Warum rechnet Herr L. die Fische nicht zu den Mollusken? gibt es kätschigeres Fleisch als das der Schwimmtiere? Der Walfisch ist der größte Mollusk. Uberhaupt aber was will eine Einteilung der Werke des Allvaters besagen vonseiten eines endlichen Verstandswesens? Wie kann er sagen, dies ist ein Ungeheuer, jenes ein Infusionstier? In den Sehnerven Allvaters rinnt das Volumen eines Nilpferdes zu einer Banmeise zusammen. So ist der Mammut eigentlich nur die größte Infusion.' 75 78
Werke II 497 f. ebda. 449 ff.
Das dämonische
Spiel
37
Buchdr.: ,Mnjä.' Prof.: .Weil aber doch einmal klassifiziert sein will, so Ich werde namentlich die bisherige Ordnung der Planeten, umstoßen. Ebenso das Gestein-Reich. Ich werde zeigen, daß es Männgen und Weibgen gibt. Auch sie begatten sich.' etc. Hier wurde der Buchdrucker aufmerksam, und es entspann ich nicht erzählen mag . .
will Ich klassifizieren. Blumen oder Floskeln auch unter den Steinen sich ein Gespräch, das
A m A b e n d stellt sich d a n n heraus, d a ß der Flächendeuter doch nicht den rechten W e g gewiesen hat, u n d der Professor erhält v o m Buchdrucker im „Privet" eine tüchtige Tracht Prügel. D i e zoologische Systematisierung nach neuen N o r m e n kennen w i r audi einem andern „Versuch" Mörikes: 1840 teilt er die Menagerie in
aus
Tierklassen
ein, in „1. stinkende u n d zugleich singende, 2. rein singende, 3. rein stinkende, 4. solche, die w e d e r stinken noch singen, unter welche letzte der Joli und die K a t z e zu k o m m e n sich schmeicheln". 7 8 N e u ist jedoch an dem Bericht die Sprache des Professors. D e r umständliche Ausdruck u n d
die Fremdwörter w i e
g o m i n e n u n d negotiieren sind z w a r dieselben geblieben; aber jetzt
Prole-
verändert
Wispel-Sicheri auch die Ausspradie der Wörter. D i e Ameisen w e r d e n z u „Banmeisen", der Buchdrucker z u m „Uchrucker", der in der „Ruckerei ruckt". A n scheinend ist das anlautende A zu offen und direkt, „Ban"-meisen lassen sich eher lispeln; w o das B d a n n wirklich hingehört, w i r d es als zu banal gestrichen. D a s fehlende D ist w o h l dem Mangel an Zähnen zuzuschreiben, der im O r p l i d spiel ausdrücklich e r w ä h n t w i r d . 7 8 Mörikes Wispelei greift nun also auch auf den Sprachkörper über. D i e schönste W i s p e l i a d e hat Mörike L u d w i g Bauer gesdienkt: die „ S o m m e r sprossen / v o n / L i e b m u n d Maria Wispel / Bel-Esprit / Lettre de cachet &c 8cc / Creglingen / zu haben bey dem Verf. / 1837. / Mit einem Stahlstich". 8 0 W i e Mörike zu diesen Gedichten g e k o m m e n ist, erzählt er H a r t l a u b : „Nun gleich etwas Neues. Du warst kaum weg und ich lag auf dem Bette, so klopfte es an und H e r r Professor Sichert tritt herein. Die Freude war natürlich auf beiden Seiten groß. Nachdem er mir mit dem bekannten Blinzeln und jenem Zwinkeln des ganzen Gesichts verschiedene ganz undenkbare .Plänchen zur Suffulzierung seiner Pekuniar-Subsistenz' mit größter Unklarheit in der beliebten desultorisdien Manier entwickelt, wies er mir ein Gedicht von nicht ganz einem Dutzend Versen und wünschte, daß ich ihm einen Verleger hier [in Mergentheim] ,ausfündig* mache. Dies Markelsheim — es würde gar zu gut auf dem Titelblatt als Druckort lauten, wenn er nicht etwa doch noch vorzöge Marienthal [Irrenanstalt] zu setzen. Ich bat ihn, dieses vorderhand noch dahingestellt sein zu lassen und wenigstens noch ein Stücker zwölf oder vierzehn Lyriken zu verfassen, indem ein einziges doch gar zu dürftig wäre. Er wollte dieses nicht sogleich begreifen, jedoch versprach er's mir zulieb. Indessen bat ich ihn, jenen Erstling f ü r Dich, als einen Hauptkenner, ins reine zu schreiben, was denn auch gleich mit großen Vorbereitungen in Rücksicht 77
ebda. 450 f. an Wilhelm H a r t l a u b 13. 10. 1840, Briefe 501. 79 Werke II 129. 80 Faksimileausgabe der Sommersprossen: Wispel ed. Eggert Windegg 65 ff.; T e x t auch Werke II 431 ff. 78
Die geistigen
38
Grundlagen
des
Spiels
auf die Feststellung des Tisches, Anschärfung des Gänserichs, Atramental-Mixtur usw. geschah (wobei er fragte, ob ich es rouge oder noir verlange). Beim Weggehen bat er midi um 12 Kreuzer; er wolle in des Adlerwirts Garten ein ,Boem' konskribieren, wozu er sich jedoch mit etwas Hopfenmälzling aufreizen müsse. E r werde dort die Nacht zubringen. Licht führe er stets in der Tasche, ingleidien Papier und dergleichen. Heut früh nun kommt er wieder und bringt richtig ein Gedicht ,An Goethe'. Es fängt an: Du hast mich keiner Antiwort gewürdigt? Wohl, weil mein Geist sich kühn dir ebenbürtigt, Deshalb, du Sprödling, willst du mir mißgönnen, Dich Freund zu nennen? Hab idi dir meine Framse 81 nicht gebaichnet? Die zärtste Neigung zart dadurch bezeichnet? usf. Allmählich wird er ganz malitiös und höhnisch, macht Goethes Gesamtwerke herunter, beruft sich auf Pustkuchen usw., spricht von Gemeinheit und Frivolität. Da kommen Stellen vor wie folgende: H a ! ließest du dich schmälings von der scharfen Kritik entlarven! Und Enfin, so sind gesamtlich deine Verse Nur güldne Ärse. Doch idi darf nicht fortfahren. Kurz, unverschämt, was man nur sagen kann! Wir schieden übrigens als gute Freunde. Heute früh ist er nach Creglingen, nach welcher Stadt er schon seit frühster Jugend eine wahre Sehnsucht hatte, des bloßen Namens wegen. In Cleversulzbadi hofft er deine persönliche Bekanntschaft zu machen." 8 1 D i e „Sommersprossen" selbst sind „ S r WohLgebohrn H e r r n P r o f . L u d w i g v. (Luigi de)
Bauer
zum
XVten
Weinmondes
MDCCCXXXVII
gebaidinet
vom
fasser.", sie sind also ein köstliches Geburtstagsgeschenk z u m 15. O k t o b e r
Ver1837,
ein Heftchen in hellblauem, biegsamem G l a n z k a r t o n mit feinem weißem Schreibpapier 8 3 , v o n M ö r i k e aufs sorgfältigste mit allen erdenklichen
kalligraphischen
Künsten ausgestattet, mit Schnörkeln und verschiedenen Schriftarten — und F r a k t u r wechseln oft innerhalb eines W o r t s —
Antiqua
und mit einer nicht
ganz
ausgeführten Illustration zur Ballade „ D e r S t r a e f l i n g " : Wispel in gelbem F r a c k und grünen Nankinghosen w i r d nadi der Legende v o m P o r t i e r aus dem Zwiebelbeet gejagt. Schon im V o r w o r t schlägt Mörikes spielerische L a u n e über die G r e n z e n
der
Sprache hinaus: Bevorwortendes „Factürusne opera pretium sim — — — nec satis scio, nec, si sciam, dicere ausim" — so beginnt der große Tite-Live seine meisterhafte Geschichte des Römischen Stuhls, und ähnliche Gefühle der Bescheidenheit beseelten mich bei Auszwarkung dieser Poemen. Allein die Stimme zerschiedener Kenner und Mäzenaten, welche meiner poetischen Arterie einen, wohl nicht ganz fehl greifenden, Beifall zugeflüstert, (ich nenne hier statt aller Andern blos Se. Hochwürden, Herrn Dom Dechant Hart81 83 83
nach der Anmerkung Mörikes „Die Bremse", ein Gedicht. Brief an Hartlaub 14. 9. 1837, Briefe ed. Fischer-Krauß I 262 f. Werke I I 504.
Das dämonische
Spiel
39
laub in W.) ermuthigte mich endlich zu dieser literärbezüglidien Entreprise. Unschwer würde es gewesen seyn, die Banzahl der hier präsentirten Piecen auf das Dreifadie zu steigern, doch eben jener Kenner und Patron bemerkte, daß Gedichte, zumal Lyriken von gegenwärtigem Genre, wenn sie en masse antreten, nachgerade äkelhafl zu werden pflegen. Lange Vorreden sind die Sache eines, auch nur halbwegs, bedeutenden Schriftstellers nicht; es wäre daher lächerlich und abstrakt, ein W o r t weiter hinzuzufügen. Alles Übrige ist in der Nachschrift angeschiftet. W. 8 4 W i r e r k e n n e n W i s p e l a n seinen F r e m d w ö r t e r n w i e d e r , d a r a n , wie er d i e poetische A d e r z u r poetischen A r t e r i e m a c h t o d e r v o n einer l i t e r ä r b e z ü g l i d i e n
Entreprise
spricht, a n seiner g r o ß a r t i g e n U n w i s s e n h e i t , m i t d e r er a r i e r k e n n e n d T i t e - L i v e ' s m e i s t e r h a f t e Geschichte des R ö m i s c h e n S t u h l s e r w ä h n t . A u d i hier v e r m e i d e t den h a r t e n
A-Anlaut
u n d f o r m t die A n z a h l
zur Banzahl
u m . Es sei
er
daran
e r i n n e r t , d a ß diese A n l a u t v a r i a t i o n die G r u n d l a g e d e r meisten kindlichen
Aus-
z ä h l r e i m e b i l d e t . A b e r sonst ist W i s p e l r e i f e r g e w o r d e n u n d h a t sich eine eigene S p r a c h e angeschafft. D e r e n S i n n ist z w a r noch zu durchschauen, a b e r nicht m e h r d i r e k t aus d e m W o r t zu v e r s t e h e n , bis m a n e r k e n n t , d a ß h i e r d e r S c h w a b e m i t d e n W ö r t e r n seiner M u n d a r t spielt. D i e P o e m e sind „ a u s g e z w a r k t " , w a s nach d e m schwäbischen „ Z w e r g e "
wohl
so viel w i e „ m i t g e w a l t i g e r A n s t r e n g u n g h e r a u s g e a r b e i t e t " b e d e u t e t , m i t
dem
w o r t s p i e l e r i s c h e n U n t e r t o n v o n „ungeschickt g e a r b e i t e t " . 8 5 I m l e t z t e n S a t z s a g t d e r S c h w a b e „anschifte" f ü r a n f ü g e n . 8 8 D a ß es „zerschiedene" K e n n e r gibt u n d d i e L y r i k e n — d e r Strich ü b e r d e m I w i r d die L ä n g e a n g e b e n — a n - u n d nicht a u f t r e t e n , ist jedoch v ö l l i g eigene S p r a c h e . D a n e b e n schimmert in diesem V o r w o r t eine persönliche A n s p i e l u n g d u r c h : W i s p e l selbst h ä t t e sich g e w i ß nicht a n d i e W a r n u n g des K e n n e r s u n d P a t r o n s H a r t l a u b g e h a l t e n , d a ß „ L y r i k e n gegenwärtigem
Genre,
wenn
sie en
masse
antreten,
nachgerade
werden pflegen". Die Freunde haben w o h l Mörikes Wispeliaden
äkelhafl einen
von zu
Riegel
g e s t o ß e n ; anscheinend ist ihnen W i s p e l alLmählidi a u f die N e r v e n gefallen. Wispels S a m m l u n g besteht aus z w ö l f G e d i c h t e n in allen möglichen T o n a r t e n , B a l l a d e n , S t a c h e l r e i m e n u n d H o r a z - O d e n , g a l a n t e r u n d eigentlicher lyrik.
Das
Avertissement
am
Schluß
verspricht
weitere
Gedanken-
„Nachgeburten",
der
A n k ü n d i g u n g nach z u m Teil P a r o d i e n , e t w a „ A n die katholische R e l i g i o n [ P e t r i n i s m ] I m v o n H a r d e n b e r g ' s c h e n S t y l " , „ U m a r b e i t u n g des v . Schillerschen , L a u r e t t e a m F l ü g e l ' (Ich b e g i n n e : , W e n n dein F i n g e r d u r c h den S t a h l - D a r m g e i s t e r t ' ) " o d e r „ S o n e t t . U n t e r h e f t i g e n S c h m e r z e n , als ich in einem G e h ö l z e bei Z w e r e n b e r g lag u n d z u s t e r b e n m e i n t e " als P a r o d i e auf K ö r n e r s „ A b s d i i e d v o m Leben. A l s ich schwer v e r w u n d e t u n d hilflos in e i n e m G e h ö l z e lag u n d zu sterben m e i n t e " , H o r a z t r a v e s t i e n : „ A n d e n K r a m m e t s - V o g e l . ( w ü r d e , in flakkischer Weise, e t w a a n f a n g e n : , D u , P h i l o m e l e n s glücklichster S a n g - R i v a l ' etc.)", a b e r auch ein d i d a k tisches G e d i c h t „Bei B e t r a c h t u n g des G l a n z - G a i f e r s d e r G a r t e n s c h n e c k e hört. Lin.)". 81 85 88
Wispel ed. Eggert Windegg 70 f. H e r m a n n Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1904—36, VI.l 1442 f. ebda. I 252.
(cochl.
40
Die geistigen Dodi
nun
zu
den
Gedichten
Grundlagen selbst.
Sie
des
Spiels
beginnen
mit
einer
„Elegischen
Balladiere": Der Straefling Elegische Balladiere. Im Kerker zu Stouttgart gediditet d. 3. Ap. 1837. In des Zwingers Mißgeriidien Fröstelnd sitz' ich da; Weil man mich der königlichen Zwiebeln dräuen sah. Denn idi wähnt', es wär nicht übel. Wenn wir unserem Aquavit Statt gemeiner Zähren-Zwiebel Zärtern Schmälzling theilten mit. Und ich schlich zum Herrscher-Garten, W o der Silberstölzling schwimmt, Wo die Afrikanen schnarrten Und die Tulpe flimmt. ,Ihre Knolle auszuzwarken, Hilf, o Küpris, mir! Niemand wird mir dieß verargen, Niemand lauschet hier!' Und schon bohrt' ich auf die Neige Und schon gab sie nach, Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach. Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor, Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr. — —
Wie nothwendig Junge brechen Aus dem HühnerEi, So folgt jeglichem Verbrechen Stets die Polizei. In des Zwingers Mißgeriidien Fröstelnd siz' ich da, Weil man mich der königlichen Zwiebeln dräuen sah. 87 N i e m a n d w i r d nach diesem ersten Werkchen bezweifeln, d a ß W i s p e l ein Dichter ist, sind doch F o r m und I n h a l t m i t e i n a n d e r verschmolzen, wie es die L i t e r a t u r kritik
verlangt,
B a l l a d e ab. J a ,
die W i e d e r h o l u n g
der
ersten
Strophe
am
Schluß
rundet
auch poetische Sprache ist W i s p e l nicht abzusprechen,
er
die sagt
dräuen statt drohen und nennt die Zwiebel alliterierend „ Z ä h r e n - Z w i e b e l " oder „ S c h m ä l z l i n g " , weil er d a m i t seine Suppe schmelzen k a n n . Diese Substantive auf 8 7 Wispel ed. Eggert Windegg 74 ff.; eine etwas andere Fassung von „Prof. Sichert" bei Krauß, Mörike als Gelegenheitsdiditer 162 ff.
Das dämonische
Spiel
41
-ling haben es ihm ohnehin angetan, neben dem Silberstölzling für den Schwan haben wir schon den Hopfenmälzling, das Bier, angetroffen. Das Gebüsch wird zum Lust-Gezweig, aus dem der Bosmann, ein böser Mann also, eine Parallele zum Sehrmann, als goldbordierter Recke hervorbridit. Dem Bild von der flimmenden Tulpe ist ebenfalls eine gewisse Sprachgewalt nicht abzusprechen, selbst wenn es der Reimzwang herbeigerufen hätte. Die Kraft des Sdierzes liegt einmal vor allem darin, daß es sich um einen Zwiebeldiebstahl handelt, das Thema folglich der bilderreichen und oft abstrakten Sprache nicht ganz angemessen ist, dann natürlich in den Bildern selbst, die in der zweitletzten Strophe in logischen Unsinn umschlagen. Selbst wo blasseste Bilder miteinander kombiniert werden, erreicht Wispel unerhörte Wirkungen: „Und ich trat mit meinem Zweke / Floskelnhaft hervor". Daneben werden natürlich Wortscherze wie „auszwarken" eingeflochten. Anmerkungen und Anmerkungen zu den Anmerkungen zerspielen das Gedicht noch weiter. So wird die zweite Strophe mit der Fußnote ergänzt: Audi mein Kochwerk auszubessern Pröblings wollt idi's thun Diesen Wissenszweig zu größern K a n n mein Geist nicht ruhn,
worauf zum ersten Vers nochmals beigefügt wird: „Der Verf. beabsichtigte die Herausgabe eines Kochbuchs mit baichenen Ideen, welches sein Bruder drucken wollte." Aber auch andere Ergänzungen, etwa, daß Aquavit ein „Euphemism, pour Wasser-Soupe" und Reke „Altteutsch pour Portier" sei, spinnen den Scherz aus. Das nächste Gedidit „An die Schönen des Katherinen Stifts in Stuttgart", zwei Vierzeiler, in denen Wispel statt des Katheders „ein eigenes GeschichtsTheater arrangiren" will, ist auf Bauer gemünzt, der 1835-1838, also zur Zeit der „Sommersprossen", dort Lehrer war. „Der Antrag ging jedoch nicht durch und die wichtigsten Fächer werden durch Fuscher und suspendirte Pfarrer besezt". Die Ironie des Schicksals wollte es, daß auch Mörike 1851 dort in größter N o t eine Anstellung fand. Abgesehen davon, daß Wispel die Wißbegier durch ein kräftigeres Wiß-Gier ersetzt, fallen die Verse nicht aus dem Rahmen eines einfachen Scherzgedichts, ebenso könnte das übernächste „An eine Weinende" gut in den „Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten" stehen, besonders mit den beiden Schlüssen zur Auswahl: Dann in unserm Liebesgarten Wollen wir ein Kind erwarten, Das der Stordi, wenn's ihm gelingt, Einst aus Edens Teiche bringt. (Oder, falls Lezteres zu kühn, beliebe m a n : ) Nimm, o Liebliche, einstweilen Diese zartentworfnen Zeilen Und, als Mittel, diesen K u ß Wider deinen Zährenfluß. 8 8 88
Wispel ed. Eggert Windegg 80 f.
42
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Diese Verse reihen sidi völlig in die gesellschaftlichen Sdierzpoesien des beginnenden 19. Jahrhunderts ein. Vor ihnen steht jedoch der „Sarkasme" „An meinen Bruder den Uchrucker": Du Mich mit Perl-Schrift drucken? Nein! Ich bin die Perle und du bist das Schwein, 8 '
in dem sich Grobheit mit einer paradoxen Assoziation verbindet (Perl-Schrift — Perle — Perlen vor die Sdiweine werfen), wie wir sie aus Scherzen des zwanzigsten Jahrhunderts bei Morgenstern usw. kennen. Das fünfte Gedicht „La Jalousie" verspottet Ludwig I. von Bayern, den „guten König und mäßigen Dichter": Ich ging an Louis von Bayerns Schloß vorbey D a wispert' man ihm zu, daß ich es sei: Von Baiern eilt an's Fenster, mich zu sehn, Doch nur verstohlen wollt' er nach mir spähn; Ich merkt' es wohl und lächelt' vor midi hin: ,Ein Dichter sieht sehr oft aus Jalousien Ja manchmal gar aus prächtgen Basiliken Mit Basilisken-Augen nach sich blicken!'*0
N u r der Wortwitz mit Jalousie als Eifersucht und Fensterladen und seine unsinnige Fortsetzung Basiliken-Basilisken sind ganz wispelisch. Der Scherz von der Eifersucht Ludwigs auf seine Dichterkollegen war weit verbreitet; Gotthelf sdirieb nidit viel später: „Und endlich muß ich noch melden, daß mein Kolleg, der Ludi in Bayern, der audi Bücher sdireibt, sdialus über midi geworden ist und meine ,Armennot' verboten hat. Madie er nur, was er kann, deswegen verbiete ich ihm seine Bücher nidit, bin nicht schalus über ihn, er wird deswegen seinen Büchern um nichts besser abkommen, der arme L u d i ! " " Es mußte Wispel reizen, einmal wie Mörike H o r a z zu übersetzen, und er wählt d a f ü r ausgerechnet „Vides, ut alta s t e t . . (Chansons, Livre 1, od. 9)". D a ß dabei nur Verdrehungen, Mißverständnisse, kurz Unsinn herauskommen kann, ist klar. Zur Theologie der Zeit mußte er ebenfalls Stellung nehmen. Im „Sarkasme wider den Pietism" verrät er das Rezept eines „wonne-schmerzlich Reu- und BußTränkleins", eines Extrait d'evangile aus dem in Branntwein eingeweichten „Evangilen-Buch", und in „Meine BAnsicht" wettert er gegen die StraußenEier von D. F. Strauß, den er freilich nicht gelesen hat, „weil der Preis zu diffizil", der aber die Unsterblichkeit „auch sogar in Würtemberg" zerstören will, und gegen dessen Drucker Osiander, dem auch der Druck des diristlidien Tasdienbuchs „Christoterpe" nicht helfen kann: Strauß und Osiander Müssen beide sterb', Einer wie der Ander, Trotz der Christoterp'! 88
ebda. ebda. 82 f. 91 Neuer Berner Kalender für das Jahr 1843; Stle. Werke in 24 Bden. ed. Hunziker und Bioesch, Erlenbach-Zürich 1921 ff., X X I I I 364. 90
Das dämonische
Spiel
43
Glaubt nur, d a ß die Hölle drüben Euch mit gleichem Recht verschluckt, Denn der Eine hat's geschrieben, U n d der Andere hats g e d r u c k t ! "
„Idi habe schon so manche Prosa von verkappten Wispels über midi zu lesen gehabt und freue mich nun auch vom wahren Wispel Poesie zu bekommen", schreibt Strauß darüber an Mörike. 93 Aber nicht nur Strauß betrachtet Wispel als Sehrmann, auch Goethe muß dem eifersüchtigen und schadenfreudigen „Dichterf r e u n d " herhalten: Sarkasme An v. Göthe D u hast mich keiner AntiWort gewürdigt, Wohl weil mein Geist sich k ü h n dir ebenbürtigt? Deßwegen, Sprödling! willst du mir mißgönnen Dich Freund zu nennen? H a ! eitler Stolz! Man sah dich von der scharfen Kritik Bustkuchens schon vorlängst entlarven; D a zeigte sidis, d a ß alle deine Verse N u r güldne Ärse! 9 4
Pustkuchen, der polemische Fortsetzer des „Wilhelm Meister", hat Goethe entlarvt. Sind die Ärse nur ein Reimspiel zu Verse und stehen f ü r Ähren? Bedeuten sie A . . . im Sinne des den Ähren entgegengesetzten Teils der Garbe,' 5 oder ist etwas weit Schlimmeres gemeint, etwa nadi dem Sprichwort „Ein schöner A . . . gibt schön Gestalt, und schön Gestalt hat groß G e w a l t " ? " Alle Varianten sind Wispel zuzutrauen, die Vieldeutigkeit mag beabsichtigt sein. Die zuletzt erwähnten Wispelgedidite scheiden sich von ähnlichen Scherzen aller Zeiten nur in den unlogischen Gedankenverbindungen und in der Sprache; diese beiden Elemente geben ihnen einen persönlichen Reiz. Von allen Seiten dringt Wispels Sprache auf uns ein, in den schon bekannten Bildungen Banzahl, Bansicht, baigen, wismen, Sprödling, in der schwäbischen Aufweichung des P zu Bandeist, Bustkuchen, in schwäbischen Ausdrücken wie „ausfündig" oder „beschmitzen" ( = beschmeißen, auch in „Turmhahn"), in orthographischen Fehlern wie Wariante, Reimvergewaltigungen wie „sterb": Christoterp'", aber auch in neuen schwierigen Bildern, so „wie Spießglas zwitzern", was soviel heißt wie „wie Antimon glitzern". 9 7 Er dichtet, wie er spricht, also „Evangilen" usw., und streckt einzelne Wörter „etymologisch", wie Antwort zu „AntiWort". Formen wie „du willt" hat er sicher von Mörike gelernt; andere Bildungen seines Spradigeistes können wir dagegen nicht durchschauen. Warum sagt er „Framse" f ü r Bremse? Einzelne 92
Wispel ed. Eggert Windegg 92 f. H a r r y Maync, D a v i d Friedrich Strauß und E d u a r d Mörike (mit zwölf ungedruckten Briefen), Deutsche Rundschau Band 115 (29. Jg. 1902/03) 94 ff., Zitat 105 (8.2. 1838). M Wispel ed. Eggert Windegg 92 f. 85 Schwab. W b . I 328 d. 86 K . F. W . W a n d e r , Deutsches Spridiwörterlexikon, Leipzig 1867—80, I 146 N r . 19. 87 Spießglas: Schwab. W b . V 1530; zwitzere: ebda. V I . l 1474. 93
Die geistigen Grundlagen
44
des Spiels
W ö r t e r geben d i r e k t Rätsel a u f : „Auslaichnen" bis auf den letzten T r o p f e n scheint mit süddeutsch „lechne" zusammenzuhängen, das aber nur als ausgetrocknet sein oder werden v e r w e n d e t w i r d , 8 8 doch liebt Wispel den k ü h n e n Neugebrauch von W ö r t e r n . Wie er in der A n m e r k u n g z u m „Straefling" analog zu jählings ein „pröblings" bildet, so k a n n sein Geist sidi im Sarkasme an Goethe „kühn ebenbürtigen". D a steckt im kleinen das schöpferisdie Sprachspiel dahinter, das Mörike auch sonst liebt, w e n n er die sonnigen Sehrmänner „Sommerwesten" n e n n t u n d eine d a v o n als lebendige S o n n e n u h r herumlaufen l ä ß t 9 ' oder aus der Febris Scarlatina, dem Scharlach, eine Fee Briskarlatina bildet. 1 0 0 D i e spielerisdisten, kühnsten u n d zugleich vollendetsten Gedichte der „Sommersprossen" sind die drei letzten, die „Serenade" und „ Z w o Ältere Gedichte". F ü r die „Serenade" hat das M ö r i k e selbst e m p f u n d e n , sonst hätte er sie gewiß nicht, umgearbeitet, in die letzte Fassung der wispelischen Orplidszene a u f genommen: Engelgleich in ihrem Daunenbette, Halb entschlummert, liegt das süße Kind, Während, ach, an frost'ger Stätte Vor dem eisernen Stakete Liebmunds Instrument beginnt. Lächelnd hört sie, wie der Arme, Voll von seinem Liebesharme, Ihr auf dem Fünffingerdarme Eine Serenade bringt. Es ist kalt — (Dies wird pizzicato mit der Guitarre begleitet.) Mondlidit wallt. Siehst Du Liebmunds wandelnde Gestalt? 101
Die Fassung in den „Sommersprossen"dagegen lautet: Serenade zu Tübingen, als ich noch PrivatDocent, in dem strengen Winter 1829/30 einer Dienenden dargebracht (Con
Musique von Bornschein tenerezza) Eingehüllt in ihre Daunen Feder Ruht, entkleidet, schon das süße Kind, Als mit Eins vor dem fenêtre Liebmund's Instrument beginnt; Und es rührt sie, daß der Arme Noch in seinem LiebesHarme Ihr auf dem Fünf-FingerDarme Eine Serenade bringt.
98
ebda. IV 1082. An meinen Vetter, Werke I 203 f.; An denselben, ebda. 204 f.; auch gezeichnet: Manfred Koschlig, Mörike in seiner Welt, Stuttgart 1954, 133. 100 Der Schatz. 101 Klaiber-Ausgabe I 184. 99
Das dämonische
45
Spiel
(Piccicato) MondLidit wallt; Es ist kalt. Siehst du Liebmunds wandelnde Gestalt?? 101 Zweifellos
muß
man
der ursprünglicheren,
weniger
geglätteten,
aber
wispe-
lischeren Fassung den V o r z u g geben. Ü b e r r a s c h e n d ist nicht n u r der spielerische F l u ß des G a n z e n , das Fehlen jeglichen Spiels m i t dem gegebenen S p r a d i s t o f f u n d die so m o d e r n - k a b a r e t t i s t i s c h klingende B e n e n n u n g der G i t a r r e als F ü n f - F i n g e r D a r m , s o n d e r n v o r allem der P i z z i c a t o - S c h l u ß . D a s P i z z i c a t o h a t eine v o l l e n dete F o r m
in W o r t e n gefunden, wie sie sonst k a u m a n z u t r e f f e n
ist. I n
diesem
G e d i c h t ist das S p i e l v o l l e n d e t e L y r i k g e w o r d e n . E s w ä d m ü b e r die G r e n z e n der S p r a d i e hinaus, wenigstens über die G r e n z e n jenes W o r t v e r s t ä n d n i s s e s ,
das die
W o r t e des P i z z i c a t o s n u r als ein komisches A n h ä n g s e l n e h m e n k a n n . D i e l e t z t e n W o r t t ö n e e n t f e r n e n sich w e i t von der G e s t a l t Wispels. G a n z klein steht irgendwo
auf der E r d e ,
Winternacht.
Er
wird
in völliger E i n s a m k e i t ,
zum
Symbol
der
umflossen
Verlorenheit
von
dieser
der K ä l t e
des Menschen
und
der ver-
k ö r p e r t zugleich M ö r i k e s eigenes Schicksal. S e i n e S e r e n a d e v e r k l i n g t in die E i n s a m k e i t der D i d i t u n g und des Dichters, in das Z u p f e n einer G i t a r r e , die in einer leeren und k a l t e n W e l t w i d e r t ö n t wie ein r ü h r e n d sdiönes und zugleich w e h m ü t i g schauerliches Echo. Alles endet in z w e i F r a g e z e i c h e n . D i e S e r e n a d e l ä ß t uns in den S o m m e r s p r o s s e n zum erstenmal eine t i e f e r e B e d e u t u n g der W i s p e l f i g u r a h n e n . A n d e r s , äußerlicher streift das erste der „ Z w o Ä l t e r e n G e d i c h t e " die G r e n z e n der
Spradie: Der
Kehlkopf
Der Kehlkopf, der im hohlen Bom Als Weidenschnuppe uns ergört, Dem kam man endlich auf das Trom, Und hat ihn säuberlich zerbäzt; Man kam von hinten angestiegen, Drauf ward er vorne ausgezwiegen. 105 D i e schwäbisdien und andern sprachlichen E i g e n a r t e n W i s p e l s lassen sich r e l a t i v leicht übersetzen, s o d a ß das G e d i c h t u n g e f ä h r s a g t : D e r K e h l k o p f , der im h o h l e n B a u m 1 0 4 als Weidenschnuppe uns e r g ö t z t , dem k a m m a n e n d l i d i a u f d i e S p u r 1 0 5 u n d h a t ihn säuberlich zerquetscht. 1 0 8 M a n k a m v o n h i n t e n angestiegen. D r a u f w a r d er vorne
ausgezweigt
(gepfropft)
oder
abgezwickt.107
Sehr
viel
weiter
sind
wir
a l l e r d i n g s d a m i t nicht g e k o m m e n , der S i n n b l e i b t r ä t s e l h a f t : die S p r a c h e v e r s a g t als M i t t e i l u n g . D i e V e r b i n d u n g des K e h l k o p f s m i t einem B a u m ist so a u ß e r o r d e n t l i c h seltsam,
d a ß m a n unwillkürlich a n
einen Bosch'schen N a d i t m a h r
o d e r an
ein
Wispel ed. Eggert Windegg 94 f. ebda. 96 f. 1 0 4 Bom: Schwab. Wb. I 710. 1 0 5 T r o m : ebda. II 422. 1 0 8 zerbäzt: DWb I 1160 (batzen); J . A. Schindler, Bayer. Wb., 2. Aufl. München 1872—77, I 314 (bätzen). 1 0 7 zweigen: Schwäb. Wb. VI.l 1431, evtl. aber zwicken. 102 W3
46
Die geistigen Grundlagen des Spielt
modernes surrealistisches G e m ä l d e d e n k t . Ist M ö r i k e der erste Surrealist oder soll das Gedicht andeuten, d a ß Wispel geisteskrank ist? Sicher nicht. D e r g a n z e Scherz besteht z w a r in der UnVerständlichkeit der K o m b i n a t i o n ; aber B a u e r m u ß g e w u ß t haben, w o r u m es hier geht. Gewisse A n d e u t u n g e n gibt schon das Gedicht: anscheinend spricht Wispel von einem hohlen Baum u n d z w a r von einer Weide. D i e häufigste h o h l e Weide ist sicher die Kopfweide, die dadurch entsteht, d a ß m a n die jungen S t ä m m e k ö p f t . D a s abgestutzte E n d e w i r d durch das später immer wiederholte Abschneiden der besenförmigen K r o n e k o p f f ö r m i g u n d durch die W u n d e n dringen Wasser u n d Pilzsporen ein, die den S t a m m allmählich aushöhlen. D e n Auswuchs einer solchen Kehlkopf zu nennen, liegt wispelischer Phantasie nicht fern, ebensowenig, das Ereignis der Abzwickung o d e r P f r o p f u n g dieses Auswuchses zu besingen. A u f einen Auswuchs deutet auch das W o r t Weidenschnuppe als schwäbische A b w a n d l u n g von Weidenschuppe. 1 0 8 Schuppen nennt man die k a p u z e n f ö r m i g e n U m h ü l l u n g e n der Weidenknospen, die an älteren Bäumen ziemlich dick u n d r u n d w e r d e n können. W i r müssen uns n u r noch d a z u denken, d a ß Bauer die Weide, die gemeint ist, k e n n t . — Es ist ein „älteres" Gedicht u n d k a n n so auf die Tübinger Zeit anspielen. — So w i r d die E r k l ä r u n g plötzlich überraschend einfach: jener Auswuchs der h o h l e n K o p f w e i d e , der wie ein Kehlkopf aussieht, der als eine zu g r o ß geratene Schuppe uns ergötzte, auf den w u r d e m a n a u f m e r k s a m . M a n h a t ihn e n t f e r n t (zerquetscht), indem m a n von hinten (vom hohlen I n n e r n des Baumes aus?) ihn nach außen herausbrach oder ihn p f r o p f t e . V o l l k o m m e n ist natürlich diese D e u t u n g nicht, doch h a t sie viel W a h r scheinlichkeit f ü r sich. D a m i t ist aber dem Gedicht der irreale Reiz nicht genommen. D e r A n l a ß dazu ist z w a r durchaus keine irreale K o m b i n a t i o n , kein sich überschlagendes Phantasiespiel v o m K e h l k o p f , der in einem hohlen B a u m sitzt, wie bei Morgenstern ein Knie einsam durch die Welt geht. Es ist also sicher falsch, d a ß M ö r i k e Morgenstern vorwegnehme, wie M a y n c meint u n d alle ihm nachschreiben; 1 0 9 aber die irreale W i r k u n g bleibt t r o t z d e m , weil uns hier p r i v a t e Spiele zu Rätseln w e r d e n , eine Privatsprache u n t e r Freunden uns nicht mehr verständlich ist u n d so über die G r e n z e n der allgemeinen Sprache hinausgeht. D e r W i t z u n d die I r r e a l i t ä t ergeben sich daraus, d a ß mit der W a h l der W o r t e im einzelnen der Eindruck eines u n z u s a m m e n h ä n g e n d e n Z u s a m m e n h a n g s erweckt wird, o b w o h l sich d a h i n t e r ein wirklicher Z u s a m m e n h a n g verbirgt. D e r Sinn w i r d z u m Unsinn verspielt, w ä h r e n d in Morgensterns Galgenliedern aus dem U n s i n n der K o m b i n a t i o n ein neuer Sinn erwächst. M a n k a n n das Gedicht jedoch auch anders deuten. D e r K e h l k o p f k ö n n t e auch ein „ K i e l k o p f " , ein Wechselbalg, 1 1 0 sein, das „ z e r b ä z e n " k ö n n t e nicht das seltene W o r t f ü r zerquetschen usw., sondern eine wispelische A n l a u t s v a r i a t i o n zu zeroder verätzen bedeuten, doch das w ü r d e am Gesamtbild des Gedichts wenig ä n d e r n . Dagegen k a n n m a n den Kehlkopf auch wörtlich nehmen u n d den Sinn 108 109 110
Schnuppe: Schwab. Wb. V 1086. Maync, Mörike 271; Benno von Wiese, Eduard Mörike, Tübingen-Stuttgart 1950, 252. DWb V 681.
Das dämonische Spiel
47
des Übrigen auf ihn ausrichten. D a n n w i r d das Gedicht eine Krankheitsgeschichte: der K e h l k o p f im H a l s (hohlen Bom) „ergötzte" uns mit einem „weidlichen" (wackern) „Schnuppen" (Schnupfen, K a t a r r h ) , bis m a n ihm auf die S p u r k a m , ihn ätzte u n d auskratzte. Diese D e u t u n g ist freilich etwas unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, z u m a l M ö r i k e hie u n d da über einen k r a n k e n H a l s klagt. 1 1 1 W o aber alles möglich ist, w o der Sinn sich v e r ä n d e r t , je nachdem m a n den Kehlkopf oder den Rest des Gedichts wörtlich n i m m t , sind die G r e n z e n der Sprache gewiß überschritten. Das zweite der beiden „ ä l t e r n " Gedichte gibt uns ebenfalls Rätsel a u f : Die
Streichkröte
Die Kröte, die einst muthig stridi, Hat nun der blasse Tod ergriffen, Daß ihr das Eingeweichse blich, Die Volz dazu war nicht geschliffen: Man rieb sie etwas mit dem Fuß, Dieweil sie sterben muß. 118
Die Streichkröte als G a t t u n g scheint eine P h a n t a s i e b i l d u n g Mörikes zu sein, gebildet in Analogie zur schwäbischen Strichente 1 1 3 als Bezeichnung f ü r alle E n t e n mit A u s n a h m e der M ä r z e n t e , u n d schließt sich so an die Strichvögel (vgl. Finkenstrich usw.) an. D a ß diese K r ö t e einst mutig herumstrich, ist ein zoologisches Kuriosum, da die E r d k r ö t e n im allgemeinen Streifzüge eher meiden u n d in dem kleinen von ihnen beherrschten Gebiet bleiben. Doch h a t diese außerordentliche K r ö t e ihren M u t mit dem T o d bezahlt, der blasse T o d hat sie ergriffen. Die wispelisch zu Eingeweichse v e r d r e h t e n Eingeweide ver- oder erblichen ihr. Diese Art, die Eingeweide f ü r die A n g a b e von Gesundheit oder T o d zu benützen, ist nicht einmal wispelisch, sondern volkstümlich. Soweit ist der Scherz verständlich. D a n n folgt aber der rätselhafte S a t z : „Die Volz dazu w a r nicht geschliffen". N i r g e n d s ist das W o r t Volz bezeugt, w e d e r im schwäbischen, im bayrischen noch in einem a n d e r n M u n d a r t - noch im Grimmschen Wörterbuch. 1 1 , 1 W i r d ü r f e n also eine wispelische U m b i l d u n g annehmen, aber welches Wortes? Weder der P r o t z — ein W o r t f ü r Kröte 1 1 5 — noch die Balz, die W a r z e oder die P f o t z (Pustel 1 1 6 ) ergeben einen Sinn, auch eine A b l e i t u n g v o n „Bolz h a b e n " (hochmütig sein 117 ) ist unwahrscheinlich. D i e „ W u l z e " als ein mit der W u r z e l u n d der d a r a n a n h a f t e n d e n E r d e ausgerissener B a u m oder „ W ü r z " f ü r W u r z e l liegen schon näher; 1 1 8 die K r ö t e w ä r e d a n n mit einem derben Stock erschlagen w o r d e n . Noch wahrscheinlicher sind „der W a t z " u n d „der W e t z " als Bezeichnungen f ü r die 111 112 1,3 114 115 118 117 118
z. B. an Johannes Mähriem 5. 6. 1832, Briefe ed. Seebaß 357 f. Wispel ed. Eggert Windegg 96 f. Schwäb. Wb. V 1864. DWb. XI 1.2 737, nur Volz als Pilzart, was keinen Sinn ergibt. Schwäb. Wb. I 1451. ebda. 1077. ebda. 1282. Wulze: Schwäb. Wb. VI.l 970; Würz: ebda. 1003.
48
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Schärfe — u n d vielleicht hier der Schneide — eines Messers, 1 1 ' wobei aber Wispel das W o r t weiblich gemacht haben müßte. A m nächstliegenden ist jedoch, d a ß Wispel Falz meint, das als Falze im Schwäbischen u n d auch sonst weiblich bezeugt ist. 120 D i e Falze, durch welche die K r ö t e umgekommen ist, w a r nicht geschliffen. Vielleicht kennt Wispel die Falze vom Schreiner als K a n t e a m Brett z u m Anfügen 1 2 1 oder v o m Gerber als Werkzeug z u m Reinigen der H ä u t e , 1 2 2 vielleicht jedoch — u n d das ist das wahrscheinlichste — h a t er in einer alten C h r o n i k geblättert u n d d o r t Falz als Bezeichnung des Schwertes oder seiner Klinge gelesen! K e n n t er eine Stelle wie „lüter als ein spiegelglas glizzen ime [swerte] die velze", so haben w i r audi die mögliche Quelle f ü r das oben zitierte „wie Spießglas zwitzern". 1 2 8 So ergäbe sich als Sinn des G a n z e n : die K r ö t e , die einst mutig herumstrich, h a t nun der blasse T o d ergriffen. Das Schwert, durch das sie u m k a m , w a r nicht geschliffen. N u r mit dem F u ß w u r d e sie etwas „gerieben", d. h. sie w u r d e zertreten, u n d doch 124 m u ß t e sie d a r a n sterben; oder auch: sie w u r d e durch einen stumpfen Gegenstand getötet oder sie w u r d e überfahren, und Wispel b e r ü h r t sie etwas mit dem Fuße, um zu sehen, ob sie noch lebe. Diese D e u t u n g ist wie die des Kehlkopfs nicht sicher, aber einigermaßen wahrscheinlich. Auch hier w i r d man kein Morgensternsches Spiel mit dem Wörtlichnehmen abstrakter Begriffe oder mit Bezeichnungen, die einen uneigentlichen Sinn b e k o m men haben, vermuten d ü r f e n , sondern ein kleines, durch seltene W ö r t e r und Wortspielereien im Sinne einer Privatsprache verhülltes Erlebnis Bauers u n d Mörikes. Mörikes Spiel entspringt einer g a n z andern Quelle als die Galgenlieder. Immerhin mag Morgenstern von Mörike Anregungen empfangen haben, sind doch motivische Ubereinstimmungen v o m „ H o r a t i u s travestitus" über das Geschichtstheater, die Perl-Schrift (gegenüber Morgensterns Perlhuhn) bis zu den botanischen und zoologischen Spielen v o r h a n d e n . D a m i t stehen wir nun vor der Frage, welche Bedeutung Wispel u n d seine Gesellen f ü r das W e r k Mörikes besitzen und o b sich an ihnen unsere Behauptung beweisen läßt, d a ß in solchen Nebenwerkchen Tendenzen deutlicher werden, die im großen W e r k eher verhüllt sind. Eine gewisse Auseinandersetzung mit der Gestalt Wispels zeigt sich auch in der Mörike-Literatur. W ä h r e n d sich M a y n c noch damit begnügen konnte, Wispel als „höheren Blödsinn" u n d Ausdruck der Begabung des Dichters f ü r Mimik und K o m i k zu charakterisieren, 1 2 5 w o z u im Orplidspiel noch die Rolle des shakespearisdien Rüpels tritt, 1 2 4 geht Werner Z e m p wesentlich tiefer, w e n n er als „wispelisch" ein Stück Lebensgefühl d ä m o n i 119
W a t z : ebda. 506; Wetz: ebda. 746. Schwab. Wb. II 937; D W b III 1303. 121 Schwab. Wb. II 937. 123 ebda. 123 Virginal 4 V. 5 f., Deutsches Heldenbuch Berlin 1866—73, V (ed. Julius Zupitza) 1; vgl. D W b . III 1302 f. 124 dieweil: eigtl. während oder weil. 125 Maync, Mörike 271. 128 ebda. 220 f. 120
Das dämonische Spiel
49
sehen Ursprungs bei Mörike benennt, ein „Sich-verstellen-wollen und Sidi-verstedten-müssen". 127 „Wispel und sein Splegelbruder Monsieur Sicher£ sind Ausgeburten e i n e r . . . zwielichtig gebrochenen, scheinhaft-uneigentlichen PapagenoHaltung". 1 2 8 Hinter Wispel verbirgt sich nach Zemp ein „Horror vacui" 1 2 8 : „In . . . Zuständen völligen Abgelöstseins, da er sich selber gleichsam aus den H ä n d e n verlor, indes ein inmitten maskenhafter Vordergründlichkeiten halb bewußtlos agierendes, französisch wisperndes Trugbild, das später den Namen Wispel erhielt, an seiner Stelle die Führung übernahm, rührte ihn, in der Leere des Nirgendwohingehörens, wohl zufrühst jene Ur-Angst an, die nachmals den erbleichenden Helden des .Spillner'-Fragments als Anfall kosmischer Panik wie ein Blitz heimsucht und zu Boden wirft." 1 3 0 Der „einer Art von ,horror vacui' entstammende Spieltrieb ist letzten Endes eines Ursprungs mit jenem in einer moralischen Schicht als sündhaft erkannten angstvoll-amphibolischen Verhalten, das von jeher allem Eigentlichen, Eindeutigen gegenüber die Trug- oder Schutzmaske Wispels sich borgte." 1 3 1 Zemp hat als erster etwas von der Unheimlichkeit der Wispelfigur geahnt; spätere Betrachter wie Benno von Wiese oder Herbert Meyer haben diese eher wieder abgeschwächt; von Wiese zählt Wispel zum „großen H u m o r " Mörikes, der seine „Form der Lebensrettung" vor dem Tragischen sei, das er bis an die Grenze der Selbstzerstörung und des Wahnsinns gekannt habe. 132 „Solches Sichverkleiden ist für Mörike ein Selbstschutz seiner allzuverletzbaren Seele." 133 Immerhin bemerkt Benno von Wiese, daß der „ H u m o r als Spiel auch wiederum etwas gefährlich Boden- und Bedingungsloses" behält. Sind Wispel und Mörikes H u m o r eine Flucht aus der Zeit, eine Art von Überwindung der Wirklichkeit, persönlich gefärbtes romantisches Spiel, das nichts mehr ernst nimmt, weil es jede Verwirklichung des Ideals für unbefriedigendes Blendwerk hält und sich demgegenüber eine eigene Welt außerhalb von Zeit und R a u m baut, die Wirklichkeit in diese Welt hineinzieht und sie in einem tollen Tanze durcheinanderwirbelt? Kein Zeugnis spricht davon, daß Mörike mit der Welt spielt, weil sie ihn in ihrer Form nicht befriedigt; nirgends sagt er, daß er die ganze Welt als Ball in seiner H a n d halten und mit ihr spielen möchte. Von etwas anderem spricht er aber: vom Zwang seines Spiels, von der N o t seines Proteusgefühls. Die bekannte Stelle aus einem Brief an Waiblinger ist dafür nur ein erstes unreifes Zeugnis: „Das ist ein wunderlicher, aber schon tausendmal von mir verfluchter Zug, daß ich aus einer dunklen Besorgnis, ich möchte dem Freund oder Bekannten, den ich zum erstenmal oder auch nach langer Zeit wieder Zemp aaO 9. ebda. 17. 120 ebda. 37. 130 ebda. 22. 131 ebda. 37. 132 von Wiese aaO 98 f.; Humor und Phantasie als Flucht Mörikes aus der Zeit auch bei Herbert Meyer, Eduard Mörike, Stuttgart 1950, z. B. 53; zu Mörikes „Grotesken" vgl. nun auch Lee B. Jannings, Mörike's Grotesquery: A Post-Romantic Phaenomenon, in: Journal of Engüsh and Germanic Philology 59 (1960) 600 ff. 133 v. Wiese aaO 99. 128
4
Liede,
Diditung
50
Die geistigen Grundlagen des Spiels
sehe (der aber im ersten Fall schon von mir gehört haben muß), in einem ungünstigen Licht erscheinen, blitzschnell aus meinem eigentlichen Wesen heraustrete. Das ist sdion so eingewurzelt bei mir, daß ich diese Maske fast bewußtlos annehme . . .". 1 3 4 Immer wieder fällt er aus heiterem Spiel in „hypochondrische Quälereien". 1 3 5 Wispel gratuliert den Hartlaubs zur Geburt eines Sohnes, der nächste Satz aber heißt sdion: „Was midi betrifft, so werd ich mirs zur Ehre schätzen, hier meinen Namen herzuleihn, wiewohl mir manchmal schien, daß er nicht zu den glücklichsten gehöre." 1 ' 4 Umgekehrt kann der Wein eine „sonderbar melancholische Wirkung" auf ihn haben, aber fünf Minuten später treffen Freundesbriefe ein, und er fängt an sich zu drehen: „Meine Brust gor und sprudelte von tausendfachen Empfindungen, ich hätte mögen den nächsten besten — leeren Bücherschrank umarmen — und doch war Alles um mich her so tot und teilnahmslos, daß mir meine Schätze und Entzückungen ordentlich zur Last wurden." 137 Mörike sind die eigenen Entzückungen oft zur Last geworden, oft hat er auch spüren müssen, daß seine Freunde von seinen Spielen genug hatten. Für den „Boamberger" muß er Hartlaub versprechen, er solle „nicht länger als 10 Minuten zu unserer vermehrten Erheiterung . . . a n w e s e n d sein", 158 auf eine entsprechende Stelle im Vorwort zu den „Sommersprossen" haben wir bereits hingewiesen. Mörike ist wie kein zweiter ein Dichter des reinen Spiels und ringt — das scheint uns entscheidend für das Verständnis seiner Dichtung — mit der Dämonie des Spiels. Was wir im allgemeinen als die Dämonie des Spiels im kleinen kennen, als das Verfallensein des Roulette- oder Kartenspielers an sein Spiel, das geschieht an Mörike im großen. Wie ein Mensch unter dem Zwang der Ekstase stehen kann, lallend in nie gehörten Sprachen, so kann ein Mensch auch der Gewalt des reinen Spiels anheim gegeben sein, verzückt und gezwungen zugleich, hingegeben und dahingejagt von dem Zwang, die Welt als ein einziges großes, grenzenloses Spiel zu schauen; gepackt von einer dämonischen Macht, mit der Welt spielen zu müssen, ob er will oder nicht. Nicht in einem Zwiespalt von Dichtung und Welt liegt die innerste Tragik Mörikes, sondern in der Dämonie des Spiels, die ihn zwingt, mit allem zu spielen, was ihm in die Hände gerät, sei es Mensch oder Gegenstand, sei es auch das Liebste, was er zu besitzen glaubt. Was unter seinem Spiel aus den Gegenständen, was aus den Menschenschicksalen wird, steht nicht in seiner Macht, und wenn er selbst auch darob erschrickt, wenn ihm vor seinem eigenen Spiel zu grauen beginnt, er muß weiterspielen. Das Grauen vor dem eigenen Spiel, das ist jene Ur-Angst, die Zemp hinter Wispel gefunden hat. E r deutet sie als eine Angst, die Mörike mit dem Spiel überwinden will; sie ist jedoch das Grauen vor der Unheimlichkeit des eigenen Spiels. Dem diesem dämonischen Spieltrieb verfallenen Menschen ist es völlig gleich, 134 135 136 137 138
an Wilhelm W a i b l i n g e r nach Mitte F e b r u a r 1 8 2 2 , Briefe ed. Seebaß 12. an Johannes Mährlein M ä r z 1 8 2 5 , Briefe 3 8 . an H a r t l a u b 9. 7. 1 8 4 5 , Briefe 597. an Johannes Mährlein 14. 3. 1 8 2 8 , Briefe 107. an H a r t l a u b 2 7 . 5. 1 8 7 4 , Briefe 857.
Das dämonische
51
Spiel
o b sein G e g e n s t a n d eine höchste E m p f i n d u n g menschlichen Lebens und Schicksals ist o d e r o b er m i t S a n d k ö r n d i e n o d e r S t r e i c h k r ö t e n innere
und
äußere
Maßstab
aufgehoben,
eine
spielt: im Spiel ist
Aufschrift
auf
einem
jeder
Lorcher
B l u m e n t o p f steht neben „ U m M i t t e m a c h t " , Wispel g e r ä t neben P e r e g r i n a . G e r a d e diese ist ein Beispiel für die D ä m o n i e des Spiels, f ü r das grausame Spiel m i t dem M ä d c h e n M a r i a M e y e r , einer unbegreiflichen und märchenhaften
Schicksalsfigur.
M ö r i k e zieht sie einen Augenblick in seine S p i e l w e l t und wirft sie w i e d e r w e g , als aus dem Spiel E r n s t zu w e r d e n d r o h t , macht sie dann aber z u r herrlichsten Schöpfung
dieser S p i e l w e l t . G a n z
kindlich steht noch K l a r a N e u f f e r in
dieser
W e l t , unheimlich w i r k t M ö r i k e s Spiel m i t seiner Schwester und M a r g a r e t h a v o n S p e e t h , w i e er da über alle Unterschiede d e r K o n f e s s i o n und des T e m p e r a m e n t s hinübergreift und den E r n s t der E h e überspielen w i l l . E i n m a l ü b e r f ä l l t ihn jedoch blitzartig
die E r k e n n t n i s des dämonischen U r s p r u n g s seines S p i e l s : er
zeichnet
ein Bildchen, das seine Schwester nach einer Reise m i t „ K i k e r i k i ! U n s e r e g o l d e n e Jungfer
ist wieder h i e ! " begrüßen
soll. D o c h m u ß das in einem M o m e n t
der
höchsten V e r z w e i f l u n g über den Z w a n g des Spiels geschehen sein, denn a u f die R ü c k s e i t e dieser Zeichnung schreibt e r : „Ach, W i e gut ist, d a ß n i e m a n d Daß
ich Rumpelstilzchen
heiß!"139
Ein
böser N a t u r d ä m o n ,
das ist die
weiß, wahre
G e s t a l t der tausend Figuren des Spiels, so sieht sich M ö r i k e in einem A u g e n b l i c k , w o er in seiner W u t am liebsten den l i n k e n F u ß mit beiden H ä n d e n ergriffen und sich selbst m i t t e n entzwei gerissen h ä t t e , w i e es das M ä r c h e n e r z ä h l t . W i e u n h e i m lich rumpelstilzchenhaft M ö r i k e tatsächlich sein k a n n , zeigt das seltsame Schreiben aus T ü b i n g e n an F r a n z B a u e r : Lieber alter Freund, Du wirst nicht wahr, kaum noch diese Handschrift kennen. Ich sollt es dann versuchen und meine Namen nicht unter den Brief setzen, allein ich fürchte, Du verstecktest, wenn Du mein Schreiben nicht wolltest erwicdern, Deine Gleichgültigkeit hinter bloße Unwissenheit. Aber so muß es endlich — sieh, Bauer, man entfernt sich plötzlich; ich sage schnell von einander, man schreibt sich zu Anfangs — aber diese Falschheit, dann bleibts liegen und nun — J a , J a , und wiederher schreib ich Dir doch — o warum, den[n] das Ewige, Ewige! sucht doch dieSündfluth der Natur und dieSchwalbe sucht ja des andern als auch wieder sich zu erinnern, — wann auch die Leute boshafter Weise midi nie mehr wollen verstehen, als Stack ich in roth Fastnachtskleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube D u ; denn bey Deiner Hand, wenn ich diese halte, jetzt, so wird mir wohl diese lügen urplötzlich und du hast doch nicht das Fieber — Schau so geht der Mund mir über, Gelt mein Lieber, gilt mein Lieber? Denn Du nimmer nimmst mirs niemals übel, daß ich die lange Hypostase, wie im Mondlicht eine Spinne, leise heimlich kreuzend webe, daß sie Beute sich gewinne, daß sie lebe, daß sie lebe! Alle diese armen Kinder. Ich habe midi sehr verwundert. Lebe wohl In Achtung und Liebe Dein gewisser Freund E. Mörike 1,10 W a s soll dieser U n s i n n ? Schreibt da M ö r i k e , schreibt W i s p e l , ist das
Ernst,
ekstatische Zerrissenheit oder S p i e l ? Manches deutet a u f Spiel, besonders der in 139 140
4»
9 . 4 . 1836, Zeichnungen ed. Güntter 53. Anfang Juli 1823, Unveröffentlichte Briefe Nr. 6, S. 5 f.
52
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
Verse übergehende Schluß; manches deutet auf Ernst, wie „Wann auch die Leute boshafter Weise mich nie mehr wollen verstehen, als stäck ich in roth Fastnachtskleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube Du". Falls der Nachsatz zu einem Brief an die Mutter: „Mit Franz Bauer hab ich einen jeweiligen Briefwechsel wieder begonnen, zwar fürs erste auf eine sonderliche Weise durch einen Scherz, der mich zufällig ankam. Solltest Du gelegentlich ihn sehen, so erwähne dessen nicht" 141 sich auf diesen Brief bezieht, was wahrscheinlich ist, dann will Mörike ihn als Spaß verstanden haben, vielleicht aber auch das nur, weil er sich des Briefes nachträglich schämte, worauf die Bitte „So erwähne dessen nicht" hinwebt; denn es ist ein fratzenhafter, dämonischer Rumpelstilzchenspaß, der über alle Wispeliaden hinausgeht. Doch ist Wispel selbst eine dämonische Figur. Nicht im Orplidspiel freilich, dort ist er nur der dumme Dämon, der nicht weiß, was für einen Schatz er mit dem Buch in den Händen hält, und der darum betrogen wird, wohl aber im Roman selbst. Was wir in den Wispeliaden als schönsten Ausdruck rein kindlicher, leicht skurriler Spielfreude absichtlich so ausführlich beschrieben haben, vertieft sich im „Maler Nohen" auf eine ungeahnte Weise. Schon als Gestalt ist diese zischelnde, unruhige, hastige Person im innersten unheimlich (der Name Wispel ist nicht nur ein Anklang an seine süß wispernde Aussprache, „Wispel" für eine unruhige Person kennt etwa die Basler Mundart noch heute 142 ). Wispel ist eine lange, dürre Schneiderfigur, 143 sein Geschwätz geht in bedeutungsvolle Worte und pikante Streiflichter von Scharfsinn über, die Tillsen das Geheimnis eines Fehlers seiner Manier lösen. Er scheint mit einem seltsamen Kichern sich selbst und Tillsen zu verhöhnen. 144 Dies alles erweckt den Eindruck eines Menschen, „der mit seinem außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte Eitelkeit, vielleicht durch Liederlichkeit, dergestalt in Zerfall geraten war, daß zuletzt nur dieser jämmerliche Schatten übrig blieb." 145 Wispel erscheint Tillsen als bemitleidenswerter, auf Abwege geratener, zerlumpter, halbwahnsinniger Künstler, als die Karikatur eines Künstlers. Daß er ein „Dichtel" 146 ist, beweist er in den „Sommersprossen". Entscheidend aber ist die dämonische Rolle, in der er Nohens Lebensweg begleitet. Als entlaufener Diener Nohens führt er diesen zu Tillsen und in die Gesellschaft ein und bringt damit das Schicksal Theobalds in Bewegung.147 Indirekt gibt er zu der entscheidenden Liebeserklärung Nohens an die Gräfin Konstanze in der Grotte Anlaß, da Nohen die Einladung dem Umstand verdankt, daß in Anwesenheit des italienischen Künstlers im Lustschloß des Königs 141
4. 7 . 1 8 2 3 , Unvcröffentliche Briefe N r . 5, S. 5. vgl G. A. Seiler, Basler Mundart, Basel 1879, 317; Schwab. W b . V I . l 894; D W b X I V . 2 735. 143 Werke II 21. 144 ebda. 21 f. 145 ebda. 22. 144 vgl. ebda. I 310. 147 ebda. II 26. 142
Das dämonische Statuen
aufgestellt
werden
sollen.148
Spiel
Dieser
Wispel. E r p a r o d i e r t N o h e n s Leidenschaft
53
Künstler
ist
niemand
„ m i t einem entsetzlichen
anders
als
Lachen".14'
Freilich h a t es M ö r i k e sichtlich M ü h e b e r e i t e t , den j ä h z o r n i g e n , w i l d streitenden und p e r f e k t langen
italienisch sprechenden B i l d h a u e r m i t W i s p e l zu v e r k n ü p f e n .
und breiten
wird
deshalb
dessen W a n d l u n g
erklärt,150
in der
Fassung des R o m a n s d a n n a b e r doch gestrichen, der I t a l i e n e r b l e i b t
Des
zweiten
Italiener,151
w ä h r e n d die ersten b e i d e n A u f t r i t t e Wispels nicht stark v e r ä n d e r t w e r d e n . N u r der
Hinweis
auf
Wispels
Gutmütigkeit
fehlt
bezeichnenderweise
in
Nohens
Schilderung der ersten B e g e g n u n g . 1 5 2 Wispels R o l l e im R o m a n ist jedoch noch nicht zu E n d e ; n o d i einmal erscheint er an entscheidender S t e l l e . M i t ihm endet die Scheinidylle, in die sich T h e o b a l d und Agnes nach
der K r i s e m i t
Konstanze
zurückfinden.153
Wispel
will N o l t e n
zu
J o s e p h d e m T i s c h l e r als d e m verschollenen L a r k e n s f ü h r e n ; dieser entflieht und begeht
Selbstmord.
tausend über
Possen
die
Er
mit
Schauspielerei
geführt h a t . N o h e n s Schreckensnachricht
geht
an
seinem
Mörikeschen zur
eigenen
Spiel
Musterkärtchen
„völligen
und
Verwandlung
zugrunde, anderm in
ein
das
ihn
von
Spielplunder154 anderes
Ich"155
Schicksal r o l l t dem E n d e zu. Als Ü b e r b r i n g e r der ersten
von
Larkens'
Tod
ist W i s p e l
einen A u g e n b l i c k
lang
ganz
von S c h m e r z u n d E n t s e t z e n g e p e i n i g t e r Mensch, dann f ä l l t er wieder in das alte Geschwätz
zurück.156
N a c h der E n t l a r v u n g des j ä h z o r n i g e n I t a l i e n e r s erregt der „ a r m e V e r r ü c k t e " 1 3 7 bei K o n s t a n z e u n d b e i m G r a f e n
M i t l e i d und V e r w u n d e r u n g .
Verwunderung
erregt er a b e r auch bei den B ü r g e r n v o n O r p l i d , es h a t f ü r sie den Anschein, „als ob die G ö t t e r selbst sie [ d i e b e i d e n G e s e l l e n ] aus irgendeiner spaßhaften ordentlich
durch
ein
Wunder
an
unsern
Strand
geworfen".158
Wispel
Grille ist
ein
Wechselbalg, ein K i n d , das durch dämonische o d e r magische Z e u g u n g in der Absicht geschaffen w u r d e , es in das Geschlecht der Menschen z u m S c h a d e n o d e r z u r P l a g e einzuschmuggeln. 1 5 9
Er
ist
ein
unruhiger
und
boshafter
Dämon,
ein
menschenähnlich u n d doch nicht Mensch, sagt doch L ö r m e r v o n i h m : ist
euch
nicht
aber zwischen
unbekannt, den Z e h e n ,
daß
der
Kerl
an
Händ'
und
wirkliche Schwimmhäute hat,
Füßen,
Widitel,
„Vielleidit besonders
auch lebe ich in
der
festen U b e r z e u g u n g , m a n w ü r d e aus seinen Gliedmassen l a u t e r schmale S t ä b e von ebda. 80. ebda. 93. 1 5 0 ebda. 95. 1 5 1 Klaiber-Ausgabe I 120 f., 132 f. 1 5 3 ebda. 18 f. 153 W e r k e l l 331 ff. 1 5 4 Klaiber-Ausgabe I 52 ff., 69. 1 5 5 ebda. I 105. 15Ä Werke I I 340 f. 1 5 7 ebda. 96. 1 5 8 ebda. 126. 1 5 9 Handwörterbuch des deutsdien Aberglaubens, Berlin-Leipzig 1927—1941, I X 835 ff. (Piasdiewski). 148
110
Die geistigen Grundlagen des Spiels
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Fischbein statt Knochen ziehen u n d ü b e r h a u p t die w u n d e r b a r s t e n D i n g e bei ihm entdecken." 1 8 0 W e n n Wispel auf O r p l i d p h a n t a s i e r t : „ W e n n sich einmal die Straßensteine zu einem A u f r u h r gegen die stolzen G e b ä u d e verschwören, sich zusammenrotteten, die H ä u s e r stürzten, u m selbst H ä u s e r zu bilden?", 1 6 1 so ist das mehr als skurrile Phantasie, es ist A u f b r u c h der U n t e r w e l t nach oben. Mit seinen Schwimmhäuten gehört Wispel zu der W e l t der schönen Lau. A b e r er ist kein großer D ä m o n , n u r ein kleiner dienstfertiger Geist des Unheils. E r hat N o h e n in die Gesellschaft e i n g e f ü h r t , er r e i ß t ihn auch endgültig aus ihr heraus. D a ß am E n d e des R o m a n s , ü b e r w ä l t i g t v o n einem augenblicklichen Schrecken, Wispel im G e f ä n g n i s landet, 1 8 2 k a n n uns nicht d a r ü b e r hinwegtäuschen, d a ß er bald wieder zu neuen U n t a t e n frei sein w i r d . D a s Wechselbalghafte Wispels h a t Z e m p u n b e w u ß t e m p f u n d e n , w e n n er von Larkens behauptet, d a ß dieser das Wispelische Element gleichsam in dritter Potenz als Mensch v e r k ö r p e r e . 1 M Freilich ist Wispel f ü r diese D ä m o n i e nicht immer t r a g f ä h i g genug. Noch weniger ist es sein F r e u n d , der Buchdrucker Mürsdiel (seinen N a m e n w i r d er v o n mursch-morsch, Mürsel-Schimmel, 1 6 4 oder von murren haben). Dieser tolpatschige, ewig dreinsdilagende Begleiter Wispels auf O r p l i d , dessen E i n f ü g u n g M ö r i k e sichtlich M ü h e bereitet, weshalb er ihn wenig überzeugend als das P o r t r ä t eines ehemaligen Dieners v o n Larkens erklärt, wird denn auch d o r t ersetzt, w o er als eigentlicher D ä m o n in das Geschehen eingreifen soll: Mürschel ist gestorben u n d im Büchsenmacher L ö r m e r wieder auferstanden, „einem aufgeweckten u n d , w i e es scheint, etwas v e r w i l d e r t e n Burschen. Aus seinen kleinen schwarzen Augen blitzte die helle Spottlustigkeit, eine zu allerlei Sprüngen u n d Possen aufgelegte E i n b i l d u n g s k r a f t " . 1 6 5 L ö r m e r ist dem Buchdrucker an innerer K r a f t u n d Sprachgewalt vielfältig überlegen. Wie Wispel, aber auf eine natürlichere A r t , entwickelt er eine leicht schrullige P h a n t a s i e : „Es wäre nicht übel, der Mensch h ä t t e f ü r seinen K o p f , w e n n der D o c h t zu lang wird, auch so eine G a t t u n g I n s t r u m e n t e oder Vorrichtung am O h r , um sich wieder einen frischen G e d a n k e n s a t z zu geben. Z w a r h a t m a n mir schon in der Schule versichert, d a ß seit E r f i n d u n g der O h r f e i g e n in diesem P u n k t e nichts mehr zu wünschen übrig sei; das m a g vielleicht f ü r junge K ö p f e gelten." 1 6 6 Wie der Buchdrucker ist L ö r m e r ein versoffener Faulenzer, ein v e r k o m m e n e r Meister seines Fachs, der n u r noch hie u n d da f ü r T a g l o h n arbeitet. 1 9 7 G e r a d e seine Lustigkeit ist letztlich n u r unheimlidi: L ö r m e r ist von einer „desperaten Lustigkeit" ergriffen; zu seiner H o l z b e i n p h a n t a s i e gehört das „entsetzliche Lachen", das Wispel als Italiener besitzen soll u n d das bei L ö r m e r zu einem „gräßlichen Lächeln" 1 8 8 w i r d : 160 161 163 16S 164 165 166 167 168
W c r k e l l 331. ebda. 131. ebda. 349 f. Zemp aaO 22. Schwab. Wb. IV 1824. Werke II 328. ebda. 329. ebda. 330. ebda. 348.
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Jetzt hob der Büchsenmacher sachte seinen hölzernen Fuß in die H ö h e und legte ihn mitten auf den Tisch. Dabei sagte er mit angenommenem Ernst: .Seht, meine Herren, da drinne haust ein W u r m ; es ist meine Totenuhr; h a t der Bursche das H o l z durchgemessen und das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel über den Stadtgraben zu einem Schoppen Roten spaziere, so schlägt mein letztes Stündlein. Das ist nun nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig an meinen Stelzen, d. h. an meinen Tod, wie einem guten Christen ziemt. Es ist mein Memento mori, wie der Lateiner zu sagen pflegt. So werden einst die Würmer auch an euren fleischernen Stötzchen sich erlustigen, Prosit Mahlzeit, und euch ein seliges Ende! Aber wir gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Kapuzinerkeller zu tun und beim Heimweg über manchen Stein wegzustolpern, bis das Stelzchen bricht, juhe! bricht juhe! bis das Stelzchen bricht!' 1 " Lörmer ist der echte, der dämonische Buchdrucker, er ersetzt dessen blassen Schatten im Orplidspiel. D i e zitierte Wirtshausszene ist innere Vorbereitung z u der Szene an Larkens' Leiche. M i t furchtbarer G e w a l t dringt Lörmer in das „ H e i l i g t u m des Todes" ein u n d verzerrt mit seiner Leichenpredigt Larkens' T o d z u einer wilden, entsetzlichen
Fratze.
Daß
Maync
Lörmer
mit
„treuherziger
Verlumptheit" 1 7 0
charakterisiert, ist unbegreiflich. Lörmers Schmerz über den T o d des Freundes w ä r e bei ihrer jungen Freundschaft nicht zu verstehen, w e n n eben in Lörmer nicht auch der ehemalige „Sancho" Larkens', also der Buchdrucker, stecken würde. D e r Buchdrucker-Büchsenmacher wächst v o r der Leiche seines Freundes auf eine Art ins Ubermenschliche, d i e Wispel trotz allem Schmerz über den T o d des Schauspielers nie erreicht. In Lörmer verschwören sich wirklich die Straßensteine gegen die stolzen G e b ä u d e u n d rotten sich zusammen, um die H ä u s e r zu stürzen: Der Mensch bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mitleid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar erhitzt, mit stieren Augen, einen gräßlichen Zug von Lächeln um den herabhängenden Mund, so war er im Begriff, das Heiligtum des Todes zu betreten. N o h e n , ganz außer sich von Schmerz und Zorn, stößt ihn zurück und reißt den Schlüssel aus der Tür, Lörmer wird wütend, der Maler braucht Gewalt und kann nicht verhüten, daß das Scheusal vor ihm niederstürzt und mit dem Kopfe am Boden aufschlägt. ,Ich bitte Sie', lallt er, indem er sich vergebens aufzurichten sucht und nicht bemerkt, daß N o h e n schon verschwunden ist, um die Hausleutc von dem Skandal zu benachrichtigen, ,um Gottes Barmherzigkeit willen! lassen Sie midi hinein! mich! ich bin noch allein der Mann, ihm zu helfen — Sie müssen wissen, H e r r , er pflegte gelegentlich auf den Lörmer was zu halten, H e r r — Sehn Sie, diese U h r hab' ich von ihm — aber sie ist stehen geblieben — Wir standen du und du, mein guter H e r r , ich u n d der Komödiant — Hieß er mich nicht immerdar sein liebes Vieh? hat er je einen andern so geheißen? und Hol euch der Teufel alle zusammen — Sehn m u ß ich ihn, da hilft kein Gott und keine Polizei — Ihr wißt den Henker zu distinguiren, ob ein Mensch in der Tat und Wahrheit k. . .iert ist oder nicht — Soll ich dir etwas im Vertrauen sagen? D a drinne liegt er munter und gesund und hat euch alle am Narrenseil. Denn das ist einer, sag' ich euch, der weiß, wie man den Mäusen pfeift. U n d — aber — — wenn es je w a h r wäre — (hier fing er an zu heulen) wenn er mir das Herzeleid antun wollte und aufpacken 198 170
ebda. 334 f. Maync, Mörike 219.
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und seinen Stelzer verlassen — wenn das — Jesus Maria! Auf! auf! schlagt die Tür ein! ich muß ihm noch beichten — J a g t Papst und Pfaff und Bischöff', die ganze Klerisei zum Teufel! ich will dem Komödianten beichten, trotzdem daß er ein Ketzer ist — E r muß alles wissen, was ich seit meiner Firmelung an Gott und Welt gesündigt! Auf! hört ihr nicht? Ich will die ganze Baracke in Trümmer schmeißen, ich will ein solches Jüngstes Gericht austrommeln, daß es eine A r t hat! — Alter! lieber Schreiner, laß mich hinein — ' Das Schloß sprang auf, und Lörmer stürzte einige Stufen hinab in das Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußtlos am Fuß des Bettes liegen f a n d . " 1
Vor Lörmers Schmerz ist der Nohens nur ein blasser Schatten. Im grauenhaften Versuch eines „Stehe auf und wandle!" ist der Dämon des Lebens selbst Gestalt geworden. Über der Urgewalt dieses Schmerzes bricht alle irdische Ordnung, der ganze Kosmos zusammen. Der Tod des Komödianten hat dessen Spiel bis an die letzten Grenzen getrieben: Lörmer kann den Tod dessen, der weiß, wie man den Mäusen pfeift, nicht glauben. Larkens' letzte Rolle wird gespensterhaft. Ist er wirklich tot oder tut er nur so? Lörmer ist der einzige, der ihm helfen kann, und der will ein Jüngstes Gericht des Schreckens über die ganze Welt austrommeln. Aber alles ist vergeblich, bewußtlos schlägt er hin. So fließt in ihm aller Schmerz der Welt zusammen. Von Lörmer aus wird jedoch auch der Buchdrucker unheimlich, auch er ist eine Figur jenseits von Gut und Böse, selbst wenn der Durchbruch des Dämonischen erst in seinem Nachfolger geschieht. Wispel und der Buchdrucker stehen am Ende des Romans in viel größeren Zusammenhängen, als es am Anfang oder im Orplidspiel den Anschein hat; sie sind keine Nebenfiguren, sondern Teile einer gespenstischen Welt, die über Nohen hereinbricht und in der die Personen „alle Tage eine andere Gestalt" annehmen, damit der Heideläufer „nicht weiß, welches von allen die rechte ist." 1 ' 2 Ihre Unheimlichkeit verstärkt sich noch, wenn Mörike der zerrütteten Agnes nicht nur diese rumpelstilzchenhaften Worte über Nohen-Larkens, sondern auch eine eigentliche Wispeliade von der je nach Jahreszeit wechselnden Aussprache „ginesisch"—„chinesisch" in den Mund legt. 173 Wenn es im Maler Nohen noch Zweifel darüber geben könnte, ob unsere Sicht Wispels als eines halb oder ganz dämonischen Wesens richtig ist, so werden sie durch das Leben, das Wispel außerhalb des Romans führt, beseitigt. Ein anderer Name für Wispel ist Professor Sichert; so wird er immer wieder in den Briefen genannt, hie und da gar „Der Sichre". Mörikes Sicherer Mann und Wispel haben also den gleichen Namen. Das ist kein Zaifall: was Wispel in der menschlichen Sphäre als kleiner Dämon mit Schwimmhäuten und Fischgräten verkörpert, ist in der Gestalt des Sicheren Mannes mythische Vision. „O mache doch auch Dein Orplidsstück, weißt Du mit dem sonderbaren Gott, der eine Art von Hanswurst der Götter ist", bittet Bauer 1826, 1 7 4 und wirklich läßt Mörike dann den göttW e r k e l l 347 f. ebda. 399 f. 1 7 3 ebda. 401. 1 7 4 an Mörike 16. 8. 1826, Ludwig Bauers Schriften, Nach seinem T o d e in einer Auswahl herausgegeben von seinen Freunden, Stuttgart 1847, S. X X X V I . 171
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liehen H a n s w u r s t im „Letzten K ö n i g v o n O r p l i d " indirekt auftreten, w e n n auch nicht in der H a u p t r o l l e , die Bauer o f f e n b a r erwartet h a t : M a l w y : Als wir Silpclitt suchten, konnten wir sie gar nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen, darfst glauben, und stöberten in dem Sdiilf herum, wo sie zu sitzen pflegt, wenn sie sich verlaufen hat. Auf einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mauligen Löchern wächst, steht T a l p e still und sagt: ,Hört ihr nicht Silpelitts Stimme? sie redet mit jemand und lacht.' D a löschten wir die Laternlein aus und liefen zu. Ach du mein! Thereile, da ist ein großer, grausam starker Mann gewesen, dem saß Silpelitt auf dem Stiefel und ließ sich schaukeln. Er lachte auch dazu, aber mit einem so tückischen Gesicht — Talpe: Schwester, ich weiß wohl, das ist der Riese, er heißt der Sichere Mann. Thereile: Uber das verwegene, ungeratene Kind! Warte nur, du böses, dudemäuseriges Ding! Weißt du nidit, d a ß dieses Ungeheuer die Kinder alle umbringt? Talpe: Bewahre, er spielt nur mit ihnen, er knetet sie unter seiner Sohle auf dem Boden herum und lacht und grunzt so artig dabei und schmunzelt so gütig. Thereile (zum König): Mir tötete er einst den schönsten Elfen durch diese heillose Beschäftigung. Er ist ein wahrer Sumpf an langer Weile. Talpe (zu einem andern K i n d ) : Gelt? ich und du, wir haben ihn einmal belauscht, wie er bis über die Brust im Brulla-Sumpf gestanden, samt den Kleidern; da sang er so laut und brummelte dazwischen: ,idi bin ein Wasservogel, ich bin die allerschönste Wassernachtigall'. Später hört m a n in der Ferne eine g e w a l t i g e S t i m m e „Trallirra-a-aa-aü-ü-
/
P f u l d a r a r a d d a d a - -! — ! " , 1 7 5 die A n w e s e n d e n erschrecken heftig, die K i n d e r hängen sich sdireiend a n Thereile. Sicheri h a t alle menschliche Gebrochenheit seines Wispel-Daseins, alle U n z u länglichkeit, Tücke u n d Bosheit des kleinen D ä m o n s abgestreift u n d auch den Buchdrucker in sich a u f g e n o m m e n . Dessen T o l p a t s d i i g k e i t u n d Wispels U n s i n n s phantasie haben sich zu einer G e s t a l t verbunden, die alles u m f a ß t , w a s Mörikes Spiel bedeutet. D e r Sichere M a n n ist die Verkörperung der ungeheuren Kindlichkeit der N a t u r , w i e sie uns Chesterton in der Einleitung geschildert h a t : „Sie [ d i e N a t u r ] ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklich w i e ein K i n d . " D e r Sichere M a n n spielt Wassernachtigall u n d schaukelt Silpelitt auf d e m
Stiefel.
D e m Suckelborst im „Märchen v o m sidiern M a n n " , 1 7 6 der v o n einer steinernen Kröte — also v o n einer R i e s e n v e r w a n d t e n der Streidikrötse — geboren ist, setzt sich der göttliche Lustigmacher Lolegrin auf den Stiefelabsatzrand u n d stellt »hm die A u f g a b e , ein Buch z u schreiben u n d es den T o t e n der U n t e r w e l t auszulegen. So reißt Suckelborst Scheunentorflügel aus, bindet sie mit Stricken z u s a m m e n u n d „schreibet aus Kräften Striche so grad' u n d k r u m m , in unsagbaren Sprachen", 1 7 7 bis er z u m P u n k t u m k o m m t „groß w i e ein K i n d s k o p f " . W i e er dem T e u f e l in 175 Werke II 123 f. (5. Szene); in der zweiten Fassung ändert Mörike beinahe nichts, vgl. Klaiber-Ausgabe I 173 f. 176 Werke I 65 ff.; über Vorbilder ebda. 421 f.; vgl. dazu neuerdings: Romano Guardini, Gegenwart und Geheimnis, W ü r z b u r g 1957, 65 ff. Walter Heinsius' Annahme (Mörike und die Romantik, D V j s 3 [1925] 194 ff., bes. 218 f.), daß Suckelborst Schelling verspotte, vermag mich nicht zu überzeugen. 177 V. 189 f., W e r k e l 70 f.
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der Unterwelt den Schwanz ausreißt und zum Propheten wird, steigt das Spiel über alles Irdische hinaus. D i e Kindlichkeit des Sichern Mannes kündet sich als Erlösung der Welt: Aber es standen die Scharen umher von Grausen gefesselt, Ehrfurchtsvoll zum sichern Mann die Augen erhoben. Dieser hielt noch und wog den wuchtigen Schweif in den H ä n d e n , Den bisweilen ein zuckender Schmerz noch leise bewegte. Sinnend schaut' er ihn an und sprach die prophetischen W o r t e : ,Wie oft tut der sichere Mann dem Teufel ein Leides? Erstlich heut, wie eben gesdiehn, ihr saht es mit Augen; Dann ein zweites, ein drittes Mal in der Zeiten Vollendung: Dreimal rauft der sichere Mann dem Teufel den Schweif aus. Neu zwar sprosset hervor ihm derselbige, aber nicht ganz mehr; Kürzer gerät er, je um ein Dritteil, bis daß er welket. Gleichermaßen vergeht dem Bösen der Mut und die Stärke, Kindisch wird er und alt, ein Bettler von allen verachtet. D a n n wird ein Festtag sein in der Unterwelt und auf der Erde; Aber der sichere Mann wird ein lieber Genosse den Göttern.' Sprach er, und jetzo legt* er den Schweif in das Buch als ein Zeichen Sorgsam, daß eben noch just der haarige Büschel heraussah, Denn er gedachte für jetzt nicht weiter zu lehren, und basta Schmettert er zu den Deckel des ungeheueren Werkes, Faßt es unter den Arm, nimmt H u t und Stock und empfiehlt sich. 17 '
D i e Kindlichkeit der Natur wird den Menschen vom Bösen erlösen, das Spiel wird ein Genosse der Götter werden. Mörike hat gern den Sichern Mann gespielt, wie das ein Brief Ludwig Bauers v o n 1829 erzählt: Er [Mörike] hielt Kinderlehre, und nun nahmen wir von den lieben Plattenhardtern Abschied und pilgerten mit dem Louis nadi Bernhausen und von dort nadi kurzem Aufenthalt Nürtingen zu. Es wurde Nacht, der Mond flimmerte am Himmel, die Abendglocken tönten, und siehe da, plötzlich erwachte der „sichere M a n n " , vielleicht noch herrlicher als in der glänzendsten seiner früheren Perioden. Er begann mit unmutigen Reflexionen über die Gestirne, weil er diesen nichts anhaben kann, er nannte die Sonne eine Rauthstrunsel, den Mond einen grünschissigen Blitz, einen unnaitigen Zinnteller. Sodann sang er einen Liedervers, den er einmal gehört hatte, während er das Wasser an einer Kirche abschlug, auf eine so infame, bäurisch trillernde, wasserorgelnde Weise, daß ich fast närrisch wurde. Höre nur etwas davon: „Mein Glaub ist meines Lebens Ruh Und f ü h r t mich Deinem Himmel — dui Staig von Nürtingen muß i au wieder amol woiche, dui brunz i voll, daß 's pflatscht — zu, O Gott, an den ich glaube — morge um neune ka i dort sei, no wurd uffgschnallt" usw. usw. 179 178
V. 264 ff., Werke I 73. an H a r t l a u b 9. 10. 1829, nach Mörike, Stle. Werke-Briefe ed. Baumann und Grosse, Stuttgart 1959, I I I 887. 179
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Leicht gereinigt h a t Mörike diese Szene direkt — sogar mit Ortsangabe 1 8 0 — in den Maler N o h e n eingebaut, nur nennt d o r t Theobald den Sichren „Flömer". 1 8 1 Auch hier zeigt sich, wie nahe Wispel u n d Suckelborst einander stehen; Suckelborst ist die mythische Form von Sichert, das Riesenkind, das nach der „Erbaulichen Betracht u n g " mit dem Weltall spielen möchte: Bis wir zuletzt an Kühnheit mit dem sichern Mann Wetteiferten, da dieser Urwelts-Göttersohn In Flößerstiefeln vom Gebirg' zum Himmel sich Verstieg und mit der breiten H a n d der Sterne Heer Zusammenstrich in einen Habersack und den Mit großem Schnaufen bis zum Rand der Schöpfung trug, Den Plunder auszuschütteln vor das Weltentor. — 182
Aus dieser Kindlichkeit wachsen Mörikes sdiönste Dichtungen, die Schiffer- und Nixenmärchen, das Stuttgarter Hutzelmännlein, die Historie von der Schönen Lau, die ja geradezu von Kinderspielen getragen w i r d und in der — welch herrlicher Einfall! — der Kinderschnellsprechvers „'s leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura" die Erlösung vorbereitet, aber auch die großen mythischen Gestalten des Spiels, der Sichere M a n n , O r p l i d u n d — Peregrina. M ö r i k e w ü r d e diese Kindlichkeit nicht besitzen, wenn er nicht auch deren A b g r ü n d e kennte. Vom Sichern M a n n erfahren wir z w a r nur einen einzigen tückischen Z u g : M a l w y spricht von einem Lachen mit tückischem Gesicht. Doch ist gerade dieser Riese ein dämonischer Zerstörer. „Lauter Nichts ist sein T u n u n d voll törichter Grillen", 1 8 3 er ist ein „unnützer Tropf". 1 8 4 Ingrimmig knickt er Weg- u n d Meilenzeiger; er sinnt auf Unheil, trennt nachts die Bänder von den Flößen los und schleudert die Balken weit ins Land hinein; er lockt die Wildsau nur, um sie zu zwicken und sich an ihrem Geschrei zu weiden. Auf O r p l i d h a t er im Spiel mit seiner Ungeschicklichkeit den schönsten Elfen getötet. Dies ist ja die ungeheure G e f a h r kindlichen Spiels, d a ß der Spielende aus bloßer Freude an seinem Spiel andere Wesen zerstört, so wie die von Mörike geschilderte Giftm ö r d e r i n „mit herzlichem, lautem Lachen . . . aus reinem Mordbehagen den gleichgültigsten, ja sogar wohlwollendsten Personen" Mäusegift aufs Butterbrot strich, „z. B. befreundeten Kindern, die ihr z u m Geburtstag gratulieren und denen sie eigentlich gut w a r " , wobei nicht eine „Spur von Wahnsinn bei ihr" ist. 185 I m Spiele andere Wesen zu zerstören, diese Tragik hat Mörike e m p f u n d e n . In einem Brief über seine Spiele mit der Schwester schreibt er: „Zu guter Letzt zerriß ich Werke II 203. ebda. 317. 182 Werke I 163 — Mörike hat den Sichern Mann besonders geliebt und auch selbst gezeichnet (vgl. Kurz-Mörike Briefwechsel, Brief an Kurz N r . 15, S. 51); vor allem war er von den Illustrationen Moritz von Schwinds begeistert, vgl. an M. v. Schwind 5. 3. 1867, Briefe 789 ff., An Moritz von Schwind, Werke I 266. 183 V. 16, Werke I 65. 184 V. 172. 185 an F. T h . Vischer 23. 5. 1832, Briefe 354. 181
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— eben wie der Sichere — durch eine unvorsichtige Bewegung das Gespinst". 1 8 4 I n seiner Ungeschicklichkeit, die immer wieder zerstört, fühlt sidi Mörike als der Sichere Mann. Hierin verbinden sich audi Wispel und der Sichere; beide sind nicht f ü r irdische Maßstäbe geschaffen, beide sind letztlich nicht böse und nidit gut; sie gehören einer Welt an, die sich um böse und gut, um fleißig und faul nicht kümmert, einer Welt des reinen Spiels. N u r in der Begegnung mit dem Widerstand der irdischen Welt gegen das Spiel und in den mannigfachen Zerstörungen, die ihr Spiel anrichtet, ahnen die Spieler, d a ß hinter ihrem Spiel ein D ä m o n steht, dem sie verfallen sind. Wie sehr auch die Zeitgenossen und Freunde Mörikes die dämonische Verbindung von Sichert und Sicherm Mann empfunden haben, dafür ist schließlich auch der sdion zitierte Brief von H e r m a n n Kurz an Mörike Zeugnis, 187 w o jener die Verwüstung seines Schreibtisches Wispel und dem Buchdrucker zuschreibt und dann f o r t f ä h r t : „Jetzt drangen Gerüchte zu mir, welche meinen Gedanken vollends allen H a l t nahmen und die Sache in's Mythisdie hinüberspielten. Bauern wollten im Walde einen Menschen, wenn man sich in diesem Falle noch des Ausdrucks bedienen darf, gesehen haben, dessen Länge eilf Ellen maß, seiner Kleidung kann sidi keiner mehr erinnern, doch haben sie Alle zwei Dekorationen von ihm gesehen, die ihnen sehr aufgefallen sind: im Halstuch nämlich, dessen Farbe, da sie wahrscheinlich keine war, ihnen nidit in die Augen stach, hatte er statt der Vorstecknadel einen großen Bohrer stecken mit breiter, beweglicher H a n d h a b e , wie ihn die Schreiner führen; statt der U h r — o horrible, o horrible, most horrible! — trug er eine mäßige Sdiwarzwälderuhr als Taschenzwiebel. Es soll wahrhaftig scheußlich ausgesehen haben, wie die bleiernen Gewichte als Cachets ihm um die Beine schlugen . . ." 188 Am andern Tag richtet er in einem Wirtshaus Unheil an: „Das Ungethüm habe sich f ü r einen Bengelianer ausgegeben, vom Weltuntergang gesprochen, große Sensation erregt, habe sich dann in dem dargebotenen Kornbranntwein fürchterlich betrunken, ein tausendjähriges Reich und Weibergemeinschaft proklamirt, letzte auch stante p. in Ausübung bringen wollen, aber starke Opposition gefunden; wüthend über diesen Unglauben, habe er mit dem Fuße dermaßen auf den Boden gestampft, daß dieser krachend wie ein Stück H o l z entzweigesprungen und abgebrochen sei; er habe sich dies jedoch nidit kümmern lassen, sondern sei auf beiden hiedurch sehr unproportionirt gewordenen Beinen davongetrampelt." 18 ® Auch Kurz findet also ohne weiteres den Übergang von Wispel zum Sichern Mann; freilich steckt bei ihm viel Wispel im Sichern; mit der Schwarzwälderuhr und dem Schreinerbohrer, mit dem schwäbisch186
an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f. eine weitere E r w ä h n u n g des Sichern Mannes in Brief an Friedrich K a u f f m a n n 1. 8. 1827, Briefe 93, w o Mörike einen medizinischen T e x t über Affekte u n d Melancholie mit brummiger Sidier-Manns-Stimme vertonen möchte („immer in zwei monotonen T ö n e n müßte es sein"). 188 Kurz-Mörike Briefwechsel N r . 16 S. 53. 189 ebda. 54. 187
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bengelischen Chiliasmus und der Weibergemeinschaft ist dieser mehr ein zu groß geratener Wispel oder Buchdrucker. Sichere ist nicht der einzige D ä m o n aus Mörikes Welt, der im Alltag und in einer mythischen D i d i t u n g zugleich verwurzelt ist. Die mythenbildende Kraft, von der bei Mörike oft und sicher mit Recht gesprochen wird, beschränkt sich eben nicht auf das Große, auf die „Dichtung"; ihr gestaltenbildendes Spiel kennt keine M a ß s t ä b e . Das Stuttgarter H u t z e l m ä n n l e i n schreibt Mörikes Schwester in seltsamen kalligraphischen und sprachlidien Schnörkeln einen pergamentenen Geburtstagsbrief, 1 ' 0 o d e r im herrlichen Kinderbrief aus der V a k a n z von 1826 taucht plötzlich Silpelitt auf, das K i n d von Fee u n d Mensch aus O r p l i d : „Letzthin k o m m t K l a r a zu mir herüber mit der M a g d , die mein Felleisen trägt, ich soll es aufmachen. ,Ist er drin?' Wer denn? ,Der Silpelitt' sagte sie leise. Ja so! D e n n meine Lüge fiel mir erst jetzt wieder ein. J a ! rief idi bedeutsam. D u wirst sogleich unter dem Boden donnern hören. D a s w a r hinreichend, mich aus meiner Verlegenheit zu reißen, denn Klärdien eilte pfeilschnell der Magd nach." 1 9 1 Solche D ä m o n e n in Mörikes Leben und W e r k sind manchmal harmlos und gut wie Silpelitt, das H u t z e l m ä n n l e i n oder das Waldmeisterlein, das f ü r Agnes H a r t l a u b lebendig w i r d ; 1 ' 2 manche sind jedoch beängstigend u n d verfolgen Mörike selbst, sind seine Gespenster. Mörikes Verhältnis zur Gespensterwelt und zu den Träumen ist der sichtbarste Ausdruck der D ä m o n i e des Spiels. Die mythische Schau, die aus H ö l d e r l i n s K o p f am Fenster den Feuerreiter und aus dem N a m e n S d i ö n - R o h t r a u t eine Ballade f o r m t , strahlt eine solche K r a f t aus, d a ß wir nicht wissen, ob seine Spukgestalten nicht Fratzen sind, die er sich selbst im Scherz geformt h a t u n d von denen er nun geängstigt wird. Mörikes Schilderungen von T r ä u m e n gleiten meist ins Spielerische hinüber. So erzählt er etwa Ernst K u r z die T r a u m f a h r t in einer Diligcncc: Es saß bereits ein Herr darin, der eine Kappe mit sehr breitem Stulz und einen abgetragenen grauen Mantel trug. D i e Unterhaltung war gering. Er drehte den Kopf hin und her, ganz leise schnüffelnd, als wäre Unheimliches im Wagen, welches gar v o n einem oder dem andern Passagiere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte sich beinahe beleidigt finden können. Ich überzeugte mich jedoch, daß in dieser Ängstlichkeit etwas Krankhaftes und Idiosynkrates zugrunde liegen müsse, und fing an, im Stillen ihn aufrichtig zu bedauern. Auf einmal nahm er einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen Sie, meine Herren, ich bin Korrektor und Faktor in der J. G. C o t t a schen O f f i z i n und habe diese einträgliche Stellung einer sonderbaren Eigenschaft zu danken, die mir sehr beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein Druckfehler oder dergleichen in meiner N ä h e befindet, so fühle ich es und bin dadurch aufs U n angenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher doch die Güte, ein wenig bei sich nachzusehen, ob Sie nicht irgendein erratum bei sich tragen. Sie werden mich dadurch äußerst erleichtern. Auf dieses z o g jeder v o n uns aus der Tasche, w a s er e t w a Gedrucktes haben mochte; er nahm die Papiere in die H a n d , gab sie jedoch nach einem oberflächlichen Befühlen mit dem 190 Faksimile bei Wispel ed. Eggert W i n d e g g 101 ff.; T e x t auch an Klara Mörike 9. 12. 1868, Briefe 843 ff. 191 an H a r t l a u b 20./25. 3. 1826, Briefe 50 ff., Silpelit 57 f. 192 Zeichnungen ed. Meyer 35, 58 f.; Werke I 255.
Die geistigen
62
Grundlagen
des
Spiels
Bedauern zurück, daß hierin der Fehler nicht enthalten sei. Nun hatte ich zufällig ein Briefkuvert Ihres Herrn Bruders mit hervor gezogen. Sogleich gerieten die Finger des Korrektors in eine zitternde Bewegung, und ich gab ihm das Papier. E r drehte es um, besah sich das Siegel und seine Gesichtszüge erheiterten sich plötzlich. Nun sehen Sie, meine Herren, da stehen über dem Amor, der einen Vogel lockt, die Worte: C'est resister en vain; es wird jedoch en vin heißen müssen . . ." Und
Mörike
fährt
fort:
„Ist
das nicht ein musterhafter
Traum?
Man
sollte
meinen, er w ä r e wachend g e m a c h t . " 1 9 ' Dieser Zweifel steigt in jedem auf, der ihn liest. Z w a r ist m a n Unsinn im T r a u m g e w ö h n t ; aber wenn er so spielerisch und folgerichtig durchgearbeitet ist wie hier, w i r d m a n mißtrauisch. N o d i mißtrauischer w i r d man, wenn M ö r i k e bald d a r a u f an H a r t l a u b schreibt: „ N a c h d e m ich D i r kürzlich einen
fingierten
T r a u m geschickt . . . " , 9 4 D e r Druckfehlerriedier ist g a r
/.u wispelisch, und m a n w i r d den Verdacht nicht los, M ö r i k e habe aus einer T r a u m situation einen kleinen Scherz gezogen. Auch der „ w a h r h a f t e "
Traum,
den
er
dann H a r t l a u b erzählt, spinnt sicher das G e t r ä u m t e weiter aus: H a r t l a u b schickt im S t u t t g a r t e r T h e a t e r gegen den störenden
Compromotionalen
Treßler
einen
Zettel hinter die Bühne. Nicht lange darauf — es war soeben der erste Akt zu ende — steigt ein schlichtgekleideter Mann aus der Falltür hervor, sieht sich einen Augenblick unter den Zuschauern um, geht dann auf Treßler zu: ,Herr Pfarrer Treßler von Heslach (ein Dorf bei Stuttgart) — wenn ich nicht irre?' Aufzuwarten. .Vorhin war jemand da, aus Ihrem Hause: Euer Hochwürden möchten sich heimbeeilen: die Frau Pfarrerin wollen niederkommen.' Die letzten Worte des Balkentreters erstickte der Angeredete in großer Verlegenheit durch ein geflissentliches Husten, indem er zugleich seinen Hut ergriff, dem Manne dankte und von dannen flog. ,Das hätten wir einmal gut gemacht', sagtest Du mit herzlicher Selbstzufriedenheit und ich bewunderte die List. 1 6 5 T r a u m w i r k l i c h k e i t und Spiel h a b e n sich vermischt, ohne d a ß M ö r i k e deshalb ein V o r w u r f zu machen w ä r e . I m G r u n d e sind j a alle Spielfiguren des Dichters spielerische K l e c k s o g r a p h i e n . Aus dem Tintenfleck b i l d e t sich durch F a l t e n und D r ü c k e n eine
geheimnisvolle
Figur, vielleicht ein Gespenst. D e s h a l b liebt M ö r i k e die K l e c k s o g r a p h i e n J u s t i n u s K e r n e r s , 1 9 6 die durchs B a n d weg Gespenster u n d D ä m o n e n , H a d e s - u n d H ö l l e n bilder ergeben, u n d g e d e n k t ihrer in zwei G e d i c h t e n . 1 9 7 Seine gezeichneten T r ä u m e , der H e b r ä i s c h l e h r e r als K a m e z , den er auch bedichtet h a t , 1 9 8 das G e s p e n s t
des
Mönchs m i t
er-
dem Schlüssel 1 8 9
oder
die beiden
Gespenster,
die v o r e i n a n d e r
schrecken, 2 0 0 sind spielerisch. Z u m S p u k des wüsten P f a r r e r s R a b a u s c h im P f a r r an Ernst Kurz 1 8 . 2 . 1 8 3 8 , Briefe 445. an Hartlaub 10. 3. 1838, Briefe 447. 1 9 5 ebda. 448. 1 9 6 Klecksographien und Gedichte, Justinus Kerner, Stle. poet. Werke ed. Josef Gaismaier, Leipzig o. J., II 198 ff. 1 9 7 An Fräulein Luise von Breitschwert, Werke I 197 f.; In das Album einer Dame, ebda. 253 f. 1 9 8 Zeichnungen ed. Güntter 29; Gedidit: Werke I 224 vgl. Anm. 443. 1 9 9 Zeichnungen ed. Meyer 26. 2 0 0 Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter 178. 193 194
Das dämonische
Spiel
63
haus von Cleversulzbach, dessen Geistern er für Kerners „Magikon" genau aufzeichnet, 201 bemerkt er Hartlaub gegenüber ausdrücklich: „Ihr müßt aber nidit glauben, daß uns dies Zeug besonders alteriere oder beschäftige." 202 Im Gegenteil, Mörike freut sich von ganzem Herzen darüber, daß er neben allen Phantasiegestalten ein richtiges Gespenst zum Hausgenossen hat, und malt dessen sämtliche Erscheinungsformen mit breitem Behagen aus. E r sammelt neben den Petrefakten und Handschriften auch Äußerungen „seines" Gespenstes und bedauert sichtlich, daß seine Hausgenossen bedeutend mehr Umgang mit diesem haben als er selbst. 203 Das kleinste Klopfen, der schwächste Lichtschein wird registriert und als Geistern des Rabausch gedeutet. O b Rabausch wirklich gespenstert hat oder nicht, ist belanglos; nach dem Charakter der Aufzeichnungen gehört er auf jeden
Fall
zu Mörikes W e l t des Spiels. Denn nicht solche äußere Spukgestalten verfolgen ihn, sondern die harmlosen heiteren Schnaken, die ihn bei der
Klopstock-Lektüre
stören, 2 0 4 und die quälenden Gespenster, die aus seinem Innern hervorbrechen. So liest er einmal den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe: S t a t t mich niederzuschlagen, hatte der Geist dieser beiden M ä n n e r eher die andere W i r k u n g a u f midi. G a r manche Idee — das d a r f ich D i r wohl gestehen — erkannte ich als mein selbst erworbenes Eigentum wieder, und ich schauderte oft v o r Freuden über seine Begrüßung. Zuletzt geriet meine Phantasie auf ganz f r e m d e A b w e g e ; ich durchlief die benachbarten Zellen des Irrenhauses und wühlte in der nächtlichen F r a t z e n w e l t ihrer T r ä u m e ; a u f die schöne Tagesklarheit Deines Büchleins grinsten tausend Narrengesichter, die mit ihren tiefpfiffigen Augen mich fast überredeten, die Philosophen liegen in einem entsetzlichen I r r t u m , und nur sie, die N a r r e n , w ä r e n hinter die G a r d i n e des göttlichen Verstandes gekommen, w o man sehe und fast p l a t z e v o r Lachen, wie H e r r Schiller und H e r r Goethe sich mit wichtigen Mienen und Bücklingen über die Vergoldung v o n Nüssen und des mundus in nuce unterhalten. — Ich hatte viel zu tun, um der D e m o n s t r a t i o n des herrlichen Zirkels zu entrinnen — sie riefen und pfiffen mir noch lange aus Sprachrohren nach, als ich schon w i e d e r in dem Büchlein weiter machte. Aber endlich wars doch wieder Frieden, und ich pries mich glücklich im blauen T a g e der Poesie, deren H e r z m a n in diesem Buche in abgemessenen, langsam vorgezählten Pulsen schlagen hören kann. 1 0 5
Das sind die wirklichen Dämonen, die Mörike quälen und ihn an den R a n d des Wahnsinns treiben 2 0 8 : Fratzen seiner eigenen spielenden Schöpfung wie Wispel, der zuerst das Irrenhaus Marienthal als Druckort der Sommersprossen einsetzen will. Mörike kann seine eigenen Geschöpfe nicht mehr beherrschen. Sie brechen in alles ein, machen sich über alles lustig und kichern mit entsetzlichem Lachen über die Sehrmänner Schiller und Goethe, bis sie endlich wieder Frieden geben. Seine eigenen Figuren erheben sich gegen ihn, schlagen um sich und fressen sich wie ein W e r k e II 4 6 4 ff. an H a r t l a u b ca. 19. 12. 1 8 3 7 , Briefe 4 3 9 . 2 0 3 vgl. W e r k e l l 4 6 4 ff., A n m . 4 9 8 f.; M a y n c , M ö r i k e 2 7 7 ff.; an K e r n e r 1 . 2 . 1 8 4 1 , 2 6 . 3 . 1 8 4 1 , 2 2 . 1 2 . 1 8 4 1 , Unveröffentlichte Briefe N r . 8 3 , 84, 9 0 , S. 111 ff., 125 ff.; C l e versulzbacher Briefe an H a r t l a u b passim. 201
J02
204 205 206
W a l d p l a g e , W e r k e I 1 6 8 ff. an J o h a n n e s Mährlein 7. 5. 1 8 2 9 , Briefe 1 3 6 f. vgl. auch Z e m p a a O 19.
64
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Geschwür in ihn hinein. 2 0 7 D a s ist die eigentliche D ä m o n i e von Mörikes Spiel, aber auch der U r g r u n d der mannigfachen Klagen des Dichters, d a ß er nidit mehr wisse, w e r er sei: „ K u r z , ich bin mir D u , Alles — ist mir ein R ä t s e l " . Sieh! dann fließt mein ganzes Wesen in eine Wehmut zusammen; und es ist, als sähe ich durch meine Tränen hindurch mein eigenes Bildnis doppelt, wüßte nicht, welches das rechte ist oder das gute kurz, ich bin mir Du, Alles — ist mir ein Rätsel — glaube mir bester Hartlaub! Ich habe in solchen Augenblicken der wunderbarsten Rührung allemal ordentlich laut lachen müssen, wie man im Schwindel tut, über mein eignes Geschick als über etwas Fremdes und über etwas, was sich seit meiner Geburt sonderbar und mit einem wie durch unsichtbare Geister immer wieder sanft aufgelösten Widerspruch in mir gemischt hat. 208
S o schreibt M ö r i k e in jenem Kinderbrief a n H a r t l a u b , der einige Zeilen vorher d e n herrlichen Satz „Meine Seele ist g a n z voll v o n K i n d e r n " enthält. Das ist nicht Bewußtseinsspaltung, nicht D o p p e l g ä n g e r m o t i v oder innerer Zwiespalt Mörikes, wie es manche Betrachter deuten, aber auch nicht „ d o p p e l t e Seelentätigkeit", wie der Dichter es selbst e r k l ä r t : „Die Seele strahlt u n d w i r k t von ihrer N a c h t - oder Traumseite aus in das w a h r e Bewußtsein herüber, indem sie innerhalb der d u n k e l n Region die Anschauung v o n D i n g e n h a t , die ihr sonst völlig u n b e k a n n t blieben", 2 0 ' sondern D ä m o n i e eines Spiels, das nicht mehr weiß, o b es gespielt w i r d oder ob es spielt, das sich gegen seinen Schöpfer kehrt und mit ihm spielt, w o er noch selbst zu spielen glaubt. D a s „neckische Spiel der Traumseele" 2 1 0 w e n d e t sich gegen den Spieler, u n d dieser w e i ß nicht mehr, wer er ist. Garrick h ö r t auf, „Garrick zu sein, u n d er ist einzig das, w a s er vorstellt", wie M ö r i k e in der zweiten Fassung des M a l e r N o l t e n aus Friedrich Melchior G r i m m s Briefen zitiert. 2 1 0 8 Für Garrick ist es dabei gleichgültig, ob er Macbeth oder ein Kuchenbäckerjunge ist. Plötzlich k a n n es jedoch geschehen — so möchten wir h i n z u f ü g e n —, d a ß der Kuchenbäckerjunge in den M a c b e t h hinein gerät, wie in Mörikes Begeisterung über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe F r a t z e n hineinplatzen oder wie N o l t e n nach Larkens* Abschiedsbrief zerrissen wird: In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemale versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort, weder im Zusammenhange zu denken noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand. ,Um Gottes willen, was ist doch das?' rief er zähneknirschend, indem er seinem Pferde die Sporen heftig in die 207
so auch Zemp aaO 71 zum „Spillner"-Fragment. an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 60 f. 209 Werke II 483. 210 ebda. 21 °* Klaiber-Ausgabe I 142. 208
Das dämonische
Spiel
65
Seiten drückte, daß es schmerzhaft auffuhr und unaufhaltsam dahinsprengte. ,Bin ich's denn noch? Kann ich diesen K r a m p f nidit abschütteln, der mich so schnürt? Und was ist denn weiter? wie, darf diese Entdeckung so mich ganz vernichten? was ist mir denn verloren, seit ich alles weiß? Genau besehen — nichts, gewonnen — nichts ei ja doch, ein Mädchen, von dem man mir schreibt, sie sei ein wahres Gotteslamm, ein Sans-pareil, ein Angelus!' Er lachte herzlich über sidi selbst, er jauchzte hell auf und lachte über seine eigenen Töne, die ein ganz anderes Ich aus ihm herauszustoßen schien. 211 Die
Welt
der
selbstgeschaffenen
Dämonen
ist
frei
und
ledig
geworden.
Wir
stehen a m A b g r u n d des reinen Spiels. Mörikes Bekenntnis „Oft bin idi mir k a u m bewußt",
seine
sich
nach
allen
Seiten
verströmende
Kindlichkeit
haben
uns
schönste Dichtungen geschenkt, eine W e l t voll herrlichster, ins Göttliche hiniibergleitender Gestalten,
neue M y t h e n
v o n berückendem
Zauber,
aber
sie wecken
auch in ahnungslosem Spiel die W e l t der D ä m o n e n , die Menschenschicksale zerbricht und M ö r i k e an die G r e n z e n des Wahnsinns treibt. W e n n er aber erkennen muß, d a ß sich mit der W e l t nicht einfach spielen läßt, d a ß die entfesselten D ä m o n e n ein eigenes Spiel beginnen, d a n n läuft er „wie ein K n a b e , heftig schluchzend, zur verzeihenden M u t t e r N a t u r h i n " . Es ist bedeutungsvoll, d a ß er in einem undatierten Gedicht des Schmerzes über den Verlust v o n Maria Meyer
—
„Im
Freien"
—
zu diesem B i l d greift. D a
ist das
neckisdie
T r a u m s p i e l zu E n d e , der Sichere M a n n h a t das Spinnennetz zerrissen, das E n t setzen über das Spiel der „ S d i a t t e n " bricht durch: An euch noch glaubt' ich Mich trösten zu können, Meine Sehnsucht — an eudi! Ihr Lüfte, webend über den Wiesen! Und ich eilte zu euch Unter die Weiden; Aber nun wehet ihr, Und, ich sehe, das stillet mich nicht! Da ich ohne euch war, Unter dem Druck der Stadt, Mahnt's midi mit einmal an euch, Wunder — Hoffnung durchzückt' mich, Tränen der Wonne schössen vom Auge mir Bei deinem langvergessenen Namen, Ruhige, gute Natur! Und wie ein Knabe, heftig sdiludizend, Zur verzeihenden Mutter hinläuft, Also lief ich entgegen euch, Und nun seid ihr mir Lüfte nur! J e t z t verläßt midi alles! Oder bin idi dir gestorben, Du unsterblicher Geist der Natur? Konnte die weiblidie Pein Jener unseligen Liebe 211
5
Werke II 237 f.
Liede,
Dichtung
66
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Dich mir auf ewig entfremden? Und so verzweifT idi jetzt, Weil ich mein Herzblut gab Für einen Schatten? Wühlt durch die Locken mir, Ihr Winde! Verbirg dein Antlitz, freundlicher Himmel, Mit dieser Wolken beruhigendem Grau! Laß dichter deine großen Tropfen fallen! Rolle donnernder durch die Wölbung! D a ß es mich aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! N u r daß ich f ü h l ' : ich lebe! Und seh' einen Wandel, ein Geschäft der N a t u r ! Die tot mir lag, Mir Einsamen. Wie die beneidenswerten Käfer und Würmchen der Erde, Die im Gewitter In ihre heimlichen Wohnungen ducken, Will ich dann auch in Meines Herzens Wohnung Zu kehren meinen, Mit gleich ahnungsvoller Freude, Als fänd' ich einen Tropfen Nahrung, Einen Lebensgedanken; Dein mahnend Schauspiel schaut' ich dann, Gott, aus ruhigem Winkel, Und Kräfte brütend, saugt' ich Zu eignem Tun! Heile mich, Mutter N a t u r , ach, an deinem Lautschlagenden Busen! Oder gefällt es dir, ja, so sende, Send' aus den Höhen auf meine Stirn Reine Blitze, Mein Leben zu scheiden ! i l ä D a s Grauen der Leere breitet sich um den Einsamen; nur Elementargewalt, nur ein G e w i t t e r k ö n n t e den Bann brechen u n d ihn in des eigenen H e r z e n s
Wohnung
sich selber finden lassen. M ö r i k e ist entblößt, das Spielzeug ist zerbrochen. H i e r ist Mörike v ö l l i g er selbst, so w i e er wirklich ist, er offenbart sein innerstes Wesen ohne jedes Spiel. D e s h a l b ist das Gedicht z w a r ergreifend als Zeugnis, aber keine große Dichtung; er selbst hat es in seine S a m m l u n g nicht aufgenommen. D e n n große D i c h t u n g k a n n bei ihm erst entstehen, w o er sidi wieder in seine Kindlichkeit zurückfindet, w o aus Maria Meyer Peregrina, w o aus dem Gedicht
„Im
Freien" der „Besuch in Urach" wird. Aber unauslöschlich hat sich dieses Herausfallen aus der S p i e l w e l t in ihn eingegraben: O r p l i d ist untergegangen, es ist Ruine, leere steinerne Stadt; es ist nur noch Vergangenheit, verlorenes Paradies. 212
ebda. I 283 ff.
Das dämonische
Spiel
67
So breitet sich über alles wie ein Nebel jene wehmütig melancholische Stimmung, die von nun an über Orplid und manch anderer Dichtung liegt. D a s Spiel ist vergänglich, man kann aus der Spielwelt herausfallen. Dies sehen zu müssen, ist die eigene Tragik Mörikes, die nichts mehr mit Dämonie des Spiels zu tun hat. Mörike ahnt, daß die Spielwelt vielleicht doch nicht das Letzte, d a ß sie nur Schatten, nur Vergänglichkeit vor einem unsagbaren Ewigen ist. Der Schatten der Vergänglichkeit senkt sich über die letzte und schönste Schöpfung seiner Spielwelt, über „ M o z a r t auf der Reise nach Prag". In dieser Dichtung ist jedoch die Tragik nicht mehr Herausfallen aus dem Spiel in eine Welt, wo jenes nur noch ein neckisches Spiel der Traumseele bedeutet. Mörike offenbart uns die größte Dämonie des Spiels: es verzehrt den Spielenden. Der Spielende selbst geht am Spiel zugrunde, weil das reine Spiel Erfüllung ist, die im Irdischen nicht dauern kann, welcher der irdisdie Teil des Menschen nicht gewachsen ist. Im Gedicht „Im Freien" sehnt Mörike den Rausch eines Gewitters herbei, „daß es mich aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! N u r d a ß ich fühl': ich lebe!" Ähnlich schlägt eine Klage des kranken Mörike von 1832 in Jubel um: Ich hätte heulen können, wie ein Mädchen. D a sah ich am Fenster ein Gewitter v o n der Teckseite herziehen, eine Minute drauf rollte der erste Donner, und alle meine Lebensgeister fingen an, heimlich vergnüglich aufzulauschen. In unglaublicher Schnelle stand uns das Wetter überm Kopf. Breite, gewaltige Blitze, wie ich sie nie bei Tag gesehen, fielen wie Regenschauer in unsre Stube, und Schlag auf Schlag. Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba, daß. sich mir beide I-äuste vor Entzücken ballten.*' 3
Mörike ist „besoffen". Das Gewitter führt ihn wieder in die Spielwelt, aber nicht in eine dämonisch verfolgende, fratzenhafte, wie sie als leiernde Melodie Ritt N o h e n s begleitet, sondern in den befreienden Jubel der Welt Mozarts in die höchste Region jeglichen schöpferischen Spiels. Denn das ist Mozart Mörike: Spiel in höchster Reinheit und Vollendung.
nun den als für
Mozart muß Mörike fasziniert haben, weil jener alles in sich verkörperte, was Mörike von sich selbst ahnend wünschte: höchsten Genius einer ungeheuren Kindlichkeit. Sogar im Briefstil sind sich die beiden hie und da außerordentlich nahe, etwa dort, wo der zitierte Brief an Franz Bauer plötzlich in Reimereien übergeht: „Und du hast doch nicht das Fieber — schau so geht der Mund mir über, gelt mein Lieber, gilt mein Lieber?" Das könnte auch Mozart an das „Bäsle" geschrieben haben, f ü r das er ein ganzes Feuerwerk von Sprachspielen abbrennt: Ich habe so viel zu thun gehabt, daß ich wohl Zeit hatte an das Bäsle zu denken, aber nicht zu schreiben, mithin habe ich es müssen lassen bleiben. N u n aber habe ich die Ehre sie zu fragen, wie sie sich befinden und sich tragen? — O b Sie noch-. 2,3
5»
an Johannes Mährlein 5 . 6 . 1832, Briefe 35S.
68
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
offenes Leibs sind? — ob sie gar etwa haben den Grind? — ob sie midi noch können ein bisdien leiden? — O b Sie öfters schreiben mit einer Kreiden? O b sie noch dann und wann an midi gedenken? O b sie nidit zuweilen Lust haben sich aufzuhenken? ob sie etwa gar böse waren? auf midi armen Narren, ob sie nicht gutwillig wollen Fried madien, oder ich laß bei meiner Ehr einen krachen! Doch sie lachen — Victoria! — unsere Arsch sollen die Friedenszeidien sein, ich dachte wohl, daß Sie mir nicht länger wiederstehen könnten, ja ja idi bin meiner Sache gewiß, und sollt ich heut noch madien einen Schyss, obwohl ich in 14 Tagen gehe nadi Paris. Wenn Sie mir also wollen antworten aus der Stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir bald damit ich den Brief erhalt, sonst wenn ich etwa schon bin wek, bekomm ich statt einen Brief einen Drek, — Drek! . . Auch die kindlichen D e r b h e i t e n
finden
sich ja unter dem geistlichen G e w ä n d e
Mörikes: „Horch! was scholl? Donnert's w o h l ? — Fritz sitzt auf dem H a f e n ! " D a ß ein wispelisches Drauflosschwatzen bei M o z a r t nicht fehlt, dürfte bestätigen, d a ß Wispel nicht aus einer Bewußtseinsspaltung geboren ist, sondern ganz einfach zum
Spiel
gehört. W i e Wispel
verdreht M o z a r t
die Wörter u n d erzählt
in
gewichtigstem T o n die größten Banalitäten: Ich muß Ihnen geschwind etwas erzehlen: ich habe heute nicht zu Hause gespeist, sondern bey einem gewissen Möns. Wendling; nun müssen Sie wissen, daß der allzeit um halb zwei ißt, er ist verheyrathet und hat auch eine Tochter, die aber immer kränklich ist. Seine Frau singt auf der zukünftigen Opera, und Er spielt die Flöte. N u n stellen Sie sich vor, wie es halb 2 Uhr war, setzten wir uns alle, bis auf die Tochter, welche im Bette blieb, zu Tisch und aßen. 215 In seinem Mozartbild runden und vereinigen sich alle Spiele, die Mörike selbst gespielt hat. Sein M o z a r t ist der R o k o k o t ä n d l e r Mörike, der Mörike der Gesellsdiaflspoesien und kalligraphischen Schnörkel. M o z a r t
ist Wispel,
M a n n , aber nun über alle zeitliche Bindung und Beschränkung
der Sichere
hinausgehoben.
M o z a r t ist der M y t h o s des Spiels. M o z a r t ist Wispel. M a n vergleiche nur die beiden T e x t e : „,Mit Erlaubnis, mein H e r r — wie kommen Sie dazu, an diesem O r t auf eine solche Weise zuzugreifen?' ,Was?' rief Mozart, .zugreifen? Zum Teufel, glaubt Er denn, ich wollte stehlen und das Ding da fressen?' .Mein Herr, ich glaube, was ich sehe. Diese Früchte sind gezählt, ich bin d a f ü r verantwortlich. Der Baum ist vom Herrn Grafen zu einem Fest bestimmt, soeben soll er weggebracht werden. Idi lasse Sie nicht fort, ehbevor idi die Sache gemeldet und Sic mir selbst bezeugten, wie das zugegangen ist.'""« „Portier: ,Des isdit a saubere Arbeit! Kreuzschwerenot! Des gfallt mer!' Prof.: ,Es ist Ihnen vielleicht selbst interessant, die hier obsdiwebenden scientifisdien Motive kennen zu lernen, sie lassen sidi digitaliter aufzählen und ungefähr folgender Ma —' 214 Briefe Wolfgang Amadeus Mozarts, . . . hg. v. Erich H . Müller von Asow, Berlin 1942, II 338; vgl. auch ebda, alle „Bäsle"-Briefe II 333—345, ferner etwa I 137 f., 147, 179, 310; II 7, 19, 292, 458 oder Kanon K V N r . 561. Dazu: Irma Hoesli, Wolfgang Amadeus Mozart, Briefstil eines Musikgenies, Zürich 1948; O t t o Schneider, Mozart in Wirklichkeit, Wien 1955, 347 ff. (Mozart als Gelegenheitsdichter). 215 Briefe ed. Müller von Asow II 33/. 218 Werke III 229 f.
Das dämonische Spiel Port.:
69
,Raus aus der Rabatt! Was brauch ich dia Faxa do! Raus! sag i D o naus goht der Weg auf d'Polizei!'"
D e r zweite Text ist die Legende zur Illustration von Wispels elegischer Balladi£re „Der Straefling" in den Sommersprossen von 1837; der erste stammt aus der Mozartnovelle von 1857. Die Ubereinstimmung ist kein Zufall. Wispel „ d r ä u t den königlichen Zwiebeln", M o z a r t den gräflichen Pomeranzen (Mörike selbst stahl 1846 in „gottesdienstlichem Gelüst" mit H i l f e seiner Schwester einen zierlichen schmiedeeisernen Fuß f ü r seine Sanduhr aus der Kirche von UnterschlüpP 1 7 ) „Die Nemesis oder Der Straefling" heißt Wispels Balladi^re, als Nemesis bezeichnet M o z a r t den G ä r t n e r : „Mittlerweile hatten meine H ä n d e das große Unheil angerichtet. Die Nemesis lauerte schon an der Hecke und trat jetzt h e r v o r in Gestalt eines entsetzlichen Mannes im gallonierten blauen Rodt." In der Balladi^re wird erzählt: Und schon bohrt' ich auf die Neige Und schon gab sie nadi, Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach. Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor, Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr. 2 1 8
Aber was ist aus dem gleichen Motiv auf dem Weg vom kleinen D ä m o n z u m Genius des Spiels geworden! W ä h r e n d Wispel d a r a n denkt, seinem A q u a v i t z ä r t e r n Schmelzling mitzuteilen u n d sein Kochwerk auszubessern, ist bei M o z a r t der Diebstahl nur ein neckisches Spiel der Traumseele mit einer lieblichen Erinnerung der Knabenzeit und einer längst verwischten musikalischen Reminiszenz. So landet er nicht im Arrestantenwinkel des gräflichen Schlosses, nicht im K e r k e r wie Wispel. Aus der Zwiebel wird eine P o m e r a n z e ; schon diese symbolische W a n d l u n g zur südlichen Schönheit und Kostbarkeit läßt erkennen, wie sehr sich das Spiel von aller Wirklichkeit gelöst hat. In M o z a r t steckt auch der Sichere Mann. Er will mit Konstanze den „ M o n d u n d 's M a n d l d r i n " betrachten. I m Fernrohr „soll m a n auf der ungeheuern Scheibe, hell u n d deutlich bis zum Greifen, Gebirger, Täler, Klüfte sehen u n d von der Seite, w o die Sonne nicht hinfällt, den Schatten, den die Berge werfen." 21 ® Wenigstens mit dem Fernrohr k a n n M o z a r t zur Rautstrunsel und zum unnaitige Zinnteller, zu Sonne und Mond, greifen, mit denen der Sichere vergeblich spielen wollte. Schließlich aber ist M o z a r t jenes Kind, das Mörike sein möchte u n d letztlich auch ist, das sich nach allen Seiten hin verschwendet, bald ein kostbares Riechwasser oder, wie M o z a r t es wispelisch nennt, einen „Götter-Riechschnaps" ausleert, bald den böhmischen W a l d bewundert, sich ohne Unterschied mit Schmar o t z e r n u n d Kennern herumtreibt, d a n n wieder phantasiert „je toller desto 217 218 218
an H a r t l a u b 8. 7. 1846, Briefe ed. Fischer-Krauß II 130. Werke II 244. ebda. III 216 f.
Die geistigen Grundlagen des Spiels
70
besser", in einem bunten Spiel von Seifenblasen um die Zukunft, um die Vergangenheit des neapolitanisch-sizilianischen Wasserspiels, um ein Quodlibet von Melodien — „Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes, Krethi und Plethi, eines immer das andere ablösend" 2 2 0 — aus dem ein längst gesuchtes Tanzliedchen herausklingt. Mozart ist der bezauberndste Gesellschafter; leichten Herzens verschenkt er Küsse und Melodien nach allen Seiten, bis schließlich die ganze Runde in Versen zu sprechen anfängt und alles im tollen Wirbel eines Terzetts und Kanons von reinem Spielunsinn, in Tanz und Billard endet: Mögen ihn die Götter stärken Zu den angenehmsten Werken — M a x (fortfahrend) W o v o n der da Ponte weder Noch der große Sdiikaneder — Mozart Nodi bi Gott der Komponist 's mindest weiß zu dieser Frist! Graf Alle, alle soll sie jener Hauptspitzbub von Italiener Noch erleben, wünsch' ich sehr, Unser Signo Bonbonnière! Max Gut, ich geb' ihm hundert Jahre — Mozart Wenn ihn nicht samt seiner Ware — Alle drei con forza Noch der Teufel holt vorher Unsern Monsieur Bonbonnière. 221
Immer wieder hält uns Mörike Mozarts Kindlichkeit vor Augen. E r erzählt uns von dessen vergeblichem Versuch, mit dem Stock zu Würde und Ordnung zu kommen, von seiner Verletzlichkeit wegen des „piccolo grifo raso", wo die heitere Spielwelt für einen Augenblick in Frage gestellt wird, vom kindlichen Schmollen der Gatten und von ihrer Versöhnung im Fliegenfangen, die sich kaum von der Versöhnung Mörikes mit seiner Schwester in „An Klara — Als sie ein wenig kurz angebunden w a r " 2 2 2 unterscheidet, von Mozarts Güte gegenüber der Kellnerin und deren Liebstem und so weiter. Alles, was hier lebendig wird, ist jedoch nicht mehr nur Mörike, nicht mehr Gesellschaftsspiel, nicht mehr Rokoko und nicht mehr Mozart, sondern ist allein der Mythus von Mozart, der Mythus des Spiels in seiner herrlichsten Vollkommenheit, der Mythus von der ungeheuren Kindlichkeit von Kunst und Welt. Diese Kindlichkeit aber ist völlig dämonischen Ursprungs; sie ist vergänglich, weil sie immer weiter treibt und den Leib des Menschen aufzehrt. Nirgends ist die Herrlichkeit des Spiels so dargestellt wie in 220 221 222
ebda. II 243. ebda. III 252. ebda. I 254 f.
Das dämonische Spiel
71
Mörikes M o z a r t , nirgends ist aber auch die D ä m o n i e des Spiels in ihrer unerbittlichen Schicksalhaftigkeit so tief gesehen. Das Spiel treibt M o z a r t immer weiter: „ O p f u i , ich darf nicht d a r a n denken, was man v e r p a ß t , verschiebt u n d hängen läßt! — von Pflichten gegen G o t t und Menschen gar nicht zu reden — ich sage, von purem Genuß, von den kleinen unschuldigen Freuden, die einem täglich vor den F ü ß e n liegen." 2 2 3 — „ W a r d ich denn je n u r meiner K i n d d i e n ein volles Stündchen froh? Wie halb ist das bei mir und immer en passant! Die Buben einmal rittlings auf das Knie gesetzt, mich zwei M i n u t e n mit ihnen durchs Zimmer gejagt, u n d damit basta, wieder abgeschüttelt. Es d e n k t mir nicht, d a ß wir uns auf dem L a n d e zusammen einen sdiönen Tag gemacht hätten, an Ostern oder an Pfingsten, in einem G a r t e n oder Wäldel, auf der Wiese, w i r unter uns allein, bei Kinderscherz und Blumenspiel, um selber wieder einmal K i n d zu werden. Allniittelst geht und rennt und saust das Leben hin — H e r r G o t t ! b e d e n k t man's recht, es möcht einem der Angstschweiß ausbrechen!" 2 2 4 Ein Leben en passant, in dem m a n sich selbst zu finden hofft — so ist das „ K i n d w e r d e n " hier zu verstehen —, ist dem Spielenden nicht vergönnt, er jagt v o n einem Gegenstand zum a n d e r n ; er k a n n nicht verweilen; will er es, w i r d er sofort wieder v o m Spiel ergriffen; es gibt kein Verschnaufen, nur ein Genießen u n d Schaffen „ohne M a ß und Ziel". 2 2 5 Kein M a ß und kein Ziel: darin liegt die D ä m o n i e des reinen Spiels. U n d M o z a r t weiß, was das Ende eines solchen Verströmens sein w i r d ; er verfolgt „den einen traurigen Gedanken, zu sterben, wie eine endlose Schraube". 2 2 9 Seine Versuche, den Z w a n g zu lösen, sind kindlich r ü h r e n d u n d hoffnungslos: der Spazierstock versdiwindet nach dem dritten Ausgang. So erwacht in ihm das G r a u e n v o r dem Ende, das zugleich Wissen ist, d a ß das W e r k nie enden, der D ä m o n schöpferischen Spiels ihn immer weiter treiben w i r d , bis er ihn zerstört h a t : „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!" „Rosée d ' A u r o r e " heißt das kostbare Riechwasser, das M o z a r t am A n f a n g der Novelle so verschwenderisch über alles ausgießt, rosée d ' A u r o r e ist auf mannigfache Weise das Werk Mozarts f ü r Mörike. „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!", v o r der Morgenröte einer neuen Zeit, die nicht mehr die Zeit des Spiels ist, nicht mehr die Zeit des Pomeranzenbäumchens v o m H o f e Ludwigs X I V . , „die schon die unheilvolle Z u k u n f t " in sich trägt. 2 2 7 „,Dein Lachen endet vor der Morgenröte!' erklang durch die Totenstille des Zimmers. W i e v o n entlegenen Sternen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, M a r k u n d Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht." D e m Lachen D o n Juans, des Spielers, dem Lachen Mozarts, des schöpferisch Spielenden, setzt das eherne Schicksal eine Grenze: den T o d . D e r Tod ist die G r e n z e des Spiels. Das Jenseits „ f o r d e r t schleunigen Entschluß zur Buße. K u r z ist dem Geist die Zeit gemessen; 223 224 225 226 227
ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.
III 217. 219. 221. 247.
Die geistigen Grundlagen des Spiels
72
weit, weit, weit ist der Weg!" 2 2 8 D o n J u a n t r o t z t in ungeheurem Eigenwillen den ewigen O r d n u n g e n , er setzt seine Welt des Spiels dem Jenseits entgegen; aber die D ä m o n e n sind lebendig geworden u n d stellen sidi gegen ihn. „ U n t e r dem wachsenden A n d r a n g der höllischen Mächte" ringt er ratlos, sträubt, w i n d e t sich und geht schließlich unter, „noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder G e b ä r d e . " 2 2 ' D e r D ä m o n des Spiels h a t gesiegt: es gibt keine Reue u n d keine Buße. „Es ist ein G e f ü h l , ähnlich dem, w o m i t man das prächtige Schauspiel einer unbändigen N a t u r k r a f t , den B r a n d eines herrlichen Schifies anstaunt. W i r nehmen wider Willen gleichsam Partei f ü r diese blinde G r ö ß e u n d teilen k n i r schend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung". 2 , 0 Blinde G r ö ß e ist M o z a r t s Kindlichkeit nicht, er a h n t die Selbstvernichtung und k a n n doch den reißenden Verlauf nicht aufhalten. K a u m sind die letzten A k k o r d e des Grauens verklungen, erzählt er wieder von häuslichen Lügen u n d Scherzen; er vergeht vor Freude über den geschenkten W a g e n : das Spiel geht weiter, n u r leise u n t e r m a l t von den t r a u e r n d e n Tönen des angeblichen böhmischen Volkslieds „Ein Tännlein grünet wo." Mörike ist nicht M o z a r t — schon allein der f r ü h e T o d M o z a r t s schafft von selbst eine D i s t a n z v o m Komponisten zum Dichter —, Mörike ist U l m o n , der Uberlebende des verlorenen Paradieses, der in einer leeren steinernen S t a d t der Ruinen des Spiels müde ist und nicht sterben k a n n . N u r in der Dichtung hat U l m o n - M ö r i k e das Feenkind Silpelitt gefunden, das ihn erlöst. D i e Dichtung ist das „Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine", 2 3 1 ein Stückchen von Orplid. Kein Zwiespalt in Mörikes Seele trennt Wispel u n d seine Gesellen von M o z a r t : beide unterliegen auf ihre A r t den gleichen Gesetzen des Spiels. D a m i t hat sich unsere Betrachtung auf eine Weise vertieft, wie es nur aus dem Blick auf einen großen Dichter möglich w a r , der Glück u n d Tragik des Spiels an sich selbst e r f a h r e n hat.
228 229 230 231
ebda. 270. ebda. ebda. 271. ebda. II 103.
2.
DAS
K O S M I S C H E
SPIEL
Paul Scheerbart V o n Paul Scheerbart wissen wir heute noch wenig. Eine Gesamtausgabe fehlt, v o n seinem Briefwechsel sind nur Bruchstücke veröffentlicht, 1 und die Erinnerungen der Zeitgenossen sind nicht ergiebig. D a s schönste D e n k m a l haben ihm bis jetzt Richard D e h m e l und Erich Mühsam gesetzt, D e h m e l mit einem Brief an seine Frau v o m 20. Oktober 1915: „Ich kann nicht trauern über Paul Scheerbarts T o d . Wir w a r e n niemals traurig zusammen, ich habe nur immer mit ihm gelacht, und so lebt er in mir, bis ich selber sterbe", 2 Mühsam in seinen unpolitischen Erinnerungen „ N a m e n und Menschen", w o er im Kapitel „Scheerbartiana"
seine
Begegnungen mit dem Dichter erzählt: Wer Paul Scheerbart persönlich nahe stand, der sah, wie einheitlich diese Persönlichkeit war. Seine unbändige Lustigkeit war ein Bestandteil seiner Weltanschauung, und seine Weltanschauung bejahte das Weltall in seiner unfaßbaren Größe, Schönheit und Mannigfaltigkeit, die der dichterischen Phantasie schrankenlose Möglichkeiten öffnete, während das Wichtignehmen der irdischen Absonderlichkeiten Scheerbarts Freude am Lachen immer neue Nahrung gab. „Antierotiker" nannte er sich, weil ihm die Feierlichkeit, mit der seine alten Freunde Dehmel und Przybyszewski die Geschlechtsbeziehungen der Menschen als poetisch zu glorifizierende Angelegenheit behandelten, ungeheuer komisch zu sein schien. Das gesamte Gebaren der Erdbewohner, in ihrer natürlichen Beschaffenheit, wie sie sich in den Dingen der Liebe und in den Vorgängen der Ernährung und des Stoffwechsels offenbart, und erst recht ihr Verhaken gegeneinander, das er vor allem in jeder Art Staatsherrschart und in der Einrichtung des Krieges charakterisiert sah, war ihm ein unversieglicher Quell donnernden Gelächters . . . 3 Scheerbarts Bücher und Scheerbarts Persönlichkeit hatten ganz die gleichen Eigenschaften. Er überschlug sich in grotesken Einfällen, über die er maßlos lachte und die trotzdem niemals ausschließlich als Spaß zu nehmen waren. Am bezeichnendsten für ihn, der sein Lebtag nie aus dem qualvollsten Geldmangel und ganz selten aus buchstäblicher N o t herausgekommen ist, scheint mir der jahrelang verfolgte Plan, durch die Konstruktion eines Perpetuum mobile mit einem Schlag Multimillionär zu werden. Scheerbart — und außer ihm noch sein prächtiger ,Bär', die rührendste Gestalt unter allen Dichterfrauen, dieser weibliche Sancho Pansa, der, der Realität des Daseins in resoluter Nüchternheit 1 Paul Scheerbart, Von Zimmer zu Zimmer, 70 Schmoll- und Liebesbriefe des Dichters an seine Frau, Berlin-Wilmersdorf 1921 [Scherze]. 2 Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920, Berlin 1923, N r . 806, S. 384 f. (Unvollständige) Bibliographie: Kurt Lubasch und Alfred Richard Meyer, Paul-Scheerbart-Bibliographie, Privatdruck Berlin 1930. Nach der ersten Auswahl der Werke, hg. v. Carl Mumm, Wiesbaden 1955, hat der Verlag Rowohlt auf Veranlassung von Hellmut Draws-Tydisen, der die Witwe des Dichters „laufend materiell und ideell" unterstützte und in dessen Händen sich auch der Nachlaß befindet, alle Restauflagen Sdieerbartscher Bücher aufgekauft (S. 15). 3 Erich Mühsam, Namen und Menschen, Unpolitische Erinnerungen, Leipzig 1949, 72 f.
74
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
gewachsen, acht J a h r e älter als sein von Bier und Phantasien ewig angesäuselter Don Quichote, die dicke Zigarre im Munde, alle Verrücktheiten des Dichters geduldig und gläubig anhörte — Scheerbart und der Bär waren völlig davon überzeugt, daß das Problem gelöst sei, und was immer nur an kleiner Münze zusammenzukratzen war, wanderte zum Patentamt. Zu den Rädern und Gewichten, zu seiner von früh bis spät betreuten Bastelarbeit gewann aber Scheerbart eine immer persönlichere Beziehung. ,Perpeh' nannte er sein W e r k , und ich bekam Postkarten nadi München mit dem Postskriptum: ,Perpeh läßt Didi schön grüßen." Einmal teilte mir Scheerbart mit: ,Perpeh ist fertig; es bewegt sich nur noch nicht' — für ein Perpetuum mobile offenbar ein Nachteil. 4 Scheerbarts
Kindlichkeit
tritt
in
allen
Einzelerlebnissen
zutage,
mit
denen
M ü h s a m dieses Bild e r g ä n z t , e t w a wenn er erzählt, wie Scheerbart einem zufällig hereinplatzenden Versicherungsagenten den v o n ihm neu entdeckten A l u m i n i u m ring u m den S a t u r n e r k l ä r t , wie Scheerbart und er eine Tageszeitung
gründen
wollen, die als etwas g a n z N e u e s nur L ü g e n e n t h a l t e n soll, „Lügen m i t H i n t e r g r u n d " , wie die beiden für ihr „ V a t e r l a n d " einen Verleger finden und sich der P l a n n u r dadurch zerschlägt,
d a ß dieser V e r l e g e r bald d a r a u f zwei
Soldaten-
blätter kauft und deshalb auf das antimilitaristische „ V a t e r l a n d " verzichtet, sie aber mit dem Verlegen z w e i e r Bücher — Sdieerbarts „ M a c h t s p ä ß e " und Mühsams „ W ü s t e " — entschädigt. O t t o Julius B i e r b a u m p o r t r ä t i e r t in seinem „ S t i l p e " den Dichter als „ B ä r e n f ü h r e r " : Ein wunderlicher Mensch, der mitten in Berlin mit dem Gleichmut eines orientalischen Weisen lebte und, arm wie ein persischer Bettelmönch, sich mit einer köstlichen Grazie des Geistes aushalten ließ. Sein Reich war nicht von dieser Welt, aber wer sein Reich kannte, diese weiten kosmischen Räume voll unerhörter Phantasien und diese bunten Fabelstädte mit den intimsten Winkeln genießender Ruhe nach rasendem Rausdien, der wußte, daß seine W e h beträchtlich schöner war als unsere. Ein Fakir mit Humor. In der Heimat seines Geistes, in Indien, wäre er wohl auch ohne Alkohol weise und heiter gewesen; in Berlin aber mußte er sehr viel trinken. Es schien, als ob er wirklich die Fakirkunst besäße, sich durch seelische Kräfte gegen alles Giftige immun zu machen. 6 Mühsams E r i n n e r u n g e n schließen: Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; 9 er hat sein Leben lang zu wenig gegessen und zu viel getrunken. Das herrliche, mächtige, Leib und Seele erschütternde Lachen des einzigen großen Humoristen der modernen deutschen Literatur ist stumm geworden. Ith denke an eine öffentliche Vorlesung, die er aus seinen Werken halten sollte. Er las brillant, aber plötzlidi übermannte ihn sein eigener Humor. Er fing zu wackeln an, er fing zu prusten an, und dann brach das Lachen mit einer solchen Urgewalt hervor, daß an kein Lesen mehr zu denken war. D a stand ein deutscher Dichter auf dem Podium und lachte, schüttelte sich, brüllte vor Lachen und der ganz; Zuhörerraum war angesteckt von dem lachenden Dichter, bog sich und krähte. Die Zeit wird kommen, die Scheerbarts Lachen wieder lernen wird, das große freie ebda. 74. O t t o Julius Bierbaum, Stilpe, 19.—22. Aufl. Berlin o. J . , 330 ff.; vgl. auch O. J . Bierbaum, Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, 16.—17. Taus. Stuttgart 1925, 230 ff. 6 Scheerbart starb 1915. 4
5
Das kosmische Spiel
75
und befreiende Lachen, das aus dem weiten glücklichen Weltall stammt, wo es keine N o t und keine Kriege gibt. Es wird die Zeit sein, die auch Scheerbarts Bücher wieder drucken, lesen und mit ernsthafter Heiterkeit genießen wird. 7
Unwillkürlich erinnert man sich an Börnes Worte über Jean Paul: „Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein, in die Stadt seiner Liebe." 8 Für beide ist die Prophezeiung noch nicht in Erfüllung gegangen. Während sich mit Jean Paul wenigstens Kenner und Literaturwissenschaftler auseinandersetzen, wird Scheerbart völlig übergangen. So ist unsere kurze Betrachtung auch in dieser Beziehung nicht überflüssig. Aus den wenigen Angaben Mühsams erkennen wir den Spielenden. Seine Hingabe an die Bastelei des Perpetuum mobile erinnert stark an Mörikes Versuche, Zeichnungen auf Glas zu vervielfältigen; beide hoffen mit einer Erfindung aus der täglichen Misere herauszukommen, beiden ist der Versuch mißlungen. Doch schon hier zeigt sich der Unterschied: Mörike hält sich wenigstens an das Mögliche, Scheerbart schweift ins Unmögliche. Auch sonst sind die beiden wesenhaft verschieden. Im dichterischen Werk trennen Scheerbart vor allem zwei Elemente von Mörike und werden zugleich auch seinem Ruhm zum Verhängnis: seine astralen Dichtungen und seine Sprache. Dadurch daß Scheerbart sein Spiel zu einem großen Teil in den Kosmos verlegt, von der Geburt von Sternen, dem Leben auf diesen und von einem kosmischen Theater träumt, löst er es völlig von sich selbst und allen Gegebenheiten irdischen Daseins. In dieser Entfernung ist ein Einfluß des Spiels auf den Menschen kaum möglich; Scheerbart schwelgt in Kometentänzen und Sternenwesen. So schweben viele seiner astralen Novelletten im leeren Räume. Sein AsteroidenRoman „Lesabendio", 9 die geschlossenste Dichtung, fast die einzige, die einen deutlicheren Aufbau erkennen läßt, erzählt die Wandlung eines Pallasbewohners zum Stern. Er ist ein Rausch völlig freier Spiele und Assoziationen, ein prächtiges Feuerwerk, das schnell verpufft und bei dessen Wiederholung wir trotz aller phantastischen Ausmalung eines solchen Sternenlebens ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken können. Der Lesabendio ist kaum eine Dichtung im üblichen Sinne, auch kaum eine Dichtung an den Grenzen der Sprache, weil er völlig abseits von allem Irdisdien in einer eigenen Welt eigenen Gesetzen gehorcht. Er ist kindliches Spiel in absoluter Freiheit. Damit nähert sich Scheerbart, ohne es zu wissen, der erlösten Welt, von der Novalis träumt, und tatsächlich findet sich bei diesem Dichter ein Satz, der als Motto für Scheerbarts ganze Dichtung dienen kann: „Die Kometen sind wahrhaft exzentrische Wesen, der höchsten Erleuchtung und der hödvsten Verdunkelung fähig — ein wahres Ginnistan — , bewohnt von mächtigen, guten und bösen Geistern, erfüllt mit organischen Körpern, die sich zu Mühsam a a O 80 f. Ludwig Börne, Denkrede auf Jean Paul, Ges. Schriften, Hamburg Hoffmann und Campe 1829—34, I V 47. 9 Paul Scheerbart, Astrale Novelletten, 2. Aufl. München-Leipzig 1912; Lesabendio, Ein Asteroiden-Roman, München Leipzig 1913. 7
8
Die geistigen Grundlagen
76
des
Spiels
Gas ausdehnen — und zu G o l d verdichten k ö n n e n . " 1 0 I n den meisten W e r k e n berichtet Scheerbart vom exzentrischen Leben der S t e r n e und ihrer B e w o h n e r . Ist der LesaWndio ein Pallasroman,
so enthalten
die „Astralen
Novelletten"
Venus-, Vesta-, J u n o - , Ceres-, Jupitermond-, Sonnenring- und Merkurgeschiditen. D i e Formen und das Leben der Sterne unterscheiden sich auf alle möglichen Arten. Es gibt trichterförmige 1 1 oder Eierkuchensterne, die von Riesenbaumwesen bewohnt sind, 1 2 farbige M o n d e 1 8 und ganze Feuerwerke von Sternen und Sternennebeln. I h r e B e w o h n e r sind ebenso seltsam. D i e von Pallas und Q u i k k o Lesablndio
soll
Kubin
„wie
Molche,
mit
redn
kleinen
Augen
Schneckenfuß" zeichnen, was dem M a l e r den S t o ß s e u f z e r entlockt:
im
und
einem
„Als
wenn
Molche so aussähen!", 1 4 die des N e p t u n sind dünner als ein Spinngewebe. 1 5 Es gibt sogar astrale Pantomimen usw. 1 8 D a alle diese Geschöpfe nichts m e h r mit dem Irdischen zu tun haben, verlieren sie die K r a f t , die sie nur aus dem Irdischen schöpfen könnten, und bleiben blasse gestaltlose Schemen. D i e Flucht in den Kosmos w i r k t sich auch auf die Sprache aus. Scheerbarts Sternenwclt ist so weit entfernt, daß sie nicht einmal mehr im Pathos beschworen werden kann. D i e Sprache der astralen Dichtungen besitzt nicht die geringste Ausdruckskraft,
sodaß
man
von
„mühelos
schwadronierendem
Plauderton"
sprechen k a n n . 1 7 Sie ist dem Dichter völlig gleichgültig und ergießt sich in banalste und trivialste W o r t e , die das Lesen zeitweise unerträglich machen.
Scheerbarts
Sprache zeigt, d a ß die Grenzen der Sprache auch die G r e n z e n der Dichtung sind. Seine Kindlichkeit ist am Unsagbaren angestoßen und läuft nun in ein hemmungsloses Geschwätz über grenzenlose Vorstellungen aus. W o den Mystiker die G r e n zen der Sprache ins Schweigen führen, lenken sie diesen Dichter ins Schwadronieren des Kindes. D e r Versuch, so die Grenzen der Sprache zu überwinden, muß dem Leser als saloppe Sudelei erscheinen. Erich Mühsam k o m m t jedoch der Sache näher, wenn er Scheerbarts Sprache „eigentümlich" nennt und von ihr schreibt, daß sie „mit äußerstem
stilistischen
Feingefühl
jeden
Anschein
von
Pathetik
durch salopp klingende Wortanordnung zu vermeiden w u ß t e . " 1 8 M a n kann nicht von einem Unvermögen des Dichters, höchstens von einem Irrweg sprechen, da die astrale W e l t ohne Zusammenhang mit der irdischen sich auch dem S y m b o l entzieht, das j a aus dem Irdisdien allein Gestalt gewinnt. D i e astrale Dichtung Scheerbarts ist eine völlig symbollose Kunst und steht auch dadurch gänzlich im leeren Räume. Sie ist hemmungsloser Erzählrausch eines Kindes, dem die Sprache 10 11
N o v a l i s Schriften ed. Samuel und Kluckhohn, Leipzig 1 9 2 9 , I I 401 N r . 4 3 6 . Pallas in „ L e s a b i n d i o " .
1 2 Juno-Novellette, A s t r a l e N o v e l l e t t e n 6 5 ff.; ebenso i n : P a u l Scheerbart, Das große Licht, Leipzig 1 9 1 2 , 22 ff. 1 3 farbige M o n d e : Paul Scheerbart, Idi liebe Dich! E i n E i s e n b a h n r o m a n mit 6 6 Intermezzos, Berlin 1 8 9 7 , 7 4 ff. 14
A l f r e d Kubin, V o m Schreibtisch eines Zeichners, Berlin 1 9 3 9 , 9 6 .
15
Professor Kienbeins Abenteuer, Astrale Novelletten 1 0 7 ff. P a u l Scheerbart, K o m e t e n t a n z , Astrale P a n t o m i m e , Leipzig 1 9 0 2 . Auswahl M u m m 13.
16 17 18
Mühsam a a O 7 3 .
Das kosmische Spiel
77
nicht mehr gewachsen ist. Man kann diesen Dichter nur bewundern und genießen, wenn man das Organ für planetarische Phantasie besitzt. Erst in den astral-tellurischen Dichtungen, wo Scheerbart unsern Planeten in sein Spiel einbezieht, müssen wir aufhorchen. Die Stellung der astralen Wesen zu den Erdbewohnern ist eindeutig: wir sind für sie Wesen der niedrigsten Entwicklungsstufe. Was sie auf der Erde sehen, ist seltsam und wenig erfeulich: „Die Menschen vernichteten nidit nur die weniger intelligenten Lebewesen auf der Erdrinde, sie vernichteten sich sogar gegenseitig um der Nahrung willen. Und wenn ich auch nicht gesehen habe, daß sie sich gegenseitig auffraßen, so mußte idi doch sehen, wie sie in großen Horden zu Tausenden aufeinander losgingen und sich mit Schußwaffen und scharfen Eisenstücken die entsetzlichsten Wunden beibrachten, an denen die meisten nach kurzer Zeit starben." 19 Ein Neptunwesen stellt fest: „Ich finde das irdische Menschenleben, obschon es sehr grob ist, durchaus nicht uninteressant." 20 Die „große Revolution" bei den Mondbewohnern endet mit einem Sieg der Erdgegner; die Erde wird von der Forschung boykottiert, bis die Erdmenschen aufhören, das Weltall mit Kriegen zu schänden.21 Entsetzt ist der Pallasbewohner über die Ernährungsart der Menschen: „Diese nehmen die Nahrung durch den Mund auf, bis ihr Leib aufquillt, und das Furchtbarste war, daß sie andre Lebewesen töteten und zerhackten und dann stück- und kloßweLse in ihren Mund steckten; im Munde hatten sie steinharte Zähne, mit denen sie alles zermalmten." 2 2 Das Gelächter über unsere Art des Lebens und vor allem des Essens ist eine der tiefsten Quellen von Scheerbarts Träumen: „Peinlich berührt es mich immer, daß man sich auf dem Stern Erde in so lächerlicher Form ,ernährt'. Das soll wohl nur eine Verspottung des Menschen sein. Und idi glaube, daß man später einmal Oblaten fabrizieren könnte, die uns alle Nahrungsstoffe in konzentriertester Form bieten. Reines Eiweiß haben wir doch schon. Bedauerlich bleibt es ja immer, daß wir nicht einfach von Luft leben können. Aber — dieses Unbequeme hat doch wohl einen Grund: uns soll es nicht so gut gehen auf der Erdhaut, daß wir darüber die Existenz der andern Sterne vergessen." 23 Scheerharts Diditung ist aber nicht etwa eine Satire auf die Zeit und die Zeitgenossen, er spottet nicht, sondern lacht frei aus der Tiefe einer unstillbaren Sehnsucht nach einer andern Welt. Das ist die Wurzel seines Spiels: „Merkwürdig ist doch, daß auf dem Stern Erde eigentlich Alles immer auf etwas sehr Komisches hinausläuft." 24 In diesem Ladien weiß er sich mit jener mythischen Gestalt einig, in die er alles hineinlegt, was ihm selbst das Spiel bedeutet, und die er aus hundertjährigem Lesab^ndio 16. Astrale Novelletten 124. 2 1 Paul Scheerbart, Die große Revolution, Ein Mondroman, Leipzig 1902. 2 2 Lesab^ndio 16. 2 3 Paul Scheerbart, Das Perpetuum mobile, Die Geschichte einer Erfindung, 3. Aufl. Leipzig 1910, 33; vgl. auch Paul Scheerbart, Münchhausen und Clarissa, Ein Berliner Roman, Berlin 1906, 58. 2 4 Perpetuum mobile 43. 19
20
Die geistigen Grundlagen
78
Schlaf wieder aufweckt: Münchhausen.
des Spiels
D e r sagenhafte Lügenbaron ist der Mittler
zwischen den kosmischen Wundern neiuer Welten und uns Erdbewohnern. Eine glühende Bewunderin, Gräfin Clarissa von Rabenstein, ruft ihn aus unbekannten Fernen herbei, damit er die Welt ändere: „Im vorigen Jahrhundert sind so viele Dinge umgekrempelt worden. U n d so passen alle Menschen eigentlich nicht in unsre Zeit hinein. D e r alte Münchhausen müßte kommen und die Menschen umkrempeln." 2 5 E r erscheint, aber die Menschen wundern sich nicht einmal darüber, denn ein „bellender Stumpfsinn" beherrscht Europa: „Man könnte sich ja über all die maulaufsperrende Idiotie einfach schwach lachen — man könnte sidi aber auch angegähnt v o r k o m m e n " . 2 8 Deshalb macht Münchhausen die Menschen
Europas
mit der Zukunft bekannt. E r verlangt in Paraphrasierung Nietzsches die „Umkrempelung aller D i n g e " 2 7 durch einen genialen Neuschaffenden: „Wie grandios ist es in der Erdrindennatur ausgesprochen, daß viele Billionen .Kreaturen' ruhig qualvoll zugrunde gehen können, wenn nur ein einziger Neuschaffender
ent-
steht." 2 8 D e r Lügenbaron kämpft gegen das „ewige Nochmalmachen", das „ein etwas umständlicher Idiotenspaß der Erdrinde" ist. 29 Er ist der Neuschaffende, er vermag „das Andere" zu geben, „ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist." 5 0 Wie er einst seine Lügengeschichten erzählte, so berichtet er nun in den sieben Wochentagen von „Münchhausen und Clarissa" von den Wundern der Weltausstellung in Melbourne als der ersten irdischen Verwirklichung kosmischer Träume. E r beschreibt die Wunderarchitektur, welche die kosmische Drehung auf die Erdoberfläche überträgt, 3 1
„damit
alle
Lebewesen auf der Erdrinde immer wieder neue Bilder von der unendlidien Welt empfangen. Die Erde selbst will auch immer wieder neue Weltbilder empfangen — es geht doch so viel in der großen Welt v o r . " 3 2 E r erzählt von der Linienarchitektur elektrischer Lichtspiele und von der Automatisierung des Haushalts, unternimmt eine Reise ins Erdinnere, eine Fahrt zur Sonne und durch
diese
hindurch. Dabei entwickelt er erschreckend tiefsinnige Gedanken, etwa den, daß die Architekten
die Tyrannen unserer
Zeit
seien und dem Menschen
seinen
Lebensstil, ja seine Weltanschauung aufzwängen 3 3 : das australische Haus erzeugt neue Gedanken in den Köpfen der Bewohner. 3 4 Die Technik steht in Australien im Dienste der Kunst, durch chemische Parfüms wird den ganz stupiden Menschen eine „weltgestaltende Phantasiekraft" eingeimpft. 3 5 Wie Frau Wanda Neumann 2 5 Münchhausen und Clarissa 8. Ü b e r Scheerbarts Münchhausen vgl. W e r n e r Schweizer, D i e W a n d l u n g e n Münchhausens, Leipzig 1 9 3 1 , 1 4 6 ff. 26 27 28 29
Münchhausen und Clarissa 10 f. ebda. ebda. 7 0 . ebda. 6 8 .
30
Das große Licht 6 1 .
31
Münchhausen und Clarissa 2 5 . Astrale Novelletten 124 f. Münchhausen und Clarissa 3 4 .
32 33 34 35
ebda. 4 2 . ebda. 4 4 .
Das kosmische
Spiel
79
im „Großen Licht" 38 besitzen die Australier ein kosmisches Theater, in dem Werke aus andern Weltregionen aufgeführt werden. 37 Ihrer Plastik kann nicht der unbeholfene Mensch als Modell dienen, 38 sie steht über den scheinbaren Gegenständlidikeitsempfindungen, die dem Menschen nur durch fünf Sinne vermittelt werden, und stellt Wesen anderer Welten dar. Man kann zwar kein intimeres Verhältnis im Sinne von „Erinnerungen gemütlicher A r t " zu diesen Werken bekommen, doch wird dieses durch andere Assoziationen aufgewogen, „die nicht gemütsartig sind und doch sehr scharf wirken — durch neue Gedankenreihen, die auch durch ihre Neuheit einen komplizierten Gefühlseindruck auslösen". 3 * Die Kunst darf eben nicht ängstlich sein: „Gerade die Ängstlichkeit sollte man sich in der Kunst abgewöhnen — wenn auch da und dort durch ein allzu lebhaftes Vorwärtsstürmen etwas zerstört wird — nur nicht ängstlich werden — das Zerstörte kann auch leicht wieder rekonstruiert werden." 4 0 „Schaffen heißt f ü r den Australiaten: Neues schaffen!" 41 Das zweite Mündihausenbuch Scheerbarts, „Das große Licht", schwelgt in ähnlichen Phantasien aus außereuropäischen Ländern, die sich noch wundern und noch das Wunderbare verehren. 42 Eis erzählt vom Glasblumenzüchter Mr. Weller in Melbourne, der sich zu Geschäftszwecken eine nüchterne Europäerin als Kontrastfigur hält, von der Reise des Lügenbarons als Kugelstern ins Weltall, von Glasgärten, Perlmutter- und Glasstädten, von Luftforschern, Glasarchitekten und kosmischen Gespensternächten. Alles ist „immer anders als das Natürliche", 4 3 denn, was anders ist, „bereichert uns". 44 Münchhausen verkündet die Religion vom großen Licht: „Das große Licht macht den Menschen g u t . . . D a r u m baut Glaspaläste . . . Das große Licht soll der Erlöser der Menschheit sein." 45 Scheerbart hat diese Glasarchitektur auch sonst öfters gepriesen; eine Schrift „Glasarchitektur" ist im Sturm-Verlag erschienen, 46 Architekten wie Bruno Taut haben sie geschätzt. 47 Das geschlossenste Bild von ihr gibt der Damenroman „Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß". 4 8 Der seltsame Titel entspringt dem Einfall, daß der Held des Buches, der Glasarchitekt Edgar Kurz, seine Frau unter der Bedingung heiratet, daß sie als Kontrast zu seinen Schöpfungen immer ein graues Kleid mit zehn Prozent Weiß trägt. Der Roman schildert dann das Bauen 38
D i e kosmischen Postillione, Das große Licht 14 ff. Münchhausen und Clarissa 45 f. 38 ebda. 51 ff. 39 ebda. 54 f. 40 ebda. 56. 41 ebda. 117. 42 Das große Licht 34. 43 ebda. 47. 44 ebda. 65. 45 ebda. 144. 49 Paul Scheerbart, Glasarchitektur in 111 Kapiteln, Berlin 1914. 47 Bruno Taut, Der Weltbaumeister, Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, H a g e n i. W. 1920, „Dem Geiste Paul Scheerbarts gewidmet". 48 Paul Scheerbart, Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß, München-Berlin 1914. 37
Die geistigen Grundlagen des Spiels
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dieses Glasarchitekten, von Chicago über die Fidschi-Inseln zum Südpol, von Borneo über Japan, vom Himalaya über Ceylon zum Aralsee, von den KurianMurian-Inseln über Babylon und Zypern nach Sardinien und auf die Isola Grande im Lago Maggiore. Holz gibt Behaglichkeit, aber „die Holzkiste ist nur eine Gewohnheitskiste", 4 9 der Glasarchitekt liebt das schreiend Bunte: „Und doch ist alles sehr angenehm, wenn man von dem Bunten weiter absitzt. Es kommt also bei Farben und Tönen auf die Distanz an. Ich kann mir sogar ein Konzert mit Explosivstoffen denken; Schüsse können in der Ferne vielleidit sehr angenehm wirken. Ich bin ja so heftig für das Bunte — auch für das unferne Bunte — das sogenannte unferne Bunte — eingenommen, daß idi meine Leidenschaft maskieren muß." 5 0 Nicht bewegt genug, nicht bunt genug kann es auf der Erde sein 51 : „Libellenflügel, Paradiesvögel, Leuchtkäfer, Lichtfische, Orchideen, Muscheln, Perlen, Brillanten usw. usw. — alles das zusammen ist das Herrlichste auf der Erdoberfläche — und das finden wir alles in der Glasarchitektur wieder. Sie ist das Höchste — ein Kulturgipfel. 5 2 Diese Skizzierung einiger Übergänge vom Kosmos zum Menschen muß unsere Erwartungen enttäuschen: wohl sind Erde und Mensch in das Spiel einbezogen, aber nur in fernen unbekannten Traumländern. Abgesehen von den Klagen über den europäischen Stumpfsinn ist auch hier das Spiel von allem Irdischen gelöst und darum ohne innere Kraft. Leo Spitzer sagt einmal, zur Groteske gehöre nicht nur der Salto mortale ins Phantastische, sondern auch der feste Grund und Boden einer konkreten Wirklichkeit; 5 3 an Scheerbarts astralen und astral-tellurischen Dichtungen erweist sich, daß ein reines Spiel ohne Wirklichkeit verpuffen muß. Scheerbarts astrale Wesen und Australier können nie über ihren Schöpfer Gewalt bekommen wie die Gestalten Mörikes, denn Scheerbart setzt weder sich nodi den Menschen „aufs Spiel". Er baut sich in seinem Wortsandkasten neue Welten und wählt sich das Zwischenwesen Münchhausen zum Propheten. Dieser aber ist ein kindlich phantasiereicher Lügner. Sollten also die Zukunftsprophezeiungen nicht eintreffen, dann geschähe kein Unglück, dann wäre eben alles ein phantastisches Lügennetz des Barons, auf das man Scheerbart selbst nicht festlegen dürfte. Das Spiel bleibt unverpflichtend. Deshalb fehlt in diesen Dichtungen das Leiden am eigenen Spiel. Clarissa von Rabenstein verzweifelt zwar über das Unverständnis der Menschen für die Melbourne-Kunst und über die stereotype Antwort der Künstler: „Wir möchten das ja so gerne entzückend finden. Aber wir verstehens doch nicht. Das geht uns zu weit. Wie gerne würden wir's begreifen wollen, wenn wir's nur könnten". 5 4 Doch Münchhausen kann sie leicht auf eine verständnisvollere Zukunft verebda. 68. ebda. 180 f. 5 1 ebda. 222. 6 2 ebda. 246. 5 3 Leo Spitzer, Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian M o t i v und W o r t , Leipzig 1918, 88. 6 4 Münchhausen und Clarissa 140 f. 49 50
Morgensterns,
Das kosmische
Spiel
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trösten. Nur selten hören wir eine leise Selbstkritik, so wenn Flora Mohr aus Graudenz die Glasblumenzucht des Herrn Weller betrachtet und dazu bemerkt: , Wenn Sie glauben, daß mir diese Spielerei irgendwie imponieren könnte, so irren Sie sich gründlich. Wo ist denn hier das Leben? Sind diese Spielereien nicht einfach tot? Können Sie leugnen, daß sie tot sind? Und — ist es nicht immer wieder dasselbe, was man hier sieht? Immer nur Farben! Und immer nur wieder Formen!" 5 5 Der Züchter gibt ihr beinahe recht: „Ich gebe zu, daß immer nur Farben und Formen kommen. Aber — ist es nicht ein bischen anspruchsvoll, wenn man immer gleich den Kern der Natur entdecken will? . . . 5 8 Aber ich, der ich neue Formen und Farben in ganz neuen Blumen geben will, werde so behandelt, als wenn ich alles Seelenleben dadurch vernichte. Rede nicht! Es ist so! Das macht die Gewohnheit! Als wenn ich nicht die genügende Begeisterung für die lebendigen Blumen der großen Natur habe! ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist." 5 7 Diese kindliche Selbstgenügsamkeit macht Scheerbart liebenswert, wenn auch sein Spiel oft außerhalb der Kunst steht. Das schönste Bekenntnis legt er Münchhausen in den Mund: „Mir war das Lachen niemals unangenehm, auch wenns nur wie ein Auslachen klang." 5 8 Dieses Lachen hören wir in seinen Titeln: „Das graue Tudi oder zehn Prozent Weiß. Ein Damenroman", „Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman", „Ich liebe dich! Ein Eisenbahnroman" und allen ähnlichen Uberschriften, in den Untertiteln „Angststück", „Sorgenvision", „Nervöses Capriccio", „Kosmosophisches Scherzo", „Gaunersilhouette", „Erlösungsburleske", „Ein Unauflösbares" usw., die er gewiß Jean Paul abgeschaut hat. Eis ist die Quelle seiner skurrilen Einfälle: den Pallasbewohner nennt er Lesab^ndio; bei einem Licht- und Luftfest wird auf einer Vierzigturmorgel gespielt und bengalische Tiger werden bengalisch beleuchtet; 59 ein reicher Chinese will die Häuser an Galgen aufhängen, um das Majolikaparkett, mit dem seine ganze Insel belegt ist, zu schonen; 60 in Sibirien wird ein lebendiges Mastodon in einem Ballon entdeckt und gefangen; es wächst dann ins Uberdimensionale, wird sieben Meter lang und schließlich nach seinem Tode in Spiritus gelegt usw. 61 Auch das Lachen über sich selbst fehlt nicht, nicht von ungefähr tritt Scheerbart als Münchhausen auf und baut der Glasarchitekt für sich selbst kein Glashaus. Die äußere Misere des Dichters macht dieses Lachen groß. In ruhiger Heiterkeit stellt er ihr sein Glaubensbekenntnis entgegen: „Je größer die Verzweiflung — um so näher Ist man den Göttern. Die Götter wollen uns zwingen, dem Grandiosen immer näher zu kommen. Und sie haben kein anderes Mittel zum Zwingen als die Misere. Nur in der Misere wachsen die großen Zukunftspläne." 6 2 Selbst in „Perpetuum mobile. Die Geschichte einer 55 50 57 58 55 60 fl1 03
6
Das große Licht 49. ebda. 59. ebda. 61. ebda. 152. Das graue T u d i 105. ebda. 136. Das große Licht 99 ff. Perpetuum mobile 5.
Licde,
Diditung
Die geistigen Grundlagen des Spiels
82
Erfindung", wo er tagebuchartig von seiner Erfindung berichtet, überlegt er sich immer wieder, ob er dem Menschen schade oder nütze, wenn er ihn durch sie vom Stumpfsinn der Arbeit" erlöse und den Stern Erde für ihn arbeiten lasse,44 ob nicht die Kunst dadurch gefährdet wäre: „Fast möchte ich wünsdien, daß das Rad nicht geht. Die Literatur wird durch das Niditgehen des Rades mehr gefördert als durdi das Gehen des Rades — das weiß ich ganz genau." 85 Manche von Scheerbarts Prophezeiungen sind in unserer Zeit in Erfüllung gegangen und besitzen darum für uns eine gewisse Aktualität. Seine Glasarchitektur und seine Ernährungstabletten haben wir; der Luftkrieg seiner Flugschrift „Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Landheere, Festungen und Seeflotten ist unser Grauen geworden. Mandies hat er vorausgesehen, nichts davon hat er wirklich durdisdiaut. Scheerbarts Bücher sind keine wirklichen Prophezeiungen, er malt sich bloß richtig aus, was alles geschehen könnte, etwa in der Vision vom barbarischen General: Im J a h r 2 0 5 0 p. Chr. n. lebte im Lande Germania ein General, der bösartiger war als alle Generale seiner Zeit zusammen. Damals führten gerade die Europäer mit den Amerikanern einen großen Bombenkrieg. Es gab da viele Bombenerfolge für die allermodernste Kriegswissenschaft. Und trotzdem lebten die Amerikaner ruhig weiter. Dieses ärgerte natürlich den bösartigsten General seiner Zeit, der in Germania den Oberbefehl inne hatte. Was tat dieser Grausame, der den Namen Kuhlmann führte? Kuhlmann arbeitete einen Plan aus, der ganz Amerika überschwemmen sollte . .
Vor solchen Gefahren schließt man natürlich sofort Frieden. Nach Scheerbarts Perpetuum mobile sind Vaterländer nicht mehr lebensfähig, der Militarismus hat nur nodi Witzblattbedeutung, und Kuhlmann geht auf Vortragstournee nadi Amerika. Ähnlich löst sich der Knoten in „Rakköx, der Billionär. Ein Protzenroman", 68 in dem der mehrfache Billionär die „Genies und Obergenies" der Erde in seinen Diensten hält und von einem seiner Obergenies, einem Wüterich voll tückischen Jähzorns, überwunden wird. Tyrannei des Geldes über den Geist, Mordlust der höchsten Genialität: alles ist angetönt, was zu den Gefahren unserer Zeit gehört; aber alles zerfließt. Den Propheten Scheerbart quält keine Zukunftsvision, er ist im tiefsten ahnungslos. Wie Wispel auf Orplid hält er das Schicksal unserer Zeit in Händen, doch dieses rinnt ihm zwischen den Fingern durch. So sdiwingt bei der Lektüre seiner Werke ein Grauen über seine Ahnungsebda. 29. ebda. 7. 6 5 ebda. 13. 6 8 Paul Scheerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, Berlin 1909; teilweise abgedruckt in Auswahl Mumm 36 ff. 6 7 Perpetuum mobile 18. 8 8 Paul Scheerbart, R a k k o x , der Billionär, Ein Protzenroman, Leipzig 1901; abgedruckt in Auswahl M u m m 19 ff. 43
84
Das kosmische
Spiel
83
losigkeit mit. Es ist falsch, wenn man Scheerbart wieder lebendig machen will, indem man wie Carl Mumm seine Aktualität betont: Die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte ist nicht so reich an kompromißlos freien Dichtern und Denkern, d a ß Kritiker und Leser es sich leisten können, an dem vorbeizusehen, was Scheerbart, einer von den wirklich Unbedingten, in seinen kulturkritischen und dichterischen Werken ausgesagt hat. U n t e r Verzicht auf den Versuch, die vielgestaltige Fülle seiner Phantasie aufzuzeigen, greift daher unsre Auswahl entschiedene Äußerungen dieses Dichterdenkers heraus, die in einem hohen Sinne dieses Wortes .aktuell' sind. Sein prophetisch warnendes Pamphlet gegen den .Luftmilitarismus' zeigt jedem Lernwilligen, wie nötig .Phantasten' sind, wenn es darum geht, das Kommende und Drohende zu prognostizieren. Es erschien im J a h r e 1909 (!) •».
Man könnte höchstens sagen: Die Wirklichkeit hat den grauenhaften Kommentar zu Sdieerbarts Spielen geschrieben. Wir haben bis jetzt absichtlich nur von den astralen und astral-tellurischen Dichtungen Sdieerbarts gesprochen; denn in denjenigen, die sich stärker dem irdischen Leben und der Wirklichkeit nähern, tritt eine neue Seite an ihm zutage. Sie lassen uns ahnen, daß Sdieerbarts Raketenflug in den Kosmos eine Flucht vor der Dämonie des Spiels bedeutet. Ansätze zu einem bedeutungsvolleren Spiel treten vereinzelt schon in den astralen Novellen auf. In der Weltuntergangsnovellette „Das kosmische Theater" 7 0 f ü h r t das Zerschneiden der runden roten Kugel eines Edamer Käses einen Weltuntergang herbei, weil auch „die kleinsten Dinge verhängnisvoll in unser Leben" 7 1 eingreifen können: D a s größte Geheimnis unsrer sichtbaren Welt ist jedenfalls das Gesellsdiaftsleben der Lebewesen untereinander. Die unzähligen Fäden, die die Sterne u n d die Bewohner ddr Sterne mit einander und mit den Sternen verbinden, bilden ein so kompliziertes Gewebe, d a ß unser Geist vorläufig noch nicht reich genug erscheint, dieses Gewebe stellenweise übersichtlich zu gliedern und geordnet vor uns erscheinen zu lassen. Das ist aber die Kardinalaufgabe unsrer Literatur. 7 2
Justus vom Treckenbrock schneidet trotz den Warnungen seiner Frau Justina den Käse an; das kosmisdie Theater gerät in Brand; Justina stirbt und Just baut sein neues kosmisches Theater nicht mehr, sondern läßt die Weltkörper planlos umherliegen und verstauben. 73 Hier gerät Scheerbart in die N ä h e des Symbols, eine geheimnisvolle magische Beziehung zwischen den irdischen Dingen und dem Kosmos leuchtet auf, wie sonst nie bei ihm. Zweifellos ist „Das kosmische Theater" in seiner knappen Kürze die beste astral-tellurisdie Dichtung Sdieerbarts. Wenn wir dem Zauber seines Lachens verfallen wollen, müssen wir uns ohnehin an seine kleinen und kleinsten Skizzen halten. In ihnen ist auch der Reiz seiner eigentümlidi banalen Sprache am wirksamsten, welche die Trivialität sucht, um die Beziehungslosigkeit seiner Welt zu der unsern sichtbar zu machen. In ihrer kindlichen Einfalt 69 70 71 73 73 6*
Auswahl Mumm 15. Astrale Novelletten 11 ff. ebda. 13 f. Münchhausen und Clarissa 129 f. Astrale Novelletten 30.
84
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
erinnert sie an die Bilder der Peintres nai'fs, aber auch an echt kindliche Erzählungen. Die folgende Stelle könnte — abgesehen von den Fremdwörtern — von einem Kinde stammen: U n d auf der Spitze des Kinibalo sah man den großartigen Sternenhimmel. Alle Sterne leuchteten ganz klar auf dem dunklen Himmelsgrunde. U n d die Sterne spiegelten sidi in den Fluten des Ozeans, der wie eine große Schüssel sich nach allen Seiten aufreckte. Ein p a a r Aeroplane fuhren mit Scheinwerfern durch den Nadithimmel. Es w a r sehr still oben auf dem Berge; von der Meeresbrandung hörte man nicht einen Ton. Frau Clara fröstelte, und ihr Gatte hing ihr ein großes Tuch um und ließ ihr ein Glas Grog bringen. Die H e r r e n tranken ebenfalls Grog auf Frau Claras Wohl. Man saß bis Mitternacht oben in dem großen Spitzenlokal. N u r bunte Laternen leuchteten da oben u n d die Sterne des Himmels. Der M o n d ließ sich nicht sehen. Meteore zogen in Parabelbahnen durch den Sternenhimmel. Am H o r i z o n t e strahlte die Venus. 74
Niemand kann sich nach einigem Einlesen ganz dem Zauber dieser naiven Sprechweise entziehen. „Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos" ist die Geschichte der Flucht vor der Erotik, eine Eisenbahnfahrt Sdieerharts mit dem Rechtsanwalt Müller von Berlin nach N o w a j a Semlja, in die er 66 Skizzen einflicht, darunter die Lautdichtung „Kikakokú! Ekoraláps!". 7 5 Die Erotik ist das Reich der ewigen Qual, 7 8 das Reich der „Fleischermeisterphantasie" 77 der modernen Dichter, auf die es böse Hiebe regnet. Scheerbarts „Ich liebe Dich" ist an den Weltgeist gerichtet. Auch „Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman mit dreiundaditzig merkwürdigen Geschichten", die er sieben Nilpferden — ehemaligen ägyptischen Königen — erzählt, preist das „Sternenglück statt Spießerglück" 78 und ist für Leute bestimmt, die noch nicht ganz tot sind, die sich noch wundern können. Bei beiden Romanen fällt jedoch auf, daß sie eine Fülle von Angstvisionen enthalten. Scheerbart erschrickt plötzlich vor seinem Lachen, und dieses verzerrt sich zur Grimasse. Er ist nicht mehr völlig H e r r über seine Geschöpfe, die ihn als „lächerlichen thranköpfigen H e r r n und Meister" 79 anbeten; sie beginnen sich von ihm zu lösen. Aus der Freude an Buntheit wächst der „Dämon des Glanzrausches" mit tiefblauen Flügeln, tiefschwarzem Körper und elfenbeinweißem K o p f ; „seine rothen Feueraugen brennen durch die Dämmerung", 8 0 wie er unheimlich dicht unter dem Himmel liegt. Die Sterne beginnen den Dichter aus74
Das graue Tuch 83 f. Ich liebe Dich 248 f. 78 ebda. 117 ff.; vgl. auch 13 f., 54, 72, 151 ff., 166 ff., 210 f f . 77 ebda. 121. 78 Paul Scheerbart, Immer mutig! Ein phantastischer N i l p f e r d e r o m a n mit achtzig merkwürdigen Geschichten, Minden i. W. 1902, I 38. 79 ebda. II 211. 80 Ich liebe Dich 21. 75
dreiund-
Das kosmische Spiel
85
zulachen; sie „lachten im C h o r so schrecklich laut und so gräßlich höhnisch, d a ß ich verrückt zu werden glaubte", 8 1 oder Scheerbart flieht in entsetzlicher Pein vor einem grauenhaften Tier. 8 2 Die Welt gerät aus den Fugen; etwas ist beim Spiel schief gegangen, wie im „Romantischen Symbolistengesang" die überraschende W e n d u n g des Schlusses v e r r ä t : Da tönten von allen Bergen So seltsam und wunderschön Die Lieder von tausend Zwergen, Die nie ein Mensch gesehn. Es klang wie ein alter Reigen Wohl über Feld und Thal. Dann aber begann ein Schweigen, Das erfüllte das ganze All. Wir standen und sahen träumend Die Berge und Zwerge an. Das Bächlein aber lief schäumend Plötzlich zum Himmel hinan. 8 3
Plötzlich ist etwas in den Bildern ver-rückt, und eine Stimme spricht: „,Die Kunst, die D u erträumtest, ist immer tot. Die Paläste haben kein Leben. Bäume leben — Tiere leben — aber Paläste leben nicht.' ,Demnach', versetz' ich, ,will ich das Tote!' J a w o h l ! ' hör' ich rufen — aber ich weiß nicht, wer das sagt. ,Idi wollte die R u h e •— den Frieden!' schrei' ich wild in grausigem Ekel."* 4 Scheerbarts kosmische P l a n e t e n w u n d e r platzen als Kometen über der E r d e und säen dem Leben U n t e r g a n g , bloß ein bestaubter Erdball dreht sich allein weiter. 8 5 Das Lachen w i r d z u m tödlichen Lachen: seine Freundin Elogifana gibt ihm ein Fläsdichen voll herrlichsten Gelächters, und er trinkt jeden T a g dreimal daraus, obwohl er weiß, d a ß er sterben muß, wenn die Flasche leer ist. 86 Sdieerbart m u ß Gelächter trinken, obwohl er weiß, d a ß er sich an seinem Gelächter verzehrt, d a ß er — wie in einer andern Skizze dargestellt ist — seine eigene giftige Tinte trinken m u ß , bis sein Ich entzweiplatzt. 8 7 So fällt auch er einen Augenblick lang aus der Welt des Spiels hinaus in G r a u e n und Müdigkeit: „Alles ist bloß ein Sdiattenspiel". — „ K a n n man's sehr geistreich nennen, wenn uns die Welt immer bloß als ein müßiges Spiel erscheint?" — „Schließlich ist mir Alles ganz egal. U n d das macht mich nicht heiter." 8 8 Die schwarze Nacht durchschritt die Welt Und die schwarze Nacht zertrat Alles, was licht erglänzte. 81 83 1,3 84 85 88 87 88
ebda. 33. ebda. 40 ff. (Angststück). ebda. 71. Immer mutig I 107. ebda. 56 ff. Ich liebe Dich 47 ff. Immer mutig II 53 ff. ebda. I 189.
Die geistigen
86
Grundlagen
des
Spiels
Ich w a r f midi der sdiwarzen Nacht wüthend entgegen und wollte mit ihr kämpfen. Aber die schwarze Nacht zertrat auch mich.* 9 Sdieerbart w i r d der astralen Dichtung müde: W e i ß nicht, aber ich glaube doch, D a ß die W e l t ein faules Loch, Drinn die vielen großen Sterne Nichts als Phosphorsdiimmer sind. Lieblidi tönt, j a das v i ' ß : ch schon, N u r ein toller Weltenhohn. Freundlidi wären wir so gerne . . . Aber lacht denn noch ein Kind? Wundersam, ja nun glaub' ich fast: U n s zerklemmt die Weltlochlast. Ach, die vielen großen Sterne Sind verweht wie müder Wind. 9 0 „Und
dann
durcheinander schwelgen — kann
fallen —
alle und
meine ich
tiefphilosophisdien
kann
wieder
in
Theorien
wüstester
wie
Kartenhäuser
Gesellschaft
im
Unsinn
und kann mir tausend Frauen kaufen wie König Salomo —
wie mancher
andre
Prophet
blödsinnig
konstatiren,
d a ß Alles
—
und Alles
U n s i n n ist."* 1 Ü b r i g bleiben d e r U n s i n n u n d die E i n s a m k e i t . R e t t u n g aus dieser V e r z w e i f l u n g g e w ä h r t n u r d e r T r a u m v o m K i n d u n d dessen L a c h e n : In dieser Nacht sah ich ein Kind, Das lachte midi an. Es hat das Lachen in dieser Nacht M i r wohlgethan. U b e r die Haide wogten G r o ß e bläuliche Flammen, D i e haben den Himmel ganz hell gemacht, D a z u hat das K i n d noch viel mehr gelacht, Uber die bläulichen Flammen." 2 N o c h einen E r l ö s e r aus E i n s a m k e i t u n d L e e r e k e n n t er freilich: den A l k o h o l . W e i ß t D u , wie es kommt, D a ß die Menschen so viel trinken? D a ß sie dabei oft versinken? W e i ß t D u , wie es kommt? H ö r ' s ! Ich weiß es ganz genau: W i r , die wahren großen Menschen, Sind vom Stamm der großen Löwen, D i e da immer einsam leben U n d sich ledern in Gesellschaft — W i r , die wahren großen Menschen, 89 90 91 93
Ich liebe Didi 204. ebda. 171. ebda. 2 7 4 . ebda. 157.
Das kosmische
Spiel
87
Sehn uns aber viel zu häufig! Müssen drum gewaltig trinken! Könnten uns sonst nie ertragen." In dieser Stimmung entsteht A l k o h o l - und Katerpoesie v o n der A r t : Putz mir meine Krone, Denn idi will spazieren gehn! Sei mein Leibhurone! Aller Welt zum Hohne Gehn wir auf den kleinen Zehn. Putz mir meine Krone! Putz sie mir recht blank! Kriegst auch eine Feder Und ein Ei zum Dank — 8 4 Darin
aber ist schon M ö r i k e Sdieerbart
vorangegangen:
Einmal nach einer lustigen Nacht War ich am Morgen seltsam aufgewacht: Durst, Wasserscheu, ungleich Geblüt, Dabei gerührt und weichlich im Gemüt, Beinah' poetisch, ja, ich bat die Muse um ein Lied. Sie, mit verstelltem Pathos spottet' mein, Gab mir den schnöden Bafel ein: ,Es schlagt eine Nachtigall Am Wasserfall; Und ein Vogel ebenfalls, Der schreibt sich Wendehals, Johann Jakob Wendehals; Der tut tanzen Bei den Pflanzen Obbemeld'ten Wasserfalls —* So ging es fort; mir wurde immer bänger, Jetzt sprang ich auf: zum Wein! Der war denn auch mein Retter. — Merkt's euch, ihr thränenreichen Sänger Im Katzenjammer ruft man — keine Götter. 9 ® M ö r i k e h ä n g t seinem K a t z e n j a m m e r noch das M ä n t e l d i e n literarischer Satire um, in Scheerbarts „ K a t e r p o e s i e " 9 9 tritt das Elend u n v e r h ü l l t auf. D i e Spielwelt ist zusammengebrochen;
alles ist Unsinn,
„Delirium!
Delirium!":
Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen, Und die Nächte siegen über alle Sonnen. Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse. H ö r dodi, wie die ganze Schädelhöhle quarrt! Ist die alte Rinde .wirklich' noch so hart? Alles geht zu Ende — auch der dickste K o p f ! Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schopf! 95 91 95 99
ebda. 292. ebda. 140. Werke I 222 f. (Warnung). Paul Sdieerbart, Katerpoesie, hier zitiert nach 2.—4. Aufl. Berlin o. J .
83
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder? Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder, Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran. 9 7 W u t und Verzweiflung schreit aus jedem dieser Katerlieder: Reimerei und Schweinerei! Mir ist alles einerlei! Alte Katzen sind nicht blöde. Aber jene Untermenschen, Die ich täglich braten möchte, Machen mir die Welt so öde. Mir ist alles einerlei! Mensch sei frei! 9 *
Reich mir meine Platzpatronen, Denn mich packt die Raserei! Keinen Menschen will ich schonen, Alles sdilag ich jetzt entzwei. Hunderttausend Köpfe reiß idi Heute noch von ihrem Rumpf! Hei! Das wilde Morden preis ich, Denn das ist der letzte Trumpf! Welt, versdirumpf! 9 9 A u s dieser höchsten Verzweiflung wächst das Lachen dessen, der „aus W u t sogar H u m o r i s t geworden ist, nicht aus Liebenswürdigkeit". 1 0 0 D i e Maske der fröhlichen Betrunkenheit fällt: Die Maske der Betrunkenheit hab ich nun abgelegt! Ich bin allein — und tue, was ich wollte. Wer jemals über Albernes sich kindlich aufgeregt, Der weiß nun endlich, daß ich stets ihm grollte. Ich lächle nur und Iädile immer wieder — wieder! Mir hängt die Luft voll kreisdiend-toller Jubellieder! 1 0 1 N o c h einmal versucht Scheerbart sich aus der Verstrickung der Finsternis zu lösen: So nehm' ich denn die Finsternis Und balle sie zusammen Und werfe sie, so weit ich kann, Bis in die großen Flammen, Die ich noch nicht gesehen habe Und die doch da sind — irgendwo Lichterloh . . . I 0 2 N o c h einmal beschreitet er den W e g zur astralen Dichtung, z u m Kosmos: 87
Delirium! Delirium! Katerpoesie 8. ebda. 19. 09 Donnerkarl der Schreckliche, ebda. 29. 100 Rakköx, der Billionär, Auswahl Mumm 27. 101 Ermitage, Katerpoesie 33. 102 Die großen Flammen, ebda. 43. 08
Das kosmische
89
Spiel
Eine wilde Fratze Muß ich schneiden, Denn dies Leben Macht mir keinen Spaß. O, ich möchte nur Ein altes Rabenaas Mit verrückter Wollust In zehntausend Stücke reißen, Und dann mödit ich Hübsche Mädchenköpfe Balsamieren mit verfaultem Tran Oder andrer ekler Flüssigkeit. Und dann möcht ich In den Himmel springen Und die Sterne fressen Und zuletzt: Den ganzen Lebensunsinn Ohne weiteres vergessen Und als Ätherwolke Traumlos weiterschweben. Dieses glaub ich, wird mir Noch einmal gelingen. 103 Doch nein, die A u f f a h r t mißglückt und läßt ihm nur Sehnsucht und
Alkohol
zurück: Wenn die große Sehnsucht wieder kommt, Wird mein ganzes Wesen wieder weich. Und ich möchte weinend niedersinken — Und dann mödit ich wieder maßlos trinken. 1 0 4 In den astralen und astral-tellurischen Dichtungen schwebt Scheerbart empor, aber um den Preis der dichterischen K r a f t , die sich in unverpflichtendes Spiel auflöst; aus der Verzweiflung am Irdischen aber entfalten sich die schönsten Blüten seiner E r z ä h l k u n s t , die kleinen Skizzen v o n „Ich liebe D i c h ! " und „ I m m e r m u t i g ! " , in denen der Dichter versucht, sich wieder in die Spielwelt hineinzufinden. E i g e n t liche Wispeliaden entstehen, die von Mörike stammen
könnten:
Kühn Eine Morgenstudie Ich wandelte gedankenvoll durch die große Stube, dachte an die alten Götter der alten Indianer, an ihre Tempel und an ihre Liebesopfer . . . D a sperrt' ich den Mund zu weit auf. Und was geschah da? Eine Fliege flog mir in meinen Mund. Unglaublich! Aber wahr! Ich dachte lange Zeit darüber nach, was das wohl zu bedeuten haben könnte. 103 104
Ingrimm, ebda. 47 f. Die große Sehnsucht, ebda. 9.
Die geistigen
90
Grundlagen
des
Spiels
Indes den Rebus löst' ich nicht. Kühn war die Fliege. Sie starb in meinem Rachen. 1 0 5 Die
Butterblume
Eine große gelbe Butterblume wuchs in den blauen Himmel hinein und leuchtete wie eine große gelbe Sonne. Die gelben Blütenblätter glänzten und kräuselten sich. Und in den Blütenblättern bauten Stördie mit langen roten Schnäbeln und langen roten Beinen ihre Nester. Und die Störche flogen täglich mit ihren langen weiß und schwarz gefärbten Flügeln um die große gelbe Butterblume rum. Die Butterblume wurde nicht welk, und die Störche wurden nicht krank. Im blauen Himmel leuchtete die gelbe glänzende Butterblume wie eine große gelbe Sonne. Die Menschen schauten das Wunder an. Es war aber gar kein Wunder — es war nur ein lächerliches Symbol. 1 0 6 Die gebratene Flunder T a n z - P o e m der .tiefen' Richtung Die gebratene Flunder sitzt auf dem gelbseidenen Familiensopha und sinnt — sinnt lange. Plötzlich springt sie auf und schaut den heiligen Nepomuk, der sich im Schaukelstuhl ein bischen schaukelt, durchdringend an. Dann ruft sie, während sie auf ihrem knusprigen Schwänze in der Stube herumhopst: .Nepomuk, Du solltest Kaiser von Pangermanien werden — wahrhaftig! wirklich!' ,Du hast wohl', erwidert Nepomuk, ,zu viel gebratne Butter im Kopp!' Die gebratne Flunder springt auf den Tisch und singt die Marseillaise. Da wird der heilige Nepomuk wüthend und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Was geschieht? Die Lampe fällt runter und explodirt. Alles verbrennt und stirbt. Die Asche giebt kein einziges Lebenszeichen von sich. Hieraus erkennt man wieder, wieviel der Zorn zerstören kann. 1 0 7 W e n n m a n mit S c h l a g w o r t e n späterer Z e i t operieren will, k a n n m a n das Surrealismus n e n n e n ; H a n s A r p , der einzige deutsche dadaistische Surrealist, ist ja auch zweifellos v o n Scheerbart beeinflußt. A b e r eine solche Bezeichnung ist sinnlos, Scheerbart
ist
ebensosehr
ein
Nachläufer
Wispels.
Seine
berauschte
Weltgeistliebe k ö n n t e auch aus der Trunkenheitspoesie v o n Heines „ I m herrühren: 105 108 107
Ich liebe Dich 69. Immer mutig II 65 f. Ich liebe Dich 129 f.
hegelsche Hafen"
Das kosmische
91
Spiel
D u braver Kellermeister von Bremen! Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen Die Engel und sind betrunken und singen, Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rote betrunkne Nase, Und um die rote Weltgeistnase Dreht sidi die ganze, betrunkne Welt. 1 0 8 D i e F o r m e n des Spiels sind eben an kein modisches Schlagwort gebunden. Lautdiditungen 1 0 9 u n d die Flundergeschidite machen einen Einfluß auf
Die
Morgen-
stern wahrscheinlich; die Katerpoesien leben m i t Versen w i e Meine ganze Welt ist kantig, Und die Bäume sind verrückt. Sage, Wilhelm, sage Sauhirt, W a r u m gehst du so gebückt? 110 in den Gedichten v o n Joachim R i n g e l n a t z weiter. Aber nicht das ist der eigentliche R e i z Scheerbarts, d a ß er manchem V o r b i l d und V o r l ä u f e r war, denn im Vergleich zu seinen N a c h f o l g e r n w i r k e n d i e astralen Visionen bürgerlich harmlos. Er liegt darin, d a ß er dort, w o ihm die Flucht in den Kosmos nicht gelingt, u n v e r m u t e t in die D ä m o n i e des Spiels gerät und sich d a n n auch der geheimnisvollen R e g i o n nähert, w o sich seine F o r m e n m i t denen der Unsinnspoesie anderer W e l t g e f ü h l e vereinigen. Sein „Meerglück" steht unerwartet in der N ä h e v o n M a l l a r m é s „ U n C o u p d e D é s jamais n'abolira le H a s a r d " : Das alte Meer tobt. Und langsam steigen aus den schäumenden Wogen Geister heraus — maßlos riesige Geister! Mit wildem Trotz kommen sie höher und höher. Ihre Fäuste sind geballt. Sie drohen mit ihren geballten Fäusten. Und plötzlich schlagen sie mit ihren Fäusten aufs tobende Meer, daß die schäumenden Wasser hoch aufspritzen — bis an die Sterne. Unergründliche smaragdgrüne Augen starren aus den Geisterköpfen heraus — in die Welt hinein. Verzehrende Wehmut und maßloser Zorn kreischt — in diesen grünen Augen. Das alte Meer tobt. Und langsam tauchen die Geister des Meeres wieder hinab — ins alte kalte Wogenbett. Gurgelnd schließt sich das Wasser über den haarigen Köpfen, in denen die smaragdgrünen Augen verlöschen. U n d wieder tobt das Meer — einsam — einsam — u n d groß! 1 1 1 „Ich träume eigentlich zu allen Zeiten — audi mit o f f e n e n A u g e n a m hellen lichten Tage. Sehr oft spiele idi m i t den Sternen, klebe dem M o n d e l a n g e O h r e n an 108
Heine, Stle. Werke ed. Walzel, Leipzig 1911—15, I 225. Kikakokü! Ekoralâps! Ich liebe Dich 248; Monolog des verrückten Mastodons, Immer mutig II 85 f. 110 Katerpoesie 13. 111 Immer mutig I 132 f. 109
Die geistigen
92
Grundlagen
des
Spiels
und knipse d e r Sonne die N a s e ab, verspeise ein p a a r K o m e t e n und reiße die Milchstraße e n t z w e i . " 1 1 2 Ist das nicht das Weltgefühl des Sichern Mannes? I n einer Zeit, die das freie Lachen und T r ä u m e n verlernt hat, blidcen w i r mit Sehnsucht und T r a u e r auf ein solches Spiel zurück. D i e Einheit seines Lebens, Dichtens und Denkens macht uns Scheerbart liebenswert. Schon in einer
seiner
ersten Sdiriften h a t er ihr mit einem einfadien programmatischen Gedicht Ausdruck gegeben: Laß die Erde! Laß die Erde! Laß sie liegen, bis sie fault! Uber schwarze Wiesentriften Fliegen große Purpurengel, Ihre Scharladilocken leuchten In dem grünen Himmel Meiner Welt. Laß die Erde! Laß die Erde! Laßt sie schlafen, bis sie fault! Über weißen Bernsteinkuppeln Flattern blaue Turteltauben, Ihre Saphirflügel flimmern In den grünen Himmel Meiner Welt. Laßt die Erde! Laßt die Erde! Laßt sie, laßt sie, bis sie fault! Uber goldnen Sdiaumgewässern Spielen zahme Silberfische, Ihre langen Flossen zittern In den grünen Himmel Meiner Welt. Haßt die Erde! Haßt die Erde! 1 1 3
ebda. 207. Paul Sdieerbart, J a . . . was . . . möchten wir nicht Alles! Ein Wunderfabelbuch, Erstes Heft, Berlin 1893, 3. 112
113
3.
Gilbert Zu
Keith Mörikes
DAS
GÖTTLICHE
SPIEL
Chesterton dämonischem
und
Scheerbarts
kosmischcm
gesellt
sich das
im
Religiösen verwurzelte Spiel G. K. Chestertons. Er ist elf Jahre jünger als Scheerbart und hat ihn um v o l l e e i n u n d z w a n z i g Jahre überlebt. In vielem sind sie Zeitgenossen und sich innerlich ähnlich — an den Photographien läßt sich sogar eine gewisse äußere Ähnlichkeit feststellen. 1 Aber es ist, w i e w e n n die N a t u r mit Scheerbart etwas versudit härte, was ihr erst in Chesterton gelang: einen Menschen sein ganzes Leben lang glückliches K i n d bleiben zu lassen. Chesterton hat nie astrale Dichtungen geschrieben, aber er hat in
knappen
Zügen eine Vision dieser Dichtung hingeworfen, die alles, was Scheerbart phantasiert, zu Ende spielt: Ein einziges Gedieht oder eine einzige, von dem Kopernikanisdien Gedanken wirklich durchdrungene Geschichte wäre ein wahrer Alp. Können wir uns eine Berglandschaft in feierlicher Stille und einen in Verzückung emporblickenden Propheten veranschaulichen und gleichzeitig uns vergegenwärtigen, daß dies alles mit höchster Geschwindigkeit wie ein Kreisel im Herumschwirren begriffen ist? Können wir uns einen mächtigen König vorstellen, der einen wichtigen Beschluß verkündet und zugleich eingedenk ist, daß er tatsächlich mit dem Kopf nach unten in den leeren Raum hinausragt? Es ließe sich eine gar seltsame Fabel von einem Mann erdichten, der, mit den Augen des Kopernikus gesegnet oder verflucht, alle Menschen auf der F.rde als einem Magneten zustrebende Eisenstäbe sähe. Es wäre kurios, sich vorzustellen, wie sehr verschieden eine aggressive Rede über die Selbstherrlichkeit und Göttlichkeit des Menschen erklänge, wenn man ihn zugleich mit seinen Schuhsohlen am Planeten hängen sähe . . . 2 „Du hast die Welt auf nichts gebaut", sagt der Verfasser des Buchcs Hiob, und in diesem Ausspruch ist die ganze furchtbare Poesie der modernen Astronomie enthalten. Das Gefühl, daß sie von einem Moment zum andern zerstört werden kann, wird uns durch die runde und sich drehende Erde auf das mächtigste zum Bewußtsein gebracht . . In früheren Zeiten folgte der Entdeckung einer naturgeschichtlichen Tatsache sofort deren Vergegenwärtigung als einer poetischen Tatsache. Als der Mensch zu seinem wahren Bewußtsein erwachte und zu erkennen anfing, daß der Himmel blau und das Gras grün ist, wurde ihm diese Erkenntnis alsbald zum Symbol . . . Infolge irgendeines geheimnisvollen Grundes fand diese Gewohnheit, wissenschaftliche Tatsachen ins Poetische umzusetzen, mit dem Fortschritt der Wissenschaft ein plötzliches Ende, und all die überwältigenden Verkündigungen, die ein Galilei und ein Newton 1 vgl. G. K. Chesterton, Der Mann mit dem goldenen Schlüssel, Freiburg 1952, Frontispiz, mit Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig 1911, 583. 2 G. K. Chesterton, Verteidigung, Ölten 1945, 64 f. Im folgenden sind alle Schriften Chestertons, f ü r die eine erträgliche Übersetzung vorliegt, in dieser zitiert (oft mit kleinen Verbesserungen nach dem englischen Original), die andern nach dem Original von mir übersetzt. 3 Verteidigung 65.
94
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
verkündeten, klangen an taube Ohren. Und dennoch malten sie eine Welt, mit der verglichen die Apokalypse mit ihren niederstürzenden Sternen die reine Idylle war. Sie stellten fest, daß alle, an eine Kanonenkugel geklammert, im Saus durch den leeren Raum dahinwirbeln; und die Dichter ignorierten dies, als wäre es eine Bemerkung über das Wetter. Sie teilten mit, daß eine unsichtbare Macht uns in unsre Lehnstühle bannt, während die Erde in heftigsten Schwingungen dahinbraust wie ein Wurfgeschoß; . . . zu welchen hohen dichterischen Schilderungen würden wir es nicht gebracht haben, wenn wir die Naturgeschichte auch weiterhin poetisch verwertet hätten, und die menschliche Phantasie mit den Planeten ein ebenso natürliches Spiel getrieben hätte wie zuvor mit den Blumen! Es wäre uns ein planetarer Patriotismus entstanden, in dem das grüne Blatt die Rolle der Kokarde übernommen hätte, und die See zur immerwirbelnden Trommel geworden wäre. Wir würden stolz sein auf alle Phasen, durch welche unser Planet sich emporrang, und würden sein Banner in dem blinden Turnier der Sphären pietätvoll aufrechterhalten. Dies alles können wir ja jederzeit noch tun; denn bei all unserem angehäuften Wissen ist doch eins, was zum Glück keiner weiß: ob die Welt alt ist oder jung. 4 Spiel m i t Planeten wie mit B l u m e n ist Scheerbarts Dichtung. D o c h mit welch heiterer Überlegenheit und welch saftigem S p o t t m a l t Chesterton das alles aus und f ü h r t es schließlich ad absurdum! D i e K r a f t Chestertons verliert sich im Gegensatz zu der Scheerbarts nie in Phantasien v o n irgendwelchen W e l t e n ; er steht
mit
beiden Beinen fest auf der E r d e ; seine K r a f t wächst aus dem Menschen und aus der Kindlichkeit des Menschen. Chesterton selbst w ä r e der letzte, der diese W u r z e l seines Wesens nicht gekannt hätte. So steht seine k u r z nach dem T o d e erschienene A u t o b i o g r a p h i e unter dem Symbol des Mannes mit dem goldenen Schlüssel, 5 einer F i g u r aus dem Puppentheater, die in seiner Erinnerung „wie ein Schimmer aus einem unwahrscheinlichen P a r a d i e s " 6
glüht:
Das Wundervolle an der Kindheit ist, daß alles in ihr ein Wunder war. Sie war nicht nur eine Welt voller Wunder, sie war eine Wunderwelt. Fast alles, woran ich mich wirklich erinnere, fügt mir diesen Schock zu, nicht jene Dinge, die ich für würdig geachtet hätte, mich ihrer zu erinnern. Dies ist es, worin sich die Kindheit von der andern großen Erschütterung der Vergangenheit unterscheidet, nämlich von allem, was mit der ersten Liebe und der romantischen Leidenschaft verknüpft ist; denn dieses sticht zwar ebenso, trifft aber immer nur auf einen einzigen Punkt und ist schmal wie ein Stoßdegen, der das Herz durchbohrt, während das andere eher hundert Fenstern glich, die auf allen Seiten des Kopfes offenstanden . . . 7 Unter Nr. 999 des ungeheuren Verzeichnisses der Bücher, die ich nie geschrieben habe (die alle soviel glänzender sind als die Bücher, die ich geschrieben), findet sich die Geschichte von einem erfolgreichen Großstadtmenschen, der ein dunkles Geheimnis in seinem Leben zu haben schien und von dem die Detektive schließlich herausbrachten, daß er noch mit Puppen oder Zinnsoldaten oder sonst einer albernen * ebda. 66 ff. 5 vgl. auch Mrs. Cecil Chesterton, The Chestertons, London Chapman Sc Hall 1941; Maisie Ward, G. K. Chesterton, London-New York Sheed & Ward 1944 (deutsch: Regensburg 1956); Michael Mason, T h e Centre of Hilarity, New York Sheed & Ward 1960, 168 ff.; Garry Wills, Chesterton, Man and Mask, New York Sheed & Ward 1961; Bibliographie: John Sullivan, G. K . Chesterton, A Bibliography, London University of London Press 1958. 6 Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 27. 7 ebda. 34 f.
Das göttliche
Spiel
95
Kinderei spielte. Idi möchte bei aller Bescheidenheit sagen, daß ich ganz und gar dieser Mann bin, abgesehen von der Gediegenheit seines Rufes und seiner erfolgreichen kaufmännischen Laufbahn. Es trifft dies vielleicht in diesem Sinne noch mehr auf meinen Vater zu als auf mich, denn, was mich angeht, so habe ich nie zu spielen aufgehört, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dazu. Ich wünschte, wir müßten unsere Zeit nicht mit albernen Dingen wie mit Vorträgen und mit Literatur vergeuden, — die Zeit, die wir auf ernste, solide und konstruktive Arbeit verwenden könnten, etwa Pappfiguren auszuschneiden und mit bunten Füttern zu bekleben . . . 8 Entscheidend ist, daß ich das Puppentheater liebte, selbst als ich wußte, daß es ein Puppentheater war. Ich liebte die Pappdeckelfiguren auch dann noch, als ich herausfand, daß sie von Pappdeckel waren.' Zahllos
sind
die A n e k d o t e n ,
die sich um
Chestertons
„türrahmenfüllende"
Gestalt schlingen, v o n der er selbst sagt, d a ß sich die Gassenjungen an ihr belustigten, weil sie unbewußt den M a ß s t a b griechischer Bildhauer anlegten und an die M a r m o r s t a t u e Apollos dächten. 1 0 Die schönsten Geschichten sind aber die, welche er selbst e r z ä h l t . 1 1 R ü h r e n d ist seine Hilflosigkeit: so schickt er einmal
seiner
F r a u das T e l e g r a m m : „Bin in M a r k e t H a r b o r o u g h . W o müßte ich s e i n ? " ' 2 C h e s t e r t o n ist kein eigentlicher Dichter; er selbst hat sich einen
Journalisten
genannt. Doch erhält dieses W o r t durch ihn den K l a n g wieder, den es als „Schriftsteller" in der A u f k l ä r u n g besitzt. E r reiht sich w ü r d i g an jene lange Liste v o n N a m e n , die der englischen L i t e r a t u r in dieser Beziehung eine eigene G r ö ß e geben. E r ist ein Mensch, der alle Möglichkeiten menschlichen Ausdrucks in den Dienst einer großen Idee stellt. Sein ganzes Lebenswerk ist der B e w a h r u n g der Kindlichkeit g e w i d m e t ; er ist ihr Polemiker gegen eine W e l t , die sie verloren h a t : Die zwei Dinge, die beinahe jeden normalen Menschen bei Kindern anziehen, sind: erstens, daß sie sehr ernst, und zweitens, daß sie infolgedessen sehr glücklich sind. Sie sind so restlos lustig, wie es nur möglich ist, wenn der Humor aus dem Spiel bleibt. Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Welt ist nicht Mystizismus, sondern verklärter Menschenverstand. Darin liegt das Berückende an Kindern, daß mit jedem von ihnen alle Dinge neu erschaffen werden und daß das Weltall auf die Probe gestellt wird . . . 1 3 Der komische Anblick der Kinder ist vielleicht das teuerste aller Bande, die den Kosmos zusammenhalten. Ihre schwerköpfige Würde ist rührender als die Demut; ihre Tiefe gibt uns mehr Hoffnung zu allem als tausend Karnevale des Optimismus; ihre großen und glänzenden Augen scheinen in ihrem Staunen alle Sterne zu enthalten; die bezaubernde Abwesenheit ihrer Nase scheint uns der deutlichste Hinweis auf die Freude, die unser im Himmelreich harrt." ebda. 42. ebda. 47. 1 0 Orthodoxie, Das Abenteuer des Glaubens, Ölten o. J . , 69. 1 1 vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel bes. 33, 165 f. 1 2 ebda. 356; einige Briefe Chestertons in: G. K . Chesterton, An Anthology, Selected with an Introduction by Lewis D . B. Wyndham, T h e World's Classics 554, London O x f o r d U P 1957. 1 3 Verteidigung 151. " ebda. 156. 8 9
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Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
M i t den Augen des Kindes entdeckt Chesterton die W e l t neu, und diese entpuppt sidi als ein Märchenland. E r verliert sich jedoch nie in P h a n t a s m a g o r i e n , die keine symbolische Beziehung zu unserm Dasein h a b e n ; denn er erkennt klar, d a ß er sein Spiel unter feste Regeln stellen muß. So ist er ein vollkommenes Beispiel für H u i z i n g a s Spielbegriff: Es ist eine Tatsache, daß das Kind in Grenzen verliebt ist. Es gebraucht seine Einbildungskraft, um eingebildete Grenzen zu finden. Das Kindermädchen und die Erzieherin haben ihm nie erzählt, daß es seine moralische Pflicht sei, immer nur auf den zweiten Pflasterstein zu treten. Es beraubt mit Überlegenheit diese Welt der Hälfte ihrer Pflastersteine, um über eine Herausforderung zu triumphieren, die es gegen sich selbst gerichtet hat . . . In diesem Sinne habe ich beharrlich versucht, den wirklichen, zu meiner Verfügung stehenden Raum zu zerlegen und das Haus, in dem ich in voller Freiheit herumrennen durfte, in diese beglückenden Gefängnisse zu teilen und zu unterteilen. Ich glaube, daß in dieser psychologischen Grille eine Wahrheit liegt, ohne welche die ganze moderne Welt ihre günstigste Gelegenheit verpaßt . . . 1 5 Dieses Spiel der Selbstbegrenzung ist eines der geheimen Vergnügen des Lebens . . . Stets wird das Spiel beherrscht von diesem Prinzip der Teilung und Begrenzung, das mit jenem Spiel des Kindes mit den Pflastersteinen beginnt." M i t dem schönsten v o n vielen Bildern dieser Selbstbegrenzung setzt Chestertons „ O r t h o d o x i e " ein: Ich hatte oft Lust, einen Roman zu schreiben, in dem ein englischer Seefahrer seine Richtung falsch berechnet hat und England entdeckte, in der Meinung, es handle sich um eine neue Insel in der Südsee . . . Wahrscheinlich wird jedermann der Meinung sein, daß der Mann, der, bis an die Zähne bewaffnet und in Zeichensprache redend, landete, um die britische Flagge auf jenem barbarischen Tempel zu hissen, der sich in der Folge als der Pavillon von Brighton herausstellte, sich recht dumm vorkam. Ich will nicht leugnen, daß er ein redit dummes Gesicht machte. Wer sich aber vorstellt, daß er sich für einen Toren hielt oder daß das Gefühl der Torheit seine einzige und vorherrschende Empfindung war, der hat die romantische Natur des Helden dieser Geschichte durchaus verkannt. Sein Irrtum war in Wirklichkeit ein höchst beneidenswerter, und darüber war er sich klar, sofern er der Mann war, für den ich ihn halte. Was könnte es Erfreulicheres geben, als innerhalb weniger Minuten all die spannenden Schrecken der Fremde und das warme Sicherheitsgefühl der Heimkehr zu erleben? Was könnte herrlicher sein, als den Spaß einer Entdeckung Südafrikas zu empfinden, ohne die widerliche Notwendigkeit, dort zu landen? Was könnte es Glorreicheres geben, als sich zur Entdeckung von Neu-Südwales aufzumachen und dann mit einem Strom von Freudentränen herauszufinden, daß es das alte Südwales war? Wie kann diese sonderbare Weltstadt mit ihren vielbcinigen Einwohnern, mit ihren monströsen alten Lampen, wie kann diese Welt in uns gleichzeitig die faszinierende Empfindung einer fremden Stadt und das Behagen und die Ehre, unsere eigene Stadt zu sein, hervorrufen? 17 Selbst w o Chesterton das Spiel sehr weit über die G r e n z e n des Sinns und des Möglichen hinaustreibt, hütet er sich, den irdischen Schauplatz zu verlassen. W i e S d i e e r b a r t lacht er etwa über die K o m i k des Essens, 1 8 nie w ü r d e er jedodi eine Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 112 f. ebda. 113 f. 1 7 Abenteuer des Glaubens 16 f. 1 8 G. K. Chesterton, Essays, Selected with a Preface by John Guest, Library of Classics, London Collins 1939, 43. 15 16
Das göttliche
Spiel
97
Überwindung dieser Komik durch Tabletten wünschen, im Gegenteil: die ungeheure Komik, das heißt die ungeheure Kindlichkeit, macht die eigentliche Größe des Menschen aus. Aus ihr gewinnt dieser Dichter eine schier unbeschreibliche Fülle von neuer Poesie des Lebens. In den verachtetsten Dingen erkennt er verborgene Schätze, die er als Schatzgräber des Wunders hebt: im Schundroman, in unüberlegten Gelübden, Gerippen, Kitschfiguren, häßlichen Dingen, im Kriminalroman, in Tageszeitungen, im Patriotismus" und in noch viel Geringerem: „Beinahe alle besten und kostbarsten Dinge des Universums bekommt man für einen H a l f p e n n y , mit Ausnahme natürlich von Sonne, Mond, Erde, Menschen, Sternen, Gewittern und solchen Kleinigkeiten, die bekommt man u m s o n s t . . . Aber für einen H a l f penny kann man zum Beispiel auf der Straße hinter mir Tram fahren, und die elektrische Straßenbahn ist das fliegende Schloß des Märchens. Für einen H a l f penny erhält man eine recht große Menge buntfarbiger Süßigkeiten." 20 Chesterton liebt alles Ursprüngliche. Der Alkohol ist zum Beispiel keine Medizin, er soll frohen Herzens und sorglos getrunken werden; nur Trinker und Mohammedaner können nicht leichtsinnig trinken. 2 1 Deshalb ist sein Spott auf die Wassertrinker fürchterlich, er hält ihnen die ganze absurde Romantik der Abstinenz vor Augen: Ich kann einfach nicht verstehen, daß der Wassertrinker übersieht, welche Faszination der Regen auf ihn ausüben müßte. Der enthusiastische Wassertrinker muß einen Platzregen für eine Art Weltbankett und eine Schwelgerei in seinem Lieblingsgetränk halten. Man stelle sich doch einen Weintrinker vor, über den karmesinrote Wolken roten und goldenen weißen Wein schütten würden. Man male doch einmal auf den Hintergrund der ursprünglichen Finsternis apokalyptische Szenen, turmhohe und gewaltige Himmelslandschaften, auf denen Champagner wie Feuer vom Himmel fällt oder die schrecklichen Farben des Portweins, die den dunkeln Himmel purpurrot und lohfarben aufglühen lassen. So muß der wilde Abstinenzler fühlen, sich ins tiefsaufende Gras werfen und die Beine verzückt gegen den Himmel strecken, wenn er dem Rauschen des Regens lauscht. 22
Er predigt, man solle im Bett liegen bleiben und träumen: „Wenn ein gesunder Mann im Bett liegt, so laßt ihn liegen und verlangt keine Entschuldigung"; 2 3 das Bett hat nur den einzigen Nachteil, daß es noch keine Pinsel gibt, lang genug, die wunderbar weiße Zimmerdecke zu bemalen. Chesterton preist das Nichtstun; die edle Gewohnheit des Nichtstuns wird auf eine Art vernachlässigt, daß die Degeneration einer ganzen Rasse droht. 2 4 Wie weit der moderne Mensch von aller Ursprünglichkeit entfernt ist, zeigt sich daran, daß seine Berufe keine Lieder mehr haben. 25 Deshalb dichtet Chesterton f ü r die Bankangestellten einen „Chorus in Praise of Simple Addition": 19 20 21 22 23 24 25
7
Kapitel in Verteidigung. T h e S h o p of Ghosts, Essays 147. Wine when it is red, Essays 69. T h e Romantic in the Rain, Essays 211. On Lying in Bed, ebda. 106. On Leisure, ebda. 291. Little Birds who won't sing, ebda. 123 ff.
Liede,
Diduung
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Grundlagen
des
Spiels
Up, my lads, and lift the ledgers, sleep and ease are o'er. Hear the Stars of Morning shouting: ,Two and T w o are Four.' Though the creeds and realms are reeling, though the sophists roar, Though we weep and pawn our watches, T w o and T w o are F o u r . " Und je mehr ich darüber nachdachte, umso gewisser schien mir, daß die wichtigsten und typischsten modernen Dinge nicht von einem Lied begleitet werden können. Man kann zum Beispiel nicht ein großer Finanzmann sein und singen, weil man nur ein großer Finanzmann werden kann, wenn man still ist. Man kann nicht einmal in vielen modernen Kreisen ein Mann der Öffentlichkeit sein und singen, weil es in diesen Kreisen zum Wesen des Mannes der Öffentlichkeit gehört, daß er beinahe alles privat erledigt. Niemand kann sich ein Lied der Geldgeber vorstellen . . . Auf unserm Leben lastet etwas, das den Geist erstickt. Bankangestellte haben keine Lieder, nicht weil sie arm sind — Seeleute sind viel ärmer — , sondern weil sie traurig sind. Auf dem Heimweg kam ich an einem winzigen kirchlichen Gebäude vorbei, das von Gesang geschüttelt wurde. Hier sang man jedenfalls, und es kam mir in den Sinn, was ich schon oft gedacht hatte: daß bei uns das Ubermenschliche der einzige O r t ist, wo man noch Menschliches findet. Man hat die menschliche Natur gejagt, und sie hat sich in das Heiligtum geflüchtet." M i t einem Stüde K r e i d e in der Tasche w a n d e r t das K i n d Chesterton durch diese verrückte W e l t und schreibt an die H a u s w ä n d e : James Harrogate, thank God for meat, Then eat and eat and eat and eat. 4 8 A l l e Dinge, denen er begegnet, sind Bruchstücke v o n etwas anderem, „das äußerst erregend sein w ü r d e , w e n n es nicht zu g r o ß w ä r e , um gesehen zu werden. D i e Verworrenheit
unseres
Lebens
entsteht
dadurch,
daß
es zu
viele
interessante
Dinge in ihm gibt, sodaß w i r uns nicht m e h r ernsthaft für irgendetwas
inter-
essieren können. W a s w i r seine T r i v i a l i t ä t nennen, sind in Wirklichkeit nur die äußersten Endchen zahlloser Märchen." 2 ® I m schönsten seiner Essays 3 0 zieht der Dichter m i t b r a u n e m P a c k p a p i e r und farbigen Kreiden bewaffnet in die N a t u r hinaus, u m zu m a l e n : Ich wollte Teufel und Seraphim zeichnen, blinde alte Götter, wie sie die Mensdien vor der Morgendämmerung des Rechten verehrten, Heilige in hochroten Gewändern, seltsam grüne Meere, und alle heiligen oder monströsen Symbole, die in hellen Farben auf braunem Papier so gut aussehen. Sie verdienen viel eher gezeichnet zu werden als die Natur, zugleich sind sie auch viel leichter zu zeichnen. Ein gewöhnlicher Künstler hätte vielleicht die Kuh gemalt, die mit hängendem Kopf auf das benachbarte Feld kam; aber ich zeichne die Hinterbeine von Vierfüßlern immer falsch. So malte ich die Seele der Kuh, die ich im Sonnenlicht dort klar vor mir 26 27 28 29 30
ebda. 125. ebda. 127 f. T h e Hypothetical Householder, Essays 197. T h e Secret of a T r a i n , ebda. 75. A Piece of Chalk, ebda. 70 ff.
Das göttliche
Spiel
99
sah; und die Seele war ganz von P u r p u r und Silber; sie hatte sieben Hörner und besaß das Geheimnis aller Tiere. 31 Chesterton hat die w e i ß e Kreide zu H a u s e vergessen. W e i ß jedoch ist auf braunem Papier Farbe und nicht bloßes Fehlen v o n Farbe. W e i ß ist mehr: G o t t malt in Weiß. Chesterton ist verzweifelt. „ D a stand ich plötzlich auf und brüllte v o r Lachen, sodaß die Kühe mich anstarrten und eine K o m m i s s i o n w ä h l t e n . . . Ich stand auf einem gewaltigen Lager w e i ß e n Kalks." 3 2 Chesterton entdeckt,
daß
Südengland nicht nur eine große Halbinsel, sondern „noch e t w a s viel B e w u n d e r n s werteres ist". D a s G r o ß e w i r d z u m Kleinen, das K l e i n e z u m G r o ß e n , alles steckt voll Wunder. D e r Mensch sitzt auf einem Kreidefelsen u n d findet keine w e i ß e Kreide. D a s ist Chestertons W e l t - und Lebensgefühl. Jemandem, der das Spiel nicht liebt, m ö g e n alle diese Zitate als belanglose Spielereien
eines Kindskopfs erscheinen; aber dieser J e m a n d
wird
wenigstens
zugeben müssen, daß Chesterton in einigen W e r k e n trotz des U n s i n n s z u beachtlichen Erkenntnissen g e k o m m e n ist. Er w i r d z w a r sagen: „ T r o t z des Unsinns", wir halten dem entgegen: „Wegen des Unsinns". D e n n das kindliche Spiel erweist sich als ein H e b e l , mit dem eine ganze falsche W e l t aus den A n g e l n
gehoben
werden kann. W o Chesterton mit den D i n g e n z u spielen beginnt, b e k o m m e n diese ein neues Gesicht und eine neue Weihe. U n d w i e d e r u m ist es für das Spiel v ö l l i g belanglos, o b es sich um „Kleinigkeiten" des A l l t a g s oder um „große" Fragen handelt. Mit Kleinigkeiten beginnt Chestertons K a m p f gegen alles, w a s Unrecht ist an der Welt, gegen jene ungeheure m o d e r n e Ketzerei, welche die Menschenseele den Bedingungen der Zeit anpassen w i l l , statt diese der Menschenseele
anzu-
passen": Ich beginne mit dem H a a r eines kleinen Mädchens. Das ist, was ich bestimmt weiß, auf jeden Fall eine gute Sache. Was immer sonst schlecht sein mag, der Stolz einer guten Mutter auf die Schönheit ihrer Tochter ist gut. Es ist eine jener adamantischen Zärtlichkeiten, die der Prüfstein jedes Zeitalters und jeder Rasse sind. Wenn andere Dinge dagegen sprechen, müssen die andern Dinge weichen. Wenn Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften dagegen sind, müssen Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften weichen. Mit den roten Locken einer kleinen Schelmin aus der Gosse will ich an die ganze moderne Zivilisation Feuer legen. Weil ein Mädchen langes H a a r haben soll, soll sie eine freie und ausgeruhte Mutter haben; weil sie eine freie Mutter haben soll, sollte sie keinen wucherischen Gutsherrn haben; weil es keinen wucherischen Gutsherrn geben soll, sollte eine neue Vermögensaufteilung stattfinden; weil eine neue Vermögensaufteilung stattfinden soll, muß Revolution sein! Diese kleine Schelmin mit dem goldroten H a a r (der ich eben zugesehen habe, wie sie an meinem Haus vorbcigeschlendert ist), an ihr soll nicht gezwackt und geschnitten und geändert werden; ihr H a a r soll nicht kurz geschnitten werden wie das einer Nonne. Nein! Alle Königreiche der Erde sollen ihr zulieb verwüstet und verstümmelt werden. Die Stürme der Welt sollen um dieses ungeschorenen Lammes willen besänftigt werden. Alle Kronen, die ihrem H a u p t e nicht passen, sollen zerbrochen werden, alles Zier- und Bauwerk, das mit ihrer Glorie nidit harmoniert, soll ver31
ebda. 72. ebda. 74. 33 What's Wrong with the World? London Cassell 1910. Deutsch: Was Unrecht ist an der Welt, München 1924, 119. 32
7'
100
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
gehen! Ihre Mutter mag ihr befehlen, ihr H a a r aufzubinden; denn das ist natürliche Autorität; aber der Kaiser des Planeten soll ihr nicht gebieten, es abzuschneiden. Sie ist das geheiligte Menschenbildnis; rings um sie soll aller soziale Bau versdiwinden und bersten und fallen; es soll an den Grundpfeilern der Gesellschaft gerüttelt werden; die Dächer des Zeitalters mögen einstürzen; und nicht ein H a a r ihres Hauptes soll fallen! — 34 M a n hat Chesterton schon den „Abenteurer des Glaubens" genannt; 3 5 dieser N a m e ist ebenso oberflächlich w i e der v o m „Sänger und Propheten des Durchschnittsmenschen". s *
Denn
Abenteuer
und
Poesie
des
Durchschnittsmenschen
gründen auf der Kindlichkeit, diese aber steht auf der Gotteskindschaft des M e n schen. D a s ist die letzte metaphysische Begründung des Spiels. „Die W e l t w a r [für das K i n d ] ein Erschrecken, das nichts Schreckliches an sich hatte. D a s D a s e i n war
eine
Überraschung,
aber
eine
angenehme
Überraschung.
Eigentlich
sind
meine ersten Ansichten genau in einem Rätsel ausgedrückt, das mir seit meiner K n a b e n z e i t im Gedächtnis haften blieb. D i e Frage hieß: ,Was sagt der erste Frosch?' U n d die A n t w o r t w a r : ,Gott, w i e lässest du mich hüpfen!' D a s sagt in K ü r z e alles aus, w a s ich selber sage. G o t t ließ den Frosch hüpfen; der Frosch aber tut nichts lieber als das." 3 7 D e r geistige Ruin der Zeit ist für Chesterton durch verwilderte V e r n u n f t herbeigeführt worden, nicht durch verwilderte Phantasie. 3 8 D e n n der W a h n s i n n i g e ist für ihn der Mensch, der alles verloren hat, ausgenommen seinen Verstand,
indem er nach seiner eigenen Meinung keine sinnlosen
D i n g e mehr tut. 3 * D e r Glückliche und Gesunde vollbringt Sinnloses, nur dem K r a n k e n fehlt die Kraft, müßig zu sein. 4 0 Für Chesterton erzeugt die Vernunft den W a h n s i n n der Zeit — , 4 1 das Christentum dagegen befreit von dem Irrsinn verwilderter
V e r n u n f t ; es ist ein Märchen
von
der sonnigen Landschaft
des
g e s u n d e n Menschenverstands: 4 2 Der äußere Ring des Christentums bildet eine starre Mauer von ethischen Abtötungen und berufsmäßigen Priestern; doch innerhalb dieser unmenschlichen Mauer wird man das alte menschliche Leben finden, reigentanzend wie Kinder und zechend wie Männer; denn das Christentum ist der einzige Rahmen für heidnische Freiheit. Aber in der modernen Philosophie liegt der Fall gerade umgekehrt: in ihrem äußern Ring geht es künstlerisch und ausgelassen zu; die Verzweiflung aber wohnt innen. — U n d ihre letzte Verzweiflung besteht darin, daß sie nicht an einen Sinn des Universums glaubt; daher besteht für sie keine Hoffnung auf Romantik; ihre Romane entbehren der eigentlichen Handlung. Man kann im Lande der Anarchie keine Abenteuer erwarten. Aber man kann sich auf jede beliebige Anzahl von Abenteuern gefaßt madien, wenn man in das Land der Autorität zieht. In einem Dickicht von Skeptizismus ist kein Sinn zu entdecken; aber einem Menschen, der 34 35 38 37 38 39 40 41 42
ebda. 299 f. so Karl Pfleger, Geister, die um Christus ringen, 6. Aufl. Heidelberg 1951, 179 ff. ebda. 184 ff. Abenteuer des Glaubens 91. ebda. 63. ebda. 32. ebda. 31. ebda. 28. ebda. 81.
Das göttliche
Spiel
101
durch den Wald der sichern Lehrsätze und festen Pläne geht, wird eine Bedeutung nach der andern aufgehen. Hier hängt an jedem D i n g eine Geschichte w i e an den Werkzeugen oder Bildern im Hause meines Vaters. Ich höre auf, w o ich angefangen habe — am rechten Ende. Endlich bin ich durch das Tor aller guten Philosophie getreten. Ich bin in meiner zweiten Kindheit angelangt. 4 3
Die Konversion von der Anglikanischen zur Römisch-Katholischen Kirche von 1922 ist nur eine letzte Konsequenz von Chestertons eigenen Spielregeln der Umgrenzung; 4 4 er geht nun darauf aus, das Märchen des Glaubens zu entdecken, im Wunder eines Franziskus von Assisi, eines Thomas von Aquin und in Christus selbst. 45 D a s Christentum gibt dem Unsinn der Welt einen neuen Sinn: „Das ist es, was das Leben so großartig und so seltsam zugleich macht. Wir sind in der falschen W e l t . . . Der falsche Optimismus, das moderne Glück, macht uns müde, weil er uns sagt, wir paßten in diese Welt. Das wirkliche Glück ist, d a ß wir nicht in diese Welt gehören. Wir kommen anderswo her. Wir haben uns verirrt." 4 8 Die menschliche Tragödie ist uns vielleicht „als eine A r t mitleidsvoller Komödie bewilligt, weil das Ungestüm göttlicher Dinge uns wie eine trunkene Posse überrumpeln würde. Wir können unsere eigenen Tränen leichter nehmen als den kolossalen Leichtsinn der Engel. So sitzen wir vielleicht in einem schweigenden Sternenraum,während das Lachen des Himmels zu laut ist, als daß wir es hören könnten." 4 7 Das große befreiende Lachen Gottes trennt Chesterton von Mörike wie von Scheerbart. Mörike muß, wie ein Kind weinend, zur Mutter N a t u r fliehen, doch diese schenkt ihm keine Erlösung vom Zwang des Spiels — im Gegenteil: erst die Flucht zur N a t u r schafft jene echten Dämonen, die ihren Schöpfer zu zerstören drohen, erst aus ihr wächst die mythenbildende Kraft. Scheerbarts Gelächter dagegen verhallt im Kosmos ohne Echo. Chesterton ordnet das Spiel in die Gotteskindschaft des Menschen ein. Der Mensch muß Kind sein, weil er ein Kind Gottes ist. Das gibt dem Spiel ein verhältnismäßig sicheres Fundament. Die großen Romane Chestertons zeigen uns freilich, daß selbst die Gotteskindschaft den Menschen nicht völlig vor den Dämonen des Spiels bewahrt, d a ß das Urgelächter Gottes auch ein unheimliches Gelächter ist. Als Dichter ist Chesterton vor allem durch seinen Father Brown bekannt geworden, einen hilflos kindlichen und schäbigen Priester, der Kraft seines Amtes mehr vom Wesen des Verbrechens weiß als der Verbrecher selbst und deshalb den Schlüssel zu allen Untaten findet.48 Chesterton hat der Kriminalgeschichte — 43
Abenteuer des Glaubens 261. „He had dwelt so long in a spiritual uncertainty that he yearned to find himself anchored to a definite belief", The Chestertons 264 f. 45 St. Francis of Assisi, London Hodder & Stoughton 1923 u. ö. (deutsch: Freiburg 1. Br. 1959); St. Thomas Aquinas, London H o d d e r & Stoughton 1933 u. ö. (deutsch: 2. A u f l . Heidelberg 1957) etc. 48 The Ballade of a Strange T o w n , Essays 158. 47 Abenteuer des Glaubens 265. 48 zuletzt gesammelt in: G. K. Chesterton, T h e Father Brown Stories, 5. A u f l . London Cassell 1951. 44
102
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
der „frühesten und einzigen Form volkstümlicher Literatur, in der sich etwas Sinn für die Poesie des modernen Lebens geltend madit" 49 — Impulse gegeben, die bis ins Bekenntnishafte gehen, indem er Father Brown mit jener ins Absolute weisenden Kindlichkeit umgibt. Seine schönsten Schöpfungen sind aber die Romane „The Napoleon of Notting Hill", „The Man who was Thursday", „The Flying Inn" und „The Return of Don Quixote". „The Napoleon of Notting Hill" ist die Geschichte eines Jugendtraums, der Wirklichkeit wird, die Gesdiichte vom Wasserturm auf Campden Hill in LondonKensington gegenüber der Kirche, in der Chesterton getauft wurde. 50 Der Roman spielt im London des Jahres 1984 und ist die Erzählung vom Kind gebliebenen Mann Adam Wayne, der mit der Ernsthaftigkeit, deren nur ein Kind fähig ist, einen clownesken Einfall des Königs von England — eines zu dieser Zeit durch Zufallsmehr erkorenen Beamten — verwirklicht. Wie der König auf Notting Hill von einem Knaben, der sein Schloß mit einem Holzsdiwert verteidigt, angehalten wird, bestimmt er, daß die Quartiere Londons geschlossene Städte mit Banner und Wappen werden sollen. Was für ihn eine Laune phantastischen Humors ist und was seine geschäftstüchtigen Untertanen nur widerwillig ertragen, indem sie Erdarbeiter und Sandwichmänner als Herolde und Stadtwadien anstellen, nimmt der Knabe Adam Wayne für Wirklichkeit. Er wird später Bürgermeister von Notting Hill, verteidigt seine Pumpenstraße gegen das Projekt einer Durchgangsstraße und wirft dem König und Spaßmacher, als dieser vor einem Blutvergießen warnt, voll Verachtung ins Gesicht: O h , ihr Könige, ihr Könige, wie menschlich seid ihr, wie empfindlich, wie bedacht! Ihr macht Kriege einer Grenze wegen oder wegen der E i n f u h r aus einem ausländischen H a f e n . Ihr vergießt Blut wegen eines bestimmten Zolls auf Spitzen oder f ü r den einem Admiral sdiuldigen G r u ß . Aber f ü r das, was das Leben wert oder unwert macht — wie menschlich seid ihr da. Ich behaupte hier und weiß sehr gut, was ich sage, es hat niemals notwendige Kriege gegeben außer den Religionskriegen. Die Religionskriege waren die einzigen gerechten Kriege, sie waren die einzigen menschlichen Kriege. Denn diese Männer fochten f ü r etwas, das wenigstens den Anspruch darauf erheben konnte, Glück und K r a f t des Menschen auszumachen. Ein Kreuzzügler glaubte doch immerhin, d a ß der Islam der Seele jedes Menschen, sei es eines Königs oder Kesselflickers, schaden müsse, ja, d a ß er sie G o t t wegkapere. Ich glaube nun, daß Buck und Barker und alle diese reichen Geier der Seele jedes Menschen schaden, jeden Zoll der Erde, ja, jeden Ziegelstein der Häuser schänden, d a ß sie wirklich Seelenfang treiben. Glauben Sie wirklich, ich hätte kein Recht f ü r N o t t i n g Hill zu kämpfen, Sie, dessen englische Regierung so oft f ü r reine Narrenspossen gekämpft hat? Wenn es, wie ihre reichen Freunde sagen, keine Götter gibt und der H i m m e l über uns leer und dunkel ist, w o f ü r sollte dann ein Mann kämpfen, wenn nicht f ü r den O r t , wo er das Paradies seiner Kindheit und den kurzen Himmel seiner ersten Liebe erlebte? Wenn Tempel und Bibel nicht heilig sind, was ist d a n n heilig, wenn nicht eines Mannes eigenste Jugend? 5 1 49
Verteidigung 158. vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 114 f., 119. 51 G. K. Chesterton, Napoleon of N o t t i n g Hill, London John Lane 1904. Deutsch: Der H e l d von N o t t i n g Hill, Berlin o. J., 95 f. 50
Das göttliche
Spiel
103
So k o m m t es z u m blutigen K a m p f ; m i t H i l f e eines Spielwarenhändlers, der im Hinterstübchen an Bleisoldaten schon jahrzehntelang über der Verteidigung v o n N o t t i n g H i l l gebrütet hat, gelingt es W a y n e , N o t t i n g H i l l gegen tausendfache Übermacht
zu halten und schließlich seine Feinde —
die A r m e e v o n
South
Kensington — mit der Drohung, die Reservoire des Wasserturms in die Stadt auslaufen z u lassen, zur Kapitulation zu z w i n g e n . A d a m W a y n e erreicht noch mehr: er z w i n g t den Geschäftsleuten der andern Viertel nicht nur seinen K a m p f , sondern auch seine Ideale auf. Sie k ä m p f e n und sterben nun für Bayswater oder South
Kensington
wie
er für N o t t i n g H i l l . D i e Eintönigkeit
der
Zivilisation wird durch den K a m p f um ein unsinniges Ideal zerstört.
modernen Zwanzig
Jahre nach seinem Sieg fällt A d a m W a y n e im A u f s t a n d South Kensingtons und der andern Quartiere gegen die Tyrannei N o t t i n g Hills. So werden jene U r d i n g e wiedergeboren, die den Menschen jung machen und die ewig sind: Es gibt keinen Anbeter des Fortschritts, der nicht auf seinem Nacken das ungeheure Gewicht des müden Weltalls spürt. Aber wir, die wir das Alte vollbringen, sind von der N a t u r mit dauernder Unmündigkeit gesegnet. Kein Mann, der liebt, glaubt, d a ß vor ihm schon jemand geliebt habe. Keine Frau, die ein Kind hat, glaubt, daß es auch noch andere Kinder gibt. Kein Volk, das für sein Land ficht, wird von dem Gedanken an zusammengebrochene Reiche belastet . . . die Welt ist sich immer gleich, denn sie ist immer voller Überraschungen." A u f dem Schlachtfeld nach der letzten Schlacht v o n N o t t i n g H i l l sprechen die S t i m m e des toten Königs Auberon Q u i n , der den Scherz v o n den Quartierstädten erfunden hat, und die des toten A d a m W a y n e als die Stimme des Gelächters und der Ehrfurcht einen metaphysischen D i a l o g : ,Wenn ich nun Gott wäre', sagte die Stimme [des Königs], ,und wenn ich die Welt aus Laune erschaffen hätte. Wenn nun die Sterne, die für dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben wären? Wenn nun Sonne und Mond, die du besingst, nur die beiden Augen eines ungeheuren und höhnischen Riesen wären, die er abwechselnd schließt und öffnet in einem unendlichen Blinzeln? Wenn die Bäume in meinen Augen nichts wären als lächerliche enorme Giftpilze, und wenn Sokrates und Karl der Große für mich nur Viedier wären, die darum spaßhafter sind, weil sie auf den Hinterfüßen gehen? Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen.' ,Und nimm an, ich sei ein Mensch,' antwortete der andere [Adam Wayne], ,und höre, daß ich dir eine Antwort gebe, die selbst ein Lachen übertönt. Nimm an, daß ich dich nicht lästere, dir nicht fluche. Aber vernimm, daß ich, hochaufgerichtet unter dem Himmel, dir mit aller Kraft meines Wesens danke f ü r das Paradies der Narren, das du geschaffen hast. Nimm an, ich preise dich mit einer wirklich schmerzhaften Begeisterung f ü r den Scherz, der f ü r mich eine so ungeheure Freude gewesen ist. Wenn wir einem Kinderspiel den F.rnst eines Kreuzzuges verliehen, wenn wir deinen grotesken Blumengarten mit dem Blut von Märtyrern gekrönt haben, so haben wir eine Kinderstube in einen Tempel verwandelt. Ich frage dich im Namen des Himmels: Wer hat gewonnen? 55 D e r R o m a n endet, indem das Gelächter des Gottes u n d die Ehrfurcht des Kindes gemeinsam über die Welt w a n d e r n : „Wir sind nur die beiden Teile eines un52 53
ebda. 229 f. ebda. 232 f.
104
Die geistigen Grundlagen des Spiels
gebrochenen Gemütes. Gelächter und Liebe sind überall. D i e g r o ß e n Kathedralen, die in den J a h r h u n d e r t e n der Gottesverehrung gebaut wurden, sind voll von lästerlichen Grotesken. Die M u t t e r lacht ständig über ihr K i n d , der Liebhaber ladit immer über die Geliebte, die Frau über den M a n n , der F r e u n d über den Freund." 5 4 In „The R e t u r n of D o n Quixote" 5 '' h a t Chesterton das gleiche T h e m a nochmals zu gestalten versucht. D e r Bibliothekar Michael H e r n e wird durch eine Theatera u f f ü h r u n g aus seinen Büchern herausgerissen. Mit ihm aufersteht die mittelalterliche Welt, und die feudalen u n d reaktionären Mächte glauben, ihn dem G e w e r k schaftsführer J o h n Braintree entgegenstellen zu können. H e r n e z w i n g t wie W a y n e seine Umgebung zu „konservativen R e v o l u t i o n " eines neuen Rittertums. Wie W a y n e besiegt er seinen modernen Gegner u n d sitzt über ihn zu Gericht. Er m u ß jedoch mit seinem fanatischen Wahrheitsdrang erkennen, d a ß die adelige Ritterwelt nicht zu erneuern ist; die heutigen Adeligen sind keine w a h r e n Ritter mehr. D i e Adeligen, die sich um ihn geschart haben, sind Seifensieder u n d F a r b f a b r i k a n ten mit gekauften Titeln, die im Mittelalter nicht einmal in eine Z u n f t aufgenommen worden wären. Der Arbeiterführer J o h n Braintree dagegen v e r k ö r p e r t das mittelalterliche Ideal, „ d a ß jene die Herrschaft über das Gewerbe ausüben sollten, die allein und in gehöriger Weise dieses Gewerbe betreiben". 5 6 Die Arbeiter sind die w a h r e n Erben der Tradition. Michael H e r n e , die Ehrfurcht, zieht, begleitet von Douglas Murrel, seinem Gelächter, mit einer altersschwachen Droschke in die Welt hinaus: Im Augenblick, ehe vernichtendes Gelächter donnergleich niederscholl, sahen die Zuschauer, wie von einem Blitzstrahl erhellt, klar und scharf, gleich einer momentanen Wiederauferstehung aus dem Schattenreiche, eine Vision und ein Erinnerungsbild. Die Backenknochen des hageren, sdiarfgeschnittenen Antlitzes, der flammenähnliche Gabelbart, die eingesunkenen, fast immer irrsinnigen Augen blickten aus einem erschreckend bekannten Rahmen. Starr über dem Sattel der Rosinante, hochaufgeschossen und in zerbeulter Rüstung, hob dieses Bild jene ohnmächtige Lanze, die uns drei Jahrhunderte hindurch gelehrt hat, über das Speereschwenken zu lachen. Und hinter ihm ragte, ein riesiger gähnender Schatten, gleich der Vision jenes Leviathans von Gelächter, das groteske Hansom, an die Kiefer eines hämischen Drachens gemahnend, ihn ständig verfolgend — wie der Schatten der Karikatur unsere verzweifelte Würde und Schönheit verfolgt — ewig ihn überschattend, dräuend wie die Woge der Welt; und über allem schwebte der einfältigere und schwächere menschliche Geist und schaute — nicht unfreundlich — hinab auf alles, was das Höchste ist. — Und doch — trotz jenes hochgetürmten und überragenden Anhängsels der Lächerlichkeit, das gleich einer überwältigenden Last hinter ihm dreinschleppte, war alles in jenem Augenblick ausgelöscht und vergessen angesichts der Kraft und erschreckenden Leidenschaftlichkeit seines Antlitzes. 57
D a m i t legt sich über diese Geschichte eine leise Resignation, die dem „ N a p o l e o n of N o t t i n g H i l l " fehlt. Wenn der neue D o n Q u i x o t e und sein Sancho Pansa später 54
ebda. 236. G. K. Chesterton, The Return of Don Quixote, London Chatto & Windus 1927. Deutsch: Don Quijotes Wiederkehr, Leipzig o. J., 285. 56 ebda. 274. 57 ebda. 291 f. 55
Das göttliche
Spiel
105
wieder zu den Frauen zurückkehren, die ihnen bestimmt sind, und Michael H e r n e in die Kirche als die einzige Heimstatt für eine Heiligkeit wie die seine eingeht, so kann das nicht den Eindruck verwischen, daß Chesterton in diesem Roman an der Kraft seiner Spielwelt zweifelt. Jedoch nur dort, wo der Mensch völlig an sein Spiel glaubt, gibt es ihm alles überwindende S t ä r k e ; deshalb verrät der Roman auch künstlerische Schwächen. In „The Flying I n n " 5 8 stemmt sich der irische Abenteurer Kapitän D a l r o y mit seiner kraftvollen Ursprünglichkeit, mit Rum und Gesang gegen eine Welt von Verirrungen,
gegen
Abstinenzler,
Vegetarier,
Sektenprediger,
Futuristen
Heuchler. E r siegt mit unsinnigen Scherzen und Streichen über Lord Ivywood,
den
Ubermenschen,
der
alle
diese
„orientalischen
und
Philipp
Genüsse"
nadi
England einführen will. Am Ende des Romans stellt sich heraus, daß D a l r o y mehr ist als ein bloßer Mensch. In einer visionären Schlacht zwischen Morgen- und Abendland wird er zum Mythus der Ursprünglichkeit des christlichen Westens; sein Gegenspieler enthüllt sich als Helfeshelfer Osman Paschas, der mythischen Verkörperung Asiens. Nicht zufällig jedoch ist D a l r o y Ire, denn
Chestertons
trunkene Spielfreude ist im Grunde heidnisch-magischen Ursprungs und findet im Christentum bloß ihre neue beglüdcende Rechtfertigung, wie wir das von der irisdien Religiosität her kennen. D e r heidnische Ursprung im christlichen G e w a n d zeigt sich vor allem in den beiden Romanen „Manalive" und „The Man who was Thursday". Mit „Manalive" — wofür „Menschenskind" eine nicht ungeschickte Übersetzung ist — hat Chesterton einen wahren Dämon des Spiels geschaffen. Wie bei Rumpelstilzchen kennt niemand seinen Namen. Immer wieder wird er gefragt, wer er sei: „Sie müssen sich doch irgendwie benennen." „Midi irgendwie benennen," donnerte der Verborgene und schüttelte den Daum so, d a ß alle seine zehntausend B l ä t t e r auf einmal zu sprcdien schienen: „Ich nenne midi R o l a n d Oliver Jesajah C h a r l e m a g n e A r t h u r H i l d e b r a n d H o m e r D a n t o n Michelangelo Shakespeare Brakespeare . . ." „ A b e r Menschenskind!" begann Inglewood verärgert. „Sie haben es getroffen!" brüllte es aus dem schaukelnden Baum, „das ist mein richtiger N a m e . " U n d er brach einen Zweig ab, und ein oder zwei Herbstblätter flatterten über den M o n d hinweg.5'
Diese A n t w o r t ist keine A n t w o r t ; Manalive bleibt ein rätselhaftes Wesen, das die Welt wieder einrenkt, indem es sie auf den K o p f stellt. Geheimnisvoll weht der Sturm die riesenhafte Gestalt mit dem seltsam unnatürlich kleinen K o p f und dem leuchtend blonden H a a r in die Pension „Haus Leuchtfeuer". 8 0 Auf dem K o p f e stehend
führt
sich Manalive
in die Gesellschaft
ein,
wie Auberon
Quin
in
„Napoleon of Notting H i l l " auf dem Kopfe stehend die Königswürde angenommen hat. Aller Unsinn, den Manalive treibt, besitzt einen dunklen S i n n :
„Es
5 8 G . K . Chesterton, T h e Flying Inn, London Methuen 1914. Deutsch: Das fliegende W i r t s h a u s , München 1 9 2 2 . 5 9 G. K . Chesterton, Manalive, L o n d o n Nelson 1 9 1 2 . Deutsch: Menschenskind, chen 1 9 2 6 , 1 2 3 f .
ebda. 2 0 .
Mün-
106
Die geistigen
Grundlagen
des Spiels
sieht so aus, als ob er nur einen Sdiritt von der gewöhnlichen Straße abzuweichen brauchte, um jede Minute in ein Wunderland zu gelangen".® 1 Unverständlich dunkel und dodi rätselhaft sinnvoll sind seine Worte. So spricht er beim Auspacken einer riesigen, mit sinnlosen Dingen gefüllten Reisetasche vor sich hin: Die lieben Leute sprechen vom unendlichen Weltall . . . von Unendlichkeit und Astronomie; nicht sicher, . . . ich glaube, die Sachen liegen zu dicht beisammen . . . eingepackt, für die Reise . . . die Sterne liegen auch zu dicht nebeneinander . . . die Sonne ist ein Stern, zu dicht, um überhaupt gesehen zu werden . . . zu viele Kieselsteine am Strand, sie müßten alle im Kreise gelegt werden; zu viele Grashalme, um sie betrachten zu können . . . es sind so viele Federn auf einem Vogel, daß das Gehirn es nicht faßt; warten, bis die große Tasdie ausgepackt ist . . . so kommen wir dann alle auf unsern richtigen Platz."
In solchen Augenblicken ist Manalive Gott selbst, der spielt u n d seine große Tasche auspackt. Alter heidnischer Gott ist er, wenn eine „Flamme heidnischen Goldes" 6 3 auf seinen H a a r e n liegt oder wenn er so im Garten steht: „Wie in Stein gehauen w a r er unbeweglich geblieben; der Gott des Gartens. Ein Sperling hatte sich auf eine seiner breiten Schultern gesetzt und war, nachdem er sein Federkleid in O r d n u n g gebracht hatte, weggeflogen." 64 Aber er ist ein eigenartiger Gott, denn er ist ein K i n d : „ U n b e w u ß t w a r er mit einem Riesenschritt von der Kindheit zum Mannesalter gelangt, und auf diese Weise hatte er die Krisenzeit der Jugend, in der die meisten von uns alt werden, übersprungen." 6 3 Seine U n heimlichkeit verdichtet sich immer mehr, sodaß ihn einzelne Pensionäre f ü r irrsinnig halten u n d einen A r z t herbeirufen. Manalive schießt auf diesen mit einem Revolver, von dem er behauptet, er streue nicht Tod, sondern Leben aus. 66 Der Arzt als Vertreter rationalster Wissenschaft klagt ihn an. Er nennt ihn einen der grausamsten und schrecklichsten Feinde der Menschheit, dessen Raffiniertheit und Erbarmungslosigkeit noch nie ihresgleichen gehabt hätten: Er hat schon viele Namen geführt, aber nicht einen, an dem nicht Verwünschungen haften. Dieser Mann . . . hat auf seinem Weg durch die Welt eine Spur von Blut und Tränen hinterlassen . . . Die Irrenanstalt, in die er eingesperrt wird, muß wie eine Festung mit dicken Mauern und Kanonen umgeben werden, sonst wird er wieder ausbrechen und von neuem Gemetzel und Entsetzen in die Welt bringen."
Freilich werden in der Folge alle konkreten Anklagen widerlegt: der Philosoph und absolute Lebensverneiner, dem er mit der Pistole in der H a n d versprochen hat, ihn von seinem Leiden am Leben endgültig zu erlösen, und den er so zwang, zwischen einer Lobpreisung des Lebens oder dem Tod zu wählen, ist ihm für diese T a t ewig dankbar, ebenso der idealistische Hilfsgeistliche, den er zu „praktischem Sozialismus", dh. zum Einbruch zwang, aber zu einem Einbruch in 91 62 63 64 65 66 67
ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.
44. 35. 60. 113 f. 37. 47. 88.
Das göttliche Spiel
107
Manalives Haus. D i e A n k l a g e wegen böswilligen Verlassens seiner G a t t i n fällt in sich zusammen, als sich herausstellt, d a ß Manalive v o n C r o y d o n über Dünkirchen, durch die russische Steppe, durch C h i n a und K a l i f o r n i e n um die ganze E r d e gewandert ist, um sein eigenes H a u s von der a n d e r n Seite her zu betreten, um über die Hecke springen, gelassen Tee trinken u n d sagen zu k ö n n e n : „Ach, was f ü r einen schönen Platz h a b t ihr hier", gerade so, als ob er ihn noch nie gesehen hätte. 6 8 Polygamie hat er nur mit seiner eigenen F r a u getrieben, die er als einsame Schneiderin, alleinstehende Stenotypistin, Seminaristin immer wieder e n t f ü h r t , wie er sie nun hier als G o u v e r n a n t e fortlocken will. Alle seine angeblichen Verbrechen sind nichts als Übermut, überschäumende Kraft, Ausgelassenheit u n d l ä r m e n d e Fröhlichkeit. Manalive ist die „unschuldige Seele, u n d d a r u m ist er so m e r k würdig", 0 9 er ist das Sternenkind, die eigene zurückgekehrte J u g e n d der Menschheit. 70 Er ist wie ein M a n n , der wie wahnsinnig in einer Spielhölle spielt und nachher entdeckt, d a ß er um H o s e n k n ö p f e spielt." 7 1 Geheimnisvoll, wie er gekommen ist, verschwindet er, nachdem er die B e w o h n e r der Pension glücklich gemacht h a t : Während der Sturm w i e mit Trompetenstößen den H i m m e l zerriß, w u r d e ein Fenster nach dem andern im Hause hell. Ehe die kleine Gesellschaft zwischen Lachen und Windstößen sich wieder ins H a u s zurückgetastet hatte, sah sie die große, affenartige Gestalt v o n Innozenz Smith auf dem Dach. Er w a r aus einem Mansardenfenstcr herausgeklettert, und nun brüllte er immer wieder: , H a u s Leuchtfeuer' und schwenkte dabei um seinen Kopf einen riesigen Holzscheit oder Klotz v o n dem Herdfeuer unten. V o n diesem brennenden Scheit strömte eine leuchtende rote Flamme und ein violetter Rauchstreifen in die lärmende Luft hinaus. Innozenz war so deutlich sichtbar, daß man ihn v o n drei Grafschaften aus hätte erblicken können; aber als sich der W i n d legte und die Gesellschaft auf dem G i p f e l ihrer Fröhlichkeit wieder nach Mary und Smith suchte, waren die beiden nicht zu finden.72
T r o t z aller rationalen E r k l ä r u n g seiner Streiche bleibt M a n a l i v e so unheimlich wie zuvor. Ist er „heilig, heilig, heilig", wie ihn Moses G o u l d nennt? 7 3 Ist er Mensch, D ä m o n oder Gott? Das Buch gibt keine A n t w o r t auf diese Frage. Doch hat sie Chesterton schon beantwortet, denn M a n a l i v e ist eine dämonischere F o r m von Auberon Quin, und der hat gesagt: „Wenn ich nun G o t t wäre, u n d w e n n ich die Welt aus Laune erschaffen hätte, wenn nun die Sterne, die f ü r dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben w ä r e n ? . . . N i m m an, ich sei G o t t u n d hätte dies alles geschaffen, u m d a r ü b e r zu lachen." 7 4 M a n a l i v e ist dieser G o t t des Gelächters über die Welt, eines Lachens d e r Freude. Manalive ist jedoch nicht das letzte W o r t Chestertons. D i e wirkliche Tiefe dieser Figur offenbart sich erst in seinem besten W e r k , in „The M a n w h o was 08 69 70 71 72 73 74
ebda. 242. ebda. 82. ebda. 83. ebda. 270. ebda. 278 f. ebda. 210. Der H e l d von N ö r t i n g H i l l 232.
108
Die geistigen
Thursday".
Grundlagen
Z u der G e s t a l t S o n n t a g s
des
Spiels
in diesem R o m a n
kennen
w i r nur
eine
ebenbürtige mythische V e r k ö r p e r u n g des Spiels, M ö r i k e s Sicheren M a n n . S o n n t a g u n d der Sichere M a n n sind ein W e s e n , das bei M ö r i k e das G e w a n d des M ä r c h e n s u n d der S a g e , bei C h e s t e r t o n ein modernes K o s t ü m angezogen h a t , D ä m o n o d e r G o t t des absolut sinnlosen und d a r u m sinnvollen Spiels. M ö r i k e s R i e s e b l e i b t ein N a t u r w e s e n , auch deshalb h a b e n w i r dieses D i c h t e r s Spiel dämonisch
genannt;
Chestertons Sonntag
göttliche
dagegen vertieft sich z u m christlichen G o t t ;
das
Spiel h a t M a n a l i v e s dämonisches G e l ä d i t e r der F r e u d e in sich a u f g e n o m m e n , a b e r es e n t q u i l l t einem noch tieferen B o r n : dem L e i d e n G o t t e s a n dem u n d für den Menschen. „ T h e M a n w h o w a s T h u r s d a y " , „ D e r M a n n , der D o n n e r s t a g w a r " , verblüfft schon durch seinen T i t e l , der E r i n n e r u n g e n an den F r e i t a g des „ R o b i n s o n C r u s o e " weckt und bei den Zeitgenossen P a r o d i e n w i e „ T h e M a n w h o w a s t h i r s t y " A n s p i e l u n g auf C h e s t e r t o n s T r i n k f r e u d e ) , „ D i e F r a u , die h a l b neun U h r
(als
war".
„ D i e K u h , die m o r g e n a b e n d w a r " usw. auslöste. 7 5 M i t R e d i t t r ä g t der R o m a n den Untertitel
„Ein Nachtmahr",
denn m i t S o n n t a g
verglichen
ist e t w a
Manalive
h a r m l o s . S o n n t a g verbreitet bleibendes E n t s e t z e n um sich. E r ist der P r ä s i d e n t des Zentralen
Anarchistenrates,
„der mächtigste
Mann
von
ganz
Europa".
Seinen
w a h r e n N a m e n k e n n t n i e m a n d ; S o n n t a g h e i ß t er nur, weil sich die sieben M i t glieder des R a t s nach den sieben W o c h e n t a g e n n e n n e n ; manche seiner B e w u n d e r e r sprechen v o m B l u t s o n n t a g . D e r R o m a n ist dem T i t e l g e m ä ß zuerst d i e Geschidite D o n n e r s t a g s , des Dichters G a b r i e l S y m e , der v o n einem massiv gebauten Menschen in einem düstern R a u m der L o n d o n e r K r i m i n a l p o l i z e i m i t den seltsamen W o r t e n „ I c h verurteile sie hiermit z u m T o d e "
als D e t e k t i v
für die
Anti-Anarchisten-
A b t e i l u n g a n g e w o r b e n w i r d . 7 8 S y m e gelingt es, als D o n n e r s t a g , dh. als V e r t r e t e r der L o n d o n e r Filiale, in den Z e n t r a l e n A n a r c h i s t e n r a t g e w ä h l t zu w e r d e n , indem er in der W a h l v e r s a m m l u n g den eigentlichen K a n d i d a t e n zum h u m a n e n S o n n t a g s schulprediger
stempelt und
ihn m i t
der H ä r t e
und Erbarmungslosigkeit
eines
anarchistischen Scharfrichters aussticht. A m Essen des Z e n t r a l r a t s lernt e r S o n n t a g k e n n e n , eine K o l o s s a l s t a t u e groß
w i e die M e m n o n m a s k e
von
absoluten
im Britischen
Proportionen, Museum,
entsetzlich
traumhaft
die der Schrecken
seiner
J u g e n d w a r . 7 7 I n einer F ü l l e v o n A b e n t e u e r n enthüllen sidi — das ist der I n h a l t des R o m a n s — die sechs W o c h e n t a g e v o r e i n a n d e r , indem sie sich durch L o n d o n und F r a n k r e i c h jagen und gegenseitig b e k ä m p f e n . E s stellt sich h e r a u s , d a ß sie s a m t und sonders v e r k l e i d e t e B ü r g e r und D e t e k t i v e der K r i m i n a l p o l i z e i sind. S o w ü r d e sich alles i n G e l ä d i t e r und W o h l b e h a g e n
auflösen, w e n n S o n n t a g
nicht
w ä r e : „ D i e b l o ß e N e n n u n g dieses N a m e n s machte S y m e frieren u n d v e r s t u m m e n . U n d sein Lachen erstarb ihm in seinem H e r z e n , b e v o r es noch a u f seinen L i p p e n e r s t a r r t e . " 1 8 D i e W o c h e n t a g e w o l l e n den K a m p f m i t S o n n t a g a u f n e h m e n nach d e m vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 165. G. K. Chesterton, The Man who was Thursday, Bristol Arrowsmith-London Simpkin & Marshall 1908. Deutsch: Der Mann der Donnerstag war, München 1924, 74. 7 7 ebda. 83 ff. 7 8 ebda. 129; vgl. auch 159, 192 ff., 237 ff. 75 76
Das göttliche
Spiel
109
wunderbaren W o r t Symes: „Kein Mensch soll in der Welt das belassen, was er fürchtet." 7 9 Sie glauben ihn zu überwinden, wenn sie ihm die Rumpelstilzchenfrage stellen, der Name soll die magische Gewalt Sonntags brechen.
Sonntag
antwortet im Tone biblischer Verkündigung: „Ich aber sage euch, eher findet ihr die Wahrheit über den geringsten Baum und über die höchste Wolke, als daß ihr die Wahrheit über mich findet. Ihr werdet das Meer ergründen — und ich werde euch immer noch ein Rätsel sein." 8 0 N u r eines verrät er: er hat sie alle als Polizisten angeworben. Damit bricht wieder die Spielfreude durch. Sonntag flieht, und es beginnt die großartig unsinnige Jagd durch London. Zuerst fährt er in einer Droschke, dann reißt er die Peitsche des Kutschers an sich und lenkt selbst. E r schwingt sich auf ein dahinrasendes Feuerwehrauto, geht mit einem Elephanten aus dem Zoo durch und verbreitet Terror in den Straßen, bis er schließlich den Fesselballon einer Ausstellung löst und mit ihm in den Himmel aufsteigt. W ä h rend der ganzen J a g d schneidet er den in Droschken nachhetzenden Detektiven Grimassen oder zeigt ihnen seine „unmeßbare, unübersehbare Hinteransicht". E r bombardiert sie mit Papierknäueln voll unsinniger Botschaften. Die Jagd endet außerhalb Londons auf den grünen Hügeln von Surrey, wo die sechs müden und verschmutzten Wochentage das Rätsel des in den Himmel gestiegenen Sonntags zu lösen versuchen. 81 D a hebt einer von ihnen wie im Traum zu singen an: „Pan, Pan war ein G o t t und ein T i e r " ; 8 2 „die Natur, zu einem mysteriösen Jokus aufgelegt", hat schon vorher ein zweiter empfunden, 8 3 ein „ins Riesenhafte übersetztes B a b y " , hat ihn ein dritter genannt. „Pan ist alles", und mit gesenktem Blick fügt einer hinzu: „Sie dürfen nicht vergessen, daß man auch panisch sagt." 8 4 Wie wenn er auf dieses Stichwort gewartet hätte, landet der Ballon. Die Pseudoanarchisten werden in sechs Equipagen mit prunkvollem Zeremoniell und blitzenden Degen zu einem langen niedrigen Haus geleitet, das jeden „auf irgendeine unsagbare Weise an seine Knabenzeit erinnert", an eine Zeit, „aus der er sich nicht einmal seiner Mutter erinnern konnte." 8 5 Im Auftrage des „Meisters" werden sie in Gewänder für einen Kostümball gekleidet, die mit Symbolen bestickt sind. Diese entsprechen dem Geschehen der biblischen Schöpfungsgeschichte an ihrem Wochentag und — wie sich jetzt zeigt — ihrem ureigensten Wesen. Am Abend spielt sich im Garten ein riesiger Karneval ab, indem zuerst alle Gegenstände, die in der abenteuerlichen Erzählung vorgekommen sind, miteinander tanzen. Daraus entwickelt sich eine ungeheure Menschheitsmaskerade zu triumphierender Marschmusik: „Und jedes tanzende Paar schien ein Roman für sich. O b nun eine Nymphe mit einem Briefkasten oder ein Bauernmädchen mit dem Mond tanzte, es war immer irgendwie so absurd wie ,Alice im Wunderland' und dodi so tiefsinnig und
79 80 81 82 83 81 85
ebda. 130. ebda. 2 4 2 f. ebda. 2 5 6 ff. ebda. 2 6 5 . ebda. 2 5 1 . ebda. 2 6 8 . ebda. 2 7 2 .
110
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
zärtlich wie eine Liebesgesdiichte."88 Sonntag tritt auf: „Er war ganz und gar in pures, gewaltiges Weiß gekleidet, und das Haar züngelte wie eine silberne Flamme ihm aus der Stirn." 87 Nochmals erhebt sidi die Frage: „Und wer und was bist du?" Sonntag antwortet voll unendlicher Ruhe: „Ich bin der Sabbat. Ich bin der Gottesfriede.'"88 D a erschallen die Klagen der Wochentage: „Wenn Sie der Mann in dem dunklen Zimmer waren, warum sind Sie dann zugleich Sonntag — das Ärgernis des Sonnenlichts? Wenn Sie von Anbeginn unser Vater und unser Freund waren, warum waren Sie zugleich unser größter Feind? Wir weinten, wir flohen vor Schrecken; Sdiwerter durchbohrten unsere Seelen — und Sie sind der Friede Gottes! GOTTES Zorn kann ich I H M vergeben, obwohl ganze Völker durch die Schale des Zorns ertranken. Aber GOTTES Frieden vergeb ich I H M nie." 89 Schließlich ersdieint der letzte Ankläger: „Das ersterbende Feuer in der großen Pechpfanne lohte ein letztes Mal auf — wie glühend Gold — und warf einen Schein übers dunkle Gras hin. Und auf diesem feurigen Band schritten tiefschwarz die Beine einer schwarzgekleideten Gestalt her."90 Dieser absolut Schwarze ist der wahre Donnertag, der echte Anarchist, dessen Wahl Syme verhindert hatte, um selbst Donnerstag zu werden. Er ist der wirkliche Zerstörer, und aus diesem Unbegreiflichen donnert allgewaltiger letzter Donner hervor: ,Ihr h a b t niemals gehaßt, weil ihr nie geliebt habt! Ich weiß, was ihr alle zusammen seid, vom ersten bis zum letzten — ihr seid Leute, die die Gewalt haben! Ihr seid die Polizei — die großen, fetten, lächelnden Männer in Blau und mit U n i f o r m k n ö p f e n ! Ihr seid das Gesetz — und ihr w a r t noch nie gebrochen! Aber ist w o eine freie, lebende Seele, die's nicht gelüsten sollte, euch zu brechen, nur weil ihr niemals gebrochen wart? Wir Revolutionäre quatschen allen Unsinn zusammen — wie d a ß Regierung ein Verbrechen sei, ein solches und ein solches . . . Einfach blödsinnig! D a s einzige Verbrechen der Regierung ist, daß sie das Höchste ist. Ich fluche euch nicht (obwohl ich möchte), daß ihr gütig seid. Ich fluche euch nur d a r u m , d a ß ihr sicher seid! Ihr sitzt in euern steinernen Sesseln und seid nie aus ihnen aufgestanden. Ihr seid die sieben Engel des Himmels — und ihr habt noch keine unruhige Minute gehabt. O h — oh, ich könnte euch alles und jedes verzeihen, ihr, die ihr die ganze Menschheit beherrscht, wenn ich mit einmal gewiß wüßte, d a ß ihr eine einzige Stunde einmal so in Seelenängsten und Todeskämpfen gerungen h a b t wie ich — — ' Syme sprang auf. Zitternd von Kopf bis zu den Füßen — ,Ich sehe ein jedes Ding, das ist. Warum besiegt ein Ding das andere auf der Erde? W a r u m k ä m p f t jedes kleine Ding in der Welt gegen die Welt selber? Warum streitet jede Fliege gegen das ganze Universum? Aus demselben G r u n d , aus dem ich in dem schrecklichen R a t der Tage allein stand! So d a ß jedes Ding, das dem Gesetz gehorcht, die Gloriole und die Isolation eines Anarchisten verdient. So d a ß jedermann, der f ü r O r d n u n g ficht, ein so guter und braver Mann wie jeder Dynamitheld genannt zu werden verdient. Also d a ß die Satanslüge in den Schlund dieses Gotteslästerers zurückfahren muß, also d a ß wir durch Tränen mannigfach und durch Torturen das Recht uns erworben haben, zu diesem Mann zu sagen ,Du lügst!' . . . Es ist keine Angst, und es ist kein Tod, womit wir nicht gerungen hätten, also d a ß 80 87 88 89 90
ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.
281. 283. 284. 285.
Das göttliche
111
Spiel
wir gegen diesen K l ä g e r die W i d e r k l a g e erheben k ö n n e n : , W i r haben so sehr gelitten wie d u ! ' E s ist nicht w a h r , d a ß wir niemals gebrochen w o r d e n sind. W i r sind durchs R a d gebrochen worden. E s ist nidit w a h r , d a ß w i r nie v o n diesen Sesseln heruntergestiegen sind. W i r sind bis v o r die T o r e d e r H ö l l e hinabgestiegen. W i r beklagten und bejammerten unvergeßliches Elend — in demselben Augenblicke noch, d a dieser U n v e r s c h ä m t e a u f t r a t , uns um unseres Glückes willen zu verklagen. Ich weise den Schimpf zurück: w i r w a r e n nicht glücklich! Ich stehe ein für jeden der großen H ü t e r des Gesetzes, die d a verklagt sind. U n d nun — — ' U n d er richtete seine Augen auf das große Gesicht Sonntags, das seltsam lächelte. , H a s t du — ' sdirie er mit schrecklicher Stimme, ,hast du jemals gelitten?' U n d wie er es anstarrte, wudis das Gesidit zu einer scheußlichen G r ö ß e an und w u r d e immer größer und größer — größer sogar als die kolossale M e m m o n m a s k e , die ihn als Kind aufschreien machte. U n d w u r d e schließlich so g r o ß , d a ß es den ganzen H i m m e l füllte und alles unter Dunkelheit setzte. U n d g e r a d e eh' die Dunkelheit ihm die Augen und alles Gehirn aushackte, hörte er eine S t i m m e — fernher — und die sang einen Gemeinplatz, den er irgendwo schon g e h ö r t h a t t e : . V e r m a g s t du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?'* 1
Bis zu Sonntags Antwort auf die Frage nach seinem N a m e n vor der
Jagd
durch London sieht der Roman wie eine harmlos-heitere Kriminalgeschichte aus. Sonntag ist ein gewaltiger Verbrecher, den sechs Detektive unter allerlei M i ß verständnissen verfolgen. D i e feierliche Antwort führt in eine unerwartete Tiefe. Scheinbar wird diese durch die folgende J a g d durch London wieder zunichte gemacht, wobei freilich der unwahrscheinliche Ballonaufstieg eine noch unverständliche Symbolik andeutet. Erst mit dem Gesprädi der Verfolger, in dem diese Sonntag für eine Maske Pans halten, beginnt sich das D u n k e l zu lichten. D i e sieben Wochentage erleben in einem unsinnigen Karneval die ganze
trunkene
Spielfreude Sonntags noch einmal. Es tönt dann wie H o h n , wenn der Meister verkündet, er sei der Gottesfriede. Deshalb treten die Verfolger als die sieben Erzengel stellvertretend für die ganze Menschheit auf. Sie klagen Sonntag wegen seiner unbegreiflichen Ruhe gegenüber den entsetzlichen Leiden des Menschen an, sie werfen ihm vor, mit ihrer N o t und ihrem Leid zu spielen. D i e heftigste A n klage erhebt jedoch der Schwarze, der gefallene Engel. E r wendet sich nicht nur gegen G o t t , sondern auch gegen die Selbstsicherheit der sieben Wochentage. Sein H a ß ist der H a ß enttäuschter Liebe, die Verzweiflung dessen, der an eine absolute Gerechtigkeit glaubt und erleben muß, d a ß es immer ein Unten und ein Oben gibt. Doch Donnerstag nimmt die Anklage dieses wahren Revolutionärs auf und steigert sie noch im Namen all derer, die scheinbar oben sind, die Gesetz und Ordnung bewahren wollen und um des Gesetzes willen noch mehr leiden, noch unglücklicher sind als der Revolutionär. U n d weil sidi so enthüllt,
daß alle
leiden und alle unglücklich sind, erhebt Syme die letzte Frage und K l a g e : „Hast du jemals gelitten?" Die Spielfreude des Kind-Gottes hat mit der J a g d durch London und dem unsinnigen Karneval
absichtlich die A n t w o r t
Sonntags
auf
Symes erste Frage: „Wer bist du?" unterbrochen, um noch einmal das unbegreifliche und unlösbare Rätsel seiner Gestalt in ihrer ganzen Unsinnigkeit vor Augen zu führen. D e n n Sonntag ist Pan und der Sichere Mann. D e r Mensch leidet unter 61
ebda. 2 8 6 ff.
112
Die geistigen
Grundlagen
des
Spiels
d e r trunkenen Posse dieses heidnischen G o t t e s , der ihn nur als Spielzeug b e n u t z t u n d als G o t t e s f r i e d e alle menschlichen L e i d e n scheinbar v e r h ö h n t . A u b e r o n Q u i n s „ N i m m an, idi sei G o t t und h ä t t e dies alles geschaffen, um d a r ü b e r zu l a c h e n " ' 2 w i r d z u r F r a g e nach den letzten D i n g e n . S o n n t a g ist der G o t t , der panischen Schrecken sät, um über den Erschreckten zu lachen. S y m e s l e t z t e F r a g e ist
die
A n k l a g e gegen das Spiel, das P a n m i t d e m M e n s d i e n t r e i b t . S y m e f r a g t , ob das L e b e n des Menschen sinnlos, ob dieser ein S p i e l b a l l des Schicksals sei. D a
ver-
w a n d e l t sich P a n - S o n n t a g in den christlichen G o t t , denn seine A n t w o r t ist die A n t w o r t des C h r i s t e n t u m s . I n ihr w i r d a l l e r heidnisdie S p u k z w a r n i d i t sinnvoll, a b e r erträglich. D e r H e i d e C h e s t e r t o n —
denn seine m a g i s d i - d ä m o n i s d i e n
Züge
sind heidnisches E r b e — k a n n das Spiel, das G o t t m i t der W e l t treibt, ertragen, weil er als C h r i s t w e i ß : auch G o t t h a t gelitten, nicht n u r d e r Mensch, ja, G o t t hat
gelitten, w i e kein
Mensch
je leiden
kann,
und
spielt t r o t z d e m
mit
dem
Menschen. D a s ist der S i n n der letzten biblischen W o r t e : „ V e r m a g s t du aus dem K e l c h zu t r i n k e n , aus dem ich t r i n k e ? " D a s G e h e i m n i s des Leidens G o t t e s
in
C h r i s t o ist der U r g r u n d des Spiels. W e i l G o t t noch m e h r gelitten hat als der Mensch, m u ß der Mensch sein Spiel geduldig erleiden. W e i l er t r o t z des Leidens spielt, d a r f auch der Mensch spielen, S p i e l e des U n s i n n s in einer W e l t voll U n s i n n . C h e s t e r t o n n a n n t e sich, als er diesen R o m a n schrieb, einen O p t i m i s t e n , weil er „so schrecklich n a h e d a r a n w a r , ein Pessimist zu s e i n " , 9 3 weil er v e r z w e i f e l t darum r a n g , einen S i n n h i n t e r allem irdischen U n s i n n zu
finden.
A u f diesem
dunklen
H i n t e r g r u n d unausgesprochenen Leidens w i r k t die letzte A n t w o r t S o n n t a g s u m s o heiligender. Sie h a t nicht n u r auf C h e s t e r t o n selbst, sondern a u d i a u f viele seiner L e s e r g e w i r k t , h a t doch ein P s y c h o a n a l i t i k e r b e z e u g t : " I c h k e n n e viele Menschen, die n a h e d a r a n w a r e n , verrückt zu w e r d e n , d i e a b e r gerettet w u r d e n , weil sie wirklich den , M a n n der D o n n e r t a g w a r ' v e r s t a n d e n h a t t e n . " 9 4 Aus dem Leiden erst, das nur ein winziges Stückchen v o m L e i d e n G o t t e s ist, wächst die tiefste Kindlichkeit
in
der Ü b e r z e u g u n g :
„Die
Welt
ist d i e beste
aller
unmöglichen
Welten."05 „ A l l e W o r t e und alle Spielereien in einem L e h m k l u m p e n sind w u n d e r v o l l , und es ist nur gerecht zu sagen, d a ß des P h i l o s o p h e n W o r t e und Spielereien
ebenso
w u n d e r v o l l s i n d . " 9 6 D i e s e r S a t z u m f a ß t die g a n z e W e l t G i l b e r t K e i t h Chestertons, dessen ä u ß e r e Erscheinung sein F r e u n d H i l a i r e B e l l o c einmal m i t den
Versen
paraphrasierte: He held to the Traditional plan And fortified his own belief In Natural Law, the Rights of Man With Paradox, and Beer, and Beef." Der Held von Notting Hill 232. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 105. 9 4 ebda. 108. 9 5 G. K. Chesterton, Charles Dickens, London Methuen 1906. Deutsch: Wien Phaidon o. J., 424. 9 6 Verteidigung 153. 9 7 John Guest im Vorwort zu Essays, 15. 92
93
B. Der Traum von der Befreiung des Menschen im Spiel 1. D A S C H A O S A L S H Ö C H S T E SCHÖNHEIT UND ORDNUNG a) Friedrich Schlegels Aufsatz „Über die und die romantische Ironie
Unverständlichkeit"
Selbst den stillsten Menschen, der am ruhigsten dahinlebt, wird manchmal ein p l ö t z licher H u n g e r nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Daseins anwandeln; er w i r d sich unvermittelt fragen, w i e es wäre, w e n n die T e e k a n n e plötzlich Salzwasser oder H o n i g enthielte, w e n n die U h r auf alle Tagesstunden zugleich zeigte, w e n n die Kerze grün statt rot zu flammen begänne, und die T ü r e auf einen See oder ein Kartoffelfeld, statt auf eine Straße sich öffnete. W e r von einer solchen namenlosen Anarchie sich a n g e w e h t fühlt, den hat zeitweilig der Geist der Posse erfaßt. 1
Das Lebensgefühl, das hier Chesterton zur Verteidigung der Posse heraufbeschwört, gehört ein wenig zu aller Unsinnspoesie. Bei Mörike bricht die namenlose Anarchie an der genießerischen Schilderung einer erträumten Aufführung von Tiecks „Verkehrter Welt" im „Maler N o h e n " hervor, wo plötzlich zum Tumult auf der Bühne und im skandalisierten Zuschauerraum ein Präzeptor fürchterlichen Unsinn schwatzt. Mörike dichtet zur zeitweise dreifachen Verschachtelung von Bühnen im Theaterstück noch die vierte Bühne des Präzeptors hinzu, von dem man nicht weiß, ob sein Wahnsinn echt oder gespielt ist, sodaß sich die ganze Welt um den Erzähler des Erlebnisses zu drehen beginnt. Der Dichter macht Tiecks Chaos noch chaotischer, bis man schließlich erfährt, daß der Präzeptor eine Rolle Larkens' ist, die dieser in abenteuerlicher Spiellaune als Zuschauer dem Stück beifügt. 2 Dieses Geschehen, das nach dem Tode des Schauspielers erzählt wird, wirft ein letztes Licht auf dessen Wesen: Larkens verkörpert im Nohen die namenlose Anarchie. Er ist kein Dämon wie Lörmer oder die Zigeunerin Elisabeth, sondern ganz Mensch gewordener, undämonischer Wispel. Mörike läßt jedoch Larkens an sich selbst und seiner Anarchie zugrunde gehen, der Versuch der Rettung in die Maske des Tischlers, die Einordung in die Weh der Gesetze und der Ordnung scheitert. Damit richtet Mörike die „Verkehrte Weh", die er selbst doch glühend liebt und auf Bruder Adolfs Puppentheater aufführen wollte. 3 Der Zauber der chaotischen Weh von Tiecks Komödie packt ihn zwar, aber sein endgültiges Urteil ist vernichtend, denn er weiß, daß sich hinter der witzigen 1 2 3
8
G. K. Chesterton, Verteidigung 73. W e r k e II 351 ff. ebda. A n m . 495.
Liede, Dichtung
Die geistigen Grundlagen des Spiels
114
Fassade ein Abgrund auftut, der dem Diditer der Komödie selbst verborgen blieb. Mörikes Spiel ist nicht das romantische der absoluten Anardiie, sondern das einer ungleich tieferen und dodi audi unheimlicheren Seele. Harmloser ist freilich das frühromantische Spiel an sich nicht, aber seine Dichter sind ahnungsloser als Mörike. Hält man dessen Spiel neben Friedrich Schlegels Aufsatz „Über die Unverständlichkeit", so erstaunt man über die Oberflächlichkeit von Schlegels Theorie. Mit einem riesigen Optimismus, dessen sich ein Mensch der Aufklärung nidit zu schämen brauchte, spricht Schlegel über Dinge, die einmal die Kunst in ihren Fundamenten erschüttern sollten. Schlegel und Tiedc sitzen vor einem Faß Dynamit und basteln sidi mit einzelnen Prisen des Pulvers Knallfrösche, um damit die Philister zu schrecken. Manchen Zeitgenossen und Nachfahren sind freilich schon diese Knallfrösdie als Bomben erschienen, und sie sind darüber mehr erschrocken als über Mörikes scheinbar harmlose Wispelfigur. Immerhin war das Basteln von Knallfröschen eine gute Vorübung für die Herstellung jener Bomben, mit denen im zwanzigsten Jahrhundert der Surrealismus eine ganze Literaturtradition in die Luft sprengen wollte. Chaos als höchste Schönheit und Ordnung ist das Weltgefühl, aus dem die ersten Werke romantischer Unsinnspoesie herauswachsen. Das Chaos wird als Urgrund aller Dinge gepriesen und soll durch künstliche Zerstörung wiederhergestellt werden, denn nur im Spiel des Chaos ist der Mensch wirklich frei. Am greifbarsten ist dieses Weltgefühl in den Theorien des jungen Friedrich Schlegel, doch atmet auch die Auffassung des Märchens bei Novalis denselben Geist. Das Märchen ist für diesen „echte Naturanarchie", 4 ein „Traumbild, ohne Zusammenhang" 5 : In einem echten Märchen m u ß alles w u n d e r b a r , geheimnisvoll und unzusammenhängend sein; alles belebt. Jedes auf eine a n d r e A r t . Die ganze N a t u r m u ß auf eine wunderliche A r t mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein; die Zeit der allgemeinen Anardiie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der N a t u r z u s t a n d der N a t u r , die Zeit v o r der W e l t . Diese Zeit vor der W e l t liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der W e l t , wie der N a t u r z u s t a n d ein sonderbares Bild des ewigen Reiches ist. Die W e l t des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte W e l t der W e l t der W a h r h e i t und eben d a r u m ihr so durchaus ähnlich wie das C h a o s der vollendeten Schöpfung. — In der künftigen W e l t ist alles wie in der ehemaligen W e l t und doch alles g a n z anders. Die künftige W e l t ist das vernünftige C h a o s ; das Chaos, das sidi selbst durchdrang, in sich und außer sich ist . . . (Mit der Zeit m u ß die Geschichte Märchen w e r d e n ; sie w i r d wieder wie sie anfing.) 1
Bei Friedrich Schlegel ist das, wovon Novalis in diesem Zitat träumt, Programm, die Naturanardiie des Märchens ist die Naturanarchie der Welt überhaupt: „Die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos", 7 allerdings nur jenes Chaos', aus dem „eine Welt entspringen kann". 8 Dieses ist 4
N o v a l i s Schriften ed. Samuel und Kludchohn I I I 1 6 7 N r . 6 0 0 .
5
ebda. I I I 2 5 3 N r . 9 8 7 .
ebda. I I I 9 7 N r . 2 3 8 . Gespräch über die Poesie, Friedrich Schlegel, Prosaische Jugendschriften hg. v . J . Minor, 2. ( T i t e l - ) A u f l a g e , W i e n 1906, II 3 5 8 . 8
7
8
Ideen N r . 71, ebda. I I 2 9 7 .
Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
115
gleichsam ein Jenseits zur systematischen und geordneten Welt: "Zur Vielseitigkeit gehört nicht allein ein umfassendes System, sondern auch Sinn für das Chaos außerhalb desselben, wie zur Menschheit der Sinn für ein Jenseits der Menschheit." 8 Im Menschen selbst ist das höchste Chaos das der Religion, das „lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen", welches wir Enthusiasmus nennen. 10 Von diesem Jenseits aus sind alle Wirklichkeiten nur Spiele, heilige Spiele sind die der Kunst, denn „alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk"." Wie Schiller weiß Schlegel, daß das höchste Spiel unerreichbares Ideal ist, aber er zieht im Gegensatz zu Schiller „praktische" Folgerungen für die Poesie. In knappster Formulierung heißt sein Postulat: „Wir fordern, daß die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt sey". 12 Das heißt: der Geist der namenlosen Anarchie, der hinter allen Dingen steckt, soll auch auf die Darstellung der sichtbaren Dinge übergehen, die Wirrnis des Chaos muß Dichtung werden. Die Gegenstände sollen nur noch Spielmarken des großen heiligen Spiels sein, sie müssen unwirklich gemacht, ihre Gegenständlichkeit muß aufgelöst werden, damit das lichte Chaos der göttlichen Gedanken und Gefühle durchbrechen kann. Damit lenkt Schlegel eigentlich in die Abstraktion ein, wie sie sich in den Theorien von Novalis findet. Aber dieser letzte Hintergrund klingt bei ihm und seinem Schüler Tieck doch nur leise nach und wird von der Vehemenz der Zerstörung übertönt, die sich aus der Forderung ergibt, Leben und Welt als Spiel darzustellen. Die magische oder mystische Abstraktion ist zwar Rechtfertigung der Zerstörung, aber nicht tragendes Fundament. Die Forderung nach künstlicher Verwirrung macht sich selbständig und befriedigt sich in sich selbst. Ob Schlegel das so gewollt hat und die Abstraktion bloß Vorwand war, läßt sich nicht entscheiden. Doch stehen einer Fülle von Aussagen über die „Verspielung" der Welt nur wenige über den magischen oder mystischen Hintergrund gegenüber. „Ich gebrauche also mein unbezweifelbares Verwirrungsrecht.. heißt es programmatisch am Anfang der „Lucinde", und: „Für mich und für diese Schrift, für meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in sich, ist aber kein Zweck zweckmässiger als der, daß ich gleich anfangs das, was wir Ordnung nennen, vernichte,, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die Tat behaupte". Der Roman will „das schönste Chaos von erhabenen Harmonien und interessanten Genüssen nachbilden und ergänzen". 13 Für viele moderne Dichter ist die Welt auseinandergefallen, Schlegel muß sie erst durch das Spiel zerstören. Das Recht auf Verwirrung ist der Grundton des Aufsatzes „Uber die Un9 10 11
Ideen N r . 55, ebda. 2 9 5 . Ideen N r . 55, ebda. 2 9 1 . G e s p r ä d i über die Poesie, ebda. 3 6 4 .
ebda. I I 3 6 4 . Friedrich Schlegel, Lucinde, Deutsche L i t e r a t u r . . . in Entwicklungsreihen, I V 157. 12
13
Romantik
116
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Verständlichkeit" von 1800, 1 4 der witzigsten Zusammenfassung seiner Theorie der Verwirrung. Diese kann auch noch moderne Herausgeber so durcheinanderbringen, daß sie sie in der Sammlung „Deutsche Literatur . . . in Entwicklungsreihen" in den Band „Satiren und Parodien" einordnen, 15 wo sie trotz allen satirischen und polemischen Ausfällen sicher nicht hingehört; denn sie ist selbst noch darin Programmschrift, daß sie die eigenen Theorien ironisiert. Äußerlich setzt sich der Aufsatz mit den Klagen von Lesern und Rezensenten auseinander, die Fragmente und das „Athenäum" überhaupt seien unverständlich, und er endet in einem Preis der Unverständlichkeit. Dazwischen aber zeigt Friedrich Schlegel die Waffen, welche die Wirrnis des Chaos hervorrufen sollen: Wortspiel, Paradox und Ironie. Das Wortspiel will „zeigen, daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden". Schlegel will darauf aufmerksam machen, daß es „unter den philosophischen Worten, die oft . . . wie eine Schaar zu früh entsprungener Geister alles verwirren und die unsichtbare Gewalt des Weltgeistes auch an dem ausüben, der sie nicht anerkennen will, geheime Ordensverbindungen geben muß." 1 8 Das Paradox, die zweite Waffe, reißt die Wahrheiten aus der gewohnten Ordnung heraus und macht sie neu: „Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial und eben darum ist nichts nothwendiger als sie immer neu, und womöglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können." 1 7 Das beste .ist, bei solchen Wahrheiten „es immer ärger zu machen; wenn das Ärgernis die größte Höhe erreicht hat, so reißt es und verschwindet, und kann das Verstehen dann sogleich seinen Anfang nehmen. Noch sind wir nicht weit genug mit dem Anstoßgeben gekommen: aber was nicht ist kann noch werden." 1 8 Die dritte Waffe schließlich ist die Ironie. In einem tollen Gemisch von Seitenhieben auf die Menge großer und kleiner Ironien, die das „Athenäum" hervorgerufen hat, und ernster Gedanken, die aber sofort von Ironie auf die Ironie aufgehoben werden, so daß am Ende alles verschlungen wird, gibt Friedrich Schlegel eine „Übersicht vom ganzen System der Ironie", die wir zitieren müssen, um unsere Folgerungen plausibel zu machen: Die erste und vornehmste v o n allen ist die grobe I r o n i e ; findet sich am meisten in der wirklichen N a t u r der Dinge und ist einer ihrer allgemein verbreiteten Stoffe; in der Geschichte der Menschheit ist sie recht eigentlich zu Hause. D a n n k o m m t die feine oder die delikate I r o n i e ; dann die e x t r a f e i n e ; in dieser Manier arbeitet S k a r a m u z , wenn er sich freundlich und ernsthaft mit jemand zu besprechen scheint, indem er nur den Augenblick e r w a r t e t , w o er w i r d mit einer guten A r t einen T r i t t in den H i n t e r n geben können. Diese Sorte w i r d auch wohl bey Dichtern gefunden, 14
Jugendschriften I I 3 8 6 ff. Ü b e r ein mögliches Vorbild in Heinses a n o n y m e r „ T h e o r i e
des P a r a d o x e n " nach Abbé Morellets „Théorie du p a r a d o x e " vgl. Georg Stefansky, T h e o rie des P a r a d o x e n , Euphorion 2 5 ( 1 9 2 4 ) 3 7 9 ff., bes. 3 8 6 ff. 1 5 Deutsche L i t e r a t u r in Entwicklungsreihen, R o m a n t i k I X 1 6 6 ff. 1 6 Jugendschriften I I 3 8 7 . 1 7 ebda. 3 8 9 . 1 8 ebda. 3 9 0 .
Das Chaos als höchste Schönheit und
117
Ordnung
wie ebenfalls die redliche Ironie, welche am reinsten und ursprünglichsten in alten Garten angebracht ist, wo wunderbar liebliche Grotten den gefühlvollen Freund der N a t u r in ihren kühlen Schoos locken, um ihn dann von allen Seiten mit Wasser reichlich zu bespritzen und ihm so die Zartheit zu vertreiben. Ferner die dramatische Ironie, wenn der Dichter drey Akte geschrieben hat, dann wider Vermuthen ein andrer Mensch wird, und nun die beiden letzten Akte schreiben muß. Die doppelte Ironie, wenn zwey Linien von Ironie parallel neben einander laufen ohne sich zu stören, eine fürs Parterre die andre für die Logen, wobey noch kleine Funken in die Coulissen fahren können. Endlich die Ironie der Ironie. Im allgemeinen ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man sie eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird. Was wir aber hier zunächst unter Ironie verstanden wissen wollen, das entsteht auf mehr als einem Wege. Wenn man ohne Ironie von der Ironie redt, wie es so eben der Fall w a r ; wenn man mit Ironie von einer Ironie redet, ohne zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu seyn scheint; wenn die Ironie Manier wird und so den Dichter gleichsam wieder ironirt; wenn man Ironie zu einem überflüssigen Taschenbuche versprochen hat, ohne seinen Vorrath vorher zu überschlagen und nun wider Willen Ironie machen muß, wie ein Schauspielkünstler der Leibschmerzen hat; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt. Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können? das einzige wäre, wenn sich eine Ironie fände, welche die Eigenschaft hätte, alle jene großen und kleinen Ironien zu verschlucken und zu verschlingen, daß nichts mehr davon zu sehen wäre, und ich muß gestehen, daß ich eben dazu in der meinigen eine merkliche Disposition fühle. Aber auch das würde nur auf eine kurze Zeit helfen können. Ich fürchte, wenn ich anders, was das Schicksal in Winken zu sagen scheint, richtig verstehe, es würde bald eine neue Generation von kleinen Ironien entstehn: denn wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. Und gesetzt es blieb audi während eines langen Zeitraums alles ruhig, so wäre doch nicht zu trauen. Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken. 19 M a n pflegt im allgemeinen die romantische Ironie einen Zustand des Schwebens über den Gegenständen zu nennen, den höchsten Ausdruck romantischen Lebensgefühls, 2 0 in der vollendetsten Form das Lachen über sich selbst, die letzte Geistesfreiheit, 2 1
wofür
Karl
Wilhelm
Solgers
„Erwin",
der
fünfzehn
Jahre
nach
Schlegels A u f s a t z erschien, die schönsten Belege bietet. Für Solger bedeutet die Ironie Erkenntnis der „Nichtigkeit der Idee als irdischer Erscheinung", 2 2 sie ist ein „alles überschauender, über allem schwebender, alles vernichtender Blick". 2 3 D i e Ironie läßt den Menschen seine eigene Nichtigkeit erkennen, ihr Lachen ist die zeitliche Gestalt, „in welche v e r w a n d e l t uns ein Teil der reinsten Seligkeit v o m H i m m e l w i e ein erfrischender T a u herabgesandt wird". 2 4 So hat auch Friedrich Schlegel oft genug ihre transzendentale Freiheit gepriesen: 19 20
ebda. 392 f. so etwa Paul Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, Halle a. S. 1941,
13 ff. 21 22 23 24
H . A. Korff, Geist der Goethezeit, Leipzig 1923—57, I V 748. Karl Wilhelm Solger, Erwin, hg. und eingel. v. Rudolf Kurtz, Berlin 1907, 389. ebda. 387. ebda. 182.
Die geistigen Grundlagen
118
des
Spiels
Sie [die Sokratische Ironie] enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und N o t w e n d i g keit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freyeste aller Licenzen, denn durch sie setzt m a n sich über sich selbst w e g ; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt n o t h w e n d i g . "
D e r Künstler erhebt sich in der Ironie über das Höchste der Kunst. 2 9 D i e Ironie ist „transcendentale Buffonerie. I m Innern die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend, oder G e n i a l i t ä t :
im Äußern,
in
der Ausführung
die mimische M a n i e r
eines
ungewöhnlich guten italiänischen B u f f o " . 2 7 Schlegel empfindet, daß „alle Menschen etwas lächerlich und grotesk" sind, „bloß weil sie Menschen sind; und die Künstler sind wohl auch in dieser Rücksicht doppelte Menschen. S o ist es, so w a r es, und so wird es s e y n " . 2 8 „Ironie ist die Form des Paradoxen. P a r a d o x ist alles, was zugleich gut und groß ist." 2 9 I m zitierten Abschnitt des Aufsatzes über die U n verständlichkeit klingt jedoch mit der „Ironie der I r o n i e " eine unheimliche Saite des ironischen Spiels an, wenn
sie auch nur scherzhaft gezupft w i r d :
daß es
nämlich Ironie der Ironie sei, „wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, . . . wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren l ä ß t . " J e d e Ironie muß wieder ironisiert werden, wenn sie „klares Bewußtsein der ewigen Agilität des unendlich vollen C h a o s " bleiben w i l l ; 3 0 die Ironie der Ironie muß durch die Ironie der Ironie der Ironie überwunden werden oder, wie Schlegel unheimlich treffend sagt: die Ironie wird wild und l ä ß t sich nicht mehr regieren. Solger kennt einen Schutzschild gegen die G e f a h r ; er stellt für die Ironie die Bedingung auf, daß sie mit der Begeisterung als Wahrnehmung der göttlichen Idee untrennbar verbunden
sein müsse:
„Die M y s t i k
ist, wenn
sie nach
der
Wirklichkeit hinschaut, die M u t t e r der Ironie, und wenn nach der ewigen W e l t , das K i n d der Begeisterung oder der I n s p i r a t i o n . " 3 1 Solger legt der Ironie Zügel an und stellt ein Gleichgewicht
zwischen Ironie
und Begeisterung
her. E r
lehnt
Schlegels G e d a n k e n ab, weil sich dessen Ironie von der Begeisterung und damit vom Göttlichen löst und sich ganz dem Ich anheimstellt. Zweifellos ist das klug. U n d doch: wie weit vermag der Mensch wirklich Begeisterung und Ironie untrennb a r miteinander zu verbinden? Ist Solgers Theorie nicht ein unerreichbares Ideal, das mit der irdischen Ironie so wenig zu tun hat wie Schillers Spielbegriff mit dem menschlichen Spiel? Beide — Solgers Ironie und Schillers Spiel — sind den G ö t t e r n vorbehalten, dem Menschen aber verschlossen, beide sind der T r a u m des 2 5 Kritische F r a g m e n t e N r . 108, Jugendschriften II 1 9 8 ; auch in der k e i t " zitiert: ebda. 3 9 1 . 26 27 28 29
„Unverständlich-
Kritische F r a g m e n t e N r . 87, ebda. II 195. K r i t . F r a g m e n t e N r . 42, ebda. 189. Ideen N r . 145, ebda. 3 0 5 . K r i t . F r a g m e n t e N r . 48, ebda. 189.
Ideen N r . 6 9 , ebda. 2 9 6 . Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel hg. v. L u d w i g Tieck und Friedrich v. R a u m e r , Leipzig 1 8 2 6 , I 6 8 9 . 30
31
Das Chaos als höchste Schönheit und
Ordnung
119
Menschen von der Befreiung im Spiel. Denn, was bei den Göttern
Ausdruck
höchster Geistesfreiheit ist, wird beim Menschen letzte Geistesknechtschaft: die Ironie wird zum Zwang, zum Dämon, der jeden Gedanken knechtet und zerstört, indem er ihn ironisiert. Reine Ironie ist Versklavung, Zerstörung und Selbstvernichtung des Geistes, tiefstes Elend des Menschen, der nicht mehr frei spielen kann, sondern unter der Füchtel der Ironie zu Ende spielen muß. Dieses Ende ist nicht das unendlich volle Chaos, sondern Nichts und Leere. J a , nicht einmal die kann übrig bleiben, denn auch sie unterliegt wieder der Ironie, sodaß der konsequente Ironiker zuletzt verzweifelt gegen alle Wände rennt, in einer endgültigen Verzweiflung — die wiederum der Ironie unterliegt, falls er nicht den ewig wiederkehrenden Weg des Ironikers geht und ins Credo quia absurdum springt. Diesen Sprung schlägt Schlegel eigentlich schon in seinem Aufsatz vor, wenn er über die „im Feuer der Ironie" entstandenen Unverständlichkeiten des „Athenäums" weiterfährt: A b e r ist denn die Unverständlidikeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? Midi dünkt das Heil der Familien und der N a t i o n e n beruhet auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten W e r k e des Menschen, oft so künstlich, d a ß m a n die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann. Eine unglaublich und
rein
heiligen
kleine P o r t i o n
bewahrt Gränze
Zufriedenheit
zu
selbst
wird,
und
ist zureichend,
kein
nähern.
Ja
hängt,
wie
das
frevelnder köstlichste
jeder
leicht
wenn sie nur Verstand was
wissen
der
unverbrüchlich
es wagen Mensch
kann,
darf, hat,
irgendwo
sich
die
treu der
innere
zuletzt
an
einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, d a f ü r aber auch das G a n z e t r ä g t und hält, und diese K r a f t in demselben Augenblicke verlieren würde, w o m a n ihn in Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange wenn die g a n z e W e l t , wie ihr es fordert, einmal
im Ernst
durchaus
werden,
verständlich
würde. U n d ist sie selbst, diese unendliche W e l t , nicht durch den Verstand aus der Unvcrstlindlichkcit oder dem C h a o s
gebildet? 3 2
Es gehört zur persönlichen Tragik Schlegels, daß er hier den Punkt, der im Dunkeln gelassen werden muß, der den letzten H a l t des Menschen bedeutet, zweifellos
ironisiert.
Er
ist zu sehr
dem
Intellekt
verhaftet
und sieht
den
Abgrund nicht, der sich in seiner Ironie der Ironie auftut. Es ist seine Ironie, daß das, was er ironisch meint, wahr ist, daß die Ironie wild werden kann. Die Prophezeiung: „Denn wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. U n d gesetzt es blieb auch während eines langen Zeitraumes alles ruhig, so wäre doch nicht zu trauen. Mit der Ironie ist nicht zu scherzen", 3 3 ist in Erfüllung gegangen. Nicht zu Schlegels Zeiten freilich. Seinen Theorien gelang es nicht, die trotz allen Rissen noch festgefügte Welt in den Fundamenten zu erschüttern; alles, was uns heute an romantischer Dichtung kostbar ist, entstand fern von seiner Ironie und gehört zum Strom der Tradition, den Korff die Goethezeit genannt hat. Aber Schlegel sagt ja selbst: „Und gesetzt es blieb auch während eines langen Zeitraums alles ruhig, so wäre doch nicht zu trauen". Erst im zwanzigsten Jahrhundert war die 32
Jugendschriften I I 3 9 3 .
33
ebda.
120
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Welt so weit zerstört, daß die Ironie der Ironie im Surrealismus mit neuer Stoßkraft durchdringen konnte. U n d doch ist es ihr auch diesmal noch nicht gelungen, alles in namenlose Anarchie aufzulösen. Was Schlegel und Tieck vor dem Abgrund fortschreitender Ironisierung bewahrte, ist eigentlich etwas Negatives: Beide begnügen sich mit der Ironisierung der Werte ihrer Umwelt und gehen nicht weiter; die Ironisierung der durch die Ironie gewonnenen neuen Werte bleibt bloße Theorie, keiner von beiden wagt sich auf das Glatteis der Ironie der Ironie. D a m i t wird ihr Spiel aber vordergründig. Ihr Steckenbleiben bricht der frühromantischen Ironie die Spitze ab. D i e Dichtungen bleiben schönes unverpflichtendes Spiel, das man weder in seiner schöpferischen noch in seiner zerstörerischen K r a f t überbewerten darf. „Poetischer Schein ist Spiel der Vorstellungen, und Spiel ist Schein von H a n d l u n g e n " , heißt es bei Schlegel. 84 Die gewollte Unverständlichkeit der Athenäumsfragmente soll d a s Unaussprechbare ausdrücken; denn das Endliche ist unverständlich, weil es das (unverständliche) Unendliche enthält 3 5 und alle Unverständlichkeit relativ ist. 38 Aber Schlegel erzeugt diese Unverständlichkeit künstlich und vermeidet alles Selbstverständliche der Formulierung, damit auch die Ironie wirken kann. Er benützt zu diesem Zweck das Wortspiel vom T y p u s : „Genialischer Scharfsinn ist scharfsinniger Gebrauch des Scharfsinns" 3 7 oder macht mit witzigen Verknüpfungen unzusammenhängender Begriffe Effekt, e t w a : „Witz ist die Erscheinung, der äußere Blitz der Fantasie. Daher seine Göttlichkeit, und das Witzähnliche der Mystik". 3 8 Das Verfahren ist an sich legitim, so können wirklich aus Alltagsweisheiten neue Wahrheiten werden. Aber Schlegel bleibt in der kleinen Ironie stecken, für ihn gilt das Wort aus der „Verkehrten W e l t " : „Ich schüttle die Worte zwischen den Zähnen herum, und werfe sie dann, dreist und gleichgültig wie Würfel heraus". 3 9 So entsteht jener poetischer Nihilismus, vor dem J e a n Paul als einem Zeitgeist warnt, „der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien SpiW-Raum im Nichts auszuleeren". 4 0 Durch das „Pikante einer Impertinenz" 4 1 will Schlegels Ironie das Publikum verblüffen und ärgern, sie ist eine erste Form des später so beliebten „¿pater le bourgeois" und bedeutet für den Ironiker eine ungeheure Stärkung des Selbstgefühls, ja vielleicht „sogar das überhaupt höchstmögliche Gefühl der persönlichen Überlegenheit über die im Vergleich zu ihm rückständige Umgebung, den G r a d des Subjektivismus, der dem enthusiastischen Krit. Fragmente N r . 100, ebda. 218. Hans von Zastrow, Die Unverständlichkeit in den Aphorismen Friedrich Schlegels im „Athenäum" und im „Lyceum der schönen Künste", Diss. München 1917, 5. 3 8 Jugendschriften II 387. 3 7 Fragment Nr. 294, Jugendschriften II 251; eine Zusammenstellung solcher Wortspiele: Zastrow a a O 10 ff. 3 8 Ideen N r . 26, Jugendschriften II 291. 8 9 Tieck, Schriften, Berlin Reimer 1828—54, V 363. 4 0 Jean Paul, Vorschule § 2, Stle. Werke 1.11 22. 4 1 vgl. etwa Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder Wilhelm, hg. v. O. Walzel, Berlin 1890, Nr. 105, S. 366. 34
35
Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
121
Seelenleben noch am ersten adäquat sein dürfte". 42 Die Welt der Objekte, die ganze Außenwelt in Frage zu stellen, erzeugt ein berauschendes Gefühl des eigenen Ichs. Eine solche Befriedigung des Selbstgefühls führt aber notwendigerweise zur Pose und Blague. Die Liebe zum Pikanten und Verblüffenden zeitigt auch ein Interesse für alle poetischen Erscheinungen, die aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallen, für die „Abarten" der Poesie: „Aus dem romantischen Gesichtspunkt haben auch die Abarten der Poesie, selbst die exzentrischen und monströsen, ihren Werth, als Materialien und Vorübungen der Universalität, wenn nur irgend etwas drin ist, wenn sie nur original sind". 43 Aus solchen Äußerungen Schlegels weht nicht der Geist der namenlosen Anarchie, den der Aufsatz über die Unverständlichkeit ahnen läßt, sondern einer, der um jeden Preis originell sein will. Der metaphysische Hintergrund der Ironie und Anarchie — das Chaos vor der Schöpfung — ist verloren gegangen und wird durdi eine oberflächlich zerstörende Ironie ersetzt. Übrig bleibt die Haltung des Revolutionärs gegen die geistigen Popanzen der Zeit. Aus dem Chaos als letzter Schönheit und Ordnung wird Tiecks vordergründiger Satz: „Eine gute Verwirrung ist mehr werth als eine sdilechte Ordnung", 44 eine Umkehrung von Goethes bekanntem Ausspruch: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen." 45 Eine gute Verwirrung ist der tiefere Sinn der Literaturkomödien Tiecks, des „Gestiefelten Katers", der „Verkehrten Welt" und des „Prinzen Zerbino", 4 ' über denen als Motto das Wort aus „Franz Sternbalds Wanderungen" stehen könnte: „Warum soll eben Inhalt den Inhalt eines Gedichtes ausmachen?" 47 Weder die satirischen Anspielungen auf literarische Zeitgenossen und Philister noch alle schönen poetischen Einlagen und philosophischen Reflexionen sind für die geistige Haltung letztlich von Belang; alles dient nur dazu, eine verkehrte Welt, ein vollendetes Chaos hemmungsloser Freiheit zu erzeugen. Die Mittel sind bekannt: absolute Aufhebung aller Theaterillusion, die Zuschauer beginnen zu spielen und die Schauspieler über ihre Rollen zu reflektieren. Der Zuschauer will Schauspieler, der Schauspieler will Zuschauer sein. In den Zwischenspielen der Verkehrten Welt wird in Tönen gedacht und in Worten musiziert. Bis zu drei Bühnen werden ineinander verschachtelt, so im dritten Akt der Verkehrten Welt; 4 8 4 2 F r i t z Brüggemann, D i e I r o n i e als entwicklungsgeschichtlidies E l e m e n t , J e n a 1 9 0 9 , 3 7 8 . Z u r romantischen Ironie nun neuestens: Ingrid S t r o h s c h n e i d e r - K o h r s , Die romantische I r o n i e in T h e o r i e und Gestaltung, T ü b i n g e n 1 9 6 0 , grundlegend in der Darstellung der T h e o r i e ( l . T e i l , mit B e n ü t z u n g unveröffentlichter Handschriften), unbefriedigend in der D e u t u n g der Gestaltung (2. T e i l ) , in der auch Schlegels „ O b e r die U n v e r s t ä n d l i c h k e i t " ( 2 7 3 ff.) und L u d w i g Tiecks Lustspiele ( 2 8 3 ff.) behandelt w e r d e n . Z u r Ironie allgemein vgl. auch: Beda A l l e m a n n , Ironie und Dichtung, Pfullingen 1 9 5 6 . 43
F r a g m e n t e N r . 1 3 9 , Jugendschriften I I 2 2 5 .
Tieck, Schriften V 4 1 2 . 4 5 Belagerung von M a i n z , W A 1.33 3 1 5 . 4 6 D e r gestiefelte K a t e r , Schriften V 161 ff.; D i e v e r k e h r t e W e l t , ebda. 2 8 3 ff.; P r i n z Z e r b i n o oder die Reise nach dem guten Geschmack: Schriften X 1 ff. 44
47
Schriften X V I
48
Schriften V 3 7 2 .
333.
122
Die geistigen Grundlagen des Spiels
der rasende Zerbino beginnt die Szenen seines Stücks mit Gewalt zurückzudrehen, um den guten Geschmack zu suchen: „Mein guter Nestor, hilf mir H a n d anlegen, wir wollen uns beide durch alle Wörter und Redensarten bis zum ersten Chor oder Prolog durchdrängen, damit unsre mühselige Existenz aufhöre, und das Gedicht, das uns elend macht, wie Spreu durch die Lüfte verfliege." 49 Die Welt soll sich auflösen. Aber Zerbino mag nodi so sehr an den Szenen rütteln, er wird den guten Geschmack nidit finden. Das Spiel verpufft ins Leere, der ursprüngliche Sinn dieser Unsinnspoesie bleibt unerfülltes Programm. Zerbino ist wohl Gefangener des Spiels, aber nicht Gefangener der wildgewordenen absoluten Ironie, sondern einer kleinen, die nur eine kleine literarische Welt des beginnenden neunzehnten J a h r hunderts zerstören will. Tiecks Figuren sind harmlose Bürger und Künstler, welche plötzlich die Lust angekommen ist, mit ihren Idealen und mit sich selbst Unsinn zu treiben; an der Fastnacht gerät die bürgerliche Ordnung für einige Tage ins Wanken, aber jeder Beteiligte weiß genau, daß sie nachher wieder wie vordem herrschen wird. Tiedc tut nur so, als ob er an den Fundamenten der Welt rüttle. Die Harmlosigkeit gibt seinem Spiel den Reiz der Stegreifkomödie, deren Zauber man sich nicht entziehen kann. Wo der Geist namenloser Anarchie befriedigt ist, wenn der Kaffee aus der Tasse in die Kanne rinnt und der Film rückwärts läuft — Zerbinos Zurückdrehen des Stücks ist ja eine Vorwegnahme dieses Filmtricks — , da ist die Welt nicht gefährdet, und der Unsinn läßt uns trotz einer momentanen leichten Verwirrung unserer Sinne ruhig schlafen. Tieck hat den unheimlichen Gedanken der letzten absoluten Ironie beiseite geschoben und sich mit der bescheideneren Zerstörung der Zeitwerte begnügt, denn er glaubt nicht an das Chaos der höchsten Schönheit und Ordnung. Korff hat recht, wenn er ihn für diese Dichtungen einen „glaubenslosen Ironiker" nennt; 5 0 wenn er aber den romantischen Humor für Resignation und Notbehelf hält und behauptet, mit der Flucht in den Scherz weiche die Romantik dem Ernst der Klassik aus, 51 verkennt er das Gespenst der absoluten Ironie, die fortschreitend die Welt auflöst. Das über Tieck und Schlegel Gesagte .gilt für viele romantische Unsinnspoesien, etwa für die „Geschichte von B O G S dem Uhrmacher" von Brentano und Görres. Dagegen löst Brentanos „Ponce de Leon" die Werte der Wirklichkeit erregender auf, so in dem Monolog, den Brentano in einer szenischen Anmerkung „nicht Wortspiel", sondern „Charakter des Ponce" nennt: O , gern will ich des Schlafes E h r e trinken; doch lieber Mohn als Wein, d a n n schlief die E h r e ein, und auf der E h r e Schlaf läßt sich gut trinken — und besser noch, wenn E h r e und Liebe beieinander schlafen, die eine will die andre nicht erwecken, und beide läßt die Sorge nicht schlafen. Die E h r e wacht über die Liebe, und die Liebe schläft über der E h r e ein. Aus Liebe wacht die Liebe wieder auf, und endlidi madit die Ehre sich eine E h r e daraus, einzuschlafen, sie drückt ein Auge z u ; — nun kann die Liebe recht erwachen, und nun ist es gefährlich, die E h r e der E h r e ist a u f dem Spiel — darum trinke ich auf der E h r e Schlaf; der Schlaf w ä r e wahrlich nicht zu ehren, er w ä r e bloß zu schlafen, wenn die E h r e nicht in ihm einschliefe, daß die 49
Schriften X 3 2 9 f.
50
H . A . Korff a a O I I I 5 2 3 . ebda. 5 0 5 .
51
Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
123
Liebe wadien könne. O , pfui des Schlafes, Schlaf — H e y a popeya, die Ehre. — N u n Wein her! Wein, d a ß die Liebe recht erwache, — o holder T r a u m , gerade ausgestreckt a u f der linken Seite schlief Isidoren's E h r e heute Nacht, und meine Liebe wachte — o süßer Schlaf der E h r e , w o Liebe wacht, — gute N a c h t ! 5 2
Die Auflösung von Schlaf, Liebe, Tugend in einen Wirbel von
Assoziationen
schafft eine traumhafte, phantastische Unwirklichkeit, dahinter steht das Nichts. Das spürt man stärker als bei Tieck, weil Brentano die kleine Ironie auf Zeit und Umwelt meidet. Ponce arbeitet „zu viel Nichts", wie er selbst sagt, 5 3 er «arbeitet an einem Chaos, für welches der „Himmel leer" ist. 54 Aber er tanzt auf Witzen und Wortspielen leicht über den Abgrund, gehalten von dem Spiel der Liebe, ohne daß man — wie bei der tödlichen Ironie von Büchners „Leonce und L e n a " — von einer Rettung durch die Liebe sprechen könnte. Uber der Freude am G l a n z des Wortfeuerwerks bleiben die letzten Fragen offen. Später beschwört Brentano das Chaos noch einmal in der sechzehnten Romanze vom Rosenkranz herauf. Im Zauberlied des Geisterweibs 5 5 ist das Chaos nicht mehr vordergründiges Geflimmer,
sondern
tatsächlich
das Jenseits
der geordneten
Wirklichkeit,
das
ursprüngliche Chaos, aus dem die Welten entspringen. Aber es zeigt sich, daß dieses nicht der O r t der reizenden Verwirrung ist, wie Schlegel glaubt, sondern der des höchsten Entsetzens und Grauens,
dem die magischen Kräfte
entquellen.
Statt in höchste Schönheit und Ordnung blicken wir in einen lodernden und brodelnden Hexenkessel, in eine Walpurgisnacht und einen Abgrund voll schrecklichen Gewürms. Hexen, Irrwische, Wichte, Kröten, Elfen usw., Dämonen und niedere Magie des Volks fließen mit den Elementen der hohen Magie zu einem gewaltigen unzusammenhängenden Zusammenhang, zu einem magischen Quodlibet der Vernichtung zusammen, verstärkt durch die beschwörende Kraft eines eintönigen Rhythmus mit Ei- und U-Assonanzen und -Reimen. Ein dämonischer Ernst hat sich die ironische Maske vom Gesicht gerissen. Was sich bei Novalis in die Abstraktion, ins „reine W e r k " verflüchtigt, schlägt iLn Brentanos Ponce in die bodenlose Leere, in seinem Zauberlied des Geisterweibs aber in den Aufstand des Chaos als der Heimat der Dämonen um. V o r beidem flüchtet sich der Dichter in den Schoß der katholischen Kirche wie hundert J a h r e später Hugo Ball. N u r einem einzigen Romantiker,
der vom Geist der namenlosen
angeweht ist, gelingt es, das Chaos spielerisch zu beherrschen: Ludwig Arnim.
Dessen
„Loch oder das wiedergefundene
Paradies" 5 6
Anarchie
Achim
von
nennt sich
wie
Mörikes Orplid ein Schattenspiel, entfernt sich also von der Wirklichkeit. D i e äußere Fabel nach der Geschichte von der Königin im Turm aus dem Volksbuch von den sieben weisen Meistern läßt einen zwar kaum ahnen, daß es hier um 53 53 54
Clemens B r e n t a n o , Ges. Schriften ed. C h r . Brentano, F r a n k f u r t a. M . 1852, V I I 6 2 f. ebda. 6 5 . ebda. 4 0 .
55 16. R o m a n z e , Strophen 8 5 — 1 1 1 , Stle. W e r k e hg. v. C a r l Schüddekopf, MünchenL e i p z i g 1 9 0 9 ff., I V 3 0 4 ff. 5 6 Arnim, Stle. W e r k e , hg. v. W i l h e l m G r i m m , Berlin 1 8 3 9 — 4 8 , V I 1 ff.; zu den Schattenspielen voll unsinniger P h a n t a s t i k vgl. Justinus Kerners „Bärenhäuter im Salzbade" und „König E g i n h a r d " (Reiseschatten), Stle. poet. W e r k e ed. Gaismaier I I I 4 4 ff., 1 0 0 ff.
Die geistigen Grundlagen des Spiels
124
Ordnung und Chaos geht. Doch hat Arnim mit der „Regierungsmaschine" dem Spiel ein seltsames Element einverleibt, das später in Alfred Jarrys „Ubu R o i " usw. in nodi stärkerer Form wieder auftaudit. Die Regierungsmaschine, die der König und sein R a t Kasper bedienen, produziert die Gesetze, das heißt: die Ordnung. Diese aber bedeutet Unterdrückung und Tyrannei und geht bis zur Besteuerung der Finger: Finger? D i e sollen audi wie Lichtputze bezahlen, W i r stempeln ein jedes P a a r Finger mit Zahlen, U n d setzen jedem einen Aufseher dabei, D a ß im Gebrauch auch Ordnung sei, D a ß kein P a a r früher wird abgenutzt, U n d daß das V o l k nicht der Ordnung trutzt, U n d über den Aufseher setzen wir zwei, D a m i t er thut seine Pflicht dabei. 5 7
Durch einen Ritter, den Geliebten der Kaiserin, gerät die absolute Ordnung ins Wanken. E r zerhaut Kasper in Stücke und steckt ihn in einen Suppentopf, wobei — welch unheimlicher Einfall — die Stücke für sich weitersprechen. D a steigt aus der Regierungsmaschine das Chaos des TeufeLs und bemächtigt sich der Welt. Alles zerfällt. Kaiser, Kasper und Menschen fahren mit Freuden durch die Regierungsmaschine in die Hölle, die Tiere herrsdien. D i e Ordnung der Maschine wird abgelöst vom Chaos der ursprünglichen Welt vor Erschaffung des Menschen. Dieses ist kein Paradies, sondern der „Graus" der „aus ihrer Haft entlassenen Erde", 5 8 die als Teufel den Menschen verschlingt. Die Tiere leiden unter der Freiheit und sehnen sich nach der Herrschaft des Menschen zurück. Erst als die ihnen wieder geschenkt wird, ist das Paradies wiedergefunden. Nicht das Chaos an sich ist schön, stellt Arnim fest, nur das Chaos unter der Herrschaft der „spielenden Freiheit" mit des „Glaubens Weihe". 5 9 Mit Solger verbindet er also Ironie und Begeisterung und mündet damit — etwas Einzigartiges in der romantischen Dichtung — in die Welt des reinen schönen Spiels ein, wie sie Schiller ersehnt hat. Die Einfachheit des Schattenspiels mit seinen schlichten und oft naiven Reimen macht die Lösung glaubwürdig. Arnim erliegt den Gefahren der oberflächlichen wie dem Abgrund der fortschreitenden Ironie nicht. „Wir hassen alle schauderhaften Bilder, die das Gemüth trostlos verwirren," schreibt er in der Gräfin Dolores. 8 0 Aber der Geist des Spiels steht bei ihm auf des Messers Schneide zwischen der Helle der Schöpfung und dem Dunkel der Zerstörung.
b) Der Surrealismus und Kurt Schwitters' Merz Das zwanzigste Jahrhundert hat Schlegels Ideen im Surrealismus wieder aufgenommen, womit wir André Bretons engsten Kreis meinen, den dieser so rein bewahren wollte, daß nach zahlreichen Ausschlüssen und Spaltungen heute fast 57 58 66 60
Stle. W e r k e V I 12. ebda. 41. ebda. Stle. W e r k e V I I I 57.
Das Chaos
als höchste
Schönheit
keiner der G r ü n d e r m e h r zu ihm gehört. 1 W o
und
Ordnung
im Surrealismus das C h a o s
125 ge-
priesen wird, bedeutet es immer den U r s p r u n g der Schöpfung: Vom intellektuellen Standpunkt aus handelte es sich und handelt es sich noch darum, mit allen Mitteln und um jeden Preis das trügerische Wesen der alten Widersprüche aufzuzeigen und zu erschüttern, die heuchlerisch dazu bestimmt waren, jegliche ungewöhnliche Erregung im Menschen zu verhindern, sei es nur dadurch, daß sie ihm eine minderwertige Vorstellung seiner Möglichkeiten ließen oder seinem Versuch trotzten, in wirkungsvollem Maße dem allgemeinen Zwang zu entgehen. Die Vogelscheuche des Todes, die Cafés-chantants des Jenseits, der Schiffbruch der höchsten Vernunft im Schlafe, der vernichtende Vorhang der Zukunft, die Türme von Babel, die Spiegel der Unbeständigkeit, die unüberwindliche Geldmauer, die mit Hirnsubstanz bespritzt ist, — diese allzu ergreifenden Bilder der menschlichen Katastrophe sind vielleicht nur Bilder. Alles veranlaßt uns zu glauben, daß es auf geistigem Gebiet einen Punkt gibt, wo Leben und Tod, Wirklichkeit und Einbildung, das Mittelbare und das Nichtmittelbare, Oben und Unten aufhören, als Widersprüche gesehen zu werden. Nun wird man in der surrealistischen Tätigkeit vergebens einen andern Beweggrund suchen als die Hoffnung, diesen Punkt zu bestimmen. Daraus sieht man, wie unsinnig es wäre, ihr einen lediglich zerstörenden oder aufbauenden Sinn zu unterlegen: Der Punkt, der zur Frage steht, ist a fortiori der, an welchem Aufbau und Zerstörung nicht mehr als Waffen gegeneinander gebraucht werden können. 2 D e r P u n k t , w o Leben und T o d , Wirklichkeit und Einbildung keine Widersprüche mehr sind, ist der O r t , aus dem alles Sein entquillt und in d e n alles zurückfließt. D o r t gibt es audi keine T r e n n u n g zwischen Poesie und N i d i t p o e s i e m e h r ; in dieser Beziehung ist Breton konsequenter als Schlegel: Es ist klar, daß der Surrealismus nicht daran interessiert ist, das zu berücksichtigen, was neben ihm unter dem Vorwand von Kunst, das heißt: Anti-Kunst, von Philosophie oder Anti-Philosophie produziert wird, kurz all das, was nicht der Komprimierung des Seins zu einem Brillanten, einem innern und blinden, dient, der zugleich Seele des Eises wie des Feuers ist.' D e r Surrealist will alle O r d n u n g nach der Schöpfung aufheben und eine „neue A r t von M y s t i k " schaffen, 4 die v o m A n f a n g s p u n k t der Schöpfung ausgehen soll. Im W o r t Surrealismus steckt die innerste H o f f n u n g dieser B e w e g u n g : „die zukünftige 1 allgemeine Literatur: Maurice Nadeau, Histoire du surréalisme,, Paris Ed. du Seuil 3e éd. revue 1947; ders., Documents surréalistes (Histoire du surréalisme I I ) , Paris Ed. du Seuil 1948; Marcel Raymond, De Baudelaire au surréalisme, éd. nouv. revue et remaniée Paris Corti 1947, 281 ff.; André Breton, Entretiens 1913—1952, Paris nrf Gallimard 1952; G. Ribemont-Dessaignes, Déjà jadis ou du mouvement Dada à l'espace abstrait, Paris Julliard 1958, 111 ff.; Marcel J e a n , Histoire de la peinture surréaliste, Paris Ed. du Seuil 1959; Jean-Louis Bédouin, Vingt Ans de Surréalisme 1939—1959, Paris Denoël 1961; eine gute deutsche Einführung: Surrealismus 1924—1949, T e x t e und Kritik hg. und eingel. v. Alain Bosquet, Berlin 1950; ferner: Diefer Wyss, Der Surrealismus, Heidelberg 1950; Yves Duplessis, Der Surrealismus, Hamburg 1960; weitere Literatur in den Anm. zu S. 245 ff. W o im folgenden nichts anderes angegeben ist, sind die T e x t e von mir übersetzt. 2 André Breton, Second Manifeste du Surréalisme (1930), Les Manifestes du Surréalisme, Paris Sagittaire, Auflage 1947, 91 f., Obersetzung: Surrealismus ed. Bosquet 56 f. 3 Breton aaO 92, Ubersetzung: Surrealist. Publikationen hg. v. Edgar Jené und Max Hölzer, Klagenfurt 1950, 16. 4 Raymond Queneau nach Nadeau Histoire 106.
Die geistigen
126
Grundlagen
des
Spiels
Auflösung der beiden anscheinend sich widersprechenden Z u s t ä n d e des T r a u m e s und
der Wirklichkeit
in eine A r t
absoluter
Wirklichkeit,
einer
Surrealität."5
I h r e W a f f e ist nicht mehr die Ironie — diese w i r d im Gegenteil durdi ein P a t h o s der P r o k l a m a t i o n abgelöst — , sondern d e r Traum.
E r bedeutet für B r e t o n und
seinen Kreis die sichtbarste Befreiung des Geistes von der T y r a n n e i einer beschränkten L o g i k und
Ordnung:
Noch leben wir unter der Herrschaft der Logik . . . Aber logische Verfahren werden heutzutage nur angewandt, um Fragen minderen Interesses zu entscheiden. Der absolute Rationalismus, der noch an der Tagesordnung ist, erlaubt nur die Berücksichtigung von Tatsachen, die unmittelbar unseren Erfahrungen entspringen. Andererseits entgehen uns logische Schlüsse. Es erübrigt sich, hinzuzufügen, daß selbst der Erfahrung Grenzen gezogen sind. Sie läuft in einem Käfig auf und ab, aus dem es immer schwieriger wird, sie herauszubekommen. Auch sie stützt sich auf unmittelbare Sachlichkeit und wird durch den gesunden Menschenverstand bewacht. Unter der Flagge der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, aus dem Geist alles zu verbannen, was mit Recht oder Unrecht als Aberglaube oder Hirngespinst verurteilt werden kann, jede Art der Wahrheitsforschung zu verbannen, die nicht dem Brauch entspricht. Anscheinend nur durch großen Zufall ist ein Teil der Geisteswelt, in meinen Augen der weitaus wichtigste, um den man sich nicht weiter zu kümmern vorgab, dem Lichte wieder geschenkt worden. Dies geschah dank den Entdeckungen Freuds. Gestützt auf diese Entdeckungen zeichnet sich endlich eine Strömung ab, in deren Schutz der Menschenforscher seine Untersuchungen wird weiterführen können, wobei er nicht mehr ausschließlich an die bloße Wirklichkeit gebunden sein wird. Die Einbildungskraft ist vielleicht im Begriff, ihre Rechte zurückzuerobern. Wenn die Tiefen unseres Geistes erstaunliche Kräfte bergen, die diejenigen der Oberfläche zu steigern oder siegreich gegen sie anzukämpfen vermögen, so ist es von höchstem Interesse, sie einzufangen, zunächst einzufangen, um sie dann, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen.* Die Analytiker selbst haben dabei nur zu gewinnen. Aber es ist wichtig zu bemerken, daß kein Mittel a priori zur Durchführung dieses Unternehmens bestimmt ist, daß es bis auf weiteres zum Gebiet des Dichters wie des Gelehrten gehören kann und daß sein Erfolg nicht von den mehr oder weniger eigensinnigen Wegen abhängt, die befolgt werden. 7 K l u g und zugleich typisch für die H a l t u n g Bretons ist der Ausdruck „bis auf weiteres" („jusqu'à nouvel o r d r e " ) im Schlußsatz. D a s Chaos des T r a u m e s ist nicht absolut und endgültig das Letzte, es ist nur vorläufig, denn eine neue T y r a n n e i beschränkter L o g i k könnte auch den T r a u m
in sein System
einbeziehen.
Die
Berufung a u f die T r a u m d e u t u n g Freuds ist nur V o r w a n d . T r o t z dem „ B u r e a u de recherches surréalistes" denken die Surrealisten g a r nicht daran, F r e u d auf einen W e g zu folgen, der zu jener höchsten Geltung menschlicher Vernunft führt,
wo
diese sogar in die w i r r e W e l t des T r a u m s leuchtet. 8 D e r T r a u m dient ihnen als Mittel zur Erzeugung einer chaotischen B i l d e r w e l t ; sie suchen nicht wie
Freud
den Sinn hinter dem scheinbar sinnlosen T r a u m b i l d , sondern einen Gesamteindrude chaotischer Assoziationen. B r e t o n ist übrigens zu gescheit, dies nicht zuzugeben. Breton aaO 28 f. (1er Manifeste), Übersetzung Surrealismus 52. Breton aaO 23 f. (1er Man.), Ubers. Surrealismus 50. 7 ebda., Ubers. Surr. Publikationen 13. 8 Freud über die Surrealisten: Briefe 1873—1939, Frankfurt a. M. 1960, 441 (an Stefan Zweig 20. 7. 1938). 5
8
Das Chaos als höchste Schönheit und
Ordnung
127
D i e „Vases communicants" betonen ausdrücklich, daß der Traum keine andere oder neue Realität bringe, 9 sondern nur zu einer Umwandlung der tiefen U r sachen des menschlichen Ekels und zu einem allgemeinen Umsturz der gesellschaftlichen Beziehungen führen müsse. 01 Damit verliert jedoch der Traum die entscheidende Bedeutung, die er für die Romantik besaß. 1 0 Er ist nicht das T o r zu einer neuen Erkenntnis, zu einer neuen Welt, sondern bloß der Ort, -wo sich die Überreste einer zerstörten Welt ansammeln. So fällt die nächstliegende Parallele zwischen R o m a n t i k und Surrealismus dahin. D e r Traum ist nur ein Motiv, mit dem diè- Freude am Unsinn und an der Zerstörung gerechtfertigt wird.
Die
deutsche R o m a n t i k wird freilich von den Surrealisten besonders ihres Traumdenkens wegen geliebt. Im „System seiner Koordinaten" nennt Breton Arnim als einzigen deutschen Dichter 1 1 — wie wir gesehen haben, mit einem gewissen Recht — , während er sonst noch auf Novalis hinweist, 1 2 dessen Traumdenken jedoch völlig im Banne der Sehnsucht nach übersinnlicher Erkenntnis steht. I m Schattenspiel Unsinn
vom Loch trennt nur die Bezeichnung
zu den Schatten
verweist und von
„Schattenspiel", die den
der Wirklichkeit
distanziert,
die
chaotische W e l t von der irdischen und erfüllt im Wissen um des „Glaubens Weihe" der göttlichen Freiheit alle Thesen eines Surrealismus, der sich noch nicht auf eine oberflächliche Zerstörung der Wirklichkeit festgelegt hat. Wenn die romantische Dichtung das Chaos durch Iroraisierurig der Welt herbeizwingen wollte, so versucht es der Surrealismus mit einer systematischen Benützung aller psychologischen Automatismen.
Diese sollen den Geist sichtbar werden
lassen, bevor er sich zum eigentlichen Gedanken geformt hat. Neben dem E r zählen von Träumen, bei dem alles auszuschalten ist, was die denkende Vernunft hinzugesetzt haben könnte, ist das automatische Schreiben das eigentliche „Geheimnis der magischen surrealistischen K u n s t " . 1 3 Dies ist aber nichts anderes als eine moderne Form des Wortspiels, wie es Schlegel im Aufsatz über die U n v e r ständlichkeit auffaßt, wenn er sagt, daß die Worte sich selbst oft besser verstehen als die, von denen sie gebraucht werden. 1 4 D e r erste, der automatisch sdireibt, ist — wie schon Albert Béguin erkannte 1 5 — Arnim mit der Sprache des gekränkten Herzens in der Gräfin Dolores: Ü b e r Stock, über Stein, drein, drein, ohne Bewußtsein; knackts, brichts, wirfts um, idi sitze stumm, meiner Blicke einzige Sprache ist ewiges Wachen, ein nordischer T a g ohne N a c h t
in hallender
trostloser
Jagd.
—
Der
Schweißfudis trabt, der
Braune
hinkt, das Sattelpferd springt — ein Heimchen noch singt: H a l t still, wie mir's das H e r z e r l a b t . — D e r Schwager s a g t : W i r sind gleich da, wir sind gleich d a ! — 9
Das
Breton, Vases communicants, 6e édition Paris n r f Gallimard 1 9 5 5 , 156. ebda. 1 5 7 .
1 0 vgl. A l b e r t Béguin, Le rêve chez les romantiques allemands et dans la poésie française, T h c s e G e n è v e 1 9 3 7 , zum Surrealismus bes. II 4 1 9 ff. 11 Breton, Manifestes 199. 12 13 14 15
ebda. 2 1 1 . vgl. ebda. 51 f. Jugendschriften II 3 8 7 . Béguin a a O II 191.
128
Die geistigen Grundlagen des Spiels P o s t h o r n k l a g t : D i e H ä n d e riß ich auseinander, die H e r z e n zerreiß ich elende, und w a n d r e hin und zurück; dies ist Geschick. Berge ihr hemmenden, neblig beklemmenden, Berge ihr trennenden, abendlich brennenden, seid mir nun nah, und w i r sind nah und wir sind da. 1 *
Aber Arnims Automatismus entsteht aus der höchsten Anspannung eines einzigen Gefühls, aus dem Rausch namenlosen Schmerzes, nicht aus der höchsten Entspannung des Geistes, wie es die Surrealisten wollen. Die Ablehnung des Traums als Erkenntnisweg und die Erzeugung von Automatismen durch Geistleere sind nur zwei Anzeichen für die Fragwürdigkeit des eigentlichen Surrealismus. An einer dritten Technik zur Erzeugung des Chaos wird diese noch deutlicher. Nicht jedem ist es vergönnt, so häufig zu träumen, daß es für einige Bücher reicht, nicht immer sind die künstlich erzeugten Automatismen ergiebig, ja, manchem gelingen sie nicht einmal. Deshalb benützt der Surrealismus auch den bequemeren Weg der Gesellscbafisspiele, um chaotische Wirkungen hervorzurufen und die Wörter mit sich selbst spielen zu lassen. Beim „Cadavre exquis" — so benannt nach dem ersten mit diesem Spiel erzeugten Satz „Le cadavre exquis boira le vin nouveau" 1 7 — wird ein Blatt herumgegeben, und jeder Teilnehmer führt einen Satz weiter, dessen vorhergeschriebene Teile er nidit kennt. Das Spiel ist alt; Harsdörffer zitiert etwa als Ergebnisse dieses Verfahrens „Die schönste unter allen Kohlen, wenn sie allein ist" oder „Was macht die Nachbarin morgens früh mit ihrer feuchten Nasen." 1 8 Eine Abart ist das Si-Quand-Spiel der Surrealisten, bei dem ein Teilnehmer zu einem ihm unbekannten Konditional- oder Temporalsatz den Hauptsatz schreiben muß. Gewiß ist auf diesem Weg das ursprüngliche Chaos nicht wiederherzustellen, unterliegen doch beim „Cadavre exquis" die Abfolge der Wortarten, die gegeben sein muß, damit überhaupt ein Sinn herauskommt, und beim Si-Quand-Spiel die Abfolge von Neben- und Hauptsatz dem Zwang der in den Sprachgesetzen enthaltenen Logik. Zudem ist jeder Teilnehmer versucht, seinen Satz- oder Satzteil möglichst weit herzuholen, damit ja etwas Geistreiches entsteht; das lassen Ergebnisse erkennen wie: „S'il n'y avait pas de guillotine — Les guêpes enlèveraient le corset." — „Quand les aéronautes auront atteint le septième ciel — Les statues se feront servir des soupers froids". 1 9 Selbst wenn Breton im Anhang zum ersten surrealistischen Manifest Zeitungsausschnitte so zufällig wie möglich zu einem Gedicht zusammenfügt 20 — eine direkte Weiterführung des Crossreading, wie wir es in der deutschen Literatur von Lichtenberg, Nestroy u. a. kennen —, kann er seinen spielerischen Geist und den Zwang der Sprache nicht ausschalten. Das Gesellschaftsspiel
Stle. W e r k e V I I I 5 8 . N a d e a u Histoire 2 7 7 f.; gezeichnet: N a d e a u Documents 1 2 2 ; Fantastic A r t , D a d a , Surrealism, ed. by A l f r e d H . B a r r J r . , Essays by Georges H u g n e t , 3 r d édition N e w Y o r k T h e Museum o f M o d e r n A r t / S i m o n and Schuster 1 9 4 7 , 154. 16 17
1 8 Georg Philipp Harsdörffer, F r a u e n - Z i m m e r Gesprächspiele, Nürnberg E n d t c r bis 1649, II 2 5 3 . 19 20
N a d e a u H i s t o i r e 2 8 0 ; Ähnliches ebda. 2 7 7 f. Breton Manifestes 6 7 ff.
1641
Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
129
mit Stückchen der Wörterwelt ist kein Automatismus und führt nicht über witziges Wortchaos hinaus. D e r Surrealismus zerstört die Sprache in ihrem grammatischen Bestand, in Wörtern und Sätzen, ohnehin nicht. Was er mit den geschilderten Mitteln aus dem Unbewußten heraufholen will, ist das unsinnige Bild.21 „Le vice appelé Surréalisme est l'emploi déréglé et passionnel du stupéfiant image", sagt Aragon. 22 Aufgabe der Dichtung ist es, die Bilder zu einem Gedicht zu ordnen. Je weniger Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern besteht, umso surrealer wirkt das Werk. So jagt ein Bild das andere, zusammengehalten wird das Gedicht nur durch einen Gesamteindruck, durch ein Weltgefühl, welches im atemlosen Leser die Unsinnigkeit entstehen läßt und das Chaos des Ursprungs ahnen lassen soll, indem sich die verschiedenartigsten Wörter in neuen Kombinationen begatten. 23 Zugleich f ü h r t aber die H ä u f u n g der Bilder zur Abstraktion von der Wirklichkeit und von der Imagination. Gegen den Willen der surrealistischen Autoren schlagen die neuentstehendan Bilder nicht auf die Wirklichkeit zurück, sondern bleiben in einer abstrakten Welt, wo jedes durch das andere ad absurdum geführt wird. „Das Verstehen des Sinnes hat die Opferung des Bildes zur Voraussetzung, das Verstehen der Bilder die Opferung der Wörter", zitiert der „Almanach surréaliste du Demi-Siècle" aus einem chinesischen mystischen Text. 24 Opferung der Wörter, das heißt des Wortsinns, um des Bildes willen, ist die letzte Konsequenz des poetischen Surrealismus. Deshalb erinnert manches surrealistische Gedicht an barocke Erscheinungen aus der zweiten schlesischen Schule und ihre französischen Entsprechungen, wo das metaphorische Bild den Zusammenhang mit dem Gegenstand verliert und für sich einen abstrakten Kreis geistreicher Einfälle bildet. Die Deutung kenningartiger Gebilde Hofmannswaldaus wie Drum thu auch deinen himmel auff, U n d laß der tauben saiten lauff Mich und mein opffer nicht verzehren! 2 3
erfordert die gleiche Anstrengung wie die Deutung von Traumbildern. Zudem nähern Barock und Surrealismus sich in der H ä u f u n g der Bilder. Doch konzentriert sich die barocke Metaphernhäufung auf den einzelnen glänzenden Einfall, wodurch sie den Sinnzusammenhang des ganzen Gedichts aus den Augen verliert; die surrealistische Metaphernhäufung legt das Gewicht auf den Gesamteindruck eines Chaos verblüffender Bilder. Sie läßt die Zügel des Geistes und der Logik los; der Barock hält sie so straff, d a ß sich der Geist überschlägt. Wenn sich im Surrealismus eine anaphorische Assoziationskette ergibt wie in Bretons „L'Union libre", die dreißigmal von der Anapher „Ma femme" aus Bilder für alle 21
R a y m o n d a a O 283 ff. Louis A r a g o n , Le Paysan de Paris, Paris nrf Gallimard Ausgabe 1961, 80. 23 Breton a a O 6 2 (1er Man.). 24 W a n g Bi, Les images et les mots, A l m a n a d i surréaliste du demi-siècle, La N e f année) no. 6 3 / 6 4 (mars/avril 1950) 15. 25 Benjamin Neukirchs Sammlung I, Leipzig Fritsdi Ausgabe 1697, 317. 22
9
Liede,
Dichtung
(7e
130
Die geistigen Grundlagen des Spiels
Körperteile der Frau häuft, liegt der Verdacht eines rhetorischen Effekts nahe, wie ihn der Barock geliebt h a t : Ma femme à la chevelure de feu de bois Aux pensées d'éclairs de dialeur A la taille de sablier Ma femme à la taille de loutre entre les dents du tigre Ma femme à la bouche de cocarde et de bouquet d'étoiles de dernière grandeur usw. 26
Wie die barocken Concetti u n d die M e t a p h e r n h ä u f u n g beim heutigen Leser oft den Eindruck eines Automatismus erwecken, läßt umgekehrt die surrealistische H ä u f u n g oft geistreichen W i t z vermuten, der auf das unsinnige u n d überraschende Bild ausgeht. Theoretisch soll allerdings Bretons A n a p h e r „Ma f e m m e " nur den Automatismus auslösen, w ä h r e n d die barocke eine rhetorische Steigerung erreichen will. Die äußern Übereinstimmungen sind sicher nicht zufällig, d ü r f e n aber dodi nicht als barocke Konstanten der (französischen) Literatur überbewertet werden. 2 7 D a ß Fatrasie-Ähnlidies des dreizehnten und der s p ä t e m J a h r h u n d e r t e auch Hesverie heißt, läßt noch nicht auf tiefenpsychologische Forschungen jener Zeit schließen; der N a m e motiviert nur gegenüber der U m w e l t die reine Freude am Unsinn, die auch den G a t t u n g e n , welche nicht Resverie heißen, wie dem Quodlibet, Coq-à-1'âne, Galimatis usw. z u g r u n d e liegt. Albert-Marie Schmitts Behauptung: „ O n y voit des subconscients excités dégorger sans contrôle le trop-plein de leurs fantaisies" 2 8 ist eine Erkenntnis unseres J a h r h u n d e r t s ; sie mag psychologisch stimmen, liegt aber nicht in der Absicht des Dichters, der seinen Unsinn nur mit dem des Traums vergleicht, nicht ihn aus dem T r a u m schöpft. Eine andere Quelle jener älteren Poesie ist der Topos von der verkehrten Welt: die Zeit ist so verkehrt, d a ß nichts mehr als unmöglich erscheint, oder der Dichter will etwas erst dann tun, wenn sich die ganze Welt verkehrt hat. Wenn auch schon damals das Grauen über eine aus den Fugen geratene Welt hie u n d da, so in einer O d e von Théophile de Viau (1590—1626), 2 9 z u m persönlichen A n g s t t r a u m der „verstörten Seele" werden konnte, 3 0 lassen sich doch die meisten von Schmitt als barocke Vorläufer herangezogenen ältern Unsinnspoesien nicht mit den surrealen Traumbilderspielen vergleichein. Grundsätzlich bedeutet jeder surrealistische Automatismus E r f ü l l u n g der Voraussetzung, die wir f ü r alle Unsinnspoesie aufgestellt haben: er hebt die SubjektO b j e k t - S p a l t u n g auf. „ D e r Dichter der Z u k u n f t «oll die niederschmetternde Idee einer unwiderruflichen T r e n n u n g von T a t u n d T r a u m überwinden". 3 1 Deshalb 26
zitiert nach Nadeau Histoire 339. Albert-Marie Schmitt, Constantes baroques dans la littérature française, Trivium 7 (1949) 309 ff. 28 ebda. 312. 29 Oeuvres poétiques, édition critique par Jeanne Streidier, Genève-Lille-Paris E. Droz usw. 1951—58, I 164 f.; vgl. Schmitt aaO 315. 30 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3. Auflage Bern 1961, 107. 31 Breton, Vases Communicants 6 édition 198. 21
Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
131
berufen sich die Surrealisten häufig — besonders in Dalis Paranoia-Ästhetik 3 2 — auf die Schönheit des Wahnsinns oder auf das Kind, das „dem wahren Leben" am nächsten komme. D i e Mittel — T r a u m , automatisches Schreiben, hypnotischer Schlaf — f ü h r e n in ein Land, w o die W ö r t e r mit sich selbst spielen können u n d der Z u f a l l herrscht. Dieser aber hebt sich auf, weil im intendierten Chaos alles zu allem in Beziehung steht. So spricht Breton auch vom Surrealismus als einer Magie; 3 3 dodi hat dieser Begriff keinen Sinn mehr, weil er die Möglichkeit einer Scheidung im Sinne der Einwirkung des einen auf das andere in sich schließt. Zweifellos sind die surrealistischen Theorien durchaus vertretbar, falls echte Dichter wirklich an sie glauben u n d der Versuch, die W ö r t e r mit sich selbst spielen zu lassen, tatsächlich zum ursprünglichen Chaos durchdringt, wobei sich erst noch die Frage erhebt, ob dieses Ln irgendeinem Sinne „schön" ist. N u n begnügt sich aber die eigentliche surrealistische Bewegung in ihren Glanzzeiten nicht mit einer Kunsttheorie. D a im Chaos die Scheidung zwischen K u n s t u n d Nichtkunst dahin fällt, m u ß sie versuchen, das chaotische Weltgeifühl in alle Lebensgebiete hineinzutragen. Deshalb ist der Weg des Surrealismus mit D o k u menten des Skandals bepflastert. " L ' a m o u r de brusquer", der Wunsch zu brüskieren, 3 4 überwuchert alle philosophischen und poetischen Grundlagen. Schon die erste Schrift der Bewegung ist ein P a m p h l e t gegen den eben verstorbenen A n a t o l e France: „ U n C a d a v r e " . 3 5 D a n n erscheinen offene Briefe an alle „Bonzen" der Zeit, an die Rektoren der Universitäten, 3 6 an P a u l Claudel, 3 7 an den Papst 3 8 und an die O b e r ä r z t e der Irrenhäuser, die als tyrannische Schulmeister des Geistes die O p f e r der Imagination schändlich gefangen halten. 3 9 Streitschriften f ü r alle Formen der Sexualität — selbst f ü r den Exhibitionismus —, U m f r a g e n über Selbstm o r d u n d Liebe, Skandale an literarischen Banketten 4 0 und politische K ä m p f e bilden den H ö h e p u n k t der Bewegung, aus dem sich dann die E r k l ä r u n g vom 27. J a n u a r 1925 kristallisiert: In Anbetracht der im Publikum stumpfsinnig verbreiteten falschen Interpretation unseres Strebens legen w i r Wert darauf, gegenüber einer literarischen, dramatischen, philosophischen, exegetischen und selbst theologischen stotternden Kritik folgendes festzustellen: 1. Mit der Literatur haben wir nichts zu tun; aber wir sind, w e n n nötig, durchaus fähig, uns ihrer zu bedienen. 2. D e r Surrealismus ist kein neues oder leichteres Ausdrucksmittel, noch gar eine Metaphysik der Dichtung; er ist ein Mittel zur völligen Befreiung des Geistes und v o n all dem, w a s diesem ähnlich sieht. 3. Wir sind fest zur R e v o l u t i o n entschlossen. 32 53 34 35 34 37 38 39 40
9
N a d e a u H i s t o i r e 209 ff., R a y m o n d aaO 287 f. N a d e a u Histoire 335. Breton, Manifestes 37 (1er Man.), vgl. dazu N a d e a u Documents. N a d e a u D o c u m e n t s 11 ff. ebda. 30 f. ebda. 36 f. ebda. 32 f. ebda. 35 f. vgl. z . B . N a d e a u Histoire 325; Skandal beim Bankett Saint-Pol-Roux, ebda. 1 1 6 ff.
132
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
4. Wir haben das Wort Surrealismus nur deswegen dem W o r t Revolution beigefügt, weil wir auf den uneigennützigen und losgelösten C h a r a k t e r dieser Revolution hinweisen wollten. 5. Wir erheben keinen Anspruch d a r a u f , die Sitten der Menschen zu ändern, wohl aber wollen wir den Menschen die Zerbrechlichkeit ihrer Gedanken zeigen und sie darauf aufmerksam machen, auf was f ü r lockeres Gestein und auf was f ü r Keller sie ihre wackelnden Häuser gebaut haben. 6. Wir künden der Gesellschaft feierlich an, sie möge achten, d a ß sie sidi nicht verirre: Wir werden keinen Fehltritt ihres Geistes verpassen. 7. Bei jeder Wendung ihres Denkens wird uns die Gesellschaft vorfinden. 8. Wir sind Fachleute f ü r die Revolution. Es gibt kein Mittel, das zu gebrauchen wir nicht im N o t f a l l fähig wären. 9. Der westlichen Welt sagen wir ausdrücklich: Der Surrealismus existiert. — Aber was ist denn das f ü r ein neuer Ismus, der sidi an uns hängt? — Der Surrealimus ist keine Form der Dichtung. Er ist der Schrei des Geistes, der zu sich selbst zurückkehrt und fest entschlossen ist, verzweifelt seine Ketten zu sprengen, wenn nötig, mit echten H ä m m e r n ! (des marteaux matériels) 41
Es gibt kein Dokument aus der „heroischen Periode" einer Bewegung — so nennt Nadeau f ü r den Surrealismus die Jahre 1923 bis 1925 —, das die Schwächt des revolutionären Willens derart bloßlegt. Der Surrealismus ist eine Revolution; „La Révolution d'abord et toujours" 4 2 ist seine Devise. Er will nichts mehr mit der Literatur zu tun haben (1) und doch nur ein Mittel zur völligen Geistesfreiheit und „allem was dieser ähnlich sieht" sein. Er ist ein verzweifelter Befreiungsversuch des Geistes (Schluß) — warum verzweifelt, wenn er doch nichts an den Sitten des Menschen ändern, sondern nur auf die Schwachheit der Fundamente aufmerksam machen will (5) ? So sind die Drohungen am Ende nur pathetische Phrasen. Wie sollen die Surrealisten zu den materiellen H ä m m e r n greifen, wenn sie nicht wissen wofür? Nie hätte diese Bewegung außerhalb der Literatur eine Revolution auslösen können, wie sie es wollte, denn ein revolutionäres Ziel fehlte ihr. So kam es wie bei Schlegel und Tieck zum Kampf gegen alle Systeme der Zeit, der nicht an die Fundamente griff und zu einem oberflächlichen, nur ebenso oberflächliche Bürger und Literaten erregenden Kampf wurde. Wer sidi heute noch vor dem Surrealismus fürchtet, verkennt dessen Schwächen. Nie kann ein ganz allgemeines revolutionäres Weltgefühl die Welt umstürzen oder auch nur eine ernsthafte Gefahr für die Ordnung bedeuten. „Die Welt dreht sich weiter, wie wenn die Surrealisten nicht existierten; die Denk- und Lebensweisen, auf die sie elektiv wirken wollten, haben sich durch ihr Handeln in nichts geändert". 4 3 Mehr und mehr muß Breton seine Konzeption des Surrealismus gegen Freuade und Weggenossen verteidigen, mehr und mehr entgleitet das Schiff trotzdem seinen Händen. Sein letztes wichtigeres Programm „Prolégomènes à un troisième manifeste du surréalisme ou non" von 1942 ist nur noch eine einzige große Klage: 41 42 45
N a d e a u Documents 42 f. ebda. 37. N a d e a u Histoire 258.
Das Chaos
als höchste
Schönheit
und
133
Ordnung
N i c h t allein der Surrealismus ist nach z w a n z i g j ä h r i g e m Bestehen durch M i ß s t ä n d e b e d r o h t , die das Lösegeld jeglicher G u n s t , j e d e r B e r ü h m t h e i t bilden. D i e Vorsichtsm a ß n a h m e n , die ergriffen w u r d e n , um die R e i n h e i t im I n n e r n der B e w e g u n g zu w a h r e n — die im allgemeinen f ü r viel zu streng erachtet wurden — , haben t r o t z d e m nicht das w ü t e n d e falsche Zeugnis eines A r a g o n v e r h i n d e r n k ö n n e n , ebensowenig w i e den picaresken B e t r u g des N a c h t t i s c h - N e u p h a l a n g i s t e n A v i d a D o l l a r s [ S a l v a d o r D a l i ] . E s ist schon nicht m e h r möglich, d a ß d e r Surrealismus alles decken k a n n , w a s offen o d e r nicht offen in seinem N a m e n u n t e r n o m m e n w i r d , von den geheimsten T e e stuben J a p a n s bis zu den strahlendsten Schaufenstern der F i f t h A v e n u e , obgleich J a p a n u n d A m e r i k a sich im K r i e g befinden. W a s in einem b e s t i m m t e n S i n n e getan w i r d , e n t h ä l t redit wenig v o n d e m , w a s beabsichtigt w a r . Selbst die h e r v o r r a g e n d s t e n M ä n n e r müssen sich d a m i t abfinden, d a ß sie nicht so sehr in einer S t r a h l e n g l o r i e einherziehen als vielmehr eine lange S t a u b f a h n e hinter sich a u f w i r b e l n . 4 4 N o c h e i n m a l f o r d e r t B r e t o n w e n n n i c h t R e v o l u t i o n , so d o c h
Opposition:
Ich befinde midi . . . nach A b l a u f v o n z w a n z i g J a h r e n wie in meiner J u g e n d z e i t u n t e r d e r Verpflichtung, mich gegen jedes Anpassungsbestreben auszusprechen u n d , indem ich dies sage, auch ein zu deutliches surrealistisches Anpassungsstreben ins A u g e zu fassen. Z u viel B i l d e r v o r allem schmücken sich heute in der g a n z e n W e l t mit d e m , w a s die zahllosen J ü n g e r von C h i r i c o , Picasso, E r n s t , Masson, M i r o und T a n g u y nichts gekostet h a t , v o n J ü n g e r n , die nicht wissen, d a ß es in der K u n s t keinen g r o ß e n A u f b r u c h gibt, der sich nicht unter L e b e n s g e f a h r v o l l z i e h t , d a ß der einzuschlagende W e g ganz offensichtlich nicht durch eine B r u s t w e h r geschützt ist und d a ß j e d e r K ü n s t l e r allein a u f die Suche nach dem G o l d e n e n Vlies ausziehen m u ß . . . M e h r d e n n je hat es die O p p o s i t i o n im J a h r e 1 9 4 2 nötig, in ihrem G r u n d s a t z b e s t ä r k t zu w e r d e n . A l l e Ideen, die t r i u m p h i e r e n , rennen in ihr V e r d e r b e n . Es gilt den Menschen unbedingt d a v o n zu überzeugen, d a ß , wenn das allgemeine E i n v e r s t ä n d n i s über einen G e g e n s t a n d erzielt ist, der W i d e r s t a n d des einzelnen der einzige Schlüssel des Gefängnisses ist. 4 5 wollte
keine
L i t e r a t u r u n d k e i n e K u n s t „ m a c h e n " , s o n d e r n d i e W e l t in ein u n e n d l i c h e s
Bretons
Stimme
ist
heute
die
Stimme
eines
Unterlegenen.
Er
Chaos
v o n h ö c h s t e r S c h ö n h e i t u n d O r d n u n g a u f l ö s e n . A u s d e r R e v o l u t i o n ist e i n e w e i t h i n herrschende
künstlerische
Mode
geworden,
erschrickt u n d bescheiden wenigstens
vor
welcher
für die K u n s t
der
eigentliche
die R e v o l t e u n d d i e
Urheber Gefahr
des N e u e n r e t t e n w i l l . D e r K e i m z u d i e s e r E n t w i c k l u n g l a g a b e r in d e r B e w e g u n g selbst, erste
als sie sich in d e r Z e r s t ö r u n g surrealistische
Manifest
endet
um mit
der Zerstörung einem
weiten
willen
Lob
erschöpfte.
des
Chaos,
c o m p l e t d e distraction auquel nous espérons bien p a r v e n i r i c i - b a s " , das Ziel Z e r s t ö r u n g a b e r b e s c h r ä n k t sich a u f d e n e i n z i g e n r ä t s e l h a f t e n o d e r Satz
„L'existence
Zerstörung
und
est a i l l e u r s " . 4 6 A n zaghafter
dieser D i s k r e p a n z
Andeutung
eines
Ziels
zwischen
mußte
der
Das
„L'état der
nichtssagenden hemmungsloser
Surrealismus
L e b e n s g e f ü h l z u g r u n d e g e h e n . Ü b r i g b l i e b n u r d i e H a l t u n g des e w i g e n
als
Revolu-
t i o n ä r s gegen die P o p a n z e n der Zeit, der A u f s t a n d der J u g e n d gegen die O r d n u n g der Väter,
der
Kampf
Partisanen
der
Nivellierung
gegen die
„Verteidiger
durch
den
der O r d n u n g ,
gegen alle
Kopf".47
44
B r e t o n , M a n i f e s t e s 193 ff., U b e r s e t z u n g : Surrealismus ed. Bosquet 6 3 f .
45
e b d a . 2 0 3 ff., Ü b e r s . Surrealismus 6 4 .
40
e b d a . 7 5 (1er M a n . ) . Breton, Manifestes 100 (Second Man.).
47
großen
Die geistigen Grundlagen
134
des Spiels
Tiecks Unsinnsfiguren sind verkleidete harmlose Bürger; die Programmsurrealisten sind Literaten mit harmlosen heilbaren Komplexen. In ihrem aufklärerischen Optimismus griffen sie nicht zum Revolver, um das Chaos zu erzwingen, sondern zu Feder und Pinsel; sie glaubten eine falsche Zivilisation durch Schreiben, Dichten und Malen zerstören zu können. Mit Dichten und Malen aus dem Unbewußten, mit Traumerzählung, automatischem Schreiben sollten die Tyrannei der Logik über das Leben und mit dieser alle falschen Werte der Religion, Moral und Familie, alle Ungerechtigkeit in der Welt zerstört und der Mensch endgültig befreit werden. S o ist der Surrealismus auch nidit unter- oder unmensdilich, sondern in seinem Glauben an die Allmacht des Geistes zutiefst mit dem Glauben an den Menschen verbunden.
Ironisch müssen den Surrealisten
während des Krieges
die
Sätze
Bretons aus dem zweiten Manifest in den Ohren geklungen haben: „Der einfachste surrealistische A k t besteht darin, mit Revolvern in den Händen auf die Straße zu gehen und, so viel man kann, aufs Geratewohl in die Menge zu schießen". ,,!t 5 0 wenig Schlegels und Tiecks Ironie die ganze Romantik bestimmen, so wenig lenken heute Bretons Ideen alles, was sich Surrealismus nennt. Doch sei hier von den Surrealisten, die nie Anhänger Bretons waren, nur einer erwähnt, den ein chaotisches Weltgefühl in der Verbindung freiesten Gedankenspiels mit brutalstem Realismus stärker über die Grenzen der Sprache Surrealisten. Henri wertet sofort
Michaux
hinaustreibt als die zünftigen
greift den Bau der Sprache an: „Die Sprache ent-
den Zustand, den man wiedergeben wollte. Über eine gewisse
Bizarrerie hinaus bringen die Worte nichts ein". 4 9 Diese Sprachskepsis, die ihn vom Kreis Bretons trennt, führt Michaux oft zu einer Art „Esperanto lyrique", 5 0 das sich der reinen Lautdichtung nähert; doch erinnern diese Lautfolgen noch so stark an die W ö r t e r des allgemeinen Sprachschatzes, daß man glaubt, einen Sinn herauslesen zu können. So mischen sich schon im Sprachkörper Wirklichkeit und Unwirklichkeit aufs engste. D e r Gegenstand, der solche halb Laut-, halb W o r t körper hervorruft, ist an sich unwesentlich; alles wird in das Zwielicht einer chaotischen, nur halbgeborenen Sprache getaucht; doch sind die Bildungen besonders heftig in Rauschzuständen, in K a m p f - (Le Grand Combat 5 1 ) oder Alkoholrausch : Saouls Magrabote, mornemille et casaquin fortu mon père, forsi ma mère nous allâmes à trois giler dans la rigole rigolants à la rigole de tout ce qui rigole magrapon et loupedieu ebda. 94. Article sur Gangotena (Cahiers du Sud) zitiert nach René Bertelé, Henri Michaux, une étude, un choix de poèmes et une bibliographie, Poètes d'Aujourd'hui 5, Paris Ed. Seghers 1946, 45; zu Michaux vgl. auch: Robert Bréchon, Michaux, Paris nrf Gallimard 1959; Philippe de Coulon, Henri Midiaux, poète de notre société, Neuchâtel La Baconnière 1949. 8 0 Auf der Suche nach einem Alphabet, das überall verstanden wird, Bertelé aaO 18, 185. 5 1 in „Qui je fus" (Paris nrf Gallimard 1927), Bertelé aaO 83 f. 48
49
Das Chaos als höchste
Schönheit
und
135
Ordnung
indifférents désormais à toutes questions d'épingles, de ristourne sur les petits pois et d'autres menus menus de menus riens, perdus et contents sur un plateau de 400.000 mètres dans toutes les dimensions, à toutefois près la hauteur, qui est moins considérable dans l'ensemble. 52 I m gleichen T o n dichtet Michaux ein Apokalypse, die in ihrer Unsinnigkeit an den T o p o s der verkehrten W e l t anknüpft, ein Chaos stärksten Grauens und E n t setzens heraufbeschwört
und
in der L e e r e und
im Nichts
endet. Michaux
ist
vielleicht der einzige Surrealist, der nicht in der Zerstörung der Oberfläche stecken geblieben ist, sondern mit einer erstaunlichen G e w a l t der Bilder zum eigentlichen C h a o s durchdringt. A m Schluß des Gedichts bleibt offen, ob er das C h a o s
im
Rausch preist oder es von G r a u e n geschüttelt bejammert. Diese A m b i v a l e n z v e r stärkt noch das Entsetzen. In Michaux' W e r k ist das Spiel noch einmal bis zu jenen Grenzen getrieben, w o es als dämonischer Schrecken auf den
Spielenden
zurückschlägt: L'Avenir Quand les mah, Quand les mah, Les marécages, Les malédictions, Quand les mahahahahas, Les mahahaborras, Les mahahamaladihahas, Les matratrimatratrihahas, Les hondregordegarderies, Les honcucarachoncus, Les hordanoplopais de puru para puru, Les immoncéphalcs glosscs, Les poids, les pestes, les putréfactions, Les nécroses, les carnages, les engloutissements, Les visqueux, les éteints, les infects, Quand le miel devenu pierreux, Les banquises perdant sang, Les Juifs affolés rachetant le Christ précipitamment, L'Acropole, les casernes changées en dioux, Les regards en chauves-souris, ou bien en barbelés, en boîte à clous, De nouvelles mains en raz de marée, D'autres vertèbres faites de moulins à vent, Le jus de la joie se changeant en brûlure, Les caresses en ravages lancinants, les organes du corps les mieux unis en duels au sabre, Le sable à la caresse rousse se retournant en plomb sur tous les amateurs de plage, Les langues tièdes, promeneuses passionées, se changeant soit en couteaux, soit en durs cailloux, Le bruit exquis des rivières qui coulent se changeant en forêts de perroquets et de marteaux-pilons 52
ebda. 85.
136
Die geistigen Grundlagen
des Spiels
Quand Y Epouvantable-Implacable se débondant enfin, Assoira ses mille fesses infectes sur ce Monde fermé, centré, et comme pendu au clou, Tournant, tournant sur lui-même sans jamais arriver à s'édiapper, Quand, dernier rameau de l'Etre, la souffrance, pointe atroce, survivra seule, croissant en délicatesse, De plus en plus aiguë et intolérable . . . et le N é a n t têtu tout autour qui recule comme la p a n i q u e . . . Oh, Malheur! Malheur! O h ! dernier souvenir, petite vie de chaque homme, petite vie de chaque animal, petites vies punctiformes; Plus jamais. O h ! vide! O h ! Espace! Espace non stratifié . . . O h ! Espace, Espace! 43 D e m französischen Surrealismus kann die deutsche Literatur der ersten H ä l f t e unseres Jahrhunderts nichts Ähnliches gegenüberstellen. Als einziger Künstler nähert sich ihm Kurt
Schwitten.M
dichtender
Doch ist bei ihm alles viel spielerischer
als selbst bei Breton und bleibt auf halbem W e g e stehen. M a n könnte S c h w i t t e n einen Tieck des zwanzigsten Jahrhunderts nennen; aber es fehlt ihm die sprüh e n d e Phantasie, die dessen K o m ö d i e n noch heute a u f g l ä n z e n läßt. D a s W o r t . M E R Z " , mit dem Schwitters seine Kunst benennt, bedeutet gar nichts
und
scheint aus dem zufälligen Auftauchen dieser vier Buchstaben des Wortes „ k o m merziell" in einem Klebebild hervorgegangen zu sein; das N a c h w o r t zu
einer
Gedichtsammlung „definiert" Merz so: Selbstbestimmungsredit der Nachwort
Künstler
HimmelweltenEisen zelte, Bahnhof und Paul Steegemann. 65 Aus diesem Grunde entschloß ich midi zur Herausgabe dieser Sammlung meiner Gedichte, amen. Was heißt dichten? 2 x 2 = 4, das ist noch kein Gedidit. (Luftlinie Syrakus, Butterbrot, Zentralheizung.) Es ist sehr schwer eine Aussage dichterisch zu verwenden. Stramm schlagen tausend, ja sogar Millionen. Stramm war der große Dichter. Die Verdienste des Sturm um das Bekanntwerden Stramms sind sehr. Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr. Abstrakte Dichtung. 53 aus „Mes Propriétés" (Paris Fourcade 1929), zitiert nach Bertelé a a O 113 ff. In neuerer Zeit hat sich Michaux Mescalin-Experimenten verschrieben, die dem Bewußtsein einen „mécanisme d'infinité" verleihen sollen, vgl. Henri Michaux, Misérable Miracle, Monaco Ed. du Rocher 1956; L'Infini turbulent, Paris Mercure de France 1957 (deutsch: F r a n k f u r t a. M. 1961); Paix dans les brisements, Paris Flinker 1959; Connaissance par les gouffres, Paris nrf Gallimard 1961. M zur Biographie usw. vgl. The Dada Painters and Poets, An Anthology ed. by Robert Motherwell, New York Wittenborn, Schultz 1951, S. X X I ff„ 56 ff., 162 f f „ 275 ff., 386 f f . (mit Bibliographie); Lothar Sdireyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1956, 114 ff.; Stefan Themerson, Kurt Schwitters in England, London Gaberbocchus Press 1958; Raoul Hausmann, Courrier-Dada, Paris Le Terrain Vague 1958, bes. 109 ff.; einige hübsche Erinnerungen an Schwitters auch in: Georg Muche, Blickpunkt, München 1961, 175 ff. 05 Steegemann ist sein Verleger.
Das Chaos als höchste Schönheit und
Ordnung
137
Die abstrakte Dichtung wertet Werte gegen Werte. Man kann auch .Worte gegen Worte' sagen. Das ergibt keinen Sinn, aber es erzeugt Weltgefühl, und darauf kommt es an. (Der Gemeine muß jedem Offizier Achtung und Gehorsam erweisen.) Übertragung der Weltanschauung des Künstlers. (Hühneraugenmittel in der Friedensgesellschaft, Kriegsware.) Totalerlebnis grünt Hirn, jedoch auf die Formung kommt es an. Reim, Rhythmus und Ekstase dürfen nie zur Manier werden. (Bei eintretender Dunkelheit werden dieselben gratis ergänzt, also nur einmalige Ausgabe.) Das ist die abstrakte Dichtung. Die Merzdichtung ist abstrakt. Sie verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen. (Das ist auch fruchtbar.) Diese Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr. (Das ist auch fruchtbar.) Es gibt keinen Elefanten mehr, es gibt nur noch Teile des Gedichtes. (Das ist schrecklich.) Und ihr? (Zeichnet Kriegsanleihe!) Bestimmt es selbst, was Gedicht, und was Rahmen ist. Anna Blume verdanke ich viel. Mehr noch verdanke ich dem Sturm. Der Sturm hat meine besten Gedichte veröffentlicht und meine Merzbilder zuerst in Kollektion gezeigt." Unschwer lassen sich aus diesem Quodlibet die eigentlichen Absichten des Künstlers herausschälen: seine abstrakte Dichtung will keinen Sinn bieten, sondern ein Weltgefühl erzeugen — w i e sehr viele Unsinnspoesien. S c h w i t t e n klebt fertige Sätze aus Zeitungen, Katalogen, Gesprächen usw. zusammen, um so den Leser in ein Chaos z u stürzen, das ihn frei machen soll, indem es ihm vor allem den Verstand, das Werkzeug der Ordnung, nimmt. D i e Merzdichtung ist so konstruiert, „daß du mit v o l l e m Verstand hineingehst und vollständig ohne Verstand herauskommst". 5 7 H a b e n aber einmal der Künstler und sein Publikum den Verstand verloren, dann sind sie wirklich frei in einem Chaos v o n höchster Schönheit, dann fallen alle Schranken der Wertung und sind Werte nur noch Worte, Sprache und Vorstellungen, selbst der Mensch — „Menschen können auch verwendet werden" — nur noch Materialien des Künstlers. Besonders deutlich wird diese Gleichwertigkeit v o n Gegenständen, Lebewesen, Worten und Gedanken im Progamm einer Merzbühne, dessen H a u p t t e i l hier zitiert sei, da Schwitters' Schriften kaum mehr zugänglich sind: Man setze riesenhafte Flächen, erfasse sie bis zur gedachten Unendlichkeit, bemäntele sie mit Farbe, verschiebe sie drohend und zerwölbe ihre glatte Sdiamigkeit. Man zerknicke und turbuliere endliche Teile und krümme löchernde Teile des Nichts unendlich zusammen. Glattende Flächen überkleben. Man drahte Linien Bewegung, wirkliche Bewegung steigt wirkliches T a u eines Drahtgeflechtes. Flammende Linien, schleichende Linien, flächende Linien überquert. Man lasse Linien miteinander kämpfen und sich streicheln in schenkender Zärtlichkeit. Punkte sollen dazwischensternen, sich reigen, und einander verwirklichen zur Linie. Man biege die Linien, knacke und zerknicke Ecken würgend wirbelt um einen Punkt. In Wellen wirbelnden Sturmes rausche vorbei eine Linie, greifbar aus Draht. Man kugele Kugeln, wirbelnd Luft berühren sich. Einander durchdringend zereinen Flächen, Kisten kanten empor, gerade und schief und bemalt. In sich Klappcylinder versinken erdrosselt Kisten Kasten. Man setze Linien ziehend zeichnen ein Netz lasurierend. Netze umfassen 66 57
Kurt Schwitters, Anna Blume, Dichtungen, Hannover 1919, 36 f. Anna Blume, 11.—13. Tausend 1922, 40.
Die geistigen
138
Grundlagen
des
Spiels
verengen Qual des Antonius. Man lasse Netze brandenwogen und zerfließen in Linien diditen Flächen, Netzen die Netze. Man lasse Schleier wehen, weiche Falten fallen, man lasse Watte tropfen und Wasser sprühen. Luft bäume weich und weiß durch tausendkerzige Bogenlampen. Dann nehme man Räder und Achsen, bäume sie auf und lasse sie singen (Wasserriesenüberständer). Achsen tanzen mitterad rollen Kugeln Faß. Zahnräder wittern Zähne, finden eine Nähmaschine, welche gähnt. Empordrehend oder geduckt, die Nähmaschine köpft sich selbst, die Füße zu oben. Man nehme Zahnarztbohrmaschine, Fleischhackmaschine, Ritzenkratzer von der Straßenbahn, Omnibusse und Automobile, Fahrräder, Tandems und deren Bereifung, auch Kriegsersatzreifen und deformiere sie. Man nehme Lichte und deformiere sie in brutalster Weise. Lokomotiven lasse man gegeneinander fahren, Gardinen und Portieren lasse man Spinnwebfaden mit Fensterrahmen tanzen und zerbreche winselndes Glas. Dampfkessel bringe man zur Explosion zur Erzeugung von Eisenbahnqualm. Man nehme Unterröcke und andere ähnliche Sachen, Schuhe und falsche Haare, auch Schlittschuhe und werfe sie an die richtige Stelle, wohin sie gehören, und zwar immer zur richtigen Zeit. Man nehme meinetwegen auch Fußangeln, Selbstschüsse, Höllenmaschinen, den Blechfisch, in dem man Puddings backt (Kritiker) und den Trichter, natürlich alles in künstlerisch deformiertem Zustande. Schläuche sind sehr zu empfehlen. Man nehme kurz alles, von der Schraube des Imperators bis zum Haarnetz der vornehmen Dame, jedesmal entsprechend den Größenverhältnissen, die das Werk verlangt. Mensdien selbst können auch verwendet werden. Menschen selbst können auf Kulissen gebunden werden. Menschen selbst können auch aktiv auftreten, sogar in ihrer alltäglichen Lage, zweibeinig sprechen, sogar in vernünftigen Sätzen. Nun beginne man die Materialien miteinander zu vermählen. Man verheirate z. B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a. Die Kugel gebe man der Fläche zum Fraß und eine rissige Ecke lasse man vernichten durch 22 tausendkerzige Bogenlampenschein. Man lasse den Menschen auf den Händen gehen und auf seinen Füßen einen Hut tragen, wie Anna Blume. (Katarakte.) Sdiaum wird gespritzt. Und nun beginnt die Glut musikalischer Durchtränkung. Orgeln hinter der Bühne singen und sagen: ,Fütt Fütt'. Die Nähmaschine rattert voran. Ein Mensch in der einen Kulisse sagt: ,Bah'. Ein anderer tritt plötzlich auf und sagt: ,Ich bin dumm'. (Nachdruck verboten.) Kniet umgekehrt ein Geistlicher dazwischen und ruft und betet laut: , 0 Gnade wimmelt zerstaunen Halleluja Junge, Junge vermählt tropfen Wasser.' Eine Wasserleitung tröpfelt ungehemmt eintönig. Acht. Pauken und Flöten blitzen Tod, und eine Straßenbahnschaffnerspfeife leuchtet hell. Dem Mann auf der einen Kulisse läuft ein Strahl eiskaltes Wasser über den Rücken in einen Topf. Er singt dazu eis d, dis es, das ganze Arbeiterlied. Unter dem Topfe hat man eine Gasflamme angezündet, um das Wasser zu kochen, und eine Melodie von Violinen sdiimmert rein und mädchenzart. Ein Schleier überbreitet Breiten. Tief dunkelrot kocht die Mitte Glut. Es raschelt leise. Anschwellen lange Seufzer Geigen und verhauchen. Licht dunkelt Bühne, auch die Nähmaschine ist dunkel. 58 Schwitters' M e r z t r ä u m e lösen die W e l t in ein C h a o s auf. Erstaunlich jedoch ist, wie dieses aussieht: es beginnt mit abstrakten Linienspielen und endet in allerlei Überraschungseffekten und witzigen Unsinnsscherzen. E i n solches M e r z d r a m a h a t schon h u n d e r t J a h r e v o r Schwitters G r i l l p a r z e r geschaffen, wenn er seine ludlamitisdie P a r o d i e auf den Freischütz schließt: 58
Anna Blume, 1. Aufl. 31 ff.
Das Chaos als höchste Schönheit und
Ordnung
139
Fünfzig Grenadiere treten auf, laden ihre Gewehre mit Kugeln, zielen damit aufs Publikum und setzen dadurch diejenigen, die sich noch nicht fürchten, in wirkliche Furcht. N . B. vorher werden alle Ausgänge versperrt. [Sirocco, der wilde Jäger:] Hiemit lästere ich Gott, verfluche mich selbst, ermorde mich, verdamme mich, alle, alles (Die letzte Galerie fällt unter schrecklichem Gekrach ein, die Gequetschten schreien entsetzlich.) Es ist vollbracht. (Hinter der Kulisse bricht Feuer aus. Donnerschlag. Der Vorhang fällt.) 5 9 Schwitters ist n u r w e n i g e r w i t z i g als G r i l l p a r z e r . Ist d a m i t a b e r wirklich
das
b e f r e i e n d e C h a o s erreicht? Sicher nicht, d e n n S c h w i t t e r s ' B ü h n e n t r ä u m e sind eine direkte
Fortsetzung
der
Spiele Tiecks.
Was
dieser
noch
sprechenden
Tieren,
B l u m e n , aus d e r R o l l e f a l l e n d e n Schauspielern u n d a n d e r n T h e a t e r l e u t e n
über-
läßt, übernehmen nun moderne Gegenstände, Nähmaschinen, Lokomotiven
usw.
Bei Tieck soll sich die Sprache in ein w i t z i g f u n k e l n d e s W o r t s p i e l auflösen, bei Schwitters ist sie n u r noch G e r ä u s c h l a u t einer „ U r s o n a t e " . 6 0 D i e M e r z b ü h n e ist eine m o d e r n e F o r m d e r L i t e r a t u r k o m ö d i e , in welcher a n die Stelle d e r L i t e r a t u r satire d i e F r e u d e a m reinen U n s i n n g e t r e t e n ist. D e r K ü n s t l e r h a t sein Schaffen M e r z g e n a n n t , u m es als „ A n t i - D a d a " 6 1 v o n D a d a z u t r e n n e n ; a b e r M e r z spielt doch w i e d e r D a d a i s m u s meist an d e r O b e r f l ä c h e . S c h w i t t e r s ist z u sehr Spieler, u m in die T i e f e zu d r i n g e n , v o r allem aber z u s t a r k an die O r d n u n g gefesselt, die er
auflösen
will.
Das
beweist
sein
SchafFensprozeß:
nach
dem
Vorbild
der
Papiers-colles v o n Picasso u n d B r a q u e zu B e g i n n des K u b i s m u s k l e b t u n d n a g e l t er als b i l d e n d e n K ü n s t l e r allerlei K e h r i c h t , H o l z s t ü d t d i e n , D r ä h t e , K n ö p f e , F a h r k a r t e n , Z a i t u n g s f e t z e n , L a p p e n usw. auf B l ä t t e r o d e r L e i n w a n d a u f , v e r b i n d e t sie hie u n d d a m i t a b s t r a k t e r M a l e r e i u n d n e n n t sie nach e i n z e l n e n t y p o g r a p h i s c h e n Fragmenten
„ D a s U n d b i l d " , das „ J a - w a s ? - B i l d " etc. 6 2 D e m D i c h t e r S c h w i t t e r s
d i e n e n Zeitungsausschnitte, R e d e - u n d G e s p r ä c h s f e t z e n als M a t e r i a l . A l l dies sind A b f a l l p r o d u k t e der Z i v i l i s a t i o n , also d e r gegebenen O r d n u n g . O b sie w i r k l i c h z u einem n e u e n C h a o s verschmelzen, h ä n g t allein v o n d e r schöpferischen K r a f t des K ü n s t l e r s u n d seiner Vision ab. D i e S u r r e a l i s t e n g l a u b t e n in d e n A u t o m a t i s m e n u n d im T r a u m diesen S c h m e l z o f e n g e f u n d e n zu h a b e n ; sie verwechselten eine künstlerische T e c h n i k m i t d e r Vision. Schwitters ü b e r l ä ß t die E l e m e n t e des Bildes o d e r G e d i c h t e s d e m Z u f a l l u n d greift b l o ß in d e r A n o r d n u n g h e l f e n d ein. Beides a b e r v e r s a g t bei i h m ; d e r W i n d des Z u f a l l s , d e r d u r c h d i e A b f a l l p r o d u k t e w e h t , g e n ü g t nicht, u m diese a n e i n a n d e r z u b i n d e n , u n d Schwitters' h e l f e n d e H a n d ist zu schwach, u m t r a d i t i o n e l l e B i l d a n o r d n u n g e n zu ü b e r w i n d e n . Bei aller S u b j e k t i v i t ä t eines solchen U r t e i l s w i r d m a n feststellen müssen, d a ß seine B i l d e r u n d Grillparzer, Stle. Werke, Hist.-krit. Ausg. ed. Sauer und Backmann, Wien 1909—48, 1.8/9 N r . 124, S. 51 f. 60 Kurt Schwitters, Ursonate, Hannover 1932. 01 so im Titel von Merz 8: „Die Kathedrale. Merz 8 — Antidada", Hannover 1920. 03 f ü r das bildnerische Werk vgl. Bibliographie in The Dada Painters and Poets; Katalog Schwitters, Galerie Berggruen Paris 1956; Katalog Arp-Schwitters Kunsthalle Bern 1956.
Die geistigen Grundlagen
140
des Spiels
Gedichte zwar den R e i z des Einmaligen besitzen, d a ß sie sich aber nidit zu einem wirklich neuen Chaos zusammensdiließen, sondern uns nur als Zusammenstellung von Einzelteilen in Erstaunen setzen. Schwitters gelingt es nicht, auf den Beschauer oder Leser etwas überströmen zu lassen, was dieser in der Intensität der Aussage als eine A r t Sdiönheit, sei es audi eine grauenhafte, empfindet.
Wir
können uns an seiner Verhöhnung der Zivilisation freuen und über seinen Unsinn lachen; aber innerlich ergreift er uns so wenig wie Tiecks Spiel. E i n e Parodie auf eine Todesanzeige, auch wenn sie mit Zwischenbemerkungen geschmückt ist, genügt eben nicht, um über die Ordnung der Zeit hinauszukommen: Eimer Heute starb sanft nach langer geduldigem Leiden, plötzlich (Hundeknochen das Gehirn überwälzt 4-tausend) mein lieber Mann, unser guter Vater, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Sohn und Tochter: Herr Lagerist Wilhelm, Maria, Christine Glotzauge. (Klammeraffe.) Sie war Ein treuer B E A M T E r und stetS bemüHt, seiNe geschäfte zu unSereR ZufrieDenheit zufühRen. (Das ist die D I E ZwiEbel.) — Behauptungen, wie die, daß ich nur mit einem Hemde bekleidet in den Baum gestiegen sei und dort den Taifun gelesen habe, habe, sind unwahr.* 3
Schwitters kann ohne unsere Zivilisation mit all ihren Gewohnheiten
weder
malen noch dichten, er kann nicht zum ursprünglichen Chaos durchdringen, weil ihm ja dort sein Spielzeug fehlen würde und er nadet dastünde. D a s zeigt sich gerade am einzigen berühmten Merzgedicht „An A n n a B l u m e " , das als Ausdruck moderner literarischer Freude am Unsinn und als Sinnbild schöpferischer Schwäche wirklich ein U n i k u m ist. Schon der Ruhm, den es genießt, macht uns mißtrauisch. D a m i t ein Gedicht derart wirken kann, muß es trotz allem Neuen in der T r a d i tion verankert sein. Tatsächlich ist es das traditionell-unsinnige Liebesgestammel eines schwärmerisch hochherrschaftliche
veranlagten
Jünglings
mit
Dienstmädchen
Anna,
durch
lockigem
Haar
Einschiebsel
an
aller
das
brave
Art,
durch
grammatische Spiele, Anmerkungen und W o r t w i t z e ins Lächerliche gezogen, wie wir das von vielen Lustspielen her kennen. Nestroy hätte die Zwischenbemerkungen einem Lauscher in den Mund gelegt, das Publikum hätte über den Unsinn herzlich gelacht; aber niemand hätte wie Schwitters von „künstlerisch angeordnetem Unsinn"® 4 gesprochen, geglaubt, vor einer neuen Kunstrichtung zu stehen oder gar in das ursprüngliche Chaos gestürzt zu werden. An Anna
Blume
O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir! — Du deiner dich dir, ich dir, du mir. — Wir? Das gehört (beiläufig) nicht hierher. Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist — — bist du? — Die Leute sagen, du wärest, — laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht. Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände, auf den Händen wanderst du. 8 3 Anna Blume, 11.—13. Tausend, 51; Taifun = Hermann Essig, T a i f u n , Leipzig 1919 (Anti-„Sturm"-Roman). 9 4 Merz, Der Ararat 2 (1921), 3 ff.
Das Chaos
als höchste
Schönheit
und
Ordnung
141
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir! — Du deiner didi dir, ich dir, du mir. — Wir? Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut. Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute? Preisfrage: 1. Anna Blume hat ein Vogel. 2. Anna Blume ist rot. 3. Welche Farbe hat der Vogel? Blau ist die Farbe deines gelben Haares. Rot ist das Girren deines grünen Vogels. Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe dir! — Du deiner dich dir, idi dir, du mir, — wir? Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste. Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen. Dein Name troptt wie weiches Rindertalg. Weißt du es, Anna, weißt du es schon? Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: ,a-n-n-a'. Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir! 6 5
c) Karl Valentin Kurt
Schwitters
Verse der A n n a
benützt
hie und
B l u m e wie „Blau
da
volkstümliche
Spielelemente. 1
Einzelne
ist die F a r b e deines gelben H a a r e s "
gehen
gewiß a u f das Spiel von „ D u n k e l w a r ' s , der M o n d schien helle" zurück. Aus der dadaistischen Zeitschrift „ P r o v e r b e " und den „ 1 5 2 P r o v e r b e s mis au goût du j o u r " von P a u l E l u a r d und B e n j a m i n P é r e t 2 ü b e r n i m m t er das Unsinnssprichwort H o h n auf die B a n a l i t ä t des Alltagslebens: „Fliegen haben kurze Beine. —
als Eile
ist des W i t z e s W e i l e . . . u s w . " , 3 ein Spiel, das heute — wie so manches in dieser Arbeit Besprochene — bei Ionesco ( z B . in „ L a C a n t a t r i c e c h a u v e " ) gesellschaftsfähigere fröhliche U r s t ä n d feiert. D i e „ B a n a l i t ä t e n " sind eine W e i t e r f o r m u n g des Beispielsprichworts
und
anderer
Gattungen
volkstümlicher
Unsinnspoesie.
In
diesen bricht aber oft der Geist der namenlosen Anarchie heftiger aus als in der L i t e r a t u r . In einem einfachen Vers wie Ick sitze da und esse Klops. Uff eemol kloppts. Ick warte, staune, wundre mir, Uff eemol geht sie uff, die Tür. Nanu denk ick, ick denk nanu! J e t z t ist sie uff, erst war sie zu. ebda. 333 ff.
ir-
164
Die gj:s>igcn Grundlagen des Spiels
lichen deutschen vor allem darin, daß sie für Kinder geschrieben sind. Wir begegnen hier zum erstenmal Unsinnspoesien, die 9ich bewußt an das Kind wenden, und damit der wichtigsten Quelle der Werke von Lear und Carroll, deren Erfolg die englische Nonsensetradition begründete. Der englische Viktorianer, dessen College keine Alkoholromantik aufkommen ließ, konnte seinem Spielunsinn nicht nur im University Wit, sondern auch im Kinderland freien Lauf lassen, das in Deutschlaad seit der Romantik heiliger Boden war. Es hat der Zeit Lears und Carrolls in Endland gewiß nicht an Verständnis für das Kind gefehlt, und doch treibt dieses in den Augen des Durchschnittsviktorianers redit eigentlich Nonsense. Darin klingt ein Ton des achtzehnten Jahrhunderts nach, wo ein Oliver Goldsmith Kinderwelt und Kindervers liebte, diesen aber doch in der „History of Little Goody Twoshoes" (ca. 1765 oder 1766) 2 9 und besonders in „Mother Goose's Melody: or, Sonnets for the Cradle" (ca. 1765) 2 7 mit unsinnigen Kommentaren — angeblich von berühmten Sdiriftstellern — versah: Little T o m T a c k e r Sings for his supper; W h a t shall he eat? W h i t e bread and b u t t e r : H o w will he cut it, W i t h o u t e'er a knife? H o w will he be married, W i t h o u t e'er a wife?
To be married without a wife is a terrible thing, and to be married with a bad wife is something worse; however, a good wife that sings well is the best musical instrument in the world. — PUFFENDORFF.-'8 Wahrscheinlich wollte Goldsmith damit die 1765 erschienenen „Reliques" Percys parodieren, das Büchlein hätte dann das glciche Schicksal wie Nicolais nidit viel späterer „Feyner kleyner Almanach" (1777/78) gehabt, der auch als Parodie gedacht war und auf dem — nicht auf Herders Sammlung — die ersten wissenschaftlichen Bemühungen um das deutsche Volkslied bis zum Wunderhorn fußten. 2 " Goldsmiths Sammlung ist noch heute eine unsdiätzbare Quelle für den englischen Kinderreim. 30 Der Geist Goldsmiths weht audi durdi Lears und Carrolls Nonsensedichtungen. In die Freude an kindlicher Dichtung misdit sich das Oberlegenheitsgefühl des vernünftigen Erwachsenen, ein Stück aufklärerischer Freude am Skurrilen, freiwillig und unfreiwillig Komischen. Kein englischer Unsinnspoet geht völlig in der Welt des Kindes auf; immer spürt der Leser die leichte Parodie des 2