Deutsche Naturanschauung als Deutung des Lebendigen [Reprint 2019 ed.] 9783486766240, 9783486766233

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German Pages 192 [196] Year 1935

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Die Spannungsgesetze des Lebendigen im Lichte biologischer Erkenntnis
II. Die Spannungseinheit von Erlebnis- und Erkenntnisraum (Bild und Urbild) im Aufbau der wertenden deutschen Naturanschauung
III. Atombild, Analogie und Deutung der Lebenserscheinungen
IV. Die Überwindung des Utilitarismus in der Biologie der Gegenwart
V. Völkergeist, Zeitgeist und Wissenschaft
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Deutsche Naturanschauung als Deutung des Lebendigen [Reprint 2019 ed.]
 9783486766240, 9783486766233

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Deutsche Naturanschauung als Deutung des Lebendigen Von

Hans Andre ♦ Armin Müller Edgar Dacqu? Mit 33 Abbildungen

München und Berlin 1935

Verlag von R.Oldenbourg

Copyright 1935 by N. Olbcnbourg, München und Berlin Printed in Germany Druck von N. Olbenbourg, München

Vorwort Die entscheidende Frage der gegenwärtigen Situation lautet: worauf gründet unser Glaube an das Leben — vorab des deutschen Volkes? Diese Frage soll hier aus der exakten Erkenntnis der realen Wesensgesetze des Lebens beantwortet werden. Diese gibt den wissenschaftlich begründeten festen Ansatzpunkt sowie die klare Zielsetzung für alles, was an Erneuerungswille in unserer Zeit ausgebrochen ist. Der lebens­ pessimistischen Sinndeutung der Gegenwart im „Untergang" Spenglers wird die Erkenntnis der deutschen Naturanschau­ ung entgegengestellt und die große Intuition Schellings von der Überwmdbarkeit der toten Punkte durch die Lehre von der polaren-integralen Selbstüberschreitung des Lebens Er­ gänzt und unterbaut. Ernst Kriecks Wort vom deutschen Volke als dem immer wieder verjüngungsfähigen Volke wird in eine neue lebenswissenschaftliche Perspektive gerückt, die aus der Schau der großen deutschen Natur- und Weltanschauer wie von selbst sich ergibt. Der erste Aussatz erschien (mit etwas anderer Einleitung) zuerst im „Deutschen Volkstum" Wilhelm Stapels (2. Okt.Heft 1934), die vierte Abhandlung von Dr. Armin Müller in den „Kantstudien". Der Aussatz von Edgar Dacque erscheint hier (etwas erweitert) aus dem „Ständischen Leben". Das Klischee für die „Urpflanze" wurde in freundlicher Weise vom Verlag Herder, Freiburg, zur Verfügung gestellt (aus dessen Goethe-Gedenkschrist). Der Unterzeichnete fühlt sich dem Verleger, Herrn Kom­ merzienrat Oldenbourg, für erneutes freundliches Entgegen­ kommen zu besonderem Danke verbunden. Meinem ehemaligen Deutschlehrer, Oberstudienrat Dr. Anton Graßl, widme ich meine drei Abhandlungen in treuem Gedenken.

Prof. Dr. Hanö Andre.

I. Die Spannungsgesehe des Lebendigen im Lichte biologischer Erkenntnis von Hans Andr6..................................................... II. Die Spannungseinheit von Erlebnis- und Erkenntnisraum (Bild und Urbild) im Aufbau der wertenden deutschen Natur­ anschauung von Hans Andr6..................................................... III. Atombild, Analogie und Deutung der Lebenserscheinungen von Hans Andre.............................................................................. IV. Die Überwindung des Utilitarismus in der Biologie der Gegen­ wart von Armin Müller............................................................. V. Völkergeist, Zeitgeist und Wissenschaft von Edgar Dacque .

I. Die Spannungsgesetze des Lebendigen im Lichte biologischer Erkenntnis von

Hans Andre In frischer Lebendigkeit wendet sich der deutsche Geist — der bloßen Tatsachenregistrierung und der bloß mechanistischen Abhängigkeitsverknüpfung der Tatsachen müde geworden — wieder der Wertung der Wirklichkeit zu. Sein tiefstes Bedürfnis ist, die Dinge nicht in einem äußerlichen, sondern in einem inner­ lichen Begründungszusammenhang — gewissermaßen aus ihren Entstehungsplänen heraus — zu beurteilen, und je nach der Übereinstimmung mit diesen ihren Plänen sie zu werten, d. h. das Vorzuziehende, das in gesteigerter Form lebendig Schöpfe­ rische in ihnen, einsichtig zu machen. Typisch für diesen Über­ gang vom künstlich-begrifflichen zum planhast-ideenmäßigen Erkennen ist Goethes Naturanschauung. Die Art und Weise, wie Sinne die Pflanzen nach der Zahl der Staubgefäße ordnete erschien Goethe als eine durchaus künstliche, im Wesen der Sache durchaus unbegründete und darum unfruchtbare Methode. Was Sinne künstlich sonderte, das suchte er naturentsprechend zu vereinigen, indem er die Idee, das ürmodell, den Werdeplan der Pflanze zu ergründen versuchte. Als Abwandlung, als mannigfaltige Steigerungsformen oder Entfaltungsformen dieses Planes, sollte dann auch verständlich sein, was bei den Blütenpflanzen an immer neuen Merkmalen hervortritt. Mit der Idee der „ürpflanze" verband Goethe dann auch ein ver­ tieftes Vorstellungsbild vom Träger des lebendigen Werdens überhaupt. Er führte jedes Werden auf ein „ürsprungsetwas" zurück, das eine polare Scheidung und ünterscheidung in sich einschließt. Den „idealen ürkörper", schreibt er, „mögen wir ihn in unsern Gedanken so einfach konzipieren als möglich, müssen

wir schon in seinem Innern entzweit denken, denn ohne vorher gedachte Entzweiung des einen läßt sich kein drittes Entstehen­ des denken". Er trägt „schon eine gewisse Bestimmbarkeit in sich". Wir haben hier bei Goethe die auch von der deutschen Romantik so stark gepflegte Idee der Polarität, die Entstehung nur als schöpferischen Ar-Sprung im Abstand zweier polaren Maxima und gestaltenden Rhythmus nur aus der Durch­ dringung zweier gegensinniger Prozesse zu begreifen vermag. Aus solchen Grundmodellen und ihren immer höher gestaffel­ ten Stusungsformen ließen sich dann die schöpferischen Werde­ pläne des Lebens entwickeln. Die Frage nach der immer höheren schöpferischen Überwindung des toten Punktes steht bei dieser Entwicklung im Mittelpunkt. Es ist also das Grund­ problem des deutschen Geistes schlechthin, das hier in eine naturphilosophische Beleuchtung treten soll. Wenn die heutige Biologie im Goethischen Sinne nach einem Spannungsmodell des Lebendigen fragt, so ist sie sich zu allererst bewußt, daß das „Wirken" der reale Mittelpunkt ist, aus dem und in dem erst die besondere Beschaffenheit des Wirkens am lebendigen Organismus hervorgeht. Dieses Wirken hat ein echtes Werden zum Ergebnis. Es entstehen z. B. bei der Bildung eines Schmetterlings aus dem Ei oder einer Blüte aus dem Wachstumskegel nacheinander wirklich neue Organe mit neuen wesentlichen Eigenschaften, wie sie vorher in keiner Weise da waren. Somit schließt auch das leben­ dige Wirken selber immer etwas in sich ein, durch welches jenes Reue entsteht und einen Materialgrund, aus dem es entsteht, und beide stehen wie der Magnet zu den zu ordnenden Eisen­ seilspänen in einem vntischen (seinsmäßigen) Spannungsver­ hältnis zueinander. Das lebendige ürmodell ist also seiner ersten Bestimmung nach ein Spannungsmodell und hat sich als solches, z. B. beim Studium der Amphibien-Entwicklung, glän­ zend bewährt. Wir erinnern nur an die genialen Experimente von Spemann. Bei der beginnenden Einstülpung des Itrmundes wurde ein Teil der oberen Armundlippe des Amphi­ bienkeimes herausgenommen und auf der Bauchseite eines anderen Keimes unter das äußere Keimblatt eingepflanzt. An der Stelle, die künftig Bauchhaut geliefert hätte oder die zu­ künftige (präsumptive) Bauchhaut ist, entstand ein Rücken­ tz

marksrohr. In der präsumptiven Bauchhaut muß also eine doppelte Gestaltungsbereitschaft möglich sein; einmal: in der normalen Entwicklung wirklich Bauchhaut zu werden, das andere Mal unter dem Einfluß des eingepflanzten Gewebes Rückenmarkrohr zu werden. Reben der Gestaltungsbereitschaft muß aber jeweils das gestaltungsmächtige Moment noch hin­ zukommen, das die Durchorganisierung wirklich vollzieht. Wenn wir Eisenspäne in ihrer Beziehung zum Magneten betrachten, so sind sie wohl an sich ordnungsbereit, aber nicht ordnungs­ mächtig. Erst unter dem Einfluß des ordnungsmächtigen Mag­ netfeldes gruppieren sie sich im Raume. Und so muß auch im Organismus neben dem gestaltungsbereiten ein gestaltungs­ mächtiger Faktor vorhanden sein. Wir wollen ihn, ohne seine Natur damit näher zu bestimmen, als Gestaltungs- oder Organi­ sationsfeld bezeichnen. Run könnte man sagen, daß, wenn aus der präsumptiven Bauchhaut sich ein Rückenmarksrohr ent­ wickelt, das Organisationsfeld in dem eingepflanzten Gewebe­ stück aus der oberen Urmundlippe sitzt, das Spemann als Or­ ganisator bezeichnet. Dem ist aber nicht so. Denn es geht aus diesem Zellkomplex, wie Versuche wahrscheinlich gemacht haben, nur eine stofflich vermittelte Reizwirkung aus die präsumptive Bauchhaut aus. Der vermittelnde Stoff ist vielleicht Glykogen; die Untersuchungen hierüber sind noch nicht abgeschlossen. Bon Glykogen an sich kann aber keine ordnende Feldwirkung aus­ gehen, wohl aber eine Art informierender Reizwirkung auf die präsumptiven Bauchhautzellen, so daß in ihnen das Organifationsfeld des Organismus nach anderer Richtung sich be­ tätigt als nach der normalen. Wir müssen also sagen, daß in jedem werdenden Teil des Organismus eine Polarität steckt, ein gestaltungsbereiter oder gestaltungsbedürftiger Material­ grund und ein gestaltungsmächtiges Organisationsfeld. Dar­ über wie das Organisationsfeld wirksam ist, entscheidet in vielen Fällen ein Reizstoff, der den werdenden Teil anspricht, aus den er wie mit einer Resonanzwirkung reagiert. Bei der Wirkung solcher Stoffe hat man vielfach an eine „Kontaktwirkung" zu denken. So enthält das Wuchshormon Auxin Kohlenstoffdoppelbindungen. Bon diesen können Schwingungen der Atome und Elektronen durch harmonische Resonanz sich auf andere Moleküle übertragen und chemische Umsetzungen anregen, die

vom Organisationsseld in ganz bestimmte wachstumssördernde oder gestaltungsschöpserische Bahnen gelenkt werden. Immer sind solche chemisch wirksamen Faktoren werkzeuglich, also in funktioneller Eingliederung in das Gestaltungsfeld, wirksam zu denken. Nur so erhalten sie eine ihren rein chemischen Talenten überlegene, gestaltungsschöpferische Wirksamkeit. Die Spannung von Materialgrund und Gestaltungsfeld und der in sie eingebaute, rein auslösend oder werkzeuglich wirksame Faktor ist für das organische Werden also grundlegend. Typisch aber für die organische Gestaltung als solche ist, daß sie sich aus der Grundlage dieser drei Faktoren in einem durch sich selbst zu sich zurückkehrenden und schöpferisch über sich selbst hinaus fortschreitenden Kreisprozeß darstellt, der den toten Punkt immer so weitgehend wie nur möglich überwindet. Wenn der Baum im Frühling unter dem immer kräftiger ein­ wirkenden Sonnenlicht die braunen Knospen entfaltet, so geht von diesen Knospen eine stoffliche Reizwirkung nach unten in den Stamm über und veranlaßt die zwischen Rinde und Holz liegende Schicht, das sogenannte Kambium, neue Leitungsbahnen zu bilden. Durch diese neugebildeten Bahnen strömt rückläufig aus den Wurzeln den Knospen die mineralische Nähr­ lösung des Bodens zu und ermöglicht ihr Wachstum und das Ausschlagen neuer Knospen. Wir bezeichnen diese durch sich selber zu sich zurückkehrende — in Höhen- und Dickenwachstum über sich selbst hinaus fortschreitende — Lebensbewegung des Baumes als seinen „Gestaltungskreis". Dieser Gestaltungs­ kreis kann sich von Jahr zu Jahr erneuern, der Baum kann sich immer mächtiger entfalten und ein hohes Alter erreichen, aber ins Unbegrenzte wachsen kann er nicht. Je weiter für die Wasser- und Nährsalzversorgung der Weg vom Erdreich zu den immer höher sich hinausschiebenden Triebspitzen wird, desto mehr machen sich Ernährungsstörungen fühlbar. Einzelne Äste, besonders die unteren, sterben ab; der Baum lichtet sich, weil er nicht mehr alle Äste gleichzeitig mit Wasser und Nährsalzen versorgen kann. Die Breite der Jahresringe, die in jüngeren Jahren konstant zunimmt, bleibt von einer bestimmten Alters­ grenze an dieselbe, ja nimmt bisweilen sogar ab. Die Unterernäh­ rung der Triebspitzen muß damit Hand in Hand gehen, bis schließ­ lich das ganze Baumindividuum notwendig dem Tode verfällt.

Aber können wir uns nicht Pflanzen denken, bei denen dieses Schicksal vermieden ist? Wir können sie uns nicht nur denken, sondern sie sind in der Natur auch tatsächlich vorhanden. Die Torfmoose, die in dichten Polstern die Hochmoore bilden helfen, sind durch ein ständiges Spitzenwachstum ausgezeich­ net. In gleichem Maße wie die Spitzen der Moore durch Wachstum sich vorwärtsschieben, sterben die untersten Abschnitte ab. In dem dichten Polster, das die Pflanzen bilden, bleiben die Ernährungsbedingungen für die wachsenden Triebspitzen jahrzehnte- und jahrhundertelang die gleichen. Ähnlich er­ reichen auch die aus ihren Wurzelstöcken sich erneuernden Pflanzen in der Regel ein ausreichendes Material. So stirbt z. B. bei dem Buschwindröschen, der Anemone, mit dem Ein­ gehen des oberirdischen Teiles auch der älteste Teil des noch lebenden Wurzelstockes ab und entleert seine Reserven in die Spitze, die im neuen Jahr einen neuen Trieb bildet. Von einem natürlichen Tod der perennierenden Pflanze selber ist nichts bekannt. Während bei der perennierenden Pflanze derselbe Ge­ staltungstrieb sich von Jahr zu Jahr erneuert, entstehen da­ durch, daß sich eine Pflanze durch einen Steckling vermehrt, zwei Gestaltungskreise. Durch Pfropfen und Okulieren kann ich Knospen oder Spröhchen des einen Gestaltungskreises auf einen anderen überpflanzen. Es ist aber dabei z. B. nicht gleich­ gültig, welche Augen eines Rosenstockes zur Pfropfung ver­ wendet werden. Knospen von sehr langen, nicht blütentragen­ den Zweigen liefern Pflanzen, die zwar rasch wachsen, aber weniger oder keine Blüten bilden; hingegen Knospen von kurzen blütentragenden Zweigen Pflanzen, die reichlich blühen. Eine solche einseitige Übertragung von Sproßeigenschasten, oder, was dasselbe sagt, eine solche Förderung des Exzentrischen, kann bei vielen Pflanzen zur Schädigung der Spezies, ja zu völligem Eingehen derselben führen. Nur durch das Einschalten der sexuellen Fortpflanzung, wodurch die Pflanze ihr bestimmungsbedürstiges Material wieder von Grund aus neu durch­ gestalten und zu ihrer vollen typischen Grundkonstitution wieder neu zurückkehren kann, vermag dann die betreffende Spezies sich wieder zu verjüngen und den toten Punkt zu über­ winden.

S

Diese Regel erhält nun aber ihre höchste Bedeutung in dem stammesgeschichtlichen Wurzelstock der Organismen. Hier hat ja die Idee des Typischen, weil sie den Stammes­ charakter zum Inhalt hat, noch eine viel umfassendere Be­ deutung. Um hier das Gesetz der Aberwindbarkeit des Todes zu erläutern, gehen wir am besten von einem Beispiel der ver­ gleichenden Embryologie aus. Die am wenigsten einseitig spezialisierte von allen Gliedmaßenformen ist die menschliche Hand. Sie ist weniger spezialisiert als die Flosse, die einseitig Ruder ist, weniger als die Gliedmaßen der Fledermaus, die einseitig Flügel sind, weniger auch als der Pferdefuß, dessen Gebrauch viel zu eingeschränkt ist. Aber gerade weil sie so wenig einseitig angepaßt ist, ist sie das vielseitigste Organ. Wohl sind die Pfote des Hundes, der Flügel der Taube, in ihrer ursprüng­ lichen embryonalen Anlage keine eigentliche Hand, sondern dort ein werdendes Lauf-, hier ein werdendes Flugwerkzeug. Aber in ihren Grundproportionen sind sie handähnlich, und je mehr sie sich entwickeln, desto mehr entfernen sie sich von dieser Handähnlichkeit. Rur die menschliche Hand selber erinnert in ihrem ausgewachsenen Zustande stark an ihren Ursprung. Ähnlich ist es mit dem Haupt des Menschen. Betrachtet man den Iugendzustand des Affenschädels und des Menschen­ schädels, so erweisen sich beide in ihrer geringen Spezialisierung sehr ähnlich. Diese ursprüngliche Form beider wird bei der Weiterentwicklung des menschlichen Embryos wenig weiter­ verändert, beim Affen dagegen ganz einseitig spezialisiert. Beim Affen erfährt die Hirnkapsel im Vergleich zum unteren Teil des Schädels eine wesentliche Verkleinerung. Der Unterkiefer und mit ihm der Oberkiefer verlängert sich wesentlich zur Ausnahme des viel massiveren Gebisses, die Eckzähne werden einseitig äffisch vergrößert und bedingen an Stelle des Bogens die Winkelbildung. Es bildet sich durch diese einseitige Speziali­ sierung, wie Poppelbaum geistreich bemerkt, eher ein Gemäule als ein Gesicht aus. Mit der einseitigen Sonderanpassung be­ gibt sich die stammesgeschichtlich sich entwickelnde Form in eine Senkung ihres gestaltschöpferischen Gefälles, das sich in der Geschichte heute ausgestorbener Lebensformen bis zur schließlichen Zerstörung des Arttypus durch extreme Steigerung der Variabilität, Riesenwuchs, Hypertrophien einzelner Organe,

Äberspezialisierung und Häufung pathologischer Erscheinungen fortgesetzt hat*). Die Menschwerdung dagegen, so können wir aus dieser vergleichend stammesgeschichtlichen Feststellung schließen, hat aus dem gestaltungsbedürftigen Materialgrund aller Gestal­ tung die kindlichste, die ursprünglichste, die am wenig­ sten einseitig spezialisierte Form herausgeführt. Sie ist damit zwar an der „Grenze aller Formen" angelangt, aber durch sie hat zugleich das Leben den toten Punkt auch an der Wurzel überwunden. Denn der Mensch ist, wie Herder ein­ mal treffend sagt, zugleich wiederum das ewig unausgebildete aller Geschöpfe, weil er geistig immer wieder in die Ursprünglichkeit des Lebens zurückkehren kann. Wie das zu verstehen ist, das wird uns erst deutlich, wenn wir die Lebenskreise von Pflanze, Tier und Mensch nach dem Polaritätsmodell noch etwas genauer zu scheiden und zu unter­ scheiden versuchen und dabei aus die außerordentlich tiefen Ana­ logien zurückgreifen, die zwischen „Zeugen" und „Erkennen" bestehen. Die Pflanze ist dann der rein körperliche Zeugungs­ organismus schlechthin und vermag darüber hinaus nicht frucht­ bar zu sein. Dieses Zeugen ist weiter nichts als die Offenbarmachung der Natur der Eltern durch die physische Verähn­ lichung mit ihnen. Aber es gibt auch ein Offenbarwerden eines Sachverhaltes nach Analogie der hinweisenden Verähn­ lichung des Bildes mit dem, was es darstellt, und mit ihr tritt zum generativen Pol der körperlichen Zeugung beim Tier eine Art Erkenntnispol hinzu. Generativer Pol und Erkenntnispol stehen aber beim Tier noch in einer unaufgelösten Abhängig­ keit voneinander, insofern der Erkenntnispol allein durch den generativen Pol, also durch die Zeugung hindurch, wahrhaft produktiv werden kann. Denn bei der Handlung des Tieres ist das Prinzip der Wahrnehmung und des Gedächtnisses allein der angeborene oder, besser gesagt, der durch körperliche Zeu­ gung vererbte Instinkt. Stets bilden beim Tier Instinkt und Erfahrung eine strenge artspezisische Einheit. Eine Eidechse z. B. reagiert unmittelbar bei einem leisen Rascheln, weil dieses *) Vergleiche dazu Veurlen, „Das Gesetz der Üderwindbarkeit des Todes in der Biologie". Frankes Verlag, Breslau. 1933.

in der Wechselwirkung des Tieres mit seiner natürlichen Um­ welt eine biologische Bedeutung hat. Sofort richtet sie die Augen und den Kopf nach dem Orte, von dem das Geräusch kommt. Dagegen reagiert die Eidechse nicht auf den Ton einer Klingel, der von ihr gar nicht instinktiv beurteilt wird. Auch wenn man damit regelmäßig etwas Unangenehmes, z.B. einen elektrischen Reiz verbindet, reagiert das Tier nicht. Bei einem Hund dagegen oder einer Maus wird der Ton der Klingel, so­ bald er sich mit einem unangenehmen Reiz verbindet, sofort zu einem Warnungssignal. Auch bei den höchst organisierten Tieren, den Affen, ist der Erkenntnispol nur fruchtbar im Kreis­ lauf durch den generativen Pol hindurch, d. h. auf Grund der ererbten artspezifischen Einheit von Instinkt und Erfahrung. Wenn ein Asse ein gerades Drahtstück als Stock benützt zur Her­ beischaffung einer Frucht außerhalb des Käfigs, so ist der Ge­ brauch eines solchen gertenähnlichen Mittels nicht befremdend. Denn diese Formqualität spielt auch in der natürlichen Umwelt dieses Baumtieres eine Rolle. Sobald man aber das Draht­ stück zu einem Kreis biegt, weiß er nichts damit anzufangen. Anders liegt nun die Sache beim Menschen. Hier kommt zunächst im Erkenntnispol ein völlig neues Polarisierungs­ moment, eine völlig neue Scheidung und Unterscheidung hin­ zu. Der Mensch erkennt und urteilt nicht nur wie das Tier, sondern er vermag auch zu erkennen, daß er erkennt, und kann sein Urteil selbst wiederum beurteilen. Bei ihm ist also, wie Hegel sagen würde, das Erkennen erst wahrhaft zu sich selbst gekommen und erhebt sich mit der höchsten Polgegen­ überstellung zu einer das Tier unendlich übertreffenden Frucht­ barkeit. Wie ist nun daß möglich? Es ist nur dadurch möglich, daß der Mensch sich vom Wesen der Erkenntnis einen Begriff machen kann. Er vermag sich den Erkenntnisakt selbst zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen und einzusehen, daß er seinem Wesen nach ein Akt der Offenbarmachung eines vorher verborgenen Sachverhaltes ist, und zwar eines ihm gegenüber­ stehenden, ihm „vor"-liegenden Sachverhaltes. Der Erkennt­ nisakt ist wahr, wenn er den Sachverhalt so offenbar macht, wie er ist, d. h. wenn das im Erkenntnisobjekt Verstandene mit dessen Wesen auch möglichst übereinstimmt. Das gerecht­ fertigte Bewußtsein für diese Übereinstimmung kann sich nur

in dem immer weiter klärenden Kreisschluß zwischen dem Urteil und der Beurteilung des Urteils und durch die wahrhafte Ver­ mittlung und Bestätigung der Erfahrung hindurch entwickeln. Ohne die Vermittlung und Bestätigung der Erfahrung ist der Urteilskreis ebensowenig schlüssig, wie der Gestaltungskreis sich schließen kann ohne Vermittlung der Reizstoffe, oder der sensomotorische Handlungskreis ohne die Vermittlung der Empfin­ dungen. Denn wohl ist der urteilende Verstand, wie Otto Willmann treffend sagt, sein eigener Lehrer, aber er ist es nicht, ohne zugleich Schüler der Erfahrung zu sein. Wie in dieser Gegensätzlichkeit die Verbindlichkeit des Ver­ standes der Erfahrung gegenüber sich konstituiert, hat Aristo­ teles und haben nach ihm Albert der Deutsche und Thomas von Aquino in der Lehre von der inneren Ideenzeugung zu verdeutlichen versucht. Danach besitzt der tätige Verstand die ideal-enthüllungsmächtige Kraft, in dem erkenntnisbedürftigen Verstand die Erkenntnisform hervorzubringen, aber er bedarf dazu der werkzeuglichen Hilfe des von ihm erkennbar gemachten Phantasiebildes genau so, wie das organisierende Feld der von ihm aktivierten (durch Resonanzwirkung vom Reizstoff bereits angeregten) chemischen Agenzien bedarf, um wirklich gestalt­ schöpserisch zu werden. Thomas entwickelte seine Lehre in Protest gegen Averroes und die jüdisch-arabische AristotelesAuslegung, welche die tiefe Verbindlichkeit des Verstandes der Erfahrung gegenüber leugnete und einem rationalistischen Logokratismus Tür und Tor öffnete. Im Gegensatz zu Averroes hat Thomas auch deutlich unterschieden die Erkenntnis, zu welcher der Verstand als sein eigener Lehrer gelangen kann, insofern er dabei zugleich Schüler der sinnlichen Anschauung und Erfahrung ist, oder insofern er dabei belehrt wird durch das göttliche Wort. Die erste Art von Erkennen, die eine Empfäng­ nis (Konzeption) von den körperlichen Wesen, also von unten her ist, steht aber mit dem Worte Gottes, das von oben empfan­ gen und je nach der Beschaffenheit unseres Herzens in uns fruchtbar wird, nicht in einem absoluten Gegensatz. Vielmehr, sagt Thomas, führt uns das ideenhafte Erfassen der Sinnen­ dinge in das dem Begreifen zugängliche Gebiet der göttlichen Dinge. Die Botschaft des Christentums ist die Botschaft des den Tod an der Wurzel überwindenden Lebens, und wie hätte

auch der Heiland uns die Geheimnisse dieses Lebens anders verdeutlichen können als an den Bildern und Gleichnissen des organischen Lebens (Senfkörnlein, Lilien auf dem Felde, Weinstock und Reben, unfruchtbarer Feigenbaum usw.)? Entscheidend ist nun, daß mit der Wesenserkenntnis, die ja zuerst schon dem Erkennen des Erkennens notwendig zu­ grunde liegen muß, eine gänzlich neue Fruchtbarkeit des Er­ kenntnispoles aufgebrochen ist. Wenn wir oben festgestellt haben, daß ein Affe mit einem gebogenen Drahtstück als einem Mittel, die Frucht heranzuziehen, nichts anzufangen weiß, so springt sofort der Mangel solcher Wesenserkenntnis hervor. Würde er den Wesensbegriff des Drahtes als eines beliebig biegsamen Instrumentes einmal erfaßt haben, so würde der­ selbe ihm in jedem Falle auch als echtes Werkzeug dienen können. Ähnlich war es beim Verhalten der Köhlerschen Affen einer Leiter gegenüber. Rur wenn die Leiter schief stand, wurde sie zum Heranholen einer Frucht benutzt. War sie senkrecht an eine Wand gelehnt, so wurde sie als Leiter gar nicht mehr er­ kannt. Es war also vorwiegend die Lagequalität der Leiter, nicht ihr Wesensbegriff, was für das Verhalten des Affen maß­ gebend war. Allein der Wesensbegriff gibt auch die Möglich­ keit, den Dingen einen Namen zu geben, der als gesprochenes Wort einen hinweisenden (idealen), dem Erkennen entsprechen­ den Reizwert gewinnt und die fruchtbare Wesenserkenntnis weiter zu vermitteln vermag. Nicht minder beruht auf der Wesenserkenntnis die das Typische darstellende Kunst sowie die Fähigkeit des Menschen, dem von sich selbst erschauten Wesens­ bilde den Wertakzent eines durch die Generationen fortwirken­ den Ideales zu verleihen. Bei ihm pflanzt jetzt also nicht mehr nur der generative Pol den Handlungskreis in alle Zukunft fort, sondern wurzelhaft geschieden und unterschieden von ihm ist jetzt der geistige Pol, der im Kulturschaffen parallel der körperlichen Zeugungssphäre eine ideale Sphäre der geschicht­ lichen Überlieferung und eine über der Natur selbst errichtete wesenshöhere Umwelt schafft, die das Tier nicht kennt. Daß es sich bei dieser Staffelung der Polaritäten nicht um unbestimmte, sondern um echte, in der Sache selbst begründete Analogien handelt, zeigt ihre Ausprägung in dem Baustil der Organismen, auf die schon Schelling hingewiesen hat.

Schelling geht aus von der Polaritätslehre Kielmeyers, des tiefsinnigen und genialen Physiologen, wie Alexander von Humboldt ihn nannte. Kielmeyer verfolgte in der Natur das Verhältnis der organischen Kräfte untereinander und fand dabei ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen entgegengesetzten Größen. Sensibilitätspol und Fortpflan­ zungspol stehen einander gegenüber. Während bei der Pflanze der Sensibilitätspol durch das ausschließliche Vorherrschen des Fortpflanzungspoles erlischt, tritt er in der aufsteigenden Tier­ reihe dem Fortpflanzungspol immer deutlicher gegenüber und schafft im Gegensatz zu der „Dezentralisation der Fortpflan­ zung eine immer höhere Zentralisation. Schelling gibt dem Gedanken nod> eine qualitative Wendung. Erst auf dem Gipfel der Organisation (beim Menschen) ist nach ihm die Unabhängig­ keit von den untergeordneten Kräften und die vollendete Wert­ gliederung (die „Gradation" der Kräfte) durchgeführt. An­ knüpfend an Kielmeyer und Schelling hat dann der geniale Weimarer Nervenarzt Dr. Armin Müller^) es versucht, diese funktionelle Rangordnung auch anschaulich zu machen, indem er zeigte, wie sie sich im Baustil der Tiere und des Menschen nun auch wirklich „darstellt": in dem Maße, wie die bis zu den Manteltieren heraus noch weitverbreitete ungeschlechtliche Fort­ pflanzung zurücktritt, werden die Zeugungsorgane zum eigent­ lichen Repräsentanten der Fortpflanzungstendenz. Mit steigen­ der Organisationshöhe wächst die polare Spannung zwischen diesen und dem Organ der Sensibilität oder der bewußten Empfindung: dem Zentralnervensystem. Die zentralste Ver­ tretung von immer mehr nervösen Funktionen wandert hinauf nach dem Kopfende in die Hirnrinde, während die Keimdrüsen in der aufsteigenden Wirbeltierreihe immer mehr herabwandern (mit einziger Ausnahme des Elefanten). Dieser reine Ausdruck polarer Kräfteverschiebungen wird wesentlich noch dadurch be­ stätigt, daß sich unter Zugrundelegung seiner Ordnung über­ raschende Aufschlüsse über die gesetzmäßige Auswirkung der Spätsyphilis ergeben, die in der fortschreitenden Gehirn­ erweichung von den höchsten Zentren der nervösen Funktionen *) Dgl. „Struktur und Aufbau der biologischen Ganzheiten". Ambrosius Barth, Leipzig. 1933; ferner: „Ganzheitsbiologie und Ethik" (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie Bd. 10). Frankes Verlag, Breslau, 1933.

aus gewissermaßen zu einer Dekapitierung (Enthauptung) des Zentralnervensystems und der durch dasselbe dargestellten Rangordnung führt. Die fortschreitende Gehirnerweichung be­ fällt in den Abkömmlingen der einzelnen, das Gehirn bildenden Reuromeren in ganz bevorzugter Weise die jeweils bestimmen­ den maßgeblichsten Glieder. Das zeigt sich in der fast isolierten Erkrankung der grauen Substanz als Träger der schöpferischen nervösen Tätigkeit. Die weiße Substanz degeneriert nur sekundär. Innerhalb der einzelnen Niveaus leiden in erster Linie die Spihenglieder; beim Kleinhirn hauptsächlich die Rinde, beim striopallidären Apparat allein das Striatum, während das diesem direkt unterstellte Pallidum freibleibt. Im Gesamthirn zeigt sich eine deutliche Intensivierung in der Richtung nach dem Großhirn zu, so daß der dem Großhirn am nächsten unterstellte subcorticale Reslexbogen — Thalamus und Striatum — bereits wesentlich weniger befallen wird als das Großhirn selbst. Am stärksten ist dieser Prozeß der Kreissotropie (von kreisson — das Mächtigere, also auf das Mächtigere gerichtet) im Großhirn selbst ausgesprochen. Auch hier wird die weiße Substanz fast völlig Verschont und die graue Hirnrinde auswählerisch befallen. Höchst ausgesprochen ist innerhalb dieser eine Steigerung des Prozesses nach der physiologischen Bedeutsamkeit der einzelnen Rindenabschnitte. Der Stirnpol, das oberste Führungsfeld ent­ haltend, erkrankt regelmäßig am allerausgesprochensten, dann kommt in der Intensitätsabstusung der Scheitellappen (sein Verhältnis ist zum Stirnlappen das der Materiallieferung zur Formgebung); am allerwenigsten befallen werden Gebiete der Projektionsfasern, die gleichsam mehr neurologischen, motori­ schen und sensorischen Rindengebiete: vordere und hintere Zentralwindung, Hinterhauptpol (Sehzentrum), hinterer Teil der Schläfenwindung, Querwindung usw. Man hat gegen diese stilgesetzliche Ausprägung einer wesens­ gesetzlichen Polarität zunächst eingewendet, daß die Herab­ wanderung der männlichen Keimdrüsen mit dem Ziele der Heraussehung einen Selektionswert im Sinne der geschlecht­ lichen Zuchtwahl bedeutet. Aber bei vielen Tiergruppen findet die Herabwanderung ja statt, ohne zum Erfolg der Heraus­ setzung zu führen und ohne daß eine in den Raumverhältnissen begründete Notwendigkeit dazu vorliegt. Ferner hat man dar-

auf hingewiesen, daß bei der progressiven Paralyse der Parasit jedenfalls deshalb in die jeweils führenden Zentren zuerst ein­ dringe, weil sie im Verhältnis zu den geführten jedenfalls Zentren erhöhter Stoffwechseltätigkeit (gesteigerter bioelektri­ scher Vorgänge und erhöhter Atmung) darstellen. Die Dielektri­ zitätskonstante erreicht im Saft der grauen Gehirnrinde ja ihren Höhepunkt. Aber gerade dieses besondere chemotaktische Ver­ halten des Parasiten würde ihn dann zum Indikator der jeweils führenden Funktionen machen, so daß der in der progressiven Paralyse sich auswirkende Abbauprozeß dem die Persönlichkeit ausbauenden Funktionskreis des Menschen direkt entgegenläuft. Ein abgründig tiefes Sinngeseh der Natur tut sich hier vor uns auf. Wie die Tabes die jeweils bestimmungsmächtigen Teile auf dem Niveau des einzelnen Rückenmarkssegmentes zerstört, so vollzieht das entsprechend die Paralyse an der Spitzen­ funktion des gesamten Nervensystems, indem sie gerade dessen führende Bezirke in der Großhirnrinde zu allererst zerstört, den Menschen also gleichsam entmächtigt und seines höchsten Per­ sönlichkeitswertes beraubt. Liegt in der gebändigten, geleiteten, von tieferer Sinnerfüllung durchleuchteten Sexualität der Jungbrunnen des Lebens eines ganzen Volkes, so muß die Mammonisierung des Paarungstriebes als die eigentliche Ge­ legenheitsursache der Syphilis zu einer geradezu zielstrebigen Vernichtung von Leben, zu Verneinung von Führung, Bindung und Ordnung führen. Nun sind wir endlich bei dem Punkt angelangt, wo die streng an der Hand der Naturtatsachen entwickelte Polaritäts­ lehre ihre höchste Bedeutung offenbaren muß in ihrer Anwen­ dung aus den Menschen. Mit allen Stufen der polaren Stei­ gerung in der Natur finden wir, daß die Pole sich nur entzweien, um sich auf einer höheren Stufe der Produktivität: aus einer erneuten schöpferischen Höhenlage zusammenzufinden. Bei der Pflanze haben wir bereits die polare Unterscheidung zwischen dem gestaltungsbedürstigen Materialgrund und dem gestal­ tungsmächtigen Organisationsfeld. Beim Kristall fällt das Ge­ staltungsfeld mit dem sich gestaltenden (kristallisierenden) Stofs noch in eins zusammen, daher das im Vergleich zur Pflanze noch sehr Unschöpferische der Kristallisation. Die Pflanze da­ gegen vermag aus Grund ihrer Polarisierung aus dem gestal-

tungsbedürstigen Muttergrund ihre individuelle Lebensgestalt wirklich epigenetisch, d. h. unter fortlaufender Erzeugung neuer Teile herauszuführen. Sie vermag es auch als individuelle Pflanze immer wieder aufs neue, wenn der produktive Pol mit dem materialliefernden Pol auf jener schöpferischen Höhen­ lage sich zusammenfinden, die eine ausreichende Materialver­ sorgung sichert. (Potenzielle Unsterblichkeit des Gestaltungs­ kreises beim Torfmoos.) Die Hebung der gestaltschöpserischen Spannung (also die möglichste Polentzweiung) gewinnt im Kreislauf der geschlechtlichen Fortpflanzung die Bedeutung der Verjüngung, in der Stammesentwicklung bedingt sie die schöpferische Höhenlage des Konservativstammes (im Gegen­ satz zu den exzessiven Anpassungsreihen, bei denen die Span­ nung sich senkt). Die Entzweiung der Pole hat also immer nur den Sinn eines erhöhten produktiven Sich-Zusammenfindens auf der neuen Höhenlage, die also nicht die sogenannte „faule Mitte" ist, sondern ihr offenkundiger Gegensatz: der „funktionelle goldene Schnitt"*). Die Polarität erhebt sich dann weiter zu einer ausgesprochenen Staffelung bei Pflanze, Tier und Mensch. Die Pflanze als Zeugungsorganismus ist zwar in sich schon zweipolig, aber einpolig im Vergleich zum Tier, wo Zeugung nicht nur als körperliche Offenbarmachung der Natur der Eltern durch körperliche Verähnlichung mit ihnen, sondern auch als ideale Offenbarmachung von etwas durch die hin­ weisende Verähnlichung mit ihm, also durch „Wahrnehmung", möglich ist. Der Erkenntnispol des Tieres ist aber nur fruchtbar in der noch radikal einschränkenden Verbindung mit dem körper­ lichen Zeugungspol, insofern das Prinzip der Wahrnehmung und des Gedächtnisses, die sinnliche Schätzungskraft oder der Instinkt erblich festgesetzt ist. Erst beim Menschen wird diese radikal einschränkende Vereinigung beider Pole aufgehoben. In der sich selbst offenbar werdenden Erkenntnis ist erst die echte Wesenserkenntnis eingeschlossen. Wesenserkenntnis aber er­ hebt sich auch zum Itr- und Vorbild, sie bringt den in der Kultur r) Wir wollen damit lediglich zum Ausdruck bringen, daß das Gefälle zwischen beiden Polen in einer neuen organischen Ursprungsganzheit sich findet und aus ihr sein rational nicht restlos für uns aufhellbares Maßver­ hältnis zurückempfängt. Die Analogie zum geometrischen goldenen Schnitt dürfte damit ohne weiteres klar sein.

fortlebenden wahrhaft schöpferischen Gedanken hervor. Die Pole sind nun entzweit, indem das kulturelle Erbgut ja jetzt nicht mehr bloß durch die körperliche Zeugung weitergegeben wird, sondern sich durch Wort und Schrift und in den sym­ bolischen Ausdruckssormen des Geistes auf die Nachwelt fort­ pflanzt. Aber, so fragen wir jetzt weiter, und dieses „Aber" ist ent­ scheidend: Ist die Entzweiung der Pole, aus die wir jetzt ge­ stoßen sind, eine Entzweiung nur um der Entzweiung willen, oder liegt nicht vielmehr ihr Sinn wiederum darin, daß sie sich aus einer höheren Ebene nur um so fruchtbarer zusammen­ finden? Es ist kein Zweifel, daß der große Polaritätsphilosoph der Romantik, Schelling, die einzig zutreffende Antwort darauf gegeben hat. Auch im Menschen scheiden sich der genera­ tive und der geistige Pol nur deshalb, um sich in der höchsten schöpferischen Spannungseinheit wieder zu finden. Und diese Höhenlage ist dort, wo die ideelle Welterschließung des Geistes mit dem generativen Pol sich aus der allein fruchtbaren Ebene echter Weltanschauungs­ erkenntnis zusammenfindet. Dabei bringt der generative Pol jenen natürlichen Resonanzboden der Wirklichkeit gegenüber zum Ausdruck, durch den wir uns zu den Gegen­ ständen „wertend" verhalten. Da jedes Werturteil, jedes „Vorziehen" von etwas, in einer Wesenseinsicht gründen muß, um sich als innerlich gerechtfertigt zu erweisen, erhält die Wesens­ erschließung der uns umgebenden Wirklichkeit auch aus jenem naturgegebenen Resonanzboden ihre schöpferischen Antriebe. War es nicht unser tiefstes Verhängnis, daß wir uns von diesem natürlichen Resonanzboden lösten, daß der Geist der vergange­ nen Epoche nur mehr in einem luftleeren Raum, d. h. in wesen­ losen und darum wertfreien, rein begrifflichen Konstruktionen lebte, welche den Bildgehalt der Wirklichkeit auflösten, statt ihn in seine symbolische Geltungskraft wieder voll zurückzuführen und mit dem menschlichen Erlebnisraum in einen befreienden Einklang zu bringen? Weltanschauung ist etwas, was mit „Anschauung" sehr wesentlich zu tun hat. Ideelle Anschau­ ung aber bedeutet eine Zusammenschau des Gegebenen, die vom Bildgehalt der Wirklichkeit nicht absieht, sondern darin — hier von Albert und Thomas zu Goethe und der deutschen

idealistischen Naturphilosophie fortschreitend — die „Reindarstellung" der ihm zugrunde liegenden Idee, das „Urbild-Sinnliche", das „Urphänomen" sucht. Das Zurückgehen auf das Urphänomen hat aber noch einen tieferen Sinn. Hebbel nennt einmal die Geschichte das „Ge­ dächtnis" eines Volkes und in diesem Gedächtnis ruhen auch die Urerinnerungen seiner Jugendzeit, seine bildhaften mythi­ schen Urvisionen vom Wesen dieser Welt. Das Bild vom Wesen dieser Welt war für den germanischen Menschen ein organisches. Als Weltbaum Mgdrasil trat ihm die gesamte in Raum und Zeit sich darstellende Einheit des Kosmos überall plastisch ent­ gegen. Es verband sich damit die Vorstellung eines immer­ grünen, vom Himmel bis in die Tiefen der Unterwelt reichen­ den Baumes, unter dem die Götter und Schicksalsfrauen als Richter und Urteiler Thing halten und zwischen dessen himm­ lischen Wurzeln die neun Heime sich befinden. Wenn wir heute diesem gewaltigen Bild des Kosmos einen weltanschaulichen Sinn geben wollten, so müssen wir ausgehen von dem Irratio­ nalen, das bei allem Einblick in die Sinn- und Wesensgesehe des Lebens das Organische uns entgegenstellt. Denn das, was uns durch die Vereinigung der ordnungsmächtigen Prinzipien mit den Materialgründen an individuellen Zufälligkeiten des Werdens entgegentritt, und alles, was sich durch die Gestal­ tungsmächte des Lebens, insofern sie konkretes, wirkungs­ mächtiges Sein sind, als notwendig ergibt, das ist für uns un­ durchdringlich. Die neue Physik hat sogar für das anorga­ nische Geschehen die Grenzen restloser rationaler Einordnung gezogen. Die „Unbestimmtheitsbeziehung", die sie in den mathematischen Einordnungsversuchen des Geschehens stehen läßt, gilt aber erst recht in der finalen Ordnung im Bereich des Lebens. Ein Blick in die Natur zeigt uns, daß die Welt des Lebens — trotz aller fürsorgenden Brutpflege und gegenseitigen Hilfe — nicht das Schlaraffenland einer vollendeten Zweck­ harmonie ist, in welches der menschliche Rationalismus so gern auch das menschliche Leben überführen möchte. Der „Streit", sagt Heraklit, der deutscheste unter allen Griechen, ist der Vater der Dinge. Das ist nicht in einem äußerlichen, sondern in einem durch und durch kernhaften, existenziellen Sinne zu verstehen. Das Leben — die Aberwindung des toten Punktes

— ist nicht nur, wie die Konservativstämme zeigen, aus die Be­ wahrung, sondern auch auf die Bewährung gestellt. Erst der faktische Einsatz für die das Leben zu verwirklichenden Werte, ein Einsatz, der ohne Bedrohung und Gefahr wesensgesetzlich gar nicht möglich ist, erst dieser Einsatz kann auch das menschliche Leben in seiner existenziellen Werthastigkeit, das heißt in seiner inneren Entscheidungskraft für das Gute offenbar machen. Auch religiös kann man wohl sagen, daß nicht so sehr der mehr gefühlsmäßig vollzogene Verjüngungsakt der Reue als der ihm folgende aktive Einsah den Menschen immer wieder bis zum Grunde anziehungsmächtig für die Hilfe von oben macht, so daß uns das „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott" einen tiefen ontologischen Sinn enthält, entsprechend dem Grundgesetz der sich suchenden Pole. War es doch auch so, daß die Natur durch Zurückdrängung der extremen Sonderanpas­ sungen und möglichst wagnisvolle Wahrung des Urbildes erst an die „Grenze des Naturmöglichen" (an die Heraussehung der für das tierische Lebensprinzip gar nicht mehr trag­ bare Disposition) gehen mußte, um vom Geiste befruchtet zu werden. Der Volleinsatz des Willens, der ihn der Hilfe von oben in besonderer Weise würdig macht, ist auch niemals auf bloße Berechnung, sondern aus den Glauben gegründet. Denn, wie wir bereits sagten, ist alles Geschehen, soweit es aus den konkreten Gestaltungsmächten mit konkreter Notwendig­ keit folgt, menschlicher Ordnungsschau und absoluter Voraus­ sicht entzogen. Nur Gott, der aus einem radikal enthüllungs­ mächtigen und für uns unzugänglichen Lichte die Material­ gründe sowohl wie die Gestaltungsfelder alles Werdens durchdringt, hat auch die Früchte des Werdens in der Hand. Das gibt uns in aller sittlich ernsten Aktivität jene große Ge­ lassenheit, die der zielsicheren Ruhe des Eichbaumes gleicht, der nicht säuselt oder klagt, sondern im Sturmwind nur mächtig zu „brausen" vermag. Zum religiösen Problem ist aber noch folgendes zu sagen: Vom Standpunkt der heute streng begründbaren Polaritäts­ lehre ist es ein durchgängiges Lebensgesetz, daß Pole sich nur durch ihre immer erneute Scheidung und Unterscheidung zur funktionellen Höhenlage, zum funktionellen goldenen Schnitt, verbinden können. Deshalb kann fid) der religiöse Pol nur in

der reinen Geschiedenheit vom naturhaft-rassisch-mitbedingten Weltanschauungspol mit diesem fruchtbar verbinden; nur die Scheidung und Unterscheidung kann das schöpferische Gefälle begründen. In sich selbst betrachtet steht der religiöse Pol wie die Sonne dem irdischen Kosmos in reiner Trans­ zendenz gegenüber und zieht gerade, indem er dem Natur­ pol sich „ent"zieht, die ganze Natur ihrer ganzen konkreten Mannigfaltigkeit entsprechend an sich?) x) Die reine Geschiedenheit kommt physikalisch dadurch zum Ausdruck, daß die von der Sonne ausgestrahlten Photonen (Lichtquanten) masselos und unelektrisch sind und in Zusammenstoß mit den Kernen der irdischen Urbausteine der Körper sich in ein Elektron und Positron verwandeln können. Es ist das eine Verstofflichung der Strahlung, wobei sich der gestoßene Atomkern selbst nicht verändert, sondern wie ein Katalysator wirkt. Vergl. dazu die tiefe Auffassung der Alten (auch noch Keplers) von der sogen, virtus spiritualis, der geistigen, vom grob Körperlichen geschiedenen und darum Alles belebenden Kraft des Lichtes. Über die spezifisch anti­ materialistische Lichtausfassung innerhalb der deutschen Naturphilosophie siehe auch die einschlägigen Abhandlungen in der „Zeitschrift für die ges. Naturwissenschaft", Verlag Vieweg, Braunschweig 1. Iahrg. 1935. Ihre Bedeutung innerhalb des Thomismus behandelte außerordentlich tiefgründig Ceslaus Maria Schneider im 11. Bd. seiner deutschen Thomasausgabe. Macht man mit dem in der dritten Abhandlung ds. Bändchens behandelten Analogieprinzip Ernst, dann ergibt sich die Tragweite unseres Vergleichs von selbst.

II. Die Spannungseinheit von Erlebnis- und Er­ kenntnisraum (Bild und Urbild) im Aufbau der wertenden deutschen Naturanschauung von

Hans Andre In unserer vorhergehenden Abhandlung sind wir dem Itrmodell oder, sagen wir besser, der Idee, dem Werdeplan auf die Spur gekommen, nach dem sich die Stufen des Lebens und innerhalb dieser Stufen die schöpferischen Höhenlagen bilden. Ohne vorhergehende Scheidung und Unterschei­ dung der Pole, so haben wir gesehen, läßt sich kein drittes schöpferisch Neues denken. Sinn der Scheidung und Unter­ scheidung ist aber nicht die schlechthinnige Entzweiung der Pole, sondern ihre Neukoppelung im funktionellen goldenen Schnitt. Aus den Menschen angewandt heißt das: das Erkennt­ nisleben muß aus seiner intellektualistischen Entzweiung mit dem Naturpol zu einer neuen fruchtbaren Koppelung mit ihm zurückgeführt werden, es muß wieder in eine ursprünglichere Haltung der Wirklichkeit gegenüber zurückkehren. Diese Hal­ tung muß als eine zuerst wertende Haltung angesprochen werden und empfängt ihre Antriebe aus jenem natürlichen Resonanzboden zur Wirklichkeit, der erbursprünglich in uns angelegt ist. Naturgemäß begegnet diese neue Vereinigung von Intellekt und Erlebnispol der schärfsten intellektualistischen Kritik. Man bezeichnet die Koppelung zwischen Geist und Blut als Rückfall in einen längst überwundenen Naturalismus. Vor allem aber wirft man ein, daß dadurch einem schrankenlosen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet und jeder objektive Wahrheitssinn untergraben würde. Das schlimmste Vorurteil, das dieser intellektualistischen Kritik zugrunde liegt, ist zweifellos die Behauptung, daß jedes

Werturteil überhaupt subjektiv fei, weil es lediglich vom Ge­ fühl diktiert werde und mit sachlicher Einsicht nichts zu tun habe. Aber es ist doch ganz offenbar, daß jedes Werturteil, das in dem Beurteilten etwas zu „Liebendes", etwas „Anzustrebendes", etwas zu „Bevorzugendes" behauptet, auf einem, wenn auch zunächst vielleicht gar nicht bewußten, Wesenseinblick in den objektiven Sachverhalt beruhen muß. Die großen Meister der Vorzeit haben das immer wieder an der Stufenfolge der leben­ digen Wesen veranschaulicht, also z. B. an dem Grade ihrer „Selbst"-Ständigkeit und „Selbst"-Schöpserischkeit von innen heraus. Selbst-ständig im Sinne wurzelhafter Selbstmächtig­ keit zum Wirken ist schon das anorganische Naturwesen. Es ist bereits seinshast so in sich selbst gegründet, daß es zu selbsteigener Wirkung fähig ist. Aber in seiner Entstehung ist es noch durchaus abhängig von außen, weil es in seiner Wirkungsweise noch durchaus eingeschränkt aus das Äußere ist. Es vermag noch nicht selbstschöpferisch auf sich selber zu wirken und für sich selber tätig zu sein, wie etwa die Pflanze, die aus ihrem eigenen Materialgrund selbsttätig sich formt, die zu Licht, Schwerkraft und Feuchtigkeit selbsttätig sich einstellt und die, wenn sie etwa ihrer Blätter beraubt wird, selbsttätig ihre Blütenknöspchen zu Laubsprößchen umzuwandeln vermag J). Und doch ist dieses pflanzliche Leben noch wesentlich eingeschränkt gegenüber dem tierischen. Es vermag die Körper der Umgebung nur in körperlicher Weise in sich aufzunehmen und ist an deren physi­ kalische und chemische Kräfte innerlich werkzeuglich gebunden. Das Tier erst vermag den äußeren Gegenstand sogar dem „Bilde" nach in sich aufzunehmen, es ist zur Wahrnehmung und zu einem instinktiven Urteil über seine Wahrnehmungen fähig. Und während die Pflanze nur immer in der körperlichen Form­ bildung sich betätigt, erreicht das Tier einen Zustand der 23erleiblichung, wo es von einem inneren Zentrum aus durch die Handlung in einer viel unabhängigeren Weise auf sich selbst zurückwirken kann wie die Pflanze. Wie groß aber ist erst die Einheit des „Aus-sich-Handelns" und des „Zu-sich-Handelns", des „Jn-sich-Seins" und des „Für-sich-Seins" im Menschen, der in der Wesenserschließung der Objekte und in der SelbstVgl. dazu meine Arbeit: „über künstliche Blatt- und Blütenmetamor­ phosen bei der Schneebeere". Berlin 1927.

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erschließung auch seiner eigenen Akte sein Urteil selbst wiederum beurteilen kann, so daß kein äußeres Objekt durch seine bloß äußerlich sinnliche Erscheinung die Handlung mehr einzu­ schränken braucht, sondern dessen eigenes Wesen und die selb­ ständig ermittelte Ordnung der Substanzen untereinander der innerlich maßgebende Grund für das Handeln wird. Im Kon­ flikt zwischen der sinnlichen, äußerlich einschränkenden An­ ziehung des Objektes und der zur Verantwortung aufrufenden objektiven Ordnung konstituiert sich der freie Akt auch der Liebeskraft nach als ein freier, d. h. als ein über alle bloße Normerfüllung hinausgehender existenzieller Bewährungs­ akt. Zur „typischen" Darstellung der Freiheit hat darum Schiller in der Jungfrau von Orleans die Versuchungsszene eingesetzt, um die Interessierbarkeit der Heiligen zu zeigen. Je mehr nun das Leben durch sich selbst ins große Ganze wirkt und durch den Tiefgrund seiner idealen Aufnahmefähigkeit und die Kraft des Aufsichselbststehens in sich Wesen, Wirken und Wirkung zur Einheit zusammenschließt, desto mehr er­ scheint es uns in dieser Einheit der schöpferischen Tätigkeits­ quelle als ein „Wert", als ein dem weniger selbständigen Leben „vorzuziehendes" Leben. Die ideale Aufnahmefähigkeit beim Menschen kann sich wiederum aus ein doppeltes beziehen: 1. insofern er durch seinen Verstand sein eigener Lehrer und zugleich Schüler der sinnlichen Anschauung und Erfahrung und 2. insofern er das Ohr des göttlichen Wortes ist. Im letzten Falle, im Glaubensakt, tritt der menschliche Geist mit dem lauteren Tiefgrund des zur absoluten Selbständigkeit ge­ einigten Lebens selber in Verbindung, das nicht mehr, wie unser endlicher Verstand, in abstrakter Gebrochenheit, sondern in konkretester Durchleuchtung und bis in die letzten Verzwei­ gungen hinein die scheinbar so stark dem Zufall preisgegebene Ordnung aller Dinge durchdringt. Dieses persönlich-göttliche Leben, das uns im innersten Seelengrunde umfaßt, anregt und befruchtet, vermag darum allein auch unserem Werturteil die letzte endgültige Unterscheidung und unserem Willen die letzte kompaßhafte Sicherheit im Streit und in der Wirrsal dieses Lebens zu verleihen. (Lehre vom „Fünklein".) In dieser Rangordnung der Lebensstufen, wie sie die großen Denker der Vorzeit immer wieder aufgerissen und die

Mystiker vertieft haben, tritt uns der Zusammenhang von Wesen und Wert deutlich vor Augen. Das Werturteil recht­ fertigt sich durch den Einblick in das Wesen. Und deshalb können wir mit den Wesensstufen zugleich verschiedene Voll­ kommenheitsstufen des Lebens unterscheiden, je nachdem das Lebewesen in der inneren Einheit von Wesen, Wirken und Wirkung, an der mehr oder weniger großen Unabhängigkeit von außen, d. h. an der Tiefgründigkeit der Unterscheidung und der Polsicherheit seiner Entscheidungsakte gewinnt. In der möglichst vollständigen Darstellung der Einheit von Wesen, Wirken und Wirkung tritt auch das „Typische" einer Lebens­ form als besonderer Wert in den Vordergrund. Eine voll­ ständige Pflanze, die die Assimilationsfähigkeit des Blatt­ grüns, die Erhebung zum Lichte und die Vollausbildung der Blüte in sich harmonisch vereinigt, trägt einen höheren demon­ strativen Seinswert zur Schau, als ein des Blattgrüns ver­ lustig gewordener und schmarotzender Pilz. Max Scheler hat einmal tierische Schmarotzer, die ihre Bewegungsorgane samt Nervensystem und vieles andere durch Anpassung verloren haben und fast nur noch ihre Verdauungsorgane zurückbehielten, einer Gesellschaft verglichen, die nur mehr Handels- und In­ dustriegesellschaft wäre. Damit setzt er die typische Voll­ konstitution des Tieres ranghöher, als die in der taktischen Auslieferung an spezielle Umgebungen sich ergebenden Anpassungsformen des Lebens. Ohne Anpassung überhaupt ist natürlich kein Organismus existenzfähig, aber es gibt sozu­ sagen einen goldenen Schnitt zwischen der bewahrenden Ur­ sprünglichkeitshaltung des Lebens, die zum Typischen sich bekennt, und seiner Nützlichkeitshaltung, die die Kompro­ misse mit der Umgebung schließt. Wir haben schon früher dar­ gelegt, daß in den Entwicklungsreihen des Lebens die gestaltschöpferische Hochspannung auf der Linie dieses goldenen Schnittes liegt. Der Konservativstamm, der im Pflanzen­ reich zu den Körbchenblütlern, im Tierreich hinaus zum Menschen führt, überwindet gerade dadurch, daß er extreme Anpassungen vermeidet und in der Wertrangordnung die im Urtypus „wesende" Ursprünglichkeitshaltung über die dem Äußerlichen sich ausliefernde Nützlichkeitshaltung setzt, den toten Punkt, dem Exzessivstämme allzuschnell sich ausliefern. Die drei Urver-

Haltungsweisen des Lebens: die Ursprünglichkeitshaltung und Nützlichkeitshaltung und die im eigentlichen Sinne nur den freien Willen angehende Bewährungshaltung, spielen dann vor allem in der individuell und rassisch bedingten Orche­ strierung menschlicher Fähigkeiten eine grundlegende Rolle. So, wie z. B. innerhalb der allgemein verbindlichen Fort­ pflanzungsordnung der Pflanze (mit ihrer gemeinsamen Ge­ setzmäßigkeit des gestaltschöpferischen Gefälles, der Reduktionsteilung usw.) verschiedene Befruchtungsarten ausgebildet sein können, indem z. B. der Akzent auf Insekten- oder Windbe­ stäubung, auf Farbe, Duft und Nektar oder aus Pollenreichtum gelegt ist, so kann innerhalb der universell verbindlichen Wesensvrdnung des Menschen eine verschiedene Orchestrierung seiner Fähigkeiten Raum gewinnen. Das bedingt eine verschiedene Akzentuierung der Werturteile, die sich durch eine verschieden schattierte Sinn- und Wesenserhellung des Lebens zu recht­ fertigen sucht. Diese bedeutet nicht, wie man gewöhnlich ein­ wendet, eine jede Erkenntnis entwurzelnde Relativierung, wohl aber eine „Perspektivierung" der individuell und rassisch mitbedingten Weltanschauung. Die Sinnsülle des konkreten Lebens ist eben innerlich so reich, daß sie nicht von einem „Geist an sich" in abstrakter Leere erfaßt werden kann, sondern nur in der farbigen Gebrochenheit, welche durch die Vereinigung von Geist und Blut zustandekommt. „Daß jeder sieht die Welt in seinem Sinn Und jeder siehet recht, so viel ist Sinn darin!" Dieser Rückertsche Vers rechtfertigt den erkenntnistheoreti­ schen Perspektivismus in leicht verständlicher Weise und man muß nur das wertfreie Kausalerkennen von der Einsicht in die Sinn- und Wesensgesetze des Lebens scharf zu unterscheiden vermögen, um ohne Konflikt mit dem exakten Wissenschafts­ ideal jenen volleren Zugang zur Naturwirklichkeit zu finden. Bevor wir das Problem in seiner heute auch wieder wirklich wissenschaftlich lösbaren Form behandeln, müssen wir aus dem Gedächtnis der deutschen Weltanschauungsgeschichte selbst heraus jene ursprüngliche Haltung näher bezeichnen, welche der Deutsche der Natur gegenüber einnimmt. Sie ist durch ein

Doppeltes gekennzeichnet. Zunächst ist für ihn der Schlüssel zum Weltverständnis überhaupt der Mensch, der ja selbst eine im Höchstmaße in sich zusammengezogene Welt, ein „Mikro­ kosmos" ist. Dabei erweist sich aber zweitens in der deutschen Wertung des Weltgeschehens ein hoher ethischer Ernst, der aus die Bewährung das Schwergewicht legt, in besonderer Weise wirksam. In Zusammenhang damit steht der Sinn für das Irrationale. Was wir so im Querschnitt deutscher Eigenart als führend und bestimmend erkennen, das entfaltet sich aus der geistesgeschichtlichen Längslinie in immer neuen weltanschau­ lichen Metamorphosen, die wir nur kurz hier andeuten wollen. Die Dinge der Natur sind dem deutschen Menschen nicht bloß Werkzeuge seiner biologischen Interessen, er geht auch der „Seele" der Dinge selbst, d. h. der in ihrer Natur liegenden „Eigenart" nach. Im Wandel deutscher Naturanschauung stoßen wir immer wieder aus diesen ihren metaphysischen Tiesgrund. So stellt sich dem Germanen in seiner uralten Mythologie die Welt unter dem Bild eines gewaltigen Baumes, der Welt­ esche, dar, deren Wurzeln im Himmel und deren Wipfel auf der Erde sind. In der ältesten nordischen Mythenform erscheint der Mensch zudem als der Erstgeborene der Schöpfung, aus dem alle späteren Lebensformen sich entwickeln. Man denkt hier unwillkürlich an die heutige Lehre vom zentralen Konser­ vativstamm und an mythische Verkleidungen der platonischen Arbildlehre alles Wirklichen. Dazu kommt ein großartiger ethischer und eschatologischer Einschlag. Der moralische Wandel des Menschen kann die Erde ändern. Wenn der Mensch sich nicht bewährt, wenn er sich von den Göttern als den Hütern der Ordnung abkehrt, dann werden die Kräfte der Unterwelt frei. Der Weltuntergang durch Menschenschuld dämmert heraus. Wie rein finden wir nun all diese Wesenszüge im Ver­ hältnis von Mensch und Natur im späteren christlich umge­ formten Weltbild der Deutschen, etwa der heiligen Hildegard von Bingen, wieder. „Im Menschen, sagt sie, hat Gott die übrigen Geschöpfe der Natur, die hohen und die niedrigen gezeichnet... Als der Mensch geschaffen wurde, ward Erde von der Erde genommen und diese Erde ist der Mensch. Alle

Elemente dienten ihm, weil sie in ihm das Leben spürten und sie neigten sich ihm zu in all seinem Handeln und Wandeln und wirkten mit ihm und er mit ihnen. Da gab die Erde ihre Grüne nach Art und Charakter und jeglicher Eigenschaft des Menschen." Hildegard sieht in dem guten Gebrauch der Naturdinge eine Vollendung ihrer Schöpsungsanlagen. In der Beziehung der Natur auf den Menschen gewinnt die Natur eine medizinale Bedeutung, in der umgekehrten Beziehung vom Menschen zur Sinnenwelt den Sinn einer Vergeistigung und Heili­ gung des Naturlebens. Den Mißbrauch der Natur hingegen empfindet die Seherin geradezu als ein Verbrechen gegen die Natur selber, das sich rächend aus den Menschen zurückwendet und von ihm gesühnt werden muß. Und ich hörte, sagt sie in einer ihrer Visionen, eine gewaltige Stimme, die aus den Ele­ menten der Welt zu Gott aufschrie: „wir können unseren Laus nicht eilen und unsere Bahn nicht ziehen, wie wir von unserem Gesetzgeber bestellt sind. Denn die Menschen wälzen uns wie einen Mühlstein durch ihre bösen Werke". Und neben dieser tief ethischen finden wir auch die urgermanische eschatologische Auffassung. Im gewaltigen Sturme der Weltenreinigung, wenn der Menschensohn aus den Himmelswolken daherfährt, müssen auch die Elemente von aller Sündenbefleckung befreit werden. Erst dann, sagt Hildegard, wenn das Gericht voll­ zogen ist, tritt die Verklärung ein, in der es ist, als ob allen Elementen eine dunkle Haut abgezogen würde und sie in klar­ ster Heiterkeit leuchten. Mit der spezifisch christlichen Umbildung des Naturbegriffes durch die Schöpfungslehre tritt im deutschen Mittelalter an die Stelle pantheistischer Allvergottung ein klar gegliedertes Stufenreich der Naturdinge und eine substantielle in sich selber gegründete und aus sich selber gestaltungsmächtige Natur. „Der Schöpfer," sagt einmal G. H. von Schubert, „hat in jedes seiner Geschöpfe ein bestimmtes ,Maß< seiner eigenen Kraft: ein schöpferisches Vermögen gelegt, durch welches das einzelne Naturding entsteht und fortbesteht. Diese innewohnend verliehene Kraft ist es, welche in jedem lebenden Leibe ein Werk der Schöpfung im kleinen wiederholt, indem es die ein­ zelnen Elemente und Teile zu einem wohl und zweckmäßig geordneten Ganzen vereint. Wie der Magnet jedem Stücklein

Eisen, das er an sich zog, seine magnetische Eigenschaft oder Polarität mitteilt, so tut dies auch die Schöpferkraft der Seele an den Stoffen, welche sie in den Kreis ihrer Wirksamkeit hereinzieht; jeder von diesen empfängt ein gewisses Maß des schaffenden Vermögens; er wird polarisch. Denn die Pola­ rität besteht darinnen, daß ein Ding vermöge der ihm einge­ pflanzten Kraft sich zu einem andern in das Verhältnis stellen kann, wie das Bewegende zum Bewegten, wie der Schöpfer zu seiner Schöpfung, während es umgekehrt auch wieder gegen ein anderes die untergeordnete Stellung eines Bewegten zu seinem Beweger einnehmen kann." Was Schubert hier in der Polaritätssprache der deutschen Romantik zum Ausdruck bringt, das hatte in der Antike Aristoteles, der von Platon kom­ mende Biologe, und das haben im Mittelalter die beiden genialen Vereiniger des Platon und Aristoteles: Albert der Deutsche und Thomas von Aquin, schon in ihrer Weise philosophisch zu verdeutlichen versucht. Schubert sagt, daß die den Dingen innewohnend verliehene Kraft ein bestimmtes ihnen mitgeteiltes „Maß" der göttlichen Kraft selber sei. Dieses Maß hatte schon Augustinus im Auge, wenn er die Pflanze, „das letzte Echo des Lebens" und das Tier wegen seiner unvoll­ kommenen Teilnahme am Erkennen „das letzte Echo der Weis­ heit" nannte. Die Idee, die Pflanze und Tier zugrundeliegt, ist nach dieser Auffassung also nicht das göttliche Wesen selbst, aber sie gründet in diesem Wesen, insofern es in der kreatürlichen Einschränkung offenbarungssähig nach außen ist und die Kreatur somit in ihrer Weise daran teilhaben kann. Aus dem Nahmen dieser rein idealen Teilnahmesähigkeit tritt die Idee heraus, wenn sie wirklich am göttlichen Leben teilgewinnt, wenn sie, wie Schubert sagt, eine den Dingen innewohnend verliehene Kraft, wenn sie ihr Form Prinzip, ihre „Seele" wird. Aristoteles definiert sie alsdann als die erste Wirklichkeit eines der Möglichkeit nach lebendigen Körpers. Hat sich das Lebewesen erst einmal wurzelhaft zu­ sammengesetzt oder konstituiert, indem der zubereitete Material­ grund mit dieser ersten gestaltungsmächtigen Wirklichkeit sich verbunden hat, dann ist es relativ auf sich selbst gestellt und kann durch Einverleibung immer neu hinzuströmenden und durch die Ernährung zubereiteten Materials selbsttätig schöpferisch sich

gestalten 1). Das Lebewesen ist im Moment seiner Entstehung auch nicht nur als ein in sich geschlossenes, sondern auch als ein von seinesgleichen unterschiedenes Ganzes, als „Indivi­ dualität", bestimmt. Die Wurzel dieser Bestimmung liegt im Materialgrund, also im Mutterschoß der durch die Einver­ leibung (Assimilation) neu belebungsbedürstigen Substanzen. Diese werden für den Belebungsakt immer mehr zugänglich gemacht. Im Belebungsakt selber gehen sie zwar ihrer bloß äußerlich mechanischen Seinsweise, wie sie aus dem Anorga­ nischen stammt, verlustig und werden in den physiologischen Kreisprozeß ausgenommen. Aber sie behalten darüber hinaus eine Beziehung zu den quantitativen Verhältnissen im neuen befruchteten Ei und „verlangen" so gleichsam bei ihrem funktio­ nellen Einbau in dasselbe von allem übrigen Stoffe im Uni­ versum wirklich und ganz konkret geschieden zu werden. Wir wissen ja heute auch genau, wie sehr aus quantitativen Ver­ schiedenheiten der in das plasmatische System eingebauten Stoffe dispositionelle, gestalthaste und qualitative Verschieden­ heiten hervorgehen können. Da bei der organischen Zeugung das neue mit dem Stoff sich verbindende Lebensprinzip nun einfach dessen „lebendige Seinsmacht" und „Tätigkeitsquelle" selber ist, ist es so unablösbar mit dieser Materie verbunden, wie etwa „diese" Rundung mit „dieser" konkreten Kreislinie. Damit geht die Individuation, die aus der Materie stammt, auf das Lebensprinzip selbst über. Das organische Lebensprinzip ist also „durch" die Materie individuiert, denn es ist bei der Ver­ bindung mit dem Stosse auch wurzelhast abhängig von ihm in seinem Sein. Beim Menschen dagegen, bei dem die geistige Sphäre von der organischen bei aller innigen Verbindung doch auch wiederum innerlich geschieden und unterschieden ist, ist die Beziehung auf die Leiblichkeit nicht schlechthin Grund der Individualität der Seele, aber die Natur derselben als „verleiblichungsbedürftige, im Stoff existierende Geistseele" ver­ langt, daß sie mit einem Stosse sich verbindet, der in der Zu­ gänglichmachung für sie sich ganz bestimmungsbedürstig zu ihr *) Zu dem philosophisch außerordentlich schwierigen Thema von Potenz und Akt und zum Materieproblem vergleiche die neue, im Verlag Herder er­ schienene deutsche Metaphysik von gos. Gredt O.S.B., des Altmeisters der klassischen Scholastik auf S. Anselmo in Rom.

verhält und daß sie ferner bei der Verbindung mit diesem Stoffe auch „mit" demselben individuiert werde und mit ihm ein Wesen, nämlich dieser individuelle Mensch, werde. Durch ihre Aufnahme in den Leib geschieht nicht nur etwas an der Seele, sondern auch in ihr. Die Seele erhält durch ihre wesentliche Hinordnung auf einen so oder so disponierten Stoff ein ganz bestimmtes Sosein, das sich schlechthin in allem, was sie tut, auswirkt. Die individuellen und rassischen Unter­ schiede werden damit zu substantiellen und — in Verbindung mit der Unsterblichkeitsidee — wahrhaft verewigt. Es ist eben falsch, daß die Ganzheit und persönliche Vollkommenheit des Menschen jenseits der individuellen, rassischen und geschlecht­ lichen Differenzierung im reinen Geiste und innerhalb desselben in der rein geistunmittelbaren Beziehung zu Gott liegt. Die deut sch stämmige, arische, aus Albert den Großen und Thomas von Aquin zurückgehende Scholastik lehnte eine solche Entzweiteilung der Menschennatur und Auflösung ihrer substantiellen Grundlagen —wie sie von den Arabern und vom Augustinismus her drohte — mit sicherem Instinkt ab. Sie hat damit auch den wahren Kern der Rassenidee am tiefsten metaphysisch zu rechtfertigen versucht. (Vergl. S. 19.) Der von Albertus Magnus eingeleitete christliche Aristotelismus sah den Menschen ganz in dieser seiner wurzelhasten Naturverbundenheit und in dem Wert und Geheimnis seiner einzelseelischen Knospe. Zugleich aber schloß er keineswegs jenes platonische Element in sich aus, das den Menschen mit der Gemeinschaft in eine tief innerliche Beziehung seht. Die Individuation ist nämlich deshalb gesetzt, weil die Wesensstufe Mensch nicht den „Tiesgrund" hat, daß sie im Einzelwesen sich genügt und somit durch Vermannigsaltigung ersetzen muß, was an gesammelter Lebenssülle das Individuum nicht zu fassen vermöchte. Dadurch unterscheidet sich nach der mittel­ alterlichen philosophischen und theologischen Anschauung der Mensch vom Engel, daß bei diesem das Einzelindividuum die Fülle der Gattungsstufe fassen kann und somit Individuum und Gattung zusammenfallen. Mit der in der eigenen Wesens­ ordnung liegenden Tendenz zur Vermannigsaltigung ist zu­ gleich auch das Aufeinanderangewiesensein der Menschen und die Gliederung ihres Erbstammes in Rassen und

Völker sowie der tiefere metaphysische Sinn dieser Glie­ derung gegeben. Das deutsche Ursprungsdenken versetzte sich mit Vor­ liebe in jene geheimnisvollen Quellgründe, aus denen das Leben in seiner konkreten individuellen Gestalthaftigkeit ent­ springt. Hildegard von Bingen sieht in einer ihrer großen Visionen Menschen auf der Erde, welche in ihren Gefäßen Milch tragen und daraus Käse bereiten. „Es sind das", sagt sie, „die Menschen aus der Welt, sowohl Männer als Weiber, die in ihren Körpern den menschlichen Samen tragen, aus dem das Geschlecht der menschlichen Völker hervorgebracht wird. Ein Teil der Milch ist dicht, ein anderer Teil dünn und ein dritter mit Fäulnis gemischt. Aus dem ersten gehen rüstige Menschen mit großen geistlichen und körperlichen Gaben und einem scharfen Unterscheidungsvermögen der Geister hervor, die wegen des Nutzens in ihren Werken sowohl vor Gott als vor den Menschen ausgezeichnet blühen. Die aus dem zweiten Samen hervorgehenden Menschen sind schwach und oftmals töricht, flau und unbrauchbar; die aus dem mit Fäulnis ge­ mischten Samen erzeugten aber unförmlich, so daß sie oft Bitterkeit, Schwierigkeit und Bedrückungen des Herzens haben und ihren Sinn nicht nach oben zu erheben vermögen. Viele aber aus diesen letzteren werden brauchbar, so daß sie in ihren Herzen und Sitten viele Stürme und Beunruhigungen leiden, jedoch als Sieger aus ihnen hervorgehen." Der „Sieg" war für den mittelalterlichen Mystiker dasjenige, worin sich nicht nur der Geltungsanspruch der göttlichen Werte — also gewisser­ maßen nur ihre Norm —, sondern auch ihr Tiefstes: ihr Be­ währungsanspruch, erfüllte. „Niemand weiß, wie fest er steht, er werde denn zuvor gestoßen von der Prüfung. Niemand weiß, wie stark er sei, er werde denn zuvor von der Bosheit der Welt versucht. Niemand weiß, wie gut er sei auf Erden, bevor ihm mag ein gutes Ende werden." (Mechtild von Magdeburg.) Indem der auf der Schöpfungslehre fußende christliche Aristotelismus des Mittelalters die Natur verselbständigte, tat er aber nichts weniger, als die Schöpfung von Gott selber trennen. Denn die substantielle (ihren „Selbst-Stand" be­ gründende) Zusammensetzung der Kreatur aus Materialgrund und Gestaltungsfeld schließt das Innewohnen Gottes in der

Kreatur (seine Immanenz) nicht aus, sondern erst recht in sich ein. Sehr treffend sagt Meister Eckhart: „Wenn das Haus vollends zu seinem Wesen gelangt, so geht der Zimmermann davon. And das ist deshalb, weil ja der Zimmermann nicht gänzlich die Arsache des Hauses ist: er nimmt die Materie von der Natur. Nicht so bei Gott: Er gibt der Kreatur ganz und gar alles, was sie ist, beides: Form und Materie. And darum muß er bei ihr bleiben oder die Kreatur fiele bald ab von ihremWesen". Man sieht hier deutlich den Arsprung der von der Mystik, speziell der deutschen Mystik, so herrlich vertieften Immanenz­ lehre in der Schöpfungslehre des christlichen Theismus. In ihr, nicht in der Immanenzlehre des neuzeitlichen Pantheismus, der meist ein Kind des Rationalismus ist, liegt auch die Wurzel der Aberzeugung von der Beseeltheit aller Dinge, was Lu d w i g D i e h l in seinem bekannten Suso-Roman in weiterer Ausführung des Gedankens Meister Eckharts sehr schön verdeutlicht hat: „Eine Libelle gaukelte um ihn her, Suso blieb stehen, die Hand am Kinn. Welches Wunder! Dieser durchsichtige Schimmer der Flügel und diese Leichtigkeit der Bewegung! — dachte er. Ist dieses Tierchen nur eine Schöpfung Gottes im gleichen Sinn wie das Haus eine Schöpfung des Baumeisters, oder ist es mehr? Auch das Haus ist ja nicht Stein und Holz, sondern ist mehr. Es ist ein Teil des Wesens seines Erbauers darin enthalten, es ist Geist vom Geiste des Erbauers ... Des Tieres wie des Men­ schen Schöpfer aber ist Gott. Also muh auch im Tier etwas vom Geiste Gottes enthalten sein. And er muß seiner unfaßbaren Größe entsprechend mehr, fühlbarer darin enthalten sein, als der irdische Geist des Baumeisters in dem Hause. Denn das Haus ist in der Schöpfungsreihe ja schon drittes Glied! Das alles durchleuchtende und durchglühende Feuer des selbst über Ewigkeit und Unendlichkeit erhabenen Geistes Gottes muß sich in seinen Werken ganz anders ausprägen. Es muß sich bis in ihr tiefstes Inneres ausprägen. Seine Werke müssen alle ge­ wissermaßen eine Seele haben wie der Mensch." Wir können philosophischer auch so sagen: Mit dem in ihnen selbst gegrün­ deten Eigenstand gewinnen die Dinge auch ihren eigenen Tief­ grund und spiegeln in der mannigfaltigsten Weise das göttliche Leben wieder. Alles was die Dinge an werthaften Qualitäten besitzen, wie Wohlklang und Duft, Zartheit und Wohlgeschmack,

das muß Gott, ihr Schöpfer und Ursprungsprinzip, auf eine geistige und unaussprechliche Weise besitzen, sonst hätte er es den Dingen nicht auf eine sinnenhaste Weise zu eigen geben können. Und umgekehrt: wie könnte der Mensch, das Ebenbild Gottes, etwas Anderes in den Dingen begehren, als diesen Reflex der göttlichen Güte. „Dürstete ein Mensch noch so sehr," sagt Meister Eckhart, „er begehrte doch keinen Trunk Wassers, wäre nicht ein Tropfen Gottes darin". In Gott sind die Urideen. Darum wachsen alle Rosen und die anderen Blumen alle Jahre in einer Weise, denn die erste Vernünftigkeit wirkt in ihnen und in allen Kreaturen nach den unwandelbaren Bil­ dern in gleicher Art.... Darum irrt sich keine Lerche in ihrem Sang und keine Nachtigall in ihrem Schlag; denn die erste Meisterschaft der göttlichen Vernunft rührt der Junge Fluß nach den ewigen Bildern. Und wie findet dieser Gedanke der Abbildlichkeit auch in der Lichtsymbolik der heiligen Hilde­ gard einen so beredten Ausdruck! „Ich," so schildert Hildegard das göttliche Leben, „ich, das feurige Leben des göttlichen Wesens, zünde über die Schönheit der Felder hin, leuchte in allen Gewässern, brenne in der Sonne, dem Mond und den Sternen und erwecke mit dem Lusthauche, mit unsichtbarem Leben, das alles erhellt, lebensvoll jegliches Ding." Wie lebendig war damals im Menschen noch der Erlebnis­ raum der Wirklichkeit mit dem Erkenntnisraum verbun­ den! Denn die alte Naturanschauung wurzelte — wie wir sahen — ganz in der Überzeugung, daß die Verhaltungsweisen der Naturwesen nicht nur zweckmäßige Handlungen sind, son­ dern Ausdruck von Urphänomenen des Lebens überhaupt, die zuletzt im göttlichen Leben selber fundiert sind. Darum konnte das Qualitative, das in ihnen in Erscheinung tritt, in analogischer Beziehung auch zu den höheren, den geistigen Qualitäten gebracht werden, es konnte einen Gleichnis-, einen Symbolcharakter gewinnen. Das galt selbst für die Zahlen in der Mathematik. Was dem großen Nikolaus von Cusa noch am Ausgang des Mittelalters vorschwebte, das war das gerade Gegenteil der intellektualistischen Mathematik, deren eigentliche Tendenz es war, die mathematischen Zeichen ihres Symbolgehaltes zu entkleiden. „Alle unsere weisen und from­ men Kirchenlehrer", sagt aber Nikolaus, „bekennen einstimmig,

die sichtbaren Dinge seien Abbilder der unsichtbaren Welt, der Schöpfer könne aus diesem Wege wie in einem Spiegel und Rätsel erkannt werden." Und in diesem Sinne bedient er sich der mathematischen Zeichen, um sie für eine gleichnishafte Erfassung der höheren Wahrheiten fruchtbar zu machen. So versinnbildlicht er die über sich selbst zurückkehrende Progression in den verschiedenen Lebensstufen durch den Kreis. Wie der Baum zum Samen zurückkehrt, aus dem wieder ein neuer Baum entsteht, so wächst aus dem geistigen Gebiet „aus dem Staunen, als dem Samen, der Baum der Verstandeserkennt­ nis hervor, der wieder staunenswerte Früchte trägt, und der Baum der Verstandeserkenntnis läßt, vermittelt durch das erregte Staunen, einen ähnlichen Baum der Verstandes­ erkenntnis hervorwachsen". Wie aber unendlich viel über sich kreisförmig zurückkehrende Progressionen erst in der Kugel ihre volle Wirksamkeit entfalten, so partizipieren die einen Wesen an dem Ziele aller Dinge mittelst der anderen und dieses Ziel ist die „größte Kugel": Gott, die vollkommenste Vollendung von allem. In Gott ist auch die Einheit als Prinzip jeder Zahl, weil diese Einheit als die größte nicht vervielfältigt werden kann, während jede Zahl ein darüber Hinausgehen zuläßt und so keineswegs das Größte oder Kleinste sein kann. Die Zahl 1 als numerische Größe wurde also von der wahren Einheit streng unterschieden. Und so steigt die wahre Einheit, die nur im Anderssein partizipiert wird, in das geistige Leben, das zu dieser unzerstörlichen Einheit nach oben erhoben ist, hinab, und dieses verbindet sich mit dem verständigen und schließlich mit dem sinnlichen Leben. Infolge des staunenerregenden Ein­ drucks aus der Sinnenwelt ist diese wieder Ansang des Zurückströmens, durch welches sich der Verstand aus Dunkel und Sinn­ bildern wieder zu dem Wissen des Nicht­ wissens um die wahre Einheit erhebt. Für diese kreisförmig über sich zurück­ kehrende Progression sind die ersten sechs Ganzzahlen, der „Senar", das wuchstümliche Bild: Es bezeichnet a die absolute, b die geistige, c die verstän­ dige, d die sinnliche, e die verständige, f die geistige Einheit.

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Der metaphysische Eros des deutschen Denkers will also aus der Zahl die „werdende" Zahl und den Zahlenquell selber finden*). In den tiefsinnigen Gedanken des Cusaners, daß die numerische Einheit von der wahren, nicht mehr vervielsältigungsfähigen Einheit streng zu unterscheiden ist, liegt zu­ gleich ein Hinweis auf die lebendige Dreieinheit des gött­ lichen Wesens. Alles was die Natur in den verschiedenen Lebensstufen nach innen, zur Höhe und zum Zentrum zieht: zur polaren Steigerung und zum immer erneuten schöpferischen Sichzusammenfinden der Pole, das war der mystischen Theo­ logie jener Zeit erst eigentlich recht lichtvoll unter dem offen­ barenden Worte Gottes: „Mein Sohn bist Du, heute habe ich Dich gezeugt!" Denn damit sind die beiden Pole gegeben, von denen jede wertende Haltung zur Wirklichkeit ihren Urausgang findet. Weil Gott in der Erzeugung des ewigen Logos sich zugleich als den unendlichen Wert umfaßt, kann die Liebe zwischen dem Vater und dem lebendigen Sohn auch erst in der lebendigen, der als Person ausgehenden Liebe, im Creator Spiritus, in absoluter Weise wirksam werden. Dante versinnbildet den polarisch schwingenden Lichtgrund der Gottheit im Bild der drei verschiedenfarbenen, aber gleich großen Kreise: „Der schien aus jenem im Reflex zu tauchen, Iris aus Iris, und den dritten schienen Die zwei als Glut gleichmäßig zu enthauchen." Ohne Zweifel ist im dreipersönlichen Gottesbegriff die für den endlichen Verstand an und für sich undurchdringliche und doch so leuchtkrästige Idee des absolut Lebendigen enthalten: jener gegenseitigen Kreisbewegung von einem Objekt zum andern, in welcher eines fortwährend dem andern ruft und sich ihm gleichzeitig gegenüberstellt. Hier haben wir auch den Ur­ grund dafür, daß der im Abstand zweier polarer Maxima sich ergebende Rhythmus, wie Adrien Turel einmal sagt, das gewaltigste und urwüchsigste Symbol des Lebens ist und jene polare Hochspannung die den Tod überwindende Lebenslinie i) Vgl. dazu die schönen Ausführungen über das Wesen deutschen Fahlendenkens bei Herm. Schwarz, „Nationalsozialistische Weltanschauung"

(6. 25).

selbst ergibt. In der Drei, das hat die organische Mathematik schon früh erkannt, ist abbildlich auch die lebendige Bewegung, das kreisende Lebensrad enthalten. Eine alte Darstellung der Trinität hat diese anschauliche Entsprechung sehr hübsch ver­ wertet. In diesem Zusammen­ hang gewinnt auch ein Wort Jakob Böhmes eine sehr tiefe Bedeutung: „Die Ge­ burt des Lebens windet sich als ein Rad in sich selbst hinein; und wenn es auf den Punkt kommt in das Innerste, so erreicht's die Freiheit." Das anschaulich-intui­ tive — dem organischen Leben wie dem künstlerischen Schaffen wesensverwandte — Denken behielt, wie wir sahen, auch indermittelalterlichen Zah­ lensymbolik eine entscheidende Bedeutung. Gerade deshalb vermochte es auch immer wieder so prägnant an die Grenzen des Unbegreiflichen zu führen, denn jedes Symbol weist über sich selbst hinaus. Erst als in der Mathematik an die Stelle des Gleichnisses die formelhafte, auf die zahlenmäßige Identität gerichtete „Gleichung" trat, konnte man glauben, mit der mechanistisch-mathematischen Formel alles Geschehen einmal der völligen Begreiflichkeit unterwerfen zu können. Laplace, in der Zeit der französischen Revolution und Napoleons lebend, wurde der Vollender dieses mathematischen Rationa­ lismus, als er den Begriff der „Weltformel" prägte. Durch die Gleichung war dann auch erst der Weg zur Beherrschung der Natur freigegeben. Zweifellos hat die neue exakte Naturwissen­ schaft die Ordnung der Wirklichkeit nach Maß und Zahl und ihre quantenhaste Gliederung im Kleinen und im Großen in großartiger Weise zu enthüllen vermocht. Aber sie hat uns auch in ihrer einseitigen Verabsolutierung den Zugang zum Sinn der Wirklichkeit, zum Wesen und Wert der Dinge, sehr weit­ gehend verschlossen und dem theoretischen und praktischen Materialismus einen gewaltigen Vorschub geleistet. Und nun

ist es gerade das Typische deutscher Wissenschaft gewesen, daß sie in Auflehnung gegen die Baconsche Machtformel den Zugang zur Welt der Wesenheiten und der Werte immer wieder mit heißem Bemühen gesucht hat und ein periodisch immer wie­ der einsetzendes, geradezu gigantisches Ringen mit dem Ma­ terialismus aufgenommen hat. Schon in Keplers Seele wohnen, zur Einheit gebunden, zwei verschiedene Bilder der Wirklichkeit zusammen. Reben seinem naturwissenschaftlichen Weltbild steht ein anderes, ein typisch deutsches, das vom Gemüt aus die Wertakzente im Aufbau des Naturganzen ins Auge faßt. Der Ausgangspunkt von Keplers Betrachtungen ist ein durchaus bildhaft be­ dingter, ein ästhetisch teleologischer. „Der Kreis der Erde", sagt er, „ist das Maß für alle übrigen. Um ihn beschreibe ich ein Dodekaeder und um dieses eine Kugel, so saßt diese den Mars, und um dessen Kugel beschreibe ich ein Tetraeder und um dasselbe wieder eine Kugel, so enthält diese die Jupiterbahn usw." So sehen wir, wie Kepler nach einer mathematisch sixierbaren Harmonie der Welt strebt, die dem Weltschöpfer vorschwebt und im Weltbau zur Realisierung gelangt ist. Da­ mit ist aber, wie Karl Siegels treffend dargelegt hat, ganz notwendig gegeben, daß Kepler nicht nur die sukzessiven Ver­ änderungen, sondern auch die Anfangskonstellationen als der Regel unterworfen betrachtet und in den zu jedem Zeitpunkt sich ergebenden Weltzustandsformen an ein Problem der Form überhaupt rührt, das erst viel später, und zwar im Reich des Organischen, wieder in den Gesichtskreis der Naturwissenschaft treten sollte. Kepler betrachtet das Planetensystem auch unter den harmonikalen Gesichtspunkten, stellt fest, wie die Pla­ neten durch alle melodischen Intervalle, die der Mensch in seiner Musik verwendet, stetig hindurchgehen. Im Hörsinn geht die Erfassung der harmonischen Zahlenverhältnisse ge­ wissermaßen schon dunkel, ohne vernunftgemäße Erwägung vor sich. Der Hörsinn, die für die Harmonien empfänglichen Seelen, sind den verwirklichten geometrischen Proportionen schon normgebend vorgeordnet und Gott selbst, die ewige Har­ monie, hat sie den Seelen und Naturkörpern eingeflößt. l) Geschichte der deutschen Naturphilosophie. Leipzig 1913.

Der Gedanke der Ordnung und Harmonie, der in Grie­ chenland von Pythagoras, Anaxagoras und Aristoteles vertreten wurde, hat im verwandten deutschen Denken außer in Kepler auch in Leibniz mächtige Wurzeln geschlagen und in dessen Monadologie mit einer dynamisch spiritualistischen Weltaussassung sich vereinigt. Ähnlich versuchten Fechner und Lotze dem mechanischen Weltbild der Naturwissenschaften durch Beseelung seinen Qualitätsreichtum wieder zurück­ zugeben. Fechner gilt die wertfreie naturwissenschaftliche Art des Erkennens nur als die eine Seite der Wahrheit, die er, weil sie den großen Reichtum von Qualitäten von der Naturwirklichkeit ausschließt, als die „Nachtansicht" der Natur be­ zeichnet. Er schildert uns den geradezu widernatürlichen Ein­ druck, den diese Lehre bei einem Spaziergang durch das Leip­ ziger Rosental auf ihn machte. Und doch, sagt Fechner, nur die Oberflächlichkeit unseres Blickes, nicht die Tiefe der Dinge haben wir anzuklagen, wenn wir meinen, die Blumen und Schmetterlinge tilgten ihre Farben, die Geigen und Flöten ihren Ton. Warum sollen wir, wenn doch unser eigenes uns unmittelbar gegebenes Bewußtseinsleben eine Fülle von Quali­ täten besitzt, dieselben der körperlichen Welt abstreiten? Warum sollten nicht allen körperlichen Erscheinungen Qualitäten als seelische Begleiterscheinungen ihrer Bewegungen zugrunde liegen? Ist die Nachtansicht nicht der Kehrseite eines bunt gewirkten Teppichs zu vergleichen, die wir nur so lange allein sehen, als uns der „seelenartige Quellgrund alles Naturge­ schehens" verborgen ist, eines Quellgrundes also, dem die Qualitäten des Leuchtens, Wärmens usw. recht wohl zu­ kommen können, wenn auch das naturwissenschaftlich Faßbare daran nur die Bewegungen sind, mit denen sich die Physik beschäftigt? Die Nachtansicht der Natur, nach welcher das bunte Bild der lebendigen Welt in Wirklichkeit nur ein seelenloses Spiel toter Atome oder Kräfte ist, sucht dann Lohe auch durch den Nachweis zu überwinden, daß der Mechanismus zwar aus­ nahmslos universell der Ausdehnung, aber doch zugleich völlig untergeordnet der Bedeutung und Sendung nach ist, welche er im Baue der Welt zu erfüllen hat. Lotze ist sich dessen un­ mittelbar bewußt, „daß die Welt sinnlos sein würde, in welcher

eins das andere begründete oder hervorbrächte, nur damit dies so sei und geschehe." Es fehlte dann dieser rein äußerlichen mechanischen Verknüpfung die ungleich tiefere Begründung aus dem Wert. Damit ist freilich nicht, wie Lohe meint, die Wahrheit letztlich durch das Gute gewährleistet, denn die Voll­ kommenheit eines Dinges begründet sich aus seiner inneren Übereinstimmung mit seinem Wesensplan, also aus seiner Wahrheit. Aber ein gewaltiger Schritt vorwärts ist mit der Einsicht, daß das Streben der Natur nur aufs Gute gehen könne, schon getan. Lotze macht es zwar zur Pflicht, den Schein aus der Natur hinauszuscheuchen und nach dem wahren Anblick des tragenden Gerippes zu sehen. Aber er betont zugleich: „Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme und Dust sind es, was die Natur an sich hervorzubringen und auszu­ drücken ringt und für sich allein nicht zu erreichen vermag; sie bedarf dazu des letzten und edelsten Werkzeuges, eben des empfindenden Geistes, der allein imstande ist, dem stummen Streben Worte zu verleihen." Der Philosoph sucht sich auch eine Vorstellung darüber zu bilden, in welchem Verhältnis innerhalb der Natur der vorbildliche Gedanke zu den arbeiten­ den Ursachen seiner nachbildlichen Verwirklichung steht. Er nimmt eine verinnerlichte Materie als Voraussetzung aller Wechselwirkung an, eine Materie, deren Elemente ebenso be­ faßt sind in dem unendlichen übergreifenden Leben Gottes, wie die Bewußtseinselemente im Leben der Seele, und deren Zu­ sammenhang nach dem „Gebot des einzig Realen in der Welt: des Guten", geordnet ist. Während aber bei Lotze das Wert­ problem wesentlich als Normproblem hervortritt, gewinnt es bei dem ehrwürdigen Fechner auch eine tief existentielle Bedeutung. Besonders eindrucksvoll kommt dies in seiner Wertung des Leidens zum Ausdruck. Je mehr wir mit Wider­ wärtigkeiten zu kämpfen haben und dieselben standhaft über­ winden, desto fröhlicher werden wir nach Fechner ins Jenseits treten. Körperliche Krankheit aber ist nur ein Diesseitsleiden, das sich nicht in das Jenseits erstrecken kann, weil der Tod ja diejenige Folge der Krankheit ist, welche sie selbst aufhebt. „Selbst der Kränkste, der nichts tun kann, kann dieses tun, daß er den Mut aufrecht hält... Es ist ihm in seiner Krankheit, seinen Leiden, eine Gelegenheit gegeben, sich etwas zu erwerben, das sich auf

keinem anderen Weg erwerben läßt... Was nicht hier sich härten will, wird dort gehärtet werden mit immer stärkeren Schlägen." Entscheidend wichtig gegenüber den rein metaphysischen Konstruktionen Lohes und Fechners, die allzu unmittelbar die mechanistische Weltansicht mit einer anthropomorph-spiritualistischen verschmelzen, sind ihre an der unmittelbaren Natur­ anschauung entsprungenen Intuitionen. In seinen Ausfüh­ rungen, die die menschliche Sinnlichkeit behandeln, findet es Lohe mit seinem wissenschaftlichen Gewissen durchaus verein­ bar, in den sinnlichen Qualitäten eine phänomenologische Ent­ sprechung zu der verborgenen Feingliederung der Körper auf­ zuzeigen. Die Regelmäßigkeit des Baues und die gleichmäßige Stetigkeit der inneren Anordnung verrät nach Lohe die Durch­ sichtigkeit eines Körpers, den ungleichartigen Zustand der Be­ standteile seine Trübe. Auch im Klang sucht Lohe nachzuweisen, „daß mit den äußeren Reizen unsere Empsindungsweisen nicht prinziplos verkettet sind." „Nicht mehr an der Kraft, die er ausübt, nicht an der Größe seines Widerstandes gegen äußere Gewalten schätzen wir jetzt die Härte, die Dichtigkeit, die Sprö­ digkeit und Federkraft des Körpers, vielmehr in der Fülle der Klänge, in ihrer Weichheit oder Herbigkeit, im Schneidenden oder Feuchten und Abgerundeten des Schalles glauben wir erst zu fühlen, wes Geistes Kinder alle jene physischen Eigen­ schaften sind und welche wahrhafte Härte und Sprödigkeit, welche wahre Weichheit des Wesens und Daseins sich in der Welt hinter jenen äußerlichen Formen räumlich wirkender Kräfte verhüllt." Wie aktuell diese Lotzesche Lehre von den Entsprechungen für die heutige Strukturphysik und Struktur­ chemie ist, können wir hier nicht näher ausführen. Wir müssen auf das Büchlein des Nobelpreisträgers Sir William Bragg: „Was ist Materie?'") hinweisen, in welchem die Entsprechung zwischen der Feinstruktur und dem äußerlich hervortretenden Charakter der Substanzen in geradezu meisterlicher Weise auf­ gezeigt wird. Tiefer aber noch als Lotze dringt Fechner in die Feingliederung der körperlichen Dinge ein. Er hat, wie Robert x) Leipzig 1931.

Stiuterborn1) nachgewiesen hat, für die Feingliederung des Atoms, für den Träger der Urordnung der Kristalle und der Urkraft rhythmischer Strahlung überhaupt das erste Modell gesunden. „Es lassen sich," sagt Fechner, „Systeme von Massen denken, bei welchen sich Ruhe (oder nur geringe Oszillation) eines Teils dieser Masse und kontinuierliche Bewegung des andern Teils dieser Massen wechselseitig bedingen." Ein solches System ist nun auch das Atom. Es besteht nach Fechner aus einem größeren und dichteren zentralen Teil, dem solaren oder ponderablen Atom, um welches „in geschlossenen Bahnen" die weit kleineren und feineren planetaren oder imponderablen Atome kreisen. Diese sind die Träger von „gebundenem Licht, Wärme, Elektrizität" und bilden eine „planetare Atmosphäre" um das Zentralatom. Auf der Tafel in der Arbeit Fechners sind in Abb. 4 die Bahnen der planetaren Atome als Ellipsen dargestellt (Abb. 1).

Abb. 1 (nach Fechner).

Lauterborn weist auch auf die Stelle hin, die den primär künstlerischen Impuls bei der genialen Konzeption Fechners erkennen läßt. „Es bedarf", sagt Fechner, „keiner Erörterung, daß diese Ansicht viel Schönes, ja Poetisches hat, in dem sie das Leben bis in das scheinbar Starrste herabzuführen scheint und indem sie das Bestehen aller Körper durch die feinste Ab­ wägung des Gleichgewichts allwaltender Kräfte ermittelt. Der Naturphilosoph, der sich dieser Ansicht bemächtigt, wird durch sie einen großen Schritt vorwärts dringen können und ihre Möglichkeit vielleicht schon durch die Schönheit der damit zu ziehenden Folgerungen und durch die sich von allen Seiten anschließende Analogie gerechtfertigt glauben, der Physiker abstrahiert jedoch billig von solchen Gründen." *) Gustav Theodor Fechner und sein Atombild vom Jahre 1828. Natur und Volk. November 1934.

Fechners ausgesprochen dynamische Denkungsart läßt ihn auch im Bereiche des Organischen manchen Tiefblick tun. Den organischen Entstehungsplan denkt er sich so, „daß die sukzessiven Differenzierungen im Sinne eines Fortschritts zur Stabilität gelegen sind, indem zuerst jede Organisation sich bloß bis zu einem gewissen Punkte abändert, wo dann ein weiteres Fortschreiten zur Stabilität nur durch die Trennung in zwei ergänzende Glieder geleistet werden kann. (Vgl. die analoge Auffassung der Bedeutung der sexuellen Differen­ zierung bei Schelling!) Eine so gedachte Entfaltung des orga­ nischen Reichs in eine Mannigfaltigkeit von Organismen wird insbesondere dadurch gestützt, daß jeder einzelne Organismus sich ja auch heute noch nach demselben Prinzip in eine Mannig­ faltigkeit von Organen gliedert. Rur daß dabei keine voll­ ständige Trennung der differnzierten Teile eintritt und es darum einer Korrektion durch einen entsprechenden Kamps ums Dasein der getrennten Teile, wenigstens nicht im gleichen Maße, bedarf. Denn in beschränktem Sinne fehlt es an einer der­ artigen Korrektion nicht, „sofern von schon entwickelten Organen oder Organteilen vielfach einer aus Kosten des andern wächst und solchen wohl gar ganz verdrängt." Durch seine Begründung der „Psychophysik" ermöglicht es Fechner in ganz eigenartiger Weise, den Erlebnisraum mit dem ihm zugrunde liegenden physiologischen Geschehen nicht nur in funktioneller Abhängigkeit, sondern auch sinnvoll — vom erhöhten Wertaspekt des lebendigen Geschehens selber aus — zu erfassen. „Man braucht sich dazu nur mit Fechner vorzustellen, daß jede Bewegung, sofern sie überhaupt die Bewußtseinsschwelle (die quantitative Schwelle) überschreitet, mit Lust behaftet sei, sobald sie sich der vollen Stabilität über eine gewisse Grenze hinaus nähert, mit Unlust dagegen, sobald sie von ihr über eine gewisse Grenze hinaus abweicht (quali­ tative Schwellen). Dabei ist nur die eine Schwierigkeit vor­ handen, daß jede Einwirkung bei konstanter Forterhaltung sukzessive an Lustwirkung abnimmt und evtl, sogar der Unlust Platz macht. Dies liehe sich freilich teils dadurch heben, daß die innere Erregung, die von der Einwirkung abhängt, nach dem Gesetz der Abstumpfung sukzessive der quantitativen Schwelle zusinkt, wovon ja auch der Grad der Lust mit abhängt, teils

aber durch die Voraussetzung, daß ein approximativ stabiler Zustand des ganzen Systems nur mit einem gewissen Wechsel der Erregung zwischen seinen einzelnen Teilen bestehen kann, nicht aber mit der über eine gewisse Grenze fortgesetzten ein­ seitigen Erregung eines einzelnen Teils. Nach Wegräumung dieser Schwierigkeit läßt sich nun die obige Annahme weiter führen. Und zwar läßt sich das Stabilitätsprinzip, im Sinne jener Zielstrebigkeit gefaßt, offenbar als Grundprinzip des göttlichen Schaffens und Waltens in der Welt auffassen^)." Welch gewaltige Keimkraft dem psychophysischen Problem in dieser Fechnerschen Sicht grundsätzlich innewohnt, zeigen F. Warrains Ausführungen zu dem „L’oeuvre psychobiophysik“ von Charles Henry'), das — von ästhetischen Fragestellungen ausgehend — eine allgemeine Sensibilitätstheorie zu entwickeln versucht, in der nicht nur Psychologie, Biologie und Physik von den Strahlungsgesehen aus erfaßt, sondern der auch die verschiedenartigsten Elemente der Energiequantenlehre untergeordnet werden konnten. Wie die deutsche Naturphilosophie in Fechner sich zu der genialsten Urkonzeption im Bereiche des anorganischen Kosmos: zum Atommodell, erhob, so erhob sie sich in Goethe zum Urmodell des organischen Kosmos: zur Schau der Urpflanze. „Die Urpflanze", schrieb Goethe an Frau von Stein, „wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, d. h. die — wenn sie auch nicht existieren — doch existieren könnten, und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten oder Scheine sind, sondern eine innere Wahrheit und Notwendigkeit haben." Das, was sich in immer neuer Form abwandelt in dem Modell der Pflanze, das deren Werdeplan zum Ausdruck bringt, ist das Blatt. Abb. 2 stellt die Blattmetamorphose in gesteigerter Abwandlungsfolge dar. Aus den aufkeimenden Samen entwickeln sich die Samen­ lappen zu den Keimblättern, die einfach, ungeteilt, meist ohne Blattgrün, dick, von roher Materie vollgepfropft und nur grob !) Siegel, Geschichte der deutschen Naturphilosophie 1913, Seite 330. 2) Paris 1931.

organisiert sind; sie sind die in der Entwicklungsreihe am tiefsten stehenden Blätter. Unmittelbar nach ihnen und über ihnen bilden sich die Laubblätter aus- breiter, meist ausgeschnitten, mit Blattgrün gefärbt. Sie stehen nach Goethe auf einer höheren Stufe der Ausbildung und Verfeinerung — eine Folge der Licht- und Lufteinwirkung. Die eigentümlichen Blättchen, welche die Blüte zusammen­ setzen: Kelch, Krone, Staubgefäße und Stempel bilden die höchste Stufe der Blattentwicklung, sie sind die feinsten, die höchst ent­ wickelten Blattformen. Goethe führt uns, wie wir sehen, einen be­ stimmten Gestaltungsrhythmus, ein bestimmtes Gestaltungs­ thema vor Augen, das die höhere Pflanze zu lösen versucht. Aber alle Blütenpslanzen lösen dieses Thema in verschiedenen Varia­ tionen. Es kommt Goethe vor allem daraus an, daß alle diese Variationen von demselben Grundplan getragen sind. Eben­ so wie Fechners Atombild den Grundplan aufzeigte, von dem jede Atomart eine bestimmte Abwandlung darstellen sollte, so Goethes Urpflanzenmodell in be­ zug auf die höhere Pflanze. Um aber für die Forschung und Abb. 2 das tiefere Verstehen der Natur­ (nach Kerner von Marilann). ordnung fruchtbar zu werden, mußten beide Modelle erst durch neue Betrachtungsweisen vertieft und präzisiert werden. Im Zusammenhang unserer Betrachtung ist es wichtig, auch das ausgesprochene Polaritätsdenken Goethes hervor­ zuheben. Schon rein naturwissenschaftlich meint er: „Wir

sollten den herrlicheil elektro-chemischen geistigen Leitfaden nie verlassen.... Elektrische- galvanische — nicht Schläge —, sondern Entwicklungen aus einem Innern, dessen Trennung und Suchen bei der Solideszenz zu einem abermaligen Trennen und Suchen aufgefordert wird. Zu diesem Anschauen müssen wir uns erheben." Goethe steht an anderen Stellen geradezu unmittelbar am Zentrum der thomistisch-aristotelischen Natur­ metaphysik. So, wenn er, wie wir schon eingangs betonten, jeden Urkörper in sich polar geschieden denkt, weil ohne vorher gedachte Entzweiung kein drittes Neues entstehen kann. Jeder Urkörper, sagt er, trägt schon eine gewisse Bestimmbarkeit in sich. Und in diese Bestimmbarkeit, in diesen seinen für das Neu­ entstehende geöffneten Materialgrund, in diese Verjüngung, muß auch das Leben auf jeder seiner Stufen — auch der mensch­ lichen — immer wieder einkehren. Auch für die Persönlichkeit gilt ihm, „daß wir, indem wir von der einen Seite uns zu verselbsten genötigt sind, von der anderen in regelmäßigen Pulsen uns zu entselbstigen nicht versäumen." Sehr treffend bezeichnet Paul Bogt als den Grundton in Goethes Lebensanschauung die unausgesetzt einem höheren Ziele zustrebende „Folge". Darum vermeidet Goethe auch jedes System und bejaht den Richtungswert der Erkenntnis in ihrer polaren Selbstunter­ scheidung und Selbstüberschreitung von Stufe zu Stufe: „Dich im Unendlichen zu finden, Mußt unterscheiden und dann verbinden. — Und wenn wir unterschieden haben, Dann müssen wir lebendige Gaben Dem Abgesonderten wieder verleihen Und uns eines Folgelebens erfreuen." Entscheidend für Goethes Denkform ist also ihre Analogie zu den Polaritätsformen der Natur. Auch die Vorstellungs­ arten und Denkweisen stellen nach ihm polare Gegensätze und Metamorphosen dar und können nach dem Ausmaß der Kop­ pelung gegensätzlicher Betrachtungsweisen und ihrer polaren integralen Selbstüberschreitung gestaffelt werden. Er gewahrt vor allem den Gegensatz zwischen dem atomistischen und dyna­ mischen Denken. Das durch die Koppelung der Pole ent-

stehende Folgedenken ist ihm genau so wie die Idee der Fortdauer mit dem Wesen des Lebens aufs innigste ver­ bunden. Unsterblich ist für ihn notwendig das persönliche Leben, das in der schöpferischen Höhenlinie des Lebens wirk­ sam ist. Und im Mittelpunkt und gleichsam als Ursymbol deutscher Wesenshaltung steht auch bei Goethe der Gedanke der existen­ tiellen Bewährung. Aus seinem seinsgerechten, am Studium der Natur geschulten Denken erwächst ihm jener starke Optimis­ mus, der in der Ballade „Paria" auch vor der harten rätsel­ vollen Tragik des Menschenlebens nicht ausweicht und sich in einem unerschütterlichen Vorsehungsglauben verankert. Goethe ahnte eben, wie bei aller Tragik — ja vielleicht gerade wegen ihr — das Leben groß, unbestechlich, seinsgerecht und darum wahrhaft wahr (nicht bloß abstrakt logisch wahr) ist und alle menschlichen Schlarafsenlandsutopien unendlich übertrifft. Grundlegend für die wertende Naturanschauung Goethes ist aber seine erkenntnistheoretische Einstellung zur Natur überhaupt. Goethe geht nie abstrakt konstruktiv vor, sondern wendet sich, wie er sagt, mit dem voll aufgeschlossenen Gemüt, „mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften" zum Gegenstände selbst hin. Das Bild der Dinge selber ist für ihn Ausgangspunkt, „um die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren greislichen Teile im Zu­ sammenhang zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern auf­ zunehmen und so das Ganze in der Anschauung zu beherr­ schen." Was Goethe ergründen will, ist also das unveränder­ lich Wahre, das Ewige, die Idee, die sich in den Erscheinungen darstellt. Die Ideen sind ihm nicht rein abstrakte Forderungen des Denkens, sondern lebendige Werte und Beweggründe für das Handeln. Sie gewinnen den Sinn des in der Norm ver­ bindlichen „Typischen", das ihn ja als Künstler ganz besonders interessierte. Die sinnliche Anschauung oder die Erscheinung, aus der uns gleichsam die Personifikation der Idee in Reinheit zurückstrahlt, ist das, was Goethe als „UrPhänomen" be­ zeichnet hat. Aber er will diese Einstellung zum Gegenstände in ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen nicht ungeprüft wissen. Das Wesentliche, worauf es von Kant aus gesehen beim Neuaufbau einer wertenden Naturanschauung ankommt: aus

eine Neukoppelung von Sinnes- und Erkenntnisraum, hat Goethe in die prophetischen Worte gefaßt: „Kant hat die Kritik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeutender, die Kritik der Sinne und des Menschen­ verstandes schreiben, und wir würden, wenn dies gleich treff­ lich geschehen, in der deutschen Philosophie nicht viel mehr zu wünschen haben." Diese Forderung hat nun die Gegenwart mit Erfolg zu erfüllen versucht. Außer Helmut Pleßner in seinem wich­ tigen Artikel in den „Naturwissenschaften" im 18. Jahrgang, Heft 42, ist es besonders Hermann Friedmann gewesen, der das Problem in Angriff genommen hat. Wir haben bereits früher dargelegt, daß für jede schöpferische Lebenslage die klare Scheidung und Unterscheidung der beiden Pole grundlegend ist. Das gilt auch für jede neue fruchtbare Erkenntnislage. Auf der einen Seite steht das exakte Erkenntnisideal der Physik, das die Naturvorgänge nur in der einen Ebene der mathe­ matisch darstellbaren Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Grö­ ßen erforscht. In dieser Ebene spielt der Tastsinn eine aus­ schlaggebende Rolle. Alles Messen, mit einem Zirkel z. B., ist nur eine Verfeinerung dessen, was man primitiv auch mit den Fingerspitzen ausführt. Der Tastsinn sieht ab von der Gestalt, er löst die Gegenstände in ein bloßes Nebeneinander gleich­ berechtigter und gegeneinander abgeschlossener Elemente auf und gilt für die Gesamtheit der Sinnesdaten und die logischen Verknüpfungen derselben als das letzte Kriterium der Wirk­ lichkeit. In sich selbst konsequent weitergebildet führte diese haptische (auf den Tastsinn sich gründende) Methode zu den großen Erfolgen der sogenannten exakten Naturwissenschaft. Das Exzentrische in ihr äußerte sich aber auch schließlich in der völligen Entzweiung des begrifflichen und anschaulichen Poles. Die Denkmodelle der modernen Physik und ihre mathematischen Hilfsmittel sind heute der Möglichkeit bildhafter Darstellung teilweise völlig entzogen. Wir stehen somit vor der Alternative, die doch wirklich bestehende bildhafte Seite der Wirklichkeit immer mehr als illusorisch zu erweisen oder sie völlig neu und so mit dem Erkenntnisraume zu verkoppeln, daß die mathematisierende Physik um keinen ihrer Ansprüche verkürzt wird. Diese

erste grundlegende Neukoppelung hat Friedmann versucht^). Er geht aus Kants Naum-Zeitlehre zurück, die noch durchaus auf die haptische Gegenstandsauffassung begrenzt ist. Sie mutz deshalb vervollständigt werden. Während in einem dem hapti­ schen Erkenntnisgebiet zugehörigen Koordinatensystem „oben" und „unten" und „vorn" und „hinten" völlig gleichberechtigt erscheinen, ist das in einem dem optischen Gebiet zugehörigen nicht der Fall. Die Hinzunahme des optischen Gebietes ist aber schon für die physikalische Erkenntnis grundlegend. Ein dem haptischen Gebiet zugehöriger Begriff ist der der indiffe­ renten neutralen Zusallswahrscheinlichkeit. Ihm entspricht das Axiom der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre, datz positive und negative Fehler gleich wahrscheinlich sind. Damit ist aber das Gesetz des geometrischen Mittels nicht vereinbar. Fried­ mann geht von folgendem einfachen Beispiel aus: „Es werden uns zwei Wägungsresultate p1 und p2 zur Ausgleichung dargereicht. Wir zögern nicht, das „natürliche" arithmetische Mittel zu benutzen und geben als das wahr­ scheinlich richtige Resultat % {p1 + p2) an. Nun wird uns mit­ geteilt, datz wir uns getäuscht haben. Der Körper war nämlich das eine Mal auf der rechten, das andere Mal auf der linken Schale der Waage gewogen worden, wobei zuerst die eine, dann die andere Gewichtszahl sich ergeben hatte. Es ist aber klar, daß, wenn das Gewicht des Körpers x, die Länge des rechten Waagbalkens R, die des linken L, das Gegengewicht zur linken Schale pr, das zur rechten p, ist, die Beziehungen gelten: xL = pT R und xR = ptL, woraus sich durch Multipli­ kation der Gleichungen der Wert x = ypr p, ergibt. Es hätte also das geometrische Mittel benutzt werden müssen." Das Gesetz der Mittelwertsbildung mußte also entsprechend den instrumentalen Bedingungen, der symmetrisch-korrela­ tiven Anordnung, transformiert werden. Durch die Erfassung einer über die rein haptische Kausalität hinausgehenden Ver­ knüpfung der Erscheinungen mußte mit der indifferenten, neu­ tralen Zusallswahrscheinlichkeit des arithmetischen Mittels ge­ brochen werden. Und in dieser Erfassung der symmetrischkorrelativen Anordnung wird die baugesetzliche „tektonische" :) Vgl. dessen epochales Werk, Die Welt der Formen. Berlin 1925.

Beurteilung des Gegenstandes der mechanistischen entgegen­ gestellt. Letztere führt in der gänzlichen Verflüchtigung des qualitativen Elements auch zu der mit der Quantentheorie unvereinbaren Wahrscheinlichkeitsaussage, „daß ein Punkt in einem gegebenen Raumelement liegt, unabhängig von der Lage und Gestalt dieses Elements und einfach proportional seinem Volumen." Die Gesetze der Haptik helfen also erst dann die Gegen­ standsauffassung vervollständigen, wenn sie irgendwie in die optisch ermittelten Gesetze der Tektonik aufgenommen werden. Nimmermehr aber lassen sich die Gesetze der Tektonik aus reine Haptik, die auf den reinen qualitätslosen und völlig neutralen Größenbegrisf aufbaut, reduzieren. „Vom neutralen Stand­ punkte des arithmetischen Mittelwertsgesetzes aus müßte in den mit dem geometrischen Gesetz gewonnenen Ergebnissen das Walten einer systematischen Fehlerquelle behauptet wer­ den; mit demselben Recht könnte man die vom Grunde des undifferenzierten organischen Lebens sich abhebende höhere morphologische Bildung als den Ausdruck eines systematischen Naturirrtums betrachten." Indem so Friedmann zeigt, daß die tiefste Entscheidung über die Art des Ausgleichsgesetzes „in einer gleichsam meta­ physischen Naturbedingung ruht, zu der man a priori Stellung zu nehmen hat", bahnt er sich den Weg zu seiner „Formen­ lehre", zu seinem „morphologischen Idealismus". Die „reine Größe", die „reine Bewegung", sind nach ihm bloße Grenzbegriffe. Das eigentlich Reale ist die Welt der „Formen" welche zugleich die der Werte und Normen ist. So erneuert er in der Biologie die Typologie in einem spezifisch plato­ nischen Sinne. Friedmanns Ausführungen haben gezeigt, daß die hap­ tische Betrachtungsweise der Physik für bestimmte Erkennt­ nisse spannungslos einpolig, d. h. unfruchtbar bleiben muh, wenn sie nicht durch eine auf den Sehsinn ausbauende tekto­ nische Betrachtungsweise „überhöht" wird. Während Fried­ mann, der Deutschbalte, den Zugang zur Natur durch das Bild sucht, denkt Hans Kayser über die Natur in Tönen^). *) Siehe Hans Kayser, Der hörende Mensch. Berlin 1930. Verlag Lam­ bert Schneider.

Dieser Naturforscher und Musiker, der väterlicherseits von vertriebenen Salzburgern und mütterlicherseits von schwäbi­ schen Handwerkern aus Biberach stammt, sucht ähnlich wie Friedmann die für die tiefere Weltbetrachtung spannungslos einpolige und darum unfruchtbare Haptik zu überhöhen. „Gibt es, so fragt er, einen Weg, unter Anerkennung, nicht unter Ablehnung des bisher Geleisteten, zu einem einheitlichen Welt­ bild zu kommen, welches ein Erleben der Gesamtheit dieses Weltbildes gestattet? Es kann kein Zweifel sein, daß ein solches „Erleben" nicht nur gefühlsmäßiger Art sein darf, sondern daß es jenem inneren Schauen entspringen muß, welches jeden Menschen bei der Ahnung der Urbilder ergreift, jener Urbilder eben, als deren Ausdruck wir die sinnhaste Ordnung der Welt und ihrer Erscheinungen erkennen." Denn nur dies Erkennen ermöglicht auch ein echtes der bloßen Sub­ jektivität sich entziehendes „Werten". Kayser geht aus von dem akkustischen Erlebnis der Harmonie. Harmonie entsteht durch die Verbindung zweier verschiedener Töne, welche in einem bestimmten, und zwar möglichst einfachen Verhältnis der Schwingungszahlen stehen. Die Verhältnisse der Schwingungs­ zahlen sind derart, daß auf je eine Schwingung des Grundtons 9/8 der Sekunde, 5/4 der Terz, 4/3 der Quart, 3/2 der Quint, 6/3 der Sext, 15/8 der Septime und 2 der Oktave kommen. Die Oktave ist der vollkommenste Gleichklang. Aber das Gesetz 1:2 ist zu einfach; wirklich harmonisch ist die Terz 5:4 und Quint 3:2, am harmonischsten klingt der volle Akkord: Grundton, Terz, Quint, Oktav. Das besagt aber nichts anderes, als daß das Ohr die merkwürdige Fähigkeit hat, die Zahl in seiner Weise exakt „be-werten" zu können. Die meßbaren Schwin­ gungszahlen des tragenden Mediums werden dadurch davor bewahrt, in dem wertfreien Begriffssystem der physikalischen Akustik völlig „haptisiziert" zu werden. Ihr Verhältnis ge­ winnt nun auch in der denkerischen Erfassung die Bedeutung eines „Urverhältnisses", wir rühren an eine Ordnung, an eine Norm der Dinge. „Der Zusammenklang", sagt Aristote­ les, „ist der Logos der Zahlenhöhe und Zahlentiefe." Seine Bevorzugung auch in den übrigen Naturbereichen zu unter­ suchen, ist die Ausgabe der harmonikalen Forschung. Wir können hier nur aus einige der wichtigsten Untersuchungs-

ergebnisse Kaysers auf dem Gebiete des organischen Lebens eingehen. Unter der Annahme, daß jedes organische Indivi­ duum irgendeinen Ton „verkörpert", geht der einfachste Urprozeß des Wachstums in einem Oktavverhältnis, d. h. in geometrischer Progression 1:2:4:8 ... vor sich. Diese Annahme hat sich inzwischen glänzend bestätigt. Wo nämlich der Urprozeß rein verwirklicht ist, wie im Wachstum der Zellkerne vieler Monokotylen, da kommt es zu einer rhythmischen Verdoppe­ lung ihres Volumens irrt Verhältnis 1:2:4:8, was auf das Wachstum und die aktive Teilung der kleinsten Plasmateilchen, der Protomeren, also auf eine Harmonikale Urquantelung, zu­ rückzuführen ist1). Dem Wachstum und der Teilung der Chromosomen bei der aktiven Kern- und Zellteilung liegt die­ selbe Urquantelung zugrunde. Sie stellt die unterste Prozeß­ form einer fortschreitenden harmonikalen Durchgliederung dar, durch die von oben herunter die Pflanze sich in immer neue einander einschließende Unterabteilungen (enkaptische Ord­ nungen) von Organen, Geweben und Zellorganen differenziert. „Nicht lediglich um das Problem der Integration aus der Differenziation handelt es sich hier; denn dieses hat ja bereits in der haptischen Zahlenlehre seine Lösung gefunden. Das Integral ist lediglich die Summe der Teile, das Differential sein Spiegelbild: die Differenz der Teile. Die Wertung hin­ gegen eliminiert aus dem Be-griff des Integralen die haptische Währung; sie stellt die Frage nach der Einheit, der Form und transformiert damit zugleich das in der Haptik lediglich summative Moment der Beziehung in ein solches optisch-akustischer Spannungen", die als normativ aufzufassende Raum- und Zahlenverhältnisse dem Werdeplan der Pflanze zugrunde liegen. Kayser knüpft hier an die bildhaft geometrische ent­ wickelte Ableitung der Blattstellungsverhältnisse durch Schuepp an. Die Anordnung der Blattanlage am Wachstumskegel er*) Siehe die Arbeit meines Kölner Doktoranden M. Monschau, Unter­ suchungen über das Kernwachstum bei Pflanzen. „Protoplasma". 1930. Bd. IX, Heft 4. Die Arbeit bestätigte frühere Messungen auch an tierischen gellen durch Facoby, den Assistenten Martin Heidenhains, und ist durch neuere Arbeiten selbst wiederum bestätigt worden. Das Prinzip der enkaptischen Durchgliederung selbst ist von Martin Heidenhain formuliert worden. Dgl. auch dessen für die Harmonikale Forschung sehr wichtiges Werk: Die Spaltungsgesetze der Blätter. Jena 1932.

folgt nach Schuepp nach einem anschaulichen Arschema, aus dem sich alle in der Natur verwirklichten Anordnungstypen als Abwandlungsformen ergeben. Schuepp geht von der Voraus­ setzung aus, daß jede Anlage zu ihrer Nachbaranlage in der­ selben Lagebeziehung steht, daß die Blattanlagen bei konstanter relativer Wachstumsgeschwindigkeit und gleichen Altersab­ ständen (Plastochron) ähnlich sind und zwischen zwei auf­ einanderfolgenden Gliedern der Reihe ein konstantes Größen­ verhältnis besteht. Die Stellungssysteme, die so entstehen, bezeichnet er als „ähnliche Systeme" und die Anlagen als „Teil­ körper" dieser Systeme. Bestimmend für die aus einem solchen ähnlichen System hervorgehenden Blattstellungstypen wird die Form der Teilkörper. Ist die Scheide vollkommen sym­ metrisch, so entsteht eine zweizeiligsymmetrische Blattstellung oder es entstehen alternierende Quirle. Sind in den auf­ einanderfolgenden Scheiden die Flanken gleichsinnig asym­ metrisch», so entsteht die Spiralstellung. Ist die Asymmetrie der Scheidenränder so, -aß der größere Flügel abwechselnd rechts und links fällt, so führt dies zur zweizeilig dorsiventralen Stellung. Alle diese Typen werden als grundsätzlich gleich­ berechtigte Lösungen des Problems angesehen, einen Sproß aus regelmäßig angeordneten Sproßgliedern auszubauen. Dieses System kann durch) verschiedene Abergangsformen von weniger streng gesetzmäßigem Ausbau bereichert werden. Wie sehr die von Schuepp bildhaft geometrisch entwickelten Blatt­ stellungsverhältnisse auch zur harmonikalen Anlyse anregen, hat schon Albert Wigands empfunden. „Wie die Harmonie der Töne", sagt er, „aus der leicht faßlichen Proportionalität der Schwingungszahlen beruht, so bedingt auch das einfache Verhältnis, welches in der Reihe 1/2,1/3,2/5, 3/s> • • •> die Blattund Zweigstellung bestimmt den wohlgefälligen Eindruck dieser Anordnung." Kayser geht weiter und gibt den logarithmischen Spiralen, aus denen die Blattanlagen am Vegetationskegel sitzen, eine besondere Harmonikale Bedeutung. Er weist daraus hin, daß die Summierung der Tonwerte am besten durch ihre Logarithmisierung erreicht wird und daß der Logarithmus das x) Dgl. das auch heute noch lesenswerte Bändchen, Albert Wigand, Der Individualismus in der Natur. Breslau. Frankes Verlag. An der Sandkirche 3.

anschaulichste Bild der Teiltonarithmetik gibt. And so gelingt es ihm sogar, ein „Hörbild der Arpslanze" zu entwerfen, das in seinen tongesetzlichen Disferenzierungsmöglichkeiten ebenso mannigfaltig ist, wie das Schueppsche Werdemodell in seinen bildhaft geometrischen Abwandlungsformen. Aber es gibt noch andere Harmonikale Typisierungen. Wie die geo­ metrische Interpolierung der Teiltonentwicklung zu der ein­ fachen Symmetrie primitiver organischer Urformen, zu den quadratischen, dreieckigen und kreisförmigen Grundtypen der Diatomeen und Radiolarien führt, so führt die Harmonikale Dynamik der ersten sechs Ganzzahlen zu weiteren wichtigen Entsprechungen. Der „Sechserwert" oder der „Senarius", den wir schon bei Nikolaus von Cusa gewürdigt fanden, tritt in seiner harmonikalen Bedeutung darin hervor, daß in den Schwingungszahlen der in unserer Musik gebräuchlichen Töne und Akkorde nur senarische Zahlen eine Rolle spielen, so daß die Zahlen 1—6 mit ihren Multipeln und Submultipeln völlig zur akustischen Darstellung selbst unserer kompliziertesten musi­ kalischen Äußerungen genügen. Nun finden wir, daß auch in der Entwicklung und Formgestaltung der Natur, der Senarius eine wichtige Nolle spielt. So treten z. B. in den Verbindungs­ gewichten der chemischen Elemente hauptsächlich senarische Zahlen auf; die Entwicklung der Kristallformen differenziert sich vorwiegend innerhalb senarischer Zahlwerte; in der Blätterund Blütenmorphologie gehen die Teilungsverhältnisse selten über den Senarius mit seinen Multipeln und Submultipeln hinaus. Der Mittelpunkt der Blütenknospe einer Klatschrose z. B. veranschaulicht den Quintrhythmus (3->6-> 12—> ...). Ja diese „Würde" der senarischen Zahlen ist so entscheidend, daß die Natur, ehe sie außersenarische Rationenbildner wie 7, 11, 13, benutzt, lieber an demselben Individuum zwei senarische Rationenbildner ansetzt, wie das hochinteressante Beispiel der Passionsblume zeigt, bei welcher ein dreiteiliger Stempel auf einer fünfteiligen Staubgefäß- und Blütenblatt­ anordnung sitzA). J) Grundlegend für die „Harmonikale Symbolik", die den Ton nicht nur als physikalisch faßbar, sondern auch als Erlebnis, als Symbol für Schwingungs- und Proportionsgesetze jeder Art betrachtet, ist auch das gleichnamige, von Kayser sehr geschätzte Werk des Freiherrn Albert von

Fassen wir die Grundprinzipien der neuen Betrachtungs­ weise zusammen, so ergibt sich folgendes: das Polaritätsgesetz des Lebens erweist eine bloß einpolige Betrachtungsweise im letzten kulturschöpferischen Sinne als unfruchtbar, so fruchtbar sie auch in ihrer eigenen Ebene sich zu entfalten vermag. Eine neue schöpferische Perspektive kann aber nicht dadurch aufge­ schlossen werden, daß der jeweils untergeordnete Pol vernichtet, sondern nur dadurch, daß er für den neuen Pol geöffnet, mit ihm vereinigt und beide dadurch zu einer neuen Betrachtungs­ weise überhöht werden. Durch diese Überhöhung vollzieht sich heute die große Transformation aus der begrifflich intellektualistischen, im Grunde unanschaulichen und bildzerstörenden Erkenntnis in die wieder anschaulich ideenhaste Erkenntnis der Wirklichkeit. Aber sowohl bei Friedmann wie bei Kayser ist die Über­ höhung noch nicht bis zu einer innerlich begründeten Ord­ nungsschau vorgedrungen. Wenn wir die Blattstellungsver­ hältnisse bei der Pflanze entweder im Sinne von Schuepp aus ein optisch-geometrisch oder im Sinne von Kayser aus ein Harmonika! darstellbares Schema zurückführen, so haben wir dieselben einer gewissen Norm unterworfen, die zum mindesten im letzten Falle, nämlich laut Ausweis unseres Hörsinnes, ein vorzuziehendes Schema für uns bezeichnet. Aber wir haben damit noch nicht den inneren Grund ermittelt, der im Wesens­ einblick in die Verhältnisse der Pflanze uns dieses Schema als ein vorzuziehendes erscheinen läßt. Zunächst können wir bei der grünen Pflanze als einem ausgesprochenen Lichtwesen anführen, daß im Rahmen jenes Schemas faktisch jene Stel­ lungen verwirklicht werden können, die eine günstige Licht­ ausnützung ermöglichen. Wenn diese auch vielfach durch be­ sondere Anpassungen zu leichten Abweichungen von der Norm und zu allerhand Übergängen führt, so bleibt doch der Grund­ typus wegweisend. Aber damit sind wir noch nicht wurzelhast genug zu dem Entstehungsplan der Pflanze vorgedrungen, der sich aus ihrer spezifisch pflanzlichen Lebensbewegung ergibt. Thimus. Wir verdanken einen ausgezeichneten Abriß des Lebens und Wirkens dieses großen Rheinländers einer Mitteilung von P. Neichensberger, die dieser gemeinsam mit Matthias Scheeben in der Kölni­ schen Volkszeitung am 9. 11. 1878 veröffentlicht hat.

Es gibt in der Pflanze einen selbsttätig formenden und einen ernährenden Bezirk und beide sind durch einen immer wieder zu sich selbst zurücklaufenden Kreisprozeß verbunden, sei es, daß dieser Prozeß innerhalb der sich entwickelnden Pflanze selber kreist, oder — wie bei der Fortpflanzung — einen neuen Kreisschluß von Grund aus neu eröffnet. In der Auswirkung beider Kreise werden die beiden Grundfähigkeiten der Pflanze in gestaffelter Weise geschieden und wieder verbunden. Wir haben zunächst die oft mehr passiv stoffversorgenden Keim­ blätter (Samenlappen mit Reservestoffen vollgepfropft), dann die im Licht aktiv stoffzubereitenden Laubblätter, die breiter, oft zierlich ausgeschnitten und mit Chlorophyll erfüllt sind. Dann folgen normal die Hochblätter und in der Blüte selbst die vier Blütenblattkreise: die schützenden, die Basis der Blüte befestigenden Kelchblättchen, die farbigen, insektenanlockenden Kronblätter und die Bildner der Klein- und Großsporen (Pollen und Embryosack): die Staub- und Fruchtblätter. Den Blättern zugeordnet sind die eigentlichen Formbildungszentren der Pflanze, und zwar den Laubblättern die Achselknospen mit neuem Sprossungsvermögen, den Fruchtblättern die Samen­ anlagen mit neuem Fortpflanzungsvermögen in der von der Großspore gebildeten Eizelle. Durch die Produktion von Ei­ zellen und Pollen, die sich zur Befruchtung vereinigen, vermag die Pflanze immer wieder von Grund aus ihren Kreisprozeß zu eröffnen, d. h. ein neues Individuum zu produzieren. Dieses „Eröffnen von Grund aus" hat einen gewissen Vorrang vor der vegetativen Vermehrung. Bei Vermehrung eines Baumes oder Strauches durch Stecklinge werden die ursprünglichen Phasen der Entwicklung nicht durchlaufen. Die Folge davon ist, daß vom Material der Formbildung schon durchgefocmtes Material mit übernommen wird, dessen evtl, schon einseitige Durchformung nicht mehr rückgängig zu machen ist. Es ist nicht gleichgültig, welche Augen eines Rosenstockes zur Pfrop­ fung verwendet werden. Knospen von sehr langen, nicht blüten­ tragenden Zweigen liefern Pflanzen, die zwar rasch wachsen, aber weniger oder keine Blüten bringen, hingegen Knospen von kurzen, blütentragenden Zweigen Pflanzen, die reichlich blühen. Das Vermeiden jeder einseitigen Übertragung von Sproßeigenschasten ist also in jedem Falle nur dann sicher-

gestellt, wenn das Materialfeld gegenüber dem Gestaltungs­ feld in die reine Bestimmungsbedürftigkeit zurückgeführt ist, und das ist bei der sexuellen Vermehrung möglich, wo mit der Durchformung des Materials ganz von vorne begonnen wird, dieses also noch plastisch durch und durch ist. Für viele Pflanzen dürste deshalb die sexuelle Vermehrung im Ver­ gleich zur vegetativen eine Verjüngung bedeuten, eine Einkehr in den Grund, d. h. in die ursprünglichen Werdemöglichkeiten zum Zwecke der Neuausgliederung im Kreisprozeß des Werdens. Die Blüte nimmt, wie wir aus diesen Erwägungen sehen, mit Recht auch eine die Pflanze äußerlich krönende Vorrang­ stellung ein. Sie ist das Zeichen der schöpferischen Hochspan­ nung ihrer Lebenstätigkeit, der im höchsten Gefälle vollzogenen Vereinigung ihres gestaltungsbedürftigen Materialgrundes und ihres gestaltungsmächtigen Organisationsfeldes. Bei der Pflanze ist aber mit dem Befruchtungsakt und der Ausbildung des Embryos und Samens noch eine andere merkwürdige Erschei­ nung verbunden, auf deren werdeplanmäßige, polaritätsphilosophische Bedeutung zuerst der Braunsberger Philosophieprofessor Michelis hingewiesen hat. Wenn nämlich in der Samenknospe aus dem befruchteten Ei der bereits polar diffe­ renzierte Embryo sich entwickelt hat, so wird derselbe mit der Spitze nach unten und der Basis nach oben in das Nährgewebe hineingeschoben (durch den sog.Embryoträger oder Suspensor). Das Würzelchen kommt so in die richtige Lage zu seiner späteren Austrittsstelle. Aber diese Polaritätsumkehr in der räum­ lichen Stellung des Embryos scheint dem Werdeplan der Pflanz-» — im großen und ganzen gesehen — doch nicht zu ent­ sprechen. Denn es besteht eine weit verbreitete Tendenz, diese Umkehr wieder dadurch aufzuheben, daß die ursprünglich gerade gerichtete oder geradläufige Samenanlage sich krümmt und schließlich in der Wachstumsrichtung völlig umdreht (über die krummläufige zu der gegenläufigen Samenanlage wird). Da­ durch würde der Keimling wieder in seine naturentsprechende Lage gebracht. Diese Tendenz ist eine wirkliche Entwicklungs­ tendenz, denn sie tritt mit der Höherspezialisierung der Formen in Kraft. Nun erleidet zwar diese Richtungsumkehr je nach der Einstellung des Samenanlagentrügers zur Placenta mannig­ fache sekundäre Abänderungen, aber diese sucht Michelis mit

dem typischen morphologischen Gesamtplan der Blüte in eine eindeutige Beziehung zu bringen. Für die ausrechtstehenden gegenläufigen Samenanlagen weisen die Köpfchenblütler auf den Weg, wonach wir es als das Merkzeichen der Bildungs­ richtung der Blüte betrachten, wo viele Einzelblüten zur Idee einer Blüte verbunden sind, wodurch wir dann auch das Vor­ kommen der gegenläufigen Samenanlagen bei den Hahnen­ fußgewächsen und bei den Lippenblütlern verstehen. Bei den Hahnensußgewächsen würde bei diesem Vergleich jedes ein­ zelne Karpell ein Analogon zur Blüte bedeuten und durch diese ihre Beziehung zu den Köpschenblütlern würde uns auch die merkwürdige Bildung ihrer Blumenblätter aufgeklärt. Denn diese sind eigentlich röhrenförmig oder zweilippig gebildet, haben also in die Richtung der Labiaten und der Lippenblütigen unter den Köpschenblütlern eingeschlagen. Die Blüten, bei denen der Fruchtknoten als eine mehrsamige Samenkapsel angelegt ist, bewahren die gegenläufige Samenanlage, nur daß diese jetzt waagrecht, zentral oder exzentrisch angeheftet ist; bei denen hingegen, wo eine Mehrheit von Samenanlagen auf der Spitze der Achse im einfacher! Fruchtknoten zusammensteht, tritt charakteristisch die krummläufige Samenanlage auf, wie bei den Primel- und Nelkengewächsen. Es muß zukünftiger Unter­ suchung vorbehalten bleiben, den wertvollen Kern von Michelis' Untersuchungen herauszuschälen. Seit Wilhelm Troll die innere Berechtigung rein gestalttypisch vergleichender Untersuchungen bei den Blütenpflanzen erwiesen hat, liegt ein starker Anreiz dafür vor. In ähnlicher Weise wie bei der Pflanze kann auch bei Tier und Merrsch eine Aberhöhung der tektonischen Betrach­ tungsweise durch die polaritätsphilosophische durchgeführt werden. Wir haben aus das Problem bereits in der ersten Ab­ handlung dieses Büchleins hingewiesen und können uns des­ halb hier kurz fassen. Die höchste Lebenstätigkeit der Pflanze besteht darin, daß sie dem befruchteten Ei und damit dem Nach­ kommen die Fähigkeit mitgibt, die Natur des Elters durch die physische Verähnlichung mit ihm wiederum ganz neu offenbar zu machen. Auch das Erkennen ist ein Osfenbarmachen von Etwas, aber nicht durch physische, sondern durch ideale inten­ tionale Verähnlichung mit ihm — nach der Analogie des

Bildes, das auf den Gegenstand hinweist, den es darstellt. Dieser Erkenntnispol beginnt beim Tier vom bloßen Zeugungs­ pol wurzelhaft sich zu unterscheiden. Während die Entwick­ lungshöhe der Pflanze durch die höhere oder mindere Aus­ bildung ihrer Fortpflanzungsorgane gekennzeichnet ist, wird die Entwicklungshöhe des Tieres in Zusammenhang mit dem vom Fortpflanzungspol geschiedenen Erkenntnispol, nämlich durch die Entwicklungshöhe des Zentralnervensystems, charak­ terisiert. Ferner ist es bekannt, daß bei niedrigeren, noch viel mehr im Dienste der Art stehenden, als durch individuelle Unterschiede auffallenden Tieren die Fortpflanzungsorgane die charakteristischsten, fast allein sicheren Artmerkmale zeigen. Von den Wirbeltieren kann dies schon keinesfalls in diesem Maße behauptet werden. Und dazu kommt im Werdeplan des höheren Tieres noch eine wichtige gegensinnige Bewegung. Je mehr die zentralste Vertretung von immer mehr nervösen Funktionen hinauf nach dem Kopfende in die Hirnrinde und Stirngegend wandert, desto mehr wandern die Geschlechts­ drüsen vom Oberteil des Körpers in die Beckentiefe hinab. Von den beiden Urnierengängen, die ursprünglich kerzengerade längs der Wirbelsäule aufstiegen, werden der eine nach rechts, der andere nach links umgebogen. Bringt man den Umbiegungs­ punkt in Deckung mit dem Drehpunkt einer normal gehaltenen Uhr, so kommen beide Urnierengänge zunächst senkrecht dazu zu liegen und bilden mit dem kleinen Zeiger, der drunten aus die Sechs zeigt, ein T (Abb.Z). In dieser Viertelstellung bleiben die Geschlechtsdrüsen bei den niederen Säugern, wie Schnabeltier, Ameisenigel, Ameisenbär und den Faultieren stehen. Bei den höheren Säugern aber machen nur die Eierstöcke hier Halt und die Hoden wandern weiter hinab. Bei Pferd und Esel er­ reichen sie die Bauchwand, wo sie sich in die Lücken zwischen den Sehnen und Muskeln der Bauchwand eingraben und hier in der sog. Leistenpforte liegen bleiben. Bei anderen Gruppen, wie bei den Beuteltieren, Rindern, Raubtieren, Affen, wandern sie durch diese Pforte zur Bauchhöhle heraus und stülpen die Haut zu einem Sack, dem Hodensack, vor. Beim Menschen er­ reicht die gänzliche Herabwanderung und Heraussehung der männlichen Keimdrüsen sowie auch die dazu gegensinnige Hinaufwanderung der höchsten nervösen Zentren nach dem Kopf-

und Frontalende ihren Höhepunkts. Dieser äußeren Schei­ dung und Unterscheidung entspricht aber die innere nun wurzel­ hast vollzogene Scheidung und Unterscheidung des Erkenntnis­ poles und des Zeugungspoles beim Menschen. Die erblich

heim

Abb. 3 (nach Kahn).

festgelegte Sinneseinstellung und das gefühlsmäßige Erleben ist nun nicht mehr mit einem gleichfalls noch erblich fixierten Urteilsvermögen innerlich unfrei verbunden. Dem Bild tritt die Idee, dem Erlebnis- der Erkenntnisraum als ein so wesentlich davon Unterschiedenes gegenüber, daß beide sich nun wirklich frei miteinander zu der inneren Ideenbesruchtung zu kreuzen und selbständig über dem physischen Erbstamm einen kulturellen Erbstamm aufzubauen und weiterzupslanzen vermögen, was beim Tier ausgeschlossen ist. Der *) Vgl. die diese Verhältnisse erst grundlegend und ausführlich klärenden Untersuchungen von Armin Müller in „Struktur und Aufbau der biologischen Ganzheiten". Leipzig 1933.

Werdeplan, der im Deszensus der Keimdrüsen und im gesteiger­ ten Auseinanderweichen des Gehirnpoles und des Zeugungs­ poles hervortritt, ist nichts weiter als der stilgesetzliche Ausdruck einer Bewegung, die in der Entzweiung und schöpferischen Neukoppelung im Menschen ihren Abschluß findet und das bloße Individuum zur Persönlichkeit überhöht. Die Aus­ richtung des Körpers, die mit der gegensinnigen Polwande­ rung verbunden ist, ermöglicht nun auch erst, den Gegenstand, das Bild, in die zentrale Stellung zur Idee zu bringen. Petersen hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch das einzige Wesen ist, dem der aufrechte Gang und die Einrichtung der frei­ beweglichen Vordergliedmaßen gestatten, Gesichtsraum, Tast­ raum und Werkraum zur Deckung zu bringen und die durch Sehen, Tasten und Bearbeitung ermittelten Eigenschaften zu einem Bildganzen zu vereinigen, das als urbildsinnliche Dar­ stellung der Idee nun in deren zentrale und allseitige Beleuch­ tung treten kann oder, wenn wir so sagen wollen, „ideen­ wendig" geworden ist, wie die Pflanze „sonnenwendig" (heliotrop) ist. Das im Aufbau von Pflanze, Tier und Mensch auch direkt anschaulich darstellbare Steigerungsgesetz schließt, weil es ein polares Steigerungsgesetz ist, auch physiologisch gegensinnig verlaufende Prozesse in sich ein, die wir nun näher charakterisieren wollen. Das Problem, um das es sich hier handelt, ist mir zuerst bei meinen Versuchen mit der Schnee­ beere in voller Deutlichkeit aufgegangen. Dieser Versuch hat auch eine modellhaste Bedeutung, weil er die Gegensinnigkeit im Werdeplan der Pflanze mit konzentrierter Klarheit spiegelt. Der Versuch ging davon aus, die jugendlichen Schnee­ beerensprosse mit ihren frisch entfalteten Blättern im Früh­ jahr dadurch an der Spitze zu einer kräftigen Verlängerung zu zwingen, daß sie der bereits entwickelten Blättchen beraubt wurden. Sie waren also, wenn sie diesen Blattverlust aus­ gleichen wollten, genötigt, an ihrer obersten Knospenspitze bzw. von deren Wachstumskegel aus, neue Blattanlagen abzuglie­ dern und sich selbst sozusagen durch einen neuen Trieb zu über­ höhen. Die heutige Forschung legt es nahe, daß zu solcher Steigerung des vegetativen Wachstums in der Knospenspitze sogenannte Wuchsstoffe (Auxin) gebildet werden müssen, die

von da aus nach unten strömen und das Längenwachstum der neu gebildeten oder der noch zujüngst gebildeten Zwischen­ glieder des Stengels zwischen den Blattanlagen (der sogenannten gnternodien) anregen und fördern. Trat nun diese Verlänge­ rung durch Wachstumsförderung auch bei den ihrer Blätter beraubten Blütensprossen ein, so geschah etwas sehr Merk­ würdiges. Die jungen Blütenknöspchen gerieten unter den Einfluß der wachstumfördernden Wuchsstoffe und »erlaubten, d. h. sie wurden in ihrer Entwicklung zur Blüte gehemmt und bildeten gegensinnig dazu ihre Kelchblättchen zu Laubblättchen um (Abb. 4—6). Die Verlaubung kann so weit gehen, daß das junge Bütenknöspchen zu einem richtigen Laubsprößchen sich umbildet, d. h. unter dem Einfluß des wachstumsfördernden Wuchsstoffes an Stelle des kleinen Blütenstielchens einen langen sproßartigen Stengel ausbildet. Aber nur in seltenen Fällen gelingt eine so weitgehende Amwandlung, denn von den Blütenknöspchen — so müssen wir annehmen — geht eine gegensinnige, eine wachstumshemmende Tendenz aus. Die Sprossungstendenz tritt mit der Fortpflanzungstendenz gleichsam in einen Kampf ein, in welchem dieselbe durch Rücknahme und Reuausgliederung auf mannigfachen Abergangsstufen überwunden wird, um die integre Pflanze wieder herzustellen. Der dazu gegensinnig wirkende hemmende Einfluß der Blütenbildung auf das vegetative Wachstum ist bekannt. Es sei daran nur erinnert, daß die bekannte wohlriechende Resede, wenn man die Blütenbildung bei ihr unterdrückt, zu einem zwei- bis drei­ jährigen, bäumchenartigen Gewächs sich entwickeln kann. Das vegetative Wachstum erscheint also dann wie „enthemmt". Besonders anschaulich wird die Gegensinnigkeit beider Prozesse, wenn man sie mit dem rhythmisch schwingenden Längenwachstum der Zwischenglieder (Internodien) vergleicht. Eine Saite, die schwingt, stellt die Aufeinanderfolge von Knoten und Bäuchen dar; der Ausschlag der Schwingungen wächst vom Knoten zum Bauch. Ganz eine ähnliche Erscheinung zeigt das Längenwachstum eines Pflanzenstengels. Bei den Stengeln mit deutlichen Knoten sind die Knoten Ruhepunkte, die Zwi­ schenglieder Sitz rhythmischer Wachstumsschwingungen. Die Wachstumskurve eines Knöterichs z. B. zeigt, daß in jedem

oZo o

oP

Abb. 5.

Abb. 6.

Knoten das Wachstum gleich Null ist, von dort steigt es rasch bis zu einem Maximum an und fällt dann wieder ab. Bohn maß bei Doldengewächsen von einem gegebenen Moment an die Länge der verschiedenen Internodien von der Basis bis zur Spitze des Sprosses und konstruierte die Kurven der beob­ achteten Wachstumsänderungen. Es können dabei mehrere Wachstumsschwingungen hintereinander erfolgen. Die ersten Wachstumshemmungen entsprechen einem schwachen Wachs­ tum des Internodiums, die folgenden sogar einem Wachstumsstillstand eines oder mehrerer Internodien. Alsdann macht an der Spitze die spiralige Anordnung der Blätter und Seiten­ zweige sofort der quirligen Platz. Aber die Kurve steigt wieder aus, die Internodien verlängern sich wieder aufs neue und die spiralige Anordnung erscheint wieder. Die Minima des Wachs­ tums der Internodien zeigen nach Bohn die Tendenz zur Dolden­ bildung an. Es gibt, angedeutet durch die verschiedenen Hem­ mungsperioden, eine Reihe aufeinanderfolgender Versuche der Pflanze, ihre Blühtendenz durchzusetzen, bis es ihr schließ­ lich vollständig gelingt und die normale Dolde sich bildet. Auch in den Wachstumsschwingungen erkennen wir also die zwei gegensinnig verlausenden Prozesse, die der Schneebeerenver­ such uns bereits offenbart hat. Förderung und Hemmung sind die beiden gegensinnig verlaufenden Urprozesse, auf deren Verbindung im funktio­ nellen goldenen Schnitt die gestaltschöpferische Hochspannung zurückzuführen ist, welche die Höherspezialisierung der Formen bewirkte. Blüte und Sproß, die beiden polaren Grundkräste der Pflanze im Vergleich zum Tier, treten nun auch im Ausbau der Pflanze selber in ein verschieden gegen­ sinniges Verhältnis zueinander. Es gibt eine Art von Blüten­ ständen, bei denen die Blüten spiral um die Hauptachse ange­ ordnet sind. Bei diesen Blütenständen ist die Hauptachse, der Blütensproß, im Prinzip noch verlängerungssähig, die Spros­ sungstendenz also nicht radikal aufgehoben. Das sind die traubigen Blütenstände. Bei der zweiten Art von Blüten­ ständen schließt der Blütensproß mit einer Endblüte ab und damit ist eine Verlängerungssähigkeit nach oben prinzipiell ausgeschlossen. Es können nur unter der Spitzenblüte selber noch weitere Blüten entstehen, das sind die trugdoldigen

Blutenstände. Beide kann man auch als Höhen- und Breitenstil gegenüberstellen. Wie man sich im einzelnen die wirkliche Entwicklung derselben vorzustellen hat, muß noch dahingestellt bleiben. Interessant ist, daß nach der Vorstellung von Goebel, der den trugdoldigen Blutenstand aus dem traubigen ableitet, die Verkürzung von Internvdien bis zur Ausschaltung eine Rolle spielt und was liegt hier näher als eine hormonal bedingte Hemmung von der Blütenregion aus, also einen zur Sprossungs­ tendenz gegensinnig verlaufenden Prozeß anzunehmen. Durch das Zusammenwirken beider unter dem Vorrang der Blüte wurde diese gleichsam in ihre wahrhaft abschließende Stellung erhoben, die ihr rangmäßig zukommt. Sie hat als Gipfel der pflanzlichen Lebenstätigkeit den Sproß nun auch wirklich baugesetzlich vollkommen „übergipselt". Mit beiden Stilsormen sind zugleich in der Regel ganz bestimmte Blattformen, mit der offenen Traube das gefiederte oder fiedernervige, mit der übergipfelten Trugdolde das handförmig gelappte oder hand­ nervige Blatt, verbunden. Ein weiteres Beispiel, wie durch das Zusammenwirken der beiden gegensinnig verlausenden Prozesse der Förderung und der Hemmung die höhere Form gestaltschöpserisch empor­ steigt, bietet der Werdeplan der Blattsormen. Zu seiner Auf­ hellung gehen wir aus von den Deutungen Potonies und Heidenhains. Wir können zum Verständnis an heutige For­ men anknüpfen, und zwar an die Bärlappgewächse. Die Ver­ zweigung bei Lycopodium alpinum, wie sie Abb. 7 zeigt, stellt die einfachste Arverzweigung dar. Die ursprüngliche kreisförmige embryonale Wachstumsspitze wird elliptisch und läßt wie aus zwei neu entstandenen Brennpunkten zwei ge­ trennte Wachstumskegel aus sich hervorgehen. Sie gabelt sich also. Abb. 9 zeigt die Gabeln in ausgewachsener Form. Dieser gabelige Artypus der Verzweigung findet sich nun, wie Potonie gezeigt hat, auch bei den ältesten Formen der Steinkohlenzeit (Abb. 10). Im Verlauf der Höherspezialisierung dieser ein­ fachen Urform treten nun wieder die beiden gegensinnig ver­ laufenden Prozesse der Förderung und der Hemmung auf. An den gabelig gegenüberstehenden Wachstumskegeln von Sellaginella läßt sich noch heute feststellen, wie der eine stark gefördert wird, gewissermaßen eine Plustendenz gewinnt, und

Abb. 12.

Abb. 13. (Abb. 9—14 nach Petonie.)

den anderen, der zur Seite geschoben und im Wachstum ge­ hemmt wird, als „Hauptsache übergipselt" (Abb. 8). Da ab­ wechselnd der rechte und der linke Gabelast gefördert wird, kommt zunächst eine auf Gabelung beruhende Vielfuhverzweigung mit hin- und herpendelnder, d. h. flexuoser Haupt­ achse zustande (Abb. 11). Dieselbe Form zeigen auch die aus dem oberen Paläozoikum erhaltenen Farnreste (Abb. 12). Streckt sich die pendelnde Hauptachse gerade (Abb. 13), so sind von hier aus durch Verkürzung, d. h. Hemmung bestimmter Hauptachsenglieder alle Abergänge zum fieberigen Verzwei­ gungstypus etwa der Blättchen und Adern der heutigen Farn­ wedel möglich (Abb. 14). Alle diese Übergangssormen sind durch paläontologische Funde belegt, treten aber auch in der Einzelentwicklung der heutigen Farne noch nacheinander aus. Heidenhain sucht diese Vorstellung auch aus die Ableitung der Fiederblätter bei den Phanerogamen zu übertragen. Auch hier soll der Übergang zur vollendeten Symmetrie durch ab­ wechselnde, zuerst noch nicht ganz durchgeführte, dann aber völlige Unterdrückung bereits verkürzter Zwischenglieder be­ dingt sein, wie Abb. 15 und 16 zum Ausdruck bringen sollen. Demgegenüber hat jedoch Troll nachgewiesen, daß in der Entwicklungsgeschichte der Fiederblätter fast überall die sym­ metrische Form das Ausgangsstadium darstellt, welches viel­ fach auch am ausgewachsenen Blatt erhalten bleibt, in anderen Fällen aber durch ein nachträgliches Streckungswachstum der Rhachis in die alternierende Fiederverteilung übergeht. Weil dieses Wachstum auch die Fiederinsertionen betrifft und an den beiden Flanken nie ganz gleichmäßig erfolgt, werden auch die Fiedern nachträglich aus ihrer opponierten Stellung ver­ schoben. Die Hemmung dieses Wachstums hingegen läßt die Blätter auch späterhin symmetrisch bleiben. Wir können auch in bezug auf die gestaltschöpserische Span­ nung, welche die Blattform hervorgebracht hat, sagen: die in ihr gegensinnig wirkenden (fördernden und hemmenden) Prozesse standen im funktionellen goldenen Schnitt, wenn die bei der höchsten Zusammengesetztheit einheitlichste Blattsorm mit möglichst vollkommener Symmetrie daraus hervorge­ gangen ist. Auch äußerlich scheint bei diesen höchstentwickelten Blattsormen ein mit dem Verhältnis des geometrischen gol-

(Abb. 15—16 nach Heidenhain.)

denen Schnittes zwar nicht übereinstimmendes, aber sozusagen nach derselben Richtung hin liegendes Proportionsgeseh in der Ratur tatsächlich erfüllt zu sein. Bei der Aufeinanderfolge der Größe nach abnehmender, gleichartiger Internodien geschieht die Abnahme nach geometrischer Progression. Daß, wo dieses natürliche Wachstumsgesetz erfüllt ist, gelegentlich auch das Verhältnis des goldenen Schnittes vorkommt, wenn nicht genau, so doch angenähert, liegt aus der Hand (Abb. 17). Wir kommen nun unter dem Gesichtspunkt der schöpferisch zusammenwirkenden, gegensinnig verlaufenden Prozesse auch auf den höchsten Werdeplan in der Natur, den des Men­ schen, zu sprechen. Wenn schon die Pflanze durch Vermittlung dieses Prinzips die Blüte in die ihr endgültig zukommende Nangstellung erhoben hat, wenn sie die höchste in sich selbst unterschiedene Einheit der Plattformen damit hervorgebracht hat, warum sollte das überpflanzliche organische Leben seine gestaltschöpferischen Hochspannungen nicht auch an dieses Polaritätsprinzip knüpfen? Wir haben bereits in der ersten Abhandlung dieses Büchleins den Werdeplan des Menschen angedeutet. Das Kennzeichen des Menschen im Vergleich zum Tier ist die Äbergipselung durch eine höchst gesteigerte Hirn­ entwicklung einerseits und die Zurückdrängung ein­ seitiger Sonderanpassungen andererseits. Wir haben darauf hingewiesen, daß der menschliche Embryo und das menschliche Kind normalerweise niemals am Schädel Schnauzen­ bildung und fliehende Stirne zeigen, sondern im Gegenteil Zu­ rücktreten des Gesichtsteils und steile, ja sogar stark vorgewölbte Stirn. Ähnlich ist es mit den Gliedmaßen. Es ist durchaus nicht so, daß der Mensch bei der Einzelentwicklung eine Stufe durch­ liefe, bei welcher seine Gliedmaßen als Flossen oder Fleder­ mausflügel ausgebildet wären, wohl aber eine Stufe mit einer Ausbildung der Gliedmaßen, von der aus diese sich sowohl zu Flossen oder Fledermausflügeln als auch zu Händen oder Füßen weiterentwickeln könnten. Die Menschwerdung, so sagten wir, hat aus dem gestaltungsbedürftigen Materialgrund aller Gestaltung die kindlichste, die ursprünglichste, die am wenig­ sten einseitig spezialisierte Form herausgeführt. Wie die Blüte bei der Pflanze, hat sie schließlich das Haupt in die wahrhaft alles übergipfelnde Stellung beim Menschen gerückt. Aber mit

der radikalen Überhöhung und der Subordination aller übrigen Teile unter die mächtig geförderte Ausbildung des Gehirns und seiner höchsten nervösen Zentren ist nicht nur (wie auch bei der nach der Gabelung erfolgenden Übergipfelung bei der Verzweigung) die Geradstreckung des Körpers wesensgesetz­ lich verbunden gewesen, sondern ein gegensinnig verlausender Hemmungsprozeß ist damit Hand in Hand gegangen und hat den höchsten inneren Ausgleich zwischen der herausgesetzten Urform und den verschiedenen Anpassungstendenzen hervor­ gerufen. Dies entdeckt zu haben ist das große Verdienst von L. Volk. Was ist, fragt Volk, das Essentielle des Menschen als Organismus? Die Antwort liegt auf der Hand: das lang­ same Tempo seines Lebensvorganges. Was ist das aber anders als ein zur Förderung der ranghöchsten Organe (speziell des Großhirns) gegensinnig verlausender Hemmungsprozeß? Volk führt ihn auf die Wirkung der inneren Sekretion zu­ rück. Der Mensch hat das Haarkleid verloren, weil die Haar­ entwicklung zuerst gehemmt und dann unterdrückt wurde. Das Drüsensystem erkrankt, der Vorgang wird enthemmt und das Haarkleid erscheint wieder. Eine Gruppe der Menschheit hat das Hautpigment fast völlig verloren. Ein bestimmtes Organ des Drüsensystems erkrankt und das Hautpigment tritt wieder in Erscheinung. Die Kiefer des Menschen sind in ihrem Um­ fang und in ihrer Größe während der Menschwerdung relativ verringert worden. Das Drüsensystem erkrankt, die hemmen­ den Kräfte reichen nicht mehr aus und die Kiefer, nicht selten auch die Stirnleisten fangen an, abnorm sich zu vergrößern. Im Gegensatz zu den Menschenaffen schließen sich beim Men­ schen die Schädelnähte erst spät. Das Drüsensystem erkrankt und als eines der Symptome kann eine vorzeitige Verwachsung einer oder mehrerer Nähte sich einstellen mit Mißbildungen des Schädels als mechanischer Folge. Schließlich mitvollendet sich das Spannungsmodell zwischen Kopfpol und Zeugungspol auch auf dem Gebiete der inneren Sekretion. Denn mit der Höherbildung des Großhirns wird das Scheitelauge des Urlurchs durch die sog. Zirbeldrüse verdrängt, die besonders beim Menschen als typische Verjugendlichungsdrüse funktio­ niert, indem sie das Aufblühen des Geschlechts und die Ge­ schlechtsreife im Vergleich zu allen übrigen Formen unver-

hältnismäßig lang hinausschiebt, sein zu frühzeitiges Auftreten also hemmt. Wenn die Zirbeldrüse erkrankt, so ist geschlechtliche Frühreife (evtl, das beklagenswerte Bild eines 5- oder tzjährigen prämaturen Mädchens) die Folge. Andererseits wird die das Wachstum fördernde Thymusdrüse durch die eintretende Geschlechtsreife gegensätzlich beeinträchtigt (vgl. dazu das polare Verhältnis von Sprossungs- und Blühtendenz bei der Pflanze). Volks Lehre, zu Ende gedacht, kann man zusammenfassen mit den Worten: Überhöhung des ursprünglich gegebenen Typischen unter möglichster Zurückdrängung einseitiger Sonderanpassungen für die primären und funktionelle Anpassung für die durch Reaktion erworbenen sekundären Merkmale, das sind die beiden Faktoren, die die Menschenform schufen. In der Überordnung der Ursprünglichkeitshaltung über die Zweckmäßigkeitshaltung lag der Grund für den schließ­ lich vollendeten Ausgleich des Spannungsverhält­ nisses zwischen beiden: in einer Form, die für das tierische Lebensprinzip nicht mehr tragfähig war. Nicht also dieser bio­ logisch an und für sich hilfloseste Körper, sondern der Geist, für den er die vollendet bestimmungsbedürftige Disposition bot, war das Ziel dieser Entwicklung. Die höchste Integration war durch das gesteigerte gegensinnige Zusammenwirken zweier immer mehr divergierender Polwirkungen vorbereitet worden. Mit der Bewegung einer bis zur Entzweiung fort­ schreitenden Scheidung des idealen Ursprünglichkeits- und des auf die äußerliche Nützlichkeit eingestellten Anpassungspoles wurde die höchste schöpferische Synthese beider eingeleitetx). Denn in bezug auf den Geist war die menschliche Leibesform, waren die harmonischsten Ausgleichsverhältnisse derselben, auch die denkbar zweckmäßigsten. Wir erinnern auch hier wieder an die Bedeutung des geometrischen goldenen Schnittes im Kanon der menschlichen Gestalt. Mit den Einsichten in das schöpferische Funktionsgesetz der inneren Sekretion sind wir nun aber auch in der Lage, das 1) Diese Wegbahnung zum Menschen war selbstverständlich nur durch in der Natur wirklich lebensfähige Iwlschenformen hindurch möglich. Wie sie hypothetisch zu denken ist, darüber berichtet Karl Beurlen in dem Bänd­ chen: Das Gesetz der Überwindbarkeit des Todes in der Biologie. Frankes Buchhandlung, Breslau.

Gesetz der Überwindbarkeit des Todes symbolisch zu formu­ lieren und die Zeichensprache der Mathematik dazu zu ver­ wenden. Wir verdanken diese symbolische Zeichensprache Vi­ talis Geilen, der sie am Integralzeichen durchgeführt hat. Dem abstrakt-formalen, d. h. intellektualistischen Zahlenbegrifs, dessen Symbol die starr dastehende Reihe der Einheiten ist:

wird das Symbol der rhythmisch aus- und absteigenden Welle:

entgegengesetzt, das die unendliche Zahlenfolge darstellt. Geilen entnimmt ihm den rhythmisch ins Unendliche sich fortsetzenden aufschwingenden Zweig der Einzelwelle, das

als Zeichen des Ursprungs jeder Einheit, die in die rhythmisch werdende Gemeinschaftals lebendiges Glied sich einordnet. Faßt man das Zeichen räumlich auf, so stellt es die Urbewegung im Raume, eine Spiralbewegung, eine Schraubung dar, der in der Ebene einerseits die Kreis-und andererseits die Wellenbewegung entspricht. Indem man das Ursymbol mit dem absteigenden Stück der Wellenlinie mit dem aufsteigenden, das zugleich sein Spie­ gelbild, seine Antithese ist, kreuzt,

entsteht das „Ursymbol der Polarität", des hin- und her­ wogenden Kampfes, der in der Drehungstendenz des Einzelastes sich abbildet. Fügt man in beide eine neue Zeitachse ein

und verlängert sie zu einem daraus aufsteigenden dritten Wellenast, so haben wir das vollendete Symbol des aus gegensinniger Polkoppelung schöpferisch aufsteigenden Werdens,

wie es im Werdeplan von Pflanze, Tier und Mensch als Gesetz der Scheidung und der Unterscheidung und der schöpfe­ risch e n N e u k o p p e l u n g d e r P o l e, aber auch in der gegensinnig schöpferischen Verbindung der fördernden Wirkungen mit den hemmenden Hormonwirkungen zum Ausdruck kommt. Das Geilensche Symbol wird uns zum Symbol des „Ur-Sprungs" überhaupt, und wo etwas „springt", muß eine „Spannung" vor­ handen sein. Wir selbst haben in der Biologie das eigentlich ur­ sprüngliche Spannungsgefälle in das Urverhältnis von gestal­ tungsbedürftigem Materialgrund und gestaltungsmächtigem Organisationsfeld gesetzt. Und wir haben gezeigt, daß die in dem Geilenschen Symbol enthaltene Intention des Fortschwingens ins Unendliche, durch immer erneute Scheidung und Koppe­ lung der Pole sich recht wohl konstituieren sann1). Das Leben 1) Die Geilensche Ursprungseinheit stellt auch ganz allgemein das Kau­ salschema in seiner Vollkonstitution und darum das fruchtbare Kausal­ schema dar, im Gegensatz zu den einpoligen unfruchtbaren Kausalschemen aus der mechanistischen Begriffswelt, mit denen man zwar schaffen aber nicht zur schöpferischen Produktivität sich erheben kann. Das Problem der wurzel­ haft schöpferischen Überwindung des toten Punktes ist das Urproblem deutschen Geistes, wie es ungemein ursprünglich auch bei Hermann Schwarz in seinem Buch „Nationalsozialistische Weltanschauung" und in seinem herrlichen Gedicht „Deutsche Welle" aufgebrochen ist. Unsere Be­ trachtungsweise unterscheidet sich von der von Hermann Schwarz nur wesentlich dadurch, daß wir, wie dem Leser im folgenden noch deutlicher wird, an Stelle der „Auflösung" des Substanzbegriffes seine „Funktionalisierung" setzen, also auch hier Seins- und Werdephilosophie in einem übergeordneten Dritten verbinden. Geilen entspricht vollkommen dem» was Herm. Schwarz vom deutschen Zahlendenken fordert: „Der meta­ physische Eros der Deutschen will aus der Zahl nicht in die Allzahl und

stellt sich uns, von da aus gesehen, als „ein überschwenglicher Erneuerungsprozeß dar, der nur von der Seite her den Schein eines Vernichtungsprozesses hat" (Novalis). Es muß aber dabei streng in Betracht gezogen werden, daß der aus der Koppelung der Pole hervorgehende Aufstieg nicht ein mechani­ scher Ausgleich oder ein Sichfinden auf der faulen Mitte ist, sondern die Überhöhung in einer neuen schöpferischen Syn­ these. In ihr allein wird auch im wirtschaftlichen und kulturellen Leben immer wieder aufs neue der tote Punkt überwunden und die immer tiefer dringende Sichtung einer objektiven Wert­ rangordnung ermöglicht. Sie seht der „Ent"-Spannung, der Energie-Entwertung, der Entropie, die schöpferische Höher­ spannung, die Ektropie des Lebens entgegen. Wir haben im Vergleich der Konservativ- und Exzessivstämme gesehen, daß auch das organische Leben seine gestaltschöpferischen Span­ nungen senken kann. Wenn im Spannungsverhältnis zwischen der den Typus höherfühcenden Ursprünglichkeitshaltung und der Zweckmäßigkeitshaltung des Lebens die letztere siegt und die Entwicklung durch einseitige Sonderanpassungen in Exzessivreihen hineindrängt, da ist das gestaltschöpferische Potential nicht mehr rückgängig zu machen, die Gestaltungsenergie ist entwertet. Aber der Konservativstamm oder, wie wir viel­ leicht treffender sagen: der ürsprünglichkeitsstamm in der Ent­ wicklung, wirkt dieser Entwertung entgegen, indem er im Span­ nungsverhältnis beider Pole immer neue Ausgleichs- und Überhöhungsformen schafft, die die einseitigen Sonderanpas­ sungen möglichst zurückdrängen, bis schließlich die wesentlich auf das Äußerliche und beschränkt Nützliche eingestellte Leibes­ struktur des Tieres maximal aufgehoben wird und die bio­ logische Hilflosigkeit in die wurzelhaste Bestimmungsbedürftig­ keit durch den Geist eingeht. Alsberg hat das Prinzip der Zurückdrängung einseitiger Sonderanpassungen beim Menschen als das Prinzip der relativen Organausschaltung bezeichnet. Es besagt, daß der tierische Organismus der Natur hervor­ ragend angepaßt ist, während der menschliche Körper aller Überzahl, sondern in den Zahlenquell... Sein letztes Streben befriedigt sich nur, wenn es die werdende Zahl... die wuchstümliche Unruhe findet, in der die Zahlen zum Werden kommen, die gespannte Sehne gleichsam, von der alle Zahlen als Pfeile schnellen."

Schutz- und Trutzvorrichtungen ermangelt und den Zustand der Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit gegenüber der Natur dar­ bietet. Ihm fehlen so gewandte Fluchteinrichtungen, wie die Gliedmaßen der Huftiere oder Klettereinrichtungen, wie die Gliedmaßen der Affen. Als das Gebiß seiner Vorfahren eine Rückbildung erfuhr und die Eckzähne verkümmerten, war ein wichtiges Angriffs- und Verteidigungsmittel verlorengegangen. Aber gerade hier galt das Gesetz: „Wer sein Leben verliert, der wird es tausendfach gewinnen." Weil der Mensch durch den Geist zu werten vermag, ist er dem Entropiegesetz, der Ent­ wertung, der Nivellierung des Lebens nicht mehr unbedingt verfallen. Er ist ihm nur verfallen, wenn er im Spannungs­ verhältnis zwischen der Ursprünglichkeitshaltung und der Zweckmäßigkeitshaltung des Lebens letzterer sich ausliefert und der Lust vor dem Wert, der „Geldanschauung" vor der „Weltanschauung" den Vorrang gibt. Alsdann bilden in der menschlichen Kultur jene „Zerstörungskreise" sich heraus, in welchen, wie im Zerstörungskreis der progressiven Paralyse, die wahrhaft führungsfähigen Lebensmächte immer mehr aus­ geschaltet werden, und zwar auch hier meist der Rangordnung nach, also die religiösen Lebensmächte an der Spitze. Die Nivellierung, die Senkung des Eigenwertigen, wird dann bald auch in der natürlichen Ordnung geradezu als Ideal an­ gesehen, wahllose Rassenmischung gilt als Vorzug, ein alle schöpferischen Spannungen auslöschender Internationalis­ mus als Gipfelpunkt der Kultur. Der Sozialismus setzt sich nicht mehr in Einklang mit den innerlich seelischen Ansprüchen wahrer Volksgemeinschaft und die Wirtschaft nicht in Einklang mit den Gaben der heimatlichen Natur. Man kauft einfach, wo es am billigsten ist. Die Geburtenzahl wird rationalisiert. Die Entropie des Lebens strebt also aus der ganzen Linie einem Mapimum zu, und zwar durch den pervertierten, den intellektualistisch berechnenden, den in die reine untermensch­ liche Zweckmäßigkeitsperspektive zurückgefallenen Geist. Aber das Entwertungsgesetz braucht nicht zu siegen. Im Ringen der Pole miteinander kann der Mensch für eine sie jeweils umspannende und überhöhende Wertschau sich aufschließen und mit der Kraft unerschütterlichen Willens sich für sie einsetzen. Aus der weltanschaulichen Verjüngung

kann dann ein neuer Bewährungsakt—nicht nur bei dem Einzelmenschen^ sondern auch bei einem ganzen Volke sich durchsetzen. Denken wir nur an die Geschichte unseres Volkes in der napoleonischen Ära zurück. Die Jahre vom Beginn jenes Jahr­ hunderts bis zum Abschluß der Freiheitskriege waren vom deutschen Idealismus und von der Romantik beschwingtH. Der deutsche Idealismus war der Versuch, die Flachheit der Aufklärungsideen, die durch den englischen Sensualismus und den französischen Rationalismus in das deutsche Geistesleben eingedrungen waren, innerlich zu überwinden und zu einer tieferen Sicht im Reiche des Geistes wieder vorzudringen. Namentlich Kant ist es, in dem der Geist jenes Jahrhunderts seine Farbe konzentriert und seine Farbe vertieft hat. Kant hat dem Sensualismus gegenüber, der nur an der Oberfläche, am Handgreiflichen und Dinglichen haftet, wieder die Welt des Übersinnlichen, des zeitlos Geltenden erschlossen, jene Welt, in die wir einkehren, wenn wir in das Apriori unseres Geistes: in die Form unseres Denkens, unseres Willens und unseres zweckhaften und künstlerischen Urteils eindringen. Das Apriori unseres Willens, das Sittengesetz, wird von ihm zur unbe­ dingt verpflichtenden Triebfeder unseres Handelns (als sein kategorischer Imperativ) gefordert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann." Andererseits sucht Kant die mensch­ liche Ratio zur tiefsten Selbstbesinnung aus ihre eigene Grenze zurückzuführen, um desto mehr die Bereitschaft zum Glauben in ihr auszuschließen. Die beiden größten theistischen Denker: Thomas von Aquin und Kant, stehen sich gerade in dem letzten Punkte näher, als man vielfach meint. Wenn man mit dem Dinge an sich das im Dinge meint, was positiv Sein gibt, so muß dieses Ding an sich, das ist das innere Wesen der Dinge, dunkel bleiben, soweit es nämlich vom Wirklichsein in seinem Bestehen und Wirken abhängt. Die ideale Geltungsmacht des Gesetzes ist demgegenüber, daß etwas faktisch gestaltungs­ mächtig im Sein steht oder daß es faktisch jetzt hier so ist, völlig x) Zur Einführung in den deutschen Idealismus und in seine fruchtbaren Zusammenhänge mit der deutsch-mittelalterlichen Mystik und der Antike ver­ gleiche das von feinster Einfühlung getragene Bändchen von Othmar Spann: Philvsophenspiegel. Leipzig 1933.

begründungsunsähig. Thomas von Aquin sowohl wie Kant eröffnen — wenn auch in sehr verschiedener Tiesenschicht — den Zugang zu einem höheren Fürwahrhalten, in welchem der Auseinanderfall von Idee und Existenz, die Entzweiung beider in einer polaren Überkreuzung wieder aufgehoben und ein tieferer Wirklichkeitskontakt wieder hergestellt wird, der Glaube. Kant sieht ferner in der sinnlichen Anschauung und im Begriff die beiden sich gegenseitig bedingenden Pole unserer Erkenntnis. Die Vorstellungen ohne Begriffe gelten ihm als blind und die Begriffe ohne Vorstellungen leer. Seine Erkenntniskritik kreist um das Kernproblem, wie die Formen unseres Denkens mit den Formen der sinnlichen Erfahrung zu vereinigen seien, damit das Apriori und die zeitlose Geltungskraft jener trotz der engen Sachverbundenheit mit dem sinnlich Empirischen gewahrt bleibt. Er löste es (im Gegensatz zu Thomas) in einer Weise, die dem Apriori allzuleicht gestattete, als absolut selbstschöpserische apriorische Setzung sich zu ent­ falten, welche die Geburt der Dinge aus dem Unendlichen in dialektischen Uberhöhungsschritten zu begreifen sucht. Das geschah bei Fichte, Hegel, Schelling — bei Fichte zu­ gleich unter stärkstem Appell an die Kraft des unerschütterlichen Willens, dem die sinnliche Welt das Material der Pflicht wird — bei Hegel und Schelling in betonter Anlehnung an den Bildgehalt der Wirklichkeit, weil das Einsichtige nur im Sinn­ lichen sich mit Inhalt erfüllen und vom Abstrakt-Allgemeinen zum Konkret-Allgemeinen sich zu steigern vermag. Dem flachen Empirismus suchte jetzt die deutsche idealistische Naturphilo­ sophie den sinn- und wesensgesetzlichen Aufbau der Naturformen gegenüberzustellen, den ideal-logischen Prozeß, der in ihrer Entfaltung offenbar wird und der in seiner über die Natur Hinausgreisenden Überhöhung schließlich auch das geistige Gemeinschaftsleben der Menschen aus sich hervorgehen läßt. Diese ganze Ideenschau vollzieht sich in einem ausge­ sprochenen Gegensatz zu dem atomistisch-individualistischen Be­ griffssystem der Aufklärung, indem sie den Vorrang der Ge­ meinschaft vor dem Einzelnen aus das Deutlichste herausstellt und auf dem Grunde des Kosmischen und des gesellschaftlichen Übereinzelnen die geschichtliche Betrachtungsweise ideell zu

vertiefen und antithetisch zu beleben versucht. Hegel sucht dabei das Eine immer mehr als das im Höchstmaß sich in sich selbst unterscheidende Eine, also eine Struktur der Wirklichkeit mit ausdrücklicher Erhaltung aller den toten Punkt überwindenden Unterschiede und Gegensätze, herab bis zum Individuum und hinaus bis zur persönlichen gottgeistigen Spitze des Ganzen zu entwickeln. Ergreifend spricht er von der Dialektik des Geistes: „Die kindlicheUnschuld hat allerdings etwas Anziehen­ des und Rührendes, aber nur insofern sie an dasjenige erinnert, was durch den Geist hervorgebracht werden soll. Jene Ewigkeit, die wir in den Kindern anschauen, als eine natürliche, soll das Resultat der Arbeit und Bildung des Geistes sein----- Der Geist hat erst den Weg durch seine unendliche Entzweiung durch­ zumachen, um die wahre zustande gekommene Versöhnung zu erringen." Was Hegel hier zum Ausdruck bringt, können wir heute zwar nicht mehr im Geiste seines vor nichts Halt machen­ den Rationalismus, wohl aber im Sinne der echten Polari­ tätslehre des Lebens in seinem Wahrheitskern bejahen. Denn auch diese nimmt an, daß aus immer neu vorausgehender Entzweiung der Pole die schöpferische Lebenswelle in sich immer neu überhöhenden Synthesen aufsteigt und fort­ schwingt, die toten Punkte überwindend. Aber gerade die Polaritätslehre zieht auch sehr scharf die Grenze zwischen dem, was der Verstand als sein eigener Lehrer ermittelt, indem er dabei zugleich Schüler der sinnlichen Anschauung und Er­ fahrung ist, und dem, was von Gott unmittelbar uns offen­ bart ist, also den Mysterien des Glaubens. Von den Denkern zur Zeit des deutschen Idealismus ist es besonders Goethe, der diese Grenzziehung beobachtet und nach beiden Polen hin geöffnet ist. „Das schönste Glück des denkenden Menschen," sagt er, „ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Goethe ist vor allem des großen Geheimnisses, das in aller Realität steckt, deutlich sich bewußt geworden. Wenn er z. B. sagt, „daß der Begriff des Entstehens uns durchaus versagt bleibt", so liegt dem die Einsicht zugrunde, daß der Entstehungsplan, den wir uns von einem Naturding entwerfen, niemals begründungs­ fähig dafür ist, daß es nun faktisch gestaltungsmächtig und zu sich selbst auch gestaltungsbedürftig im Sein steht und daß es

faktisch jetzt hier so sich verwirklicht. Das Goethesche Paradoxon, „daß das Bedingte in der Kreatur zugleich unbedingt sei", hat Hedwig Conrad Martius in die tiefer umschreibenden Worte gefaßt, daß die kreatürliche Welt eine in sich selber gegründetebegründungsbedürftige, eine im Eigenstand standlose sei. Des­ halb fordert sie ja aus ihrem tiefsten Wesen den Schöpsungsbegriff, ja den Begriff der immerwährenden Schöpfung (im concursus divinus) einsichtig heraus. Goethe steht in seiner weltaufgeschlossenen, geistig erobernden und zugleich demütigen Haltung heute am Wendepunkt zweier Epochen. Zwei Sätze geben seinen Bestrebungen den tiefsten Ausdruck: „Die entelechische Monade... verzeih diese abstrusen Ausdrücke! Man hat sich aber von jeher in solchen Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzuteilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte, und wo man doch die Unver­ nunft nicht wollte walten lassen." „Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind, und so meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen." Dieses letzte religiösem Impuls entsprungene Bedürfnis lenkte Goethes Blick aber nur um so eindringlicher aus die ihn umgebende Raturwirklichkeit und machte aus dem Dichter den Seher Goethe, den Erschauet der Urpslanze. Diese ist, wie wir gesehen haben, nicht irgendwie ein Schema oder Durchschnittsbild der Pflanze, sondern ihr idealer Typus, das Modell ihres Werdens, in welchem sich der Entstehungs­ plan jeder höheren Blütenpflanze verkörpern sollte. Gegen diese urdeutsche Intuition aber richtete sich der antithesen­ lose, selbstgenugsame Empirismus Stuart Mills, der an Stelle des den Entwicklungsplan aufhellenden „Typusbegriffes" die äußerlich abgezogene „Definition" setzte. Das war nur die theoretische Hinsührung zu Darwin selber. Denn wenn der anschaulich gewonnene Typusbegriff keine sachliche Unter­ gründung mehr hat, wenn es nur Definitionen gibt, die ohne jede ideale Begründungskraft für so oder anders geartete Ent­ faltungsrichtungen sind, dann erscheinen diese wirklich als rein zufällig oder sind nur noch vom Gedanken der reinen Utilität aus zu erfassen: als irrt Kampf ums Dasein herausgesiebte Überbleibsel zufällig passender Änderungen. Im Lamarckis-

wurde diese Nützlichkeitshaltung des Lebens nur als eine mehr aktive Sicherung (als französische s6curit6) gefaßt. Aus der Überfremdung durch die darwinistische und lamarckistische Gedankenwelt konnte aber der deutsche Geist viel schwieriger sich losringen als einst vom englischen Sensua­ lismus und vom französischen Rationalismus. Denn besonders die darwinistische Gedankenwelt war als Forschungsmethode in die exakte Naturwissenschaft selber tief eingedrungen und hatte sich durch ihre relative Richtigkeit, genau so wie die atomistische Hypothese, für die Entdeckung zahlloser Einzeltatsachen glänzend bewährt. Aber ihren in der verabsolutierten Form zutiefst unwahren und verderblichen Charakter hat das Volk Goethes in seinen tiefsten Denkern immer wieder durchschaut. Ohne die Unterscheidung einer nach außen gerichteten peri­ pherischen und einer nach innen weisenden urbildhaften Richtung in der Wesensverwirklichung des Lebendi­ gen, ohne ein polares Gesetz also, wird die Auffassung vom Leben dem materiellen Zweckmäßigkeitsglauben völlig ausge­ liefert und führt, auf menschliche Verhältnisse angewandt, zur radikalen Auflösung. Keiner hat diesen Prozeß bei unserem eigenen Volk so klar vorausgesehen, aber auch seine Krisis und Überwindung mit solcher Bestimmtheit prophezeit, wie in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der schwäbische Philosoph Karl Christian Planck. Planck nennt seine 1872 erschienene Schrift „Wahrheit und Flachheit des Darwi­ nismus" ohne Selbstüberhebung einen „Denkstein zur Ge­ schichte deutscher Wissenschaft". Sie ist die stärkste Absage an die utilitaristische Verflachung der Lebensidee im Darwinismus und sucht im Gegensatz dazu an der Hand der reinen Erschei­ nungsformen des Lebens selber nachzuweisen, daß das Leben um so höher steht — nicht je mehr es sich anpaßt —, sondern je mehr es Tiefgrund und Wurzelgrund in sich selber ge­ winnt. Jede lebendige Einheit ist in sich selbst unterschieden in Mittelpunkt und Ilmtreis. Wo diese Unterscheidung noch nicht rein durchgeführt ist, wie beim Tier, da tritt eine noch un­ mittelbare und unfreie Beziehung zum Umkreis des Lebens hervor. Erst im Menschen wird diese Leibeigenschaft des Lebens aufgehoben, das geistig freie Zentrum hat das leibliche Teil­ leben ganz sich untergeordnet und kann sich nun auch von sich MUS

selbst aus beseelend und beherrschend in das Leben der Teile ergießen. Dieses Gegenspiel zwischen Zentrum und Peripherie liegt nach Planck auch im Leben der deutschen Nation. Solange die überwiegend verständige Hinwendung zum Äußerlichen, zu der mannigfach besonderen Ausbildung der Peripherie den Grundzug der Zeitbewegung bildet, ist die eigentliche Gestalt­ werdung unseres Volkes noch nicht vollzogen. Erst wenn es sein Schicksal an ein sittliches Prinzip, an das des Rechtes knüpft, und aus einer mechanischen Erwerbsgesellschaft in einen der geistig-seelischen wie der körperlichen Veranlagung seiner Glieder entsprechenden Berufsstaat übergeht, in welchem die Ursprünglichkeitshaltung führend ist, hat es jene typische Ge­ stalt gewonnen, in welcher auch an der peripherischen Er­ scheinungsform sein Wesen folgerichtig zu seiner Durchbildung gelangt ist. Diese idealistische und ethische Grundtendenz seiner Anschauung hängt bei Planck nicht in der Luft, sondern sie ergibt sich aus dem Studium der Natur und der typischen Er­ scheinungsformen des Lebens. Planck betont dem Darwinismus gegenüber mit Recht, daß er nur die rein peripherischen An­ passungscharaktere der Formen, nicht aber ihre Mittelpunktsbezogenheit im Typischen gesehen hat. Dem „NützlichkeitsVerständnis" der Formen, dieser in ihrer verabsolutierten Art unwürdig äußerlichen und undeutschen Auffassung der Natur, setzt er als spezifische Angelegenheit deutscher Wissenschaft ihr „Wesensverständnis" entgegen. Die Anschauung des organischen Werdens als einer von einer inneren Idee beherrschten und einem höheren Ziel zu­ strebenden „Folge" brach in der botanischen Wissenschaft jener Zeit am genialsten bei Alexander Braun noch einmal durch. Der mit den organischen Umbildungen immer erneut notwendige Akt der inneren Sammlung und teilweisen Einschmelzung führte Braun zu seinen tiefen „Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur" (Leipzig 1851). Darin finden wir die analogische Anwendung dieser Betrachtungen auch aus die geschichtliche Entwicklung. Wir lesen: „Der Gedanke der Verjüngung in Wissenschaft, Kirche und Staat bewegt auch jetzt wieder die Völker und tritt uns in den vielfältigsten Bestrebungen in mannigfach sich durch­ kreuzender Weise entgegen. Leider haben wir bis jetzt fast nur

die negative Seite dieser Bestrebungen, die zerstörende, kennen gelernt, aber dem Naturforscher liegt es nahe, in dieser Auf­ lösung nur den Übergang zu einer neu auserbauenden, das Positive in allen Gebieten nur tiefer erfassenden und voll­ kommener gestaltenden Zeit zu erblicken. Ob diese Hoffnung sich erfüllen wird?... Daraus mutz die Antwort zunächst im eigenen Herzen geschrieben stehen; willst du sie aber außer­ halb suchen, so sieh mit dem Auge des Naturforschers in die verborgenen Werkstätten der Zukunft.... Es werden die Er­ scheinungen der Verjüngung um so auffallender und über­ raschender auftreten, je tiefer die Senkung des Lebens ist, welche der neuen Hebung vorausgeht, je entschiedener demge­ mäß der neue Lebensaufschwung vom alten sich sondert, je vollständiger das neue Gebilde das alte verzehrt und durch­ bricht. Die schönsten Beispiele liefert die Metamorphose der Insekten." Die Hoffnungen der deutschen idealistischen Naturphilo­ sophie aber blieben in jener Zeit unerfüllt. Planck erlebte den deutsch-französischen Krieg und die glanzvolle Erstehung des deutschen Kaiserreiches, aber er sah auch die Gefangennahme des deutschen Geistes in dem ihm wesensfremden Materialis­ mus so tief, daß er seiner Zeit nie recht froh werden konnte und den Weltkrieg und den deutschen Zusammenbruch voraus­ ahnte, aus dessen herzzerreißendem Erlebnis erst „der in Er­ griffenheit Fragende", der „reine Tor", der Netter und Be­ freier des deutschen Volkes erstehen sollte. Prophetisch meint er: „Die unpraktische, mit Schaden und Spott heimgesuchte Innerlichkeit deutschen Geistes, wie Wolfram sie in seinem Parsifal schildert, erringt endlich in der Kraft ihres unablässigen Strebens das Höchste, sie schaut den letzten einfachen Ge­ setzen der Dinge und des menschlichen Daseins auf den Grund.... Und dieser letzten und tiefsten Umgestaltung des ganzen Bewußtseins, dieser innerlich geistigen Einordnung in das Ganze der Dinge, wird auch eine entsprechende des ganzen Rechtsbewußtseins, die Einordnung in den univer­ sellen Zusammenhang einer wahrhaft organischen Berufs- und Eigentumsordnung zur Seite gehen." „Was Planck prophezeite, beginnt erst heute, wenn auch aus anderen weltanschaulichen Gestaltungswurzeln heraus, sich zu

verwirklichen. Der grundwesentliche Unterschied der heutigen weltanschaulichen Erneuerung im Vergleich zu der des deut­ schen Idealismus in der napoleonischenÄra aber ist, daß sie auf das wirkliche Mark des geschichtlichen Stammes selber geht, daß sie nicht bloß auf unmittelbar geistigen Erneuerungs­ prinzipien fußt, sondern das Verjüngungsprinzip auch zu den Quellen des Lebens selbst wieder zurückführt: zu der Reinund Heilighaltung des Erbstromes und seiner rassischen Werte und zu der Erneuerung der natur- und schöpfungs­ getreuen Familie, die über den Aufstieg oder Abstieg eines Volkes an den Wurzeln seines Werdens entscheidet. Da dem nordischen Menschen der herrscherliche Drang endlosen „Folgelebens" innewohnt, ist er in der immer neuschöpserischen Aktivierung der Erbmassen — und zwar nicht nur innerhalb des eigenen Typs, sondern auch auf den erblichen Resonanzböden der anderen deutschen Rassen — entscheidend. Er gibt erst den Stahl ins deutsche Blut und das alle Heim­ rassen zum Lebensring einende Band. Wie so Nord und Süd nicht mehr in zwei künstlich über­ betonte Erlebnisräume gespalten und durch eine noch über­ mäßig abstrakte Reichsidee zusammengehalten werden, sondern wie durch die Herausstellung des gemeinsamen Rassenkerns jetzt ein einigendes Moment im Erlebnisraum geschaffen wird, dem in der Verbindung mit der geistigen Ebene nun ein neues Drittes, die konkrete Einung der Gegensätze in der Idee des Dritten Reiches entspricht, so finden sich auch Nationalis­ mus und Sozialismus, die beiden entzweiten und in der Ent­ zweiung unfruchtbar gewordenen Pole zu einem neuen welt­ geschichtlichen Befruchtungsakte zusammen. Was dem neuen Reiche diese existenzielle Erneuerung des Dolkskörpers und die realistische Ausrichtung gibt, ist also das von PaulKrannhals schon 1928 so klar formulierte Gesetz der Polarität: „Polare Ent­ zweiung und Vereinigung der Polaritäten in der Form ist ein Grundmotiv des schöpferischen Prinzips. Was sich in der positiven und negativen Elektrizität und ihrer Grundform erst­ malig ankündigt, zeigt sich in der Polarität von Mann und Weib aus der höchsten Integrationsstufe. Auch unser Denken ist durchaus an der Polarität orientiert: Jeder Sinn fordert den Gegensinn heraus und zusammen bilden sie Einheiten,

gleich wie Tag und Nacht zusammen erst den Sonnentag, Ein­ und Ausatmen den Atmungsprozeß, Systole und Diastole die Herztätigkeit charakterisieren usw. These und Antithese finden — wie in der dialektischen Methode Hegels — in der Synthese ihre ihnen übergeordnete Einheit. Solche Verbundenheit von Polaritäten in der ihnen übergeordneten Einheit wollen wir als Ausdruck der organischen Form zum Unterschied von der biologischen Form bezeichnen." (Das organische Welt­ bild, Bd. 2, S. 412.) Mit diesem Verweisen auf die „orga­ nische" Form zum Unterschied von der „biologischen" und auf die übergeordnete Einheit, die aus der polaren Span­ nungseinheit aufsteigt, ist durch Krannhals das wesentliche des schöpferischen Verfahrens klipp und klar bezeichnet worden. Ein Fahr später erschien Fritz Kleins „Bios und Logos", auch ein das damalige Denken stark revolutionieren­ des Werk^). Fm heutigen Deutschland tritt nach Fritz Klein in Kraft, was er das Funktionsgesetz der Ganzheit nennt. Dessen Norm ist die immer höher gestaffelte integrale Um­ spannung der Pole, woraus das Neuentstehende hervor­ geht. Wir haben in dieser Denksorm kein intellektualistisches und darum in seiner Einpoligkeit der Erstarrung ausgeliefertes „Systemdenken" mehr, sondern ein offenes, endlos entwick­ lungsfähiges schöpferisches Denkprinzip gefunden. In ihm wird die Statik des begrifflichen Formalismus durch den „Richtungswert" und die „Umspannung", die zur polaren integralen Überhöhung führt, überwunden. Und in dieser Überhöhung liegt ein einzigartiger Realismus des Denkens, den Klein in seinem letzten Aufsatz: „Der Nationalsozialismus im Lichte der modernen Philosophie" durch eine hübsche Episode aufzeigt. Eines Tages kommt ein Freund zu ihm und erzählt ihm folgendes: „Nach der Rede Hitlers gelegent­ lich der Abrüstungskonferenz im Mai 1933 stand ich unter 1) Der Auseinandersetzung mit diesem Werk und persönlichen Aus­ sprachen mit dem Verfasser verdanke ich die wertvollsten Anregungen und fruchtbarsten Perspektiven für mein eigenes biologisches Forschungsgebiet. Auch die Bezeichnung „Erlebnis-und Erkenntnisraum" entstammt seinem Buche. Wesentlich unterscheide ich mich von Klein durch die ontologische Unter­ gründung der Polaritatslehre, die in der ersten Abhandlung dieses Bänd­ chens deutlich genug hervortritt.

einem gewaltigen Eindruck. Ich war noch ganz im Banne dieses Erlebnisses, als mir ein alter Offizier begegnet, der seinen Militarismus nie verleugnet hatte. Auch er war ganz begeistert. Eine Stunde später treffe ich einen Pazifisten. „Kein Pazifist hätte eine schönere Rede halten rönnen", ver­ sicherte er. Diese Begebenheit hat mir keine Ruhe gelassen und ich vermute, daß da irgend etwas nicht stimmen kann. „Ja", sagt der Philosoph, „das, was dir dabei auffällt, ist das seit Jahrtausenden ungelöste Problem der Philosophie. Hast du schon einmal etwas von zwei verschiedenen Denksormen gehört? Es gibt doch Froschperspektivisten und Vogelperspektivisten, es gibt Nationalisten und Sozialisten. Das eben ist der tiefere philosophische Sinn des Nationalsozialis­ mus, daß er eine übergeordnete Form sucht, in der diese beiden verschiedenen Denkformen in einer höheren dritten ausgehen, und das ist Hitler in seiner Rede vorzüglich ge­ lungen ... Es besteht aber nicht nur ein polares Spannungs­ verhältnis zwischen den Denkformen, sondern auch den Welt­ formen. Alles ist das Resultat eines Polaritätsvorganges, der immer an ein übergeordnetes Drittes gebunden ist und das Problem der Dreifaltigkeit in sich schließt: Trinitas reducit dualitatem ad unitatem." Nur aus der Vereinigung der den Austausch regelnden Zweckmäßigkeitshaltung der Völker mit ihrer gottgewollten ürsprünglichkeitshaltung und Ehre kann als Drittes der wahrhafte schöpferische Frieden ent­ stehen, der die Völker Europas eint. Auch die Natur führt ja durch immer höher gestaffelte Synthesen das Prinzip der polaren Auswertung ihrer Stoffe und Energieformen in vollendeter Weise durch. Flüssigkeit und Gas geben in der bloß äußerlichen Überführung die Auswertungsmöglichkeit des Dampfes. Aber die Auflösung eines Körpers in der Flüssigkeit, also die erste physikalische Synthese beider, gibt ihm darin gewissermaßen die Eigenschaften eines auf das betreffende Flüssigkeitsvolumen zusammenge­ preßten Gases, d. h. führt zu der Entfaltung des osmotischen Druckes. Damit der osmotische Druck wirksam werden kann, bedarf die Natur noch einer höheren Synthese, ünvermischbare Flüssigkeiten sowie Flüssigkeiten und feste Teilchen können zur kolloidalen Lösungsform verbunden und gesteigert werden.

Die Moleküle werden in ihr nicht nur, wie in einer einfachen Salzlösung, in die Ionen gespalten, sondern durch die außer­ ordentlich große Oberslächenentwicklung der in ihr verteilten Partikel wandern bestimmte, elektrisch gleich geladene Ionen­ arten in die Zonen der Oberflächenspannung (zu deren Herab­ setzung) ein, werden also von ihren Partnern in noch gesteigerter Weise geschieden und unterschieden. Die Folge sind elektrische Potentialdifserenzen, welche auch die Bedingung für die chemisch überaus fruchtbare Oberflächenkatalyse schaffen. Die integrierende Umspannung der Pole, aus denen der schöpferifdie Stoff- und Energiewechsel aufsteigt, ist natürlich nur im vitalen Feld des lebenden Protoplasmas vorhanden. Emul­ sionskolloide können weiter zu Gallerthäuten sich verfestigen, welche als halb durchlässige Protoplasmahäute erst die wirk­ same regulierfähige Entfaltung des osmotischen Druckes und der Saugkraft der Zellen bedingen. Wir haben eine fortge­ setzte Scheidung und Unterscheidung der Pole und eine immer wertvollere Integrationsfähigkeit derselben. In noch höherer Stufung kommen wir zu der Scheidung und Unterscheidung gegensinnig wirkender Reizstoffe bei der inneren Sekretion. Diese wirkt, wie wir früher schon gezeigt haben, durch Vereinigung des fördernden und hemmenden Faktors gestaltrhythmisch integrie­ rend. Sie wirkt aber auch bewegungsrhythmisch integrierend. Wie der ganze Lebensprozeß, um mit Hegel zu reden, „ein Strömen in zwei Richtungen ist, die sich in einem be­ gegnen und durchdringen", läßt sich am besten an den von unserem Willen unabhängigen Lebensäußerungen zeigen. Darmbewegung, Drüsenabsonderung, Tätigkeit von Herz, Lunge, Blutgefäßen usw. spielen sich unter der Herrschaft zweier entgegengesetzt wirkender Nervengeflechte ab: des Wandernerven (Vagus) und des Eingeweidenerven (Sympathicus). Beide regulieren durch Förderung und Hemmung die unwillkürlichen Körperfunktionen. Der Eingeweidenerv fördert die Herz- und Pulstätigkeit und durch Verengung der Adern den Blutdruck, er lähmt jedoch die Darmtätigkeit. Vom Wandernerven hingegen geht der gerade umgekehrte Einfluß aus. Verlangsamung der Herz- und Pulstätigkeit, Erschlaffenlassen der Blutgefäße, Senkung des Blutdruckes, aber Anregung der Darmbewegung. Beide Nervengeflechte werden zu dieser

polaren Wechselwirkung durch wirkstofsliche Gegenspieler an­ geregt, der Eingeweidenerv durch das Adrenalin, der Wander­ nerv durch das Cholin. Da das Cholin in der Nebennierenrinde, das Adrenalin im Nebennierenmark gebildet wird, wird es nun auch verständlich, daß deren herkunstsgemäß so verschie­ denen Gewebe im Laufe der Entwicklung Anschluß aneinander suchen, daß ihre Pole sich gleichsam zusammenfinden wollen zum funktionellen goldenen Schnitt, aus dem die Lebens­ bewegung aufsteigt und zum harmonisch in sich fortschwingen­ den Funktionskreis sich rundet. Aber der Funktionskreis kann durch die Koppelung von Polen auch sich selbst überschreiten. Zwischen den räumlich extrem einander abstoßenden und aus­ einandergewanderten Polen des Gehirns und der Keimdrüsen bewirkt die Gehirndrüse, die an Stelle des ehemaligen Scheitel­ auges entstand, die Zirbeldrüse, auch die extreme Hinaus­ schiebung der Geschlechtsreife. Hört dieser hemmende Einfluß auf, so wirkt mit dem Ausblühen des Geschlechts die Keim­ drüse stark verändernd aus den Erlebnisraum ein und durch ihn auch ideal-beschwingend auf den Erkenntnisraum zurück. Die beiden zuerst gleichsam entzweiten Pole haben sich im funktio­ nellen goldenen Schnitt zur neuen Hochspannung ideal be­ schwingten Lebens wieder zusammengefunden. Immer ist das Geilensche Ursprungssymbol, wo aus zwei gegensinnig wirkenden Teilprozessen

die schöpferische Lebenslinie aufsteigt, wegweisend für jede weitere Synthese:

/

Grundlegend ist das Prinzip verwertet in dem gegen­ sinnigen Verlaus von Assimilation und Dissimilation im

Einzelorganismus. Ihm entspricht in der natürlichen Lebens­ gemeinschaft die Selbsterneuerung derselben. Der Natur­ wald ist durch den in sich selbst zurückkehrenden Kreisprozeß von Ausbau und Abbau der Substanzen gewissermaßen zu­ gleich Ursache und Wirkung von sich selber (wenn auch in einem zweifachen Sinne). Er ist es durch das ergänzende Zusammen­ wirken aller seiner Glieder, die das aufgebaute Material wieder in den Materialgrund, den Humus, zurückführen, aus dem das Leben sich verjüngt. Das produktive, den Tod überwindende Gefälle kann also dauernd aufrecht erhalten werden; auch dadurch, daß im Kampf der verschiedenen Organismenarten keine Art das Übergewicht erhält, daß Förderung und Hemmung in der Ausbreitung jeder Art das dem Ganzen entsprechende Gleichgewicht einhalten. Eine künstliche Lebensgemeinschaft, ein Getreidefeld oder ein Garten, besitzen diese Selbsterneue­ rung aus dem selbst geschaffenen Gefälle zwischen Material­ grund und Ausbaufeld durch die Kompensation ihrer Glieder nicht. Ihnen muß künstlich nachgeholfen werden: durch künst­ liche (mineralische) Düngung und künstliche Schädlingsbe­ kämpfung. Aber diese einpolige Behandlungsweise muß als eine einseitige notwendig auch am toten Punkt angelangen, ünd so sehen wir, wie die heutige Bodenkultur mit der künst­ lichen die natürliche organische Düngung und mit der künstlichen die natürliche biologische Schädlingsbekämpfung verbinden muß; letzteres durch möglichste Angleichung — z. B. der Gärten — an eine natürliche Lebensgemeinschaft. Erst aus der Verbindung des künstlichen, menschlich zweckhaften und des ursprünglich-natürlichen Verfahrens kommt die schöpferische Synthese: die wahre Boden- und Gartenkultur zustande. Ein in der Natur selbst wirksamer gestaltschöpferischer Motor ist der Zeugungs- und Vererbungsmechanismus, dessen polar sich suchende Erbeigenschaften gerade deshalb chromosomal geschieden und unterschieden sind, damit sie un­ abhängig voneinander in stets neuer Synthese sich verbinden können. Die Lenkung dieses natürlichen Motors, um das Ge­ schiedene zu höchstwertigen Synthesen zu vereinigen, gehört zur wahrhaft schöpferischen Praxis der modernen, auf den Mendelismus ausbauenden Pslanzenzüchtung. So gelang es Baur, aus der Lupine den Bitterstoff bedingenden Erbfaktor

auszuscheiden und durch einen die Lupine schmackhaft machen­ den Faktor zu ersetzen. Das Ergebnis war eine polare Um­ spannung und Überhöhung: eine Lupine, die zugleich als Gründünger und als Viehfutter verwendet werden kann. Die Scheidung und Unterscheidung und die schöpferische Neu­ koppelung der Pole ist auch das Grundproblem der neuen Technik. Der Schwerakkumulator, der zwar mit Nutzen, aber doch nur einseitig verwendet werden kann, müßte — analog der höheren Iüchtungsform der gelben bitterstoffreien Lupine — durch einen universal brauchbaren Leichtakkumulator ersetzt werden, kosmischer und tellurischer Pol müßten zur Auswertung ihrer Potentialgefälle ganz neu miteinander verkoppelt wer­ den,' d. h. der Dienst der Naturkräste muß überhaupt erst einer an die ursprünglich natürlichen Polaritäten anknüpfenden „Führung" unterworfen werden, nicht einer bloß einseitigen Beherrschung. Das gleiche gilt von der Wirtschaft. Sie darf vom Träger des Lebenskreises, vom Volkstum, nicht gelöst werden. Sie muß den Gesichtspunkt, wo man am billigsten kaust, den Be­ dürfnissen des eigenen Volkskörpers und den Auswertungs­ möglichkeiten des eigenen Grund und Bodens untergeordnet werden. Sehr treffsicher sagt in dieser Hinsicht Paul Krannhals: „Der Teil darf gemäß der organischen Logik nicht das Ganze, das Materielle darf nicht das Geistig-Seelische be­ herrschen. Zn der Verwirtschaftlichung sinkt der Staat als Lebensform gleichsam auf die Lebensstufe des Einzellers zu­ rück; denn auf dieser niedrigsten Stufe ist das Tier ganz Magen. Hier, aber auch nur hier, kann man Rathenau recht geben, wenn er erklärt: Wirtschaft ist Schicksal. Für uns ist es aber nicht zweifelhaft, daß letzten Endes nur die Denkungsart über das Schicksal einer Nation und ihrer Kultur entscheidet." Mit dieser von Krannhals geforderten Unterordnung der Nützlichkeitshaltung unter die Realisierung der höheren, dem Ganzen dienenden Werte, die durch das Funktionsgesetz der polaren integralen Umspannung (Klein) gefunden werden, ist freilich auch eine wurzelhafte Erneuerung der ethischen Hal­ tung notwendig. „Auch wenn der Gnostiker", sagt Fritz Klein, „das Wesenhaste in der Totalität seines Weltbildes — den Geist — plastisch erschaut, so bleibt ihm doch die Materie und

ihre Struktur verborgen, wie dein teilhaft materialistischen Betrachter der Geist der All-Umfassung. Beide kommen in ihrer unipolaren Einstellung an das .Natur-und-Geist'-Problem nicht heran. Erst wenn wir die ganze Spannweite der Gegen­ sätze, des irrationalen ,Opferwillens' und des rationalen .Kampfes ums Dasein' als Einheit fassen, gelangen wir zur Synthese.... Eine Menschheit, die in der Lage ist, diese Gegensätze als Wirklichkeit in sich aufzunehmen, ist bis zur letzten philosophischen Konsequenz des christlichen Opfergedankens vorgedrungen, wird aber zugleich auch zum positiven Träger, der in diesem neuen Opsergedanken beschlossenen organischen Idee, während wir das Opfer für eine unorganische Idee als negative Lösung anzusprechen haben.... Dadurch ferner, daß der Mensch das Opfer nicht triebhaft, instinktmäßig, sondern — vor die Wahl gestellt, es abzulehnen — be­ wußt vollziehen soll, nimmt es eine neue Gestalt an. Der Wert eines solchen Opfers ist damit von dem Gesichtspunkt abhängig gemacht, ob der Mensch es in Freiheit bewußt vollzieht. ,Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verlieret um meinetwillen, der wird es finden'. (Matth. 16, 25).“ Wie das Opfer innerhalb der polaren integralen Um­ spannung und Überhöhung des Lebens erst seine eigentliche Sinnfunktion empfängt, so ist nun auch das weitgehend im menschlichen Erlebnisraum als Übel Empfundene einer posi­ tiven Funktionalisierung fähig. Dieses Übel erscheint jetzt nicht mehr in der echt intellektualistischen, einpoligen und darum absolut leeren Begriffsbestimmung des Mangels, sondern in derjenigen der positiven Bestimmungsbedürstigkeit durch das Werthaste, Gute. Es gewinnt Polwert. Es ist der Polwert, durch den in der Wechseldurchdringung von Licht und Finsternis die Finsternis sich selbst überschreitet und zur Farbe wird, oder durch den in der Durchdringung des toten Stoffes mit dem Lebensprinzip dieser seine zur Erstarrung drängenden Kräfte überschreitet und zum zeugenden Funktionskreis wird. Die Energie zur Offenbarmachung aller lebensdienlichen Eigen­ schaften seiner körperlichen Bestandteile schöpft der pflanzliche Organismus aus dem Sonnenlicht. Je mehr nun das Leben darüber hinaus zur schöpferischen Selbstüberschreitung fähig

wird, desto mehr scheidet und unterscheidet es wiederum Finsternis und Licht, einen aus dem dunklen Untergrund sich erhebenden und für die Osfenbarmachung empfänglichen, und einen ihn tätig über sich hinausführenden, enthüllungs­ mächtigen Erkenntnispol. Und wie das physische Licht analytisch und synthetisch, zersetzend und auch einend und auf­ bauend wirkt, so auch im Menschen das „tätige Verstandes­ licht". Es scheidet und unterscheidet, nicht um zu „entzweien", sondern das Geschiedene zur höheren Umspannungseinheit zu vereinigen. Dieser Prozeß ist nicht eine „Imitation", eine „Nachahmung" göttlichen Erkennens innerhalb der Einschrän­ kungen des Kreatürlichen, sondern er ist ein in ständiger Hoch­ spannung fortschreitender Annäherungsversuch an das, was die „coincidentia oppositorum“ in Gott selber ist. „In Gott", sagt ja auch Meister Eckhart, „sind aller Dinge Bilder gleich, aber ungleich der Dinge Bilder." Nicht also „wird" Gott erst in den Selbstüberschreitungen unseres Erkennens zu einer immer größeren Umspannungseinheit — aber er wird, so dürfen wir sagen, immer mehr darin offenbar; und offenbar nicht nur in der Umspannungseinheit der Gegensätze als solcher, sondern auch in der Kraft des Einsatzes, in der Entscheidung für sie; denn diese Kraft ist der Reflex seines göttlichen Liebes­ willens, durch den der unendliche Lebenskreis sich in ihm selber schließt. Damit kommen wir aber auf das Dynamische und das absolut Lebendige im christlichen Gottesbegrifs immer wieder zurück. Immer wieder ging das Streben des deutschen Geistes darauf hinaus, in die starre, tote Substanz des Abso­ luten, wie Spinoza sie faßte, Leben und Bewegung zu bringen. Aber das ist nur durch den „Richtungswert" und durch die „Uberhöhungs- und Umspannungstendenz" möglich. Sie er­ klären es, warum in der christlich-germanischen Vertiefung der Gotteslehre die Trinität eine so große Rolle spielt und Nikolaus von Cusa Gott in dem geheiligten Dunkel der „coincidentia oppositorum“ am tiefsten zu verehren glaubte. Das Polaritätsdenken sd)lägt so zwischen Natur­ wissenschaft, Philosophie und dem zentralen christlichen Glau­ bensmysterium die gewaltig spannweite Brücke, ohne aber eine Grenzverwischung zwischen Weltweisheit und Glaube sich zu-

schulden kommen zu lassen. Denn die Weltweisheit hat die durch die Erfahrung auffindbaren Normen der polaren inte­ gralen Umspannung und die praktische Überwindung der toten Punkte hinsichtlich der irdischen Wirklichkeit zum Gegenstände, der Glaube unsere Wiedergeburt aus dem hl. Geiste und die Überwindung des Todesreiches schlechthin durch die Liebes. Gott ist zwar die Aseitas. Ohne die begründende Aseitas gäbe es für Gott keinen Boden. Aber ohne die treibende Kraft der Liebe hätte gleichsam von diesem Boden der Gottheit aus kein Blütenflor des Lebens, kein ümspannungs- und ümfangungsakt sich erheben können: weder die unendliche dreipersönliche Lebenssülle in Gott selber, noch ihre außergöttliche Mitteilung an die in Christus wiedergeborene Kreatur. Es kommt aber auch der Glaube an die trinitarische Gottsendung der tiefsten Tendenz des zum Pantheismus drängenden arischen Geistes geradezu als Erfüllung entgegen, denn sie begründet eine vollkommenere Immanenz als jene des Monismus es ist. Alle Herrlichkeiten deutscher Mystik blühten aus ihm auf und alle christlichen Heils­ mysterien lassen sich zwanglos aus ihm entfalten. Christliche Baukunst aber offenbart uns in ihren Stilen alle Abwandlungen des gott-menschlichen Spannungs- und ümspannungsverhältnisses, das um jenes pulsierende göttliche Herzgeheimnis in der Mitte seine konstruktiven Kräfte entfaltet und je nach der Zeit, aber auch je nach der schöpferischen, dynamisch­ organischen Veranlagung der Völker und Rassen, die das Christentum ausgenommen haben, den toten Punkt immer neu zu überwinden vermag. Wenn wir heute von der geschöpflichen Polarität sprechen und von da aus den Spannungsbogen zum dreipersönlichen Gottesgeheimnis schlagen wollen, so dürfen wir freilich nicht mehr in den bedingungslos hingenommenen Kategorien der J) Der dem Deutschen tief eingeborene Glaube an radikale Verjüngungsnotwendigkeiten des Lebens erklärt auch seine innere Hinneigung zu einem religiösen Wiedergeburtsglauben durch den Feuergeist der Pfingsten. Die Verquickung der Religiosität mit der gesellschaftlichen Anständigkeit emp­ findet er als einen Mangel religiösen Sinnes. „Diese Verbindung will dem Deutschen nicht gelingen, auch in dem gänzlich Irreligiösen scheint ein ver­ borgenes Gefühl gegen solche Vermischung sich aufzulehnen, scheint die dunkle Erkenntnis zu leben, daß irgendwie eine Wiedergeburt den natürlichen Men­ schen vom religiösen Menschen trennt." (Wilhelm Müller-Walbaum).

alten klassischen Ontologie sprechen, sondern müssen tiefer graben. Der alte Substanzbegriff muß gleichsam verjüngt und durch tiefere philosophische Selbstbesinnung wiederge­ boren werden, um den fortschreitenden Entartungsprozeß, den er bis zum „Wirklichkeitsklötzchen" durchlaufen hatte, von der Wurzel her zu überwinden. Diese Neukonstituierung ist — wie Hedwig Conrad Martins gezeigt hat — nur durch die deutsche Existentialphilosophie hindurch möglich*). Das mit der eigenen Existenz des Ich konstitutiv vorhandene Seins­ verständnis macht nach ihr eine universale Ontologie erst möglich, weil in ihm — im Gegensatz zum Sein der bloßen Vorhandenheit — das Dasein als „existentielle Selberheit" ausleuchtet. Das Dasein erhebt sich aus eigenem selbsthaftem Grunde zum eigenen Sein. Das erschließt sich in un­ mittelbarer Intuition und läßt sich nicht besser charakterisieren als damit, daß man sagt: das ganze Ich ist primär nichts weiter als „zum Sein hin". Im Augenblicke, wo es mit der Seins­ ergreifung oder Selbstergreifung fertig wäre (was konstitutiv ein Widersinn ist), wäre es nicht mehr ein Selbst, wäre es kein Ich mehr. Sein existentielles Sein und darin sein ganzes Wesen ist ein immer präsentisches, gegenwärtiges, nie ein perfektisches, vollendetes. Immer muh es deshalb im Gegenwurf zu sich selbst, im Ergreifen eines Gegen-standes, eines Objektes, den Standort gewinnen, in dem sich sein Dasein konstituiert. Das kann z. B. das eigene Selbst sein, das nun aber darin als ge­ doppeltes, gespiegeltes, erscheint, als Subjekt und als Gegenstand oder transzendentales Objekt. Indem wir z. B. „ich" sprechen, fassen wir auch deutlich, daß das Seiende, um aus sich selbst zu sich selbst zu kommen, zuerst einmal aus sich selbst heraustreten, sich selbst überschreiten (transzen­ dieren), „ans Licht" treten muß. Das Geilensche Symbol gibt diesem Gegenübertreten den besten Ausdruck, indem es mit dem aufsteigenden, dem „zum Sein hin stehenden" Wellenast, *) Existenzielle Tiefe und Untiefe von Dasein und Ich. Schildgenossen Iahrg. 14. Heft 2. Die Keime der Existentialphilosophie liegen bei Schelling, ihre Neugeburt bei Heidegger und Jaspers. Den Neuaufbau einer Realonto­ logie durch Funktionalisierung des Substanzbegriffes, phänomenologische Er­ neuerung der Licht- und Farbenmetaphysik, der Metaphysik der Lebensstufen usw., verdanken wir in besonderer Weise Hedwig Conrad Martius.

das absteigende Stück der Wellenlinie, das zugleich dessen Spiegelbild ist, kreuzt, ihm gegenübertreten läßt:

Durch diese Selbstüberschreitung bekommt der Mensch den Bezirk seiner Innerlichkeit selber noch einmal innerlich in die Hand, wird sich selbst noch einmal innerlich vorgesetzt, und steht dadurch in der schöpferischen Position des Selbstbewußt­ seins und der Erwählbarkeit aller Werte, was durch den dritten aus der Äberkreuzung aufsteigenden Wellenast zum Ausdruck kommt:

J Angelus Silesius gibt diesem Symbol, das gewisser­ maßen auch aus die Selbstüberschreitung der Raupe zum Schmetterling und die aufbrechende Puppenschale hindeutet, die tiefsinnige Wendung: „Kriech doch heraus, mein Mensch, du steckst in einem Tier, Wo du darinnen bleibst, kommst du bei Gott nicht für." Das Symbol ist zugleich das Symbol des Logos, das Logogramm. In der Trinität bedeutet der zuerst angesetzte Wellenast nicht mehr den bloß zum Sein hin stehenden, sondern den „durch sich selbst im Sein stehenden" Vater, das „Spiegel­ bild" dazu der vom Vater als lebendige Person erzeugte Logos, in dessen radikal enthüllungsmächtigem Lichte der Vater sich selbst anschaut. Das wie ein „Springquell" aufsteigende Leben beider ist die vom Vater und vom Sohne als Person ausgehende Liebe, der heilige Geist. Da in Gott die lautere Wirkmacht ist, fällt die in ihm beschlossene Alles ganz und Alles zugleich umfassende Lebensbewegung mit der zeitentrückten Ruhe

der Ewigkeit zusammen. „Unendliche Bewegung," sagt Nikolaus von Cusa, „fällt mit Ruhe zusammen, wie wir beim Spielrad sehen, das, je mehr und schneller es angetrieben wird, um so weniger bewegt zu sein scheint. Und wenn es so schnell umgedreht würde, daß es schneller nicht umgedreht werden könnte: dann entstände aus Bewegung Ruhe!" Man sage nicht, die Aussage der Bewegung werde dadurch in eine Scheinaussage verwandelt, sie wird durch die Koinzidenz mit der Ruhe nur in einen für unser Fassungsvermögen undurchdringlichen Geheimzustand — in ein geheiligtes Dunkel — erhoben, woran der endliche Verstand sich gewiß nicht zu stoßen braucht. Das Leben des Vaters und das Leben des Sohnes ist das Hauchen des heiligen Geistes in der unendlichen Mitteilungs­ kraft der Liebe. Und so bleibt auch Gott mit und bei der Kreatur, wenn sie durch den Logos, das „Wort", erschaffen worden ist, nur durch die hegende und pflegende Kraft der Liebe, die das Innerste seines Lebens ist. Nicht allein durch die Gottesge­ bärerin, die Jungfrau-Mutter, sondern schon durch den drei­ persönlichen Lebensring selber rückt so das Christentum das Muttersymbol in seine einzigartige, polumspannende und den Tod überwindende Bedeutung. Der dreipersönliche gött­ liche Lebensring wird nun zum „Ring der Ringe", zum Ur­ sprungsprinzip auch aller Schöpfungsringe, aus denen das Leben rhythmisch sich erneuert und seine immer höher gestaffel­ ten Polspaltungen immer höher zielend umspannt. Goethe hat dem einen wunderbar tiefen Ausdruck verliehen in den Worten: „Sieh, hier schließt Natur den Doch ein neuer sogleich fasset Daß die Kette sich fort durch Und das Ganze belebt, sowie

Ring der ewigen Kräfte: den vorigen an, alle Zeiten verlänge das Einzelne fei."1)

Die wiedergefundene Existentialität der ganzen Welt ist für die Grundlegung der echten Polaritätslehre auch noch in *) In der hervorgehende bezeichnet und die Emanation

Sprache der klassischen Scholastik wird die aus dem Innern Selbftüberschreitung der Lebensbewegung als „Emanation" „Zeugung" im eigentlichen Sinne kommt zustande, wenn ein Gleiches, wie der Organismus — sei es der physischen

anderer Hinsicht von ausschlaggebender Bedeutung. Zunächst ermöglicht sie Stoss und Geist, die äußerst gegenüberstehen­ den Pole, schärfer ontologisch zu umschreiben. Im Gegensatz zu dem archonalen Charakter ichhafter Existentialität (von archeo = ich fange an), die immer Anfang und Ursprung ihrer selbst und eine konstitutionell geöffnete bleibt, fällt bei der Stoffsetzung das selbsthast Hervorgehende und sich Überschrei­ tende auf sich selbst wieder zurück und wird so durch und durch Grund und Boden seiner selbst, d. h. hypokeimenale Existentialität, das typische Substrat. Dasein ist also immer Substantialität, d. h. ihrem eigenen Sein unterstehende exi­ stentielle Selberheit. Die Substantialität des Stoffes ist eine substrathaste, in sich verschlossene, aber der Selbstüber­ schreitung durch die Belebung bedürftige, die des Geistes eine personhafte, in dem Heraustreten aus sich selbst auch sich selber öffnende und damit in einer unüberbietbaren Verant­ wortung sich selbst übergebene. Und gerade weil der Mensch als Person ein in sich selbst gegründetes, von allem übrigen Gleichheit oder der Gleichheit des Bildes nach — hervorbringt. Bei der Pflanze ist das erste der Fall, bei dem Menschen, der durch die „Idee" seiner selbst aus sich herausgeht, das zweite. Während die Pflanze sich beim Zeugungsakt ver­ äußert, sich außerhalb ihrer selbst setzt, bleibt im Menschen die Idee von ihm in ihm selber. Aber sie ist in ihrer Entstehung noch abhängig von der äußer­ lichen Erfahrung seiner selbst durch die Sinne. In Gott dagegen ist die Zeu­ gung des göttlichen Bildes, durch das Er in radikaler Weise sich selber offenbar ist, völlig unabhängig von einem „Außen" und bei ihm ist das Bild von sich (der Logos) so radikal er selbst, daß Erkennen und Sein zusammenfallen. And es ist so radikal ein „lebendiges" Bild, das es vom Zeugenden (dem Vater) als „Person" sich unterscheidet. Im vollkommensten Insichsein der beiden Pole aber konstituiert sich zugleich das fruchtbarste Füreinandersein: die „Selbstüberschreitung" von Vater und Sohn in der „Hauchung" des hl. Geistes, die auch wiederum von solcher „Mächtigkeit" ist, daß sie als „dritte Person" den trinitarischen Lebenskreis vollendet. Wenn man die „echte" Analogie der geschöpflichen Lebenspolarität zur Trinität herausstellen will, dann darf man also nur die „aktuellen" Momente berücksichtigen: beim Manne vorwiegend in der Zeugungs- und Amspannungskraft und in der Energie des Geistes, beim Weibe in der Hingabe und in der Energie des Herzens. Alle Polaritäten die im Potenz-Aktverhältnis und in den Amspannungsverhältnissen von „Innen" und „Außen" wurzeln, wie z. B. die Polarität von Arsprünglichkeitshaltung und Anpassungshaltung des Lebens, sind durch die Einschränkungen des Kreatürlichen selber gegeben und in keiner Weise auf das göttliche Leben analogisch übertragbar. Nur das „Arsprüngliche" als so lches und das „Wirk mächtige" in der Welt haben darauf Anspruch. Andrö, Naturanschauung.

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gesondertes und sich selbst überantwortetes Tätigkeitszentrum ist, das, wie Schelling einmal sagt, „die Selbstbewegungs­ quelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat", kann im Zusammenwirken Gottes mit dieser persönlichen Selb­ ständigkeit des Menschen diese letztere nicht adsorbiert oder auf­ gehoben werden — am wenigsten in der religiösen Wirklichkeit, die eine unüberbietbare Verantwortung, Erprobung und per­ sönlichen Einsatz in sich einschließt. Der Mensch wird durch den Logos und den heiligen Geist zwar innerlichst mit Gott ver­ bunden, aber mit dieser innerlichsten Verbundenheit ist zugleich die tiefste und freieste Geschiedenheit der beiden Pole (des göttlichen und menschlichen) und damit die Be­ dingung für jenes Spannungsverhältnis gegeben, in welchem jedes Schenken wiederum zu einer unvergleichlichen Tätig­ keitsaufgabe für den Empfangenden wird: „Gott ist so viel an mir, wie mir an ihm gelegen, Sein Wesen helf ich ihm, wie er das meine hegen." Oder wie ein anderer Vers von Angelus Silesius sagt: „Das Wort, das Dich und mich und alle Dinge trägt, Wird wiederum von Dir getragen und gehegt." Die Trinitätslehre ist in ihrer grundlegenden dogmati­ schen Fassung von einer so entscheidenden Bedeutung, daß die kleinste Veränderung darin unsere so fruchtbare Auffassung von der Zweipoligkeit der Welt und der Spannungs- und Hmspannungsgesetze des Lebens rettungslos vernichten würde. Ist der Mensch gewordene Logos Homousios (consubstantialis), d. h. gleichen Wesens mit dem Vater, wie das kirch­ liche Bekenntnis immer festhielt, dann bleibt die allen Tod restlos besiegende innergöttliche Personenpolarität zwischen Vater und Sohn gewahrt. Ist er aber nur Homoiusios, d.h. ähnlich mit dem Vater, so steht der Vater allein und der ein­ polige, alles Leben adsorbierende Pantheismus ist die unaufhaltsame Konsequenz. Wer in Gott nur die Einheit der göttlichen Substanz sieht, anerkennt keine individuelle Sub­ stanz mehr, die echte Polarität der Welt, die aus echter Ver­ schiedenheit, Mannigfaltigkeit, aus Gegensätzen, Persönlich­ keiten und dem persönlichen Weben der Trinität beruht, hört

auf, der Weltprozeß verwandelt sich in ein „dynamisch-verfließendes" Werden, ein Werden, in dem entweder das Ge­ schöpf in der Allursächlichkeit Gottes sich selbst entsinkt und untergeht oder Gott zu einer abhängig Variablen des Geschöpfes wird — nicht aber in ein „dynamisch-organisches, schöpfe­ risch-hochgespanntes" Werden. Wie soll sich dann über­ haupt auch noch ein fruchtbares Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Glauben konstituieren? Im Rahmen der echten Polaritätslehre ist hier eine Scheidung und Unterscheidung und schöpferische Umspannung beider Pole durchaus möglich. Wenn im Frühling die Pflanzenknospen ihre gestaltschöpferi­ schen Potenzen offenbar machen, so tun sie das durch Vermitte­ lung der im Licht aktivierten Fermente. Uns selbst ist ein ideal offenbar machendes Licht, der tätige Verstand, eingepflanzt, durch dessen Strahlkraft das Sinnesbild mitursächlich bei der Hervorbringung der Idee wird. Richt so wirkt dabei der Ver­ stand, daß er das Sinnesbild immer mehr intellektualisiert und es dadurch schließlich fast als illusorisch erweist, sondern indem er seinen idealen intentionalen Reizwert bis zum höchsten steigert, es zum mitzeugenden Ideenträger, und den abstrakten Begriff, über sich selbst hinausführend, zum Denk-Bild, zum „Keimriß" der Idee verwandelt, der erst das wahre Gewicht und den Wert der Dinge enthüllt. Durch diese Erkenntnistheorie wird nichts, aber auch» gar nichts, was in der möglichen Blickweite mensch­ licher Erkenntnis liegt, ins Reich der Rumena erhoben und doch wird durch sie der menschliche Verstand so wenig von der gött­ lichen Lichtsphäre gelöst, wie die Pflanze von der Strahlkraft der Sonne. Vielmehr erhält der Erkenntnisgegenstand eine Zeigefunktion auf jenes Zentrum hin durch die Geheimnis­ tiefe, die jedem Urmodell der lebendigen Schöpfung innewohnt, insofern es als Symbol immer wieder auf eine über es hinaus­ liegende Stufe hinweist. Die bildlosen intellektualistischen Abstraktionen haben nichts von dieser hochgespannten Trans­ parenz und können darum zum Gemüt in keinerlei Beziehung treten. Es scheint ein seltsames Paradoxon und ist doch dem Tieferdringenden überaus einleuchtend, daß die bild fr ei intellektualistische Abstraktion einen Vermaterialisierungsprozeß in der Erkenntnis selber darstellt. Das Wesen der Vermaterialisierung des Begriffes besteht analog der fub-

stantiellen Vermaterialisierung darin, daß in ihm das zur Selbstüberschreitung, d. h. eben zur Symbolisierung Drän­ gende aus sich selbst wieder zurückfällt und sich verdunkelnd ab­ schließt, seine Transparenz verliert. Erlebnis- und Erkenntnis­ raum verbinden sich nicht zum über sich selbst hinausweisenden Gleichniserkennen, der Erkenntnisakt geht gleichsam nur zur Hälfte aus sich heraus und sinkt aus die unschöpferische Welle:

Freilich bleibt auch in der polar umspannenden Erkenntnis, in der diese, wenn sie ihr „Wort" ausspricht, ganz aus sich herausgeht, immer noch ein gewisses Dunkel enthalten. Aus allen noch so leuchtkrästigen Denkbildern und Entstehungs­ plänen heraus vermag unser endlicher Verstand den Grund, warum etwas faktisch „jetzt", „hier", „so" ist, nicht ausfindig zu machen. Nur in dem Lichte, in dem der Selbstwirkliche sich selbst anschaut, kann dieser Grund geschaut werden, weil nur die durch sich selbst im Sein stehende wirkmächtige Wirklichkeit mit ihrem Selbstgrunde auch den Grund für alles, was existiert, enthalten kann. Auch hier scheiden sich die Geister zutiefst an der Trinitätslehre. Ist der Logos, das „Wort", durch das der Vater sich selbst ausspricht, gleich unendlich mit dem Vater, dann besitzt Gott in seiner Selbsterkenntnis sich vollkommen. Das gibt eine einzigartige Bestätigung für die philosophische Urkonzeption, wonach das Seiende, soweit es als aktuell Seien­ des aus sich herauszugehen vermag, grundsätzlich auch erkenn­ bar sein muß^). Insofern also z.B. die erste wirkmächtige Wirk*) Weil in Gott Sein und Erkennen identisch sind, tragen die von uns erkannten Wesensgesehe auch einen ewigen Geltungsanspruch in sich. Weil der im göttlichen Wesen gründende Wert durch die als Person aus-

lichkeit in den Lebewesen (ihr actus primus) in dem Entstehungs­ und Funktionsplan aus sich herausgeht, ist er auch erkennbar für uns. Freilich wird dieser Plan, indem er als erste wirk­ mächtige Wirklichkeit mit dem zu belebenden Stoff sich ver­ bindet, sich substanziiert, zugleich auch vereinzelt, „individuiert". Unser Erkennen muß ihn aus dieser Vereinzelung erst wieder „herausziehen", abstrahieren. Eine strenge Einsicht in den ein­ maligen individuellen Entstehungs- und Funktionsplan ist uns somit nicht möglich. Er ist in seiner Erkennbarkeit nur für Den­ jenigen zugänglich, der durch sich selber wirkmächtige Wirk­ lichkeit ist und somit auch alles Werden, soweit es vom kon­ kreten Wirklichsein als solchem abhängt, durchdringen kann. Wir sehen: Wie die christliche Wahrheit einerseits eine Korrektur für die falsche und hohle, nur scheinbar positive Lichtwendigkeit des Nationalismus ist, so ist sie nicht minder eine Korrektur für die negative Lichtwendigkeit eines sehlgeleiteten Irratio­ nalismus, der an ein vom Logos überhaupt verlassenes Sein glaubt. Rationalismus und Irrationalismus werden über­ höht zu einer sie über sich selbst hinausführenden und nun radikal lichtgläubigen Betrachtungsweise, die „getrost der ewigen Klarheit hellsten Tags entgegenblickt" (Goethe). Aber trotz dieses letzten Seinsoptimismus hängt mit der Polaritätslehre der Grundgedanke einer heroischen Welt­ anschauung tief innerlich zusammen: der Kampf ist für eine Welt, in der sittliche Größe offenbar werden soll, geradezu konstitutiv. Das musikalische Erlebnis bestätigt vielleicht am voll­ kommensten diese tiefe ontologische Wahrheit. Der Dualismus von Dur—Moll, auf dem die ganze Harmonik beruht, ist schon alles andere als ein kampfloses Schlaraffenland. And wir freuen uns im Genusse Beethovenscher Musik nicht bloß am Logos des Zusammenklanges, sondern auch am Gegensatz feindseliger Be­ rührungen, die im Fortgang der thematischen Entwicklung in einem höheren Zusammenhang wieder aufgelöst und im Sieg verschlungen werden. Der freie Akt ist als Entscheidungsakt gehende Liebe des hl. Geistes auch in unendlicher Liebeskraft bejaht wird, tragen auch die höchsten durch das kreatürliche Leben zu verwirklichenden Werte einen Bewährungsanspruch in sich. Ein Schlaraffenland dieser Werte ist ontisch unmöglich. Hier liegt die tiefste Wurzel des christlichen Heroismus.

eben immer ein Bewährungsakt, der in der Gefahrzone erfolgt. 2lud) in der ewigen Dialektik zwischen Ursprünglich­ keitshaltung und Nützlichkeitshaltung des Lebens, zwischen Charakter und Anpassung, kann nur der Bewährungsakt die Treue zu sich selber offenbar machen und die Verwirklichung des eigenen Wesensgesetzes zum Siege führen. Zeiten der Krise, der Not, in der das Versagen der bloßen egoistischen Nützlichkeitshaltung des Lebens am tiefsten offenbar wird, sind auch die Zeiten der Einkehr in den eigenen Wesensgrund, in die Selbstbesinnung auf jene idealen Lebensmächte, die das Leben aus der materialistischen Zweckversklavung wieder zu befreien und die schöpferische Höchstleistung in ihm auszulösen vermögen. Als in dem Jahr der Dürre von 1911 die Pflanzen unserer deutschen Heimat den Kamps um das lebensnotwendige Wasser und die Nährsalze des Bodens verzweifelt führen mußten, da trat im feuchten, frostfreien Dezember bis tief in den Januar 1912 hinein ein so fröhliches Blühen auf, wie es in dieser Jahreszeit unglaublich erscheinen mußte. Frisch grün sproßte es auf den Saatfeldern und darin waren Kornblumen zu finden von einer so edlen Form und tiefblauen Färbung, wie sie der Sommer mit seinem heißen Werben nicht hervorbringen konnte. Hahnenfuß, Reseden, Dezemberrosenknospen kamen noch vollkommen zur Blüte. Die von der Not so stark betroffenen Pflanzen rüsteten sich zum Kamps um das Ewige in ihnen, zum Kampfum die Überwindung des Todes in dem schöpfe­ rischen Arsprungspol der Blüte. Möge dieses Bild uns zum Wahrzeichen unseres eigenen völkischen Lebenskampfes werden. Der Mensch wird in demselben Maße fähig, dem Angriff des Schmerzes zu trotzen und aus dem Zeitalter der materialistischen Emp­ findsamkeit in ein spartanisches Zeitalter des Gehorsams, der Übung und Disziplin hineinzuwachsen, in dem er sich aus sich selbst herauszustellen vermag. Aber diese Selbstüberschrei­ tung hat auch eine weltanschauliche Seite. Wie die Pflanze in höchster Not zur höchsten Integrationsform der Blüte schreitet, so müssen auch wir zu einer den Tod überwindenden Synthese uns erheben. „Wenn wir aber," so schreibt Fritz Klein, „den Rationalismus, Materialismus und Liberalismus mit den alten Denkmethoden, Denkhypothesen, Hilfsvorstellungen

und Arbeitsweisen überwinden wollen, so heißt das den Teufel mit Belzebub austreiben. Dies ist in der Kulturgeschichte bereits hundertmal ohne Erfolg versucht worden, und was dabei herauskommt, kann immer nur eine abgewandelte Form dieser .Ismen', niemals aber etwas Neues sein." Dieses Neue ist nach ihm das auf dem Polaritätsgesetz beruhende Prinzip der Ganzheit. „Der geisteswissenschaftliche Beweis für die Ganzheit" — schreibt dann Fritz Klein — „wird von der Wissenschaft so lange bezweifelt werden, bis der Experimentalbeweis der Ganzheit vorliegt. Und dieser Experimentalbeweis," fügt er dann siegesgewiß hinzu, „ist erbracht und damit ist das Weltbild der Ganzheit oder, wenn wir wollen, das Weltbild des Nationalsozialismus, Wirklichkeit geworden. Damit ist der Komplex des alten Denkens restlos überwunden und innerhalb dieser alten Form ist es absolut unmöglid), Neues zu bringen. Wir können nicht neues Denken verlangen und alte Hilfsmittel dazu einsetzen."

Gedanke nur in sich verpflichtet sich auf Zwang und Menschen richtet,' lockert sich im Bild das Denken, wird die Erde wieder schenken. Konrad Weih

IH. Atombild, Analogie und Deutung der Lebens­ erscheinungen. Von

Hans Andre „Das beste Motivieren ist am Ende das Motivieren durch analoge Fakta, genom­ men aus den heterogensten Verhältnissen." Friedrich Hebbel.

Die entscheidende Verknüpfung zwischen dem Erlebnisraum und dem Erkenntnisraum, die sich im naturanschaulichen Erkennen heute vollzogen hat, läßt uns auch so manche ur­ sprüngliche Einsicht in der Geschichte der Naturwissenschaften in einem ganz neuen Lichte erscheinen. Wie lange blieb in der rein intellektualistischen Periode der Naturwissenschaft Goethes Metamorphosenlehre der Pflanzen dem Botaniker in ihrem Kerne unklar. Heute weiß jeder die ihr zugrunde­ liegende idealistische Fragestellung von den realen Deszen­ denzsragen, mit denen sich die Paläontologie beschäftigt, scharf zu unterscheiden und wir wissen auch, daß beide Betrachtungs­ weisen verfahrungsmäßig sich sehr fruchtbar ergänzen*). Auf Grund dieser Erkenntnis fragen wir uns aber, ob nicht auch bei so manchen anderen naturwissenschaftlichen Urvorstellungen die idealistische Fragestellung am Ansang, an ihrer Geburtsstunde, steht und in der Gegenwart wieder ihrer Auf­ erstehung harrt. Wir denken da vor allem an den Atombegriff. War nicht unsere Auffassung vom Atombegriff Demokrits in ähnlicher Weise eine intellektualistisch verfälschte, ’) Die klare Scheidung und Unterscheidung beider Betrachtungsweisen wurde streng wissenschatlich zuerst von Walter Zimmermann in dessen Buch „Die Phylogenie der Pflanzen" (Jena 1930) durchgeführt und dürfte dadurch jetzt endgültig in das Bewußtsein der Forscher eingedrungen sein.

wie jene Mißdeutung Goethescher Vorstellungen, die Goethe zu einem Vorläufer Darwins machen wollte? Diese Frage hat jüngst Hans Kayser ausgeworfen und kommt dabei zu interessanten Ergebnissen. Bei den Zeitgenossen und Nach­ folgern Demokrits heißt es nämlich, daß Demokrit zwei be­ sondere Eigenschaften der Atome angenommen habe — Größe und Gestalt — außerdem habe er sie als ,,ideai“ bezeichnet; sie seien unteilbar, „Wesenheiten", streng gesondert, unsichtbar, und erst das Gesetz, der Nomos, bringe die Erscheinungen her­ vor. Nun sind aber „ideai“ Ideen, d. h. für den Griechen plastische Geistesbilder, und „nomoi“ Normen, — gesetzmäßige Bindungen — beides Begriffe, die das Gegenteil einer nur materiellen Anschauung bedeuten *). An die interessanten Feststellungen Kaysers fügt sich Fritz Lauterborns*2) wertvolle Untersuchung über das Atom­ bild Gustav Theodor Fechners an. Dieses, wie Lauterborn mit Recht sagt: „eine der genialsten Konzeptionen der mo­ dernen Physik, hat bei den damaligen Naturforschern und Naturphilosophen so gut wie gar keine Beachtung gesunden und ist bald völliger Vergessenheit anheimgefallen". Die Zeit war noch nicht reif für eine solche umwälzende Erkenntnis, die das Atom selbst wieder als zusammengesetztes Ganzes be­ trachtete, und erst viele Jahre später bedurfte es des feinen historischen Spürsinnes eines deutschen Zoologen, um diesen Denkstein in der Geschichte der Naturwissenschaften wieder aufzufinden. Fechner überträgt die bei ihm primär ästhetische Konzeption des Planetensystems auf die Kleingliederung des Atoms. Wie Goethe uns ein bestimmtes Gestaltungsthema vor Augen führt, das jede Pflanze in einer anderen Variation zu lösen versucht, so sollte Fechners Atommodell den Grundplan darstellen, von dem jede Atomart eine Abwandlung bildet. Und, was Fechners geistiges Auge für diese Modellschau öffnete, war die Analogie. Sollte die Analogie, die zudem der Leitfaden von Goethes so bedeutungsvollen Intuitionen war und das gesamte Denken der romantisd)en Naturphilo­ sophie beherrscht, nicht auch heute nod> der Forschung neue J) Blätter f. Harm. Forschung 1934, Heft VI. 2) Fn „Natur und Volk", November 1934.

Perspektiven ausschließen? In der Staffelung des leben­ digen Spannungsmodelles in den beiden ersten Abhandlungen dieses Bändchens haben wir von dem Analogieprinzip oft genug Gebrauch gemacht, aber seine Rechtfertigung als metho­ dischen Leitfaden der Forschung selber noch nicht tief genug durchgeführt. Durch das Analogieprinzip weist das Modell jeder Staffelungsstufe über sich selbst hinaus auf den Werde­ plan und den Funktionsplan des darüberstehenden und läßt uns nach „qualitativen Beziehungsgleichheiten" Aus­ schau halten. Um aber für die Sichtung dieser wahrhaft frucht­ bar zu werden, mußten beide Modelle: Goethes Urpflanzenund Fechners Atommodell, durch die naturwissenschaftliche Forschung erst noch innerlich vervollkommnet und ausgebaut werden. Fechners Atombild konnte erst dann seine genauere Be­ gründung durch die Erfahrung finden, als wir durch die Ent­ deckung der Röntgenstrahlen sozusagen neue „Augen" bekommen hatten und die Erscheinungen der Radioaktivität uns über die Kleingliederung der Körper ganz neue Auf­ schlüsse gaben. Durch die Röntgenstrahlen konnten wir wegen ihrer ganz kurzen Wellenlänge das einzelne Atom — wenn auch nur indirekt — sichtbar machen, aus den Erscheinungen der Radioaktivität schließen, daß es selbst wieder aus Teilen be­ steht. Das Radiumatom kann z. B. ein viel kleineres und feineres Teilchen, ein Heliumatom, ausschleudern. Dieses Heliumteilchen muß mit vielen Lustmolekülen bzw. deren Atomen zusammentreffen, aber es dringt wegen seiner Feinheit und rasenden Geschwindigkeit (15000 km in einer Sekunde) durch sie hindurch. Das können wir nur mit der Fechnerschen Vorstellung erklären, wonach die durchbrochenen Atome einem winzigen Sonnensystem gleichen, das aus einem Zentralkörper und ihn umkreisenden Satelliten besteht. Den Zentralkörper fassen wir als den positiv elektrisch geladenen Atomkern aus. Ihn umkreisen die negativ elektrischen Begleiter, die Elektronen. Die positive Ladung des Kerns muß bei dem geschlossenen System gerade so groß sein, daß sie der vereinigten negativen Ladung die Waage hält. Beim Durchschießen der Atome in der Luft reißt das Heliumteilchen ein Elektron ab, so daß das Atom jetzt positiv geladen und ein Nachbarteilchen, an welches

das Elektron sich anheftet, negativ geladen wird. Da die elek­ trisch geladenen Atome Feuchtigkeit anziehen, kann bei ihnen leicht ein Nebelstreif erzeugt und beleuchtet werden, der die geradlinige Bahn des Heliumteilchens sichtbar macht. Aber die Bahnen des Heliumteilchens, obgleich sie eine lange Strecke geradlinig sind, erfahren mitunter scharfe Knicke, besonders wenn sie ihrem Ende sich nähern. Das Teilchen hat dann nicht mehr die hohe Geschwindigkeit, daß es mit seiner eigenen nega­ tiven Außenladung die abstoßende Wirkung der negativen Auhenladung des andern Atoms radikal überwindet und ein­ fach durch dasselbe hindurchschlüpft und deshalb wird es aus seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt. Polaritätstheoretisch betrachtet können wir den positiven Kern als das Organi­ sationszentrum des Atoms, die darum kreisenden Elektronen als seine Materialsphäre betrachten. Beide sind durch den Fluß elektrischer Kraftlinien miteinander verbunden, wobei die Bewegung von den Kernen aus zu den Elektronen geht und als Zugspannung, elektrische Spannung, erscheint. Atome, denen ein Elektron entrissen wurde, zeigen eine gewisse AusHeilungstendenz. Der Kern bestimmt die Zahl der Elektronen und diese bedingt die Art und Weise, wie das Atom zu anderen Atomen sich verhält. So vereinigt die positive Ladung des Kohlenstoffatoms um sich 6 Elektronen, also 6 negative Einheits­ ladungen, die sich in einer bestimmten regelmäßigen Weise ordnen. Die Radien der Bahnen, auf denen die Elektronen sich bewegen, sind nicht beliebig groß zu denken. Man stellte sich z.B.vor, daß das eine Wasserstofselektron aus 4 verschiedenen strukturell festgelegten Bahnen sich bewegen und dabei immer ruckweise von der einen auf die andere Bahn überspringen kann. Springt es von einer inneren Bahn zu einer äußeren, so wird Energie adsorbiert, springt es von einer äußeren Bahn zu einer inneren, so wird Energie in Form von Strahlung frei. Die Linien des sichtbaren Wasserstofsspektrums entstehen beim Sprung eines Elektrons von einer äußeren möglichen Bahn zu einer zweiten inneren. Daß das Spektrum mehrere Linien aufweist, beim Wasserstoff eine in Rot, zwei in Blau und eine in Violett, erklärt sich daraus, daß bei einigen 10000 Atomen das Elektron von der dritten zur zweiten Bahn springt, bei anderen 10000 Atomen von der vierten zur zweiten Bahn und dabei

jedesmal Strahlen von verschiedener Schwingungszahl und Wellenlänge aussendet *). Von den Urbestandteilen der Atome aus gesehen vollzieht sich der Aufbau der Körper nun in drei Stufen. Die erste Stufe ist das Atom selber, die zweite das Molekül, die dritte die Kristalleinheit. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: 1 Atom Silizium und 2 Atome Sauerstoff verbinden sich in bestimmter Anordnung zu dem Molekül des Siliziumdioxyd (SiCy. Drei Moleküle von Siliziumdioxyd, auch wieder in besonderer Weise — und zwar schraubenförmig —angeordnet, bilden die Kristalleinheit, aus deren unendlicher Wie­ derholung der Quarzkristall entsteht. Jede Zelle im Raum, welche die Kristalleinheit enthält, heißt Ele­ mentarzelle und alle Elementar­ zellen fügen sich zu einem Raum­ gitter zusammen, etwa von der Form der Abb. 18. Denken wir, wir könnten entlang der Zellkanten in irgendeinen Kristall hineinsehen und feststellen, wie die Atomgruppen im Gitter angeordnet sind. Das Bild von Abb. 19 gebe diese Anordnung wieder. Jede Abb. 18 Gruppe bestehe aus vier ver­ schiedenen Atomen, die in der Abb. 19 durch vier verschieden große Kreise angedeutet sind. Alle Gruppen sind dann einander gleich. In Wirklichkeit wird unsere Sehkraft für sich allein nie in diese Kleingliederung eindringen können, aber die Röntgen­ strahlen können ihr dazu verhelfen. In Abb. 20 haben wir die Gitterebenen mit den Gruppen nochmals ganz vereinfacht in Punktreihen dargestellt. Ein Wellenzug Röntgenstrahlen treffe nun, seitlich herkommend, den Kristall. Die Röntgenstrahlen werden dann auf jeder Gitterebene gespiegelt und wenn durch Drehung des Kristalls diejenige Stellung erreicht wird, bei der x) Auf die allerneueste Entwicklung der Atomphysik näher einzugehen, ist im Rahmen dieser kurzen, vorwiegend der Biologie gewidmeten Abhand­ lung nicht möglich und auch nicht notwendig, zumal hier eine sehr ausgedehnte, auch dem Laien zugängliche Literatur existiert.

von einer Gitterebene zur anderen die austretenden Strahlen um je eine ganze Zahl von Wellenlängen sich unterscheiden, steigern sie ihre Wirkung zum höchsten und ergeben einen leicht feststellbaren Spiegelungsesfekt^). Daß dann eine Formel für den Abstand der Gitterebenen gesunden und die Stellung der Gruppen im Gitter leicht ermittelt werden kann, ist ohne weiteres verständlich. Was so die Röntgenstrahlen uns über die Atome als die Träger dieser Urordnung offenbaren, zeigt, daß auch unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen von der Regel­ mäßigkeit, vom Glanz und von der Schönheit der Kristalle nicht prinziplos mit diesen Formtypen verbunden sind. Könnten wir z. B. in die Feingliederung eines Eiskristalls unmittelbar hineinsehen, so würden in der Aussicht die Sauerstosfatome in ankommender Stroh/.

Abb. 19 (nach Bragg).

Abb. 20 (nach Bragg).

regelmäßigen Sechsecken angeordnet erscheinen und zweifel­ los hängt damit auch die zierliche Sechsstrahligkeit der Schneekristalle zusammen. Das Wachstum der Kristalle ist nach O. Lehmann auch wiederum aus ein „Gefälle" zurückzuführen, das sich bei manchen (5. 93. Lu ZO^-Kristallen) in Farbunterschieden andeutet. Man sieht den wachsenden Kristall von einem Hos der Moleküle umgeben, er wächst am stärksten an den Ecken, weil dort das Gefälle am größten ist. Ähnlich bilden sich bei Schneekriställchen Höfe von Wasserdampsteilchen (verteilt zwischen den Lustmolekülen), die gewissermaßen die Nährstoffe des Kristalls bilden und entsprechend deren Dichte !) Dem Vorschlag Geilens zu einem durch akustische Analogien nach­ prüfbaren Modell ist man neuerdings praktisch entgegengekommen. In der Poskeschen „Zeitschrift f. d. phys. u. chem. Unterricht", März-April 1935, findet sich ein Bericht über ein von Cl. Scharfer und L. Bergmann, Breslau, mittels Schall strahlen erzeugtes „Laue-Diagramm".

und Verteilung das Kristallwachstum so mannigfach modifi­ ziert wird, daß der Formenreichtum der Sterne nahezu un­ ermeßlich ist und für das Schaffen unserer bildenden Künstler die schönsten Vorlagen bietet. Im Molekularausbau der Stoffe kehrt der sechszählige zyklische Rhythmus im Benzolring wieder, dem Kern der zentral lebenswichtigen Nucleoproteide und aller aromatischen Substanzen. Vor allem aber offenbart uns die moderne Physik eine grundsätzlich sehr wichtige Analogie des unbelebten Stoffes zum belebten. Auch der belebte Stoff baut sich aus letzten Formelementen auf. Aber im Gegensatz zum Kristall vermag hier jedes Formelement seinesgleichen wiederum aktiv aus sich hervorzubringen. Die Folge ist bei wachsenden Zellkernen eine rhyth­ mische Verdoppelung. Ihre Voluinina verhalten sich wie 1:2:4:8. Abb. 21 u. 22 stellen diese rhyth­ mische Verdoppelung der Zellkerne einer einkeimblätterigen Pflanze

Abb. 21.

dar, Abb. 22 graphisch, Abb. 21 bildhaft. Das rhythmische An­ schwellen läßt sich durch keinerlei physikalische Quellung, son­ dern nur dadurch erklären, daß auch der kleinste lebende Punkt, das kleinste Plasmateilchen im Kern, das Protomcr (Heiden­ hain), rhythmisch seinesgleichen wieder hervorzubringen ver­ mag. Auf diesem Urrhythmus, dieser schöpferischen Urquantelung, beruht auch die Fähigkeit der äußeren Teilung der Chromosomen und Kerne und somit schließlich auch die Fähig­ keit der embryonalen Zellen der Pflanzen (und der Keimbahn­ zellen bei den Tieren), den Fluß des Werdens ins Unendliche fortzusetzen, also der Intentionalität der Geilenschen Wellenkurve zu entsprechen. Sowohl das Atom wie das Leben be­ dürfen eines korpuskular gegliederten Strukturbildes, wie auch zugleich eines den Fluß des rhythmischen Geschehens spiegelnden Wellenbildes, um an ihr Geheimnis heranzu-

komme». Beide Bilder lassen sich burd) die Forschung selber — darin liegt eine unüberschreitbare Grenze unserer Erkennt­ nis — nie voll zur Deckungseinheit bringen. Angelus Silesius hat das in die tiefsinnigen eines beut)d;en Mystikers würdigen Worte gefaßt: „Fürwahr, wer diese Welt nimmt red)t in Augenschein, Muß bald Demokritos, bald Herakleitos sein." In der polaren Koppelung beider Betrad)tungsweisen in der Erkenntnis, daß alle quantenhaft sich abgrenzenden Form­ elemente dem Fluß rhythmisch pulsierenden Werdens ihrer Entstehung und Funktion nach eingegliedert sind, liegt die alle einseitige Statik und alle einseitige Dynamik lebendig über­ höhende organische Weltansicht*). Aber beide Gesichtspunkte sind im organischen Weltbild noch in anderer Weise verbunden. Wenn Friedrich Hebbel einmal sagt, daß das beste Motivieren am Ende das Moti­ vieren durch analoge Fakta ist — und zwar aus den hetero­ gensten Gebieten —, so läßt sid) das in bezug auf die Natur am besten dadurd) demonstrieren, daß wir die analogische Betrachtungsweise zu der bildhaft korrespondenziellen?) vervollständigen. Grundlegend ist für dieselbe die Einsicht in die engeVerknüpsung von Form und Funktion, wie wir sie am besten am Funkeninduktor uns klar mad)en können. Wenn int Funkeninduktor zwei Spitzen gegenüberstehen (als Endigungeit der sekundären Spule), würden die Entla­ dungen oszilliereitd (hin- und herschwingend) vor sich gehen. Es besteht relative Indifferenz der Rid)tung. Will man diese Indifferenz disfereitzieren, d. h. eine bestimmte Entladungs*) Beide Arvorstellungen, die demokritische und die heraklitische, treten auf der höheren Stufe der Naturanschauung als „Polarität" und „schöpfe­ rische Selbstüberschreitung" des Lebens uns entgegen, jene dem Leben an­ gehörig, insofern wir es materiell bedingt, diese, insofern wir es den toten Punkt überwindend denken; „jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immer strebendem Aufsteigen". (Goethe.) Vgl. dazu die 2. Abhand­ lung dieses Bändchens. 2) Vgl. auch deren Erneuerung durch Fritz Henning, Wilh. MüllerWalbaum, Fritz Klein u. a. Ihre stärkste künstlerische Auswertung fand die bildhaft korrespondenzielle Methode in Kückelhaus: Arzahl und Gebärde. Berlin 1954.

richtung zur Auswirkung kommen lassen, so muß man dem einen Pol die sremdzentrale, radiäre. Gestaltrichtung lassen, dem andern eine eigenzentrale periphere Form geben, die dem Ausstrahlen keinen Ausweg bietet, aber umge­ kehrt der ausströmenden Kraft des andern den empfängnis­ bereiten Boden bietet. Die Verbindung von Form und Funktion, wie sie in diesem einfachen Modell uns entgegentritt, regt die Frage der „Ent­ sprechungen" in den verschiedensten Wirklichkeitsstufen an. Der Radius, in seiner distanzierenden fremdzentralen Funktion, tritt der einhüllenden eigenzentralen Peripherie, der asthe­ nische Körperbau dem pyknischen Körperbau, der distanzie­ renden Abstraktion die sühlungsuchende Intuition, der Akti­ vität die Empfänglichkeit, dem schizoiden der zykloide, dem männlichen der weibliche Erlebnistyp gegenüber. Das Zusammenwirken beider Funktionen erst, der radiär distan­ zierenden und der zusammenhaltenden umhüllenden, zeigt uns auch, wie Krannhals treffend bemerkt, „daß jede statische Einzelerscheinung letzten Endes nur ein vorübergehender Zu­ stand der sich selbst bindenden Energie ist, mag diese sich als elektrische Urenergie oder als Lebensenergie verkünden.... Die Chemie, resp. die Atomphysik z. B. hat die Schutzwirkung der Elektronenhülle, die besonders bei den kompliziertesten Elementen deutlich zutage tritt, durchaus einwandfrei nachge­ wiesen. Da hier der Atomkern aus gleichsinnig elektrisch ge­ ladenen Wasserstoffkernen zusammengesetzt ist, gleichnamige Elektrizitäten aber das Bestreben haben, sich abzustoßen, ver­ hindern die Elektronen in ihrem rastlosen Kreisen dieses Aus­ einanderstreben. Nernst vergleicht sie hier treffend mit einem Schäferhund, der die auseinanderstrebende Schafherde da­ durch zusammenhält, daß er sie unermüdlich umkreist" *). Wir sehen hier auch schon auf der untersten Stufe, wie die beiden Ursunktionen, die radiär fortstrebende und die peripherisch einende Funktion, männlich und weiblich, immer verbunden sein müssen, wenn ein bewegliches Gleichgewicht bestehen soll. Heute wissen wir, daß auch im Organischen niemals eine ab­ solute Männlichkeit oder absolute Weiblichkeit in einem Indi*) Das organische Weltbild, 2. Bd., Seite 415.

viduum bestehen kann, sondern daß dem jeweilig bestimmen­ den Geschlechtshormon eine entsprechende Dosis des anders­ geschlechtlichen zugegeben sein muß, damit die körperliche und seelische Harmonie nicht gestört wird. Und die Fruchtbarkeit der korrespondenziellen Betrachtung hat sich durch die For­ schungen von Pater Winthuis bestätigt, der gezeigt hat, daß die „Gerade" und die „Rundung" Urzeichen von