Deutsche Juden - deutsche Sprache: Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893-1933
 9783110196030, 9783110958164

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Arndt Kremer Deutsche Juden — deutsche Sprache

W DE G

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Arndt Kremer

Deutsche Juden — deutsche Sprache Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893-1933

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 9 7 8 - 3 - 1 1 - 0 1 9 6 0 3 - 0 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Ein Messer trifft oft am Herten vorbei Nicht das Wort. Hilde D o m i n

Es kommt alles noch änmal %ur Sprache. Helmut Gollwitzer

Vorwort Vorworte haben den schönen Vorteil, dass auf sie stets noch etwas folgt. Sie haben aber auch den Nachteil, dass sie selbst auf eine lange Vorgeschichte folgen, die sich nur unzureichend in (wenige) Worte fassen lässt. Dazu gehört der Dank an die Personen und Institutionen, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre. Für das materielle Fundament meiner Untersuchungen sorgte die Friedrich-Naumann-Stiftung mit einem dreijährigen Promotionsstipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Viele meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter halfen mir in zahlreichen fruchtbaren Gesprächen, der alltäglichen Studienarbeit Schritt für Schritt ein Stück mehr Selbstgewissheit und Standfestigkeit zu verleihen, so Julia Faust, Nadia Dimassi, Christina Goldmann, Michael Dimitrov und Alexander Ziem. Das Leo Baeck Institut in Jerusalem übernahm die Flugund Unterkunftskosten für ein einwöchiges, von Professor Dr. Michael Brenner (München) und Shlomo Mayer (Jerusalem) geleitetes Doktoranden-Kolloquium in Israel, das mich in Vielem bestärkt, in Manchem zum Umdenken bewogen hat - und damit alle Erwartungen erfüllte. In der Kölner Germania Judaica fand ich offene Türen, bei ihrer Leiterin Dr. Annette Haller offene Ohren. Noch lange vor der Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum, die die Arbeit mit jüdischen Pressequellen mitderweile sehr erleichtert und endgültig internationalisiert hat, unterstützten mich Rita Rahmann und Elke Rieck mit viel Geduld darin, die druck- und geschichtsschweren Jahresbände so mancher Zeitschrift aus dem Magazin der Germania Judaica ans Licht zu holen. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Professor Dr. Dietz Bering (Köln), der die Arbeit mit dem nötigen Maß an Lob und Kritik, Nähe und Distanz betreut hat. Professor Dr. Günter Blamberger (Köln) half als Vertrauensdozent der Stiftung unbürokratisch und schnell, Professor Dr. Günter Wollstein (Köln) leitete die Disputatio so freundlich wie souverän. Monika Wehner beantwortete kniffelige judaistische Fragen. Gerd Buurmann bewies Ausdauer in hitzigen Diskussionen. Ellen Bülte vertraute mir einige Quellen an. Hubert Pfau und Jakob Golab tilgten tapfer jeden orthografischen Schnitzer, dessen sie habhaft werden konnten. Anno Kremer gewährte mir brüderliche, also zinsfreie Zuschüsse. Den alltäglichen Rückhalt bildete Laura Bravo, die mich bei Allem und dem Wichtigsten unterstützte. Ihr und meinen Eltern ist dieses Buch gewidmet.

VIII

Vorwort

Meine Studie, die im Dezember 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen wurde, konnte gedruckt werden mithilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die Auszeichnung mit dem Forschungspreis der Wolf-Erich-KellnerGedächtnisstiftung für 2007 bestärkt mich in der Ansicht, dass die eingeschlagenen Pfade neue Perspektiven eröffnen können. Köln, im September 2007

Arndt Kremer

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung 1. Erkenntnisinteresse 2. Methodik 3. Quellenkorpus 4. Forschungslage 5. Gliederung II. Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

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1. Vom Landespatriotismus zum Sprachnationalismus 27 2. Vom Ende des Reichs zur Geburt einer bildungsbürgerlichen Idee: Die Initiationsphase der „Deutschen Bewegung" ab 1770 .... 33 2.1. Die nationale Bewegung als emanzipatorische Bewegung 33 2.2. Sprache und Bildung als gemeinschaftsstiftende Tangenten.... 35 3. Die sprachphilosophische Basierung: Herder und Humboldt 38 3.1. Sprache, Nationalität und Humanität bei Herder 38 3.1.1. Sprache und Nation 40 3.1.2. Nationalität und Humanität 42 3.1.3. Herder, ein Sprachnationalist? 43 3.2. Sprache, Denken und Nation bei Humboldt 46 3.2.1. Sprache und Denken 47 3.2.2. Sprache und Nation 48 3.2.3. Die Form der Sprache 50 3.2.4. Fremdsprachenerwerb als Objektivierungsleistung 52 3.2.5. Humboldt als Wegbereiter einer rassischen Sprachbewertung? 53 4. Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte 55 4.1. Leichenstarre gegen Lebenskraft: „Tote" und „lebendige" Sprachform 55 4.2. Die Dichotomie der Sprachen als Dichotomie der Völker 59

X

Inhaltsverzeichnis

4.3. Fichte und Chamberlain: Ein (un-)möglicher Vergleich? 5. Herders, Humboldts und Fichtes Bedeutung für das Kulturnationskonzept 6. Von der Sprachform zur Sprachnorm: Die Phase der politischen Implementierung bis 1871 6.1. Die nationalistische Akzentverschiebung 6.2. Die Sprachnorm als nationale Norm und bildungsbürgerliches „Erkennungszeichen" III. Annäherung an die Norm: Die Sprachakkulturation der deutschen Juden

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1. Der Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen als Bedingung und Begleiterscheinung der Emanzipation

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2. Edikte, Einheit und Ernüchterung

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IV. Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept 1. Die Zeitschrift „Der Hammer" und ihr Herausgeber Theodor Fritsch 2. Die Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache 2.1. Das Blut „spricht". Die biologistische Basis: Die rassische Determination von Sprache (Agitation 1) 2.1.1. Schwiegersöhne, Geistesbrüder: Wagner, Chamberlain und die Synthese von Sprach- und Rassenantisemitismus 2.1.2. Schriftsprache und Sprechart 2.1.3. Der Ton macht die Musik 2.1.4. Pressesprache 2.1.5. ... immer der gleiche Jude·. Antisemitische Sprachabwertung bei Hider 2.2. Diefremden Völker bedienen sich einer Sprache, um ihre Gedanken verbergen. Der Mimikry-Vorwurf: Nachahmung und Tarnung im jüdischen Umgang mit Sprache (Agitation 2) 2.3. Der Jude ist [...] Umkehrung der natürlichen Wahrheit. Der LügeVorwurf: Falschheit und Täuschung im jüdischen Umgang mit Sprache (Agitation 3)

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Inhaltsverzeichnis

XI

2.3.1. ...daß der Singsang in der Sprache [...] dem sekundären Geiste der Beweglichkeit verdankt ist Arthur Trebitschs pseudophilosophischer Unterbau 129 2.3.2. .. .lügt auch bei wörtlichen Zitaten. Hans Blühers letzte Steigerung des Stigmas 134 2.4. ...an Redegewandtheit und Überredungskunst ist der Jude unerreicht. Die scheinbare Aufwertung: Die jüdische Eloquenz (Agitation 4) 135 2.5. Nu - wie haißt?Jiddisch und ,Jüdeln": Explizite Belege für jüdische Sprachentstellung (Agitation 5) 139 2.6. Gerade das instinktive Gefiihl für die Fremdheit istja der [...]Grund für berechtigte Judengegnerschaft. „Gefühl" und „Instinkt": Intuitiv-affektive Belege für jüdische Sprachentstellung (Agitation 6) 144 2.7. Exkurs: Die Bewertung des Hebräischen 150 2.8. Fazit V. Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept 1. Liberalismus und Judentum 2. Der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) 3. „Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung" 1895— 1938: Zentralorgane des C.V 3.1. „Im deutschen Reich" 3.2. „C.V.-Zeitung" 4. Die C.V.-Periodika als Spiegelflächen antisemitischer Agitation... 5. Die Apologie des jüdischen Umgangs mit Sprache 5.1. Ist nicht die Sprache alles? Die geistesgeschichtliche Basis: Die Muttersprachenideologie (Apologie 1 vs. Agitation 1) 5.1.1. Ursprung und Genese der deutschen Muttersprachenideologie 5.1.2. Die Implementierung der Muttersprachenideologie im Centraiverein 5.2. Ich sprehe deutsch, empfinde deutsch. Die sprachaffektive Affirmation: Die Muttersprache als Sprache des „Gefühls" (Apologie 2 vs. Agitation 6 )

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Inhaltsverzeichnis

5.2.1. Gefühlsnotstand ohne Alternativen: Das sekundäre Merkmal des Willens 5.2.2. Wenn ich dich liebe, was geht es dich an? Das trotzige Gefühl einseitiger Zuneigung 5.3. Gäbe es einen Nobelpreis für deutsche Gesinnung... Der bildungsbürgerliche Superlativ: Hypostasierung der eigenen (Sprach-)Bildung und „Geistigkeit" (Apologie 3 vs. Agitationen 2-4.) 5.4.... die antisemitischen Helden [...] geigen, daß sie selbst sogar mit der deutschen Sprache noch auf Kriegsfuß stehen. Der Gegenangriff: Vorwürfe gegen antisemitische Unbildung und Sprachinkompetenz (Apologie 4 vs. Agitationen 2—4)

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5.5. Mauschelnde Bewegung und betonter Jargon. Der innere Zwiespalt: Die ambivalente Bewertung vorgeblich jiddischer Residuen im Deutschen (Apologie 5 vs. Agitation 5 ) 228 5.6. Fazit 233 6. Die Einstellung zum Jiddischen: Eine Frage der Benennung? 240 6.1. Benennung und Struktur des Jiddischen 241 6.2. Das Westjiddische und die Emanzipation 244 6.3. Das Ostjiddische und die Ostjudenfrage 247 6.4. Brüder, so fremd? Die Kluft zwischen West- und Ostjuden 256 6.5. Fazit 260 7. Die Einstellung zum Hebräischen: Negation einer Revitalisierung 263 7.1. Leschon ha-Qpdescb. Die religionsursprüngliche Sakralität des Hebräischen 265 7.2.... daß das Hebräische bereits vor mehr als 2000Jahren aufgehört hat, lebende Sprache ψ sein. Der sprachdiachrone Einwand: Die mangelnde Vitalität des Hebräischen (Contra-Argument 1)... 269 7.2.1. Die Preisgabe des Hebräischen im religiösen Ritus 271 7.2.2. Die mangelnde Durchsetzungskraft des Hebräischen in Palästina 275 7.3.... denn Hebräisch ist nicht die Sprache ihres Gefühls. Der sprachaffektive Einwand: Die mangelnde Emotionalität für das Hebräische (Contra-Argument 2) 278

Inhaltsverzeichnis

XIII

7.4. Endlich [...] denkt die ungeheure Mehrzahl der Deutschen jüdischen Bekenntnisses gar nicht daran, ihre liebe deutsche Muttersprache aufzugeben. Der sprachrezeptive Einwand: Die mangelnde Akzeptanz des Hebräischen (Contra-Argument 3) 7.5. Diese, die sich extremjüdisch-national nennen, können bis heute weder hebräisch sprechen, noch hebräisch übersetzen. Der sprachpragmatische Einwand: Die mangelnde Sprachkompetenz der Hebraisten (Contra-Argument 4)

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7.6. Fazit

286

VI. Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept

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1. Zionismus und Kulturzionismus

290

2. Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) 3. Die „Jüdische Rundschau": Zentralorgan der ZVfD 4. Die zum Hebräischen: Affirmation einerEinstellung Revitalisierung

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4.1. Wieder Hebräisch, immer noch deutsch: Zur Zwienatur des „deutschen Zionisten" 4.2. Divergenz oder Konvergenz? Die deutschen Zionisten und der Sprachenstreit 4.3. Aber die Sprache [...] lebt. Die sprachdiachronische Affirmation: Die Vitalität und Progressivität des Hebräischen (Pro-Argument 1 zu Contra-Argument 1) 4.4. Es giebt kein Judentum ohne Hebräisch. Die sprachursprüngliche Affirmation: Die zwingende Bindung des Hebräischen an die religiös-nationale Identität des Judentums (ProArgument 2 zu Contra-Argumenten 2-3 ) 4.5.... daß es auch dem extremsten Zionisten nicht eingefallen ist, die deutsche Sprache in Deutschland durch die hebräische ersetzen %u wollen. Die sprachräumliche Konzession: die Konzentration der Hebraisierung auf Palästina (Pro-Argument 3 zu Contra-Argument 3 ) 4.6.... die meisten unter uns lernen das Hebräische als durchaus fremde, neue Sprache. Die sprachaffektive Konzession: Das Eingeständnis von Fremdheitsgefühlen beim Spracherwerb (Pro-Argument 4 zu Contra-Argument 4)

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XIV

Inhaltsverzeichnis

4.7. . ..tief wurzelt in uns deutsche Kultur. Nähe und Distanz, Abgrenzung und Zugeständnis: Die Verwurzelung in deutscher Sprache und Kultur als Übergang zur jüdischen Nationsidee 4.8. Die Idee von der hebräischsprachigen jüdischen Nation auf den Fundamenten der sprachbestimmten deutschen Kulturnation 4.9. Fazit 5. Aufgeputzte Vogelscheuche? Die Einstellung zum Jiddischen 5.1. Kontrastierung des Konflikts Hebräisch vs. Jiddisch: Der Sprachenstreit zwischen Jiddischisten und Hebraisten... 5.2. Fazit 6. Zwei kulturzionistische Symbolfiguren: Achad Haam und Martin Buber

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6.1. Renaissance des Geistes·. Achad Haams kritische Erneuerung des Zionismus 6.1.1. Geist vor Nation: Kritik an Assimilation und politischem Zionismus 6.1.2. Der Geist der Sprache: Die Rolle des Hebräischen 6.1.3. Die „Aphasie" des „Jargons": Der sekundäre Status des Jiddischen 6.2. Diese Tragik in ihrer ganten Tragweite ... Martin Bubers Konzept eines kulturellen Nationalismus 6.2.1. Von innen, nicht von außen: Kritik an Herzl und Lazarus 6.2.2. Die Sprache als „Bewusstseinsform" des Volkes 6.2.3. Die Gemeinschaft des „Blutes" 6.2.4. Die jüdische „Rasse"

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6.3. Fazit

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VII. Resümee: Sprachkonzepte — Sprachkonflikte

365 368 372 381 383

402

VIII. Abkürzungen

415

IX. Quellen- und Literaturverzeichnis

416

X. Personenverzeichnis

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I. Einleitung 1. Erkenntnisinteresse Hier hat der Deutsche überall Menschen gefunden, die deutsch sprachen, ihre Kinder mit Schiller und Goethe erzogen, sich zu den Deutschen in einem besonderen Nahverhältnis und zur Wahrung der politischen und wirtschaftlichen Interessen des Deutschtums berufen fühlten [...] und eigentlich nichts dafür verlangten, als daß man ihnen erlaubt, sich Deutsche zu nennen. (Davis Trietsch, 1915) Wir lassen uns von denen nicht losreißen, deren Kultur die unsere ist, deren Sprache wir als unsere Muttersprache sprechen und deren Jammer und Not wir als unser persönliches Leid erleben. Der Boden, auf dem wir geboren und erzogen sind und in dem wir einmal begraben sein wollen, ist der heilige Mutterboden unseres deutschen Vaterlandes. (Felix Coblenz, 1918)

Manche Zitate lassen die Quintessenz anstehender Problematiken in wenigen Worten erkennen. Die obigen Passagen gehören zu dieser Sorte. Um zunächst nur das erste Zitat genauer zu betrachten: Was der Schriftsteller und Wirtschaftspolitiker Davis Trietsch mit Blick auf die (Stimmungs-)Lage der polnisch-russischen Ostjuden im Kriegsjahr 1915 erklärte,1 hätte zu dieser Zeit sicherlich mit noch mehr Berechtigung für die Mehrheit der akkulturierten Juden in Deutschland ausgesagt werden können. Das „Nahverhältnis" zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, das sich nicht nur, aber eben in besonderer Weise in der gemeinsamen Sprache und einem als gemeinsamen Erbe empfundenen literarischen Kanon bekundete, wurde von vielen Deutschen als eine — wie auch immer zu bewertende — Tatsache empfunden. Das Recht, „sich Deutsche zu nennen", bezogen die deutschen Juden nicht einfach nur auf den Status nationaler Zugehörigkeit, sondern auch auf eine kulturellzivilisatorische ,Würde', die dem traditionellen Bildungsanspruch der jüdischen Schriftkultur entsprach: Einem Land, das Dichter und Denker wie Schiller und Goethe, Kant und Lessing hervorgebracht hatte, fühlten sie sich angehörig. Bis zuletzt, bis zur Demarkationslinie von 1933, ja, sogar

1

Trietsch, Juden und Deutsche, 1915, S. 19.

2

Einleitung

noch darüber hinaus hielt das „deutsch-jüdische Bildungsbürgertum" an diesem kulturellen Lebensentwurf fest.2 Die deutschen Antisemiten rannten Sturm vor allem gegen dieses Faktum. In der Zielsetzung der modernen Judenfeinde war den akkulturierten Juden die staatlich weitgehend gewährte .Erlaubnis', „sich Deutsche zu nennen", zu entziehen und im Falle der nach Deutschland emigrierten jiddischsprachigen Ostjuden überhaupt erst zu verweigern. Die starke und — wie es der Zionist Nathan Birnbaum 1915 formulierte - „seltsame Anziehungskraft, die das deutsche Volk und das deutsche Wesen auf die Juden auch dort ausüben, wo diese ein ganz selbstständiges Kulturleben führen",3 sollte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft als Teil einer gefährlichen Unterwanderungsstrategie suggeriert werden. Und was den völkischen Antisemiten mit polemischen Argumenten nicht oder nicht ausreichend gelungen war, suchten die Nationalsozialisten schließlich in einer kalkulierten und im systematischen Massenmord gipfelnden Judenfeindschaft zu erreichen. Erst sollte dem humanistisch-aufklärerischen Bildungsbürgertum und seinem Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation endgültig das Rückgrat gebrochen, dann dem darauf vertrauenden deutschen Judentum die bloße Existenzberechtigung genommen werden. Dass diese unmenschliche Strategie trotz aller Widerstände schließlich zu erschreckend großen Teilen aufgehen konnte, wirft bis heute Fragen von einiger Bedeutsamkeit und Brisanz auf. Wie konnte es überhaupt geschehen, dass sich weite Teile der deutschen Gesellschaft bis 1933, ja, der Form nach sogar darüber hinaus auf die so genannte „Deutsche Bewegung' mit ihren von Humboldt und Herder systematisierten Erklärungsmodellen einer sprachbestimmten Kulturnation auf humanistischer Basis beriefen, dann aber bei der Verfolgung und Ermordung Deutsch sprechender Juden endeten? Ohne jede Möglichkeit, die Ereignisse des Schreckens im Tunnelblick der Rückschau beurteilen zu können, hat der deutschjüdische Publizist Felix Goldmann dieses Paradoxon bereits 1915 angesprochen. Gerade im Hinblick auf die Verfemung des ostjüdischen Umgangs mit Sprache sei es psychologisch sehr merkwürdig aber bezeichnend, daß man in Deutschland sonst vor allen Seltsamkeiten und Eigentümlichkeiten der Fremde bewundernd steht und sie zum mindesten als nationale, unantastbare Charakterzüge, wenn nicht als Zeichen höherer Kultur betrachtet, die fast als heilig gelten. Nur bei der Judenheit ist es anders, auch wenn sie mit konservativem Geiste ein Stück der eigenen deutschen

2 3

Vgl. Mosse 1990, S. 180. Birnbaum, Den Ostjuden ihr Recht, 1915, S. 16.

Erkenntnisinteresse

3

Vergangenheit treu und fast unberührt erhalten und in die moderne Zeit hinübergerettet hat! 4

Ausgehend von der scheinbar unüberbrückbaren Kluft zwischen extremer Fruchtbarkeit und extremer Furchtbarkeit im deutsch-jüdischen Verhältnis versuchten Forscher aus verschiedensten Fachgebieten — der Psychoanalytiker Rudolph M. Löwenstein5, die Historiker Jörg von Uthmann6, Gottfried Schramm7, Gordon A. Craig8 und der Sprachwissenschaftler Dietz Bering9 — die jahrhundertelange Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen als einen cultural pair zu deuten, das heißt: als eine „Wahlverwandtschaft" zweier wesensähnlicher Kulturen, die ohne Vergleich in der abendländischen Kulturgeschichte ist. Mit einem Schlag schien der unerträgliche Querstand, dass das Volk der Dichter und Denker ausgerechnet das Volk des Buches als Todfeind verfemt und schließlich systematisch gemordet hatte, in ein Erklärungsmuster gebracht werden zu können: Nicht obwohl, sondern gerade weil sich Deutsche und Juden kulturell weniger fremd waren als nah standen, wechselten die Antisemiten ihre stigmatisierenden Parameter von Religion über Kultur und Sprache bis hin zu dem assimilations-, vor allem aber vernunftresistenten Rassenkonstrukt. Nicht eine spezielle Fremdartigkeit, sondern die essenzielle Ähnlichkeit zwischen Deutschen und Juden wurde Letzteren zum Verhängnis. Gerade die Affinität zweier gleichsam apostatischer Brüder habe, so Uthmann, zu einer tödlichen Geschwisterrivalität geführt.10 Der Holocaust gerät unter diesem Aspekt zu einem kalkulierten Brudermord oder, wie Schramm es pointiert ausdrückt, zu einer - weiterhin unentschuldbaren, aber nun besser erklärbaren — „Tragödie der Nähe".11 Diese Untersuchung kann wie alle Studien zum deutsch-jüdischen Verhältnis im 20. Jahrhundert den erwähnten Querstand nicht ignorieren. Dennoch geht sie in erster Linie einer anderen Fragestellung nach und verfolgt insofern auch eine andere Methodik. Im Fokus des Erkenntnisinteresses soll nicht die Frage stehen, warum sich das deutsch-jüdische Ver-

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11

Goldmann, Polnische Juden, 1915, S. 6. Löwenstein 1951. Uthmann 1976. Schramm 1981. Craig 1995. Bering 1999. Uthmann 1976, S. 10. Auch Gordon A. Craig leitet in seiner präzisen Studie „Über die Deutschen" das Kapitel „Deutsche und Juden" mit der Ahnlichkeitsthese ein, allerdings ohne den Gedanken dann weiterzuverfolgen (vgl. Craig 1995, S. 143f.). Schramm 1981, S. 319.

4

Einleitung

hältnis vom teils fruchtbaren Austausch zur furchtbaren Katastrophe wandelte. Diese Untersuchung lässt sich vielmehr leiten von der Frage nach der Art und Weise eines prozessualen Konfliktes, der sich in besonderer Form an den unterschiedlichen Einstellungen zur Sprache als dem wichtigsten kulturellen „Symbolsystem"12 aufzeigen lässt. Mit anderen Worten ist zu fragen: Wie manifestierte sich bis zur politischen Grenzmarke 1933 der ,Kampf der Worte zwischen völkischen Antisemiten und liberalen Juden als Kampf zweier extrem differenter Sprachkonzepte; wie glichen oder unterschieden sich im jüdischen Binnenverhältnis die betont akkulturierten und die zionistischen Auffassungen von Sprache; worauf schließlich konnten diese Konzepte fußen, welche ideengeschichtlichsprachphilosophischen Vorentwürfe übernahmen, welche verwarfen sie? Antworten darauf sollen in erster Linie über die Analyse sprachspezifischer Üigen^uschreibungen in jüdischen und judenfeindlichen Quellen gefunden werden. Es ist einerseits bekannt, dass gewichtige Zeitzeugen wie der zionistisch orientierte Kabbala-Forscher Gershom Scholem oder die Philosophin Hannah Arendt die sprachlich-kulturelle Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft im Nachhinein als eine gefahrliche Schimäre oder Negation einstuften,13 während andere wie der Religionsphilosoph und Kulturzionist Martin Buber oder die Historikerin Eva Gabriele Reichmann sie für real und effizient gehalten haben;14 selbst 1936 [!] konstatierte ein so bewanderter Historiker wie Erich von Kahler noch ein - bei allen Unterschieden — „brennendes Zueinanderstreben" beider Völker.15 Das Echo auf diese grundlegende Kontroverse über die Qualität des deutsch-jüdischen Verhältnisses in der Nachkriegsdiskussion ist noch nicht

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Helfrich 2003, S. 394. Für Scholem war das „deutsch-jüdische Gespräch" ein a-historisches, illusorisches Konstrukt: eine „Fiktion", die allerdings „zu hoch bezahlt worden ist" (Scholem 1970, S. 10). Arendt hat angesichts der Nürnberger Prozesse 1946 in einem Brief an Karl Jaspers das deutsch-jüdische Verhältnis als negative Symbiose von Schuld und Unschuld charakterisiert (Arendt, Brief an Karl Jaspers, S. 90f., 1946), während ihr früherer Heidelberger Doktorvater und lebenslänglicher Brieffreund Jaspers nicht aufhören wollte zu glauben, dass Arendt „Jude [sie!] und Deutsche" sei, und zwar beides ganz „unausweichlich" (Jaspers, Brief an Hannah Arendt, 1946, S. 100). Für Martin Buber war die Synthese 1939 zwar endgültig beendet; dass sie jedoch in der Vergangenheit eine Tatsache gewesen sei - eine „Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen, wie ich sie in den vier Jahrzehnten, die ich in Deutschland verbrachte, erlebt habe" —, bekräftigt er mehrfach (Buber, Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, 1939, S. 644). Eva G. Reichmann wiederum, Zeitzeugin und mutige Kämpferin gegen antisemitische Verfemung und Verfolgung, hat immer wieder an den Grad der Verschmelzung des deutschen Judentums mit der Kultur der nichtjüdischen Gesellschaft in Deutschland erinnert (E. G. Reichmann 1971). Kahler, Israel unter den Völkern, 1936, S. 113.

Erkenntnisinteresse

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verklungen. Im Vordergrund dieser Untersuchung stehen jedoch Einstellungen zu Sprache und Sprachen bis 1933 und nicht spätere Urteile. Hat man dies alles vor Augen, dann wird auch der Grund für die Auswahl des zweiten Zitates klar (siehe S. 1). „Nicht losreißen lassen" wolle man sich, so der Berliner Rabbiner Felix Coblenz16 in einer Predigt aus dem Jahre 1918, von der „Muttersprache" und vom „heiligen Boden unseres deutschen Vaterlandes"17. Sein trotziger Ausspruch, den die „C.V.-Zeitung" (CVZ) als Organ der liberaljüdischen Massenorganisation „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) voller Enthusiasmus zitiert18, trifft den Kern dessen, was diese Untersuchung im ersten Teil zu dokumentieren, zu erläutern und kritisch zu hinterfragen sucht. Den Kampagnen zur Diffamierung jüdischer Identität - judenfeindliche Stigmata vom vorurteilsbeladenen Stereotyp des ewigen Mauscheljuden19 bis hin zu offenem Rassismus — setzte ein Großteil der betont akkulturierten deutschen Juden eine kulturzentrierte, anti-rassische Muttersprachenideologie entgegen. Nur wer dies im Hinterkopf behält, wird die Verve verstehen, mit der Coblenz die allen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gemeinsame Muttersprache und Kultur gegen die Ausgrenzungsbemühungen der Judenfeinde verteidigt: „Als ob wir ein Fremdkörper wären, der sich ausscheiden will: hie Juden - hie Deutsche! Unser ganzes Wesen bäumt sich gegen diesen Gedanken auf."20 Mit der Gegenüberstellung der antisemitischen Abwertung und der liberal-jüdischen Aufwertung von Sprache soll ein Gesichtspunkt ein eigenes Gewicht bekommen, der, obzwar durchaus bekannt, bei dem überwiegenden Teil der Studien zur deutsch-jüdischen Sprachgeschichte keine wirklich konsequente Umsetzung erfahren hat: Die Tatsache, dass es sich hier nicht um Rufe in den leeren Raum handelte, sondern um einen existenziellen Kampf zwischen mindestens zwei Standpunkten. Oft wurde die Seite der „jüdischen Abwehrarbeit" beleuchtet, noch öfter die der antisemitischen Angreifer, beides einmal zusammenzunehmen aber in den meisten Fällen unterlassen. Eine von den antisemitischen Agitationsargumenten weitgehend abgekoppelte Darstellung des deutsch-jüdischen 16 17 18

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Felix Coblenz (1863—1923), reformorientierter Rabbiner und Lehrer in Bielefeld und Berlin. Coblenz, Seid stark undfest, 1918, S. 43. CVZ 37, 8. September 1926, S. 479f. (Karl Rosenthal: „Erlebte Religion. Predigten, gehalten in der Synagoge der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, von Dr. Felix Coblenz"). Die Predigten waren im hauseigenen Verlag des Centraivereins, dem PhiloVerlag, erschienen. Vgl. Schoeps 1995. Coblenz, Seid stark und fest, 1918, S. 43.

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Einleitung

Selbstverständnisses übersieht jedoch, dass die Verteidigungsstrategien einer Abwehrorganisation wie des Centraivereins stets auch eine Widerspiegelung antisemitischer Attacken waren — so wie der Schild immer nur den Schlag abwehrt, der gegen ihn geführt wird.21 Unter anderen Vorzeichen gelten die Bedingungen und Eigentümlichkeiten eines Kampfes um Sprache auch für die innerjüdische Kontroverse, die zwischen den C.V.-nahen Juden und den in der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) organisierten Nationaljuden entbrannte. Aus der sicheren Distanz historischer Rückblicke mag mancher geneigt sein, diesen Dissens als einen Disput unter ideologisch zerstrittenen Geschwistern zu werten, der nicht die existenzielle Dimension der antiantisemitischen Verteidigung haben konnte. Der Sprachenstreit mit den Zionisten wurde jedoch, das wird sich zeigen, von vielen C.V.-Juden bis 1933 als mindestens ebenso bedrohlich empfunden wie die antisemitische Gefahr. Will man unter einem Sprachkon^ept im Sinne des lateinischen conceptum einen wohl durchdachten Entwurf bzw. Plan verstehen,22 der Sprache zum Gegenstand hat, und will man unter einem Sprachkonflikt das problematische, weil den Geltungsanspruch der jeweiligen Gegenseite negierende Aufeinanderprallen differenter Sprachkonzepte oder -Ideologien23 fassen und dies als Sekundärausdruck eines symbolträchtigen Sozialkonfliktes verstehen, dann fuhrt diese Arbeit beides zusammen. Oksaar erwähnt zwei Definitionen: „Konflikt zwischen den Sprachen" und „Konflikt wegen der Sprache (n)", Letzterer als Ausdruck mehr oder minder „individuumexterner Prozesse".24 Die vorliegende Untersuchung wird sich ganz auf die zweite Begriffsbestimmung konzentrieren, allerdings gerade nicht unter Vernachlässigung individueller Spracheinstellungen. Die Deutung der drei wichtigsten Spracbkon^epte im innerjüdischen und im deutsch-jüdischen Verhältnis als Sprachkonflikt-Ytjt\a.xionen mit soziokonfliktärem Ursprungspotenzial25 legt den Schwerpunkt auf die Zeit nach 1890 fest: Anfang der 90er gründete sich der Centraiverein als anti-

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Vgl. CVZ 10, 5. März 1926, S. 112 (Ludwig Holländer: „Aufklärung und immer wieder Aufklärung."): „Abwehr setzt immer Angriff voraus; wo kein Angriff erfolgt, ist eine Abwehr unmöglich." Vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, 1998, S. 1334. Vgl. Mattheier, der in der Ideologie „eines der wichtigsten Kampfmittel" bei Sprachkonflikten sieht (Mattheier 1989, S. 5). Unter Ideologie verstehe ich eine mehr oder weniger feste Sammlung von Konzepten oder von Ideen, welche die Wirklichkeitsauffassung und die Verhaltensmuster von Gruppen oder Individuen bestimmt oder mitbestimmt. Oksaar 1984, S. 257f. Vgl. Mattheier 1989, S. 1: „Sprachkonflikte sind umgeleitete Sozialkonflikte."

Erkenntnisinteresse

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antisemitische Abwehrorganisation, Ende der 90er fanden auch die drei ersten Zionistenkongresse in Basel statt. Mit den beschriebenen Ideologiekontroversen um Sprache hängt schließlich die Fokussierung auf die Bewertung der Einzelsprachen Deutsch, Jiddisch, Hebräisch zusammen: Weil diese die lange und wechselvolle Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses von Gettoisierung über Emanzipation bis hin zum modernen Antisemitismus und zionistischer Erneuerung immer begleitet hatten, bildeten sie folglich auch die bevorzugten Objekte der Diskussion. Die Auswertung einschlägiger jüdischer und antisemitischer Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts wird das Fundament schaffen, um folgende Thesen in einen sicheren Stand bringen zu können: Der sprachspezifische Kampf zwischen liberalen deutschen Juden und rassischen Antisemiten ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer anderen, älteren Auseinandersetzung, die sich an einem spezifischen und bis dato einmaligen Spannungsfeld in Deutschland entzündete: an dem Konflikt zwischen dem von der „Deutschen Bewegung' initiierten Konzept einer sprachbestimmten Kulturnation hier und dem von völkisch-konservativen Kreisen initiierten Gegenentwurf einer rassischen Wertehierarchie der Völker dort. Der Zionismus vereinigte schließlich, den sprachlichen Akkulturationismus an Deutschland zugleich anerkennend und abstreifend, beide Konzepte zu der positiven Idee einer sprachen- wie volksbestimmten jüdischen Nation. Punkt für Punkt bedeutet das: 1.) Die völkischen Antisemiten konterkarierten das philosophisch fundierte und geschichtlich gewachsene Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation, indem sie die Sprache als peripheres Phänomen, als genus proximum der Rasse abwerteten. Erst vor diesem Hintergrund sind ihre verschiedenen Agitationsargumente verständlich, die den jüdischen Umgang mit Sprache mit allen Mitteln anzugreifen und zu verfemen suchten. 2.) Die akkulturierten deutschen C.V.-Juden verteidigten sich, indem sie in ihrer anti-antisemitischen Argumentation das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation zu stärken versuchten und die deutsche Muttersprache nicht nur als ihre conditio humana, sondern als conditio nationis, als Beleg ihres nationalen und kulturellen Zugehörigkeitsrechts und Zugehörigkeitsgefuhls werteten. Muttersprachenideologie und vaterländisches Nationalgefühl verbanden sich zu einer Synthese, deren unauflöslicher Status beinahe intuitiv-emotionale Selbstevidenz beanspruchte. Auf dieser Grund-

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Einleitung

läge stand ihre Einstellung zur deutschen Sprache und Kultur wie auch zum Jiddischen und Hebräischen. 3.) Die zionistischen deutschen Juden bauten, indem sie das Hebräische als nationenkonstituierende Umgangssprache propagierten und damit als Dynamo zur staatlichen Rekonstruktion des Mutterlandes Israel einsetzten, auf ähnliche oder sogar dieselben Säulen, die schon das Konzept der sprachbestimmten Kulturnation in Deutschland getragen hatten. Darüber hinaus strebten sie nach einer Erneuerung der jüdischen Volksidee, die sie in ihr Sprachkonzept einer umfassenden Revitalisierung und Neuetablierung des Hebräischen zu integrieren suchten. Mit der antisemitischen, der liberaljüdischen und der zionistischen Sprachbewertung konzentriert sich die Untersuchung auf genau die drei Perspektiven, die den Konflikt zwischen Sprache und Rasse aufspannen. Und mit den Einzelsprachen Deutsch, Jiddisch und Hebräisch werden die drei wichtigsten Objekte in Sprachkonzepten berücksichtigt, deren konfliktäres Verhältnis von 1893 bis 1933 kulminierte.

2. Methodik Es wird mit Clifford Geertz davon ausgegangen, dass der Mensch als Kultur-Wesen in „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist", die mittels einer situationsnahen, also „dichten Beschreibung" der Ereignisse aufgezeigt werden können.26 Das gilt insbesondere für menschliche Sprachkonzepte, weil hier der Gegenstand gleichzeitig das Medium ist. Von dieser Erkenntnis lässt sich die Untersuchung leiten. Sie versteht sich als Beitrag zur kulturvergleichenden Analytik von Sprachbewertungsprozeduren27 und ist damit in erster Linie nicht einer strukturalistischen, sondern einer kulturwissenschaftlich interessierten Linguistik verpflichtet.28 Nicht primär an den Prinzipien der inneren Sprachwissenschaft ist die Untersuchung orientiert, sondern sie fokussiert auf die äußeren Beschrei-

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Geertz 1983, S. 9f. Vgl. zum Begriff „Sprachbewertung": Schmich 1987. Allerdings analysiert Schrmch von einem klassisch linguistischen Standpunkt aus, konzentriert sich insofern nicht auf Bewertungen, die Sprache Gegenstand haben, sondern auf sprachlich ausgedrückte Bewertungshandlungen. Vgl. dazu ζ. B. Busse 2005.

Methodik

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bungsebenen der Sprache29, lässt sich also in erster Linie leiten von den jeweiligen Einstellungen zu dem Wissenssystem Sprache als dem zentralen Medium für Sinnstiftungen und sinnstiftendem Faktor selbst. Nicht die Idiomatik einer Gruppe, In- oder Subkultur, Epoche etc. gerät unter das analytische Okular, sondern das Reden über Sprache, Sprachgebrauch, eigene und fremde Kommunikation, Varietäten und Einzelsprachen, bezogen auf das deutsch-jüdische und das innerjüdische Verhältnis. Die Studie stellt sich damit in die Tradition derjenigen neueren sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die einen metasprachlichen Gegenstand zum Thema haben und sich anhand dieses Gegenstandes mit dem Verhältnis von Sprache und gesellschaftlicher Wirklichkeit auseinandersetzen.30 Die linguistischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen der Sprachen Deutsch, Jiddisch und Hebräisch (auf die Sprache selbst anwendbare Beschreibungsebenen der Phonologie, Morphologie, Syntax etc.) erfahren dabei keine eingehende Untersuchung. Stattdessen werden zentrale reflexive Standpunkte zu diesen Sprachen systematisch dokumentiert und in ihren Eigenarten, Wandlungen, Differenzen und Paradoxien erläutert. Die Untersuchungsmethodik ist erstens diastratisch, indem sie die Sprachbewertungen unterschiedlicher, voneinander abzugrenzender Gruppen in den Blick nimmt, und zweitens diachron bzw. diaphasisch, weil sie sich auf eine längere Zeitspanne mit zu benennenden Zäsuren bezieht. Das Hauptaugenmerk liegt dabei immer auf sprachthematischen Selbstbeschreibungsebenen und -prozeduren, auf Fragen wie: Welche Argumentationsmuster tauchen in welchen Verwendungssituationen wann und warum auf, um den Umgang mit Sprache zu bewerten?31 Dieses Erkenntnisinteresse schließt die Verpflichtung mit ein, auch die wichtigsten Sozial- und Traditionszusammenhänge anzuführen, in deren Wirkungskreis die Argumente der Kontrahenten stehen. Die konfliktäre Debatte über Sprache wird verstanden als sprachgebundene Interaktion von mindestens zwei Teilnehmern, die jeder für sich den Anspruch verfolgen, dass die eigene Einstellung zur Sprache entweder in einzigartiger Weise gerechtfertigt ist oder dass ihr, verglichen mit anderen Einstellungen, zumindest ein Rechtfertigungsvorsprung zukommt. 29

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Die inneren Beschreibungsebenen der Sprache betreffen die Dynamik des Sprachsystems selber, die äußeren Beschreibungsebenen die soziokulturellen Einflüsse auf das Sprachsystem (Saussure 1916). Vgl. den von Ingo Warnke herausgegebenen Band „Diskurslinguistik nach Foucault": Warnke 2007. Grundlegend für die Argumentationstheorie ist Toulmin 1975, an dessen - am klassischen Syllogismus angelehnten - Modell von Argument, Schlussregel („warrant") und Schlussfolgerung („conclusion") ich mich orientiere.

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Sowohl die Bedeutung von Einzelaus sagen, als auch Argumentations muster und Textarchitekturen sind [...] diskursiv etabliert, wenn sie die Schwelle der Positivität überschreiten"32, also von Sprachteilnehmern entsprechend geäußert, ver-äußert werden. Das Uberschreiten dieser Schwelle geschieht nicht wert- oder zweckfrei. Jede Argumentation begründet Geltungsansprüche in einem Ensemble von Denkmustern, die kollektiven Einheiten eigen sind. Gruppen bzw. Gruppierungen mit einer spezifischen politischen, religiösen oder ideologischen Ausrichtung können solch kollektive Einheiten bilden, wenn sie bei aller Heterogenität doch eine gewisse Geschlossenheit in ihren Denk- und Argumentationsmustern aufweisen. Es wird der Anspruch verfolgt, anhand aussagekräftiger, alltagsnaher und repräsentativer Quellen zentrale Argumentationsmuster über die jüdische und judenfeindliche Einstellung zu Sprache und Sprachen im Spannungsraum von Agitation und Apologie zu beleuchten und dabei nicht nur die denotative, sondern auch die konnotativ-inadvertente Bedeutungsebene - das Mitgemeinte, Implizite, Zwischen-den-Zeilen-Stehende33 — zu berücksichtigen. Das heißt ferner, dass die gemachten Enunziationen selbst unterschiedlichster Quellen auch an den Stellen miteinander im „Gespräch" sein können, an denen sie nicht explizit, sondern „durch Anspielungen, variierende Übernahmen von Topoi, Metaphern und Argumentationsmustern"34 aufeinander rekurrieren. Diese Berücksichtigung beider Intertextualitäten - expliziter und impliziter Natur - wird meine Studie durchziehen. Mit dem Fokus auf den identitätsstiftenden Kulturparameter Sprache im deutsch-jüdischen Verhältnis bis 1933 betritt meine Untersuchung einen brisanten Ort mit einer brisanten Semantik. Sie geht mit ihrer jeweils in Syllogismen mündenden Argumentationsanalyse einen Schritt in Richtung des Weges, den Martin Wengeler mit seiner Habilitationsschrift über die öffentliche Auseinandersetzung zur Arbeitsmigration in der BRD von 1960 bis 1985 geebnet hat.35 Jedoch wird im strengen Sinne weder eine 32 33 34 35

Warnke2007, S. 15. Auf die Bedeutung des „Zwischen-den-Zeilen-Lesens" hat Peter von Polenz hingewiesen: Polenz 1988, S. 328f. Stukenbrock 2005, S. 27. Wengeler 2003a. Wengeler -will, wie er an in einem anderen Aufsatz schreibt, im Rückgriff auf den aus der Rhetorik stammenden Begriff des Topos „typische Wirklichkeitskonstruktionen in thematisch bestimmten öffentlichen Debatten" und die dahinter liegenden „sprachüch-argumentativ hergestellten Sachverhaltungszusammenhänge" aufzeigen (Wengeler 2003b, S. 64) und kann dies an brisanten Themen wie der Migrationsdebatte oder der Walser-Bubis-Debatte vorführen. Den entscheidenden Anstoß für Wengelers kontextspezifische Topos-Analyse hat Dietrich Busses „Historische Semantik" von 1987 (Busse 1987) gegeben, die sich mit den theoretischen und methodischen Voraussetzungen ge-

Methodik

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historisch-systematische Toposanalyse bezweckt, noch ist die Untersuchung einer diskurslinguistischen Methodik verpflichtet, wie sie andere neuere Forschungsarbeiten verfolgen.36 Hier genügt es, den Diskurs über Sprache als einen — in diesem Fall eng umgrenzten — Verbund von Texten zu verstehen, in dem historisch-konkrete Personen Sprache bzw. Sprachen thematisieren. Mein Verfahren konzentriert sich auf inhaltliche Auswertungen von Äußerungen und bündelt sie zu Argumentationsmustern, auf denen die jeweiligen Sprachkonzepte fußen, wobei erst der konfliktäre — explizite oder implizite — Austausch differenter Sprachkonzepte Sprachkonflikte generiert. Trotz der zunehmenden Hinwendung zur Mentalitäts- und Ideengeschichte in den Geisteswissenschaften ist die Vernachlässigung expliziter Referenzen von historischer Warte aus auf den ersten Blick nicht leicht zu akzeptieren. Stellt man die Argumentationsmuster zweier Textkorpora gegenüber, so scheint dies die Verpflichtung mit sich zu bringen, stets chronologisch vorzugehen, die Zeitabfolge im Auge zu behalten und immer nur nach direkten Repliken auf Kommentare zu suchen. In dieser Untersuchung wird jedoch davon ausgegangen, dass sich bestimmte kulturelle Kerngedanken - mag man sie nun Wissenssystemfi1, Topoi36 oder Denkinhalt·e39 nennen im Gedächtnis einer Gesellschaft abgelagert haben und dadurch gesellschaftliche Debatten und Denkmuster mitbestimmen, ja: formen. Die „Leitfrage", an der sich Angelika Linke in ihrer Studie zur Sprachbewusstseinsgeschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert orientiert hat, ist auch für diese Untersuchung richtungweisend: Was verraten die Einstellungen zur Sprache, die eine bestimmte Sprachgemeinschaft pflegt, bzw. was verrät die der Sprache sowie bestimmten Verhaltensweisen zugemessene sociale Bedeutung über die Mentalität einer Gesellschaft?40 Aber auch der umgekehrte Weg ist denkbar. Weil jegliche Kommunikation in politisch-soziale Kontexte eingebettet ist41, macht deren Aufdeckung

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schichtlicher „Grundbegriffe" unter Einbeziehung von Foucaults Verständnis von Diskurs (Foucault 1981 u. 1991) beschäftigt. Ζ. B. Stukenbrock 2005; Warnke 2006; Stukenbrock 2007; Faulstich 2007. Ehlich 1998. Wengeler 2003a. Dinzelbacher 1993, S. XXII. Linke 1996, S. 4. Vgl. Busse 2005, S. 26. „Eine Analyse der Sprache und ihres Funktionierens ohne ständige Bezugnahmen auf die Situationen und Kontexte des Sprachgebrauchs, die ja letztlich sozial bestimmt sind", könne dem Forschungsgegenstand Sprache kaum gerecht werden. Was für

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die jeweiligen Argumentationen unter Verwendung sprachthematischer Leitbilder bzw. Schlüsselwörter erst verständlich. Eine nähere Erläuterung zeitgeschichtlicher Hintergründe ist deshalb vor allem an den Stellen angebracht, wo diese sich als inhaltlich relevant für sprachthematische Argumentationen erweisen.

3. Quellenkorpus Es werden öffentlich geführte Debatten untersucht. Darin liegt begründet, warum erstens das Öffentlichkeitsmedium Zeitschrift resp. Zeitung als Primärquelle in der Analyse den Vorzug erhält und warum zweitens die interne Diskussion in Beschlüssen, Protokollen, geheimen Korrespondenzen, nicht zeitnah veröffentlichten Briefen, Lebenserinnerungen etc. immer nur an die zweite Stelle tritt. Zeitschriften resp. Zeitungen bieten sich für die Interpretation des agitatorisch-apologetischen Kampffeldes um Sprache besonders an, weil sie auf zeitliche Ereignisse und gesamtgesellschaftliche Stimmungswandlungen am schnellsten zu reagieren verstanden, dabei aber auch die individuellen Uberzeugungen und Meinungen ihrer Redakteure und Publizisten offenbaren. Das Tagesgeschäft der Journalistik mit breit verfügbaren Massenprodukten zielt auf politisches Alltagsbewusstsein ab, indem immer wieder Topoi verwendet werden, die im kulturellen Gedächtnis des Lesers abrufbar sind. Aufgegriffen wird ein Füllhorn an Vorstellungen, Denkmustern und Wissenssystemen aus anderen Presse- und Literaturquellen. Gleichzeitig spinnen die Publizisten das Bedeutungsnetz gesellschaftlicher Diskurse weiter.42 Periodika mit konstanter Publizität, thematischer Aktualität und gruppenspezifischer Repräsentativität schienen für die Analyse geeigneter zu sein als kurzlebige und wenig aktuelle ,Nischenblätter'. Im Falle der im „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" organisierten liberalen Juden war die Entscheidung leicht zu treffen. Die Monatsschrift „Im deutschen Reich" (IdR) von 1895 bis 1922 und deren wöchentlich erschienene Nachfolgerin, die „C.V.-Zeitung", bilden als Organe einer Vereinigung, welche die Mehrheit der deutschen Juden vertrat, auf der Ebene nicht-interner Diskussion die „wertvollsten Quellen für die Ge-

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die Semantik gilt, hat ebenso für die sprachgeschichtliche Axiologie zu gelten. Auch Bewertungen von Sprache(n) sind sozial bedingt. „Presse ist das Spiegelbild der Gesellschaft, für die sie spricht und die ihre Leserschaft bildet", schrieb rückblickend Robert Weltsch, langjähriger Redakteur der JR. Und weiter: „Darum ist sie auch eine Fundgrube des Verhaltens und der Gedankenwelt einer Gemeinschaft in einer gegebenen Zeit" (Weltsch 1957, S. 83).

Quellenkorpus

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schichte der jüdischen Selbstverteidigung"43 gegen den Antisemitismus; darüber hinaus spiegeln sie die Selbstbehauptung des liberalen Judentums in den Sprachdebatten mit dem deutschen Zionismus wider, der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts organisierte und konsolidierte. Insofern müssen - nach einer sorgfältigen Sichtung bedeutender Quellen der Deutschen Bewegung bis zur deutschen Einheit von 1871 - nicht nur die wichtigsten Organe der liberalen deutschen Juden, sondern auch die zentralen Periodika der deutschen Antisemiten und der zionistisch orientierten deutschen Juden als Quellenfundamente in die Untersuchung mit einbezogen werden. Der Rückgriff auf diese so unterschiedliche Trias jüdischer und judenfeindlicher Quellen wird einerseits die Affinität, andererseits die Animosität zu den Gedankengängen Herders und Humboldts herausarbeiten helfen. Mit der völkisch-antisemitischen Wochenschrift „Der Hammer" wird eine Zeitschrift analysiert, die das judenfeindliche Klima im Deutschland des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik mit erzeugt und gestärkt hat. Die Agitation dieses Forums völkischer Judenfeinde bildet dementsprechend das erste Glied in der Kette von actio und reacüo, das diese Untersuchung beleuchtet. Es versteht sich von selbst, dass die Propaganda der Judenfeinde gegen die kulturell-sprachlichen Selbstentwürfe der deutschen Juden einer besonders kritischen Bewertung bedarf. Mit der Analyse der „Jüdischen Rundschau" (JR), des Vereinsorgans der 1898 gegründeten „Zionistischen Vereinigung für Deutschland" (ZVfD), soll die zionistische Perspektive auf Sprache in ihrer Kontroverse mit der liberal-jüdischen Sprachbewertung zu Wort kommen. Stetes Festhalten an dieser auch als Sprachheimat empfundenen deutschen (Kultur-) Nation oder sukzessives Auswandern in einen noch zu bildenden Judenstaat mit dem Hebräischen als nationenkonstituierender Umgangssprache: Auf den ersten Blick konnten die Parolen nicht unterschiedlicher sein auf jenen Richtungsschildern, an denen sich die Lebenswege von jüdischem Liberalismus und Zionismus in Deutschland trennten. Doch waren die Wegstrecken strukturell wirklich so anders, wie sie schienen? Alltagsnahe, aussagekräftige, auflagenstarke und regelmäßig edierte Periodika stellen also das quellenkundliche Rückgrat dieser Untersuchung. Fortlaufend ergänzt werden die Pressequellen durch literarische bzw. wissenschaftliche Publikationen sowie durch Zeitzeugnisse wie Tagebücher, Briefe etc. Neben CVZ und J R kommen vereinzelt noch andere relevante jüdische Periodika im deutschsprachigen Raum zu Wort, auf liberaljüdischer Seite beispielsweise die reformorientierte „Allgemeine Zeitung 43

Paucker 1976, S. 483. Zu ähnlichen Einschätzungen kommen Angress 1971, S. 145, und Suchy 1989, S. 178.

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des Judentums" (AZdJ) oder die „Zeitschrift für die Geschichte des Judentums" (ZfGJ), auf zionistischer Seite „Die Welt" und die von Martin Buber herausgegebene Zeitschrift „Der Jude". Weitere wichtige Publikationen des Centraivereins sind die auf ein nichtjüdisches Publikum abzielende „Monatsausgabe" der „C.V.-Zeitung"44; das populäre, 1932 erstveröffentlichte Handbuch „Anti-Anti", das in Form prägnanter Schlagworte Stellung gegen antisemitische Stereotypen bezog; schließlich die ab 1925 im vereinseigenen Philo-Verlag erschienene, ein hohes akademisches Niveau erreichende Zweimonatsschrift „Der Morgen", in der Liberale ebenso wie Orthodoxe und Zionisten ein breites Spektrum jüdischer Kultur-, Sozial- und Religionsgeschichte diskutierten.45 Das Hauptaugenmerk bleibt auf die erwähnten Vereinszeitschriften gerichtet. Das macht diese Untersuchung noch nicht zu einer VerbandsStudie. Natürlich lag die Redaktion in den Händen von Funktionären oder war durch sie beeinflusst. Doch auch diese Vertreter dezidiert programmatischer Organisationen wurden auf entsprechenden MitgliederHauptversammlungen in ihre Positionen erst hineingewählt; sie repräsentierten mithin Mehrheiten. Noch zu zeigen ist außerdem: Gerade der Centraiverein vertrat als Sammelorganisation akkulturationsbejahender, politisch liberaler, wirtschaftlich mittelständischer Juden in Deutschland eine Programmatik, der eine hohe Anzahl deutscher Juden ideologisch zugetan war, ohne dass all diese Sympathisanten' in Mitgliederverhältnissen standen. Die meinungsbildende Repräsentativität der auch an NichtMitglieder versandten „C.V.-Zeitung" überstieg demnach den reinen Verbandskreis. Die hauptsächliche Zeitschriften-Materialbasis umfasst insgesamt 131 herangezogene Artikel aus „Der Hammer" der Jahre 1902 bis 1933/34, 132 Artikel aus der Zeitschrift „Im deutschen Reich" (1895-1922) und 118 aus der „C.V.-Zeitung" (1922-1933), während auf zionistischer Seite 119 Artikel aus der „Jüdischen Rundschau" (1902-1933) Eingang in den Fundus fanden. Ausgewählt wurden Äußerungen, die von signifikanter Relevanz für die Thematik rund um die Rolle der Sprache im deutschjüdischen Verhältnis bzw. im jüdischen Binnenverhältnis sind oder den

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Die erste und bisher einzige systematische Arbeit zur „Monatsausgabe" der „C.V.-Zeitung" ist eine unveröffentlichte K ö l n e r Magisterarbeit, deren tabellarisches Inhaltsverzeichnis wertvolle Hilfe für die thematische Durchsicht bietet: Steinhoff 2 0 0 3 / 2 0 0 4 . Vgl. zur Selbsteinschätzung des Herausgebers der Monatsausgabe die C.V.-Schrift Unsere Monatsausgabe, 1 9 2 7 .

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Allerdings überwog die aufklärerisch-liberale Position. Z u dieser v o n dem Darmstädter Philosophieprofessor Julius Goldstein ( 1 8 7 3 - 1 9 2 9 ) gegründeten elitär-geistigen Revue vgl. Urban-Fahr 2 0 0 1 , S. 1 5 6 - 1 5 9 ; Barkai 2 0 0 2 , S. 1 8 8 f .

Forschungslage

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historischen Hintergrund zum besseren Verständnis dieser Thematik beleuchten. In einem zweiten Schritt wurden diese Stellen, wo möglich, zu verschiedene Rubriken oder Themenkomplexen geordnet, ζ. B.: Deutsche Sprache; Deutschtum; Jiddisch; Hebräisch; Sprache allgemein; Assimilation bzw. Akkulturation; Emanzipation; Kultur; Kulturnation; Bildung; Ostjudenfrage; Zionismus; Liberalismus; Deutsch-jüdische Synthese; Rasse; Antisemitismus; Nationalsozialismus. Explizite Referenzen der Zeitschriften aufeinander wurden in einer eigenen Rubrik systematisiert. In einem dritten Schritt wurde dann versucht, Argumente zu Argumentationsmustern pro oder kontra Sprache(n) zusammenzufassen und entsprechend zu erläutern. Dieses induktive Verfahren gipfelt schließlich kapitelweise in dem Versuch, die jeweiligen Argumentationsmuster in einer einzigen syllogistischen Konklusion zusammenzuführen und damit die Kernaussage des jeweiligen Sprachkonzepts zu eruieren. Ein solches Verfahren muss sich neben seiner Stärken auch seiner Schwächen bewusst sein. Das Problem sorgsam aus dem Zusammenhang gerissener Zitate, das den Kontext durch Einzelaussagen überdeckt, vielleicht sogar verdeckt, ist durch notwendige Kontextualisierungen wenn nicht immer aufzuheben, so doch zumindest abzuschwächen. Auch ist der Einwand zu bedenken, dass Aussagen, und seien es Aussagen in nicht namentlich gekennzeichnete Artikeln, von Subjekten kommen, dass sie also immer eine individuelle und eigentlich unvergleichliche Biografie haben. Zwar sind an bestimmten Passagen Angaben zu biografischen Hintergründen der jeweiligen Schreiber durchaus angebracht, doch würde ein detaillierte Erläuterung aller Hintergründe nicht nur den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, sondern wiederum den Kontext durch Vereinzelungen aus dem Auge verlieren. Denn was, wie gesagt, für die heutige Tagespresse gilt, galt auch für damalige Presse, in besonderer Weise für Vereinsblätter: Jedes der behandelten und redaktionell geleiteten Organe verfolgte eine dezidierte Programmatik, die in den verschiedenen Artikeln auch durchscheint. Stellte sich ein Schreiber extrem gegen diese Leitlinie, so folgte darauf zumeist eine explizite Distanzierung von Seiten der Redaktion.

4. Forschungslage Mit der Untersuchung antisemitischer, liberal-jüdischer und kulturzionistischer Sprachbewertungsprozeduren in Deutschland anhand von öffentlich zugänglichen, meinungsbildenden und auflagenstarken Zeitschriften in der Zeit von 1893 bis 1933 wird also ein neuer Weg eingeschlagen. Trotz ihrer

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immensen Bedeutung als „getreuem Abbild des jüdischen Lebens"46 wurden jüdische Periodika von der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Das hat sich mittlerweile geändert.47 Der wohl sinnfälligste Niederschlag dieses gesteigerten Interesses zeigt sich an der sukzessiven Digitalisierung jüdischer Periodika im deutschsprachigen Raum.48 Doch obwohl gerade „Im deutschen Reich" und die „C.V.-Zeitung" aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung einer Fülle von Studien zu diversen Themen als Quellen dienen, sind sie noch niemals systematisch auf den für das deutsch-jüdische Verhältnis so elementaren Sprachaspekt hin durchleuchtet worden 49 Was für die liberaljüdischen Presseorgane gilt, ist nicht minder für die „Jüdische Rundschau" zu konstatieren: oft und gerne herangezogen, aber unter Nichtbeachtung eines der zentralsten Problemfelder deutsch-jüdischer und innerjüdischer Interaktion.50 Die ausführlichen Zitate in dieser Studie finden darin ihre erste Begründung; zweitens können zeitgenössische Zitate einen gewissen Eindruck der Epoche geben, über die gesprochen wird, wobei sie unter Umständen das damalige Stimmungsbild unverfälschter, also „dichter" (C. Geertz) zu vermitteln imstande sind als Retrospektiven oder nachrangige Analysen; und drittens haben Zitate den unschätzbaren Vorteil, immer nachprüfbar zu sein. „Eine aktuellere Arbeit, die sich einzelnen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der jüdischen Gemeinschaft gründlich widmet, fehlt", beklagt Urban-Fahr in ihrer

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Jüdisches Lexikon, Bd. 1, 1927, S. 1110. Noch 2002 konstatieren Horch, Schicketanz und Heiligenhaus zur Signifikanz deutschsprachiger jüdischer Periodika in der Wissenschaft: „Deren Bedeutung als Text- und Informationscorpus im Bereich der Jüdischen Studien wird erst allmählich wahrgenommen" (Horch/Schicketanz/Heitigenhaus 2002, S. 351). Vgl. zur Bedeutsamkeit der jüdischen Presse für die Historiografie: Borut 1996. Vgl. Horch/Schicketanz/Heiligenhaus 2002. Selbst Arnold Paucker, einer der frühesten und bis heute herausragendsten Historiker des Centraivereins und des jüdischen Abwehrkampfes gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus, vernachlässigt insgesamt diesen Aspekt (angedeutet allerdings in dem Aufsatz „Speaking English with an Accent", der sich in dem von Barbara Suchy bearbeiteten Kompendium seiner Schriften findet: Paucker 2003). Eine Ausnahme stellt Bering dar. Er widmet sich in zwei Aufsätzen dezidiert dem Aspekt der Sprachbewertung, einmal unter Bezugnahme auf „Im deutschen Reich" (Bering 1998), das andere Mal auf die „C.V.Zeitung" (Bering 1982). Auch hier soll die einzige mir bekannte Ausnahme erwähnt sein: Eine bisher nur auf Französisch vorliegende Studie von Delphine Bechtel untersucht den Prozess der sprachbestimmten Neugründung der jüdischen Nation durch die Zionisten unter anderem anhand von einschlägigen Artikeln aus jüdischen Periodika. Sie liefert wichtige Erkenntnisse zur nationaljüdischen Sprachbewertung, ohne jedoch die nicht-zionistischen Gegendebatten zu berücksichtigen (Bechtel 2002).

Forschungslage

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Dissertation zum Philo-Verlag von 2001,51 Die vorliegende Untersuchung wird mit ihrer kulturvergleichenden Perspektivierung auf die sprachspezifische Thematik einen Beitrag dazu liefern, dieses immer noch bestehende Desiderat zu verkleinern. Sie versteht sich nicht als Analyse von bestimmten jüdischen Zeitschriften, sondern als Analyse eines einzelnen, aber besonders wichtigen Aspekts in diesen Periodika; auch will und braucht sie keine abermalige umfassende Gesamtdarstellung von Organisation, Struktur und Programmatik der entsprechenden jüdischen Verbände leisten. Schließlich hat gerade die Erforschung der jüdischen Vereinsarbeit seit Ulrich Dunkers 1976 noch solitärer Studie über den „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten"52 beträchtliche Fortschritte erzielt. Dazu beigetragen haben insbesondere Avraham Barkais ideengeschichtlich orientierte Studie zum Centraiverein auf der Grundlage neuer Quellen·53 Christina Goldmanns Forschungsarbeit zur Regionalgeschichte desselben54 und Matthias Hambrocks voluminöse Dissertation zum „Verband nationaldeutscher Juden". 55 Die Prozeduren von Sprachbewertungen und die sprachphilosophischen Grundlagen der jeweiligen Identitätskonzepte spielen indes auch in diesen historischen Arbeiten nur eine Nebenrolle. Diverse Publikationen haben belegt, welche entscheidende Rolle die Sprache in staatlichen, gruppenspezifischen und kulturellen Prozessen und in besonderem Maße für die Konstitution einer (Kultur-)Nation spielt. Auch die Brisanz historischer Sprachkonflikte im soziolinguistischen Kontext von Mehrsprachigkeitssituationen und Sprachminderheiten hat Beachtung erfahren.56 Dabei ging es der Forschung vor allem um Auseinandersetzungen beim Aufeinandertreffen differenter Standards, Werte und Einstellungen zu Sprachen und Sprache.57 Wenig analysiert worden ist aber, welche Stellung Sprache im deutsch-jüdischen Verhältnis nach 1870 einnimmt. Während zur Entwicklung der jüdischen Emanzipation und Sprachakkulturation im 18. Jahrhundert eine umfangreiche Forschungsli-

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Urban-Fahr 2001, S. 27. Dunker 1976. Barkai 2002. Barkai wertet die lange als verloren geglaubten, dann aber 1990 im Moskauer „Sonderarchiv" wiederentdeckten Akten des Berliner Hauptbüros des C.V. aus. Für unsere Untersuchung sind diese Akten jedoch nur von geringem Wert, da sie vordringlich die Zeit nach 1933 betreffen. Christina Goldmann: „Der Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Rheinland und Westfalen 1 9 0 3 - 1 9 3 8 " (im Druck). Hambrock 2001. Polenz 1999; Gardt 2000a. Vgl. die Aufsatzsammlungen von Neide 1980 und ders. 1989.

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teratur existiert58, ist über die deutsch-jüdischen Sprachbewertungsprozeduren im 19. und 20. Jahrhundert viel weniger bekannt — und das obwohl in den letzten drei Jahren bedeutende Studien zur deutsch-jüdischen Kultur erschienen sind, welche lange Zeit vernachlässigte „ideengeschichtliche Fragen wieder auf die Tagesordnung"59 der Forschung gebracht haben. Der eine Teil der zurate gezogenen Studien zum Sprachbild der deutschen Juden bringt Presse-Artikel als Stimmungsbilder des alltäglichen Antisemitismus und dessen Abwehr nur sporadisch; der andere Teil ermangelt vergleichender Deutungsperspektiven, indem er entweder die Agitation der Antisemiten allein im Spiegel der Verteidiger betrachtet60 oder vice versa „der an Konturen gewinnenden Täterforschung keine komplementäre Analyse der Strukturen gegenübersteht, innerhalb derer die Opfer agierten."61 Neue Maßstäbe gesetzt hat Ulrich Siegs Habilitationsschrift über die „weltanschaulichen Debatten und kulturellen Neuentwürfe" der jüdischen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg. Frei vom Gängelband wissenschaftlicher Großthesen beleuchtet Sieg das kulturelle Selbstverständnis der deutschen Juden im Ersten Weltkrieg in einem politik-, mentalitäts- und ideengeschichtlichen Kontext und zieht nach sorgfältigem Quellenstudium das Paradigma einer allgemeinen Kriegsbegeisterung der jüdischen Intellektuellen in Zweifel. Michael Brenners Studie „Jüdische Kultur in der Weimarer Republik"62 nimmt die Alltagswelt deutsch-jüdischer Kultur bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme in den Blick, wobei er neue Sichtweisen auf die deutsch-jüdische Literatur und die Ubersetzung hebräischer Quellen ins Deutsche eröffnet. Brenner und Sieg verfolgen indes andere, viel breitere Ansätze als diese Untersuchung: Nicht die Sprachbewertung im innerjüdischen und antisemitisch-jüdischen Spannungsraum steht im Vordergrund ihres Interesses, sondern die Darstellung des Facet58

Zum (West-)Jiddischen, zur sprachlichen Akkulturation wie auch zur frühen antisemitischen Polemik gegen den jüdischen Umgang mit Sprache überaus umfassend: Richter 1995. Zur Begründung antisemitischer Propaganda gegen die jüdische Sprachverwendung besonders im 19. und 20. Jahrhundert: Bering 1998 und 1999. Zum Sprachwandel bzw. Sprachwechsel grundlegend: Toury 1982, außerdem N. Römer 1995 und 2002. Zur Genese der jüdischen Emanzipation unter sozial-politischem Blickwinkel: Toury 1966 und 1977. Zum „vorassimilatorischen Zustand" früh schon: die Dissertation von Katz 1935 (!). Zum Sprachwandel und zur jüdischen Verbürgerlichung Anfang des 19. Jahrhunderts: Lässig 2000. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

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Sieg 2001. Dies ist, nuanciert, einer der Kritikpunkte Maurers an Barkais Studie (vgl. Maurer 2003, S. 519). Auch Urban-Fahrs sonst sehr profunde verlagsgeschichtliche Studie „Der PhiloVerlag 1919. Abwehr und Selbstbehauptung" von 2001 krankt an dieser eindimensionalen Fokussierung auf die Seite der Abwehrenden (Urban-Fahr 2001). Matthäus 2003, S. 311. Brenner 2000.

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Forschungslage

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tenreichtums jüdischer Kultur in der Weimarer Republik bzw. während des Ersten Weltkriegs. Sander L. Gilmans grundlegende Untersuchung zur „verborgenen" Sprache der Juden 63 sowie Matthias Richters materialreiche und sorgfältig recherchierte Dissertation zur Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur64 analysieren den jüdischen Umgang mit Sprache zwar ansatzweise komplementär, beschränken sich aber wiederum weitgehend auf literarische bzw. amtliche Texte. Ihnen ist bisher keine systematische Untersuchung gefolgt, die Pressequellen als Gradmesser für sprachspezifischen Alltagsantisemitismus und dessen Abwehr nutzt. Auch der von Brenner herausgegebene Sammelband „Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt" bietet zwar neue Erträge zur Rolle des Hebräischen und Jiddischen in Deutschland aus unterschiedlichen Blickwinkeln, doch wird das gerade in Pressezeugnissen ersichtliche Spannungsfeld von antisemitischer Agitation und jüdischer Apologie nur in Ansätzen berührt.65 Die Spezial- und Gesamtuntersuchungen zum deutschen Antisemitismus sind Legion. Eingehende Erläuterung erfuhren die Paradigmenwechsel von religiösen zu sprachlich-kulturellen und schließlich zu biologistisch-deterministischen Verfemungen der deutschen Juden. 66 Während Einzelaspekte wie die zunehmende Verquickung von Sprachwissenschaft und Rassenideologie am Beispiel der deutschen Germanistik Beachtung fanden67, befassen sich neuere Arbeiten mit der Trias Rasse - Sprache Religion als gleichermaßen konstitutiven Elementen völkischer Weltanschauung, legen aber nichtsdestotrotz den Fokus auf die Rassenlehre.68 63 64 65 66

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Gilman 1993. Richtet 1995. Brenner 2002a. Felden 1963 untersucht für die Kaiserzeit bis zur Jahrhundertwende anhand des deutschen Bürgertums u. a. den Sprung der antisemitischen Paradigmen von „Religion" zu „Rasse", übergeht dabei aber weitgehend die kulturellen und sprachlichen Agitationsschemata. Den Paradigmenwechsel von „Religion" zu „Bildung" behandelt anhand der judenfeindlichen Theaterposse „Unser Verkehr": Neubauer 1989. Rürup 1985 sieht den entscheidenden Wandel in der Ablösung der „Judenfrage" religiöser Provenienz durch die „Rassenfrage". Bering 1998 schenkt dem religiösen Aspekt keine größere Beachtung und konzentriert sich auf den Parameter Sprache innerhalb des Paradigmenwechsels von „Bildung" zu „Rasse". Überhaupt scheint die religiöse Komponente des Konflikts in neueren, vor allem politikund sozialgeschichtlichen Forschungen in den Hintergrund gerückt (vgl. Hoffmann 1994, S. 298-301). Eine exzellente Zusammenfassung der Entwicklung des Rassenantisemitismus vom 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus liefert Katz 1989, S. 3 0 8 - 3 2 1 , ohne jedoch der antisemitischen Sprachideologie größere Aufmerksamkeit zu schenken. R. Römer 1985. Römer zeigt, dass die Rassentheoretiker bürgerliche Wissenssysteme inkorporierten. Puschner 2001. Das von Puschner, Schmitz und Ulbricht herausgegebene „Handbuch zur ,Völkischen Bewegung"' bietet mit fast 1000 Seiten das immer noch umfassendste Quel-

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Auch die Sprachverwendung der völkischen und der nationalsozialistischen Bewegung ist in einer kaum noch zu überblickenden Vielzahl von Studien erläutert worden, die Entwicklung der Forschung wurde nachgezeichnet und einer eingehenden Kritik unterzogen.69 Den Versuchen, im Anschluss an Victor Klemperers „jLingua Tertii Imperii" (LTI) eine faschistische Spezialsprache mit spezifischen Lexemen zu eruieren70, faschistisches Vokabular aus Sprachwörterbüchern zu extrahieren71 und dessen frühe Formen textlinguistisch nach Argumentations feldern aufzuschlüsseln72, stellen sich seit neuester Zeit vermehrt diskursanalytische, ideenund mentalitätsgeschichtliche Studien entgegen. Raumgreifende diskursanalytische Untersuchungsverfahren beleuchten die über Wort- und Satzgrenzen hinausgehenden Denk- und Redevoraussetzungen in themengebundenen Diskussionen.73 Mentalitätsgeschichtliche Ansätze verstehen Sprache als ein historisch vermitteltes und kulturell erinnertes Wissenssystem, das sich nicht einfach ad hoc planerisch erzeugen, wohl aber aufgreifen, ausweiten und dann auch agitatorisch nutzen lässt.74 Als nur unzureichend erforscht erweisen sich indes die Prozeduren der völkisch-nationalsozialistischen Sprachbewertung anhand von nichtliterarischen, öffentlichen Primärquellen, welche die Genese des Antisemitismus mit ihren methodisch-strategischen Verschiebungen erkennen lassen. Ganz bestimmte Zeitschriften und Zeitungen hatten als Triebkräfte und Transporteure der antisemitischen Weltanschauung eine Schlüsselrolle inne. Dazu sind sicherlich Hitlers NSDAP-Organ „Der Völkische Beobachter", 20' „Der Angriff" oder Streichers „Der Stürmer" zu zählen. All diese nach 1918 entstandenen Blätter verraten in ihrem rhetorischen Stil und ihrer Aufmachung - schlagwortartige Sätze, vermehrter Einsatz plakativer Bilder und Symbole etc. — den Impetus einer modernen Propaganda, die spätestens gegen Ende der Weimarer Republik eine ausschlaggebende Wirkung entfaltete.75 Als Ausdruck einer progressiven Jugendbewegung in Abgrenzung zur Tradition der Väter hatten sie indes für den „veredelten Antisemitismus", dessen sich die konservativvölkischen Antisemiten rühmten, nur Verachtung übrig. Sie spiegeln da-

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len-Kompendium völkischer Ideologien bis zum Ersten Weltkrieg. Der Sprachaspekt bleibt dennoch auch hier weitgehend ausgeklammert (Puschner/Schmitz/Ulbricht 1996). Bering 2004, S. 375-389. Schmitz-Berning 1998. Müller 1994. Hortzitz 1988. Wengeler 2003. Vgl. zur Diskurslinguistik, deren Ziel- und Angelpunkten: Gardt 2007. Winde 2001. Paul 1992.

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mit gerade nicht in erster Linie die Entwicklung des modernen Antisemitismus mit seinen Strategiewechseln in Kaiserreich und Weimar wider, sondern zeigen vor allem deren vorläufigen Endpunkt. Mit anderen Worten: Die Publizisten des „Angriff" oder des „Stürmer" marschierten, völkisches Gedankengut aufgreifend, längst stramm in jene Richtung, die spätestens nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Mehrzahl der Antisemiten einschlagen würde. Demgegenüber sind Pressequellen vorzuziehen, die sprachen-, kulturund rassenspezifische Polemiken gegen die deutschen Juden miteinander vermengten, und dies von der Zeit um die Jahrhundertwende bis 1933 — Quellen also, die einerseits stilistisch und argumentativ aus der Tradition des völkischen Antisemitismus der Kaiserzeit kamen und ihn weiterentwickelten, andererseits aber auch den Antisemitismus der Weimarer Zeit aufgriffen, ja, sich dessen Präferenzen schrittweise anpassten. Das „die weltanschauliche Breite der völkischen Bewegung repräsentierende"76, von Theodor Fritsch in Leipzig herausgegebene Antisemitenblatt „Der Hammer" verspricht, genau eine solche Quelle zu sein, und zwar in herausragender Weise. Eine systematische Analyse dieser Zeitschrift könnte belegen, dass die völkischen Antisemiten nicht erst „ab 1933" den akkulturierten Juden als einen inneren Feind bekämpften, 77 sondern mit ihrer publizistischen Diffamierüngskampagne bereits kurz nach der Jahrhundertwende begannen. Wenn die Person Theodor Fritschs eine, wie Katz behauptet, „Brücke vom Anfang der Bewegung bis zu ihrer schrecklichen Kulmination" bildet78, dann müsste dies erst recht für die publizistische Zentralplattform seiner Agitation konstatiert werden. Dennoch hat die Antisemitismusforschung dieser Zeitschrift und ihrem Herausgeber bisher nur sporadisch Beachtung geschenkt. Dies gilt weniger für die freichristlich-religiös verbrämten Paradigmen seiner Judenfeindlichkeit als für seine vom rassischen Weltbild dominierte Einstellung zur Sprache.79 76 77 78 79

Puschner 2001, S. 21. Diese Zäsur setzt Stukenbrock 2005, S. 442. Katz 1989, S. 308. A m umfassendsten zu Fritsch noch Puschner 2001, allerdings nur für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Außerdem: Bönisch 1996, S. 3 1 4 - 3 6 5 , und Herzog 1997; kurz und hilfreich wiederum Katz 1989, S. 3 0 9 - 3 1 1 . Sehr aufschlussreich für die Beziehung Fritschs zu Wilhelm Marr, dem Erfinder des Wortes „Antisemitismus", ist der Aufsatz von Zimmermann 1978. Die einzige mir bekannte eigenständige Untersuchung ist eine medizinhistorische (!) Dissertation zur biologistischen Rassenlehre im „Hammer", die aber kaum auf Sprache eingeht und allzu sehr im Deskriptiven verharrt: Volland 1993. Fritschs Bedeutung für den Nationalsozialismus hervorhebend: Zumbini 2003, S. 3 2 1 - 4 2 2 . Zumbinis Studie bietet neben wertvollen Erkenntnissen zum völkischen Weltbild einen guten Überblick ü-

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Einleitung

5. Gliederung Das zweite Kapitel wird, jeweils getrennt nach sprachhistorischen und sprachphilosophischen Voraussetzungen, die zentrale Rolle der deutschen Sprache im Werdegang des deutschen Kulturnationsmodells erläutern. Die Initiationsphase der „Deutschen Bewegung" 1770 bis 1830 soll kurz beleuchtet, die allmähliche Ablösung der auch kosmopolitischen Sprachphilosophien Herders und Humboldts durch verstärkt nationalistisch verengte Sprachideologien wie diejenige Fichtes skizziert werden. Herder, Humboldt und schließlich Fichte gesondert und detailliert auf ihre Einstellungen zu Sprache und Sprachen zu untersuchen scheint deshalb berechtigt, weil gerade diese drei Denker die kulturelle, nationale und sprachthematische Orientierung der deutschen Juden entscheidend beeinflusst haben. Auf sie und ihre sprachphilosophischen Deutungen griffen die Juden immer wieder zurück; von ihnen mussten sich schließlich auch die Antisemiten absetzen, um dem Einzelnen seine Grundkonstante von Identität als eines In-der-Sprache-Seins zu entreißen und diese dem mythischen Diktat der Rasse unterzuordnen. Das spezifisch deutsche Denkmodell der sprachbestimmten Kulturnation bildete die Voraussetzung für den Verdrängungsprozess des Westjiddischen zugunsten der neuhochdeutschen Sprachnorm. Dieser Sprachwechsel der deutschen Juden als Annäherung und Angleichung an einen zur Leitvarietät erhobenen neuhochdeutschen Sprachstandard wird im dritten Kapitel genauer beleuchtet. Entsprechend der Zielvorgabe, Erträge aus dem Spannungsfeld von Attacke und Abwehr herauszufiltern, beginnt die Analyse der Sprachbewertung im vierten Kapitel mit der völkisch-antisemitischen Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache. Auf der liberal-jüdischen Einstellung zu Sprache und Sprachen, die das fünfte Kapitel in den Blick nimmt, liegt der Schwerpunkt dieser Untersuchung. Dort wird sich ein deutschjüdisches Bildungsbürgertum zeigen, das sich mit dem „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" eine straffe Organisationsstruktur und mit dessen Periodika Öffentlichkeitsforen für die argumentative Affirmation der deutsch-jüdischen Kulturidentität schuf. Die beiden ber den Stand der Forschung zu Fritsch, über den immer noch keine Monografie vorliegt. Der italienische Forscher zieht deshalb mit bemerkenswerter Akribie nahezu alle Aufsätze, Briefe und Schriften von und zu Fritsch heran, vernachlässigt dabei jedoch mit den „Hammer"-Artikeln die öffentlichkeitswirksame Außenseite des Agitators. Diese aber und nicht etwa Interna wie Fritschs Korrespondenz mit Wilhelm Marr, Paul de Lagarde oder Bernhard Förster - wurde von den jüdischen Apologeten des Centraivereins in erster Linie wahrgenommen.

Gliederung

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C.V.-Organe sind in aller Kürze vorzustellen, ihre Struktur und Programmatik offen zu legen. Weil die Tragweite einer Zeitschrift ohne eine angemessene Berücksichtigung ihres Trägers nicht zu verstehen ist, erscheint auch ein kurzes Unterkapitel zur Entwicklungsgeschichte des Centraivereins angebracht. Er bildete die Basis für die kulturell-ideelle Haltung der jüdischen Liberalen in Deutschland. Zu hinterfragen ist, inwiefern sich die C.V.-Organe an seiner Programmatik orientierten. Mit der Darlegung der zionistischen Sprachkonzeption werden die Schlusssteine ins sprachreflexive Mosaik dieser Untersuchung gesetzt. Nach einer historischen Betrachtung zentraler (kultur-)zionistischer Konzepte und einer kurzen Vorstellung der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland" und ihres Vereinsblattes, der „Jüdischen Rundschau", interessieren vor allem die Standpunkte der nationaljüdischen Publizisten zum Hebräischen, ferner zum Jiddischen. Am Sprachen streit um die zu favorisierende Unterrichtssprache in den jüdischen Schulen des britischen Protektorats Palästina entzündete sich eine langjährige innerjüdische Kontroverse, die eine entscheidende Zäsur im Verhältnis von liberalen und zionistischen Juden markiert. Auch deshalb sollen im abschließenden Resümee nicht nur die unterschiedlichen Einstellungen zu Sprache und Sprachen in Deutschland von 1893 bis 1933 nochmals fester umgriffen, sondern es soll auch ein kurzer Ausblick auf die Entwicklung nach 1933 in Palästina geboten werden.80 Mit der Untersuchung der Trias antisemitischer, liberal-jüdischer und nationaljüdischer Einstellungen zu Sprache und den Sprachen Deutsch, Jiddisch, Hebräisch wird ein noch lange nicht ausreichend vermessenes und bestelltes Feld bearbeitet. Gerade hier ist ein Ertrag zu erwarten, der aktuellen Problemen in der historischen Forschung zum deutschjüdischen Verhältnis neue Impulse zu geben verspricht. Dazu ist nicht nur die Theorie des cultural pair zu zählen, sondern auch die in der Forschung immer engagierter verfolgte Fragestellung nach Ausprägungen und Wirkungen der Jüdischen Renaissance bis und nach 1933. 80

Zum Formalen sei hier angemerkt: In den Quellenzitaten ist der damals übliche maschinentypografische Sperrdruck des Originals übernommen worden, während eigene Kursive in der jeweiligen Quellenangabe mit dem Kürzel „A. K." gekennzeichnet sind. Ist der Autor des jeweiligen Artikels nicht genannt, habe ich auf das schmucklose „N.N." verzichtet. Der Prägnanz und besseren Ubersicht wegen habe ich die jeweiligen Angaben zur Sekundärliteratur in den Fußnoten nach dem angelsächsischen System angeordnet, d. h.: Verfassername plus Datum; demgegenüber sind die Quellen oder die von mir als Quellen verwendeten Texte mit Verfassername, Kurztitelaufnahme und Erscheinungsdatum nachgewiesen und kursiv gesetzt. Auch in der Zitation macht sich diese Unterscheidung bemerkbar: Quellentexte sind in verkleinerter, längere Forschungszitate in normaler Schriftgröße eingerückt.

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Einleitung

Das Vorhaben, die menschenverachtende, realitätsverzerrende Perspektive der völkischen Antisemiten auf den jüdischen Umgang mit Sprache in relativer Breite zu analysieren und dann die sprachspezifischen Affirmationen der akkulturierten Juden als - auch im Vergleich zum zionistischen Projekt — letztlich scheiternde Apologien anzuschließen, birgt eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Werden damit, zynisch genug, die Opfer nicht doch wieder auf die Ebene der Täter gezogen? Dieser Gefahr muss sich die Arbeit stellen und ihr Wort für Wort entgegenwirken. Sie soll dem genannten Hiat, der das deutsch-jüdische Verhältnis zwischen lebendigem Austausch und mörderischer Abstoßung zeigt, endlich eine Plausibilität verleihen, die erklärt, ohne zu entschuldigen. Denn ohne ein näheres und vor allem differenzierteres Verständnis der kulturgeschichtlichen Voraussetzungen dessen, was nach 1933 in Deutschland geschah - also ohne eine tiefer gehende Deutung der Entwicklung, bevor Antihumanismus und Antiliberalismus endgültig zu herrschenden Prinzipien gerieten - , wird jede Shoah-Forschung unzureichend bleiben müssen.

II. Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation Kultur ist im weitesten Sinne die Gesamtheit aller menschlichen Arten des Denkens, Fühlens und Handelns im Gegensatz zur Natur, in engerer Definition ein je nach sozialem Kontext inhaltlich verschiedenes, strukturell räum- und zeitgebundenes semiotisches Koordinatensystem von Geisteshaltungen, Werteinstellungen und Symbolen.1 Zu deren Akkumulation und Mediation bedarf es der Sprache. Sprache ist nicht einfach nur im trivialen Sinne ein neutrales Kommunikationsmedium oder, analytischer gesprochen, ein System von Zeichen und Regeln, sondern dient als Verlautbarung des Selbst-Bewusstseins der Herausbildung von Ich-Identität. Sprache ist damit immer auch ein Fenster zum unverwechselbaren Selbst des Subjekts. Zudem bildet sie als kulturhistorische Größe einen Kristallisationspunkt sowohl kultureller Werte und Normen als auch nationaler Identität. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Sprache resp. Kultur und Nation im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder als Korrelate angesehen wurden. Reichhaltige Interpretationen erfahren hat das Konzept einer durch die deutsche ,Hoch'Sprache bestimmten, geradezu von ihr .erbauten' wie getragenen Kulturnation, deren Ideen und Wirkungen sich gleich „konzentrischen Ringen" 2 um den Begriff des Staatsvolkes ranken.3 Darunter sind auch Stimmen, die dies als historisch nicht haltbares Forschungskonstrukt bewerten, eine ge-

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Der „heutige gebräuchliche zeit- und raumbezogene Kulturbegriff [entstand] als Ausdruck eines einheitlichen vergangenen oder gegenwärtigen Geschichtskörpers". Unter Kultur wird somit der „seelische Gesamtzustand einer Zeit und einer Nation" verstanden (Pflaum 1967, S. 291). Diesen Vorschlag einer rein deskriptiven Definition hatte der Kulturanthropologe Edward Burnett Tylor bereits 1870 in die Diskussion um den Kulturbegriff eingebracht: „Culture or civilization is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society" (zit. n. Kroeber/Kluckhohn 1967, S. 81).

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O. Reichmann 1978, S. 390. Früh schon bei Ο. Reichmann 1978; dann, auf die Entstehung der Literatursprache und die zunehmenden Nationalisierungsdiskurse fokussierend, bei Frühwald 1986; auf die Geschichte der Muttersprachenideologie(n) rekurrierend bei Ahlzweig 1994; in Aufsätzen zusammengefasst bei Cherubim/Grosse/Mattheier 1998; als Folie des Bedeutungswandels der Sprache vom Sprachpatriotismus bis zum Sprachnationalismus untersucht von Polenz 1999; so knapp wie präzise erläutert in dem Aufsatz von Gardt 2005; auf den Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts fokussierend bei Faulstich 2007.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

fahrliche Missverständlichkeit des Terminus fur die heutige Zeit reklamieren und hoffen, „daß seine Konjunktur heute beendet ist"4. Dass jedoch gerade in Deutschland ein ursächlicher, unvergleichbarer und nur schwer auflösbarer Konnex zwischen Sprache und Nation bestand, ja vielleicht nach wie vor besteht, kann nur schwer bestritten werden, es sei denn, man ist bereit, signifikante Stationen und Sichtweisen in der deutschen Kulturgeschichte zu ignorieren. Dazu gehört die zentrale Rolle, die das deutsche Bildungsbürgertum für Entwicklung und Verbindung beider Komponenten gespielt hat. Ihr ist in der Forschung denn auch erhöhte Aufmerksamkeit zuteil geworden.5 Eine von Andreas Gardt herausgegebene Aufsatzsammlung aus dem Jahr 2000 hat die Voraussetzungen und Prozesse des genannten Konnexes noch einmal gebündelt,6 eine jüngst in Buchform erschienene Dissertation dessen Anfänge, Entwicklungsgänge und Steigerungsgrade über einen Zeitraum von über 300 Jahren in einer sorgfältigen Aufschlüsselung metaphorischer Topoi zu Sprache nachgezeichnet.7 Dabei ist das Forschungsparadigma, einen fremdwortfeindlichen und hypostasierenden Sprachnationalismus erst hinter der „magischen Grenze" der Befreiungskriege beginnen zu lassen und ihn als typisches Epochenmerkmal des 19. und 20. Jahrhunderts zu charakterisieren, verstärkt in Zweifel geraten.8 Vielmehr seien dessen Anfänge in Deutschland bereits im Barock, also vor einer eigentlichen Nationsvorstellung zu verorten.9 Wie sehr das bildungsbürgerliche „Ideologem von der Kulturnation"10 als Sprachnation gerade auf die deutsche Judenheit des 18. und 19. Jahrhunderts ausstrahlte und ihre sprachliche Akkulturation beeinflusste, ist jedoch auch in diesem Konglomerat neuerer Forschungsergebnisse nur sporadisch vermerkt.11 Gerade die jüdischen Anwärter hatten die deutschen Staaten lange Zeit unter demütigenden Umständen im Vorraum der

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Dann 1996, S. 49; schon früher rät er dazu, den Begriff ganz zu vermeiden: Dann 1987, S. 316. So bei Günther 2004; auch immer wieder thematisiert in der vierbändigen Aufsatzsammlung Conze/Kocka/Koselleck/Lepsius 1 9 8 5 - 1 9 9 2 . Gardt 2000a. Die 1000-seitige Sammlung vereint nahezu alle relevanten Forschungsansätze bis dato. Stukenbrock 2005. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 21; vgl. Gardt 1994; vgl. Knape 2000, S. 116: „Die Humanisten spielen bei der Konstituierung des neuen Nationalbewusstseins [...] eine maßgebliche Rolle. [...] Die theoretische Entdeckung der deutschen Sprache ist Teil ihrer neuen wissenschaftlichen Bestrebungen." Mattheier 1991, S. 47. Ansätze dazu finden sich bei Schulin 1999.

V o m Landespatriotismus zum Sprachnationalismus

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Einbürgerung und staatsbürgerlichen Gleichberechtigung warten lassen. Als man die deutschen Juden nach Erfüllung aller Voraussetzungen dann endlich hereinbat, standen ihre alten und neuen Feinde bereits hinter ihnen, um sie mit allen Mitteln wieder vor die Tür zu setzen. Ohne die Bedingungen des Bedeutungsgehalts der Sprache in Deutschland geklärt zu haben, bleibt die Hinwendung der deutschen Juden zur neuhochdeutschen Leitvarietät nur unzureichend verständlich. Auch wird ohne diese Klärung kaum ersichtlich, warum die rassischen Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts sich radikal vom nationalen wie individuellen Konstituentenpaar Sprache und Kultur distanzierten. Eben diese Bedingungen sind im Folgenden zu eruieren und zu erläutern. Die Identifikationsfixierung einer bis 1871 imaginären deutschen Nation auf die neuhochdeutsche Sprache als Richtmaß für die An- oder Aberkennung nationaler Zugehörigkeit hat eine lange Vorgeschichte. Um die Kluft zu erahnen, die das Deutschland des 19. Jahrhunderts gerade in punkto Sprachbewertung vom Deutschland vergangener Zeiten trennt, ist es hilfreich, den Bogen zunächst einmal weit zu spannen und einzelne prägnante Ereignisse und Exponenten gegenüberzustellen. Der sprachgeschichtlich-sprachphilosophische Zwischenraum ist dann in einem zweiten Schritt auszufüllen.

1. Vom Landespatriotismus zum Sprachnationalismus Walther von der Vogelweide hatten besonders die schönen Frauen „unser lant" so teuer gemacht, dass er sich wünschte: „lange müeze ich leben dar inne." Dieses Land der „tuischen frouwen", die dem heimkehrenden Minnesänger „rechte als engel" erschienen und darum „bezzer sind danne ander frouwen", war präzise lokalisiert. „Von der Elbe unz an den Rin/und her wider unz an Ungerlant": Dort würde man auch die an Bildung reichsten Männer antreffen können.12 Der weit gereiste Sänger kommt zu dem Schluss: „tiuschiu zuht gat vor in allen." Von Sprache ist hier jedoch an keiner Stelle die Rede. Das sollte sich im Verlauf der Jahrhunderte ändern. Der Zusatz „deutscher Nation" („Nationis Germanicae"), seit Mitte des 15. Jahrhunderts dem in lateinisch-römischer Tradition stehenden „Heiligen Römischen Reich" („Sacrum Romanum Imperium") angeheftet, zeigte in diesem Vielvölker- und Vielsprachenreich eine Bedeutungsverschiebung zugunsten eines einzelnen Charakte-

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Wapnewski 1998, S. 26-29.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

ristikums an. So koppelte der Hebraist und Kosmograf Sebastian Münster bereits Anfang des 16. Jahrhunderts die Ausdehnung deutscher Lande an die Verbreitung der deutschen Sprache: Vnd dem nach nennen wir zu vnsern zeyten Teütsch land/alles das sich Teütscher sprachen gebraucht/es lig gleich über oder hie jhenet dem Rhein oder der Tonau. Vnnd streckt sich ietzt und Teütsch land in Occident bis an die Mas, ja auch etwas darüber im Niderland/do es an Flandern reicht. Aber gegen mittag spreit es sich biß an die hohen schneeberg/vnd im Orient stoßt es an Vngern vnd Poland. 13

Freilich, dies war eine schlichte Bestandsaufnahme, die Münster ebenso gut auf nichtdeutschsprachige Landesteile hätte beziehen können. Solange das polylinguale Reich existierte, hielten es ganz andere Grenzen zusammen als die Sprache. Das änderte sich entscheidend erst mit dem Ende der tausendjährigen Reichsnation 1806. „Des Deutschen Vaterland", das Ernst Moritz Arndt 1813 in dem gleichnamigen Gedicht überschwänglich besang und das ja de facto als Nation nicht mehr existierte, band seine Reichweite ganz eng ans Linguale. Können denn, fragt Arndt, die Flüsse Rhein und Belt den natürlichen Limes einer imaginären Nation bilden, solle diese wirklich in Österreich, Preußen oder Bayern enden? „O nein! nein! nein!", so der antwortende Refrain, „Sein Vaterland muß größer sein." Wie groß, ist in Strophe sechs gesagt: So weit die deutsche Zunge klingt/ Und Gott im Himmel Lieder singt/ Das soll es sein!/Das, wackrer Deutscher, nenne dein! 14

Die bei Münster nachzulesende nüchterne Beschreibung dessen, bis wohin „Teütsch land" reiche, ist hier dem flammenden Appell gewichen, die untergegangene Nation müsse in neuer Sprach-Gestalt aus der Asche erstehen. In Arndts Sicht ist der Deutsche nicht länger allein in der Sprache und Kultur eines genau umgrenzten Reiches oder Territorialstaates beheimatet, sondern sein Vaterland verwirklicht sich überhaupt erst durch die Sprache, also überall dort, wo die deutsche Muttersprache als Umgangssprache erklingt. Sprachraum, ob nun bezogen nur auf die hochdeutsche oder auf die ganze germanische Sprachgemeinschaft15, evoziert Nationalraum. Die deutsche Sprache überwindet Grenzen, schafft aber auch 13 14

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Zit. n. O. Reichmann 1978, S. 390. Ernst Moritz Arndt: „Des Deutschen Vaterland", 1813. In: Conrady 1977, S. 392. Vgl. Arndt, Oer Rhein, 1813, S. 12f: „Die Sprache aber macht die rechte Grenze der Völker [...] Was beisammen wohnt und einerlei Sprache spricht, gehört auch von Gott und Natur wegen zusammen." Vgl. Dann, der anmerkt, dass die Semantik des Wortes deutsch beides umfassen konnte: „...die hochdeutsche als auch die größere germanische Sprachgemeinschaft" (1996, S. 80f.).

Vom Landespatriotismus zum Sprachnationalismus

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Trennlinien. Mag die Mehrheit jenseits der östlichen und westlichen Marken sich auch keineswegs deutsch artikulieren, so scheint sie sich dem nationalen Besitzanspruch der deutschsprachigen Minderheit doch nicht widersetzen zu können. Die Gewaltigkeit dieses Idioms wird, das suggeriert Arndts Gedicht, sogar von seinem denkbar mächtigsten Fürsprecher musikalisch gefeiert: Wenn Gott „singt", dann selbstverständlich auf Deutsch. Die Affirmation der Muttersprache gerät hier beinahe zur Apotheose. Es ist bekannt, dass zwischen den kulturellen und nationalen Weltbildern des Früh- und Spätmittelalters und denen des 19. Jahrhunderts eine wechselhafte und vielschichtige Ideengeschichte liegt, welche die Einstellungen zur Sprache entscheidend wandelte. Darin einzuordnen ist in erster Linie der durch Luthers Bibelübersetzung angetriebene Durchbruch des Deutschen als einer allgemein verbindlichen Schriftsprache, worauf wirkmächtige Bestrebungen zur Prestigebesserung und Kultivierung der deutschen Sprache folgen: etwa die Pionierleistungen eines Martin Opitz im Jahre 1617 und 1624 16 , die kulturpatriotischen ,Reinheitsideale' der „Fruchtbringenden Gesellschaft"17, schließlich Gottfried Wilhelm Leibniz' beharrliche Appelle zur Pflege der deutschen Muttersprache. 18 Zweifellos ist auch unter Walthers „lant", Münsters „Teütsch land" und Arndts „Vaterland" völlig Verschiedenes zu verstehen, weil der sakral-kosmopolitisch orientierte mittelalterliche Reichsgedanke keinen Nationenbegriff im modernen Sinne kannte.19 Das als Bittgedicht und Frauenpreis20 gedachte

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Zu nennen sind hier Opitz' bezeichnenderweise noch auf Latein verfasste Schrift „Über die Verachtung der deutschen Sprache" von 1617 und das „Buch von der Deutschen Poetery" von 1624, welches das stilistische Ideal über mindestens ein Jahrhundert prägte. Die am 24. August 1617 durch Fürst Ludwig von Anhalt-Kothen gegründete „Fruchtbringende Gesellschaft" war die älteste, größte und bedeutendste der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Sie setzte sich zum Ziel, das Ansehen der deutschen Sprache und Literatur zu verbessern, indem sie Adlige mit bürgerlichen Literaten zusammenführte. Leibniz setzte sich besonders in zwei Schriften für den Gebrauch des Deutschen ein: in der „Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben" (1679) und in den „Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache" (1697). Bis ins 18. Jahrhundert hatte man den im 14. Jahrhundert erstmals bezeugten Begriff Nation im Sinne seines lateinischen Wortursprungs natio bzw. natus als Bezeichnung für eine regionale bzw. stammesspezifische Zugehörigkeit Einzelner zu einem Ganzen verstanden. Nation bezeichnete demnach den natürlichen Verband der durch „Geburt" im gleichen Lebensraum zusammengewachsenen und zusammengehörenden Menschen. Die Bedeutung des mit der französischen Revolution entstandenen modernen Nationenbegriffs als einer Staatsnation ist umstrittener. Eine Tendenz lässt sich aber erkennen: Er legte das Gewicht mehr auf das Bewusstsein einer gemeinsamen politisch-kulturellen Vergangenheit und den Willen zum Staat. Der Einzelne identifizierte sich nicht mehr vorrangig über seinen Stand,

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

Lied Walthers etwa wurde von Dichtern wie August Heinrich Hoffmann von Fallersleben nationalistisch umgedeutet und, erst in dieser Weise missverstanden, in zahlreichen Anthologien mit dem Titel „Deutschland über alles" abgedruckt. Doch die zeitlichen Sprünge von der mittelalterlichen Sichtweise Walthers zur neuzeitlichen Perspektive Arndts — inklusive der bei Sebastian Münster verankerten Zwischenstation — werden in diesem Kapitel ja auch nur gewagt, um die entscheidende Wandlung in den Zentralkategorien zur Bestimmung deutscher Identität nun ganz nah vor Augen zu haben: Es ist die Steigerung vom patriotischen Lob des Landes und damit auch seiner Kultur und Sprache zu einem Nationalismus, der seine territorialen Ansprüche über Sprachgrenzen definiert - und damit schon den Gedanken der kulturellen Überlegenheit des Eigenen über das Fremde in sich trägt.21 Die Verquickung zweier eigentlich völlig unterschiedlicher Komponenten ließ Land und Sprache passgenau zu einer Größe verwachsen, die alle anderen Gebilde überragte. Die Steigerungsformen zu Arndts Fanal sind leicht am ,Fieberthermometer' nationalistischer Aussagen in der „verspäteten Nation"22 abzulesen, denn die expandierende Dynamik der Sprache konnte ebenso gut für die mit ihr verhaftete Nation gelten.

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seine Konfession, seine Klasse, einen Stamm oder einen bestimmten Territorialstaat, sondern über die Nation als Gesamtidee und soziale Großgruppe, der gegenüber man nun emotionale Bindung und Loyalität fühlte (vgl. ζ. B. Jafroodi 1999, S. 27-34; Alter 1984, S. 14f.). Der mittelalterliche Reichsgedanke unterschied sich noch einmal deutlich von beiden Auslegungen. Der vom Papst zum Kaiser gekrönte deutsche König verstand sich nicht als dynastischen Staatsherrscher einer Nation, sondern als weltliches Oberhaupt des gesamten christlichen Abendlandes im Sinne einer sakral-imperialen Heilsbotschaft, der „Translatio Imperii". Vgl. dazu Wapnewskis Anmerkung zu Walthers Minnelied: Die Strophen hätten „wenig zu tun mit einem Nationalismus im Stile des 19. Jahrhunderts. Für dergleichen hat die mittelalterliche Staatsidee und Reichswirklichkeit, die eine Fülle von Nationalitäten umfaßte, keinen Raum" (Wapnewski 1998, S. 236). Ebd., S. 236: „Das Lied ist Minnesang, und zwar mit der besonderen (und emphatisch wahrgenommenen) Funktion des Frauenpreises." Die genannten Termini sind nicht neu. Eine profunde kulturhistorische Einordnung der Phänomene Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus leistet Gardt 1999a und 2000b; diskurstheoretisch orientiert und insgesamt skeptisch gegenüber analytischen Separierungen in patriotisch und nationalistisch. Stukenbrock 2005; Günther wiederum behandelt in ihrer materialreichen Habilitationsschrift den Sprachaspekt zwar nur am Rande, demonstriert aber umso eindringlicher, wie vor allem die Kriege Preußens gegen Dänemark, Österreich und Frankreich von „nationalhistorischen Sinnstiftungen" bis hin zu „Reichseinigungslegenden" führten, die landespatriotische Bekenntnisse dann mehr und mehr verdrängten (Günther 2004, S. 216-52). Der viel diskutierte Begriff stammt von dem Philosophen Helmuth Plessner (1892-1985). Vgl. dazu Weidenfels 1983, S. 14.

Vom Landespatriotismus zum Sprachnationalismus

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Das alles muss also bedacht werden, wenn man über die mit ganzer Kraft ins Deutsche drängenden Juden, über nichtjüdische Deutsche selber und über die Einheit stiftende Kategorie Sprache Klarheit haben will. Ein deutschnational gesinnter Jude wie Ludwig Börne begründete noch Anfang 1832, zu diesem Zeitpunkt längst ins Pariser Exil geflüchtet, die Exklusivität seines Freiheitswunschs mit der sozialen und rechtlichen Benachteiligung, die er aufgrund seines Glaubens hatte erfahren müssen: Ja, weil ich als Knecht geboren, darum liebe ich die Freiheit mehr als ihr. Ja, weil ich die Sklaverei gelernt, darum verstehe ich die Freiheit besser als ihr. Ja, weil ich keinem Vaterland geboren, darum wünsche ich ein Vaterland heißer als ihr. 23

Doch Börnes Trotzhaltung ob seiner oft geschmähten deutsch-jüdischen Doppelexistenz nimmt nicht allein das ersehnte Vaterland in den Blick. Den Zielpunkt aller Sicht- und Handlungsweisen setzt die Sprache fest. In Anspielung auf den Passus bei Arndt, der schnell zum locus classicus aller deutschnationalen Einheitssehnsüchte avancierte, schreibt er weiter: weil mein Geburtsort nicht größer war, als die Judengasse, und hinter dem verschlossenen Thore das Ausland für mich begann, genügt mir auch die Stadt nicht mehr zum Vaterland, nicht mehr ein Landgebiet, nicht mehr eine Provinz; nur das ganze große Vaterland genügt mir, so weit seine Sprache reicht [...] und hätte ich die Macht, ich duldete nicht, dass nur ein einziges deutsches W o r t aus deutschem Munde jenseits der Grenzen zu ihr herüberschallte. 24

Die Motivation des glühenden Freiheitskämpfers Börne liegt auf der Hand. Es war die deutsche Sprache, die ihn aus der Enge der „Judengasse" hinausführte; und es war seiner Überzeugung nach auch die Sprache, die seine deutschen Landsleuten beauftragte, eine Nation zu bilden, die bestenfalls erst dann enden könne, wenn es keine deutschen Muttersprachler jenseits ihrer Grenzen mehr gab. Und um einen letzten Zeitensprung zu wagen: Das vorläufige Ergebnis dieses Prozesses zunehmender Sprachnationalisierung beschreibt Fritz Mauthner, deutsch-jüdischer Skeptiker der Sprache wie des Nationalismus, mit dem Schulterblick auf Weltkriegserlebnisse in einer Weise, die weiteres Unheil mindestens erahnen lässt. In seiner Schrift „Vaterland und Muttersprache" von 1920 heißt es: Und wir sangen zum ersten Male: „Was ist des Deutschen Vaterland?" Wir hatten aber noch nicht begriffen, daß der im ersten Teile immer wiederkehrende Schlußvers des Liedes „Sein Vaterland muß größer sein" durch eine leichte Umdeutung zu der Gesinnung verfuhren konnte, die unser Geschlecht nur wenige Jahre später zu

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Börne, Briefe aus Paris, 1832, S. 511. Ebd. [Kursive: Α. K.]

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation dem weltgefährlichen Imperialismus führte. Das Lied, 1 8 1 3 von Arndt verfaßt und schon zwei Jahre später viel gesungen, uns Deutschböhmen in den Flegeljahren suggeriert, enthielt schon wie ein gereimter Katechismus die Dogmen des nationalen Glaubens. Nicht die Liebe zur unmittelbaren Muttersprache, zur Mundart der Heimat, wurde da ausgesprochen, sondern die Liebe zu der gebildeten, gemeinsamen Schriftsprache des ganzen Volkes; und da Patriotismus oder Vaterlandliebe auf der Liebe zur Muttersprache beruht, so wurde sofort auch das Ideal eines Vaterlandes hingestellt, das es - in Deutschland wenigstens - in der Gegenwart nicht gab, nur in der Vergangenheit und in der nahen Zukunft. 25

Abgebildet ist hier die Kehrseite der Medaille. Die bildungsbürgerliche Loyalität gegenüber der bis ins 18. Jahrhundert im Adel weitgehend verpönten deutschen Sprache hatte nicht nur zu Sprachkultivierungen beispielsweise in philologisch selbstbewussten Übersetzungen ins Deutsche gefuhrt, sondern nach und nach auch zu fremdwortfeindlichem Sprachpurismus und einer Hypostasierung der neuhochdeutschen Leitvarietät zuungunsten anderer Varietäten. Die konstruierte qualitative Differenz Hochsprache vs. Dialekte findet hierin ihre Wurzeln. Mitten in diesem Spannungsfeld von kulturell-nationaler Neubesinnung einerseits und kulturell-nationalem Chauvinismus andererseits konsolidierte sich das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation. Es lag zwischen den Polen, und beide suchten, Magneten gleich, es auf die eigene Seite zu ziehen. So müssen in diesem Kapitel denn auch beide Pole Berücksichtigung finden. Die Idee von einer sprachbestimmten Kulturnation ist, das war gesagt worden, ein spezifisch deutscher Weg gewesen, der seinesgleichen in der europäischen Kulturgeschichte sucht. Dafür sprechen seine sprachgeschichtlichen und sprachphilosophischen Voraussetzungen. Mit der nationalen Einigung in einem Kaiserreich war eine Zäsur erreicht, die unter anderem als ein Ergebnis kultureller Neuentwürfe der „Deutschen Bewegung" angesehen werden kann. Es erscheint sinnvoll, den Prozess in zwei Phasen - Initiation und Implementierung - aufzuteilen, die kultur- und nationenschaffende sowie klassen- und prestigeschaffende Effekte generierten.26

25 26

Mauthner, Muttersprache und Vaterland, 1920, S. 9. Vgl. Bering 1998, S. 256-262. Bering schlägt fur die „initiation phase" den Zeitraum 17701830 vor, während die „phase of political implementation" 1870 begonnen habe. Es wäre historisch ebenso sinnvoll, Letztere mit der Revolution von 1848 und dem Angebot der Kaiserkrone an den preußischen König durch die Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche beginnen zu lassen.

Die Initiationsphase der „Deutschen Bewegung" ab 1770

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2. Vom Ende des Reichs zur Geburt einer bildungsbürgerlichen Idee: Die Initiationsphase der „Deutschen Bewegung" ab 1770 Die topografische Gestalt Deutschlands im Mittelalter und im 19. Jahrhundert war so unterschiedlich nicht, wie es die Zeitspanne nahe legt. Die Landkarte zeigte auch 1813, als Arndts Libretto für deutschnationale Hymnen in den Druck kam, ein ziemlich buntscheckiges Bild mit zahlreichen Territorialstaaten, nur dass auf ihr seit sieben Jahren die gestrichelten Linien der Reichsgrenzen fehlten. Bereits im Siebenjährigen Krieg war die Schwäche der römisch-deutschen Reichsmacht schonungslos offen gelegt worden - hatte doch ein Reichsfürst, Preußens König Friedrich II., über die römisch-deutsche Kaiserin Maria Theresia obsiegt. Den Trümmern der Reichsidee entstiegen im Hubertusburger Frieden von 1763 zwei deutschsprachige Großmächte: ein gestärktes Preußen und ein geschwächtes Österreich. Sie nacheinander zu besiegen, gelang schließlich Napoleon. Er machte allen Reichs-Illusionen ein Ende. 1806 erklärte Kaiser Franz II. das „Heilige Römische Reich deutscher Nation" endgültig für erloschen. 2.1. Die nationale Bewegung als emanzipatorische Bewegung Man darf nicht vergessen, und Otto Dann hat darauf hingewiesen, dass die nationale Bewegung, bevor sie sich auf einen wie auch immer gearteten Nationalismus ausrichtete, im Kern eine emanzipatorische Bewegung gegen erstarrte politische und kulturelle Traditionen gewesen war.27 Das war im Frankreich von 1789 nicht anders, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich die Französische Revolution in einem Staat vollzog, „der seit dem Spätmittelalter unter Führung des Königtums bereits zu einem Nationalstaat geworden war".28 Die Jakobiner zertrümmerten zwar das alte Interieur, das Haus jedoch übernahmen sie, um es neu einzurichten. Im Unterschied dazu versperrte in Deutschland die politische Lage, wie sie sich nach dem Zusammenbruch selbst der ideellen Reichseinheit darstellte, den Weg zu einer zentralistischen Staatsnation nach französischem Vorbild. Die bürgerliche Revolution, die in Frankreich den monarchistischen Absolutismus durch den Staats- und Kulturabsolutismus der Grande Nation ersetzt hatte, stand auf Pfeilern, die bei dem deutschen Nachbarn nicht oder nicht mehr existierten. Dafür gingen 27 28

Dann 1994, S. 17f. Ebd., S . l l .

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

zu viele Trennmauern durch Deutschland: konfessionelle, territoriale, dialektale. Diese Trias der Uneinigkeit, man könnte auch sagen: diese Vielfalt - im Glauben, im Land und in der Sprache schien den Weg zu jeder Einheit zu versperren. Selbst in ihrer Einstellung zur französischen Besatzungsmacht, die mehrere deutsche Fürsten im Krieg gegen das reaktionäre Preußen unterstützt hatten, waren die Territorialstaaten entzweit. Spätestens da wurde deutlich, dass der Territorialabsolutismus der deutschen Fürsten den verlorenen Reichspatriotismus nicht ersetzen konnte.29 Das Erschrecken über den desolaten Zustand der Reichsgewalt hatte Friedrich Karl von Moser 1765 zu seiner Schrift „Vom deutschen Nationalgeist" inspiriert. Seit den 70er Jahren kamen entscheidende Impulse aus dem Sturm und Drang hinzu. Für die Minorität überwiegend nichtadliger Literaten und Intellektueller, die sich unter dem Eindruck der Aufklärung formierte und die geistige Keimzelle für das Projekt einer gesamtstaatlichen Einigung bildete, prägte Wilhelm Dilthey das bis heute heftig umstrittene Theorem von der „Deutschen Bewegung".30 Klopstock, Lessing, Wieland, der junge Goethe — sie alle stehen für einen Aufbruch, der nicht nur der Literatur neue Wege bahnte, sondern auch ,das' Charakteristische und weithin Gemeinsame des eigenen Volks neu zu fassen und zu gestalten suchte. Diese von Goethe rückblickend als „deutsche literarische Revolution"31 bezeichnete kulturelle Umorientierung der 1770er Jahre erstrebte nicht zwangsläufig eine politische Nationalisierung Deutschlands (man denke nur an Goethes Sympathien für Napoleon), führte aber doch unbestritten zu einer Konturierung dessen, was unter dem Attribut ,deutsch' verstanden werden sollte. Wenn Identität „die Summe unseres Orientierungswissens" ist32, dann veränderte das deutsche Bildungsbürgertum33 in der Initiationsphase ab 1770 insofern die Präferenzen seines Wissens, als es sich nicht mehr aus29

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31 32 33

Vgl. ζ. B. Polenz 1994, S. 1 und S. 8. Zum Phänomen des Reichspatriotismus als eines aus der Krise geborenen „Verfassungspatriotismus" vor Auflösung des Reichs vgl. Waldmann 2003. Der Terminus stammt von Hermann Nohl, erstmals verwendet in „Die deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme" von 1911. Vorgedacht hatte ihn Wilhelm Dilthey in seiner Basler Antrittsvorlesung von 1867: „Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770 bis 1800." Kritisch zur Entstehungs- und Forschungsgeschichte: Dann 1987, S. 308-340. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 11. Buch, 1814, S. 51. Weidenfels 1983, S. 19. Zum nicht unumstrittenen Begriff des „Bildungsbürgertums" vgl. Kocka 1995, S. 43. Trotz aller Zweifel spricht sich Kocka dafür aus, an dem Terminus festzuhalten. Letztlich bestätigt sein Vergleich mit der Intelligenz in anderen europäischen Ländern die deutsche Sonderrolle einer Bildungsbürgerschicht im 19. und auch 20. Jahrhundert, die vor allem aus Beamten, Pfarrern, Anwälten, Ärzten und arrivierten, sozial,geadelten' Künstlern bestand.

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schließlich an einem allgemein westeuropäischen kulturellen Kanon ausrichtete. Der protonationalistische Patriotismus konzentrierte sich auf die Konturierung des Eigenen in emanzipatorischer Abhebung von einem spezifisch Anderen: Deutsches Wesen, deutscher Geist und deutsche Sprache standen nun diametral zur traditionellen Dominanz französischer Philosophie, Kultur und Sprache vor allem in den adligen Kreisen. Die radikale Abwendung von der französischen Klassik, immerhin bis dato kulturelles en vogue der feineren Gesellschaft, verlangte nach einem Ersatz. Statt Voltaire las man nun Herder oder Shakespeare, dieses wiederum von Herder gefeierte Theatergenie der angelsächsischen ,Brüder', während für La Fontaines Fabelsammlungen Werke in den Vordergrund traten, die wie Klopstocks „Göttinger Hain" Stoffe aus der germanischen Mythologie und deutschen Historie zelebrierten. Bildung wurde nun, der neuartige Kanon zeigt es an, verstärkt als Mittel zur Integration in eine nicht ständeexklusiv organisierte Gemeinschaft begriffen. 2.2. Sprache und Bildung als gemeinschaftsstiftende Tangenten Die bürgerliche Gesellschaft, nach Kocka die „Bezeichnung für eine zukünftige Ordnung [...], in der einmal die Idee des Staatsbürgers voll verwirklicht sein würde"34, nahm in ihrer Entwicklung den Umweg über die Station des in Aufklärung und Neuhumanismus wurzelnden Bildungsbürgertums. Der bourgeois musste, wenn er den neuartigen Bildungs-Code als Kern der Nation anerkannt hatte, zum citoyen werden, die Kulturnation zur Staatsnation. Deutschland beschritt in diesem Prozess insofern einen „Sonderweg", als der Einfluss der Bourgeoisie im Vergleich zu anderen europäischen Nationen gering blieb, während das Bildungsbürgertum, die dann fehlende politische Macht ersetzend, stark ausgeprägt war.35 Doch welchen Fixpunkt sollten diejenigen anvisieren, die sich zur gesamtdeutschen Einheit hin orientierten? Welcher Teil der konfessionellen, territorialen und dialektalen Teilungstrias versprach das größte Konsenspotenzial? Die reformatorische Glaubensspaltung war eine nicht mehr zu verändernde Tatsache, und das Endziel der gesamtdeutschen territorialen Einheit eignete sich nicht als Nahprojekt. Blieb also die Sprache. Sie war Teil der Bildung, und sie wurde Bildung. Wenn Bildung als bürgerliches

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Kocka 1995, S. 23. Als Merkmale des Modells einer „bürgerlichen Gesellschaft" sieht K o cka die Verwirklichung individueller Freiheit durch Überwindung absolutistischer Herrschaftsformen sowie klerikaler und standischer Privilegien an Vgl. Kocka 1987, S. 48.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

„Standesprädikat" und „Integrationsmoment" die entscheidende Tangente für bürgerliche Kultur war, dann kam der Sprache die Aufgabe zu, Bildung zu konkretisieren, zu realisieren und die kulturelle Identität der Gebildeten zu definieren.36 Eine deutsche Literatursprache, die Gottsched und Adelung mit ihren Arbeiten zu einer hochdeutschen Grammatik angestoßen, Goethe und Schiller schließlich vervollkommnet hatten, geriet mehr und mehr zum „Sozialsymbol"37, wodurch Bildungsbürgertum und Bildungsdeutsch in einem reziproken „Wirkungs- und Verwertungszusammenhang" standen.38 In der Literatursprache wähnte man, wie es der deutschjüdische Philosoph Heymann Steinthal unter Verweis auf Humboldt und seine Zeit ausdrückte, „die deutsche Idee [...] verkündet".39 An die Stelle des überwiegend universal-sakralen Zusammenhalts, der die Kaiseridee des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation begründet hatte, trat nun der Gedanke der Nation als Sprachnation der Gebildeten,40 Die einmalige Chance für die bis dato ausgeschlossene jüdische Minderheit lag genau in dieser so neuartigen Idee einer lingual gesicherten und sich ihrer selbst versichernden Nationalität. Jakob Grimm brachte diese Idee 1854 im Vorwort des epochal angelegten Nationalprojekts „Deutsches Wörterbuch" in der rhetorischen Frage zum Ausdruck: „Was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und kultur?", um im selben Atemzug die Leser zu beschwören, „welchen reichs, welchen glaubens ihr seiet", einzutreten „in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche"41. Man muss sich die Tragweite dieses Appells im kanonischen Lexikon der deutschen Sprache 17 Jahre vor der deutschen Einheit von 1871 immer wieder vor Augen führen: „welchen reichs, welchen glaubens ihr seief'\ Katholiken, Protestanten und Juden, inländische Emigranten und ausländische Immigranten, dialektale Minoritäten und Majoritäten — all ihnen galt die Aufforderung, solange sie nur Deutsch verstanden, sprachen und schrieben. Ein idiomatisches Reich schwebt Grimm hier vor, das sich erstrecken soll „über den Rhein in das Elsasz bis nach Lothringen, über die Eider üef in Schleswigholstein, am ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches gebiet", dessen Ausläufer „über das salzige meer" bis hin zu anderen Kontinenten gehen. Nicht auf Arndts Besitzanspruch durch Sprache („Das, wackrer

36 37 38 39 40 41

Linke 1991, S. 256. Linke 1996, S. 9 - 1 1 ; Mattheier 1991. Mattheier 1991, S. 42. Steinthal, Über Wilhelm von Humboldt, 1883, S. 24. Vgl. Frühwald 1986, S. 129-141. J. Grimm, Vomde, 1854, S. LXVIII.

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Deutscher, nenne dein!") setzt Grimm den Akzent, sondern auf den Bewahrungsanspruch der Sprache („lernet und heiliget sie") aus Gründen gemeinschaftlicher Selbsterhaltung („eure volkskraft und dauer hängt in ihr"). Die einigenden Kräfte einer sorgsam gepflegten Muttersprache wurden dabei mit diversen Metaphern umschrieben: Grimm und anderen Sprachforschern und -nationalisten des 19. Jahrhunderts erschien sie als das letzte und festeste „Band"42 oder als Pfeiler, der „ein Volk noch zusammen hält, wenn andere Stützen brechen".43 Das jüdische Bildungsbürgertum, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts als „ein Teil des deutschen Bildungsbürgertums" formierte44, sah sich in seiner Ansicht bestätigt, dass vor allem die Sprache den trennenden Graben zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft überwinden helfen würde. Das „Entreebillett" ins Bildungsbürgertum45 war eben zu erlangen über eine fundierte Bildung gemäß einem sich langsam fundierenden Kanon, zu dessen Gradmesser die mehr und mehr standardisierte deutsche Sprache wurde. Und selbst die späteren akkulturationsnegierenden Zionisten konnten, wie noch zu zeigen sein wird, auf jenes Konzept zurückgreifen, das der Sprache einigende Wirkung für alle Zerstreuten zumaß. „Unser heiligstes Gut" nannte der ob seiner deutsch-jüdischen Identität so oft geschmähte Heinrich Heine „das deutsche Wort", „einen Grenzstein Deutschlands, den kein schlauer Nachbar verrücken kann, einen Freiheitswecker, dem kein Gewaltiger die Zunge lähmen kann." Aber nicht nur der Garant nationaler Integrität und individueller Freiheitsrechte war dem Dichter die Muttersprache. Sie bot darüber hinaus „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Thorheit und Arglist ein Vaterland verweigern"46.

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Zur langen Tradition der Metapher des Sprach-„Bands" im sprachreflexiven Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts vgl.: Stukenbrock 2005, S. 447f. W. Grimm, Bericht über das Deutsche Wörterbuch, 1846, S. 519. Vgl. Mosse 1990, S. 168. Von einem „Entreebillett zur europäischen Kultur" hatte Heinrich Heine gesprochen, allerdings bezogen auf die Taufe (zit. n. Brenner 2000, S. 23). Der Dichter war im Juni 1825 zum Protestantismus konvertiert, um nach seinem Doktorexamen Zugang zu bürgerlichen Kreisen zu finden. Zit. n. IdR 4, Heft 11, November 1898, S. 550f. (Edmund Friedemann: „Am Ende des Jahrhunderts"); vgl. dazu Bering 1999, S. 321. Solch emphatisches Lob der Sprache konnte bei Heine in grenzenlose Enttäuschung umschlagen, wenn dem Dichter wieder einmal die judenfeindliche Einstellung Ablehnung seiner Landsleute begegnet war. Nach einer antisemitischen Verbalattacke auf ihn in Burschenschaftskreisen schrieb Heine am 13. April 1822 an seinen Bonner Studienfreund Christian Sethe: „Alles, was deutsch ist, ist mir zuwider; und du bist leider ein Deutscher. Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eignen Gedichte ekeln mich zuweilen, wenn ich sehe, daß sie auf deutsch geschrieben sind. Sogar das Schreiben dieses Billetts

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Bindeglied, Einheitsband und Stützpfeiler, Grenzstein, Befreierin und Vaterlandsersatζ: Die metaphorische Topik zu Sprache als Projektionsfläche gemeinschaftsstiftender Erwartungen ließe sich lange fortsetzen. Bevor das Kulturnationskonzept im Bildungsbürgertum endgültig Fuß fassen konnte, musste die so extraordinäre Rolle der Sprache systematisch-philosophisch untermauert werden. Auf der Grundlage herkömmlicher Philosophien war dies nicht zu erreichen. Dem kopernikanischen Weltbildwandel in Kants Aufklärung musste eine linguale Kehre in der Wissenschaft folgen. Die Sprache, selbst einem Kant keiner längeren Thematisierung wert, war nicht nur sozial und national, sondern auch philosophisch wieder als Protagonist ins Spiel zu bringen. Und wer mit dem französischen Sensualisten Condillac die Sprache recht nüchtern als ein aus Schreien, Assoziationen und Übungen hervorgegangenes, zeichenhaftes Regelsystem begriff47, dem war das geistige und vor allem nationale pathos linguae nicht ins Bewusstsein zu bringen. An zwei Namen lässt sich die beschriebene Wende besonders gut festmachen: an Humboldt und Herder. Sie lieferten nicht nur die theoretische Basis für das Konzept der sprachbestimmten Kulturnation, sie waren auch die Vorbilder, an denen sich die deutschen Juden in ihrem langen Kampf um die Anerkennung gleicher Rechte orientierten.

3. Die sprachphilosophische Basierung: Herder und Humboldt 3.1. Sprache, Nationalität und Humanität bei Herder Johann Gottfried Herders Sprach- und Bildungsphilosophie ist von immenser Bedeutung für die Grundsätze und Forderungen der „Deutschen Bewegung", sowohl im literarisch-philosophischen, als auch im historischnationalen Sinne. Mehr noch als Humboldt, Schiller oder Fichte geriet er zur „Portalfigur" für all jene, welche die Sprache unlösbar mit der Nation verquickten.48 Wie eine neuere Aufsatzsammlung nochmals herausgearbeitet hat, galten seine staats- und kulturphilosophischen Denkanstöße brei-

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wird mir sauer, weil die deutschen Schriftzüge schmerzhaft auf meine Nerven wirken" (Heine, Brief an Christian Sethe, 1822, S. 50). Von Herder als Theorie vom „Geschrei der Empfindungen" vehement attackiert, mutet Condillacs empiristisch-sensualistische Erkenntnistheorie mit ihrem Insistieren auf den semioüschen Charakter der Sprache aus heutiger Sicht äußerst modern an (vgl. Condillac, Essai überden Ursprung der menschlichen Erkenntnis, I, scr. 1, 1746). Bering 1998, S. 272: „Herder - that gateway figure of the German movement."

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ten jüdischen Kreisen in Mittel- und Osteuropa als zukunftsweisend.49 Die missbräuchliche Inanspruchnahme seines Volksbegriffs durch antisemitisch-völkische Kreise konnte nicht verhindern, dass die Verfemten gerade Herders sprachthematisches Humanitätsideal der zynisch-misanthropischen Interpretation einer Auftrennung des Menschseins in „Übermenschen" und „Herdenmenschen" entgegenstellten.50 Herders organisch-anthropologische Konzeption von Bildung und Sprache in ihrer Gesamtheit darstellen zu wollen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Hier kommt es vordringlich darauf an, die wichtigsten Aspekte seines Einflusses auf die Idee einer in der Sprache und durch die Sprache geeinten Nation herauszuarbeiten. Die Grundlage der Herderschen Philosophie bildet die Selbstbestimmung des Menschen. Der Mensch ist mehr als ein Gattungswesen, er ist eine geistige Individualität. Solcherart tritt er als Sprachwesen mit Bewusstsein in die Welt. Wenn der Mensch ohne Sprache nicht denkbar ist — schon weil Denken und Sprache einander bedingen —, dann stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Sprache selbst. Theologische und evolutionsbiologische Deutungen von Sprache lehnt Herder ab. Sprache bzw. Sprechen ist weder ein Geschenk Gottes oder ein Abglanz göttlicher Rede noch ein bloßes Produkt der Evolution: weder ein „Geschrei der Empfindungen" als Kombination von „Schällen" und willkürlichen Zeichen (so bei Condillac) noch ein zu Kommunikationszwecken weiterentwickeltes „Geschrei der Natur" (so bei Rousseau).51 Ihren eigentlichen Sinn erfasst für Herder vielmehr derjenige, der sie als inneres und — im Sprechvollzug - äußeres Verlautbaren des Verstandes bzw. der Vernunft begreift. Der Übergang vom unartikulierten zum artikulierten Laut, also vom Geschrei zum Wort, kennzeichnet zugleich den Ursprung der Vernunft als conditio humana. Menschliches Denken ist sprachlich konstituiert und bezieht Sinnlichkeit und Geist gleichermaßen mit ein.

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Schulte 2003. Der Morgen, Heft 7, Oktober 1927, S. 405 (Robert Arnold Fritzsche: „Herder und die Humanität"). Fritzsche stellt, auf Herder rekurrierend, in dem akademischen Aufsatz über den „uns ehrwürdig[en]" Denker die rhetorische Frage: „Der ,Ubermensch' setzt dem Menschen keine Elle zu, vielmehr vernichtet er den gewissesten menschlichen Anspruch, indem er ihn in dem Anderen kränkt [...] und wenn wir allzumal, schon als ,Geschöpf der Sprache' auch ,Geschöpfe der Herde' sind, was für einen Sinn hat es,,Herdenmenschen' zu verachten [...]?" Vgl. zu Herders Kritik an Condillacs und Rousseaus Auffassungen zu Sprache: Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772, erster Teil, erster Abschnitt.

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3.1.1. Sprache und Nation Im Prozess kultureller Konstitution qua Sprache wird sich der Einzelne seiner unverwechselbaren Individualität bewusst. Zugleich aber stiftet die Muttersprache als gemeinsames Erlebnis - als Form und Fenster des Denkens und Fühlens einer Gruppe — nationale Identität. Herders bündiger Chiasmus: „Jede Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht" 52 , koppelt beide Komponenten, Sprache und Nation, aufs engste aneinander, verschränkt sie regelrecht zu einer Art Komplementärideologie: Sprachen bedürfen der Nationen, die sie sprechen, und Nationen können wiederum nicht anders sein als sprechend. Eine Nation ist für Herder immer eine Gruppe von Menschen, die sich aufgrund einer besonderen Sprache, Lebensweise und Kultur von anderen Gruppen unterscheidet; Nationalität in diesem Sinne bedeutet die positive Konzentration einer Nation auf ihre Besonderheit. Die zentralste Besonderheit ist die gemeinsame Sprache. Die Weltanschauungen, Traditionen und Grundsätze sind wie selbst das ganze Denken einer Nation in der Sprache enthalten und werden im täglichen Umgang mit ihr interaktiv weitergegeben. Sprachgebrauch ist widergespiegelte Mentalitätsgeschichte des Menschen, denn, wie eine Herderforscherin bemerkt: Die ,Gedankenschätze' der Vorfahren bleiben in der Sprache aufgehoben und werden an die Kommenden weitergereicht. Sprachgebrauch bedeutet also auch Konservierung und Fortbildung der Geschichte, mithin der Kultur.53 Noch vor Fichte und lange vor Humboldt interpretiert Herder Sprache als Medium und Movens für die Bildung einer jeden Nation. Für die nationale Bewusstwerdung und Emanzipation sind Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte eines Volkes elementar. Die Herausbildung einer Literatursprache mit einem kanonischen Korpus fördert die nationale Selbstfindung, denn an einem als gemeinsamen Gut erkannten Idiom lassen sich für Herder sowohl die Frage nach der Volkszugehörigkeit des Einzelnen als auch die ,sittliche Güte' der Gemeinschaft messen. Die vollkommene Ausprägung des Wesens einer Muttersprache zeigt sich in der Poesie des ungebildeten Volkes, deren Gehalt Herder in seiner Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern" von 1778/1779 zu entdecken und zu wahren

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Herder, Über die neuere Deutsche Literatur, 1768, S. 18. Vgl. dazu auch Irmscher 1994, S. 198.

Owren 1985, S. 66.

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suchte.54 Die Volkspoesie bringt den je eigenen, unverwechselbaren Weltentwurf jeder Nation hervor; sie enthält, da jede Nationaldichtung kulturelle Wissensbestände von Beginn an widerspiegelt, deren origines. Deshalb sind die Folgen mangelnder Sprachkompetenz und fehlender Sprachliebe weit reichend. Jeder, der der Sprache fremd gegenübersteht, steht zugleich außerhalb des Volks. Umgekehrt gilt jedoch auch: Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. 55

Weil eine Nation erst durch die Sprache „erzogen und gebildet" wird, ist das Zukunftsprojekt einer geeinten deutschen Nation unter Rückgriff auf die kulturellen Güter der Vergangenheit realisierbar. Dabei hängt der nationale eng am idiomatischen Status. Die bewusste Diffamierung der Nationalsprache durch einen Muttersprachler gleicht einem Attentat auf die Nation selbst, denn „Wer die Sprache seiner Nation verachtet [...] wird ihres Geistes [...] gefährlichster Mörder."56 Kaum verwunderlich, dass Herders emphatisches Plädoyer für die untrennbare Verbindung von Sprache, Geist und Nation die unterdrückte deutsch-jüdische Minderheit in der Seele berührte. Und so wirkt Herders Ausspruch wie ein Präludium für Gabriel Rießers Cri de Coeur von 1831, als Letzterer, der spätere deutsch-jüdische Vizepräsident der gesetzgebenden Nationalversammlung von 1848, den Antisemiten trotzig entgegen hielt: Wer mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme; darum muß ich mich gegen ihn wehren, wie gegen einen Mörder. 57

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Vgl. zu Herders Programm der Sprache als „Bildnerin der Nation", vorzüglich verwirklicht in der Volkspoesie: Dann 1987, S. 319-322. Herder, Briefe ?ur Beförderung der Humanität, 1793-1797, 57. Brief (Beilage), S. 287. Zitate ebd. Die berühmte Passage stammt aus einer Erwiderung Rießers auf Einwände gegen seine Schrift „Uber die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen" von 1831, die den völlig unbekannten Juristen mit einem Schlag berühmt machte. Rießer verteidigt sich darin gegen die Einwürfe des Heidelberger Kirchenrats Paulus, der die bürgerliche Gleichstellung der Juden an die Taufe gebunden hatte (vgl. Barschel 1987, S. 16—21). Verständlicherweise taucht Rießers trotzige Aussage gerade in der Publizistik der anti-antisemitischen Apologeten immer wieder auf, ζ. B. in: IdR 4, Heft 1, Januar 1898, S. 5; IdR 12, Heft 12, Dezember 1906, S. 699; IdR 18, Heft 3, März 1912, S. 138; IdR 19, Heft 5/6, Mai 1913, S. 203; IdR 20, Heft 3, März 1914, S. 133.

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3.1.2. Nationalität und Humanität Für Herder strebt der beste Staat nach einem harmonischen Nationalcharakter: „Der natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter."58 Dieses Nation genannte Gebilde eines in der Sprache geeinten und sich verwirklichenden Volksgeistes darf nicht ausschließlich in den eigenen Spiegel starren. Der Prozess der Nationenwerdung erschöpft sich nicht in der bloßen Entfaltung der eigenen Substanz, sondern geschieht in der aktiven Auseinandersetzung mit den Sprachen und kulturellen Selbstentwürfen anderer Völker.59 In dem Moment größter Abgeschiedenheit der eigenen Nation gegenüber anderen Nationen werden alle Möglichkeiten zur kulturellen Entfaltung Gegenwart. Doch diese Abgeschiedenheit impliziert bereits die Notwendigkeit zur weiteren Kontaktnahme. Indem das Innere der Nation sich verwirklicht, kehrt es sich zugleich nach außen und lässt das Volk in den weltgeschichtlichen Zusammenhang treten. Die nationale Individualität bringt sich zum Zwecke des zukünftigen Menschheitswohles ein. Gestaltwerdung und Verbindung mit allem anders Gestalteten gehören zusammen, ohne dass die Konnexion die jeweiligen Disjunktionen aufheben könnte. Damit ist schon angedeutet, was Herder unter dem für ihn so wichtigen Begriff der „Humanität" versteht. Seine Tragweite erschöpft sich nicht in der Übersetzung „Menschheit" und „Menschlichkeit", denn er zielt nicht nur ab auf die individuell menschliche Wesensart und eine vorurteilsfreie Einstellung zum Mitmenschen, sondern stellt jede Nation auch vor die Aufgabe, eine solidarische Wertegemeinschaft mit anderen Nationen zu bilden. Nationalität und Humanität sind Größen, die einander bedingen.60 Dafür nennt Herder zwei Gründe, die auf Leibniz' Monadenlehre und deren Einheit von Grenze und Übergang rekurrieren. Sie sind philosophischer und historischer Natur. Philosophisch betrachtet ist das In-der-Welt-Sein des Menschen notwendig sprachgebundene Reflexion, vermittels derer er in einem Akt sich selbst und seine Welt konstituiert. Die Potenzialität des Menschen drängt nun aber über die Grenze des Individuellen und Nationalen hinaus, denn: Die Tendenz der Menschennatur fasset ein Universum in sich, dessen Aufschrift ist: „Keiner für sich allein, jeder für Alle, so seid ihr alle euch einander werth und glücklich." 61

58 59 60 61

Herder, Ideen ψΓ Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784—91, 9. Buch, S. 384. Vgl. Irmscher2001,S. 45. Irmscher 1994, S. 190f. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793-1797, 123. Brief, S. 300 [Kursive: Α. K.].

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Auch historisch erweist sich die Richtigkeit der Leibnizschen Überlegungen, weil die vergangenen Ereignisse sich dem Betrachter stets im Wechselspiel von Individuation und Extroversion offenbaren. Aus jeder Abwendung von anderen resultiert letztlich eine Hinwendung zu anderem. Wer diese Doppelwertigkeit negiert, verstößt gegen das Gebot der Humanität. Herders Kritik gilt einerseits der partikulären Interessenspolitik und kulturell-politischen Frankomanie des deutschen Adels; sie zielt aber auch ab auf die Vertreter eines übersteigerten Nationalismus, der sich blind zeigt für die geistigen Reichtümer fremder Nationen. „Humanität" sei der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück. Sollte das Wort Humanität also unsre Sprache verunzieren? 62

Hält man hier einen Augenblick inne, dann erkennt man sofort die Schwierigkeiten, welche sowohl die ganz gewiss nicht humanistisch justierten völkischen Antisemiten als auch ihre Geisteskinder, die Nationalsozialisten, mit der (wenigstens zuerst) hymnisch besungenen ,klassischen' deutschen Kultur haben mussten, während sie der jüdisch-bürgerlichen Mentalität genau zupass kam. 3.1.3. Herder, ein Sprachnationalist? Es ist in jüngster Zeit immer wieder darauf hingewiesen worden, dass ein übersteigerter Nationalismus nicht erst mit der Romantik entstanden ist; dass es vielmehr eine dunkle Seite der Aufklärung gegeben hat, derer sich ein fremdenfeindlicher und aggressiver Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts bedienen konnte63; dass sich schließlich in diesem frühen nationalen Diskurs Widersprüche selbst in den Werken von Denkern aufweisen lassen, die gemeinhin als vollkommene Antipoden zu den späteren Hypostasierungen deutscher ,Art' erscheinen — Denker wie Herder eben. Herrmann schreibt dem Philosophen in dessen Langpoem „An den Genius Von Deutschland" aus dem Jahre 1770 eben jene paradoxe Dichotomie zwischen Distanz und männlichkeitsverliebter Nähe zum nationalistischen Germanenmythos zu, das späterhin ein wichtiger Bestandteil

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Ebd., 27. Brief, S. 183. Jüngst wieder Stukenbrock 2005, S. 7f. u. S. 21 f.

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des völkischen Habitus wurde.64 Dennoch sei Herders nationaler Patriotismus, so Herrmann, weder exklusiv noch exkludierend, weder einseitig auf- noch abwertend, weshalb ein aggressiver Nationalismus sich keinesfalls auf ihn berufen könne.65 Stukenbrock findet bei Herder Hinweise auf eine sprachthematische Wertehierarchie „unter dem Rückgriff auf [...] Völkerstereotype".66 Tatsächlich hat Herder ein seit dem deutschen Humanismus des 15. Jahrhunderts bekanntes Stereotypen-67 und Mythisierungsarsenal genutzt, um seine „Deutschlandbilder" mit nationalem Pathos aufzuladen und gegen die empfundene Dominanz französischer Sprache und Kultur in Stellung zu bringen. Jedoch ist dies bei ihm nicht Ausdruck eines chauvinistischen Überlegenheitsdenkens und Sendungsbewusstseins. Der Humanitätsgedanke, „untrennbar mit dem der Nationalität verbunden"68, stellt jeden Einzelnen vor die Aufgabe, „von jeder Nation, von der wir lernen können, [zu] lernen"69. Dies gilt ebenso für Herders Muttersprachenideologie, ist ihm doch „die lappländische Sprache [...] so gut wie die römische"70. Bezogen auf das deutsch-jüdische Verhältnis sieht Shulamit Volkov in Herders Schrift „Vom Geist der hebräischen Poesie" einen „linguistischen Nationalismus" gegeben, der zwischen judenfeindlicher Diffamierung und emphatischer Bewunderung laviert.71 Gerade Herders Sprachphilosophie eröffnete, so Volkov, den deutschen Juden keine Integrationschancen, sie bildete, ganz im Gegenteil, ein Emanzipationshindernis. Indem Herder die Erlernung einer fremden Sprache als Entfremdung von individuellen und nationalen Ursprüngen gedeutet habe, sei den Juden der Weg in die deutsche Gesellschaft gerade qua Sprache unmöglich gemacht worden.72 Zweifellos stimmt daran: Herders Beziehung zu den Juden ist gekennzeichnet von Polarität. Ideologische Instrumentalisierungen finden sich bei ihm neben engagierten Abweisungen antisemitischer Vorurteile. Seinem wie64 65 66 67

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Vgl. Herrmann 1998, S. 119. Er tat es, wie die von Jost Schneider herausgegebene Aufsatzsammlung dokumentiert, dennoch ausgiebig und wie meist philologisch skrupellos (Schneider 1994). Stukenbrock 2005, S. 217f. Unter „Stereotyp" ist ein starres, gleichförmiges, weitgehend erfahrungs- und lernresistentes System von Anschauungen, Ansichten oder Urteilen über eine Gruppe zu verstehen, wobei die Komplexität des stereotypisierten Sachverhalts über Gebühr reduziert wird. Tatsächliche oder vermeintliche Eigenschaften von tatsächlichen oder vermeintlichen Mitgliedern der stereotypisierten Gruppe werden undifferenziert auf das Kollektiv übertragen (vgl. Quasthoff 1973). Irmscher 1994, S. 191. I Icrder, Briefe ^ur Beförderung der Humanität, 1793—1797, 113. Brief, S. 206. Zit. n. Dann 1987, S. 319, Anm. 35. Volkov 2001, S. 83. Ebd., S. 86.

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derholten Hinweis auf das auch sprachlich genialische Gottesvolk steht die für sich judenfeindliche Aussage entgegen, das Judentum sei „als parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen" anzusehen. Doch sind dies rezeptive bzw. analytische Rekurse damaliger Urteile über Juden, die nicht einfach gleichzusetzen sind mit Herders eigener Ansicht.73 Volkovs Urteil über Herders Sprachmodell ist zu einseitig, denn für ihn bedeutet Emanzipation keinesfalls, die Identität durch vollständige Angleichung an anderes und andere aufzugeben, gleichsam auszulöschen. Um ihm nachzuweisen, er habe „keinen Raum für jüdische Individualität" gelassen, zitiert Volkov den oft gelesenen Ausspruch Herders: „Es wird eine Zeit kommen, da man in Europa nicht mehr fragen wird, wer Jude oder Christ sei: denn auch der Jude wird nach Europäischen Gesetzen leben, und zum Besten des Staats beitragen." Jedoch ist damit keine Nivellierung jüdischer Einzigartigkeit gemeint, sondern allein die Verbesserung der bürgerlich-rechtlichen Situation durch Akkulturation. Entweder Herder fordert, wie Volkov behauptet, die Eliminierung jüdischer Identität oder er deklariert, als Sprachnationalist, die unauflösliche IdentitätsBindung der Juden an das von ihm hoch geschätzte und für ihn erhaltenswerte Hebräische. Beides zugleich geht nicht. Tatsächlich aber findet sich in der Schrift „Vom Geist der hebräischen Poesie" kein wirklich zwingender Beleg für Volkovs These. Stattdessen stehen, wie gesagt, die Bewahrung von Einzigartigkeit und die Amalgamierung anderer Kulturgüter bei Herder in einem reziproken Verhältnis. Die Offenheit für andere Sprachen ist dem Verständnis der eigenen kulturgebundenen Individualität genauso förderlich, wie die Pflege der Primärsprache das Erlernen von Sekundärsprachen hilft: „Wenn wir unsere Muttersprache auf der Zunge

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Vgl. Menges 1996. An zwei Stellen spricht Herder in den Ideen vom Judentum als Volk von Wucherern und vergleicht es mit einer „parasitische[n] Pflanze", die am „Saft" „beinahe aller Europäischen Nationen" sauge (Herder, Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784-91, 16. Buch, S. 284) bzw. auf deren „Stämmen" sitze (ebd., 12. Buch, S. 67). Der Stil dieser Passage ist unglücklich, wirkungsgeschichtlich desaströs und aus heutiger Sicht hochgefährlich. Allerdings waren Anthropomorphismen wie der bei den einschlägigen Judenfeinden Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts so beliebte Wirt-Parasit-Dualismus zur Zeit der Abfassung der Ideen noch nicht per se für antisemitische Zwecke instrumentalisiert. Zudem relativiert Herder seinen Ausspruch auch wieder, indem er die eigentliche Schuld an angeblichen Verfehlungen des Judentums in einer rigiden antijüdischen Politik der Christen sieht. An einer positiven Anteilnahme am europäischen Geistesleben hat den Juden allein „eine barbarische Verfassung [...] hindern oder seine Fähigkeit schädlich machen mögen" (vgl. ebd., 16. Buch, S. 284). Kein völkischer Antisemit späterer Zeit würde so argumentieren. In dieser Weise wurde Herder im Übrigen auch von der antiantisemitischen Abwehrliteratur gegen Vereinnahmungsversuche der Völkischen in Schutz genommen. Vgl. dazu: Bürger (VAA), Antisemiten-Spiegel, 1911, S. 364f.

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behalten: so werden wir desto tiefer in den Unterschied jeder [fremden] Sprache eindringen."74 Das ideale Resultat polyglotter Kenntnisse ist ein kosmopolitischer Horizont des Denkens. Einer der besten Kenner Herders, Hans-Dietrich Irmscher, hat es untermauert: Das Eintauchen in eine andere Sprachgestalt sichert für Herder „den Zusammenhang des Menschengeschlechts".75 Ein Sprachnationalist, gar einer chauvinistischen Schlags, ist Herder also nicht gewesen. Humboldt, der viele von Herders Theoremen aufgriff, erweiterte und für pädagogische Ziele nutzte, war es ebenso wenig. 3.2. Sprache, Denken und Nation bei Humboldt Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie übte auf nachfolgende Sprach- und Bildungstheorien einen immensen Einfluss aus. Seine Leitbildfunktion für das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum in den Jahren vor und auch nach der politischen Zäsur von 1933 ist kaum zu überschätzen und lässt sich schon allein aus den zahlreichen Laudationes auf ihn ersehen.76 Der im C.V. tätige Literaturhistoriker Julius Bab stellte Humboldt ausdrücklich in die Reihe von Künstlern und Denkern, denen das Judentum den „Urgrund" seines „Wesens und Handelns" zu verdanken habe.77 Im Folgenden sind diejenigen Aspekte in Humboldts Sprachmodell von Interesse, die für das Kulturnationskonzept und für dessen Implementierung relevant zu sein versprechen. Im Anschluss an Herder ebnete

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Herder, Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen, 1764, S. 6. Innscher 2001, S.46f. Vgl. IdR 24, Heft 6, Juni 1918, S. 237-244 (Theodor Wieruszowski, „Wilhelm von Humboldt und seine Beziehungen zu den Juden"); CVZ 29/20. Juli 1928, S. 409-11 (Fritz Friedländer: „Bilanz/Unser Grundcharakter im Spiegel der Vergangenheit"); Der Morgen, Heft 1, April 1935, S. 21 (Felix Hirsch: „Der Künder der Humanität: Wilhelm von Humboldt und das deutsche Judentum"). Auch in zionistischen Organen wie Herzls Zeitschrift „Die Welt" wird früh an Humboldts staatsmännischen „Humanismus" erinnert: Die Welt 40, 7. Oktober 1898, S. 13 („Bücherwelt. Wilhelm von Humboldt als Staatsmann von Bruno Gebhardt"). Vgl. auch die Schriften des deutsch-jüdischen Sprachwissenschaftlers Heymann Steinthal (1826-1899), dessen Philosophie in Humboldts Spuren geht: Steinthal, Über Wilhelm von Humboldt, 1883; ders., IVon der Liebe %ur Muttersprache, 1867. Diametral dazu steht die Wertung von Seiten antisemitischer Schreiber, die 1935 betonten, „daß Wilhelm von Humboldt uns Heutigen keine eindeutige Größe sein könne", denn er ließ „die völkische Fremdheit [...] nicht gelten" (Grau, Wilhelm von Humboldt und das Problem des Juden, 1935, S. 10 u. S. 55).

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Der Morgen, Heft 3, August 1933, S. 187 (Julius Bab: „Das Kulturproblem der Juden im heutigen Deutschland").

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Humboldt der vergleichenden Sprachforschung den Weg und analysierte die Struktur der Sprache neu. 3.2.1. Sprache und Denken Sprache ist die „ewig wiederkehrende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"78. Unter epistemologischem Blickwinkel bedeutet Sprache für Humboldt also die - innerliche oder äußerliche — Verlautbarung' des Denkvollzugs, welcher in der Weise gegliedert sein muss, dass er zwischen Denkendem und Gedachtem unterscheidet. Sprach- und Denkvollzug selbst sind eins und darum nicht systematisch unterscheidbar. Der Sprach- und Denkvollzug erstreckt sich notwendig raumzeitlich, denn er findet statt in den Formen der Sinnlichkeit. Zur unerlässlichen Bedingung für Sprache und Denken gehört die leibliche Verfasstheit eines Subjekts mit Bewusstsein. Deshalb — und hierin unterscheidet Humboldt sich am deutlichsten von Kant — kann es kein reines Denken geben.79 Das In-der-Welt-Sein des Menschen äußert sich sprachlich, und zwar einerseits rezeptiv, also durch Akkumulation von Gegenstandseindrücken im Intellekt, und andererseits spontan, das heißt durch aktive Angleichung von Bildern an Begriffe durch den Intellekt. Humboldt hat die Sprache ganz wesentlich von der Vermittlung her gedeutet.80 Zwar bedeutet der Aktus des Sprechens, einer Mittel-Zweck-Relation zu folgen81, da wie gesagt erst der sprachliche Laut die Äußerung des Gedankens ermöglicht; doch erschöpft sich das Wesen der Sprache weder in ihrer pragmatischen, schon gar nicht in ihrer syntaktisch-grammatikalischen Funktion, da Sprache immer auch eine autonome Kraft, ein Selbstzweck bleibt. Nicht nur Stimme der Gedanken und „Emanation des Geistes"82 ist sie, sondern umgekehrt auch das die Gedanken „bildende Organ" 83 zur Verwirklichung des Geistes. Humboldt definiert Sprache genetisch, und zwar als

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Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 36. In dem Fragment „Über Denken und Sprechen" von 1795/1796 schreibt Humboldt, in scharfer Distanzierung von Kant: „Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam festhalten" (Humboldt, Über Denken und Sprechen 1795/1796, S. 582). Heintel 1991, S. 69f. Humboldt, Über die Kawi Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 37. Ebd., S. 17. Ebd., S. 53.

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„etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes"84. Sie vermag den menschlichen Wortschatz (ergon) und Wortvollzug (energeia) 85 permanent umzuwandeln, was sie davor bewahrt, als fertiges Produkt missverstanden zu werden. Sie ist Realität und steht in sozialen Verwendungszusammenhängen, aber sie bewirkt auch Realität. Sie ist Erzeugnis, aber auch Erzeugerin. Oder, in der Terminologie Ferdinand de Saussures: Sie ist Langue und Parole, System und Anwendung. Weil Humboldts sprachphilosophischer Schwerpunkt jedoch auf der Deutung der Sprache als einer „Tätigkeit" liegt, schafft die Sprache viel eher die Regelsysteme als umgekehrt die Systeme die Sprache.86 Insofern ist Sprache auch nicht nur bloßer Ausdruck des Denkens und der Gefühle, sondern hat Einfluss auf beides: sowohl auf die „Denkkraft" des Sprechenden als auch auf dessen „Empfindung und Sinnesart."87

3.2.2. Sprache und Nation In jeder Sprache und jedem Denken ist eine dem Geist eigentümliche, individuelle Sicht der Welt enthalten. Im Sprechvollzug wird diese „Weltansicht"88 geäußert, und zwar in jedem Wort und unabhängig davon, ob sie mit Inhalt gefüllt oder thematisiert wird. Die Geisteskraft, die sich in der Sprache äußert, bringt Einheit in die Verschiedenheit, lässt das größtmögliche Allgemeine bei der größtmöglichen „Individualität" zu. Da eine nationale Sprachgemeinschaft aus Individuen besteht und teilnimmt an einem Kosmos vieler Nationen, kann sie selbst als eine Individualität aufgefasst werden: Eine Nation in diesem Sinne ist eine durch eine bestimmte Sprache charakterisirte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totaütaet individualism. 89

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Ebd., S. 36. Ebd., S. 46. Sie dagegen in erster Linie als eine bloße „Verschiedenheit von Schällen und durch Uebereinkunft entstandenen Zeichen" verstehen zu wollen hieße nach Humboldt, sie ihrer autonomen Wirkkraft gänzlich zu berauben (Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827-1829, S. 127). Wenn Sprache nur ein — gleich ob deterministisch oder arbiträr entstandener - semiotischer Code ist, der phonetisch nach außen dringt, dann wird die duale Analogie von Sprache und Denken als Geisteseigentümlichkeit des Subjekts anzweifelbar. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827-1829, S. 111. Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 52. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827-1829, S. 125.

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Die gleichen sprachphilosophischen Gesetze wie für das Individuum gelten dann auch für das nationale Ganze. Das heißt im Anschluss an Herder: In der Sprache einer Nation wird immer auch die nationale Sicht der Welt geäußert. Wenn erstens als anthropologische Basis für jedes Individuum Denken gleich Sprache und Sprache gleich Denken ist,90 wenn zweitens „in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht" zur Geltung kommt91 und wenn drittens Völker sich wie „große Individualitäten" verhalten92 - dann sind die Gedanken eines Volkes je schon ausgesprochen: Die Geisteseigenthümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung in einander, dass, wenn die eine gegeben wäre, die andere müsste vollständig aus ihr abgeleitet werden können. [...] Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache. 93

Sprache „bricht" regelrecht, wie es an anderer Stelle heißt, „aus dem Munde einer Nation" hervor94 und vermittelt dabei deren geistige Spezifika, die die Sprache lexisch in sich trägt. Motor dieses Prozesses sind für Humboldt nicht irgendwelche Abstammungskriterien,95 also gerade nicht jene rassischen Besonderheiten, welche die Antisemiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt ihrer Daseinsdeutungen rücken sollten. Den Antrieb bildet ganz im Gegenteil eine dem Geist innewohnende „Kraft", die - analog zur Leibnizschen Monadenlehre — als substanzielle Energie alles Seienden teleologisch aus sich selbst heraus wirkt. „Kraft", folgert Menze, „ist für Humboldt das Urprinzip alles Seienden."96 Die geschichtlichen Kausalprozesse von Ursache und Wirkung werden durch die individuellen Spontaneitätsereignisse der Geisteskraft durchbrochen. Weil Sprache zugleich ein kausales und spontanes Phänomen ist, kann sie kein reines Werk der Nationen sein. Denn wenn sie dem einzelnen denkenden Subjekt gegenüber Autonomie bewahrt, dann auch gegenüber dem nationalen ,Subjekt'. Sprache „lebt und webt in der Natio90 91 92 93 94 95

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Humboldt, Ober die Kam Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 52. Ebd., S. 60. Ebd., S. 48. Sprache sei, „in welcher Gestalt man sie aufnehmen möge, immer ein geistiger Aushauch eines nationeil individuellen Lebens". Ebd., S. 42. Humboldt, Uber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—1829, S. 125. Vgl. ebd., S. 196f.: „Die Sprache aber geht ganz aus der geistigen Natur des Menschen hervor. Selbst die Verschiedenheit der Sprachorgane, die man übrigens, soviel mir bekannt ist, nie von den Racen behauptet hat, könnte nur unwesentliche Eigenthümlichkeiten hervorbringen, da dasjenige, worauf die Articulation beruht, gleichfalls [...] ganz intellectueller Natur ist." Menze 1965, S. 96.

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nalität", geschaffen ist sie nicht von ihr. Die Nation ist jene notwendige Stufe auf dem Wege zur Bildung des Menschen, die in ständiger Wechselwirkung zwischen Individualität und Menschheit vermittelt: J e mehr man einsieht, dass die Wirksamkeit der Einzelnen [...] doch nur in dem Grade eingreifend und dauerhaft ist, in welchem sie zugleich durch den in ihrer Nation liegenden Geist emporgetragen werden [...] desto mehr leuchtet die N o t w e n digkeit ein, den Erklärungsgrund unserer heutigen Bildungsstufe in diesen geistigen nationalen Individualitäten zu suchen. 97

Man ahnt, was solche Grundpositionen für jüdische Menschen bedeuten mussten, die, lange Zeit nur als Fremde beachtet und geduldet, nach der Emanzipation mit ebenso großen wie schnellen Schritten auf die Mehrheit zugingen, vor allem auf deren Bildungsideale. Sprache war und ist seit jeher ein sozialer Indikator für Bildung. „Durch Bildung wird der Mensch zum Bürger", schreibt George L. Mosse in seiner Charakterstudie des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums, „und wie dieser Bildungsbegriff für Wilhelm von Humboldt die Eintrittskarte zum aktiven Bürgertum darstellte, so gab er den neu emanzipierten Juden die Chance, Bürger zu werden." 98 Die rechtlich so lange benachteiligte jüdische Minderheit sah auf der Grundlage von Humboldts und Herders Sprachphilosophien ihre Chance zur Integration gekommen. Wenn Sprache die rationale und emotional-sensitive Sphäre des Menschen bestimmte und bewegte, während ihr gleichzeitig die Macht zur Konstituierung nationaler Wirklichkeit und Zugehörigkeit überantwortet war, dann blieb kein Raum mehr für religiöse oder biologische Ausschlusskriterien gegen Minderheiten - solange diese nur der Sprache mächtig waren und den Bildungsanforderungen genügten.

3.2.3. Die Form der Sprache Doch wenn Sprache als Prozess des Sprechens mit all seinen transitorischen Merkmalen vordringlich Veränderung und Umgestaltung ist, wo soll sich dann die (notwendig konstante) innere Einheit der Sprache verankern lassen? Und wie soll der Sprachforscher die nationale „Geisteseigenthümlichkeit" 99 von Sprachen wie des Lateinischen oder Altgriechischen eruieren, deren sie beherbergende Nationen bzw. Reiche längst untergegangen sind? Humboldt bleibt die Antwort darauf nicht schuldig:

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Humboldt, Über die Kawi Sprache auf der InselJava, 1830-1835, S. 37. Mosse 1990, S. 169. Humboldt, Über die Kam Sprache auf der InselJava, 1830-1835, S. 42.

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D a s in dieser Arbeit des Geistes, den articulirten Laut z u m Gedankenausdruck zu erheben, liegende Beständige und Gleichförmige, so vollständig, als möglich, in sein e m Z u s a m m e n h a n g e aufgefasst und systematisch dargestellt, macht die F o r m der Sprache a u s . 1 0 0

Form meint nach Humboldt einmal die grammatische Geformtheit und den lexikalischen Stamm einer Sprache. Form ist aber vor allem die innere Einheit, die alle Details einer Sprache durchwirkt. Wie wandelbar und verwandelnd Sprache auch ist, so liegt in der Arbeit des Geistes, den Laut zum Sprachrohr seiner Gedanken zu machen, doch auch Beständigkeit: Allein schon der Drang jedes Individuums oder jeder nationalen Individualität, „dem Gedanken und der Empfindung Geltung in der Sprache"101 zu verschaffen, ist eine solche Konstante. Beide Form-Momente — lexikalische Geformtheit und innere Einheit — sind elementar für den Mutter- wie Fremdsprachenerwerb. Mittels der Sprach-Form als einer gleichsam symbolischen Repräsentation kollektiver Wissensbestände lassen sich Rückschlüsse auf den Charakter der Nation ziehen, die die fragliche Sprache spricht. Das gilt auch für die Idiome untergegangener Staaten und Reiche. Mit seinem Theorem von der synchronisch konstanten Form der Sprache hatte Humboldt eine Grundlage geschaffen, auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts auch die kulturzionistisch orientierten Nationaljuden in ihrem Sprachkonzept aufbauten. Zwar betont Humboldt die exzeptionelle Stellung des Altgriechischen besonders im pädagogischen Kontext, weswegen das Hebräische bei ihm, anders als bei Herder, keine größere Aufmerksamkeit findet.102 Doch prinzipiell konnten Humboldts sprachphilosophische Schlussfolgerungen ebenso für das Hebräische gelten. Logisch gefolgert, musste natürlich auch in der hebräischen Sprach-Form das Geistes- und Kulturgut der faktisch inexistenten jüdischen Staatsnation enthalten sein, so dass eine Neuetablierung der alten Nationalsprache eine Renationaüsierung des Volkes mit sich bringen würde.

100 Ebd., S. 47. 101 Ebd. 102 Das deutsch-jüdische Verhältnis behandelt Humboldt in seinen großen sprachphilosophischen Werken an keiner Stelle. Es fallt auf, dass er, der universal gebildete Komparatist, sich auch nicht zur hebräischen Sprache äußert. Das könnte - spekulativ — mit seiner Funktion als Staatsbeamten zusammenhängen. In ihr wirkte er so wesentlich an der Gestaltung des Emanzipationsedikts und der Namensänderungen deutscher Juden mit, dass sein Schweigen über das Hebräische nicht unbedingt auf Desinteresse oder Ignoranz schließen lassen muss, sondern auch als Sensibilität gedeutet werden kann.

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3.2.4. Fremdsprachenerwerb als Objektivierungsleistung Mit Kant geht Humboldt davon aus, dass keine Erfahrung bloß rezeptives Schauen von etwas Vorgegebenem sein kann, sondern stets schon kategorial gesteuerte Gegenstandskonstitution ist. Der Geist versucht immer wieder, bestimmte Abschnitte der Erfahrung zu einer Einheit zusammenzufassen. Um die Momente seiner subjektiven Akte als objektive Einheiten behandeln zu können, muss er sie aus sich herausstellen, sie sich und anderen objektivierend gegenüberstellen. Ohne Sprache und Sprechen wäre all dies, wie gesagt, unmöglich. Die anschauende Tätigkeit der Sinne bildet im Denken ein Objekt. Sinnestätigkeit und Geisteshandlung wirken dabei wie zwei Kräfte, die sich „synthetisch verbinden"103. Aus dieser Synthesis „reißt sich die Vorstellung los", und zwar mithilfe des Sprachlautes.104 Sie steht also kurze Zeit außen vor, ,distanziert' sich sozusagen, und kehrt dann, wahrgenommen und somit objektiviert, in die Synthesis zurück. Nach Humboldt gibt es nun aber noch eine zweite, weiter gehende Möglichkeit, die Individualitätsperspektive zu überschreiten. Es ist die Erlernung einer anderen Nationalsprache: ...und da auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivität einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht. [...] Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht seyn und ist es in der That bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. 105

Durch Fremdsprachenkompetenz vermag das Subjekt den Geist — enger gefasst: die Kultur - eines Volkes so kennen zu lernen, als würde es ein bestimmtes Individuum kennen lernen; erst dadurch kann es wirklich aus der Innenperspektive seines Geistes heraustreten, der ihm die Gegenstände der Welt immer nur in Sprache vermittelt. Das Subjekt überprüft seine überkommenen Ansichten anhand neuer Standpunkte, korrigiert oder verteidigt das Alte, wird offen für Neues, mit einem Wort: Es objektiviert seine individuelle Weltsicht. Und indem der Einzelne den Geistesgedanken anderer Völker näher steht, wenn er deren Sprache kennen lernt, nähert er sich dem „allgemeinen Endzweck" menschlicher Existenz, von dem Humboldt spricht: dem Wissen um die ganze Menschheit, das jedem menschlichen Individuum innewohnt. Hierin und in dem Gedanken einer transnationalen Ursprache aller Idiome mit entsprechenden ,Universalien' 103 Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel ]ava, 1830-1835, S. 55. 104 Ebd., S. 55. 105 Ebd., S. 60.

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zeigt sich wohl am deutlichsten die humanistisch-kosmopolitische Dimension der Humboldtschen Sprachphilosophie106. Die enge, rationellemotionale Bindung des Sprachsubjekts an seine Muttersprache wird durch Fremdsprachenerwerb nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Sie lässt sich durch das Verständnis für andere Denk- und Empfindungsweisen noch verstärken. Auch hier sind, das dritte Kapitel vorausgreifend, die Verbindungslinien zur deutschen Judenheit leicht zu ziehen. Innerhalb der Sprachakkulturation vom West-Jiddischen zum nationalen Leitidiom des Neuhochdeutschen wurde den deutschen Juden die Zweitsprache Deutsch allmählich zur Primär- und Muttersprache. Mit der Aneignung der Nationalsprache nahmen sie nach damaligem Denken zugleich die Kulturgüter der Nation in sich auf und entwickelten ein deutsches Nationalbewusstsein. Dieser Trans formationsprozess, kompatibel mit Humboldts Sprachverständnis, stand antisemitischen Rassedoktrinen diametral entgegen. Die sprachphilosophische Schlussfolgerung entsprang der alten Sehnsucht nach nationaler Gleichberechtigung. Sie artikulierte sich in der Hoffnung, dass spätestens die deutsch-jüdische Generation nach 1870 nicht mehr aus der Nation eskamotiert werden könnte, wenn diese Generation erst einmal mit der neuhochdeutschen Leitvarietät als Primärsprache aufgewachsen sein würde. 3.2.5. Humboldt als Wegbereiter einer rassischen Sprachbewertung? Es darf nicht unterschlagen werden, dass sich zu diesem klassischen Deutungsansatz einer mentalitären Korrelation von Sprache, Denken und Nation in Humboldts Sprachmodell vereinzelt auch Gegenstimmen gemeldet haben, die im Extremfall in ihm sogar einen „Eröffner des Weges zur rassenbezogenen Sprachendeutung" sehen wollten.107 Diesem Urteil Ruth Römers kann nicht zugestimmt werden. Zwar ist Humboldt ebenso wenig wie Herder frei von jeglicher Tendenz zur Anthropomorphisierung, und unbestreitbar hat er gelegentlich von „Racen" und öfter von „Abstammung" gesprochen. Jedoch rechtfertigt keine der von Römer angeführten 106 Humboldt reflektiert immer wieder die Idee einer menschlichen Ursprache und Universalsprache und konstatiert, „dass die Sprache eigentlich nur Eine, und es nur diese eine menschliche Sprache ist, die sich in den zahllosen des Erdbodens verschiedenen offenbart" (Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—1829, S. 112). 107 R. Römer 1985, S. 138.

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Passagen die Schlussfolgerung, Humboldts Annahme einer natürlichen Veranlagung der Völker habe einem rassischen Linguismus die Bahn bereitet. Humboldts eigene Äußerungen wie auch die Rezeption seiner Sprachphilosophie widerlegen eine solche Interpretation. In den langen Ausführungen zum Begriff der „Race" in der Schrift „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues" von 1827-1829 wendet sich Humboldt dezidiert gegen das Primat einer rassisch determinierten Hierarchisierung der Sprachen.108 Auch ist Humboldt nie zu einem bevorzugten Studienobjekt antisemitischer Umdeutungsexperten avanciert. Wenn er nach 1933 zum Angriffsziel völkischer Publizisten wurde, dann gerade als ein Denker, der „nichts von völkischen Werten" gewusst habe.109 Wilhelm Graus Schrift zum 100-jährigen Gedenken an Humboldts Tod am 8. April 1935 ist eine Abrechnung mit Humboldts Liberalismus und keine Würdigung seiner historischen Bedeutung. Humboldts „gespaltener völkischer Instinkt", seine „Disposition für das Jüdische", seine „verträumte und unwirkliche Intellektualität" hätten, so Grau, der verhängnisvollen jüdischen Emanzipation erst den Boden bereitet.110 Das gelte für die Ausarbeitung der Emanzipationsedikte, das gelte aber auch für Humboldts enorme Gewichtung der sprachgebundenen Akkulturation: „Humboldt zählte den modernen aufgeklärten Juden, der sich die deutsche Sprache angeeignet hat, zum Begriff,Deutschland'." 111 Als Humboldt seine großen sprachphilosophischen Werke veröffentlichte, war Napoleon geschlagen, Preußen zu einer Weltmacht aufgestiegen. Humboldt hatte es vermieden, seine Theoreme durch die nationale

108 So schreibt Humboldt im Paragraf 77 ausfuhrlich: „Dass die Sprachen nicht racen-, ja genau genommen nicht einmal nationenweise unter dem Menschengeschlechte vertheilt sind, und dass sich insofern nicht unbedingt von Gleichheit der Sprache auf Gleichheit der Abstammung schliessen lässt, leuchtet von selbst in die Augen. Geschichtliche Ereignisse können Nationen verschiedenen Stammes dieselben Sprachen, und umgekehrt mittheilen. [...] Eine schwierige und wichtige Frage aber ist es, ob die racenartige körperliche Verschiedenheit des Menschengeschlechts, die, welchen Ursprung sie auch gehabt haben möge, sich jetzt ausschliesslich durch Abstammung fortpflanzt und verändert, einen Einfluss auf die Beschaffenheit und Bildung der Sprache ausübt, oder nicht? Vollkommen lässt sich zwar auch diese Frage nicht entscheiden, da der ursprüngliche Zustand durch so viele dazwischen getretene Ereignisse verändert seyn kann, dass der heutige dadurch völlig unbeweisend wird. Allein die innere Wahrscheinlichkeit und die jetzige Erfahrung sind durchaus gegen eine solche Annahme. Wie verschieden der Mensch in Grösse, Farbe, Körperbildung und Gesichtszügen seyn möge, so sind seine geistigen Anlagen dieselben" (Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827-29, S. 196) [Kursive: Α. K.]. 109 Grau, Wilhelm von Humboldt und das Problem des]uden, 1935, S. 55. 110 Ebd., S. 13 u. S. 56. 111 Ebd., S. 56.

Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte

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Monoperspektive einzuengen: Die Prinzipien galten bei ihm universell, also für jede menschliche Sprache. Nicht so bei Fichte.

4. Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte Johann Gottlieb Fichtes Vorlesungen „Reden an die deutsche Nation", gehalten zwischen dem 13. Dezember 1807 und dem 20. März 1808, sind ein ebenso engagiertes wie umstrittenes Plädoyer für die deutsche Nation und Nationalsprache. Mit ihnen wollte der zu diesem Zeitpunkt schon populäre Jenaer Dozent ein neues nationales Selbstbewusstsein etablieren. Explizit rekurriert Fichte auf Arndt, wenn er am Ende Zielperspektive und Adressatenkreis der 14 Reden benennt: Anvisiert sei die „ganze deutsche Nation" und angesprochen jeder in einem geografischen Raum, „so weit die deutsche Zunge reicht". 112 Zahlreiche Intellektuelle, denen die Sprache Prägestempel und Gradmesser der Nation war, beriefen sich auf Fichte als ihren geistigen Vater. Die enorme ideengeschichtliche Wirkung der Reden beschränkte sich nicht auf die Akteure des deutschen Einigungsprozesses. Auch kulturzionistische Denker wählten Fichte zu ihrem ideologischen Vorbild, 113 von liberal-jüdischen Allusionen auf ihn ganz zu schweigen. Seine Reden bildeten die Grundlage für spätere Sprachreinigungsbestrebungen und gaben dem Sprachnationalismus der Folgezeit entscheidende Impulse. Zeitlich stehen Fichtes Reden zwischen Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" und Humboldts Sprachanalyse in der Einleitung zum KawiWerk. Trotz einiger Übereinstimmungen gerade mit Herder gab Fichte die entscheidenden Anstöße, ein ursprünglich eher kosmopolitischuniversalistisch ausgerichtetes Korrelat von Sprache und Nation in Richtung einer höherwertigen Exklusivität der deutschen Sprachnation zu lenken.

4.1. Leichenstarre gegen Lebenskraft: „Tote" und „lebendige" Sprachform Fichtes Reden entwickeln das Projekt einer allgemeinen deutschen Nationalerziehung. Der Staat wird verstanden als geistige Größe, welche die Gemeinschaft der Nationalbürger zu sittlich verpflichtetem Handeln führt. Staatliche Erziehung ist im platonischen Sinne philosophische Er112 Fichte, Rtden an die deutsche Nation, 1807/08, Vierzehnte Rede, S. 228. 113 Vgl. Becker 2000, S. 320-343; allgemein vgl. Voigts 2003.

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Von der Sprache zur Nation; Das Konzept der sprachbesrimmten deutschen Kulturnation

ziehung zum guten, wahren und schließlich auch freien Leben. Die Voraussetzungen dafür betrachtet Fichte unter nationalistischem Blickwinkel. Seiner Überzeugung nach ist allein das deutsche Volk fähig, in Stellvertretung und Vorreiterrolle für die ganze Menschheit sich kraft der ihm verbliebenen vortrefflichen Anlagen und Fähigkeiten aus dem Stadium der Unsittlichkeit zu erheben. Die beste und reinste Anlage des deutschen Volkes ist seine Sprache. Fichte übernimmt von Herder den Grundsatz, dass der einzigartige Geist eines Volkes seinen Ausdruck nicht in erster Linie in Natureinflüssen oder Abstammungskriterien findet, sondern in dessen ureigenster Sprache als Ausdruck kulturell-geistiger Kodizes einer Nation.114 Seine vierte und fünfte Rede, die den Sprachaspekt besonders in den Blick nehmen, handeln die „Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft" und deren „Folgen" ab. Damit ist der Gegensatz genannt. Fichtes Komparatistik bleibt von Anfang bis Ende adversativ und wertend. Zwar stehen seine Analysen auf dem Fundament einer eigenen Sprachtheorie, zwar finden sich auch bei ihm allgemeine Untersuchungen zur Sprache, doch nichts davon verliert das eigentliche Ziel aus den Augen: die Demonstration des nationalen und kulturellen Werts einer spezifischen Sprache mittels einer synkritischen Devaluation anderer, insbesondere romanischer Idiome. Vor allem dieser übersteigert sprachnationalistische Grundzug in Fichtes Reden ist es, der seine Sprachphilosophie von den Gedankengängen Humboldts und Herders unterscheidet. Fichtes Einflüsse auf Humboldt sind vielfach aufgezeigt worden.115 Die Deutung der Tätigkeit des Geistes als einer dynamischen Aktualität, die Äquivalenz von Denken und Sprechen, die Weltbildhaftigkeit und schöpferische Kraft der Sprache - all diese Aspekte bei Fichte haben unbezweifelbar auf den Späteren gewirkt. Wenn Fichte in einem berühmt gewordenen Passus betont, dass „weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen"116, dann lässt er sich förmlich heraushören aus Humboldts Deutung der Sprache als schöpferischer energeia. Dennoch können die Parallelen zwischen beiden Nationalsprachenkonzepten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Humboldts Sprachphilosophie weitgehend ohne Fichtes auf- bzw. abwertendes Vokabular auskommt.

114 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807/1808, Vierte Rede, S. 60f. 115 Ζ. B. bei Hennigfeld 1990 oder Stetter 1989. 116 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807/1808, Vierte Rede, S. 61.

Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte

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Fichtes Ausgangspunkt ist, nicht anders als bei Herder, die klassische Subjekt-Objekt-Relation. Seinem philosophischen Programm der epistemologischen Rehabilitierung des erkennenden Ichs entspricht der starke Subjektbezug. Alles lautliche Bezeichnen ist an das bezeichnende Subjekt gebunden, genauer: Die Bezeichnung der Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung als Sinnbilder des „Übersinnlichen" - das, was Fichte unter der Funktion von Sprache versteht — richtet sich nach „Klarheit" und „Umfang" des sinnlichen Erkenntnisvermögens „desjenigen, der da bezeichnet"117. Sinnliches Erkenntnisvermögen ist das Verhältnis zwischen der „sinnlichen und geistigen Ausbildung". Ins Kollektiv gewendet, äußert sich in der Sprache eines nationalen Subjekts (eines „Volks") dessen ureigene Erkenntnis: Nenne man die unter denselben äußern Einflüssen auf das Sprachwerkzeug stehenden, zusammenlebenden und in fortgesetzter Mitteilung ihre Sprache fortbildenden Menschen ein Volk, so muß man sagen: die Sprache dieses Volks ist notwendig so, wie sie ist, und nicht eigentlich dieses Volk spricht seine Erkenntnis aus, sondern seine Erkenntnis selbst spricht sich aus demselben. 118

Dies alles ist so weit keine Überraschung. Erst die entweder entschieden pejorative oder aber emphatisch euphemistische Sprachbewertung in seiner vierten und fünften Rede lässt aufmerken. Trotz aller Veränderungen bleibt, so Fichte, die natürliche Kraft einer Sprache bestehen, solange sie ihre lexischen Ursprünge nicht verleugnet hat. Wenn aber eine Sprache ihrer origines ermangelt, dann fehlt ihr auch jede Dynamik. Nur die Geisteskraft einer Sprache, die sich entwickelt und dennoch ihre Ursprünge bewahrt, fließt unmittelbar in das schöpferische Leben eines Volkes ein. Die Folgen sind abzusehen: Bei dem Volk der „lebendigen", sprich: originalen und progressiven Sprache greift die Geistesbildung in das Leben ein. Ihre Sinnbilder, auch die von anderen Sprachen übernommenen, sind sämtlich im Volk selbst geschaffen, sind erlebte und darum direkte Anschauung. Aus der lebendigen Sprache redet der Geist so unmittelbar und unverfälscht, dass schließlich nicht die Menschen die Sprache formen, sondern umgekehrt die Sprachbenutzer von der Sprache gebildet werden.119 Die autonom-vitale Sprache, an der alles primär, echt und wirklich ist, leitet das Volk zu hochwertigen Talenten, schenkt ihm beispielsweise Redlichkeit, Fleiß und die notwendige Seriosität im Denken und Handeln.120 117 118 119 120

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Vierte Vierte Vierte Vierte

Rede, Rede, Rede, Rede,

S. S. S. S.

65. 62. 61 f. 74.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

Ganz anders die Lage bei dem Volk der „toten", sprich: abgeschlossenen und,undynamischen' Sprache. Hier gehen geistige Bildung und Leben getrennte Wege. Jedes der bezeichneten Sinnbilder ist von fremden Sprachen übernommen, ohne Zugang zum Umkreis der Anschauungen des Volks gefunden zu haben. Der Prozess der Versinnbildlichung findet keine Kraft mehr zum Neubeginn, das Adoptierte und sogleich für die eigenen Zwecke Konservierte wird nicht mehr kritisch reflektiert. Weil nichts an dieser Sprache tiefsinnig und schöpferisch ist, weil ihre Zeichen nichts anregen, gerät zwangsläufig auch der Lebensvollzug ihrer ,Akteure' seicht und unecht, eben ,leicht-sinnig'. In einer derartig von ihren Wurzeln abgeschnittenen Sprache vermag kein Volk eine übersinnliche Sphäre der Erkenntnis zu entwickeln. Es bleibt abgetrennt von jeder Metaphysik — eine recht armselige Gemeinschaft sinnenfroher, aber denkfauler Epigonen, unfähig zu jeder Kreativität und Selbstanalyse: Das Höchste, was sie hierbei tun können, ist, daß sie das Sinnbild und die geistige Bedeutung desselben sich erklären lassen, wodurch sie die flache und tote Geschichte einer fremden Bildung, keineswegs aber eigene Bildung erhalten.121

Nicht genug, dass das Volk einer „toten" Sprache selbst kulturell abstirbt, die Exponenten der vitalen Sprache erscheinen auch noch als die prädestinierten Lehrmeister für alle anderen. Nur wer im Besitz einer lebendigen Sprache ist, kann das defizitäre Gegenteil wirklich verstehen, prüfen und verbessern. Nur der Lebende vermag die Leiche zu begutachten. Die Konsequenzen für das literarische Oeuvre des Volkes der toten Sprache sind katastrophal: Zu einer „eigentlichen Dichtung" - nach Fichte ein „Hauptzweig der geistigen Bildung des Volkes" - ist es nicht fähig. „Eine tote Sprache kann in diesem höheren Sinne gar keine Dichtung haben"122, ja, sie kann nicht einmal die Sprache einer bestehenden Nation im Sinne einer Nationalsprache sein, da ihr statisches Wesen verhindert, „die ganze Bildungsgeschichte der Nation rückwärts schreitend" an ihr aufzeigen zu können.123 Ein solches Volk verfügt über keine „Muttersprache"124 und keine Nationalsprache. Es spricht, es lebt unreflektiert vor sich hin.125 Fichtes nationalistisch exkludierende Sprachreflexion mit ihren historisch gewachsenen Topoi der Originalität und Reinheit des deutschen Idioms126 konnte sich prinzipiell gegen alle Fremdsprachen richten, und es 121 122 123 124 125 126

Ebd., Vierte Rede, S. 71. Ebd., Fünfte Rede, S. 81. Ebd., Vierte Rede, S. 71f. Ebd., Vierte Rede, S. 71. Ebd., Fünfte Rede, S. 84. Vgl. zum sprachreflexiven Reinheits-Topos im 18. Jahrhundert: Faulstich 2007, S. 262—266.

Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte

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wird noch zu überprüfen sein, welche Konsequenzen seine Schlussfolgerungen für die deutsch-jüdische Sprachminderheit haben mussten, die zur Zeit der Abfassung der Reden noch hauptsächlich auf Jiddisch miteinander kommunizierte. Fichtes direktes Angriffsziel aber liegt westlich des Rheins. Hier - zwischen Frankreich und Deutschland — verläuft die Demarkationslinie zweier essenzieller Antipoden: geografisch, politisch und kulturell. 4.2. Die Dichotomie der Sprachen als Dichotomie der Völker Fichte vermeidet es zwar, die Vertreter der unlebendigen Sprache(n) beim Namen zu nennen, lässt aber durch einige Anspielungen insgesamt keinen Zweifel daran, welche Kontrahenten er vornehmlich im Blick hat und wem der Siegerkranz gebührt. Zu den „übrigen germanischen Stämmen" zählt er vor allem die Franzosen, prinzipiell aber alle „anderen Völker germanischer Abkunft"127, also etwa auch die angelsächsischen Briten.128 Indem er den Konflikt der deutschen Staaten mit Frankreich nach den verheerenden Niederlagen gegen Napoleon (etwa der Doppelniederlage Preußens bei Jena und Auerstedt 1806) ins Kulturelle transformiert, sucht der Jenaer Philosophieprofessor Fichte Schlachten zu gewinnen, die militärisch längst verloren sind: Die Verschiedenheit [...] besteht darin, daß der deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberflächlichkeit sich regende, in der Wurzel aber tote Sprache. 129

Verglichen mit der authentischen und vitalen „Ursprache" Deutsch scheint vor allem das romanische Französisch eine mehr schlecht als recht organisierte Kollektion von Unzulänglichkeiten. Es zu erlernen würde jedem deutschen Muttersprachler keine Mühe bereiten, schärfer noch: er könnte „dieses Ausländers eigene Sprachen weit gründlicher verstehen und weit eigentümlicher besitzen [...] denn jener selbst, der sie redet". Letztlich laufe alles darauf hinaus, dass der Deutsche den „Ausländern" zeigen würde, „wie sie [...] sprechen sollten".130 Der Deutsche ist auf der

127 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807/1808, Fünfte Rede, S. 75 128 Diese Schlussfolgerung wäre zumindest konsequent, da das westgermanische Englische im Verlauf seiner wechselvollen Geschichte große Teile des romanischen Kulturwortschatzes inkorporiert hat. 129 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807/1808, Vierte Rede, S. 72. 130 Ebd., Vierte Rede, S. 73.

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Ebene der Bildung prädestiniert, denn da seine Sprache nicht adaptiert, sondern ursprünglich ist, kann sie in der Philosophie und Dichtung originell geistesbildend sein, und diese „Geistesbildung" vermag wiederum in das Leben einzugreifen.131 Anderer Sprachen bedarf es dazu nicht. Die Erlernung einer Fremdsprache dient somit nicht mehr wie bei Humboldt der Objektivierung und Arrondierung der subjektiven Weltsicht qua Sprache, sondern sie ist eine Demonstration der eigenen Überlegenheit. Vor allem den „neulateinischen Sprachen" erkennt Fichte die Bezeichnung „Muttersprache" generell ab.132 Derart defizitär stellten sich die „neulateinischen" Idiome dar, dass jeder Vergleich zwischen ihnen und der deutschen Sprache „nichtig" sei. Die Einzigartigkeit und Inkommensurabilität des deutschen Idioms, das Fichte bewusst sakralisiert und hypostasiert, machen jede Reflexion über das ,Un-deutsche£ sinnlos. Es lohne einfach nicht, „von Dingen zu reden, die der Rede nicht wert sind"133 — ein recht paradoxes Urteil, wenn man Fichtes wortreichen Grundvergleich zwischen „lebendiger" und „toter" Sprache in Anschlag nimmt. 4.3. Fichte und Chamberlain: Ein (un-)möglicher Vergleich? Damit schien der Gipfelpunkt eines andere Idiome devaluierenden und exkludierenden Sprachnationalismus erreicht, Humboldts Grundgedanke von der Sprachenvielfalt als Prisma weltbürgerlicher Vermittlung, als „Bildungsmittel der Nationen" aufgegeben zugunsten einer mystifizierenden Exklusivität der deutschen Sprachnation, der alle anderen Nationen in ihrem Bildungsweg nachzueifern haben. Die Sinnmäßigkeit der Polyglossie, bei Humboldt wie Herder ein Kriterium für nationenübergreifende Humanität, wird von Fichte durch die Lehre nationaler Monoglossie ersetzt.134 Ähnlich einseitige Bewertungen sollte, genauso wortreich wie Fichte, 1915 ein Houston Stewart Chamberlain publizieren135, dessen antisemitische Sprachpolemik im Verlauf der Untersuchung noch interessieren wird. Zunächst scheint dies zwar eine gefahrliche Parallelisierung zweier Antipoden zu sein. Doch mögen Analogien zwischen dem Philosophen der Freiheit und dem selbst ernannten Spezialisten' für rassische Determination auf anderen Feldern nur unter allergrößten Anstrengungen

131 132 133 134 135

Ebd., Vierte Rede, S. 76; Fünfte Rede, S. 80f. Ebd., Vierte Rede, S. 71. Ebd, Vierte Rede, S. 72. Vgl. Stukenbrock 2005, S. 300f. Chamberlain, Deutsche Sprache, 1915, S. 25ff.

Die sprachphilosophische Radikalisierung: Fichte

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zu ziehen sein — in diesem einen Punkt fallt es leicht. Deutsch ist beiden das Grundidiom philosophischer und dichterischer Veritas, es ist die eigentliche lingua philosophiae, die alle anderen Sprachen an Kraft und Prägnanz weit überragt und damit auch ihre Sprecher vor den Sprechern anderer Idiome aufwertet. Nur das „Urvolk" Europas 136 kann die „Ursprache" sprechen. Es war gerade dieser plakative Gegensatz — der ernste Tiefsinn der deutschen Sprache versus die ätherische Leichtigkeit und essenzielle Beiläufigkeit fremder Idiome —, den die Sprachnationalisten nach Fichte besonders gegen den jüdischen Umgang mit Sprache anzuführen pflegten. Zweifelsohne müssen die situativen Kontexte, in die Fichtes und Chamberlains Äußerungen eingebettet sind, Berücksichtigung finden. Die Befreiungskriege gegen eine beinahe schon kulturmonopolistische, national äußerst selbstbewusste französische Besatzungsmacht, schließlich der zum Weltkrieg ausgeweitete Konflikt mit dem nun endgültig zum „Erzfeind" erklärten Nachbarn begünstigten natürlich die lauten Stimmen im Konzert der Frankophoben. Fichtes Abgrenzungen und Abwertungen sind also bewusst überzogen. Nur so dachte er das geschundene nationale Selbstbewusstsein seiner Landsleute aufrichten und sie zum Widerstand gegen Napoleon antreiben zu können. In Fichtes Weltbild musste ein selbstbewusstes, um seine kulturellen und nationalen Kräfte wissendes Deutschland die Führung übernehmen, um den Kulturverfall Europas aufzuhalten und einem universalen Sittengesetz im Lichte der Freiheit Geltung verschaffen zu können. Das später so oft missbrauchte Schillerzitat „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" war in Fichtes Denken in erster Linie kein machtpolitischer, sondern ein kulturell-philosophischer Auftrag. Und doch: Kontexte erklären nicht alles. In den sprachthematischen Reden an die deutsche Nation verlässt Fichte das Weltbürgertum, das er an anderer Stelle ausdrücklich beschworen hatte 137 , und viele sollten ihm darin folgen. Er offenbart ein Maß an Sprachchauvinismus, das sich nicht einfach mit dem Einwand relativieren lässt, der Nationalismus der Reden sei unmöglich von Fichtes philosophischem Gesamtziel einer allgemein

136 Vgl. Dann 1996, S. 82. Für Fichte waren die Deutschen auch aufgrund ihrer Sprache durchdrungen von originärer Schöpferkraft. Dieses „Urvolk" sei insofern berechtigt, sich als „Volk schlechtweg, im Gegensatze mit anderen von ihm abgerissenen Stämmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung das soeben Gesagte bezeichnet." (Fichte, Reden an die deutsche Nation 1807/1808, Siebte Rede, S. 359). 137 Vgl. Fichtes Dialoge über „Patriotismus": „Kosmopolitismus ist der herrschende Wille, daß der Zweck des Daseins des Menschengeschlechts im Menschengeschlecht erreicht werde" (Fichte, Der Patriotismus und sein Gegenteil.\ 1807, S. 10).

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menschlichen Sittlichkeitshebung zu trennen. Denn noch so gewaltige Portionen an sittlichem Idealismus, verabreicht durch äußere Lehrer, werden dem lingual minderwertigen Volk nicht helfen, die übersinnliche Symbolebene zu erreichen. Solange es an seiner „toten" Sprache festhält, bleibt es in einem quasi-primitiven Zustand im Kreis seiner Anschauungen gefangen. Die Lösung kann eigentlich nur die Übernahme des sittlichen Leitidioms sein. Man braucht keine Parallelen zu extrem nationalistischem Gedankengut herbeizuzwingen, um die Konsequenzen einer solchen Sichtweise erkennen zu können. Sie liegen vor Augen: Frankreich muss einsehen, dass allein die Beherrschung der deutschen Sprache es zu höherem Denken befähigen kann. Im Kriegsjahr 1915 legt der gebürtige Brite Chamberlain eben diese Konsequenz mit einer plakativen und pseudowissenschaftlichen Kompromisslosigkeit offen, wie sie diesem notorisch überkompensierenden Wahldeutschen zu Eigen war: Wer das Französische etwa von Rabelais und Montaigne an bis zu Voltaire verfolgt, gewahrt eine zunehmende Verarmung, sowohl des Wortschatzes wie der Sprachformen, bis dann das Geföge endgültig zu blankem Stahl verhärtet ist und nur mehr maschinenmäßig arbeitet [...] ein heute lebender Montaigne müßte stillschweigen [...] oder Deutsch lernen. 138

Noch einmal sei, um jedem Missverständnis vorzubeugen, an dieser Stelle betont: Man mag Fichtes Reden als eine theoretische Grundlage des Sprachnationalismus im 19. Jahrhundert und als Ideenwerkstatt für Fremdwortpuristen und Sprachreiniger verstehen, doch nur unter völliger Ausblendung seiner zahlreichen philosemitischen Äußerungen und unter scheuklappenartiger Beschränkung auf seine vereinzelten judenfeindlichen Bemerkungen lässt er sich als früher Exponent des Antisemitismus vereinnahmen. Wer ihn sogar zu einem Vertreter des Rassismus stempeln möchte, der muss die in keiner Weise biologistische Ausgangsstellung seiner Philosophie geradezu ausblenden.139 Es bedurfte durchaus also nicht 138 Chamberlain, Deutsche Sprache, 1915, S. 29. In dieses Bild passt es denn auch, dass ausgerechnet der Rassentheoretiker Chamberlain hier die Grundformel des Konzeptes einer sprachbestimmten Kulturnation übernimmt: „Ein unsagbarer Segen ist es, daß politische Nation und Sprache nicht zusammenfallen: Deutsch ist, wer die deutsche Sprache redet" (ebd., S. 30). 139 Der Versuch, Fichte zum Vordenker des Nationalsozialismus stempeln zu wollen, der Boden und Rasse gemeint habe, wenn er von „Volk" sprach, geht in die falsche Richtung, wie Heinrichs ganz richtig bemerkt (Heinrichs 1990, S. 52-54). Die Kategorie Rasse hat in den Reden keine Bedeutung, denn ein genetischer Nationenbegriff existiert bei Fichte nicht. Es ist indes genauso verfehlt, seinen Fremdidiome abwertenden Sprachnationalismus vollständig hinter seinem philosophischen Gesamtkonzept verschwinden zu lassen, also dem eher „hässlichen" Fichte einfach den Sittenrock des vortrefflichen Fichte überzuziehen (vgl. dazu Hennigfeld 1990). Solche Versuche können dann sogar dazu führen, Fichtes

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unerheblicher Anstrengungen, um die kulturzentrierte .Mechanik' der „Deutschen Bewegung" im 19. und 20. Jahrhundert rassistisch umzubiegen. Einen Rechtsdrall jedoch, der in Richtung eines chauvinistischen Sprachnationalismus ging, hatte sie mit der von Fichte behaupteten Feindschaft der so ungleichen Sprachen Deutsch und Französisch erfahren. Damit war die Saat für ein mythisierendes Nationalbewusstsein gelegt, „die unheilvoll im Nationalismus des Jahrhunderts aufgegangen ist"140. Die von Fichte konstatierte „Korrelation zwischen der Sprachstruktur und der kognitiven Leistungsfähigkeit der Sprecher"141 radikalisierte Chamberlain, indem er seinen Sprachnationalismus an das Rassenkonstrukt band und einen spezifischen Sprecherkreis in Deutschland von jeder höheren Leistungsfähigkeit ausschloss: „Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen", schreibt der Autor der „Grundlagen" 1899, „weil der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich macht."142 Dass die deutschen Juden zu diesem Zeitpunkt das Hebräische kaum noch beherrschten und sich im Gegenteil ganz der deutschen Sprache verschrieben hatten, war für Chamberlain ohne Relevanz: Wie ungeheuer schwer es ist, vererbte sprachliche Rassenmerkmale ganz zu verwischen, ist uns allen durch das Beispiel der unter uns lebenden Juden gut bekannt. Die vollkommen fehlerlose Beherrschung unserer Zungenlaute ist ihnen ebenso unmöglich, wie uns die Meisterschaft der Kehllaute. 1 4 3

Wenn die philosophisch verklausulierten Abwertungen einer europäischen Kultursprache, mithin der Muttersprache eines Rousseau und Moüere derartige Wirkung erzielen konnten, wenn die von Herder so hoch ge-

140 141 142 143

verengte Sprachperspektive unbeabsichtigt zu übernehmen, statt sie im Hinblick auf ihre enorme nationalgeschichtliche Wirkung kritisch zu reflektieren. So glaubt Heinrichs doch allen Ernstens, die Aktualität von Fichtes Sprachideologie „im Zeichen der unsere Gegenwartssprache befallenden .englischen Krankheit'" aufweisen zu können, womit er zweifellos die Anglisierung der deutschen Sprache meint. Dass er hier nur zustimmend zitiert, macht die Sache nicht besser (Heinrichs 1990, S. 53). Viel differenzierter argumentiert Becker. Er stellt die antisemitischen Äußerungen des frühen Fichte denen des Denkers nach 1799 gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass Fichte spätestens nach seiner Begegnung mit der Mendelssohn-Tochter Dorothea Veit-Schlegel sein antijüdisches Ressentiment gänzlich aufgegeben habe (Becker 2000, S. 111-113, S. 357). In der Geschichte der FichteRezeption des 19. und 20. Jahrhunderts fänden sich deshalb auch zahllose jüdische Fichteaner, die gerade die Nähe von Fichteschem und jüdischem Denken betonten. Anders wäre die von Voigt nachgewiesene Affinität zahlreicher kulturzionistischer Kreise zu Fichte auch nicht zu erklären (vgl. Voigt 2003). Frühwald 1986, S. 140. Gardt 1999b, S. 272. Chamberlain, Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, 1899, S. 349. Ebd., S. 254, Fußnote.

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schätzte Sprache des Alten Testaments als profan und geisdos charakterisiert werden durfte, wie war es dann erst um die Idiome innerdeutscher Minderheiten bestellt, die einer neuhochdeutschen Leitvarietät nicht oder schlimmer noch: ungenügend entsprachen? Und wie musste sich unter diesem Blickwinkel gerade die von den deutschen Juden bis ins 19. Jahrhundert umgangssprachlich bevorzugte Mehrkomponentensprache Jiddisch ausnehmen, die von der Norm zwar abwich, diese durch ihre etymologisch belegbare und tatsächlich empfundene Nähe zur neuhochdeutschen Leitvarietät jedoch beständig streifte? Eine erste Antwort darauf mag schon an dieser Stelle gegeben werden: Je nachdrücklicher sich die deutsche Nation, unter den europäischen später als alle anderen mit Ausnahme Italiens144 politisch implementierte und konsolidierte, desto unnachgiebiger geriet die Abstoßbewegung gegen all jene, die den tatsächlichen oder vermeintlichen normativen Anforderungen nicht genügten; und je unbezweifelbarer die Ausgeschlossenen den gestellten Prämissen schließlich doch entsprachen, desto unnachgiebiger suchten ihre Gegner nach anderen, definitiven Absonderungs- und Ausschlusskriterien.

5. Herders, Humboldts und Fichtes Bedeutung für das Kulturnationskonzept Resümieren wir zunächst Herders und Humboldts sprachphilosophische Theoreme, dann ergeben sich folgende Modalitäten und Wirkungsweisen von Sprache: (1) lntellektualität. Sprache ist ein inneres oder (im Sprechvollzug) äußeres Verlautbaren des Verstandes, der Mensch eine geistige Individualität; Sprache und Denken sind im systematischen Sinne korrelativ, also untrennbar. (2) Reflektierung. Sprache spiegelt insofern eine spezifische Weltsicht ihrer Sprachverwender wider. (3) Aktualität/Alterabilität. Sprache ist kein alleiniges Produkt oder System (Ergon — Langue), sondern vor allem Tätigkeit (Energeia

144 Es wäre sicher ein lohnendes Forschungsprojekt, möglichen Parallelen zwischen der „Deutschen Bewegung" und der italienischen „Risorgimento" („Wiedergeburt") von 1 8 1 5 bis 1870 nachzugehen. Auch die italienische Nationsbewegung erstrebte die Herstellung der nationalen Einheit auf der Basis einer kulturellen und sprachlichen Renaissance. Und ebenso wie in Deutschland endete dieser Versuch letztlich in einer faschistischen Diktatur.

Herders, Humboldts und Fichtes Bedeutung für das Kulturnationskonzept

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- Parole), nicht statisch, sondern dynamisch, mithin im steten Wandel begriffen. (4) Nationalität Sprache und Nation stehen in Wechselwirkung; Sprache konstituiert, erhält und bestimmt die Nation. (5) Universalität Sprache, Nation und Humanität bedingen einander; Humanität ist die Aufgabe zu universaler Menschheitsbildung im Angesicht der Freiheit. (6) Medialität/Präservierung. Die Form einer (National-)Sprache dient als Medium und Bewahrerin der Mentalität einer Nation, selbst wenn die Nation de facto nicht mehr existiert. (7) Objektivität Mittels Fremdsprachenerwerbs kann die subjektive Sprach-Weltsicht objektiviert werden. Radikalisiert und nationalistisch konkretisiert wurden die Theoreme (1) bis (6) durch Fichtes These von der herausgehobenen, weil höherwertigen Position der deutschen Sprach-Nation innerhalb einer hierarchischen Typologie der Idiome.145 Nur ein Ur-Volk konnte eine Ur-Sprache Deutsch im Munde führen: (8) Exklusivität/Hypostasierung. Die Superiorität der deutschen Sprache gegenüber anderen (germanischen bzw. romanischen) Sprachzweigen erweist sich an der (etymologischen und pragmatischen) Vitalität und Originalität ihrer Lexik und korrespondiert mit der Leistungsfähigkeit des Sprach-Volks. Fremdsprachenerwerb als Objektivierungsleistung (7) sah dieses Konzept nicht vor. Der Deutsche hatte die anderen die Sprache der Sittlichkeit zu lehren, nicht umgekehrt. Mit Herders, Humboldts und Fichtes Sprachmodellen hatten die Exponenten der „Deutschen Bewegung" ein theoretisches Rüstzeug erhalten, das sie in den politischen Kämpfen bis zur nationalen Einheit immer wieder ins Feld führen konnten. War die geeinte Nation auch Zukunftsmusik, so gab die Sprache doch die ersten Töne vor. Vorläufig konnte die Idee der Nation im Reich der Sprache ,überwintern'. So wie die Sprache organisch war, sollte der Organismus der Kultur-Nation an und mit ihr

145 August Wilhelm Schlegel sollte diese nach Affix- und Flexionsgraden ordnende Typologie der Sprachen in seinen Bemerkungen über die provencalische Sprache und Literatur 1 8 1 8 zwar fortführen; im Unterschied zu Fichte behauptete Schlegel jedoch niemals mit dieser Entschiedenheit eine Exklusivität der deutschen Sprache.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

wachsen. Die Sprache, das „bildende Organ der Gedanken", verhieß auch, das bildende Organ der Nation wie ihrer Ideen- und Geistesgeschichte zu sein. Weil sie die Gedankenschätze des Volks konservierte und transportierte, musste ihre Form gepflegt, erforscht und entsprechend vermittelt werden. Muttersprachenunterricht war demnach notwendig geistesgeschichtliche Pädagogik als Erziehung zu Nationalgefuhl und Nationalverständnis. Ein solches Denkgebäude in der Linie Herder - Humboldt — Grimm, das auf den Fundamenten der Sprache stand, schien auch im deutsch-jüdischen Verhältnis „die Rolle einer gegenseitig akzeptablen Akkulturationsbasis übernehmen"146 zu können — solange nur Nationalbürger war, wer die Nationalsprache beherrschte. Das theoretisch derart festgezurrte Korrelat von Sprache und Nation war für nationale Bewegungen und nationale Ideologien in erster Linie in drei Punkten interessant: (1) Sprache erhält die Nation, indem sie die kulturell-geistigen Wissensbestände der Nation bzw. des Volkes enthält. (2) Sprache ersetzt die Nation, falls diese im politisch-geografischen Sinne faktisch nicht mehr existiert. (3) Sprache etabliert die (faktisch nicht existente) Nation neu, indem sie das Volk nationalisiert und zur Neubildung der Nation instand setzt. Natürlich waren auch Herders und Humboldts Schriften nicht davor gefeit, von den Völkischen missbraucht zu werden, doch bedurfte es dazu eines gehörigen Maßes an philologischem Fälscherwillen: In keiner Weise hatten die beiden Sprachphilosophen die Diskriminierungen rechtfertigende Superiorität einer bestimmten Sprache oder eines einzelnen Volkes, an keiner Stelle eine alles beherrschende Determinierung des Lebens durch rassische Abstammungskriterien propagiert.147 Antisemitisch anmu-

146 Toury 1982, S. 80. 147 Derartige Vereinnahmungsversuche hatten auch nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs ein Ende. Saida Landmann meint noch 1967 [!] in ihrem Buch „Die Juden als Rasse", das einem recht seltsamen Neo-Romantizismus der Rassenlehre das Wort redet, Herders Stilanalysen der hebräischen Poesie als Beleg dafür anbringen zu können, dass „die Rassenfrage später auch ganz andere Wege [als die der Judenvernichtung] hätte einschlagen können". Wäre die Rassenfrage zu Herders Zeiten „im modernen Sinne" üblich gewesen, dann hätte Herder, so Landmann, „ohne Zweifel hinzugefügt: Nicht nur von einer Zeit zur anderen und von einem Volk zum anderen, sondern auch und vor allem von einer Rasse zur anderen variiert der künstlerische Ausdruck" (Landmann 1967, S. 1 7 - 1 9 ) . Diese Aussage ist nicht einfach hoch spekulativ, sondern schlicht falsch. Herder verwehrt sich in den „Ideen" eindeutig dagegen, „ein und dieselbe Menschengattung" nach Rassen aufzugliedern, wobei er

Herders, Humboldts und Fichtes Bedeutung für das Kultumationskonzept

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tende Äußerungen fehlen bei Humboldt völlig, bei Herder bilden sie die absolute Ausnahme. Wenngleich Herder sich mit ausfallender Verve gegen die Dominanz französischer Kultur gestemmt und mitunter im Konzert linguistischer Stereotypen mitgespielt hat, so lädt seine Sprachphilosophie insgesamt doch nicht zu nationaler Uberhebung ein. Indem für Herder das Korrelat Sprache und Nation zwingend mit Humanität verbunden sein muss und Humanität wiederum das Zusammenwachsen der Nationen unter dem allgemeinen Sittengesetz zur Aufgabe hat, verpflichtet nationales Selbstbewusstsein zu internationalem Mitbewusstsein. Denn da das Menschengeschlecht in einen sprachgeschichtlichen Zusammenhang gestellt ist, sind Nation und Nationalsprache in den Abläufen von Abgrenzung und Übergang ein pars pro toto, das nach den anderen Teilen strebt, um das Ganze zu erkennen. Das Studium fremder Nationalliteratur bedeutet insofern einen Zugewinn an Humanität. Humboldts Sprachphilosophie ist dezidiert universalistisch orientiert. Kenntnisse in einer fremden (National-)Sprache dienen zwar zunächst einmal der epistemischen Objektivierung der je eigenen, sprachlich verfassten wie vermittelten Weltsicht. Indem jedoch der Einzelne „in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt", indem er sich offenen Horizonts weiterbildet, verlässt er zugleich den Kokon seiner Nation.148 Jedem Idiom wohnt dabei die Erinnerung an eine menschliche Ursprache inne.149 ,Emische', also kulturangepasste Spezifika jeder Sprache verbinden sich zu ,etischen', das heißt kulturübergreifenden Aspekten.150 Nur wer beide zusammennimmt, ist vor sprachnationalistischem Chauvinismus gefeit. Sein Vordenker Fichte dagegen war bemüht gewesen, den Kokon der Sprache erst einmal festzuspinnen und gegen Fremdeinflüsse abzudichten. Das Ergebnis entpuppte sich als erfolgreich - vielleicht als zu erfolgreich.

erneut auf die enge Kohärenz von Sprache und Nation verweist: „Denn jedes Volk ist Volk: es hat seine National-Bildung, wie seine Sprache [...] Kurz, weder vier oder fünf Racen noch ausschließende Varietäten giebt es auf der Erde" (Herder, Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784-1791, 7. Buch, S. 257f.). 148 Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—29, S. 180. 149 Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 51: „Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisirung innerhalb der allgemeinen Uebereinstimmung, dass man ebenso richtig sagen kann, dass das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als dass jeder Mensch eine besondere besitzt." 150 Zur Differenzierung in ,emische' und ,etische' Sichtweisen von Sprache vgl. Helfrich 1993, S. 84-86.

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation

6. Von der Sprachform zur Sprachnorm: Die Phase der politischen Implementierung bis 1871 Die kosmopolitischen Lebens- und Weltansichten Lessings, Schillers und Goethes hatten durch die Werke von Hegel, Schelling und Schleiermacher eine logische, metaphysische und staatsphilosophische Systematisierung erfahren. Doch schon für die Frühphase des Bildungsbürgertums um 1800 gilt: „Kulturgemeinschaft meinte jetzt kaum mehr weltbürgerlichmetapolitische Zusammengehörigkeit über die deutschen Staatengrenzen hinweg", sondern „Nationalkultur" im engsten Sinne des Wortes.151 Das Weltbürgertum der Bildung mutierte sukzessive zu einem Nationalbürgertum durch Bildung. Ein sich sprachlich artikulierender „Kulturnationalismus"152 war freilich zunächst nicht Folge, sondern Voraussetzung der Bildung einer Nation. Die Suche nach einem Symbol für die ersehnte Einheit offenbarte die tatsächliche Heterogenität des Bildungsbürgertums. Größere Homogenität sollte durch Abgrenzung erreicht werden. Standards waren zu setzen, vor allem in der Sprache. Grimm, Gottsched, Adelung, Hoffmann von Fallersleben, Campe: Die Reihe einflussreicher Sprachetymologen, Sprachdidaktiker und Sprachpuristen, welche die Struktur der deutschen Sprache erforschten und die seit Mitte des 17. Jahrhunderts bestehende Tradition ihrer Standardisierung pflegten153, ließe sich lange fortsetzen. Diese Entwicklung gipfelte durch die preußische „Puttkamersche Rechtschreibung" von 1880 in einer landesrechtlichen, durch die orthografische Konferenz von 1901 dann auch in einer länderübergreifenden Normierung der deutschen Orthografie und Aussprache.154 Wenngleich besonders im Süden regionale Anklänge im Sprachgebrauch selbst der gehobenen Schichten zum Alltag gehörten, so wurde das Ideal einer ,dialektfreien' Rede doch mehr und mehr zum nationalen Maßstab bürgerlicher Bildungskultur.155 Einerseits vergrößerte sich mit der nun festgeschriebenen Standardisierung der Sprache durch die elitäre Schicht des deutschen Bildungsbürgertums die „soziologische Trägerschicht" für die orthografische und artikulatorische Norm, wodurch das So^ialsymbol deutsche Hochsprache erst zum National-

e r Engelhardt 1989, S. 65f. 152 Toury 1982, S. 80. 153 Einen guten Uberblick der wissenschaftlichen Periodisierungen des Deutschen im Zuge der Bestrebungen um Vereinheitlichung der deutschen Sprache bietet Roelcke 1995, S. 2 9 6 - 2 9 8 . 154 Vgl. dazu beispielsweise Hirt 1925, S. 222. 155 Zur Stigmatisierung des Dialekts als einer bäuerlichen Ausdrucksform der Ungebildeten: Mattheier 1991, S. 53.

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symbol werden konnte;156 andererseits verstärkte sich dadurch aber auch der soziale Druck auf all jene, die bewusst oder unbewusst die Norm verfehlten.157 6.1. Die nationalistische Akzentverschiebung Ohne Kodifizierungen und Normierungen muss jedes Projekt einer Nationalsprache scheitern, ohne Abgrenzung gegen andere ist keine Identität möglich. Abgrenzung bedeutet nicht zwingend Ausgrenzung. Der Grat ist nicht so schmal, wie er zu sein scheint, denn wer sich von anderem entfernt, muss sich nicht zwangsläufig abwertend über anderes stellen. Doch zunehmend radikalisierte sich der Protonationalismus und Nationalpatriotismus, der mit der Abkehr von der französischen Dominanzkultur sein Selbstbewusstsein gestärkt hatte, zu einem ungezügelten Nationalismus, der sein Selbstbewusstsein in der Abkehr vom fremdsprachigen Ausland und der Ausgrenzung nicht konformer Erscheinungen im Inland gewann. Die Gegnerschaft zu einem spezifisch Anderen veränderte sich zu einer Feindschaft gegen das unspezifisch Fremde, eine Leerstelle, die mit allen denkbaren Klassifizierungen und Deklassierungen zu füllen war. Diese Akzentverschiebung begleitete den Prozess der politischen Implementierung bis 1871 im Überschwang nationaler Hochgefühle, und sie sollte fortan Bestandteil des Entwicklungsganges der jungen deutschen Nation bleiben. Die Verengung des Horizonts aufs Nationale schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde durch vielerlei Faktoren begünstigt. Der allmähliche parteipolitische Niedergang des Liberalismus und seiner humanistischen Toleranzprinzipien war ein gesamteuropäisches Phänomen, wirkte sich aber auf die „verspätete Nation" am verhängnisvollsten aus. Hier schien der Nationalismus ein noch recht unsicheres Kind frei nach seinem Gusto erziehen zu können. Die gebotenen Ausführungen sollen nicht suggerieren, dass die genannte Akzentverschiebung sich an einer genau datierbaren Zäsur festmachen ließe. Die „Deutsche Bewegung" zeigte sehr früh zwei Seiten, deren eine die „schöne Abgeschlossenheit in der eigenen Nationaütaet"158 an die „wohlwollend menschliche Verbindung des ganzen Geschlechts" koppelte,159 deren andere genau diese Idee menschheitsgeschichtlicher Offenheit

156 157 158 159

Mattheier 1991, S. 48f. Linke 1991, S. 262. Humboldt, Uber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827-1829, S. 116. Ebd., S. 115.

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als mangelnde Konturierung nationaler Eigenheit verdammte. Das bildungsbürgerliche Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen Bewegung als „ein gemeinsames Kulturmodell, ein spezifisches Ensemble kultureller Momente und Lebensführungspraktiken" 160 wirkte integrierend und zugleich exkludierend. Mit dem Widerstand gegen Napoleon 1813 bis 1815 geriet die „Deutsche Bewegung" in immer reißenderes nationalistisches Fahrwasser. Ernst Moritz Arndt, Hoffmann von Fallersleben, Ludwig Uhland, Theodor Körner, „Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn - sie alle stehen für rhetorisch verschärfte Töne innerhalb dieser Entwicklung. 161 In dem zu Anfang dieses Kapitels zitierten Gedicht „Des Deutschen Vaterland" richtete Arndt seinen „Zorn" gegen „den wälschen Tand" eines Landes, dessen Literatur und Philosophie Friedrich der Große noch 40 Jahre zuvor allen Werken „deutscher Zunge" vorgezogen hatte.162 Doch auch nachdem der von Arndt so pejorativ bezeichnete „Franzmann" 1815 bei Waterloo endgültig besiegt worden war, blieben die in den Befreiungskriegen laut gewordenen Forderungen nach einem vereinten Nationalstaat unerfüllt. Der bis 1866 bestehende lockere Staatenverband „Deutscher Bund" konnte kein Surrogat für die Einheit sein. Ein spezifisch deutscher Impetus, die machtpolitische Leerstelle bildungssprachlich auszufüllen, offenbarte sich nun immer deutlicher. Wie gezeigt, verlieh ausgerechnet Fichte, der seine Philosophie dem allgemeinen Sittengesetz verschrieben hatte, den Befreiungskriegern die theoretische Legitimation für ihr Handeln. Der Feind jenseits des Rheins wurde zum Erbfeind stilisiert163, was seit Fichte und Arndt forciert auch den Bereich der Sprache und Kultur betraf, denn in jener Logik korrespondierte die Labilität der französischen Staats-Kultur mit der Minderwertigkeit ihrer romanischen Muttersprache. Jenseits allen Rassedenkens war damit der erste Schritt auf gefährliches Terrain getan: Die hierarchische Wertetypologie der Sprachen machte die Hierarchie der inneren Werte ihrer Sprachvölker erfahrbar.

160 Lässig 2000, S. 617; vgl. auch Kocka 1995, S. 18. 161 Vgl. ζ. B. Theodor Kömers martialisches Gedicht „Aufruf" von 1813: „Drauf, wackres Volk! Drauf! Ruft die Freiheit, draufl/Hoch schlägt dein Herz, hoch wachsen deine Eichen,/Was kümmern dich die Hügel deiner Leichen?" (In: Conrady 1977, S. 400) 162 Herder hatte diese Vorliebe Friedrichs für eine Kunst französischer Provenienz bereits 1769 offen kritisiert: „Haben seine Franzosen Deutschland und seinen Ländern so viel Vorteile gebracht, als man glaubte? Nein! Seinen Voltaire haben die Deutschen verachtet und nicht gekannt" (Herder, Journal meiner Reise, 1769, S. 622). 163 Vgl. Dann, der diese „Erbfeindschaft" zur „Gründungslegende des Deutschen Reiches" zählt (Dann 1996, S. 83).

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Was der Politik nicht gelungen war, mussten Kultur und Sprache erzwingen: „Die geistige Verheißung wurde geradezu zur Kompensation des politischen Scheiterns."164 Den Dreischritt Lingua — Essentia - Existentia verfolgten die Anhänger eines exklusiven Sprachnationalismus zunehmend mit einer Engstirnigkeit, die der zwar nationalen, aber auch kosmopolitisch-humanistischen Intention Humboldts und Herders zuwiderlief.165 Nicht die Geisteseigentümlichkeit in jeder Sprache, sondern das Deutscbeigentümliche in einer Sprache rückte in den Vordergrund der nationalistisch verengten Perspektive. Der Sprachpatriotismus mutierte zum Sprachnationalismus, die wissenschaftliche Sprachbewertung zur ideologischen Sprachabwertung und die polylinguale Komparatistik zur monokausalen Hypostasierung des einen echten, wahren und überlegenen Idioms.166 Fichtes Interpretation des Staates als eines geistigen, der Sittlichkeit verpflichteten Erziehungsorgans wich so allmählich der Deutung von der Nation als „Organismus", der sich aus naturgemäßen Zwängen von Anorganischem abstoßen musste.167 Von da an waren es nur noch wenige Schritte zu der gerade im deutsch-jüdischen Verhältnis so verhängnisvollen Tendenz, vom Äußeren aufs Innere zu schließen und die

164 Weidenfels 1983, S. 25. 165 Dementsprechend müssen Vereinnahmungsversuche Herders und Humboldts von Seiten extremer Nationalisten sehr kritisch betrachtet werden. Beide Philosophen verweisen ausdrücklich auf transnationale Aspekte der Sprache. Die Differenzierung in Nationalsprachen hebt bei Herder nicht die einheitliche Entwicklung des Menschengeschlechts auf. Ausdrücklich warnt er vor dem verführerischen „Nationalruhm", der sich allen Eindrücken jenseits des Eigenen verschließt (Herder, Briefe s>ur Beförderung der Humanität, 1793—1797, 113. Brief, S. 208). Auch für Humboldt gibt es keine unüberwindlichen Grenzen zwischen den Nationen: „Die Sprachen trennen allerdings die Nationen, aber nur um sie auf eine tiefere und schönere Weise wieder inniger zu verbinden; sie gleichen darin den Meeren, die, anfangs furchtsam an den Küsten umschifft, die länderverbindendsten Strassen geworden sind" (Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—1829, S. 124). 166 Stukenbrock plädiert für eine wertneutrale Verwendung des Terminus „Sprachnationalismus" (Stukenbrock 2005, S. 13). Man mag mit ihr eine ausschließlich an Epochen orientierte Trennlinie zwischen den Phänomenen Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus in Frage stellen, sofem damit tatsächlich eine Scheidung in ,„gute' und ,böse' Loyalität" beabsichtigt wird (ebd., S. 14). Ihre Intention, eine Geschichte des „Sprachnationalismus vor dem Nationalismus" zu schreiben (ebd., S. 17), lässt sich freilich auch auf das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation vor 1871 anwenden, insofern hier die Nationalisierung der Sprache tatsächlich dem Nationalismus der inexistenten Nation voraus griff bzw. ihn temporär ersetzte. 167 Bering 1998, S. 257: „...an ,organism', which by the laws of nature must inevitably cast of the .inorganic'." Angesichts des Detailreichtums von Ahlzweigs Untersuchung zur Muttersprachenideologie ist es schon erstaunlich, dass er zwar den Sprung zur Hypernationalisierung der Sprache im 19. Jahrhundert erkennt, dessen Ursachen aber mit keinem Wort bei Fichte verortet (vgl. Ahlzweig 1994).

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Von der Sprache zur Nation: Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturration

deutsche Gesellschaft selbst in Dazugehörende und Außenseiter aufzutrennen.168 Die nationalistische Akzentverschiebung drückt sich vielleicht am besten in dem onomasiologischen Wandel aus, der den Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert begleitete. An die Stelle der Lieblingsvokabeln deutscher Aufklärer und Humanisten (Begriffen wie „Vernunft", „Rationalität", „Humanität", „Toleranz", welche die Bildungsdebatten des 18. Jahrhunderts dominiert hatten) traten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auffällig polymorphe Komposita, die politische, ethnische, sensitive, philosophische oder kulturell-sprachliche Ebenen miteinander verquickten: Nationalgefühl, Nationalbewusstsein, Nationalgeist, Volkstum, Volksgeist, Deutschtum, Deutschheit, Sprachgeist, Sprachnation etc.169 Diese argumentative Übereinanderblendung sprachlicher, politischer, kultureller und auch ethnischer Ebenen zu regelrechten ,,Begriffsfetische[n]"170 ist ein Phänomen, das „kulturpatriotische, und in ihrer Zuspitzung, nationalistische Argumentationen grundsätzlich kennzeichnet"171. Der Veränderungsprozess der Benennungen und Bedeutungen lässt sich bereits seit der Zeit des Humanismus belegen,172 verstärkte sich mit der Aufklärung und gipfelte in der Romantik, als die Akzentuierung des politischen, besonders aber des kulturellen Nationsbegriffs Vorrang vor konkurrierenden Unitätsmodellen erhielt.173 Die Gründe dafür waren bereits genannt worden: Die sakrale Einheit in der Idee des römisch-deutschen Kaiserreiches war verloren, die politische Einheit im Ideal eines zweiten Deutschen Reiches noch nicht realisiert. Deshalb insistierten die deutschnationalen, von der Romantik stark beeinflussten Kräfte im 19. Jahrhundert auf eine Kultureinheit, die mit teils diffus-polymorphen Termini markiert werden sollte: German language, German nation, and German spirit were manifestations of one and the same thing. As long as unity was not achieved, it had to at least be imagined through the idea of Kulturnation led by language.174

168 Mosse 1999, S. 18. Laut Mosse sind die „Betonung des inneren Menschen" als Suche nach dem „National-Charakter" und der Rückschluss vom Äußeren auf die „innere Seele" typische Merkmale eines anti-liberalen Nationalismus. 169 Vgl. Polenz 1999, S. 538. 170 Ebd. 171 Gardt 2000a, S. 175. 172 Gardt 2005, S. 374f. 173 Bär 2000, S. 222f. 174 Bering 1998, S. 259. Vgl. auch wieder Bär 2000, S. 223: „Das politisch nicht existente .Deutschland' ist eine nur ideologische, und zwar hauptsächlich kulturhistorisch definierte Größe."

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6.2. Die Sprachnorm als nationale Norm und bildungsbürgerliches „Erkennungszeichen" Als einer der ersten deutschen Staaten hatte Preußen in seinen Volkszählungen die Sprache als das entscheidende Kennzeichen der Nation definiert und damit die bildungsbürgerliche Zielvorgabe, die Deutschen in einer nationalen Gemeinschaft über Sprachzugehörigkeit zu sammeln, amtlich beglaubigt. Für den Organisator der preußischen Statistiken, Richard Böckh, ist die Sprache das „unverkennbare Band, welches alle Glieder einer Nation zu einer geistigen Gemeinschaft verknüpft". Andere Kriterien wie „Abstammung", „Körperbeschaffenheit" oder Staatsangehörigkeit" werden hingegen als unzureichend bewertet, eine „Volksgemeinschaft" zu begründen.175 Das war 1866, im Jahr der siegreichen Kriege Preußens gegen Dänemark und Österreich, die über die Implementierung der deutschen Einheit militärisch entschieden. Doch weil die Einheit auch 1871 nur im kleindeutschen Sinne realisiert werden konnte, blieb die Lautstärke nationalistischer Äußerungen in der nachgerückten Nation hoch. Die staatlich verordnete und hektisch geschaffene kollektive Identität suchte nach Abgrenzungsmöglichkeiten. Im Spiegelsaal von Versailles, in dem die Fürsten den deutschen Kaiserstaat ausriefen, wurde implizit das Diktum eines neuhochdeutschen Sprachstandards proklamiert. An ihm sollte sich im Kulturellen der oder besser: ,das' Deutsche vom ,Undeutschen' trennen: Außerordentliche Bedeutung [kam] einem Sprachgestus und -standard zu, den alle Angehörigen der Nation zum Vorbild nehmen und dem sie sich assimilatorisch so gut wie möglich annähern sollten.176 Die „Spezialisierung von Identitätskriterien"177, in diesem Fall also die Konzentration auf sprachspezifische Erfüllungsbedingungen für nationale Identität, begünstigte den sozialen Ausschluss derer, die den Anforderungen nicht genügen konnten oder wollten. Im Zuge der zunehmenden Nationalisierung der Gesellschaft verlagerte sich die Bedeutung der Sprache vom ,Heilmittel' gegen die politische und gesellschaftliche Zerrissenheit im Sinne Jacob Grimms zum „Erkennungszeichen" 178 einer 175 Richard Böckh: „Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität." In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 4, 1866, S. 2 5 9 - 4 0 2 (zit. n. Haarmann 1993, S. 260f.). 176 Engelhardt 1989, S. 69. 177 Haarmann 1993, S. 262. 178 O. Reichmann 1978, S. 393.

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relativ geschlossenen Identifikationsgruppe mit Exklusionsantrieben. Dadurch kam die klassen- und prestigeschaffende Dimension der Deutschen Bewegung endlich zum Zuge: Die Aufwertung des ,Hochdeutschen' zu einer „lingua ipsa Germania"179 und das damit einhergehende Ideal einer eben immer auch artikulatorisch zu testierenden „Reinheit der Hochsprache"180 diktierten das Sprachprestige, und das Sprachprestige wiederum entschied über das Sozialprestige eines Sprechers oder einer Sprachgruppe. Eine einzelne Varietät wurde zur Leitvarietät, eine singuläre Kulturdimension zur ,Leitkultur' erhoben. Jeder Verstoß gegen die Norm geriet in den Verdacht des existenziell Anormalen, jede tatsächliche oder nur vermeintliche Inkompetenz in der Nationalsprache konnte restriktive Konsequenzen für den Einzelnen oder die betroffene Gruppe nach sich ziehen. Nachdem er sich mit allen Mitteln des Französischen entledigt hatte, suchte der exklusive Sprachnationalismus in Deutschland nach neuen Feindobjekten, an denen er seine Konturen schärfen konnte. Fichtes Überlegungen waren für diese Zwecke zu radikalisieren bzw. überhaupt erst umzudeuten. Denn obwohl dessen fremdsprachenfeindlicher Sprachnationalismus und Sprachpurismus 181 einer Hypostasierung der deutschen Muttersprache den Boden bereitet hatte, stand seine Nationalsprachenideologie nur teilweise im Widerstreit mit dem Kulturnationsmodell. Zwar stellt er den Surrogatgedanken, dass die Sprach-Nation die Staats-Nation ersetzen könne, in Frage. 182 Der erste Kraftakt zur Konstituierung der Nation musste jedoch auch nach Fichtes Überzeugung synergetisch durch die Sprache erfolgen. Die Frage, was Standard sei und was dialektale Devianz, war Fichte noch keiner

179 Vgl. Gardt 2000a, S. 171. 180 Linke 1991, S. 265. 181 So wettert Fichte gegen die Übernahme der romanischen Lehnwörter „Humanität", „Popularität" und „Liberalität" und schlägt Eindeutschungen vor. Zudem bedauert er die „Philosophie" „mit dem ausländischen Namen bezeichnen [zu] müssen [!], da die Deutschen sich den vorlängst vorgeschlagenen deutschen Namen nicht haben gefallen lassen" (Fichte, Reden an die deutsche Nation, Vierte Rede, 1807/1808, S. 76). 182 In den Reden erteilt Fichte der Idee einer deutschen Sprachnation ohne politische Autonomie eine Absage. Sprache muss laut Fichte Nation zwar konstituieren, kann aber kein Ersatz für Nation sein. Im Gegenteil: Ohne nationale Grundlage droht jeder Sprache das Verschwinden. In der Zwölften Rede warnt Fichte vor denen, die behaupten, „daß, wenn auch unsre politische Selbstständigkeit verloren sei, wir dennoch unsre Sprache behielten und unsre Literatur, und in diesem immer eine Nation blieben, und damit über alles andere uns leichthin trösten können" (Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807/1808, Zwölfte Rede, S. 214). Die Kluft, die Fichte hier von Humboldt und vor allem von Jacob Grimm trennt, ist nicht mehr zu übersehen.

Die Phase der politischen Implementierung bis 1871

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Problematisierung wert, solange nur die ,vitale' deutsche ,Ur-Form' gewahrt blieb. Ausländische Idiome zu diffamieren und sich auf diese Weise von ihnen abzugrenzen war also das eine, innerdeutsche Abweichungen von einer neuhochdeutschen Sprachnorm grundsätzlich zu verfemen das andere. Genau dorthin aber ging der Weg. Keine andere Minderheit sollte dies so deutlich zu spüren bekommen wie die deutschen Juden.

III. Annäherung an die Norm: Die Sprachakkulturation der deutschen Juden Die Geschichte sprachlicher Interaktion von Juden und Nichtjuden in Deutschland ist eine Geschichte von Konflikten. Dass Sprachkommunikation „die wichtigste soziale Tätigkeit darstellt"1, ist bekannt. Auch lehrt die Sprachgeschichte, dass sich in Gesellschaften Sprachnormen herausbilden, das heißt Konventionen zur .korrekten', besser: standardkonformen mündlichen wie schriftlichen Handhabung einer Sprache. Da Sprachprestige, wie gesagt, mit Sozialprestige einhergeht2, wird der tatsächliche oder vermeintliche Verstoß gegen die Sprachnorm durch die Sprecher einer prestigearmen bzw. prestigelosen Sprache oder eines solchen Dialekts nicht selten mit der sozialen Achtung dieser Sprecher sanktioniert. Dieses Phänomen lässt sich seit dem Aufkommen des Christentums fast kontinuierlich, das heißt in allen Stadien der Beziehung von Juden zu Christen nachweisen: Zentral für die Wahrnehmung der Juden in der westlichen (und christlichen) Welt ist die Vorstellung, es gebe einen angeborenen Unterschied, der sich in der jüdischen' Art des Umgangs mit Sprache zeige, sei es die jeweilige Landessprache, sei es die Sprache der Religion und des Ritus. Die Sprache der Juden wird dabei als verdorben betrachtet, als eine Sprache, die alles .zersetze', womit sie in Kontakt kommt. Das gilt von frühchristlicher Zeit an bis heute.3 Deutschland und die deutsche Sprache spielten in dieser Hinsicht eine besondere Rolle. Grundvoraussetzung für die Verdrängung jüdischer Sprachen durch das so genannte Neuhochdeutsche war bei einem Großteil der deutschen Juden der feste Wille, den von Gilman angesprochenen „angeborenen Unterschied" im „Umgang mit Sprache" aufzuheben und so die soziokulturelle Prestigeschere zu schließen. Nur durch Anpassung an die idealen Konstituenten einer — selbst noch unsicheren - Identität des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert versprach die Ε-

Ι 2 3

Polenz 1999, S. 12. Vgl. ζ. B. Richter 1995, S. 6 5 - 7 1 . Gilman 1993, S. 18.

Der Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen

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manzipation Wirklichkeit werden zu können. Allein mittels „Akkulturation" schienen sich die lange verschlossenen Tore der Nation auch für die deutschen Juden zu öffnen. Um sich dem offenen Feld terminologischer (Schein-) Gefechte bereits im Ansatz zu entziehen, sei an dieser Stelle gesagt: Mit dem Terminus „Akkulturation" ist natürlich kein einseitiger Prozess impliziert, an dessen Ende die vollständige Absorption einer Kultur durch eine andere stand. Sprachprozesse als Bedingungen und Parameter sozialen Handelns können gar nicht eindimensional sein. Die Beeinflussung im deutschjüdischen Verhältnis war interaktiv, und sie zeitigte in vielerlei Hinsicht gegenseitige Ergebnisse.4 Auch jene, die mit Gershom Scholems zorniger Charakterisierung des deutsch-jüdischen Dialoges als eines „Schreies ins Leere" sympathisieren und Übereinstimmungen zwischen deutschem und jüdischem „Wesen" als „Fiktion" bewerten5, kommen nicht umhin, einschneidende Ergebnisse der jüdischen Aufklärung (Haskala) zu konzedieren. Und wer mit Shulamit Volkov auf die dynamische Gegenbewegung der jüdischen „Dissimilation" insistiert6, muss deren Vorläufer und Ursache^) berücksichtigen. Für einen Großteil der deutschen Juden bildeten die Haska/a und ihre emanzipatorischen Folgen eine ganz zentrale Basis ihrer kulturellen Identitätsentwürfe. Mehr noch: Akkulturation war hier schon Inkulturation geworden, ehe die Dynamik der Diskulturation greifen konnte. 1879 hatte der Geschichtsprofessor und nationalliberale Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke „von unseren israelitischen Mitbürgern" eingefordert: „Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen."7 Solche Postulate blieben nicht auf rechtskonservative Kreise beschränkt. Auch Treitschkes liberaler Kollege Theodor Mommsen, bekennender Philosemit, Mitglied im überwiegend christlichen

4

5 6 7

Der Terminus „Akkulturation" ist in der vorliegenden Untersuchung also immer im Sinne der Definition von Strauss zu verstehen, nämlich als „ein kulturgeschichtliches und kulturanthropologisches Konzept, das die Begegnung von Elementen verschiedener Kulturen und ihre Synthese zu einer neuen Einheit in einem instabilen Gleichgewicht von verschiedener Dauer bedeutet. Akkulturation kann an objektiven, d. h. durch unabhängige Beobachter nachprüfbaren Merkmalen wie Sprache [...] im einzelnen dargestellt werden" (Strauss 1985, S. 9). Weil der die damaligen Debatten bestimmende Begriff „Assimilation" in der Auseinandersetzung zwischen den Zionisten und ihren Widersachern zunehmend negativ verwendet wurde und zudem die Dynamik der kulturellen Reziprozität im deutschjüdischen Verhältnis verstellt, hat sich „Akkulturation" unter historischen, normativen und analytischen Gesichtspunkten als der tragfähigere Terminus erwiesen. Vgl. S. 4, Anm. 13 der vorliegenden Studie. Volkov 1990b, S. 170f. Treitschke, Unser« Ansichten, 1879, S. 573. Vgl. Boehlich 1965, S. 8.

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Annäherung an die Norm: Die Sprachakkulturation der deutschen Juden

„Verein zur Abwehr des Antisemitismus" (VAA) und erklärter Lieblingsfeind Treitschkes, hatte den Juden ganz Ähnliches als „Pflicht" auferlegt. Ausgerechnet in einer polemischen Replik auf Treitschke im Jahre 1880 riet er seinen jüdischen Mitbürgern in nur scheinbar konziliantem Ton, soweit sie es können, o h n e gegen ihr G e w i s s e n zu handeln, auch ihrerseits die S o n derart nach bestem V e r m ö g e n v o n sich zu tun u n d alle Schranken zwischen sich und den deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen. 8

Derartige Ratschläge zur Beseitigung der jüdischen „Sonderart" standen in völliger Diskrepanz zur tatsächlichen Situation, denn Ende des 19. Jahrhunderts waren sie von einem Großteil der deutschen Juden längst mustergültig befolgt worden. Eine wesentliche Voraussetzung ihrer emotionalen Verbundenheit mit der deutschen Kultur bildete die rapide Verdrängung des Jiddischen zugunsten der neuhochdeutschen Sprache. Insofern kann es nicht verwundern, dass im Zuge der prozessualen Konsolidierung der deutschen (Kultur-)Nation gerade eine bis dato rechtlose Minorität wie die deutschen Juden in der sprachlichen Akkulturation eine Chance sah, endlich nicht mehr als fremd im eigenen Land diffamiert zu werden. Erstaunlich indes ist die Schnelligkeit, mit der dieser Prozess vonstatten ging. Den Gründen dafür gilt es hier nachzuforschen. Zum Prozess der jüdischen Emanzipation und Sprachakkulturation liegt eine Fülle von Studien und Aufsätzen vor.9 Diese Untersuchung soll sich insofern auf die wichtigsten Stadien konzentrieren. Ohne eine kurze Darstellung und Erläuterung dieser Stadien bliebe die enorme Bedeutung von Sprache nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern gerade auch im deutsch-jüdischen Verhältnis unverständlich.

1. Der Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen als Bedingung und Begleiterscheinung der Emanzipation Noch im ersten Stadium ihrer Emanzipation um 1800 waren die Juden in Deutschland soziale und kulturelle Außenseiter. Sie pflegten mit dem Westjiddischen eine eigene Umgangs- bzw. Erstsprache,10 bevorzugten im

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Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum, 1880 (zit. n. Barkai 2002, S. 21). Vgl. S. 18, Anm. 58 der vorliegenden Studie. „Aschkenasim" haben sich ursprünglich die mittel- und osteuropäischen Juden, „Sephardim" die spanisch-portugiesischen Juden genannt. Später wurden diese hebräischen Begriffe zu Synonymen für die räumlich-sprachliche Unterscheidung zwischen Ost- und Westjuden. Als „Aschkenasim" bezeichnete man ab dem 18. Jahrhundert dann vor allem die deutschen Juden. Das aschkenasische Westjiddische war demnach die alltäglich verwende-

Der Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen

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Schriftverkehr das hebräische Alphabet und waren in den Städten räumlich weitgehend gettoisiert. Obwohl die französische Revolution das Postulat der Gleichheit auch nach Deutschland getragen hatte, unterschied sich die rechtliche und existenzielle Situation der deutschen Juden Anfang des 19. Jahrhunderts kaum von der ihrer mittelalterlichen Vorfahren. Nach wie vor ließ man sie nur als geduldete .Fremde' gelten, nach wie vor gaben sie sich weithin als solche zu erkennen: The Jews [...] stood out distinctly from the Germans - placard-like for all to see — in their clothing, their lifestyle, their entire demeanour, and their language as well.11 Die jüdische Erziehung war auf Mehrsprachigkeit (Polyglossie) ausgerichtet. Die Grundpfeiler dieser Mehrsprachigkeit bildeten traditionell zwei funktional unterschiedliche Sprachvarietäten: das Jiddische und das Hebräische. Beide Sprachen, genetisch nicht miteinander verwandt und zeitweilig zueinander in Konkurrenz stehend12, wurden in jeweils differenten Situationen verwendet: Jiddisch als low variety in der informellen Kommunikation, Hebräisch als high variety13 innerhalb der religiös-rituellen Sphäre. Die Brücke zum Hebräischen hielt das Jiddische, indem es im Verlauf seiner Geschichte fortwährend Lehnwörter aus der heiligen Sprache inkorporierte. Auch im Schriftbild vermochte es nicht, sich vom Hebräischen zu emanzipieren, da der Schriftverkehr ausschließlich in hebräischen Lettern erfolgte. Jeder jüdische Junge musste hebräische Texte studieren, die für Gebete, Segenssprüche oder Festtage zentral waren. Dabei trug die orthodoxe Bildungsanstalt des Cheder, der traditionellen Grundschule für Juden, zum relativ hohen Bildungsgrad der jüdischen Minderheit bei. Im Alter von vier oder fünf Jahren übersetzten die Kinder die Thora Satz für Satz, lernten sie teilweise auswendig und lasen sich im Wechsel ein jiddisches und dann ein hebräisches Wort vor. Über den Talmud, dieses Meisterwerk rabbinischer Diskussionskunst, wurde ausgiebig auf Jiddisch diskutiert, wobei die Schüler die hebräischen Originalpassagen zitierten.14

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te, zumindest in informellen Situationen bevorzugte Erstsprache der in Deutschland lebenden Juden. Bering 1998, S. 262. Nils Römer zeichnet den Prozess nach, in dessen Verlauf das Hebräische durch das Jiddische verdrängt wurde. Erst die jüdische Aufklärung wertete das Hebräische wieder entscheidend auf (N. Römer 1995, S. 26-57). Vgl. zum Konzept der funktional different gebrauchten Zweisprachigkeit (Diglossie): Ferguson 1959 und Fishman 1967. Vgl. Harshav 1995, S. 183f.

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Bildung war ein Teil des religiösen Ritus, weshalb der Prozentsatz an Analphabeten unter Juden gering blieb.15 Dem trugen auch manche aufgeklärte Christen Rechnung. In der Literatur schuf Gotthold Ephraim Lessing 1779 mit seiner Figur des edlen und gebildeten Juden Nathan eine deutliche Gegenposition zum mittelalterlichen Klischeebild vom unerbittlichen Wucherjuden Shylock aus Shakespeares „Kaufmann von Venedig". Lessings Drama „Nathan der Weise" wurde dann zur literarischen Magna Charta jüdischen Emanzipationsstrebens. Bereits 1754 hatte der Aufklärer in seinem Theaterstück „Die Juden" zur Revision der anachronistischen Vorurteile gegen die jüdische Minderheit aufgerufen. Lessing glaubte, dass das Elend der Juden seine Ursache in der Unterdrückung durch die Christen habe, und forderte im Namen der Toleranz deren Befreiung und bürgerliche Gleichstellung. Seine philosemitischen Appelle blieben nicht wirkungslos. Der preußische Staatsrat Christian Wilhelm Dohm verpflichtete 1781 in seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" die Politik dazu, sich die staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller deutschen Juden zum Ziel zu setzen.16 Die moralische „Verderbtheit" der Juden, manifestiert im betrügerischen Handel und Wucher, sah Dohm als „notwendige und natürliche Folge der drückenden Verfassung [...], in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten befinden."17 Gebe man den Juden endlich die ihnen zustehenden Rechte als Bürgern und Menschen, so bessere sich auch ihre Moral.18 Dazu waren alle Ungleichgewichte zwischen Christen und Juden aufzuheben: die ökonomische und rechtliche Diskrepanz, die räumliche Gettoisierung, die Benachteiligung durch den Ausschluss vom Militärdienst — und die linguale Trennwand der anderen, eben jüdischen' Sprachen Jiddisch und Hebräisch.19 Die Resonanz auf Dohms couragierte Schrift war erstaunlich. Im zweiten Band veröffentlichte er die Reaktionen einflussreicher Zeitgenossen, darunter die des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis und des Philosophen Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn machte auf dem hindernisreichen Weg zum Ziel staatlicher Gleichberechtigung für die deutschen Juden sicherlich nicht die ersten Schritte, doch war er einer der einflussreichsten unter den jüdischen Maskilim, der bildungsbürgerlichen Trägerschicht der jüdischen Aufklä-

15 16 17 18 19

Vgl. Toury 1982, S. 86. Dohm hatte allerdings Einschränkungen gemacht. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern, also zum Staatsdienst, sollte den deutschen Juden zunächst verwehrt bleiben. Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil 2, 1783, S. 34. Ebd., Teil 1, 1781, S. 3. Ebd., Teil 2,1783, S. 110-130.

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rung, die hauptsächlich aus Ärzten, Hofjuden und Literaten bestand. Überzeugt von dem Gedanken, dass einerseits die religiöse Gesinnung Sache jedes einzelnen und nicht des Staates sei und andererseits jeder Einzelne dem Staat auch gewisse Pflichtopfer schulde20, suchte Mendelssohn die Balance zwischen kultureller Angleichung und religiöser Selbstbehauptung21 zu halten. Jiddischsprachig aufgewachsen, war er 1742 als 14jähriger Talmudschüler aus Dessau nach Berlin gekommen, um im Laufe der nächsten Jahrzehnte sich und seinen Glaubensgenossen die Vorzüge der „reinen deutschen Mundart" nahe zu bringen. Obwohl er für Privatbriefe vereinzelt noch das Jiddische wählte, publizierte Mendelssohn von 1755 an nur noch auf Deutsch.22 Er propagierte Zweisprachigkeit (in Deutsch und Hebräisch) in der Ausbildung der jüdischen Kinder und lehnte den „Jargon" als unzulässiges Konglomerat beider Sprachen ab. In einem Brief an den preußischen Assistenzrat Ernst Ferdinand Klein vom 29. August 1782 schreibt er: Hingegen würde ich es sehr ungern sehen, wenn [...] die jüdisch-deutsche Mundart und die Vermischung des Hebräischen mit dem Deutschen durch die Gesetze autorisiert würden. Ich fürchte, dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes beigetragen; und verspreche mir sehr gute Wirkung von dem unter meinen Brüdern seit einiger Zeit aufkommenden Gebrauch der reinen deutschen Mundart. 23

Das rabbinische, also interpretatorisch umgewandelte Hebräisch wurde von manchen orthodoxen Maskilim als ebenso korrumpiert angesehen wie der geschmähte „Jargon".24 Sowohl die „reine deutsche Mundart" als auch die heilige Sprache des Bibelhebräischen sollten vor Fremdeinflüssen bewahrt werden.25 Das doppelte Plädoyer der jüdischen Bildungselite hatte

20 21

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Zusammenhängend dargelegt in seinem Hauptwerk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, 1783. Exemplarisch verteidigt in Mendelssohns Brief an den Schweizer Theologen Lavater, der ihn vor die Alternative gestellt hatte, entweder Bonnets „Untersuchungen der Beweise für das Christentum" zu widerlegen oder sich taufen zu lassen. Mendelssohn bestand diese ,Feuertaufe' und antwortete unmissverständlich: „Allein von dem Wesentlichen meiner Religion bin ich so fest, so unwiderleglich versichert, als Sie, oder Hr. Bonnet nur immer von der Ihrigen sein können, und ich bezeuge hiermit vor dem Gott der Wahrheit [...] dass ich bei meinen Grundsätzen bleiben werde" (Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater, 1770, S. 10). Vgl. N. Römer 1995, S. 62 u. S. 44. Mendelssohn, Brief an Herrn Ferdinand Klein, 1782, S. 80 [Kursive: Α. K.]. Vgl. N. Römer 2002, S. 15. Mendelssohn forderte, „nach Beschaffenheit der Umstände, rein deutsch, oder rein hebräisch" zu reden. Auf jeden Fall sei jede „Vermischung der Sprachen" zu vermeiden (zit. n. Toury 1982, S. 77).

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in dem einen Fall traditionell religiöse, in dem anderen emanzipatorische Gründe. Während die jüdische Intelligenz in den Gemeinden den Verdrängungsprozess aufzuhalten versuchte, in dessen Folge das Bibelhebräische in Gebetbüchern und religiöser Unterweisungsliteratur zugunsten des Jiddischen oder des Rabbinerhebräischen an Einfluss verloren hatte,26 diente die Akkulturation an das Deutsche der erhofften Integration und Gleichberechtigung. Ganz im Sinne Humboldts hatte Mendelssohn erkannt, dass „die Sprache eines Volkes die beste Anzeige seiner Bildung, der Cultur sowol als der Aufklärung"27, sei. Der Zweck, so schien es, heiligte die Mittel. Wollten die deutschen Juden an der Aufklärung und damit an der Emanzipation teilhaben, dann mussten sie auch die Sprache der Aufklärung - die Sprache von Leibniz, Lessing, Kant — übernehmen und das vermeintliche „Modernisierungshindernis" Jiddisch28 hinter sich lassen. David Friedländer, Weggefährte und Freund Mendelssohns, rief 1778 in Berlin die erste „Jüdische Freischule" mit deutscher Unterrichtssprache ins Leben, in der neben Hebräisch und Deutsch auch Französisch unterrichtet wurde. Mendelssohns folgenreichste Tat für den Prozess der sprachlichen Akkulturation war seine Ubersetzung der mosaischen Gesetze (Pentateuch) aus dem Hebräischen ins Deutsche, eine Arbeit, die ihn von 1773 bis 1783 in Anspruch nahm. Sie erlangte schnell große Beliebtheit und konnte schließlich die herkömmlichen jiddischsprachigen Bibelausgaben ins Abseits drängen, auch weil Mendelssohn für seine Transkription das — von den Juden im Schriftverkehr wie in der Rezeption nach wie vor bevorzugte - hebräische Alphabet beibehielt. Nun lässt sich einwenden, dass diese Prozesse der Anerkennung und Habitualisierung sozialer Sprachnormen keinerlei Rückschlüsse auf die gesamte deutsche Judenheit erlauben, da die Haskala nur von einer kleinen, recht elitären Schicht jüdischer Aufklärer getragen wurde. Dieser Einwand wird insbesondere in der modernen Forschung zur jüdischen Emanzipation vertreten: Mendelssohns Bibelübersetzung partizipiere an einem allgemeinen „Entwicklungsstrang", könne jedoch nicht als Pioniertat gelten.29 Es ist hinsichtlich des eigentlichen Motivs für die Verdrängung des Westjiddischen indes gar nicht entscheidend, ob der Sprachwechsel nun primär erfolgte als Konsequenz aus den emanzipatorischen

26 27 28 29

Vgl. N. Römer 2002, S. 13. Zit. η. M. Mayer 1996, S. 292. Richter 1995, S. 79. N. Römer 2002, S. 12.

Der Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen

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Postulaten der Haskala,30 als Phänomen der sozio-kulturellen und sozioökonomischen Verbürgerlichung31 oder aber als Korrelation nationaler Integrationswünsche.32 Die erwähnte Schere zwischen Sprecherprestige und Sprachprestige schien sich eben nur um den Preis der Aufgabe normativ inkongruenter Spracheigentümlichkeiten' schließen zu lassen.33 An der brisant gewordenen Semantik des Jiddischen vollzog sich genau jener Prozess, den eine primär kulturwissenschaftliche und nicht strukturaüstisch interessierte Linguistik seit einiger Zeit verstärkt in den Blick zu rücken sucht: Die sprachlichen Verwendungszusammenhänge oder gesellschaftlichen Gebrauchssituationen im Sprachkontakt änderten sich umfassend und nachhaltig, und erst dieser sozial bedingte Kontextwandel hatte die bekannten Auswirkungen auf das Sprachsystem zur Folge.34 Besonders zwei der Handlungsmaximen, die laut Rudi Keller den Sprachwandel generell leiten, prägten auch die Sprachakkulturation der deutschen Juden im 18. und 19. Jahrhundert. Erstens: „Rede so wie die anderen." Oder als gesteigerte Anpassungsstrategie: „Rede so, daß du nicht auffällst." Und zweitens: „Rede so, daß du sozial erfolgreich bist."35 Die jüdische Minorität wollte weder von der nichtjüdischen Mehrheit missverstanden werden noch länger sprachlich negativ auffallen; und sie ersehnte ein Ende der sozialen Benachteiligungen. Beides schien den Juden nur erreichbar, indem sie den sprachnormativen Inklusionserfordernissen genügten und sich vom sozialen Exklusionsphänomen Jiddisch abkehrten. Dabei kam die zielorientierte Perspektivierung jeglicher Sprachbewertung zum Tragen, durch die der Gegenstand entsprechend 30 31 32 33 34 35

N. Römer 1995, S. 57-70. Lässig 2000, S. 620. Toury 1982, S. 79. Vgl. Richter 1995, S. 65. Vgl. Busse 2005, S. 24. Keller 1990, S. 135-142. Fraglich bleibt allerdings, ob sich Kellers Modell der „unsichtbaren Hand" auch auf die Zurückdrängung des Westjiddischen zugunsten des Neuhochdeutschen anwenden lässt, zumal es sich hier in erster Linie um das Phänomen des Sprachwechsels handelt - also um eine allmähliche Verdrängungserscheinung und nur sekundär um ein Transformationsphänomen. Keller versteht Sprachwandel als eine von Sprechern bewirkte Veränderung, ohne dass dies Letzteren selbst bewusst ist. Er schließt zwar aus, dass „bewußte Sprachpolitik oder Sprachplanung ,νοη oben'" sein Modell außer Kraft setzen könne, weil es weder eine Macht noch eine Kraft gebe, „die direkt auf die Sprache wirkt" (ebd., S. 129). Die sprachliche Akkulturation der deutschen Juden im 18. und 19. Jh. war jedoch in einem solch hohen Maße von oben erzwungen und von unten forciert, dass sie vielen jüdischen Sprechern auch in den Momenten der Veränderung bzw. Verdrängung bewusst gewesen sein muss. Oder hatte — eine Anekdote Tourys - der „Rabbinatskandidat, der sich monatelang von ,Semmeln' nährte, weil er die Aussprache von ,Brot' (Broit!) nicht in den Griff bekam", seinen Sprachwandel nicht am eigenen Leib erfahren? (vgl. Toury 1982, S. 84)

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auf- oder abgewertet wird.36 Das Ziel war die Emanzipation, das Mittel dafür die singuläre Aufwertung und schließlich exklusive Wertschätzung des Neuhochdeutschen. Die erstaunliche Rasanz der Sprachmetamorphose einer ganzen Glaubensgemeinschaft hat hierin ihre Gründe: Setzt man wie Jacob Toury den Beginn des Sprachwandels um 1770 an37, dann hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts — also innerhalb von gerade einmal 130 Jahren - „Mosche Dessaus Deutsch"38 den Status der bevorzugten Umgangssprache der deutschen Juden erworben.39 Völlig verschwanden Hebräisch oder Jiddisch gleichwohl nie aus der jüdischen Gesellschaft. Hebräisch wurde selbst in Reformgemeinden in der Liturgie weiterhin benutzt, Jiddisch vor allem in ländlichen Gebieten gepflegt und durch Binnenwanderung in die Urbanen Zentren getragen.40 Dass sich der sonst als inopportun geächtete „Jargon" dort eine kleine Anhängerschaft bewahren konnte, bevor die ostjüdische Massenimmigration nach 1880 ihm dann endgültig zu einer Art Renaissance verhalf, beweist auch die Existenz vereinzelter jiddischsprachiger Zeitschriften in den Großstädten. Dennoch muss konstatiert werden, dass nach der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Jiddische den Status der ersten Umgangssprache für die allermeisten deutschen Juden eingebüßt hatte. Der Sozialdruck führte erstens zum Rückzug des Westjiddischen in Subkulturen bzw. Berufsschichten, wo es dann als Sondersprache der Händler in anderer Form überdauerte. Zweitens blieb die Erinnerung an die jüdische Sprache wach in umgangssprachlichen Restsubstraten, die dann zunehmend pejorativ (als „Jüdeln" oder „Mauscheln") markiert wurden. Toury

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Vgl. zum Prozess planerischer Sprachbewertung: Schmich 1987, S. 123: „Bei Vorgabe eines Zieles suche ich nach etwas, das diesen erwünschten Zustand eintreten läßt, und frage: Was wäre dafür gut? Was würde sich in diesem Fall als Mittel eignen, ebendorthin zu gelangen? Was müßte geschehen, das sich positiv auf mein Ziel auswirkt?" Toury 1982, S. 80, Anm. 17. Toury unterteilt die „Sprachassimilation" in drei Perioden: 1. Phase von 1750 bis ca. 1788; 2. Phase bis 1815/16; 3. Phase bis 1848/49. „Mosche" ist die hebräische Version von Mendelssohns Vornamen, Dessau seine Geburtsstadt. Vgl. Bering 1991, S. 335. Dieser Lernerfolg war so mustergültig wie nachhaltig. Tonaufnahmen der Universität Eichstätt legen nahe, dass bis in die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts [!] deutsch-jüdische Emigranten nach Israel sich „eine Sprachkultur bewahrt [...] haben, die zwar im Deutschland der 20er Jahre noch ziemlich verbreitet war, inzwischen jedoch weitgehend verloren gegangen ist, und die sie selbst gelegentlich als ,Weimarer Deutsch' bezeichnen" (Wagener/Bausch 1997, S. 52); vgl. vor allem auch Betten 2000, die von der „Konservierung eines Bildungsbürgerdeutsch" spricht (S. 157). Die zweibändige phonai-Forschungsreihe bestätigt diese These anhand von über 160 Interviews mit deutsch-jüdischen Emigranten nach Israel.

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Volkov 2001, S. 89.

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liefert für die radikale Kritik an vorgeblich jüdischen „Mißlauten" selbst durch „früher tolerante Aufklärer" eine nachvollziehbare Erklärung: Der verhältnismäßig schnelle Erfolg sprachlicher und bildungsmäßiger Einordnung von Schichten, die man bisher in der Diskussion um die bürgerliche Gleichberechtigung für unwahrscheinlich, ja unmöglich, gehalten hatte - dieser Erfolg beunruhigte so weit, daß man ihn [...] durch Negativa erklären zu müssen glaubte.41 Die staatlichen Institutionen, welche die Emanzipationsedikte vorbereiteten, hatten diese Reaktionen ursprünglich nicht bezweckt. Im Gegenteil: Die Juden sollten durch Anpassung ja gerade alle Auffälligkeiten verlieren. Nicht bedacht worden war jedoch, dass bestimmte Kreise in der deutschen Gesellschaft eben daran kein Interesse hatten.

2. Edikte, Einheit und Ernüchterung Nicht aus humanistischem Idealismus, sondern allein um die Auswanderung wohlhabender Juden aus Preußen zu verhindern, hatte im Jahre 1808 der ehemalige ostpreußische Oberprovinzial Friedrich Leopold von Schrötter dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. einen Gesetzesreformvorschlag vorgelegt, der die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für Juden an weit reichende Bedingungen knüpfte. Nicht nur mussten die Juden vorerst ihre Familiennamen eindeutschen lassen,42 „deutsche" Kleidung tragen und den Bart ablegen, sie hatten sich darüber hinaus auch „bey ihren Unterschriften und andern zum öffentlichen Gebrauch bestimmten Schriften der deutschen Sprache und deutscher oder lateinischer Schriftzeichen [zu] bedienen".43 In dem Hardenbergschen Toleranzedikt vom 11. März 1812, das den nie umgesetzten Schrötterschen Entwurf beerbte und die preußischen Juden ebenfalls zu „Einländern" und „Staatsbürgern" erklärte44, waren sie nochmals zum Gebrauch der deutschen

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Toury 1982, S. 90f. Vgl. zum weiten Komplex jüdischer Namen und deren Stigmatisierung: Bering 1987. Publiziert bei Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, Bd. II, 1912, S. 228f. Eines der elf Gutachten zu diesem Entwurf verfasste der Staatsrat der Sektion des Kultus und des Unterrichts, Wilhelm von Humboldt. Humboldt war sich bewusst, auf welchem Fundament der Entwurf fußte. In einem Schreiben an Georg Forster vom 10. 11. 1788 bezeichnete er den Reformer Christian Wilhelm Dohm ausdrücklich als seinen „Lehrer" (Humboldt, Schreiben an Georg Forster, 1788, S. 21). Trotz dieser Verbesserung ihrer rechtlichen Situation konnte den preußischen Juden die Staatsbürgerschaft jederzeit wieder entzogen werden. Zudem war ihnen die Ausübung ei-

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Sprache in amtlichen Schreiben verpflichtet worden.45 Die deutschen Juden folgten dieser Direktive nach Kräften. 1834 forderte der „Grossherzoglich Badische Oberrath der Israeliten" in Karlsruhe die Schullehrer auf, „dahin zu wirken, dass der Gebrauch jener korrupten Redensarten [gemeint sind westjiddische Restsubstrate] in und ausser der Schule ganz fremd bleibe."46 Doch noch 1844 konstatierte der Hamburger Pädagoge Anton Ree in seiner Schrift „Die Sprachverhältnisse der deutschen Juden": Thatsächlich sprechen noch bis auf den heutigen Tag viele Juden ihre [deutsche] Muttersprache auf eine Weise, durch welche sie sich entschieden als Juden kenntlich machen. 47

Trotzdem schritt die Sprachakkulturation voran. Die deutschen Juden traten ein in die „allen aufgethane halle" der „angestammten, uralten spräche"48 und warteten, ihr eigenes Echo permanent auf nicht konforme Laute überprüfend, auf die Folgerung der Herderschen und Humboldtschen Prämisse, dass der Geist (sich äußernd in der Sprache) die Kulturnation forme und diese dann ihre sprachkompetenten Kinder aufnehme und behüte. Mit dem korrekten, ja, hyperkorrekten Gebrauch des deutschen Idioms panzerte man sich fortan gegen Angriffe. Der Zwangscharakter dieser Handlung kann nicht oft genug betont werden. Nur durch Anpassung an die idealen Konstituenten einer — selbst noch unsicheren — Identität des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert schien sich die staatlich versprochene Emanzipation zu realisieren. Nur durch Konformität im Bereich der Sprache glaubte die unterdrückte jüdische Minderheit die unverschuldete Ohnmacht aufheben zu können. Hier spiegelten sich die größte Sehnsucht und die größte Verletzlichkeit: Die vollkommene Beherrschung der deutschen Sprache - mit oder ohne Ablehnung des Hebräischen, des Jiddischen oder von beidem — wurde zum Wesen der jüdischen Akkulturation. Es war der auffallendste Aspekt ihres Erfolges und gleichzeitig der empfindlichste Ort für Kritik und Angriff gegen sie 49

45 46 47 48 49

nes höheren Staatsamtes grundsätzlich verwehrt (§ 9). Fremde, also nicht inländische Juden blieben rechdos und konnten ohne Angabe von Gründen aus Preußen ausgewiesen werden (§ 6). Vgl. Kampmann 1979, S. 136. Zitiert n. Richter 1995, S. 38. Ree, Die Sprachverhältnisse der heutigen Juden, 1844, S. 92. J. Grimm, Vorrede, 1854, S. LXV1I1. Vgl. Kap. II. 2.2, S. 36 der vorliegenden Studie. Volkov 2001, S. 92.

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Es war aufgezeigt worden, dass im Zuge der Umsetzung des bildungsbürgerlichen Konzeptes einer sprachbestimmten deutschen (Kultur-)Nation, welche die seit 1806 verlorene staatliche Einheit gleichsam substituierte, die neuhochdeutsche Sprachnorm zum Richtmaß für Nationalität und nationale Rechte geworden war. Denn wenn sich eine (Kultur-)Nation über eine Nationalsprache definiert, dann muss nationalsprachliche Kompetenz auch zur Aufnahme in die (nationale) Gemeinschaft führen. Die Mehrheit der deutschen Juden ließ diese, so glaubte sie, einmalige Chance nicht ungenutzt und übernahm das Repertoire des deutschen Bildungsbürgertums, indem sie sich politisch liberal, kulturell akkulturationsorientiert und wirtschaftlich mittelständisch justierte.50 Bildung und Liberalismus wurden dabei von Anfang an als ein zwangsläufiges Paar angesehen.51 Langsam, aber sicher verschmolz diese mehr oder minder homogene Gruppe zu einer spezifischen Soziokultur, die Mosse das „deutsch-jüdische Bildungsbürgertum" nennt.52 Zunehmend empfand diese Elite die alten jüdischen Traditionen als fremd. Ihr Jüdischsein, öffentlich ausgelebt allein noch in unregelmäßigen Synagogenbesuchen und unvermeidlichen religiösen Riten, zog sich ins Private zurück, wo sich dann der gesellschaftliche Umgang nicht selten auf Juden beschränkte.53 Die Geschichte der jüdischen Emanzipation stärkt insgesamt Kockas Annahme, dass das Bürgertum weder als Stand im Sinne feudalabsolutistischer Regime noch als Klasse im Sinne von Marx und Weber verstanden werden kann, sondern als eine Kultureinheit, gekennzeichnet durch einen Kanon spezifischer Werte, Normen, Lebensstile, Verhaltensweisen und Denkmuster.54 Der emanzipierte Jude eiferte dem „Idealtyp des gebildeten, aufgeklärten und ästhetisch angenehmen Bürgers" nach, und an diesem locus amoenus einer bürgerlichen Idealwelt wirkte ein Bürger mit jiddischem Akzent als Störenfried, ja, als „Widerspruch in sich".55 Die Beherrschung der Sprache, die Aneignung von Bildungsidealen und die stufenweise Habitualisierung eines nationalen Pathos schienen den Juden die einzig mögliche Chance zu bieten, in den sonst fest verschlossenen Raum gesellschaftlicher Integration und Akzeptanz zu treten, ohne gleich-

st) 51

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Vgl. Barkai 1981, S. 330-346. Vgl. Mosse 1990, S. 173f: „Gebildet-sein hieß liberal sein — auch in der Politik - eigentlich bis zum Ende des deutschen Judentums. Eine solche politische Einstellung war durch das Humboldtsche Bildungsideal mitbedingt." Vgl. Mosse 1990, S. 168. Wassermann 1986. S. 14f. Kocka 1987, S. 42-48. Lässig 2000, S. 657 u. 662.

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sam an der Türschwelle den Glauben der Väter ablegen zu müssen. Doch wo eine bürgerliche Kultur die Bildung zur Ideologie erhebt, kann sie Minderheiten genauso schnell aufnehmen wie ausgrenzen: einfach mit dem Hinweis, die Ideologie sei schlichtweg missverstanden worden oder habe sich eben geändert. Die staatliche und soziale Gleichberechtigung war von der deutschjüdischen Bildungselite eng mit der nationalen Einheit verbunden worden. Unter dem Eindruck der aufkeimenden national-liberalen Hoffnungen nach 1848 ließ ein Gabriel Rießer in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Der Jude" verlauten: Bietet man mir mit der einen Hand die Emanzipation, auf der alle meine innigsten Wünsche gerichtet sind, mit der anderen die Verwirklichung des schönen Traumes von der politischen Einheit Deutschlands mit seiner politischen Einheit verknüpft, ich würde ohne Bedenken die letztere wählen; denn ich habe die feste, tiefste Uberzeugung, daß in ihr auch jene enthalten ist. 56

Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Trotz ihres unbedingten Bekenntnisses zur deutschen Sprache und Kultur sahen sich die Juden mit extremen Anfeindungen konfrontiert. Trotz der offiziellen Aufhebung jüdischer Rechdosigkeit dauerten die sozialen Diskriminierungen gegen sie an. Obwohl mit dem Gesetz des Norddeutschen Bundes 1869 und per Reichsverfassung 1871 die Gleichberechtigung aller Staatsbürger festgeschrieben war, ließ die faktische Verwirklichung der verbrieften Rechte auf sich warten. Nach wie vor wurde der schon im Freizügigkeitsgesetz von 1867 verankerte Gedanke, dass die rechtliche Gleichheit aller Bürger vom Religionsbekenntnis unabhängig sei, gesellschaftlich torpediert: Ein Bekenntnis zum jüdischen Glauben, und sei es nur die formale Weigerung, diesem Glauben abzuschwören, brachte Benachteiligungen mit sich. Höhere militärische, administrative, politische und akademische Positionen waren für Juden gar nicht oder ungleich schwerer zu erlangen als für ihre christlichen Mitbürger.57 Zudem gewann die judenfeindliche Gesinnung in der Bevölkerung an Virulenz. Im Juli 1881 kam es zu antisemitischen Ausschreitungen in Brandenburg, Hinterpommern und Westpreußen, die Erinnerungen an die Würzburger „Hep-Hep"-Pogrome von 1819 wachriefen. In den 80er und 90er Jahren erlebte die Judenfeindschaft eine bis dahin nie erreichte Hochkon56 57

Zit. n. Friedländer, Das heben Gabriel Rießers, 1926, S. 88. Vgl. dazu auch Arnsberg 1991, eine der wenigen neueren Studien zu Rießers Leben und publizistischem Wirken. Für den Universitätsbetrieb um 1874/75 „galt weiterhin unverändert, dass jüdische Bewerber der christlichen Konkurrenz weit überlegen sein mußten, um den .Mangel des falschen Glaubens' zu kompensieren" (Kampe 1987, S. 188).

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junktur im deutschen Bürgertum. Laut Felden überstieg zwischen 1890 und 1894 „die Zahl antisemitischer Publikationen die der philosemitischen um ein Vielfaches".58 Kleriker wie der Hofprediger Adolf Stoecker, Wissenschaftler wie der Orientalist Paul de Lagarde und der Nationalökonom Eugen Dühring, aber auch Politiker wie Heinrich von Treitschke brachten ihre bekannten judenfeindlichen Äußerungen in die Debatte ein.59 Ob die modernen Antisemiten nun eher die in pseudo-religiöse Metaphorik eingefärbten Stereotypen Stoeckers übernahmen oder im Anschluss an Treitschke nach fremdnationalen Außenseitern im Inneren fahndeten — die fatale und später von den Nationalsozialisten dankbar aufgegriffene Schlussfolgerung blieb bei alledem dieselbe: „Die Juden sind unser Unglück!"60

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Felden 1963, S. 39. Für Näheres zu Treitschkes und Stoeckers judenfeindlichen Stereotypen vgl. wieder Felden 1963, S. 39—41. Zu dem für die antisemitische Ideologie einflussreichen Werk „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Kulturfrage" (1881) von Eugen Dühring vgl. Cobet 1973. Eine Aussage des Orientalisten Paul de Lagarde sei hier als ein besonders krasses Beispiel für Judenhass angeführt, denn sein Vorschlag zur Lösung der Judenfrage nimmt die nationalsozialistische „Endlösung" schon 1888 vorweg: „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht ,erzogen', sie werden so rasch und gründlich wie möglich unschädlich gemacht" (Lagarde, Juden und Indogermanen, 1888, S. 239). Treitschke, Unsere Ansichten, 1879, S. 575 (vgl. Boehlich 1965, S. 11). Von 1927 bis 1945 druckte Julius Streichers politpornografisches antisemitisches Hetzblatt „Der Stürmer" diesen Ausspruch Treitschkes in der Fußleiste jeder Wochenausgabe ab.

IV. Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept 1. Die Zeitschrift „Der Hammer" und ihr Herausgeber Theodor Fritsch „Was der Jude glaubt ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei", sangen die Nationalsozialisten in den 30er Jahren auf den Straßen Berlins.1 Diese Hymne eines vulgären Rassendiktats kam nicht aus dem Nichts. Sie ist das Ergebnis einer langen Reihe von vorbereitenden Schritten, hatte man die Rassentheorie doch lange Zeit als das betrachtet, was sie in den allermeisten Fällen war: ein wissenschaftlich zumindest zweifelhaftes, oft obskures und zunehmend chauvinistisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts, das nicht mit den dynamischen Traditionskräften Kultur und Sprache mithalten konnte. Hitlers politischer Triumph im Jahre 1933 sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein einfaches Unterfangen war, Jacob Grimms emphatische .Einladung an alle' zu ersetzen durch das dumpfe Privileg des Blutes im Sinne einer von dem französisch-jüdischen Moralphilosophen Emanuel Levinas so treffend analysierten „Reduktion des Anderen auf das Selbe".2 Nur mittels einer rücksichtslosen und zugleich ausgeklügelten Stigmatisierungsstrategie konnte die „künstlich gesteigerte Sichtbarkeit" des Juden auch von breiteren, ursprünglich nicht antisemitischen Bevölkerungsschichten verstanden werden als „Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht".3 Ein Periodikum, das ein 1

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Vgl. Heid 1995, S. 237: ,„Was der Jude glaubt ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!' war der stereotyp vorgetragene Slogan deutscher Gossenantisemiten." Ursprünglich stammt der Satz von dem deutschnationalen Reichstagsabgeordneten und antisemitischen Ideologen Georg Ritter von Schönerer. Levinas 1983, S. 186. Selbst ein so zwiespältiger Linguist wie Georg Schmidt-Rohr, der sich mehrfach und ausdrücklich auf Humboldt berief, wandte sich, bevor er nach 1933 sukzessive auf die Rassendoktrin der Nationalsozialisten zumarschierte, noch in der zweiten Auflage seiner Schrift „Die Sprache als Bildnerin der Völker" mit scharfer Polemik gegen die antisemitisch intendierte Unterordnung der Sprache unter somatische Supremate: „Wer die [...] lebendige Wesensart der Sprache erfaßt hat, der kann von vornherein nur lächeln über die ganz und gar unsinnige Vorstellung von der sonderwesentlichen, einer Rasse eigentümlichen ,arteigenen' Sprache" (Schmidt-Rohr, Die Sprache als Bildnenn der Völker; 1932, S. 224). Adorno/ Horkheimer 1944, S. 194f.

Die Zeitschrift „Der Hammer" und ihr Herausgeber Theodor Fritsch

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ganz entscheidendes Glied in dieser langen Kette von Etablierungsversuchen des Rassegedankens und der antijüdischen Ressentiments bildete, wird hier vorgestellt. Wenn es zum Verständnis der Völkischen Bewegung wie des aus ihr entstandenen Antisemitismus unabdingbar ist, „sich ins Souterrain von Publizistik und Literatur zu begeben und es nicht bei der Lektüre von geistigen Wegbereitern wie Gobineau, Lagarde und Chamberlain bewenden zu lassen"4, dann bietet das Antisemitenblatt „Der Hammer" eine hervorragende Gelegenheit, dieser Anforderung nachzukommen. Wer den völkischen Rassenantisemitismus erforschen will, kann diese Zeitschrift nicht ignorieren: Zu bedeutend ist ihre Wirkung auf all jene, die das deutsche Judentum unter diskriminierende „Sonderrechte" zu stellen bereit waren. Eine rassisch argumentierende Judenfeindschaft muss ihren Standpunkt zu Kultur und Sprache klären. Gerade dem widmete sich der „Hammer", auf den Blätter wie Goebbels' „Der Angriff dezidiert Bezug nahmen5, ausgiebig. Die im Januar 1902 mit einer Startauflage von 10 000 Exemplaren gegründete und bis 1933 in zweiwöchigem Turnus herausgegebene Zeitschrift „Der Hammer" mit dem Verlagsort Leipzig war von Anfang an ein ausgesprochen „judengegnerisches Blatt"6. Bis 1921 trug sie den Untertitel „Blätter für deutschen Sinn", der 1922 in „Zeitschrift für nationales Leben" umgeändert wurde. Erst im März 1940 wurde „Der Hammer" als die bis heute langlebigste antisemitische Zeitschrift endgültig eingestellt. Die Versuche der Redaktion, die schwerfällige Periodizität (zweiwöchige Editionsweise) und den eher konservativen Stil (sprachliche Weitschweifigkeit, optische Textfluten, Bilderarmut, altdeutsche Schrift usw.) sukzessive zu modernisieren, führten nicht zu der gewünschten Erhöhung der Verkaufszahlen. Mit der modernen Aufmachung, propagandistischen Innovation und populistischen Anziehungskraft nationalsozialistischer Tageszeitungen war Fritschs Zeitschrift spätestens mit Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 überflüssig geworden. Dass man diese „sich zuweilen wissenschaftlich gebärdende Zeitschrift"7 allerdings lange nicht als Nebensächlichkeit abtun konnte, erklärt sich zu weiten Teilen aus der Person ihres Herausgebers. 4 5 6

Puschner 2001, S. 18. Bering 1987, S. 436. So Fritschs eigene Angabe und Selbsteinschätzung in: Fritsch, Festschrift

7

bably the most-important anti-semitic journal" -wertet (Bering 1998, S. 284). ZGJD, Heft 1, Jg. 2, 1930, S. 60 (Siegmund Feist: „Zur Geschichte des ,Rassenantisemitismus in Deutschland'").

fiinfund^wan-

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Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept

Das Jahr 1933, in dem sich die Nationalsozialisten machtpolitisch endgültig gegenüber den Völkischen durchsetzten, markiert auch das Lebensende des 1855 geborenen Müllereiexperten und Publizisten Theodor Fritsch8. Fritsch, laut Puschner die „Galionsfigur des rassisch begründeten und argumentierenden Antisemitismus"9, zeigte sich im Alter als glühender Anhänger des Nationalsozialismus, dem die NSDAP zahlreiche Ehrungen zukommen ließ. Zu seinem Tod am 8. September 1933 schickten Goebbels und Hitler Beileidstelegramme.10 Sein Einfluss auf die völkischen und auch nationalsozialistischen Judenfeinde kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden.11 Zu Recht bezeichnete der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" diesen „Heerrufer im Streite gegen die ,verjudete' Presse und die ,verjudete' Kunst"12 im Jahr 1920 als einen „der gefährlichsten und skrupellosesten antisemitischen Hetzer"13, und für den deutsch-jüdischen Liberalen Heinemann Stern war er rückblickend „einer der erfolgreichsten Vorarbeiter Hitlers"14. Fritsch, 1924 Reichstagsabgeordneter der kurzlebigen „Deutschvölkischen Freiheitspartei", gründete 1912 den antisemitischen „Reichshammerbund", aus dem der Geheimbund „Germanen-Orden", die ThüleGesellschaft und der „Deutschvölkische Schutz- und Trutz-Bund" hervorgingen. Sein publizistisches Wirken als Herausgeber und Autor (auch unter den Pseudonymen Thomas Frey, Athanasius Fern, Fritz Thor und Friedrich Roderich Stoltheim15) umfasst über 60 Buchveröffentlichungen, unzählige Flugblattschriften16 und diverse Zeitschriftenartikel. Neben dem „Hammer" gab er im gleichnamigen Verlag eine Vielzahl anderer antisemitischer Agitprop-Schriften heraus, beispielsweise den seit 1918 in zahlreichen Neuauflagen erschienenen „Anti-Rathenau". Sein „Antisemitismus-Katechismus" von 1886, bis 1893 in 25 Neuauflagen gedruckt17 und allein bis zum Ende der Weimarer Republik in 100 000 Exemplaren ver-

8 9 10

11 12 13 14 15 16 17

Für nähere biografische Angaben zu Fritsch vgl. Zumbini 2003, S. 321—422. Puschner 2001, S. 57. Vgl. Hammer 32, 1933, S. 275. In dieser Nachruf-Edition kommen auch verschiedene Stimmen zu Wort, welche die Bedeutung der Person Theodor Fritsch für die NSDAP und namentlich für Hitler untermauern. Vgl. Katz 1989, S. 308. Bürger (VAA), Antisemiten-Spiegel, 1911, S. 276. VAA, Abwehr-ABC, 1920, S. 36. Stern 1970, S. 84. Vgl. Hammer 837, September 1938, S. 295 (Albert Kunkel: „Theodor Fritsch zum Gedächtnis"). Bergmann spricht von „jährlich einer Million antisemitischer Flugblätter und Schriften" des Hammer-Verlags (Bergmann 2002, S. 45). Ebd.

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breitet18, wurde als „Handbuch der Judenfrage" von den Nationalsozialisten kanonisiert. Hiüer zählt es in einem Brief an Fritsch vom 28. November 1930 zur Lektüre seiner Wiener Jugendzeit. Das Handbuch habe, so Hitler weiter, entscheidend geholfen, „den Boden vorzubereiten für die nationalsozialistische antisemitische Bewegung".19 Fritsch versuchte darin unter anderem, kulturhistorische Instanzen wie Goethe oder Fichte als Kronzeugen für die Notwendigkeit des Antisemitismus zu missbrauchen, indem er Zitate mutwillig aus dem Zusammenhang riss. Daneben wurden im Hammer-Verlag mit den „Protokollen der Weisen von Zion" und Henry Fords „Der internationale Jude" zwei besonders populäre Bücher über jüdische Weltverschwörungsszenarien ediert. Obwohl die anonymen „Protokolle" schnell als Fälschung enttarnt wurden und der amerikanische Großindustrielle Henry Ford sich später von seiner geschäftsschädigenden Hetzschrift distanzierte, spielten beide Publikationen eine eminent wichtige Rolle bei der Verbreitung judenfeindlichen Gedankenguts durch die NS-Propaganda. Zwar sind die Parallelen zwischen Fritschs antisemitischer Agitation und derjenigen der Nationalsozialisten vielschichtig, doch dürfen die Differenzen etwa zu Hider und Goebbels nicht einfach übergangen werden. Die anachronistischaltmodische Symbolik im Stile germanischer Heldenbücher samt altdeutscher Schrift, Runenalphabet und Sonnenwendendatierungen, die der „Hammer" pflegte, war Goebbels' oder Hiders Sache nicht. Fritschs durch nichts zu erschütternder Glaube an die arische Herkunft des Heilands gehörte schon gar nicht zu den agitatorischen Interessensschwerpunkten von Blättern wie „Angriff 1 oder „Völkischer Beobachter". „Der Hammer" war ein Resultat der Metamorphosen des Antisemitismus, beeinflusste und begleitete sie aber auch. Die religiösen Paradigmen des mittelalterlichen Antisemitismus hatten sich zu einer eher kulturzentrierten Judenfeindschaft geformt, die wiederum — stets in fließenden Übergängen - seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den kulturpessimistischen Biologismus des Rassenantisemitismus mündete. Dabei erhielt das historische Phänomen der Judenfeindschaft durch die Paradigmen der biologischen Positivisten, die sich Darwins Theorie von der natürlichen Selektion der Arten einverleibten, eine neue Dynamik.20 In unheilvollem Bündnis 18 19 20

Zumbini 2003, S. 340. Hider, ~Reden-Schnften-Anordnungen, Bd. 4, Teil 1: Oktober 1930-Juni 1931, S. 133f. Der in Kaiserreich und Weimar so populäre Glaube an die Allmacht der Naturgesetze, der Darwins evolutionäres Selektionsprinzip der Arten undifferenziert auf menschliche Gesellschaftsformen übertragen hatte, kam den Antisemiten zupass. Sprache, so diktierte der einflussreiche Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel einer zwischen Aufbruchstimmung und Selbstzweifeln hin- und hergerissenen Generation ins Stammbuch, sei der beste Ausdruck

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nutzten und missbrauchten im 19. und 20. Jahrhundert Antisemiten und „Hygieniker" die Rassentheorie für eine monomane Rassendoktrin, die den (jüdischen) »Andersartigen' herabzusetzen, auszugrenzen und endlich zu vernichten beabsichtigte. Der Wandel vom Kultur- zum Rassenantisemitismus, einhergehend mit dem Einsatz neuerer, noch massenwirksamerer Propagandamittel, resultierte auch aus einem Generationenwechsel. Populisten wie Josef Goebbels oder Georg Strasser lösten die Wortführerschaft von AltAntisemiten wie Theodor Fritsch, Adolf Bartels oder Werner Sombart, die mehr oder minder an der Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne standen, sukzessive ab. Dies lässt sich schon an der unterschiedlichen Periodizität ihrer Presse ablesen: Während Fritsch und der „Reichshammerbund" keine einzige Tageszeitung herausbrachten, warf Goebbels seinen „Angriff ab 1929 sechsmal wöchentlich mit einer Auflage von bis zu 70 000 Exemplaren (1932) auf den Markt.21 Zweifelsohne existierten mindestens bis zum Ersten Weltkrieg im völkischen Lager Strömungen, die den Rassebegriff als ein rein materialistisches Konstrukt ablehnten, weil sie das Volkstum primär als kulturellgeistige bzw. mythisch-religiöse, nicht aber als biologisch-rassische Einheit verstanden.22 Kaum zu bestreiten ist aber auch, dass die nicht-rassisch orientierten Bewegungen im modernen Antisemitismus niemals die Vorherrschaft erringen konnten. Spätestens seit 1920 galt: Bei allen Differenzen zwischen völkischen und nationalsozialistischen Judenfeinden, offenkundig allein schon in der Frage nach Sinn und Nutzen mythischgermanischer Völkerlehren, bildete die fixe Idee von der unterschiedlichen Wertigkeit der Rassen doch die Klammer, um beide Strömungen zusammenzuhalten. Ohne die Rassenlehre sind Motivation und Methodik der völkischen Bewegung unverständlich23, ohne sie bleiben auch die Wurzeln nationalsozialistischer Ideologie im Dunkeln. Schließlich resultierte die eifrige Abgrenzung der Nationalsozialisten von vielen Altvölkischen gerade aus dem Umstand, dass sie zuvor deren Gedankengut gezielt aufgegrif-

21 22 23

rassischer Determination, denn das Linguale „vererbe sich viel strenger als die Schädelformen" (Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1920, S. 602). Diejenigen Antisemiten, die in ihren Argumentationen auf das ,messbare (Menschen-)Material' so genannter Anthropometriker mit ihren „Schädelindexen" und „Kieferndaten" noch nicht setzen wollten, griffen solche Behauptungen dankbar auf und radikalisierten sie. Angabe bei Friedrichs 1992, S. 58. Vgl. Bergmann 2002, S. 46. Vgl. Puschner, der die Rasse als „Generalschlüssel zum Verständnis von völkischer Weltanschauung und Bewegung" betrachtet (Puschner 2001, S. 16).

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fen hatten.24 Die alte Kontroverse zwischen Kulturpessimisten und Kulturoptimisten, ob nun eher die genetische Disposition oder vielmehr die kulturelle Sozialisation das Menschsein bestimmte, war in der Völkischen Bewegung schon zugunsten des Rassenkonstrukts entschieden, als die Nationalsozialisten mit der Gründung der „Deutschen Arbeiterpartei" am 5. Januar 1919 erstmals die parteipolitische Bühne der Weimarer Republik betraten. Das galt gerade für die antisemitische Beurteilung jüdischer Sprachverwendung. Wie problematisch direkte Verbindungslinien von der Zeit vor 1933 bis in den Holocaust auch sein mögen, so ist doch unbestreitbar, dass Fritschs Antisemitenpresse die später von den Nationalsozialisten eingeleitete schrittweise Verschärfung der „zweckmäßigen AusführungsBestimmungen" für eine „Lösung" der Judenfrage entscheidend angetrieben hat. Die verfemende Abwertung der sprachlich-kulturellen Selbstdefinition der deutschen Juden bereitete, ob gewollt oder nicht, den Massenmord vor. Eine von der Inferiorität der jüdischen Mitbürger überzeugte Gesellschaft sollte die geplante Separierung oder sogar Ermordung der deutschen Juden hinnehmen, bestenfalls aktiv mittragen. Ohne Umschweife referiert Fritsch beispielsweise schon im März 1926 über einen möglicherweise notwendigen Genozid an allen rassisch, „leiblich und geistig Minderwertigen", wobei er im Vorhinein legitimiert, die „Bevölkerung Deutschlands um 20 Millionen Menschen zu vermindern"25. Fritsch und andere völkische Antisemiten halfen durch Periodika wie den „Hammer" ein ausgeklügeltes System von stigmatisierenden Ausgrenzungstermini zu etablieren, die der eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten zu nutzen wusste.

24

Vgl. ebd., S. 10: „Hider sah — wie im übrigen auch Goebbels — vor allem in den älteren völkischen Führern aus der Vorkriegszeit Rivalen des Nationalsozialismus." Auch die völkischen Judenfeinde empfanden keineswegs uneingeschränkte Zuneigung für die nationalsozialistischen Erben. Wenn Fritsch 1926 „Zum Führerstreit" in der antisemitischen Bewegung gegen „die Rede-Virtuosen" wettert, „denen es weniger um die Förderung der gemeinsamen Volkssache als um die Geltendmachung ihrer eigenen Person zu tun ist", dann muss er Hider im Visier gehabt haben, der schon zu der Zeit im rechtsnationalistischen Lager der dominante Redner war (vgl. Hammer 571, April 1926, S. 137, Theodor Fritsch: „Zum Führerstreit"). Die „neuen Führer" zieh Fritsch knapp vier Jahre später ganz unverhohlen der Undankbarkeit gegenüber den völkischen Pionieren, „denen sie ihre Ideen verdanken" (Hammer 663, Februar 1930, S. 5 3 - 5 9 , Theodor Fritsch: „NeuChristentum? - oder Deutscher Glaube? Offener Brief an Herrn Dr. Artur Dinter").

25

Hammer 570, März 1926, S. 1 1 6 (Theodor Fritsch: „Rassenpflege durch Ausscheidung der Minderwertigen").

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Für den behandelten Zeitraum birgt also der „Hammer" triftige Fakten. Die 30 Jahrgänge (1902—1932) wurden systematisch durchgearbeitet und auf ihre antisemitischen Sprachbewertungen hin analysiert.

2. Die Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache Fritschs Rassenkonstrukte haben eine Fülle an religiösen, wirtschaftlichen, mythischen oder naturwissenschaftlichen Paradigmen zur Voraussetzung. Diese jedoch eigens zu erläutern hieße, frühere Forschungsergebnisse zu wiederholen26 und das Erkenntnisinteresse der Untersuchung aus den Augen zu verlieren, das sich nicht auf die völkische Ideologie als Ganzes, sondern nur auf völkisch-antisemitische Ideologeme27 zu Sprache richtet. Ein antisemitisches Argument im „Hammer" erfährt demnach nur dann eine nähere Erläuterung, wenn es in einem sprachaxiologischen Zusammenhang steht oder in einen solchen eingeordnet werden kann. Immer zu bedenken ist dabei, dass die im Folgenden separierten Agitationsargumente notwendigerweise ineinander greifen. Gefragt wird: Welchen kulturellen und sozialen Wert haben völkische Publizisten in der Zeitschrift „Der Hammer" der Sprache zugemessen? Wie haben die Verfasser ihre Sprachbewertungen in einen antisemitischen Kontext gestellt, wie die Stigmata gesetzt, wenn sie die jüdische Sprachverwendung attackierten? Auf welche signifikanten antisemitischen Argumentationsschemata zum jüdischen Umgang mit Sprache konnten sie zurückgreifen? Und schließlich: Lassen sich Beispiele dafür finden, dass sie dem traditionellen Antisemitismus eine neue Stoßrichtung gaben? Mosse hat hervorgehoben, dass die deutsch-jüdische Kontroverse zum großen Teil eine Auseinandersetzung des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums „mit der deutschen Rechten in öffentlichen Medien" war.28 Die Attacken gegen die Einstellung der deutschen Juden zur Sprache gaben tatsächlich — das wird diese Untersuchung Schritt für Schritt zeigen — Anstöße für die Apologie der C.V.-nahen Presse. Zwar verspricht das enorme Textkorpus über den langen Zeitraum von 30 Jahren eine signifikante Repräsentanz antisemitischer Sprachbewertungen; doch kann die Untersuchung einer einzelnen, noch so zentralen Quelle nicht den An-

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Vgl. dazu wieder Puschner 2001, der neben Rasse und Sprache die Religion als drittes konstitutives Element völkischer Weltanschauung analysiert. Unter einem Ideologem ist eine standortabhängige Deutung von Fakten zu fassen, aus deren Kombination sich Ideologien ergeben (vgl. Jameson 1981, S. 76). Mosse 1990, S. 174f.

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Spruch erheben, den Diskurs antisemitischer Sprachbewertung in seiner ganzen Breite aufzuzeigen. Es geht hier vielmehr um einzelne topologische, das heißt für den herrschenden Diskurs relevante Grundmuster in den Einstellungen zur Sprache, und zwar im Spiegel eines der wirkmächtigsten und langlebigsten Presseorgane des völkischen Antisemitismus. Die analytische Strukturierung der agitatorischen Argumentation für einen angeblichen minderwertigen Umgang der Juden mit Sprache folgt dem Schema: (1) (2) (3) (4) (5)

Voraussetzungen) Vorwürfe/Stigmata Belege/Ausprägungen Probleme Schlussfolgerung(en)

Unter einem sprachspezifischen Argument wird im Folgenden immer eine Aussage zum Themenkomplex Sprache verstanden. Mit ihr kann beabsichtigt sein, eine andere Aussage, These, Behauptung etc. zu stützen. Ein Argument ist also eine begründende Affirmation, um einen spezifischen Geltungsanspruch durchzusetzen. Dies kann sich auf einen Einzelnen genauso beziehen wie auf größere Gruppen, deren kollektives Wissen den Argumentationsdiskurs leitet. Die Plausibilität eines Argumentationsmusters wird formal-logisch im Wesentlichen danach entschieden, ob die jeweiligen Schlussfolgerungen wahr/richtig oder aber unwahr/unrichtig sind. Wenngleich diese Untersuchung es sich zur Aufgabe gemacht hat, die argumentativ begründeten Sprachkonzepte ganz bestimmter Gruppen anhand einer empirischen Quellenauswertung genauer in den Blick zu nehmen, sind im Falle der antisemitischen Agitation doch Einschränkungen zu machen. Gerade die agitatorische ^Argumentation' der Antisemiten operierte mit einem derartigen Arsenal von hochgefahrlichen Spekulationen, Polemiken, Stereotypen und Stigmata, dass es sich historisch und analytisch verbietet, darauf Plausibilitätskriterien anwenden zu wollen. Die Behauptungen der Judenfeinde waren Attacken, die kein Kontra duldeten und absolute Selbstevidenz einforderten. Damit verweigerten sie sich bewusst dem argumentativen Spiel des Diskurses, das von der Überprüfbarkeit einer Aussage ausgeht. Die folgenden Klassifizierungen antisemitischer Agitationsargumente gegen jüdische Sprachverwendung sind demnach immer themenbezogen, und der daran anschließende Versuch, ein den jeweiligen Behauptungen inhärentes Kausalschema zu eruieren, dient in erster Linie der Illustration des Kerninhaltes antisemitischer

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Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept

Sprachideologie und nicht ihrer formal-logischen Prüfung.29 Es bleibt dabei, dass die völkischen Antisemiten des „Hammer" Unterstellungen öffentlich zu begründen versuchten, „deren Wahrheit sich" - mochten sie auch permanent das Gegenteil behaupten — „aus unmittelbarer Erfahrung und Beobachtung nicht ergibt"30. 2.1. Das B/ut„spricht". Die biologistische Basis: Die rassische Determination von Sprache (Agitation 1) Jede Ausgabe des „Hammer" von 1902 bis 1940 schloss mit den Worten „Es gibt keine Genesung der Völker vor Austreibung der Juden". Diese programmatische Zielvorgabe bestimmte den Antisemitismus des Blattes. An ihr orientierten sich auch die judenfeindlichen Sprachbewertungen der Autoren. Im April 1920 glaubt einer, die letztgültige Antwort auf die „Judenfrage" gefunden zu haben: ...selbstverständlich ist die geistig-sittliche Entwicklung — das ist Kultur — durch die rassische Anlage in Gehalt und Ziel bestimmt, kann nur national sein und wird durch fremdrassigen Einfluß verfälscht [...] Sobald die Bedeutung der Rasse für Staat und Kultur zugegeben ist, ist die Judenfrage im Sinne unbedingter Ablehnung und Ausscheidung aus dem staatlichen und kulturellen Leben seiner Wirtsvölker endgiltig [sie.] beantwortet, und es handelt sich danach nur noch um die zweckmäßigen Ausfuhrungs-Bestimmungen.31

Was im Folgenden noch detaillierter zu zeigen sein wird, lässt sich schon anhand dieser Passage erahnen: Die antisemitische Zeitschrift „Hammer" war der groß angelegte Versuch, erstens das Konzept der sprachbestimmten Kulturnation zu falsifizieren; zweitens Sprache und Denken - in völligem Gegensatz zu der kulturübergreifenden Sprachphilosophie eines Wilhelm von Humboldt - vordringlich oder ausschließlich durch Rasse zu determinieren; und drittens die Juden als die nach antisemitischer Sichtweise minderwertigste aller Rassen auf allen Gebieten, also auch in ihrem Umgang mit Sprache, so lange zu diffamieren, bis ihre „Ausscheidung aus dem staatlichen und kulturellen Leben" Deutschlands opportun und durchführbar sein würde. Aus antisemitischer Sicht war der „vermeintliche Gegensatz ,Deutsche und Juden'" 32 , den der Centraiverein ablehnte und in seinem programmatischen Denkmodell „jüdische Deutsche" auf-

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Siehe dazu etwa Kienpointner 1992. So fasst beispielsweise Göttert den Kern syllogistischer Argumentation (Göttert 1978, S. 1). Hammer 427/28, April 1920, S. 138f. („Vogel-Strauß-Politik"). Vgl. MCVZ, Dezember 1932, S. 76 (Hans Reichmann: „Deutsche ,und'Juden").

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hob, als ein unversöhnliches Adversativ zu propagieren. Die tatsächliche Similarität musste als Verschiedenartigkeit hingestellt, die Verschiedenartigkeit wiederum als Verschiedenwertigkeit verkauft werden. Als Hitler 1924 in „Mein K a m p f über den „kaum faßliche[n] Denkfehler" schrieb, „daß, sagen wir, aus einem Neger oder einem Chinesen [genauso wie aus einem Juden] ein Germane wird, weil er Deutsch lernt und bereit ist, künftighin die deutsche Sprache zu sprechen"33, da hatte der „veredelte Antisemitismus" des „Hammer" längst dafür gesorgt, das hinter solchen Äußerungen stehende Weltbild salonfähig werden zu lassen.34 Unbedingte Voraussetzungen dafür waren erstens die Präferenz eines chauvinistischen Rassenkonstrukts und zweitens die Ablehnung eines bürgerlichen Sprachverständnisses, das die Nation an die Nationalsprache koppelte und die Kompetenz in der Nationalsprache mit nationalem Zugehörigkeitsrecht verband. Das Leitmotiv des „Hammer" war antirationalistisch und kulturpessimistisch bzw. kulturfeindlich: Weder Bildung noch Vernunft noch Sprache, sondern die rassisch determinierte Existenz und die ihr innewohnende, ebenfalls biologisch bestimmte Essenz machten den Menschen für die überwiegende Zahl der Schreiber aus.35 Kultur wird nicht als ein vom menschlichen Willen gesteuertes Phänomen, sondern als bloßes Derivat physiologischer Prozesse angesehen. Art und Güte der jeweiligen Weltanschauung, seelischen Eigenschaften, Sprachen und Sprechweisen hängen an der Zusammensetzung des Blutes. Dessen Gesetze durchdringen das innere und äußere Wesen eines jeden Menschen, seine phänotypischen Eigenschaften, sein Denken, Fühlen, Handeln, seinen mündlichen wie schriftlichen Sprachvollzug. Affirmativpositive Bewertungen von Sprache finden sich demgegenüber nur verein-

33

34 35

Hider, Mein Kampf, 1924, S. 428. Schon am 16. September 1919 hatte sich Hitler in einem Brief an Adolf Gemlich entschieden dagegen gewandt, die Sprache als Beweis nationaler Zugehörigkeit anzusehen, denn noch nie habe der Jude „von fremden Völkern, in deren Mitte er lebt, viel mehr angenommen als die Sprache". Seine weiteren Ausführungen wirken wie Vorstudien zur zitierten Sprachpolemik in „Mein Kampf ": „Und sowenig ein Deutscher, der in Frankreich gezwungen ist, sich der französischen] Sprache zu bedienen, in Italien der italienischen und in China der chinesischen, dadurch zum Franzosen, Italiener oder gar Chinesen wird, so wenig kann man einen Juden, der nunmal unter uns lebt, und dadurch gezwungen, sich der deutschen Sprache bedient, deshalb einen Deutschen nennen" (Hider, Sämtliche Aufzeichnungen, 1905-1924, S. 89). „Kann man aus einer Rasse austreten? Hat man schon einmal einen aus dem Negertum ausgetretenen Neger gesehen?" (Hammer 423, Februar 1920, S. 56: „Umschau") „Da wir eben bei der seltsamen Meinung beharren, dass die deutsche Sprache nicht den deutschen Menschen mache, sondern - nun kommt das abgrundtiefe Geheimnis, das so vielen unentschleierbar ist - das deutsche Blut und der darin wohnende deutsche Geist" (Hammer 300, Dezember 1914, S. 661, Johann Ohneland: „Verwirrungs-Literatur und Trübungskünste").

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zeit. Dass allerdings sprachpositive Bemerkungen über die Jahre überhaupt auftauchen, beweist die Kontingenz von Resten bürgerlicher Anschauungen im Umfeld des Radikalantisemiten Fritsch. Zwei Kontroversen mögen dafür als Beispiele dienen. Im Oktober 1903 hatte ein nicht genannter Leitartikler aus Anlass der schwelenden Konflikte im multiethnisch-polyglotten Österreich-Ungarn dem traditionellen Konstrukt der Sprache als Definiens und Konstituens für Nation eine klare Absage erteilt: Nicht durch „Sprach-Gemeinschaft und äußere staatliche Zusammengehörigkeit", sondern einzig durch die „inneren Bande des Blutes und des Geistes"36 sei das nationale Ganze instand gesetzt. Das entsprechende Anschauungsmaterial liefert der Schreiber gleich mit: Dass die Sprache nur „ein Gewand' darstelle, das sei eben vorzüglich am Judentum aufzuzeigen, hätten die Juden doch trotz Diaspora und Akkulturation „die charakterlichen Eigentümlichkeiten ihres Stammes unabänderlich bewahrt". Interessanterweise blieb ein Aspekt davon nicht ohne Widerspruch. Norbert Jahn ließ in einer Replik vom Februar 1904 sogar ganz Erstaunliches vernehmen: Kein „Kleidungsstück", sondern ganz im Gegenteil ein „Prägestempel' der Nation sei die Sprache.37 So leicht wollte sich ein nationalbewusster Bildungsbürger denn also doch nicht sagen lassen, dass seine Sprache unbedeutend sei für die Bestimmung von Mensch und Nation. Aus dem Zusammenhang genommen, klingt Jahns Einwand tatsächlich wie ein Plädoyer für das Kulturnationsmodell. Jedoch ist der Widerspruch in einen Gegensatz gebettet, der dem Argument die Schärfe nimmt. Ein „Prägestempel" der Nation sei die Sprache nur für den Deutschen, für den Juden sei sie es nicht: Darum wird auch der Jude mitten im rein-tschechischen Gebiet, und wenn er auch nur tschechisch spricht, jüdisch bleiben von Geschlecht zu Geschlecht. Ihm ist die Sprache tatsächlich nur ein Gewand. Dem Deutschen aber und dem Arier überhaupt, dem keine unüberbrückbare Rassenkluft vom fremdvölkischen arischen Volksstamme trennt, dem ist seine Sprache mehr als ein Kleidungsstück.38

Beides, Kulturnationalität und Rassendünkel, müsse sich doch verknüpfen lassen, schien Jahn zu glauben. Fritsch glaubte es nicht. Von Anfang an hatte er sich dafür entschieden, in seinem judenfeindlichen Sendungsbewusstsein gerade nicht auf die Karte Lingua zu setzen. Denn dass sich hinter dem Anonymus des Artikels vom Oktober 1903, durch den die 36 37 38

Hammer 31, Oktober 1903, S. 452 („Zum Nationalitäten-Streit in Österreich"). Hammer 39, Februar 1904, S. 62f. (Norbert Jahn: „Eine österreichische [Kursive: Α. K.]. Ebd.[Kursive: Α. K.].

Epistel")

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Kontroverse ins Rollen gekommen war, mit ziemlicher Sicherheit Theodor Fritsch selber verborgen hatte, legen die Worte einer späteren Replik (wohl auf Jahns Einwand) nahe. Im Pluralis Majestatis stellt er klar: Wir bleiben dabei, daß die Sprache nur ein Gewand der Gedanken darstellt; und wenn nun auch ein wohl-erzogener Mensch auf die gute Beschaffenheit seines Gewandes alle Sorgfalt verwendet, so soll man doch über das Gewand niemals den Menschen selber vergessen, über das Außere nicht das Wesentliche, mit Worten nicht den Geist ersticken.39

Jahns paradoxe Einschätzung von Sprache — Sprache als prägend für die einen, als austauschbar für die anderen - wird von Fritsch deutlich relativiert, denn sie barg ein beträchtliches Potenzial zur Unterminierung der vorwiegend rassisch dominierten Agitationsstrategie. Erstens hätte eine abermalige Uberbetonung des Sprachprinzips die „Sprach-Reiniger" des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins stärken können, deren „übertriebenem" Fremdwortpurismus Fritsch misstraute40; und zweitens bot Jahns scheinbarer Einspruch einen Angriffspunkt gegen das antisemitische Etappenziel, die ,Demokratie' eines allgemein zugänglichen Sprachanspruchs durch eine ,Diktatur' des exklusiven Rassenkonstrukts ersetzen zu wollen. Selbst die geringste Möglichkeit, dass die sprach(zu)gewandten, akkulturierten Juden die offenkundige Widersinnigkeit in einer Argumentation wie derjenigen Jahns zu ihrem Vorteil ausnutzen könnten, schien Fritsch unterbinden zu wollen. Spätere Kommentare werden diesem Machtwort des Herausgebers Folge leisten.41 Wirklich ins Gewicht fallende Paradigmenwechsel von „Rasse" zu „Sprache", wie Bering behauptet, hat es im „Hammer" nach 1905 nicht mehr gegeben.42 Es sümmt zwar, dass auch später Kommentare auftau39 40

41

42

Hammer 71, Juni 1905, S. 253 (Theodor Fritsch: „Von den Sprach-Reinigern und ihren Übertreibungen") [Kursive: Α. K.]. Vgl. dazu wieder Hammer 71, Juni 1905, S. 253. Der von Herman Riegel 1885 in Dresden gegründete Allgemeine Deutsche Sprachverein nennt sich ab 1923 nur noch Deutscher Sprachverein. Vgl. zu Struktur, Konzeption und Programmatik des Sprachvereins bis 1918: Chickering 1994. Vgl. auch Hammer 291, Juni 1912, S. 291 („Sprache und Geist"): „Wir glauben nicht, dass jemand ein anderer Mensch geworden sein müsste, weil er einen anderen Rock angezogen hat." Vgl. Hammer 169, Juli 1909, S. 399f. (Dr. Ludwig Wilser: „Herkunft und Volkstum der Deutschen"). Wilser behauptet dort, dass die Sprache „nicht ererbt, sondern erlernt wird und sich wechseln läßt wie ein Rock, während aus seiner Haut noch niemand gefahren ist. [...] So kann die Sprache [...] kein untrügliches Merkmal für die Abstammung eines Volkes bilden" [Kursive: Α. K.]. Vgl. dazu und zu den analysierten „Hammer"-Passagen: Bering 1998, S. 285—289. Bering scheint mit der These des Cultural Pair eine triftige Erklärung anbieten zu können: „Mit einer Argumentation vom schlechten Deutsch der Juden konnte man der so offen daliegenden Wirklichkeit nicht mehr beikommen. Ein Ausweg musste her" — und dieser „Ausweg"

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chen, welche die Rolle der Sprache positiv bewerten, doch bleiben sie Ausnahmen von der Regel. Ihnen steht eine erdrückende Anzahl von Einlassungen gegenüber, welche die kulturelle Valenz der Sprache eindeutig zugunsten der Rasse degradieren. Die Rassendoktrin offen anzuzweifeln, getraute sich keiner der „Hammer"-Publizisten. Fritsch hätte solche Stellungnahmen wohl auch nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Spätestens mit der zweimaligen Klarstellung des Gründers, Herausgebers und Chefredakteurs war die ideologische Linie des „Hammer" festgelegt.43 Die Aufgabe des Sprachenprimats zugunsten von Blut und Rasse, mag sie auch in anderen sprachnationalistischen Diskursen erst ab 1933 signifikant erfolgt sein,44 ist im „Hammer", dem langlebigsten Propagandaorgan der völkischen Antisemiten, lange zuvor durchexerziert und gegen den .unsichtbaren jüdischen Feind' ausprobiert worden. In der antisemitischen Vorstellungswelt durfte die Sprache nicht mehr das Feld sein, auf dem die so kulturell beflissenen deutschen Juden die Früchte der Emanzipation ernten und vorzeigen konnten. Außen reif, seien die Früchte nichtsdestoweniger innen verfault, was arische ,Erkennungsexperten' an spezifischen Merkmalen festmachen zu können glaubten. Anders gesagt: Die eigentümliche jüdische Redeweise und Schriftlichkeit sollte das sinnfälligste Symptom der unheilbaren .Krankheit' sein, ein Jude zu sein und zu bleiben. Weil der Antisemitismus damit das erfolgreiche Projekt der jüdischen Emanzipation in Deutschland konterkarierte, fungierte er als eine Art gesellschaftlicher Gegen-Code.45 Obgleich manche unter den völkischen Judenfeinden die Muttersprache als „Prüfstein des Geistes", gar als „Gefäß des Volksgeistes" bezeich-

war dann eben das Rassendiktat. Der Versuch, eine Art Chronologie des antisemitischen Paradigmenwechsels im „Hammer" aufzuzeigen (der dann ja parallel zu den Sprachakkulturationserfolgen der deutschen Juden erfolgt sein musste), ordnet sich allerdings zu sehr dieser These unter. Als der „Hammer" im Januar 1902 erstmals publiziert wurde, beherrschten die deutschen Juden die neuhochdeutsche Leitvarietät längst. Der „Hammer" war nun keineswegs so schwerfällig, aktuellen Ereignissen derart hinterherzuhinken und wichtige antisemitische Strategieverschiebungen zu verpassen. Dafür prägte sein Herausgeber Fritsch selbst viel zu sehr die antisemitischen Meinungs-,Trends' der Zeit. 43

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Hammer 154, November 1908, S. 689 („National und international"), lässt einen Satz drucken, der an das Argumentationsvokabular der Deutschen Bewegung erinnert: „Die Sprache", heißt es da, „ist entstanden aus dem Denken und Fühlen eines Volkes und untrennbar vom Leben eines Volkes." Doch ist auch hier unbedingt der Kontext zu berücksichtigen. Der ungenannte Schreiber pocht auf die Wertigkeit der Nationalsprachen, weil er die Einfuhrung einer „Weltsprache" furchtet; nirgends stellt er das Sprachprinzip in positiver Weise gegen das Rassenkonstrukt. Vgl. Stukenbrock 2005, S. 448f. Vgl. Volkov 1990a, S. 26-35.

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neten und zur Hüterin wie Trägerin des „Erbgutes der Nation" erhoben46, werteten sie die Sprache als eigenständige Kulturinstanz nur scheinbar auf. In Wahrheit wurde das bei Humboldt geistige Modell des lebendigen Organismus Sprache degradiert zum bloßen Gen-Abdruck des „Herrenvolkes"47, den zu bewahren und von Fremdeinflüssen rein zu halten Sinn und Zweck jedweden Handelns war. Artikel wie die angeführten belegen aber auch, dass die rassenantisemitisch ausgerichteten Publizisten des „Hammer" ihre biologistischen Argumente zuweilen mit kulturantisemitischen Paradigmen verquickten. Die judenfeindliche Terminologie mit ihren Komposita, die ethnische, biologische und seelische Eigenschaften übereinander blendeten, spricht eine beredte Sprache dafür: Der Geist, den das 19. Jahrhundert zum Volksgeist erklärt hatte, mutierte schließlich zum Rassengeist, das Volkstum zum Rasse tum, die Seele zur Rassenseele,48 Die Reihenfolge der Komposita zeigt die Hierarchie an. Von einer „Rassensprache" ist hingegen nie die Rede. Auch in den angeführten Artikeln, die der Sprache eine eigene Wertigkeit zumessen, bleiben die Abhängigkeitsverhältnisse klar. Das „Rassetum eines Volkes"49 verträgt keine Bevormundung, ordnet sich aber gleichsam alles andere unter. Sprache und Sprechweise sind gänzlich durch Rasse determiniert. Physische Besonderheiten entscheiden über sprachliche Spezifika. Dazu bemerkt ein gewisser Enno Thießen: Daß die Ausgestaltung der Sprache v o n der Rasse-Eigentümlichkeit abhängen wird [...] ist wiederum unabweisbar. Und da die Sprache der äußere Ausdruck des Denkvermögens ist und in ihren hauten von den Sprechwerk^eugen abhängt, so muß die Sprache ursprünglich durch die physiologische Eigentümlichkeit der Rasse zunächst· ihres G e hirnes, ihrer Sprach-Organe und etwa ihrer Hör-Organe bedingt sein. W i r erhalten also einen Zusammenhang irischen Sprache und Rasse, an den man gewöhnlich nicht denkt, der aber in verschiedenen Richtungen zu denken gibt. 50

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Hammer 667/668, April 1930, S. 165 (Ernst Wachler: „Die Heimat als Quell der Bildung"). Wachler, auch Herausgeber des völkisch-antisemitischen Periodikums „Deutsche Zeitung", meint sich gleichermaßen auf Chamberlain wie Herder berufen zu können. Hammer 667/668, Aprü 1930, S. 165. Dieses ^Compositum, das die biologische mit der geistigen Ebene verquickte, erfreute sich in der Eugenik einiger Beliebtheit, vor allem bei dem eigentlich linguistisch ausgebildeten ,Rassenforscher' Hans F. K. Günther. Kultur ist ihm Folge und Ausdruck der „Rassenseele", die sich in der Sprache äußert - oder eben in der „Sprechweise, der rassenhaft bestimmten Aussprache". Denn schon „durch die Art, wie ein Volk, das seine eigene Sprache verloren hat, die angenommene artfremde [!] Sprache ausspricht, kann es immer noch seine Rassenzugehörigkeit verraten" (Günther, Kassenkunde des deutschen Volkes, 1933, S. 479). Hammer 136, Februar 1908, S. 117 („Unsere Ostmark"). Hammer 102, September 1906, S. 545 (Enno Thießen: „Rasse und Sprache") [Kursive: Α. K.].

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Humboldts sprachphilosophische Grundidee ist hier zum Zwecke eines biologistischen Diktats entstellt. Sprache ist nicht gleich Denken, sondern Kennzeichen der von der „physiologischen Eigentümlichkeit der Rasse" bestimmten Denkfähigkeit. Die Konsequenz solcher .Ursachenforschung' lässt sich leicht ersehen: Wenn die Sprech- und Hörorgane durch die Rassenzugehörigkeit determiniert und die Rassen wiederum einer hierarchischen Werteskala unterworfen sind, dann mag sich ein jüdischer Sprecher in scheinbar noch so reinstem ,Hochdeutsch' artikulieren — seine Sprache bleibt stets minderwertig, weil seine Rasse per se minderwertig ist. Aus dieser Stigmatisierungsfalle sollte, so die Strategie der Antisemiten, kein Entkommen für die deutschen Juden mehr möglich sein, schon gar nicht durch Berufung auf die Ideale der deutschen Kulturnation. Kommentare wie Ernst von Wolzogens Forderung vom Juli 1925, der „naturgegebene Grundsatz: Deutschland reicht so weit wie deutsche Zunge klingt, muß zu seinem Recht kommen", bildeten die Ausnahme, wenn sie nicht ohnehin einen vorwiegend chauvinistischen, eben: „naturgegebenen" Nationalismus predigten.51 Für ein Humanitäts- und Bildungsideal im Sinne Humboldts und Herders blieb im „Hammer" kein Raum. Kurz nach Kriegsausbruch lässt sich beispielsweise ein Dr. Unverricht mit der fast triumphalen Bemerkung aus, die „Auffassung, als ob die Nationalität eines Menschen lediglich durch die Sprache und die Staatszugehörigkeit bestimmt würde", sei nun endlich „überwunden". Nun sollten andere Magneten an den Polen des nationalen Kollektivs und des Einzelnen Kräfte entwickeln: „Über alle Bildung, Humanität und Toleranz hinweg ruft die Stimme des Blutes: Hier gehörst du her."52 Die „Stimme des Blutes" bildete eine stehende Wendung im „Hammer" und in anderer völkischer Literatur.53 Die plakative und symbolgeladene Metaphorik verband beide Komponenten - Sprache als „Stimme" und Rasse als „Blut" - in effektvoller Weise, und zwar wieder so, dass der Genitiv die Rangordnung anzeigte: Rasse ,hat' Sprache und nicht umge51

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Wolzogens Anspielung auf das berühmte Arndt-Gedicht findet sich in: Hammer 554, Juli 1925, S. 261 f. (Ernst von Wolzogen: „Großdeutsche Möglichkeiten. Neue Gesichtspunkte") [Kursive: Α. K.]. Hammer 300, Dezember 1914, S. 657 (Dr. Unverricht: „Sprache, Rasse und Nationalität"). Der antisemitisch gesinnte Philosoph Max Wundt behauptet 1924 ganz ähnlich: „So ist die Sprache wirklich die Stimme des Blutes, in ihrem Klang und Zeitmaß durch das Blut bestimmt" [Kursive: Α. K.]. Seine Folgerung — „Die Blutsgemeinschaft erzeugt die Sprachgemeinschaft" - überrascht uns nun nicht mehr, hatte der „Hammer" sie doch wieder und wieder sinngemäß heruntergebetet (Wundt, Was heißt völkisch?, 1924, S. 17). Der 1937 von den Nationalsozialisten seines Lehrstuhls enthobene Romanist Karl Vossler greift Wundt dafür scharf an (Der Morgen, Heft 5, Dezember 1925, S. 574-577, Karl Vossler: „Reine Sprache — Reine Rasse").

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kehrt. Jenseits weitschweifiger Erklärungen sorgte die Wendung dafür, den jüdischen Umgang mit Sprache pejorativ zu markieren und dem Rassendiktat unterzuordnen. Mit ihr ließen sich einerseits die zuweilen selber antisemitisch anmutenden Äußerungen von deutsch-jüdischen Berühmtheiten wie Walther Rathenau als enthüllende Standpunkte eines undeutschen Juden markieren54; andererseits eignete sich die Metapher auch dazu, philosemitische Nichtjuden wie Walter Reichsritter von Molo, den C.V.-Publizisten und zeitweiligen Präsidenten der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, als Helfershelfer oder Blutsbrüder der behaupteten jüdischen Weltgefahr zu diffamieren.55 Die zahlreichen Dokumentationen von Privataussagen, Publikationen und Presserezensionen im „Hammer", die oftmals näherer Angaben des entsprechenden Fundorts ermangelten, wurden so arrangiert, dass der redaktionelle Kommentar sich scheinbar hinter dem Fremdzitat verbarg und dadurch umso subtiler wirken konnte. Die Besprechung eines Dr. Kurt Münzer „über das Buch des Halbjuden Georg Fink ,Mich hungert'", die der „Hammer" im April 1930 zitiert, soll für die Behauptung Beweise liefern, dass die Werke jüdischer und nichtjüdischer Autoren jederzeit voneinander separierbar sind: So sieht man: der Jude kann sich bis ins kleinste Gehaben assimilieren: sein Judentum drückt sich unwandelbar in Wesen und Wesensäußerung aus. Es gibt - in der unpersönlichen Instrumentierung — einen jüdischen „Ton". Eine Seite Wassermann, Schnitzler, Kerr, Theodor Lessing gehalten gegen einen Thomas Mann, Stehr, Hesse, Spengler: und man hört sofort die Scbuingungsdifferenζ der „Töne". Es ist das Blut; das den Juden verrät. Es hindert ihn, Prolet zu werden unter Proleten, wenn er noch von ihnen stammt und zu ihnen gehört.56

Man beachte: Das Blut „verrät" den Juden. Auch hier war es also wieder die „Stimme des Blutes", die selbst in schriftlichen Zeugnissen die rassische Provenienz des Autors aufdeckt. Wie strategisch durchdacht dieser Artikel ist, zeigt sich an der darauf folgenden pointierten Schlussinformation: Ausgerechnet ein jüdischer Verband - Max Naumanns Verband nationaldeutscher Juden nämlich - tritt als Urheber und Kronzeuge für die These von der Trennbarkeit jüdischer und nichtjüdischer Sprachverwendung auf. Die angebliche Rede aus dem Munde interner Kreise soll den Verdacht der Parteilichkeit ausgerechnet von einem erklärt parteiischen Organ abstreifen. Wiederum wird behauptet, selbst diese Bemerkung des

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Hammer 609, November 1927, S. 552 (W. R.: „Rathenau der Hebräer"). Hammer 633, November 1928, S. 536 (Munin: „Innenpolitische Plaudereien"). Hammer 667/668, April 1930, S. 176 („Unverwüstlichkeit in Blut und Geist") [Kursive:

Α. K.].

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jüdischen Verbandes aus einer 2weiten, nicht dezidiert antisemitischen Quelle - hier: dem „Göttinger Tageblatt"57 - entnommen zu haben, was eine Seriosität, Objektivität und Aktualität suggeriert. In Wahrheit steckt hinter dem Zitat natürlich ein antisemitisch gefärbter Kommentar. 2.1.1. Schwiegersöhne, Geistesbrüder: Wagner, Chamberlain und die Synthese von Sprach- und Rassenantisemitismus Die rassefixierte Monoperspektive des „Hammer" stand nicht in einem ideologischen Vakuum, sondern basierte auf bestehenden Ideologien und baute diese aus. Die Rassendoktrin hatte am Ende des 19. Jahrhunderts durch ein Werk an Popularität gewonnen, das völkischen und nationalsozialistischen Kreisen in der Folgezeit als Standardwerk galt und bis 1915 eine Auflage von 120 000 Exemplaren erreichte.58 1899, nur drei Jahre vor dem Erscheinen der ersten „Hammer"-Ausgabe, hatte Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), selbsternannter Kulturphilosoph, Bewunderer Gobineaus59 und ein Schwiegersohn Richard Wagners, in seinem zweibändigen Werk „Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts" die Dependenz sprachspezifischer Performanz und Kompetenz von rassischen Determinanten deklariert.60 Der arischen „Herrenrasse" als Trägerin des kulturellen Vermächtnisses von Altertum, römischem Recht und Christentum fiel die Aufgabe zu, den von der semitischen Rasse genährten materialistischen Zeitgeist zu überwinden und eine neue, idealistische Weltanschauung zu etablieren. Für Goebbels, den promovierten Germanisten und gescheiterten Bankangestellten, wurde Chamberlain damit zum „Vater unseres Geistes", zum „Bahnbrecher" und „Wegbereiter",61 und auch zahlreiche Wendungen und Gedankengänge im „Hammer" verraten ihn als Vorbild. 1906, vier Jahre nach Gründung des „Hammer", publi-

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„Dieser Kommentar, diese letzten drei Zeilen, stammen nicht von uns, sondern — man höre und staune - von der Schrifdeitung des ,Nationaldeutschen Juden' — - - dämmert's auch da schon?" (Hammer 667/668, April 1930, S. 176 („Unverwüstlichkeit in Blut und Geist"). Bergmann 2002, S. 49. Joseph Arthur Comte de Gobineau hatte in seinem Werk „Essai sur l'inegalite des races humaines" (1853—1855) den „allgemeinen Grundsatz" aufgestellt: „Die Rangordnung der Sprachen entspricht der Rangordnung der Rassen" (zit. n. Gardt 2000b, S. 252). Chamberlain, Grundlagen des 'Neunzehnten ]ahrbunderts, Bd. 1, 1899, S. 349: „Die ganze Rasse ζ. B. ist es, welche die Sprache schafft" (vgl. zu Chamberlains Sprachauffassung: Lobenstein- Reichmann 2005). Goebbels, TagebücherBd. 1: 1924-1929, Eintrag am 8. Mai 1926, S. 247. Vgl. auch Ralf Georg Reuths Vorwort zu dieser Tagebuchausgabe, S. 29f.

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ziert Enno Thießen einen Artikel mit dem Titel „Rasse und Sprache", in dem es mit ironischem Unterton heißt: Die Entwicklung unserer Rassen-Forschung ist einmal eine Zeit lang unbestrittenes Gebiet der Sprachforschung gewesen, bis man die große Entdeckung machte, daß ein Schwarzer auch eine „weiße Sprache" lernen könne. 62

Chamberlain hatte sich nur sieben Jahre zuvor ebenfalls genötigt gefühlt, die Rassenfrage den „Dikta der Sprach- und Geschichtsforscher" zu entreißen.63 Indem er den Geist ans Gängelband der Rasse nahm, tilgte er Humboldts Grundthese, dass der Sprachvollzug dem in sich gegliederten Denkvollzug entspreche. Chamberlains Theorie des Rassensupremats ist voller Widersprüchlichkeiten. Dazu gehört sicherlich die Parallelisierung von Sprache und Rasse zum Zwecke eines zeitweilig mystifizierenden Sprachidealismus und Sprachnationalismus.64 Doch mochte der Autor der „Grundlagen" die Sprache auch noch so sehr ins Zentrum seiner wohlfällig formulierten Behauptungen rücken, letztlich war sie ihm vor allem Indikator, um rassische Differenzen erkennen und entsprechend markieren zu können. Seine Radikalisierung der Polemik Richard Wagners, der Jude spreche die Sprache der ihn beheimatenden Nation „immer als Ausländer",65 beeinflusste die folgenden Debatten zum jüdischen Umgang mit Sprache ganz entscheidend. Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik", zuerst veröffentlicht 1850 in der „Neuen Zeitschrift für Musik", wird zum Grundtenor antijüdischer Sprachpolemiken mit einem weiten Nachhall in den folgenden Jahrzehnten. In der kurzen Schrift findet der Kulturantisemitismus seine wohl effektivste und hartnäckigste Kontrastimagination. Ausgehend von einer „instinktiven Abneigung" gegen das „unwillkürlich Abstoßende" im jüdischen Habitus66, spricht Wagner dem Juden schlechthin die Fähigkeit ab, eine wesensimmanente Schöpfungsgabe in der lediglich angeeigneten Idiomatik seiner nichtjüdischen Umwelt entwickeln zu können: „In dieser Sprache [...] kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen."67 Dieses Urteil war so pauschal wie apodiktisch, denn damit konnte selbst der stilistisch elaborierte, perfekt hochdeutsch sprechende Jude dem Verdikt ewiger Sprachinkompetenz nicht entkommen. Treitschke hatte 1879 zwar lauthals prophezeit, es werde 62 63 64 65 66 67

Hammer 102, September 1906, S. 544 („Rasse und Sprache"). Chamberlain, Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, 1899, S. 255. Vgl. Lobenstein-Reichmann 2005, S. 202-206. Wagner, Das judenthum in der Musik, 1850, S. 70. Ebd., S. 67. Ebd., S. 71. Vgl. zu Wagners Stellung zum Judentum: Borchmeyer 1986, S. 137-161.

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„immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen"68, doch war ihm die radikal-assimilatorische Eingliederung in das Staats- und Volkswesen immerhin möglich erschienen. Nach Wagner war gerade dies undenkbar. Die bereits zu seinen Lebzeiten höchst erfolgreiche Sprachakkulturation der deutschen Juden wurde von ihm de facto für null und nichtig erklärt. Nicht bewusst, sondern „unbewußt" seien die Juden in die nichtjüdische Gemeinschaft gekommen, nicht in sie hineingewachsen, sondern nur in ihr aufgewachsen, also fremd geblieben.69 Obwohl die judenfeindlichen Schreiber des „Hammer" den durch Wagner populär gewordenen Vorwurf der jüdischen Epigonalität im Umgang mit Sprache und Kultur zu einem Leitgedanken ihrer Agitation machten, ließ sich Wagners eher kultur- als rassenantisemitisch gefärbte Schrift nicht für biologistische Hierarchisierungsmuster nutzen. Der „Hammer" glich diesen Missstand aus, indem er die Hypothesen der Geistesbrüder Wagner und Chamberlain sozusagen synthetisierte und zu einer dezidiert rassischen Sprachverfemung aller Juden verquickte. Mit der „Stimme des Blutes" war der Rahmen vorgegeben, in dem sich ein sprachspezifischer Kulturantisemitismus mit einem modernen Rassenantisemitismus treffen konnte. Diesem Schema blieb die Zeitschrift, die sich ausdrücklich in die Traditionslinie von Gobineau und Chamberlain stellte70 und Wagner als „Vorkämpfer der völkischen Gedankenwelt" pries71, weitgehend verhaftet. Chamberlains Mahnung, dass nicht nur ungünstige ,Mischverhältnisse', sondern auch die totale ,Rassenreinheit' den Kultur- und Sprachverfall beschleunigen würden, findet im „Hammer" jedoch keinen Widerhall72; ebenso ausgeklammert bleiben seine zwischenzeitlich nicht-rassischen, im Duktus von Arndt und Fichte als Angriff auf das romanische Idiom73 verfassten Lobgesänge auf die Prävalenz der deutschen Sprache.74 Obwohl 68 69 70 71 72

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Treitschke, Unsere Ansiebte», 1879, S. 576. Wagner, Das Judenthum in der Musik, 1850, S. 71. Hammer 569, März 1926, S. 93 (R[udolf| Linke: „Neues Rassen-Schrifttum"). Hammer 625, Juli 1928, S. 323-26 (Fritz Stumm: „Richard Wagner als Vorkämpfer der völkischen Gedankenwelt"). Diese Differenzierung, die Chamberlain im Übrigen deutlich von Gobineau scheidet, lag nicht im Interesse Fritschs. In seinem Pamphlet „Geistige Unterjochung" wendet sich der Hammer-Herausgeber eindeutig gegen eine „Bluts-Vermischung" voneinander „stark abweichender Rassen" (Fritsch, Geistige Unterjochung, 1913, S. 19). Vgl. Chamberlains Abwertung des Französischen in: Chamberlain, Deutsche Sprache, 1915, S. 29. Vgl. ebd., S. 25—35: „Dieser Sprache ist gewiß der Sieg bestimmt [...] unter lebenden Sprachen steht fraglos die deutsche einzig da, in einer Majestät und einer Lebensfuüe, die jeden Vergleich ausschließen" (S. 25). Oder, dann doch in mystifizierendem Direktvergleich: „Ich glaube, wie an Gott, an die heilige deutsche Sprache!" (S. 35) Selbst bildungsbürgerliche

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Fritschs Antisemitenorgan ganz im Sinne des britischen Wahldeutschen Chamberlain voller Mythisierungen des Germanentums steckt, bleibt die Sprache von derlei Überhöhungen weitgehend ausgenommen. Nicht nationalistisch-chauvinistische Sprachidealisierung (= die eine Sprache als Ausdruck der kulturellen Überlegenheit über anderes und andere), sondern Sprachbanalisierung (= Sprache als bloßer Abdruck genetischer Determination) leitet die Argumentation. Zwar wird das Indogermanische als Sprachwerk des arischen „Kulturvolkes" aufgefasst, das sich dank des „arischen Kriegeradels" in den eroberten Gebieten halten und bei unterworfenen Völkern ausbreiten konnte, doch ist damit immer die Superiorität der arischen ,Herren-Rasse' intendiert, deren eines Merkmal eben die Sprache ist.75 Damit liegt der „Hammer" ganz auf Hiders Linie: Der Arier wird deshalb zum „Kulturbegründer", der Jude deshalb zum „Kulturzerstörer"76, weil jener über die hochwertigsten, dieser über die minderwertigsten Rasseneigenschaften verfügt. Sprachannahmeprozesse vermögen diese Kluft nicht zu überbrücken.77 2.1.2. Schriftsprache und Sprechart Die im „Hammer" kontinuierlich durchgehaltene These von der prinzipiell immer möglichen Separierbarkeit „jüdischer" und „arischer" Literatur war keineswegs originell. Auch hier konnte das Antisemitenblatt auf eine lange Traditionslinie zurückgreifen. Am neuralgischen Punkt dieser Linie sind insbesondere die Schriften des .Literaturwissenschaftlers' Adolf Bartels anzusiedeln, die der „Hammer" seinen Lesern ausdrücklich zur Lektüre empfiehlt.78 Der vom sächsisch-weimarischen Großherzog zum Professor ernannte Bartels, der selbst im „Hammer" publizierte79, gehörte

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Ideen von der deutschen Kulturnation finden sich in Chamberlains Sprachnationalismus wieder. Wieder einmal soll die Sprache richten, was dem Militär versagt bleiben könnte: „Ein unsagbarer Segen ist es, dass politische Nation und Sprache nicht zusammenfallen: Deutsch ist, wer die deutsche Sprache redet" (S. 30f.). Nur so kann Chamberlain — in ungebremst chauvinistisch-germanophiler Hypostasierung — fordern, „die deutsche Sprache der Welt aufzuzwingen" (S. 33). Hammer 233, März 1912, S. 118 (Karl Felix Wolff: „Sind die Romanen Arier?"). Vgl. Hider, Mein Kampf, 1924, S. 318. Hammer 233, März 1912, S. 205 (Karl Felix Wolff: „Sind die Romanen Arier?")· Hammer 632, Oktober 1928, S. 510-13 (Wilhelm Huber: „Deutsche Literaturpolitik und Geistesverwirrung/Zeitgemäße und grundsätzliche Betrachtungen"). Bartels legte nach Fritschs Tod seine besondere Beziehung zu dem Grunder des „Hammer" dar und bezeichnete sich als regelmäßigen Leser der Zeitschrift (vgl. Hammer 32, 1933, S. 287, Adolf Bartels: „Mein Verhältnis zu Theodor Fritsch").

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ebenso „wie der von ihm verehrte Houston Stewart Chamberlain zu den populären Vertretern des Kulturantisemitismus"80. Mit einer gegen jeden Widerspruch immunen Penetranz forderte er die „reinliche Scheidung" von jüdischer und deutscher Literatur. Zu diesem Zweck füllte der passionierte Rassensektierer ganze Bände mit Zitaten, die eben diese Trennung befördern sollten. Es kann nicht verwundern, dass auch Bartels dabei Wagners unglückseliges Diktum von der jüdischen Sprachinkompetenz aufgriff: Nichts scheidet den Juden — jeden Juden — so scharf von dem arischen Deutschen wie seine völlige Unfähigkeit, das Deutsche deutsch zu sprechen und zu schreiben. 81

War die Ausnahmslosigkeit („jeder Jude") erst einmal zum Prinzip gemacht, dann bedurfte es nur noch eines ,Entschlüsselungs- und Separationsexperten' wie Bartels, um das assimilatorisch verdeckte Defizitäre und Destruktive im Umgang der Juden mit Sprache eruieren und entsprechend brandmarken zu können. Neben dem wissenschaftlichen Autodidakten Adolf Bartels glaubten einige andere Rassentheoretiker, einen „fremden Sprachgeist" in der deutschen Schriftsprache selbst bei den „Kulturjuden" konstatieren zu können.82 Auch Bartels' Hauptforderung, dass jüdisches von deutschem Schrifttum separiert gehöre, war nicht neu. Schon der nicht minder einflussreiche Soziologe und Volkswirtschafder Werner Sombart hatte sie ins Zentrum seiner anti-assimilatorischen, die zionistischen Auswanderungspläne begrüßenden Schrift zur „Zukunft der Juden" gerückt.83 Aber erst Bartels suchte mit einem Werk wie „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaften" von 1925, das in immer neuen Auflagen auf den Markt kam, den „Semi-Kürschner" in der Literaturwissenschaft zu beerben.84 Im Stile antiker Proskriptionslisten sollten seine 80

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Rösner 1996, S. 874. Der völkische Antisemitismus des Adolf Bartels hat bisher nur vereinzelt das Augenmerk der Antisemitismusforschung gefunden. Rösner gibt zwar eine detailreiche Zusammenfassung seiner literaturwissenschaftlichen und politischen Tätigkeiten, fokussiert auch deutlich auf Bartels' Einfluss auf die Nationalsozialisten in den von seinen Schülern „vertretenen Bereichen der Kulturpolitik", findet aber für seine judenfeindliche Sprachpolemik kaum ein Wort. Zit. n. Bering 1998, S. 13. Nicht zufällig erklärt Bartels in seiner Schrift „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft" Wagners „Judenthum in der Musik" zur antisemitischen Pflichtlektüre, um die „Psychologie der jüdischen Literatur und Literaten" verstehen zu können (vgl. Bartels, Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, 1925, S. 121). Hauser, Rasse und Kultur, 1924, S. 57. Siehe Eugen Fuchs' kritische Beleuchtung der argumentativen Paradoxien Sombarts in: Fuchs, Die Zukunft der Juden, 1912. Der von Phillip Stauff 1913 in Berlin-Lichterfelde herausgegebene „Semi-Kürschner" war ein berüchtigtes antisemitisches Lexikon, das Menschen diverser Berufe („Schriftsteller,

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Publikationen Judengegnern dazu dienen, unliebsame Widersacher gesellschaftlich kaltzustellen. Weil jedoch zu Bartels' Lebzeiten die Mehrzahl der Juden die deutsche Sprache mindestens ebenso gut wie ihre nichtjüdischen Mitbürger beherrschte, musste der Rassensektierer erstens die Dynamik und Effektivität der jüdischen Emanzipation anzweifeln bzw. ganz verneinen und zweitens indirekte Trennbarkeitsindizien wenn schon nicht finden, dann doch erfinden. Beidem widmete sich der „Professor" ausgiebig. Dazu bediente er sich hauptsächlich zweier Verfemungsmuster: Erstens komme auch bei dem vortrefflichsten Sprachmeister des Deutschen, sofern er Jude sei, in unbeobachteten Momenten die wahre, nämlich jüdische Sprechweise zum Vorschein85; zweitens lasse sich auch in schriftlichen, vor allem in literarischen Zeugnissen eine ausschließlich jüdische von einer ausschließlich arischen Sprachart unterscheiden. In Bartels' Weltbild offenbart sich das sprachliche „Vertuschungssystem" der Juden an der spezifisch jüdischen Fähigkeit zur Aufnahme hochdeutscher „Poesie-Elemente"86 bei gleichzeitiger Unveränderbarkeit des jüdischen Wesens. Die Zielsetzung solcher Polemiken blieb stets die gleiche und unterschied sich nicht wesentlich von den Plänen eines Chamberlain oder anderer Exponenten des völkischen Antisemitismus. Es galt, die individuelle und nationale Pseudo-Identität rassereinen Ariertums von einer möglichst irreversiblen Stigmatisierung des Juden abzuheben und dadurch neu zu konturieren. Dieser Prägestempel des Jüdischseins haftete auf ewig an seinem Träger: Kein Volk der Welt ist für mich so anti-arisch wie das jüdische, Judentum ist mir fast wie ein geistiges Stigma, ein Brandmal, das sich keiner v o n der Seele entfernen kann. 87

Da aber seelische Brandzeichen weder greifbar noch sichtbar sind, musste Bartels sie begreifbar und sichtbar machen. Er versuchte dies mit Hilfe von Vermutungen und Verdächtigungen, die so vage blieben, dass sie eigentlich nicht einmal den Anstrich von Wissenschaftlichkeit beanspruchen konnten.88 Kurt Tucholsky waren sie eine bissige Satire wert, in der er die

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Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler ...") als Juden markierte und ihre Tätigkeiten diffamierte. Selbst Moses Mendelssohn, deutsch-jüdisches Idol der erfolgreichen Akkulturation vom Jiddischen zum Deutschen schlechthin, habe „heimlich" anders gesprochen als „öffentlich", da er „nicht als Deutscher", sondern als „eigennationaler Jude" gefühlt habe (Bartels, jüdische Herkunft und Uteraturmssenschrft, 1925, S. 47). Bartels, Kritiker und Kritikaster, 1903, S. 104. Bartels, jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, 1925, S. 177. Den Schriftsteller Rudolf Hirsch spricht Bartels allein deshalb von der Anklage „Jüdisch" frei, weil „sein Bruder Förster war". Zum Juden stempelt er den Dichter Heinrich Ritter

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„Judenriecherei" dieses „im Irrgarten der deutschen Literatur herumtaumelnden Pogromdepps" und ,,Ober£örster[s] auf der Judenjagd" scharf attackierte.89 Die Kritik an der Schwammigkeit seiner Nachweise führte bei Bartels allerdings nicht zu argumentativer Schärfung, sondern steigerte bloß seinen rasenden Ehrgeiz, immer weitere ,Indizien' für den spezifischen Charakter jüdischer Dichtung zu entdecken. In den Untersuchungen des Sprachwissenschaftlers Eduard Sievers hoffte er, endlich „eine feste Grundlage" für seine Vorstellungen gefunden zu haben. Sievers' Schallanalysen hätten, so Bartels, die Chance eröffnet, „jüdische Dichtung auf Grund ihrer sprachlichen, phonetischen Wesensart zu erkennen". „Jüdische Sprachkurven" etwa bei Heine würden genau das wissenschaftlich belegen, was auch dem Ohr des Laien nicht verborgen bliebe: Daß jüdische Dichtung in deutscher Sprache einen anderen Klang hat als echtdeutsche, wissen ja auch wir Laien („ich weiß nicht, was soll es bedeuten" usw.), ja, wir erkennen auch die jüdische deutsche Prosa als solche, empfinden ζ. B. ganz deutlich, w o Ludwig Börne mauschelt, und bestimmte Judaismen im modernen Zeitungsstil. Ganz abgesehen davon, daß die Juden als Fremde auch Fehler machen. 90

Hier also sollte der so sehnlich erwartete Beweis für die „Schwingungsdifferenz der ,Töne'" 91 selbst in der Literatur endlich in greifbare Nähe gerückt sein. In der Anwendung der Philologie bzw. Phonetik auf die Anthropologie war der zunächst unsichtbare jüdische Autor sichtbar zu machen. Wie unverblümt Bartels die Untersuchungen anderer seinem Fetisch der „reinlichen Scheidung" unterordnete und dabei oft genug deren Gestalt ins Prokrustesbett der eigenen Theorien presste, zeigt sich gerade an Eduard Sievers. Der angesehene Phonetiker hatte in dem von Bartels erwähnten Aufsatz „Wege und Ziele der Schallanalyse" von 1924 zwar Parallelen zwischen dem geistigen und physischen „Geschehen" und so auch zwischen sprachlicher Expressivität und körperlicher Verfasstheit konstatiert, jedoch an keiner Stelle das Jüdischsein bedeutender Dichter wie Heine abgewertet. Präziser: Es spielte bei ihm nicht die geringste Rolle.92

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von Levitschnigg, weil er „Orientala studieren wollte" und „als Dichter ziemlich schwülstig ist" (Bartels, jüdische Herkunft und Literaturwissenschtft, 1925, S. 71). Tucholsky, Herr Adolf Bartels, 1922, S. 145 u. S. 147. Bartels, Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, 1925, S. 42f. Vgl. Hammer 667/668, Aprü 1930, S. 176 („Unverwüstlichkeit in Blut und Geist"). Sievers, Ziele und Wege der Schallanalyse, 1924, S. 65-111.

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2.1.3. Der Ton macht die Musik Der Schrift eines jüdisch-tschechischen Professors namens Bazaurek zollt der Publizist Eberhard König anfangs scheinbar Respekt („Dem Zweck der Sammlung entsprechend, wahrt die Schrift [...] zunächst eine angemessene Haltung"), doch sind dies nur rhetorische Prologe, um die Sprache des Akademikers im Folgenden desto radikaler verurteilen zu können: .. .aber der Ton, der Ton, der die Musik macht, verrät dem, der ein Ohr dafür hat, wie's eigentlich gemeint ist, — wo der Verfasser herkommt, wo er hingehört. Zu uns jedenfalls nicht! Einem Freunde las ich eine Stichprobe vor; da fiel er mir ins Wort: „Hör auf, das ist ja widerwärtig!" Dieser Freund, Herr Professor, war kein Banause, kein „Berserker-Wüterich", wie Sie so schön schreiben [...], sondern ein feinsinniger, hochbegabter und sehr geschätzter Künstler, Herr Professor — allerdings ein deutscher!93

Die antisemitische Strategie der ,Täter-ohne-Tat-Aufdeckung' zeigt an dieser Stelle ihr wahres Gesicht. Suggeriert wird: Das geschulte deutsche Ohr lässt sich nicht täuschen, der illokutive Akt ist leicht entschlüsselbar für den Experten. Um einen Sprecher oder Schreiber der deutschen Sprache als jüdisch oder judenfreundlich zu klassifizieren, bedarf es weder des unüberhörbaren „Ho-dri-tarallala-ble-ble-bläh" eines „jodelnden Mauscheljudenfs]", dem „der Zauber unserer Sprache verschlossen ist"94, noch sind all jene syntaktischen Inversionen und lexikalischen Amalgame im Stile des altbekannten Pseudo-„Literaturjiddisch"95 vonnöten. Für das Stigma genügt die musikalische Tönung der Sprache, die beim Vorlesen der Sätze entsteht. Sie weist den Autor als jüdisch aus, selbst wenn er ein elaboriertes Hochdeutsch schreibt. Weil die Musik als „Sprache der Seele" anzusehen sei, könne „echte Musik [...] nur zu Rassegenossen sprechen". Um „Verwirrung" zu vermeiden, sollten die Noten jüdischer Musiker künftig mit dem Davidstern gekennzeichnet werden. Es wirkt wie ein Tesdauf im Kleinen: Noch vor dem sichtbaren Stigma an der Brust der Verfolgten wurde der Kultur das Stigma angeheftet. Dass diesem Redaktionsartikel der April-Ausgabe von 1925 genau die sprachenpolemische Grundmelodie unterlegt ist, die Richard Wagner mit 93 94

95

Hammer 306/307, April 1915, S. 167 (Eberhard König: „Verirrte Professoren-Weisheit") [Kursive: Α. K.]. Hammer 277, Januar 1914, S. 21 (Cassius [alias Theodor Fritsch]: „Eine neue LiteraturKüke"). Fritsch diffamiert hier die Lyrik des böhmisch-deutschen Dichters Hugo Salus (1866-1929). Richter hat hingewiesen auf den Unterschied zwischen dem stigmatisierenden Einsatz pseudo-jiddischer Floskeln durch Antisemiten und assimilationsorientierte jüdische Kreise einerseits und dem tatsächlichem Jiddisch andererseits (Richter 1995, S. 100-122).

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seiner einflussreichen Antisemitenschrift „Das Judenthum in der Musik" von 1850 vorgegeben hatte, wird ziemlich deutlich. In seinem so folgenschweren Pamphlet hatte Wagner, wie gesagt, die „jüdische Sprechweise" aufs Schärfste attackiert. Indem er sie von der „nationalen Sprache" schied, trennte er die deutschen Juden auch von der deutschen (Kultur-) Nation. Mit geradezu fanatischem Eifer wetterte der Bayreuther Komponist gegen eine angeblich offenkundige Minderwertigkeit sprachlicher Expressivität der Juden. Dem seiner Überzeugung nach per se unkreativen Juden sprach er, eine explizite Spitze gegen Felix Mendelssohn-Bartholdy, jede Fähigkeit zur Musikalität rundweg ab und mokierte sich über ein „Gegurgel, Gejodel und Geplapper"96 in jüdischen Synagogengottesdiensten. Seine lautmalerischen Neologismen demonstrieren, wie konstruiert jede Charakteristik einer spezifisch jüdischen Sprechweise in Wahrheit war: Als durchaus fremdartig und unangenehm fallt unserem Ohr zunächst ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck der jüdischen Sprechweise auf: eine unserer nationalen Sprache gänzlich uneigenthümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und der Phrasenkonstruktionen giebt diesem Lautausdruck vollends noch den Charakter eines unerträglich verwirrten Geplappers. 97

Wagner ignorierte keineswegs die Erfolge der jüdischen Emanzipation, doch vermochte seiner Meinung nach selbst der vollkommen assimilierte Jude das Deutsche nicht vollgültig zu beherrschen. Das Stigma seiner artikulatorischen Eigenarten, das eines „rein menschlichen Ausdruckes"98 ermangelte, haftete ihm „mit impertinenter Hartnäckigkeit an"99, war mithin unaufhebbar. Die Folgen dieser Radikalstigmatisierung waren weit reichend: Jede antisemitisch orientierte (Pseudo-)Philologie konnte sich von nun an auf Wagners Leitfaden berufen. Fähigkeit und Fertigkeit entschieden nicht mehr über Kompetenz; es war der Stil, der Tonfall, der den jüdischen Außenseiter verriet und die Authentizität seiner Kunst desavouierte. Der jüdische Fremde wurde zum hoffnungslosen Fall. Da die jüdische Akkulturation sich in konkreten Erfolgen niedergeschlagen hatte, offerierte eine gleichsam abstrakte Verfemung der „verborgenen Sprache der Juden" (S. Gilman) mögliche Auswege. Nach der Jahrhundertwende galt mehr und mehr die Devise: Was sich nicht hören und lesen lässt, das kann dennoch herausgelesen, herausgehört werden. Mochten die Indizien auch verwischt sein und dadurch objektiv zweifelhaft, die Schuld war im96 97 98 99

Wagner, Das Judenthum in der Musik, 1850, S. 76. Ebd., S. 71. Ebd. Ebd., S. 75.

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mer zweifellos, weil der jüdische Täter an sich schuldig war. Schritt für Schritt drängte sich diese Klimax antisemitischer Verfemungsstrategien, die sich jeder Realitätsprüfung verweigerte, in den Vordergrund. 2.1.4. Pressesprache Der rassisch bedingte Klang der Sprache sollte aber nicht nur in literarischen Zeugnissen herauszuspüren sein, sondern weit mehr noch in journalistischen Publikationen. Das Schlagwort von der „Judenpresse" spielte hier eine zentrale Rolle. Schon 1903 behauptet der „Hammer", dass das Judentum mit ,seiner' Presse das öffentliche Leben beherrsche100, obwohl zu diesem Zeitpunkt nur wenige jüdische Zeitungsverleger von Format im Kaiserreich existierten. Als dann in der Weimarer Republik die Verlagshäuser der jüdischen Geschäftsleute Leopold Ullstein und Rudolf Mosse mit ihren Flaggschiffen „Berliner Morgenpost" und „Berliner Tagesblatt" den Zeitungsmarkt zumindest in der Hauptstadt wesentlich mitprägten, verschärfte sich die Tonlage der antisemitischen Polemiker. Die „Hammer"-Publizisten brauchten nur aufzugreifen, was mehr und mehr zur gängigen Praxis antisemitischer Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache zählte. Adolf Hitler hatte bereits in einer seiner frühesten Versammlungsreden, am 31. Mai 1920 nämlich, ganz ungeniert viel Erhellendes über die verblüffende Schlichtheit der antisemitischen Spurensuche nach jüdischen Publizisten preisgegeben und damit zustimmende „Heiterkeit" im Saal hervorgerufen: So wie er [der deutsche Jude] hier wirkt in Malerei, Bildhauerei und in der Musik, so auch in der Dichtung und vor allem in der Literatur. Da hat er ja ein großes Hilfsmittel. Er ist Verleger und vor allem Herausgeber von rund 95 % aller Zeitungen, die überhaupt erscheinen. Diese Macht benützte er, und wer so ein Scheusal von Antisemit geworden ist, wie ich es bin (Heiterkeit), riecht schon heraus, wenn er die Zeitung in die Hand nimmt, w o der Jude beginnt (Heiterkeit), kennt schon am Titelblatt genau, da ist schon wieder nicht mehr einer von uns, sondern einer von unsen l^eut [gemeint sind die Juden] dahinter (Heiterkeit).101

Doch der spätere „Reichskanzler" gab sich mit diesem seltsamen olfaktorischen Indiz noch nicht zufrieden. Es schien ihm angebracht, im weiteren

100 Hammer 19, April 1903, S. 181f. (Theodor Fritsch: „Zeit-Glossen. Was ist es um Babel und Bibel?"). 101 Adolf Hitler, Rede auf einer NSDAP-Versammlung, „Das deutsche Volk, die Judenfrage und unsere Zukunft", München, 31. Mai 1920. In: Hider, Sämtliche Aufzeichnungen, 19051924, S. 197 [Kursive: Α. K.].

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Verlauf seiner Rede noch einen polymorphen und gesellschaftlich weithin präsenten Begriff einzuwerfen. Die Sprache der als jüdisch oder judenfreundlich markierten Journalisten, Literaten, Künstier mochte eloquent sein — „Seele" aber wirke nicht in ihr: Man weiß genau, daß alle diese Wortspielereien, Verdrehungen nur die innere Hohlheit seines [des jüdischen Journalisten] Gemüts verdecken, nur darüber hinwegtäuschen, daß der Mann kein seelisches Empfinden und Erleben kennt, und was ihm an wahrer Seele abgeht, ersetzt er durch einen Schwulst von Phrasen, Wortdrehungen und Wendungen [...] und vorsichtig wird von vornherein erklärt, daß wer sie nicht versteht, nicht genügend geistig vorgebildet ist (Heiterkeit).102

Was sich gebildet dünke, sei in Wahrheit nur ,entseelt', ,entstellt', ,entartet'. Gerade auf ihrem Bildungsweg zu kurz gekommene Judenfeinde fanden darin das Argument schlechthin, um die gewählte Sprache ihrer Gegner prinzipiell abwerten zu können. Zwei Jahre nachdem Hitler sich erstmals öffentlich als Identifizierungsexperten für die seiner Meinung nach entseelt schreibende „Judenpresse" versucht hatte, kontert denn auch im „Hammer" vom Januar 1923 ein mit „P. L." zeichnender Publizist auf Moritz Goldsteins These, dass die gemeinsame Sprache dem Innersten der Seele entströme, mit einem zweifelsfreien ... nein: [...] Sie ist Seelen-Instrument für Gleich-Beseelte, Bluts-Gleiche, für den Fremden aber nur ein Verstandes-Werkzeug. Oder hatte Rathenau, der die Versammlung in Genua in drei Sprachen .perfekt' anredete, gleichzeitig drei Seelen? Und sprach aus seinen Worten auch nur ein Fünkchen deutsches Wesen? Gerade Rathenau's Schriften beweisen, wie fremd diesem Mann die deutsche Sprache immer geblieben ist. Sie sind fur den Deutschen an vielen Stellen geradezu ungenießbar.103

Nicht umsonst ist es ausgerechnet Goldstein, gegen den der antisemitische Schreiber hier vorgeht, hatte dieser deutsch-jüdische Literat doch einst die den Deutschvölkischen so verhasste Theorie der Paria-Rolle des Juden für die deutsche Kultur ins Leben zu bringen gewagt. Der „Hammer"Mitarbeiter stellt der Vorreiter-These nun das andere Extrem entgegen: Nichts vermöge der Jude für die Deutschen, denn „seelenlos" sei die jüdische „Stimme des Blutes", sofern sie einer ihr fremden Sprache verhaftet bliebe. Die Motive für eine solche Verfemungsstrategie sind offenkundig: Nur so war es möglich, die den Juden zugestandene „sprachliche Gewandtheit"104 in Literatur und Presse als sophistische Überredungskunst 102 Ebd. [Kursive: Α. K.]. 103 Hammer 493, Januar 1923, S. 22 („Das deutsche Geistesleben und die Juden"). 104 Hammer 206, Januar 1 9 1 1 , S. 30 (Theodor Fritsch, „Kelten und Hebräer"): „Mit dem Juden besitzt der Kelte die überlegene sprachliche Gewandtheit, das Talent der Überredung

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zu diffamieren, mit deren Hilfe der Jude — so Theodor Fritsch im Januar 1911 - „die ehrliche Menschheit beständig über sein Wesen täuschte".105 Was der „Hammer" und später auch Hitler vorgegeben hatten, brauchten antisemitisch verbrämte Sprachwissenschaftler wie Max Wundt nur noch in Pseudo-Theorien umzuformen. In seiner Schrift „Was ist völkisch?" kommt Wundt zu der Quintessenz, dass das gemeinhin als „Zeitungsdeutsch" verschriene „Judendeutsch" jeglichen Sprachgefühls für „Klang" und „Maß"106 entbehre. Derlei Verdikte aus der Feder arrivierter Wissenschafder konnten nicht ohne Wirkung bleiben. Im Januar 1926 hatte der Deutsche Sprachverein wieder einmal ein Preisausschreiben zur Reinhaltung der deutschen Sprache veranstaltet. Zu untersuchen waren nun „Die Schäden der deutschen Zeitungssprache, ihre Ursachen und ihre Heilung". Angesichts einer solchen Aufgabenstellung musste den Preisrichtern klar gewesen sein, dass antisemitische Reaktionen nicht lange auf sich warten lassen würden. Ein Mitarbeiter des „Hammer", Robert F. Eskau, bemühte sich, in einem Brief an das Komitee die schädigende Wirkung „einer zwischenvölkische [n] (internationale [n]) Menschart, die der Juden" auf die deutsche ZeitungsSprache zur unbedingten Voraussetzung aller Debatten zu erklären. Selbst „hochwissenschaftliche Glanzleistungen von hochanerkannten Größen" verdienten nicht einmal eine Rückantwort, wenn sie „ängstlich am herrschenden Judengeist" vorbeigehen würden. Berücksichtigt werden sollten demnach allein Aufsätze, die den gefährlichen Einfluss jüdischer Publizisten hoch veranschlagten und dementsprechend auch anprangerten.107 Der in den Artikel eingebettete Leserbrief des „Hammer"-Akteurs zeigt: Je mühsamer die neuhochdeutsche Sprachkompetenz der Juden zu überhören und zu überlesen war, desto schärfer musste das Stereotyp sein. Eskau und andere Judenfeinde, die Polemiken gegen den jüdischen Umgang mit Sprache zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Attacken machten, begegneten der Kluft zwischen Anklage und Faktizität mit einer ausgeklügelten Strategie. Indem sie die Behauptung von der Destruktivität der jüdischen Sprachteilnehmer nicht nur aufrechterhielten, sondern ins Unermessliche hypostasierten, suchten sie der für sie gefährlichen Tatsache zu begegnen, dass das Feindbild des Juden als des „einflussreichste[n]

und Betörung, das dem germanischen Deutschen zumeist abgeht und den fremden Elementen in der Presse, im Gerichtssaal, wie in den Parlamenten einen gewissen Vorsprung sichert." 105 Ebd., S. 31. 106 Wundt, Was beißt völkisch?, 1925, S. 19. 107 Hammer 591, Februar 1927, S. 78 („Sprachverderbnis und Sprachverein").

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Träger[s] alles Fremdgiftes in Deutschland" in der nichtjüdischen Lebenswelt oft keine Rolle spielte. Anders gesagt: Es wurde abgelehnt oder ignoriert.108 Die dann notwendige Begründung, weshalb das Ununterscheidbare in Schrift- und Umgangssprache dennoch zwingend unterschiedlich sein musste, war in dem Artikel unbedingt nachzuliefern. Eskau rückte sie mittels Sperrschrift an exponierte Stelle: Man sagt: das Blut „spricht". W o der unverbildete deutsch-germanische Mensch spricht, spricht er blutsecht deutsch; wo der Jude „deutsch" spricht, spricht er „jüdisch-deutsch".109

Nicht nur die langue der Gemeinschaft, sondern auch ihre parole geht demnach aus dem genetischen Erbe hervor. Die „Stimme des Blutes" duldete keine Übergänge, sie verlangte nach Trennmauern, die nicht zu überwinden waren. Die Lösung schien nun simpel, die einzig mögliche Antwort auf das Thema des Preisausschreibens gefunden: Wären die Juden einmal aus dem journalistischen Betrieb verbannt, dann erlange man zugleich „die unmittelbare Heilung aller Schäden der deutschen Zeitungssprache"110. Doch darin erschöpft sich Eskaus Sprachpolemik denn auch. Keinerlei Antwort liefert er auf die drängende Frage, wie genau das, was angeblich so different war, auch voneinander differenziert werden konnte. Dialektale Grenzen, das war Konsens unter allen renommierten Sprachwissenschaftlern der damaligen Zeit, existierten, aber wo sollten die rassenlingualen Grenzsteine aufgestellt werden? Sieht man einmal von der wachsenden Zahl von Ostjuden gerade in Berlin ab, war seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch bei sehr wenigen deutschen Juden die Trennung zwischen jiddischem und neuhochdeutschem Sprachvollzug möglich, geschweige denn zwischen ,deutscher' und ,undeutscher' Sprachverwendung. Die Antisemiten des „Hammer" versuchten es dennoch.

108 Selbst der „Hammer" lässt das durchblicken, wenn Fritsch konstatiert, dass die deutsche Bevölkerung die Kluft zwischen jüdischem Schein und Sein gerade im Falle der akkulturierten Juden einfach nicht begreifen wolle: „Es ist - gerade für den deutschen Verstand schwer vorstellbar, dass Menschen, die in Deutschland wohnen, deutsche Namen fuhren, die deutsche Sprache reden, deutsche Staatsbürger-Rechte besitzen und — soweit man es übersehen kann — ihre äußerlichen Pflichten gegen den Staat gewissenhaft erfüllen, nicht genau so gute Deutsche sein sollen, wie andere" (Hammer 570, März 1926, S. 111, T. Fritsch: „Die wahre Natur des Judentums"). 109 Hammer 591, Februar 1927, S. 78 („Sprachverderbnis und Sprachverein"). 110 Eine ähnliche Lösung hatte Fritsch schon 1906 gefordert: „Es wäre ein Gebot der nationalen Selbst-Erhaltung und Selbst-Achtung, dass im Deutschen Reich nur deutsche Männer deutsche Zeitungen schreiben dürften" (Hammer 101, September 1908, S. 510, Theodor Fritsch: „Der Kaiser und die Journalisten").

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2.1.5. ... immer dergleiche Jude. Antisemitische Sprachabwertung bei Hitler Nach 1924 konnte sich jeder antisemitische Publizist an Hitlers Sprachpolemik in dessen Hassschrift „Mein Kampf orientieren, die unter anderem antisemitisch-völkische Sprachpolemiken in eine programmatische Form brachte. Hitlers Ausführungen implizieren das genannte Dilemma, in dem die Antisemiten nach den Erfolgen der jüdischen Sprachakkulturation steckten, und explizieren das Rasseprimat als einzig mögliche Antwort darauf. „Noch in der Zeit Friedrichs des Großen fallt es keinem Menschen ein, in den Juden etwas anderes als das .fremde' Volk zu sehen", schreibt Hitler über den „Werdegang des Judentums", doch habe sich danach die offenkundige Andersartigkeit der Juden derart hinter der neuen Sprachkompetenz verborgen, dass der Jude „sein ,Deutschtum' in den Vordergrund" rücken konnte. Hitlers Reaktion darauf kann nun nicht mehr überraschen: „Die Rasse aber liegt nicht in der Sprache, sondern im Blute." Sicherheitshalber verzichtet er nicht gänzlich auf eine Diffamierung der Außenseite jüdischer Sprachverwendung des Deutschen, das sich als ein „radebrechen" und „mauscheln" „in fürchterlicher Weise" offenbare. Im Vordergrund steht jedoch derselbe Aspekt, der auch im „Hammer" fortwährend betont wird. In völliger Kontradiktion zur Humboldtschcn Sprachtheorie wird die Divergenz zwischen Sprache und Denken behauptet. Der prinzipiell immer mögliche Sprachenwechsel als konsequenter Austausch der Muttersprache durch eine Fremdsprache führt hier zu keiner essenziellen Veränderung des Individuums. Die bei Humboldt nachzulesende „Geisteseigenthümlichkeit"111 einer Sprache, die durch „Einspinnen" in ihren „Kreis" die eigene Weltsicht objektivieren und somit bereichern helfe112, ist nach Hitler eine reine Schimäre. Ein Mensch, der eine andere Sprache als Umgangssprache wählt, werde auch „in seiner neuen Sprache die alten Gedanken ausdrücken; sein inneres Wesen wird nicht verändert". Eben dieses Stigma eines hüllenhaften, weil eigentümlich geistlosen Sprechens bei gleichzeitiger Konstanz der rassisch determinierten Charaktereigenschaften sucht Hider dem Juden für alle Zeiten — vergangene wie künftige — anzuheften. Schließlich sei es allein dem Juden möglich, dass er ...in tausend Sprachen reden kann und dennoch immer der eine Jude bleibt. Seine Charaktereigenschaften sind dieselben geblieben, mochte er vor zweitausend Jahren

111 Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel ]ava, 1830-1835, S. 42. 112 Ebd., S. 60.

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als Getreidehändler in Ostia römisch sprechen oder mag er als Mehlschieber von heute deutsch mauscheln. Er ist immer der gleiche Jude. 113

Nie jemals zuvor in der abendländischen Kulturgeschichte war die Sprache einer derartigen Abwertung unterzogen worden, wie sie Hiders antisemitisches Gedankengut impliziert. Die Antisemiten wollten den akkulturierten deutschen Juden dadurch deren schärfste Verteidigungswaffe entziehen. Trotzdem war das juden- und letztlich auch sprachenfeindliche Agitationsmuster damit noch nicht vollständig. Unbedingt weiter ausgeführt werden mussten die Gründe, warum die deutschen Juden sich seit den Zeiten der Emanzipation ausgerechnet die Sprache des arischen Antipoden und Rassenfeindes derart rapide und effizient angeeignet hatten. An diesem Erklärungsnotstand setzte das Mimikry-Argument an. 2.2. Diefremden Völker bedienen sich einer Sprache, um ihre Gedanken ψ verbergen. Der Mimikry-Vorwurf: Nachahmung und Tarnung im jüdischen Umgang mit Sprache (Agitation 2) Den antisemitischen Versuchen, die Juden mittels Stigmatisierung von der Gesellschaft auszugrenzen, stand deren erfolgreiche Akkulturation und Einbindung in die deutsche Sprachgemeinschaft entgegen. Auf die unübersehbaren Erfolge der Emanzipation als einer historischen Rebellion gegen das Stereotyp vom irreversiblen Anderssein der Juden mussten die antisemitischen Strategen reagieren. „Die Sprache des herrschenden oder geistig höher stehenden Volkes wird von dem niedrigstehenden angenommen", schreibt 1910 ein Publizist in seiner Kritik an der „Sprach-Narretei",114 also der Überbewertung des Sprachaspekts in der Nationalitätenfrage. Schließlich sei — so ein anderer Schreiber zwei Jahre zuvor - vor allem die Sprache .. .in dem Verkehrstrubel der letzten tausend Jahre von vielen Völkern gewechselt worden, wie das Hemd auf dem Leibe [...] Stabil bleibt nur das Blut, die Rasse.ns

Die Metapher der Sprache als eines auswechselbaren Kleidungsstücks findet sich im „Hammer" in zahlreichen Varianten. Das war bereits anhand der Kontroverse zwischen Norbert Jahn und Theodor Fritsch ausführlich besprochen worden.116 Allein die niedrig stehende semitische Rasse verwende, so die Behauptung, Sprache wie ein Gewand oder einen auswech113 114 115 116

Dieses und alle obigen Zitate Hitlers in: Hitler, Mein Kampf, 1924, S. 342. Hammer 201, November 1910, S. 566 („Sprach-Narretei'> Hammer 136, Februar 1908, S. 117 [Kursive: Α. K.]. Vgl. Kap. IV. 2.1, S. lOOf.

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seibaren Rock, der maßgeschneidert angezogen werde, damit sich ihr Träger inkognito in die Welt der höher stehenden arischen Rasse einschleichen und diese dann mit dem jüdischen Geist infizieren könne. Dieses Stigma wurde selbst von nicht eindeutig biologistisch festgelegten Deutungskonzepten zu Mensch und Nation übernommen. Obwohl der Bonner Hochschullehrer Hans Naumann 1932 die Suprematie des Rassebegriffs ablehnt und in diese halbe Leerstelle dann eine genetischkulturelle Mixtur aus „Geist" und „Volkstum" hineinmengt117, greift er doch die Graw^Z-Metaphorik bewusst auf. „Vortäuschen" könne man den Geist, „haben" aber nicht, ganz so wie der „Wolf im Schafspelz" auch nicht den Geist erringen könne, „den der eigentliche Träger des Pelzes besaß."118 Die Hauptfeinde der deutschen Nation werden von Naumann rasch ausgemacht. Es sind „Liberalismus", „Aufklärung" 119 und eine allzu optimistische Sprachauffassung. Gerade die Sprache sei ja nur ein „Kleid", schließlich gebe es „Fremdgeistige, die unsere Sprache genau so sprechen wie wir"120. Bei genauerem Hinsehen erweist sich somit auch Naumanns mythisierende Argumentation, die ganz ähnlich wie bei Norbert Jahn „Naturanlage und Kulturgebilde" zu vereinen sucht121, als anti-humanistisches, antivoluntaristisches, streng deterministisches, kultur- und sprachenfeindliches Konzept, das alles Fremde aus der Nadon ausschließt und dafür das unüberprüfbare „Seelisch-Irrationale" zum Handlungsmaßstab macht.122 Für die Sprache als Verlautbaren des Intellekts (Humboldt) blieb in diesem System kein EntfaltungsSpielraum mehr. Es ist genau jene Humboldtsche Idee, Sprache sei „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"123, die Hitler bereits 1924 als eigentliche „Lüge" des humanistischen Sprach- und Kulturmodells attackiert hatte: Sie [die Sprache des Juden] ist ihm nicht das Mittel, seine Gedanken auszudrücken, sondern das Mittel, sie zu verbergen. Indem er französisch redet, denkt er jüdisch,

117 118 119 120 121 122

H. Naumann, Deutsche Nation in Gefahr, 1932, S. lf. Ebd., S. 4. Ebd., S. 30. Ebd., S. 2f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 2. Naumann fiel es dann auch nicht schwer, nach dem Machtwechsel ganz auf die nationalsozialistische Linie umzuschwenken. Bei der Bücherverbrennung auf dem Bonner Marktplatz am 10. Mai 1933 bejubelte der Professor das öffentliche Schauspiel als „heiligen" Kampf gegen ein Schrifttum „fremdrassigen und fremdländischen Ursprungs" (vgl. H. Naumann, Kampf wider den undeutschen Geist, 1933, S. 4). Aus den Fremdgeistigen waren also nun endgültig die Fremdrassigen geworden. 123 Humboldt, Über die Kam Sprache auf der Insel Java, 1830-1835, S. 46.

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Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept und während er deutsche Verse drechselt, lebt er nur das Wesen seines Volkstums aus. 124

Unermüdlich wiederholten die antisemitischen Strategen die Palette der angeblich unübersehbaren Zeichen für die Inferiorität der jüdischen Rasse, die sich hinter aller noch so perfekten Beherrschung der neuhochdeutschen Standardsprache verberge. Weil der Jude unfähig sei zu schöpferischen Eigenleistungen, habe er sich ganz der Nachahmung und Assimilation der ihn umgebenden Verhältnisse verschrieben. Es kann in diesem Zusammenhang nicht verwundern, dass gerade die C.V.-Juden mit ihren beharrlichen Akkulturationsbekenntnissen zur Zielscheibe der Antisemiten wurden.125 Im Weltbild der völkischen Judenfeinde konnte sich der unkreativ Schwache am vital schaffenden Stärkeren bereichern, indem er eine epigonale Grundhaltung annahm. Nietzsches Bild der Unterwanderung der ,Starken' („Raubvögel") durch die ,Schwachen' („Lämmer")126 wird mit biologistischen Mimikry-Theorien verknüpft. Eine anthropomorphistische Metaphorik, die den Juden als „Parasiten" verunglimpfte127 und aus einem reichen Fundus an Verfemungsliteratur schöpfen konnte128, sollte der plakativen Veranschaulichung des an sich abstrakten Stigmas dienen: Auch der Jude besitzt den starken Zug zu seinesgleichen — vielleicht in besonderer Stärke, ja in solcher Stärke, daß er in seinem ungewöhnlichen Anpassungs- und Nachahmungstriebe sogar die Eigenschaften der anderen nachzuahmen versteht, ihre Sprachen, ihr Gebaren, ja scheinbar ihre Denkweise — und daß er dennoch innerlich unwandelbar an seinem Sonderwesen festhält. Im Tierreiche bezeichnet man diese äußere Anpassung als Mimikry.129

Insbesondere die Biologisierung des Vorwurfs der Nachahmung bedeutete eine Steigerung antijüdischer Sprachpolemiken. Die gleichermaßen ra124 Hitler, Mein Kampf, 1924, S. 337 [Kursive: Α. K.]. 125 Der Centraiverein sei „eins der wichtigsten Instrumente jüdischer Mimikry" (Hammer 677/678, September 1930, S. 303, „Falscher Glanz"). 126 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, S. 13f. Freilich war diese Metapher bei Nietzsche in keiner Weise antisemitisch intendiert. 127 „Es ist ja nur zu natürlich, dass die Hebräer, die von jeher parasitisch unter anderen Völkern lebten und nie eine eigene Kultur erzeugten, all ihr literarisches und religiöses Beiwerk von diesen fremden Völkern entlehnten" (Hammer 500, April 1923, S. 146, Theodor Fritsch: „Kirchliche Irrungen"). Vgl. Hammer 496, Februar 1923, S. 71 f., „Zur Statistik der Juden": „parasitärer Charakter" [Kursive: Α. K.]. 128 Hiriers „Mein K a m p f strotzt geradezu vor biologistisch-parasitologischem Vokabular, das sich speziell gegen das Judentum als stigmatisiertes Kollektiv richtet: „Made", „Ratten", „Spinne", „Schmarotzer", „Blutegel", „Völkerparasit", „Völkervampyr" (zit. n. Jäckel 1969, S. 75). 129 Hammer 614, Januar 1928, S. 32-34 (Theodor Fritsch: „Doppelbürger und Doppelstaat").

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sehe wie effiziente Aneignung der neuhochdeutschen Sprachnorm durch die Juden erhielt damit die so dringend benötigte Begründung: Da die Arier die biologisch vitalste Rasse darstellen und die Juden mit ihr genetisch nicht konkurrieren können, muss die ,minderwertigere' Rasse sich auf erreichbare Derivate konzentrieren, eben auf das hart errungene Kulturund Sprachgut der anderen. Das Axiom der biologischen Determination jeglicher Kommunikation verlangte die Suspendierung aller staatsbürgerlichen Gleichberechtigung für die Juden, also die Aufhebung der staatlich geförderten und legitimierten Täuschung. Was der sicherlich judenfeindliche, aber noch nicht primär rassisch agitierende Heinrich von Treitschke130 den deutschen Juden noch 1880, also elf Jahre nach Wagners Schrift, hatte zugestehen wollen, sollte nach Meinung der völkischen Journalisten des „Hammer" nun ein Ding der Unmöglichkeit sein: sich durch sprachlich-kulturelle Anpassung in die deutsche Nation eingliedern zu können.131 Ein Jude als Mitglied der „semitischen Rasse" könne eben, so Julius Langbehns Verdikt in der vom „Hammer" zum Kultwerk erkorenen Schrift „Rembrandt der Erzieher" von 1890, „so wenig zu einem Deutschen werden, wie eine Pflaume zu einem Apfel werden kann". Wer dem Naturinstinkt die dominante Kraft bei der Prägung des Menschen einräumt, der muss auf der anderen Seite das humanistische Ideal der Aufklärung ablehnen, dass die menschliche Individualität ihre eigentliche Größe und Würde durch vernunftgemäße (Sprach-)Bildung gewinne.132 Deshalb finden sich im „Hammer" zuhauf Polemiken gegen das liberale Postulat eines allgemeinen ,,Recht[s] auf Bildung"133, gegen „Bildungsdünkel" und ,,deutsche[s] ,Bildungs-Affentum"' als eine sinnlose „Bildungssucht", die sich unter anderem in einem Hang zur Zweisprachigkeit äußere.134

130 Treitschke nennt, auf den Vortrag „Was ist national?" des deutsch-jüdischen Schriftstellers Moritz Lazarus rekurrierend, dessen Interpretation, „dass das Wesen der Nationalität nicht in der Abstammung oder der Sprache allein zu suchen ist, sondern in dem zweifellosen, lebendigen Bewusstsein der Einheit", einen „unanfechtbaren Satz" (Treitschke, Ein Wort über unser Judentum, 1880, S. 23). 131 Ebd., S. 11: „In diesem Jahrhundert der nationalen Staatsbildungen können die europäischen Juden nur dann eine friedliche und der Gesittung förderliche Rolle spielen, wenn sie sich entschließen [...] in den Culturvölkern, deren Sprache sie sprechen, aufzugehen." 132 Vgl. Hammer 300, Dezember 1914, S. 657. 133 Hammer 102, September 1906, S. 557 (Theodor Fritsch, „Recht auf Bildung?"). 134 „Nun hat man aber dem Deutschen seit einigen Jahrzehnten so verschrobene Vorstellungen von Bildung beigebracht, dass er das Nachplappern einer fremden Sprache für ein Zeichen der Bildung hält" (Hammer 57, November 1904, S. 482f.). 20 Jahre später wird auch Hitler bestreiten, dass Fremdsprachenkenntnisse einen Wert an sich haben können. Nicht einzusehen sei, „warum Millionen von Menschen im Laufe der Jahre zwei oder drei fremde

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Theodor Fritsch definiert in einem Artikel vom Oktober 1924 die Zielsetzung antisemitischer Strategien als einen Zweischritt. Erst waren die Fortschritte der Emanzipation zu eliminieren, dann die Juden als deren besonders erfolgreiche Nutznießer aus der Mehrheitsgesellschaft auszuschließen, und zwar international: Das letzte Ziel einer ernsten Belehrung über den verkappten Feind muß sein: Die Aufhebung der Juden-Emanzipation und die Ausscheidung der Juden aus allen gesitteten Völkern. 135

Die Gründe für diesen Schritt veranschaulicht der geschickte Propagandist mittels eines Beispiels, das die alten Ressentiments gegen den „Erzfeind" Frankreich für antisemitische Angriffe nutzt, auch indem der Sinn des Fremdsprachenerwerbs nicht nur abgewertet, sondern als geradezu schädlich hingestellt wird. Der Herausgeber und Chefpublizist des „Hammer" spricht in seinem hypothetischen Szenarium von der Anpassung der Schwachen an die Stärkeren zwar vordergründig von den Franzosen, intendiert aber die Juden und ihre angebliche Mimikry-Strategie. Der Vergleich ist geschickt gewählt: Indem der Artikel indirekt daran erinnert, dass der militärische Sieger über Deutschland von 1918 lange Zeit auch der kulturell Dominierende war, ruft er beim Leser das Klischee von der pathologischen Kulturbeflissenheit und Nachahmungsgeschicklichkeit der Juden wach — Eigenschaften, durch die der jüdische Adaptierer letztlich eine korrumpierende Vorherrschaft auf allen künstlerischen und intellektuellen Gebieten habe erringen können: Mischen wir uns also in solcher Weise unter die Deutschen·, lernen wir die deutsche Sprache; nehmen wir äußerlich die Sitten und Gebräuche der Deutschen an; gehen wir scheinbar völlig im deutschen Volke auf. Seien wir freundlich zu den Deutschen, zeichnen wir uns aus durch öffentliche Wohltätigkeit und deutschen Patriotismus [...] Insgeheim aber vergessen wir keinen Augenblick, dass wir Franzosen sind, dass wir inmitten der Feinde leben. [...] Französischer Geist wird unmerklich in das gesamte öffentliche Leben eindringen, alles wird von französischem Geist durchsetzt sein. Die Literatur, die Bühne, die Wissenschaft, die Kunst — alles wird französischen Geist atmen. 136

Die abwertende Gleichsetzung von französischen („keltischen") und jüdischen („hebräischen") Sprachteilnehmern hatte Fritsch 13 Jahre zuvor sogar in expressis verbis angeführt, wobei in erster Linie die angeblich soSprachen lernen müssen, die sie nur zu einem Bruchteil verwerten können" (Hitler, Mein Kampf, 1924, S. 465). 135 Hammer 536, Oktober 1924, S. 389 (Theodor Fritsch: „Der verkappte Feind"). 136 Hammer 536, Oktober 1924, S. 386 (Theodor Fritsch: „Der verkappte Feind") [Kursive:

Α. K.].

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phistische Oberflächlichkeit in der Eloquenz beider Sprachteilnehmer die Zielscheibe seiner Attacken gewesen war.137 Vertraut man auf die Langzeitwirkung mentalitätsgeschichtlicher Prozesse, dann konnte er mit der Diffamierung der französischen Sprachnutzer bzw. der französischen Sprache auf eine Tradition zurückgreifen, die mit Fichtes „Reden an die deutsche Nation" 1808 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Seitdem geisterte in Verbindung mit dem virulenten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts durch die Schriften zahlreicher Autoren immer wieder der Gedanke, dass die Übertragung des französischen Geistes nach Deutschland das Werk der Juden sei. Schließlich wiesen, so das eifrig geschürte Vorurteil, beide Mentalitäten in ihrer Feindschaft allem Deutschen gegenüber Parallelen auf.138 Heine, der Franzosenfreund, Heine, der Jude: Die Zeichner dieser Zerrbilder wussten um die Effektivität solch simpler Analogien. Letztlich bezweckten sie in erster Linie, die kulturell-sprachliche Nähe zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen zu eskamotieren und das beiderseitige Verhältnis als einen unüberwindlichen Antagonismus hinzustellen. Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen, auch wenn sie sich im Alltag gar nicht unterschiedlich fühlten, mussten als Abgrund gezeigt werden, über den keine Brücke mehr zu spannen war. Der pejorativen Stilisierung war ihr positives Gegenstück meist beigefügt. Während die verschlagenen „fremden Völker", insbesondere die Juden ihre Gedanken hinter der Sprache tarnen und den gegnerischen Zuhörer und Leser über ihre Motive „täuschen", ist der nichtjüdische Deutsche in seiner unpolitischen und gänzlich naiven Unbefangenheit per se wahrhaftig, denn er „poltert alles gerade heraus, was er denkt und will".139 Dasjenige also, das sprachlich-kulturell scheinbar so fuglich zusammenpasst, ist in Wahrheit stark voneinander getrennt: „So leben in unserem Lande gleichsam zwei Völker nebeneinander, die eine verschiedene Sprache reden."140

137 Vgl. S. 116, Anm. 104 der vorliegenden Studie. 138 Nur ein Beispiel unter vielen anderen: In der Samuel Gottlieb Liesching zugeschriebenen frankophoben Schrift „Die Jeune Allemagne in Deutschland", Stuttgart 1836, die sich gegen die Bewegung des Jungen Deutschland richtete, erweisen sich die Juden als Trojanische Pferde in den hehren Festungen deutscher Kultur, die der französische Kulturgeist zu stürmen wünscht. Zu den eifrigsten Überträgern feindlicher Einflüsse werden die Juden gerade deshalb, weil sie in deutscher Sprache und Literatur so vorzüglich bewandert sind (vgl. Katz 1989, S. 179f.). 139 Hammer 530, Juli 1924, S. 270 („Vom unpolitischen Deutschen oder: Wie man nicht reden und schreiben soll!"). 140 Ebd.

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2.3. DerJude ist [...] Umkehrung der natürlichen Wahrheit. Der Lüge-Vorwurf: Falschheit und Täuschung im jüdischen Umgang mit Sprache (Agitation 3) Victor Klemperer schrieb am 25. April 1933 in sein Tagebuch, das gleich einem Seismografen die Erschütterungen der deutschen Gesellschaft dokumentiert und Messdaten zu antisemitischen Attentaten auf die Sprache sammelt: Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): „Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er", er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher in deutscher Sprache müssen als „Übersetzungen" gekennzeichnet werden. - Ich notiere nur das Gräßlichste, nur Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht sind. 141

Gemeint sind die „Zwölf Thesen wider den undeutschen Geist", welche die NS-kontrolüerte Studentenschaft im Zuge einer von Goebbels initiierten Kampagne am 12. April 1933 an allen deutschen Universitäten plakatierte.142 Die Kompilation antisemitischer Vorurteile nimmt einen „Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum" zum Ausgangspunkt des Protestes, um dann im sechsten Punkt das von Klemperer Erinnerte zu behaupten: „Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er." Waren die Schlussfolgerungen der Studentenschaft auch absurd und primitiv, unbedacht waren sie nicht. Im Gegenteil: Sie richteten sich, ohne den Rassebegriff ins Spiel zu bringen, bewusst gegen das aufgewiesene Sprachkonzept, das im Sinne Humboldts und Herders die Korrelation von Sprechen und Denken philosophisch festgezurrt hatte. Die „Thesen" bezeugen besonders gut die Schwierigkeiten einer antisemitischen VerfemungsStrategie gegen Menschen, die laut Propaganda fremdartig sein sollten, aber sich partout nicht fremdartig gaben, schon gar nicht in der deutschen Sprache. Viele deutsche Juden bedienten sich ihrer meisterhaft, allen Bartels, Chamberlains und Fritschs zum Trotz. Mit dem Konditionalsatz „Schreibt er [der Jude] deutsch, dann lügt er" sollte die Wechselbezüglichkeit von Sprache und Geist nun endgültig auseinander gerissen und mit der absurden Ankündigung „Wir wollen die Lüge ausmerzen" ein Weg vorgezeichnet sein, der dann einen Monat spä-

141 Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis %um letzten. Tagebücher, Bd. 1: 1933-1941, Eintrag am 25. April 1933, S. 37. 142 „Zwölf Thesen der deutschen Studentenschaft" am 13. April 1933 (zit. n. Wulf 1966, S. 44f.).

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ter, am 10. Mai 1933, in das öffentliche Spektakel der Bücherverbrennung „undeutschen" Schrifttums auf dem Berliner Opernplatz und an anderen deutschen UniversitätsStätten mündete. Alle weiteren Behauptungen des Thesenkatalogs bildeten nur Ausläufer der primitiven Logik, die Lüge an das Jüdischsein zu koppeln: Ein „Verräter", so hieß es weiter, sei derjenige Deutsche, der zwar deutsch schreibe, aber „undeutsch" denke, während ein „undeutsch" schreibender und sprechender Student eben „gedankenlos" sei. Die studentischen Sprachpolemiker konnten sich aus einem Potpourri judenfeindlicher Stichworte und fixer Ideen bedienen, mit dem die völkischen Antisemiten die Debatten über die Judenfrage beeinflusst hatten. Dazu zählte der Lüge-Vorwurf. In einem Artikel vom Dezember 1925 lässt sich Fritsch über die „Hypnose der lügenden Bilder" aus.143 Ohne dies zu präzisieren, behauptet der Publizist, dass die Juden die „geheim fälschende Tendenz" in den Sprachbildern jüdischer Literaten, Journalisten, Politiker und Anwälte dazu nutzen würden, „eine hypnotische Macht auf Geist und Seele" der deutschen Öffentlichkeit auszuüben. Die Opfer dieser bildreichen Lügenattacken sind, wie sich denken lässt, absolut ahnungslos und weitgehend wehrunfahig, weil sie sich im Unterschied zu den Tätern nicht auf die „Kunst der geistigen Gefangennahme" verstehen. Fritsch beharrt auf dem paradoxen Standpunkt: Der an sich unschöpferische Jude entwickelt eine erstaunliche, mit nichts zu vergleichende und durch niemanden zu überbietende Kreativität in der Täuschung und Verfälschung aller Wahrheit und Wirklichkeit. Der jüdische Umgang mit Sprache insbesondere in der Presse sei bestimmt von der Dominanz „lügender Bilder", das ganze Denken des nomadisierenden und an keine festen Grundsätze gewöhnten Juden schwebe „im Unwirklichen (Abstrakten)", um damit - wie es Fritsch in einem Pamphlet von 1913 nannte — den „Vorteil des Augenblicks" zu nutzen.144 Mit seinem Vorwurf fand er populäre Nachahmer, denn das Stigma eines spezifisch jüdischen Egoismus und Indifferentismus war in all seiner Schwammigkeit polymorph ausdeutbar und ließ sich deshalb auf alle Bereiche jüdischen Handelns ausdehnen. Während Adolf Bartels nach einer schädigenden Wirkung jüdischer Wirklichkeit im Kulturellen fahndete, erkannte Werner Sombart 1921 eine „abstrakte Veranlagung" der Juden in ihrem Verhältnis zum Geld und entdeckte ihr Erfolgsrezept in einer spezi-

143 Hammer 564, Dezember 1925, S. 466-70 (Theodor Fritsch: „Die Hypnose der lügenden Bilder"). 144 Fritsch, Geistige Unterjochung, 1913, S. 11.

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fisch jüdischen „Indifferenz gegenüber Qualitätswerten".145 Bewunderung mischt sich hier mit Abwertung: Die „rastlose Energie der jüdischen Rasse" richtet sie nicht auf höhere Werte und auch auf nichts Konkretes jenseits des ökonomischen Gewinns. Weil der Jude abstrakt-spekulativ zu denken versteht, kann er mit noch nicht fassbaren Finanzen jonglieren und diese dann, den „Vorteil des Augenblicks" (Theodor Fritsch) nutzend, tatsächlich akkumulieren. Abstraktion, Indifferentismus, Täuschung, Fälschung, Lüge: Das Arsenal war in Stellung gebracht, um die tatsächlichen Erfolge jüdischer Emanzipation und Integration zu torpedieren. Hinter den Begriffsverfälschungen dieses „Wüstensohnes" steckten, so ein „Hammer"-Schreiber im August 1930, stets niedere Motive, da er mit ihnen allein den „Verfall und Untergang" des nichtjüdischen Kulturkreises hervorrufen wolle.146 Eine manipulatorische Falsifikationssucht wurde zum dauerhaften Wesenszug der Judenheit erklärt. Dass die Auswirkung dieses Stigmas weit über den Kreis antisemitischer Publizisten hinausgehen musste, lässt die Zuschrift eines Lesers vom Dezember 1926 erahnen, der den Zionisten Alfred Rossig zu zitieren behauptet. Die „verhüllende Bildersprache" in den Lehren der Rabbiner, ihre ganze Idiomatik von „Wort-Hieroglyphen" diene allein dem Zweck, die Menschheit beständig über die wahren Absichten der jüdischen Weltverschwörer hinters Licht zu führen.147 Opfer- und Täterseite schienen somit besetzt, die Stereotypen vorgezeichnet. Am genannten Schema des reichlich schlichten Antagonismus zwischen dem wahrhaftig sprechenden, naiv-ideellen Arier auf der einen Seite und dem unwahrhaftig sprechenden, kulturell epigonalen und destruktiv-manipulatorischen Juden auf der anderen Seite orientierten sich zahlreiche Publizisten des „Hammer" und verfestigten diesen Gut-BöseDualismus zu einem zentralen Element ihrer Judenfeindschaft.148

145 Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neun-Zehnten Jahrhundert, 1921, S. 114f. 146 Hammer 675/676, August 1930, S. 270 („Der Wüstensohn"). 147 Hammer 587, Dezember 1926, S. 611 („Ein weiteres jüdisches Bekenntnis"). Die Zuschrift des Lesers Heinrich Wimmersperg ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich eine Meinung hinter einem Zitat aus dem inneren Kreis der Gegner entweder verbergen kann oder durch dieses Zitat eine Aufwertung zu erfahren sucht. 148 Goebbels zementierte einen unversöhnlichen Dualismus von Judentum und Germanentum schon 1924, als er am 6. August desselben Jahres in sein Tagebuch schrieb, gleichsam als würde es sich bei dieser Klassifikation um eine Selbstverständlichkeit handeln: „Arier, Semit, positiv und negativ, aufbauend, niederreißend" (Goebbels, Tagebücher, Bd. 1: 1924— 1929, Eintrag am 6. August 1924, S. 125).

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2.3.1. ...daß der Singsang in der Sprache [...] dem sekundären Geiste der Beweglichkeit verdankt ist: Arthur Trebitschs pseudophilosophischer Unterbau Einer, der das Negativbild vom sprachlich unschöpferischen, lügnerischen Juden immer wieder nachzeichnete und überzeichnete bis zur Unkenntlichkeit, war Arthur Trebitsch. Weil nach Trebitsch dem „gerade aus denkende [n]" und immer „alles ,wörtlichnehmenden' Arier" die Divergenz zwischen Reden und Denken völlig unverständlich blieb, musste die nichtjüdische Öffentlichkeit stets aufs Neue darüber belehrt werden, dass es sich bei dem Juden keineswegs so verhalten konnte, wie die idealistischhumanistische Sprachphilosophie im Sinne Humboldts und Herders dies gelehrt hatte. Hinter den Sprachlauten eines jüdischen Sprechers verberge sich vielmehr ein leiser „Geistes-Tonfall", eine Art geheim gehaltene Gedankenrede, die der antisemitische Publizist trotz alledem entlarven zu können meint — und zwar so, dass hinter den von Trebitsch erfundenen Formulierungen eines jüdischen Weltverschwörers dessen falscher Bildungsdünkel gleich mit sichtbar werden soll: Wenn schon die Gojim wider uns streiten und ihre [...] Weltanschauung unter die Leute bringen und dies vorläufig nicht zu hindern ist, dann ist es doch besser, dies geschieht durch unsere Leute, die ebensogut und, dank der Begabung unseres Volkes die Gedanken vor dem Volke sogar besser lauter eindringliche [sie!] als die Ewig-Schwerfälligen darstellen werden. [...] weil schließlich an der Spitze der Bewegung unsere Leute stehen werden, um sie in falsche Bahnen zu lenken und so in keinem all das flugwürdige, uns feindliche Bestreben ertöten werden. 149

Per se unkreativ, entwickeln die Juden doch eine erstaunliche Kreativität darin, die Erzeugnisse fremder Sprachen und Kulturen zu nutzen und auszunutzen. Analog zu Fritsch beharrt auch der nach eigenem Bekunden von einer jüdischen Mutter abstammende Trebitsch150 auf dieser höchst widersprüchlichen These. Das war schon seinen Zeitgenossen eine Thematisierung wert. So hatte Theodor Lessing in seiner populären Schrift „Der jüdische Selbsthaß" von 1931 Trebitsch in der Reihe jüdischer Selbsthasser angesiedelt, wodurch dieser eine gewisse Popularität erreich-

149 Hammer 559, Oktober 1925, S. 367 (Arthur Trebitsch: „Über den Unterschied des Ariers und des Juden in ihrer Beziehung zum Menschen und zur Idee"). 150 Hamanns Behauptung, Trebitsch habe ab 1909 geleugnet, „jemals Jude gewesen zu sein", ignoriert dessen eigene Genealogie in „Geist und Judentum" (Hamann 2001, S. 330). Genauso wurde Trebitsch übrigens auch von seinen feindlichen Freunden' wahrgenommen. Fritsch schreibt in „Meine Beziehungen zu Arthur Trebitsch": „Er hat nie bestritten, von einer jüdischen Mutter abzustammen" (Hammer 639, Februar 1929, S. 76).

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te. Weniger bekannt war und ist Trebitschs problematische Beziehung zu Theodor Fritsch.151 Der offenbar von Wahnvorstellungen verfolgte Wiener Schriftsteller Arthur Trebitsch, ein Bruder des G. B. Shaw-Übersetzers Siegfried Trebitsch, war ein jüdischer Antisemit, der in Fritschs Hammer-Verlag Publikationsstatus hatte. Als einer der Ersten nutzte er im Oktober 1925 die Gelegenheit, Adolf Hiders „Mein Kampf im „Hammer" zu preisen, wobei er „das ausgezeichnete, markig-klare Deutsch, das Hider schreibt", besonders hervorhob.152 Weil Trebitschs obskure Vorstellungen einen wichtigen Einfluss auf die im „Hammer" immer wiederkehrende Argumentation der lügnerischen Sprache der Juden ausübten und seine Person darüber hinaus auch für den Centraiverein ein Thema war153, verdienen seine außerjournalistischen Veröffentlichungen an dieser Stelle eine ähnlich erhöhte Aufmerksamkeit wie zuvor schon die Schriften von Adolf Bartels. Gerade die Parallelen zu Theodor Fritschs Sprachpolemik werden dann klarer hervortreten. In seiner Schrift „Geist und Judentum" entwickelt Trebitsch die Lehre von der „Flexation", nach der alle schöpferischen Akte Resultate geistiger „Bewegungen" sind. Die Juden, in allem künsderischen Schaffen epigonal und darum unfähig zu ursprünglichem Schöpfertum, bleiben für ihn auf ewig die Träger des „sekundären Geistes".154 Als „sekundär", das heißt defizitär und destruktiv erweist sich gerade ihr Umgang mit Sprache. Vom „pendelnden Geist" der Jahrhunderte währenden Handelstätigkeit beeinflusst, hat sich die „zweifelnde, fragende Gebärde" der jüdischen Kaufleute schließlich auf ihre Sprache übertragen. Dieser Vorgang habe die Sprache der Juden und den jüdischen Umgang mit Sprache kompromittiert. Die „Fixationsbeweglichkeit" befähigt den Juden zur Aneignung der Worte, aber so, dass er die niemals „auf dem Weg über das Erlebnis" gewonnenen Lexeme nur als leere Hüllen aufnimmt. Seine künsderischen Gefühle, ob nun poetischer oder musikalischer Natur, sind deshalb immer

151 Zu Trebitsch existiert ohnehin so gut wie keine Forschungsliteratur. Bis auf Gilman, der Theodor Lessing aufgreift (Gilman 1993, S. 159-161), hat seiner Sprachauffassung niemand größere Beachtung geschenkt. In Hamanns Kapitel zu Trebitsch wird seine Haltung zu Sprache nicht einmal erwähnt (Hamann 2001, S. 329f.). 152 Hammer 559, Oktober 1925, S. 375f. (Arthur Trebitsch: „Aus der Bücherwelt. Zu Adolf Hitler's Buch: ,Mein Kampf"). 153 Vgl. Führerbriefe Nr. 2, 15. Dezember 1929, S. 64 („Dr. Erich Bischoff und der HammerVerlag"). 154 Trebitsch, Geist und Judentum, 1919, S. 70 („sekundärer Geist"), S. 72f. („sekundäre Urelemente der Rasse"), S. 82 („Sekundäre der Wortgewandtheit"), S. 156 („sekundärbeweglicher Geist").

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nur vorgetäuschte155, weil er in einer uneinholbaren Distanz zu den bloß angeeigneten Werken steht. Da der Jude lediglich das Äußerliche, also die Form aufnimmt und nachahmt, kann er das Innerliche, das heißt den substanziellen Gehalt einer Sache niemals erfassen. Das absolute Auf-sichselbst-bezogen-Sein in Gestus und Gebärde bietet keine Chance, das Objekt, und sei es ein einzelnes Wort, als solches zu begreifen. Diese spezifisch jüdische Autoreferenzialität enthüllt das jüdische Wesen selbst in Texten, die in tadellosestem Deutsch verfasst sind.156 Die unerreichbare Distanz der jüdischen Sprecher zur Zeichenbedeutung, also zum semantischen Gehalt der Lexeme, kann sich aber auch ganz offen auf die Pragmatisierung und Phonetisierung der sprachlichen Zeichen auswirken. Das unselbstständige und alles in Frage stellende jüdische Wesen verrate sich in einem spezifisch zweiflerischen, krittelnden Ton, der sich nach Trebitsch selbst im Jahre 1919 noch deutlich heraushören und herauslesen lasse. Den Juden sei alles „fraglich" — und zwar im wahrsten Sinne des Wortes aus-gesprochen „fraglich": Und aus dem „fraglichen" und fragwürdigen Wert der Welt wird der „fragende" Ton und typisch jüdische Betonung und Aussprache, so zwar, daß in diesem scheinbar Äußerlichen abermals ein tief innerliches Moment jener alles modelnden Art zu erblicken ist! 157

In bewährter antisemitischer Manier hat sich Trebitsch damit in beide Richtungen abgesichert, nach Westen genauso wie nach Osten: Nur so vermag er dem perfekt sprachakkulturierten Juden im Westen den gleichen kompromittierten und kompromittierenden Umgang mit Sprache zu unterstellen wie dem polnischen oder russischen Jiddischsprecher. Dies gilt auch für die Ebene der Schriftsprache. Trotz aller sprachspezifischen Akkulturationserfolge müsse gerade in den literarischen Zeugnissen der „Geist des Anzweifeins, Hin-und-her-Gleitens, Spielens und FraglichFindens sich vorerst entfalten"158. Die spezifisch jüdischen Kräfte des Epigonalen und Negativen, die Trebitsch im Gedanken an den Selbstmord seines deutsch-jüdischen Freundes Otto Weininger einmal als „morbus judaicus" bezeichnete159, sieht er längst in die Literatursprache eingedrungen. War diese Behauptung einmal aufgestellt, bedurfte es nur noch eines populären Beispiels, um sie zu erhärten. Ein wahrer Könner in der so jüdischen Meisterschaft des sprachlich „Sekundären" musste her. 155 156 157 158 159

Ebd, S. 156: „Schwindeldichter"; „Schwindelmusik". Vgl. Gilman 1993, S. 161. Trebitsch, Geist und Judentum, 1919, S. 70. Ebd. Gilman 1993, S. 209.

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Wieder einmal fiel mit Heinrich Heine die Wahl auf den wohl populärsten deutsch-jüdischen Poeten. Der in seinem Glauben selbst tief gespaltene Dichter schien Trebitsch prädestiniert für die Rolle des genialen und doch insgesamt verhängnisvollen jüdischen Sprachbenutzers: zu loben ob seines Könnens, zu verdammen ob seiner fehlenden Empathie in „wahre" Kunst. Trebitsch hebt den Autor des Loreleyliedes erst in die Höhe, um ihn von dort desto tiefer fallen zu lassen. Zwar sei Heine ein bedeutender Dichter gewesen, aber doch einer, dessen Prosa des „sekundären Belichtens, Drüberhingleitens und liebenswürdigen Beschwätzens" den journalistischen Stil in der Literatur etabliert habe.160 Der späte Heine, „primär" begabt und geistig zweitrangig, zeige sich „genial" vor allem durch sein Selbstbekenntnis zur „Bekenntnislosigkeit", also wieder: zum Indifferenten.161 Mit anderen Worten: Heines Verdienst ist nicht eigentlich die Vielfalt und poetische Kraft seiner Literatur, sondern sein Eingeständnis, dass er bei allem Talent nie je eigenschöpferische Worte zu Papier habe bringen können!162 Die meisten „Hammer"-Publizisten sekundieren dieser Devaluation der Bedeutung Heines, indem sie den Dichter als „reines Aufmachungstalent" deklassieren, „das alles nahm, was es gebrauchen konnte".163 Sicherlich war der Anti-Heine-Impetus bei den Völkischen mehr noch als durch Aussagen von Sonderlingen wie Trebitsch durch die öffentlichkeitswirksamen Kampagnen so populärer Antisemiten wie Adolf Bartels forciert worden. 164 Doch bringt ein Rudolf Linke im Juli 1925 beide — Trebitsch und Heine - in einen Kontext, der aufmerken lässt. Linke deklariert Trebitschs und Heines Literatur zwar als „deutsch", zieht aber gleichzeitig eine Trennlinie zwischen der rational-reflexiven und der emotional-kreativen Sprachfähigkeit. Diese Grenze lässt es zu, den „jüdischen Tonfall" in der Sprache jedes jüdischen Autors zu entdecken:

160 Trebitsch, Geist und Judentum, 1919, S. 73. 161 Ebd., S. 72. 162 Ganz ähnlich wertet Treitschke Heines literarisches Oeuvre ab. Wohl weil er ihm den kritisch-satirischen Umgang mit Preußen nicht verzeihen konnte, kommt Treitschke bei aller Bewunderung für manche Schrift des Dichters doch wieder zu dem Schluss, „dass Heines Esprit keineswegs Geist war im deutschen Sinne". Die Begründung dafür liegt ganz auf völkischer Linie: „...die künsderische Komposition großen Stiles gelingt meist nur der massiven Kraft der Arier" (Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 1889, S. 409 u. 413). 163 Hammer 695/696, Juni 1931, S. 155 (Alfred Eisenmenger: „Das Judentum im deutschen Schrifttum I."). 164 Bartels hatte sich bei seiner Ernennung zum Professor vor allem durch die wohl kalkulierte Agitationskampagne gegen das in Hamburg geplante Heine-Denkmal ins Gespräch gebracht (vgl. Bartels, Heinrich Heine. Auch ein Denkmal, 1906, S. 375).

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Immer noch eher ist es möglich, daß ein Jude deutsche Gedanken denkt, als daß er deutsche Gefühle fühlt und deutsche Gestalten gestaltet. Das geschulte Ohr hört nicht nur aus den Dichtungen der Größen der Vergangenheit unfehlbar den jüdischen Tonfall, die jüdische Weise heraus, dergestalt, daß es gegen eine Schätzung der Heine, Börne oder Auerbach als deutscher Dichter ein für alle mal gefeit ist — es vermag auch in der Gegenwart mit Leichtigkeit die jüdische Produktion von der aus deutscher Seele geborenen zu scheiden. 165

Der „jüdische Tonfall" sticht hier hervor, nicht weil er schief, schräg, also auf eine signifikante Weise phonetisch von der Sprachnorm abweicht, sondern weil er die dahinter liegende semantische Verfälschung und Lüge durchscheinen, ja: ,durchklingen' lässt. Ob nun in umgangssprachlicher Artikulation, literarischer Produktion oder musikalischer Intonation166: Das ,Eigentliche' bleibt dem Juden unvermeidlich verborgen. Mochte Trebitsch im „Hammer" vom Februar 1926 den jüdischen „Schwindel" als „geistige Irreleitung" von der „Lüge" zu differenzieren suchen167, so lässt sich dies allenfalls als Nuancierung, keinesfalls als Abgrenzung zu Fritschs Theorie der „lügenden Bilder" lesen. Beide Vorwürfe - der der Nachahmung und der der Lüge - bedingten nach antisemitischer Logik einander. Weil „Eigentlichkeit" oder Authentizität Wahrheit intendiert, der Jude auf kulturell-sprachlichem Gebiet jedoch über nichts dergleichen verfügt, ist und bleibt er der geborene Lügner. Vom krankhaften Mythomanen unterscheidet ihn die Bewusstheit seiner Tat, wiewohl auch dem jüdischen Lügner jede Entscheidungsautonomie abgenommen ist, da er ja in Gegenwart eines Nichtjuden gar nicht anders kann, als die Unwahrheit zu sagen. Die Begeisterung, mit der Fritsch Trebitschs ,Enthüllungen' des jüdischen Wesens anfänglich begrüßte168, kann nun nicht mehr verwundern — glaubte er doch in dem jüdischen Judenfeind aus Wien endlich den nötigen Kronzeugen für den defizitären und destruktiven, weil schlechthin lügnerischen Umgang der Juden mit Sprache gefunden zu haben. Trebitschs großer Vorzug lag auf der Hand: Im Gegensatz zu tatsächlichen 165 Hammer 554, Juli 1925, S. 266-69 (Rudolf Linke: „Der Dichter Arthur Trebitsch"). 166 In Geist und Judentum, 1919, schreibt Trebitsch von der „dem sekundär-beweglichen Geist so naheliegenden Gabe, im Tonbereiche fingerfertig und instrumentationskundig zu schalten, ohne von der inneren Vision, der erlebten Melodie, den eindeutigen Kommandoruf vernommen zu haben" (S. 156). Der Eindruck, auch hier werde Altbekanntes kolportiert, trügt nicht: Stellenweise liest sich „Geist und Judentum" wie eine Festschrift für Richard Wagner. 167 Hammer 569, Februar 1926, S. 67 (Arthur Trebitsch: „Von der jüdischen ,Überlegenheit'. Der Unterschied zwischen ,Lüge' und ,Schwindel'"). 168 Vgl. ζ. B. Hammer 633, November 1928, S. 549-53 (Theodor Fritsch: „Eine Rätselfrage": „...ehrliche Israeliten wie [...] Arthur Trebitsch."

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oder vermeintlich antisemitischen Äußerungen anderer jüdischer Schriftsteller, Journalisten, Politiker etc. mussten seine Aussagen nicht erst zitiert werden, was oft genug bedeutete, sie verfälschend aus dem Zusammenhang reißen zu müssen. Trebitsch tat Fritsch und anderen Antisemiten den unschätzbaren Gefallen, in judenfeindlichen Organen wie dem „Hammer" selbst ausgiebig zu referieren. 2.3.2. ... lügt auch bä wörtlichen Zitaten. Hans Blühers letzte Steigerung des Stigmas Mit dem Stigma der immer währenden Lüge hinter den sprachlichen Zeichen schien eine triftige Erklärung für die sprachlich-kulturelle Unauffälligkeit der deutschen Juden gefunden. Mit allen Mitteln suchten die antisemitisch-völkischen Agitatoren Auswege aus diesem Engpass existenzieller Verfemung zu versperren. Am augenfälligsten wird dies in einem Artikel vom Juni 1925. Nach Ansicht des ungenannten Publizisten lügt der Jude sogar dann, wenn er die Wahrheit spricht - allein durch die „Wahl der Worte", durch die „Satzform" oder durch das Verschweigen spezifisch notwendiger Sachverhalte.169 Der ,Kulturantisemit' Hans Blüher hatte einer solchen Diffamierung des jüdischen Umgangs mit Sprache 1922 eine kaum noch zu überbietende Steigerungsform verliehen. Seiner Überzeugung nach werde die ganz und gar lügnerische jüdische Seele den Juden „auch bei wörtlichen Zitaten" unwahr sprechen lassen.170 In radikaler Abgrenzung von Humboldts Zentralthese konstatiert Blüher: Selbst wenn die deutschen Juden dasselbe sprächen und dächten wie beispielsweise Friedrich der Große, hätten sie dennoch nicht das Recht, sich auf ihn zu berufen. Nicht einmal die äquivalente Übernahme der Gedanken und Äußerungen eines Preußenkönigs vermag also das Stigma der jüdischen Verfälschung und Lüge im Sprachlichen zu tilgen. Extremer kann die Zerstörung moderner jüdischer Identität kaum ausfallen, wie Voigts treffend bemerkt: Ein solches Stigma „trennt den Menschen vollständig von der Sprache."171 Das seit dem frühen Mittelalter virulente und dann vor allem durch Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen"172 forcierte Vorurteil

169 170 171 172

Hammer 551, Juni 1925, S. 217f. („Wie das ,Berliner Tageblatt' seine Leser täuscht"). Hans Blüher: „Secessio Judaica", 1922, S. 52f. (zit. n. Voigts 1998, S. 152). Voigts 1998, S. 152. Zur Entwicklung und zu den möglichen Gründen von Luthers erstaunlicher Wandlung vom Anwalt der Juden zu einem ihrer unerbittlichsten Ankläger vgl. Bering 1990.

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von der Falschheit jüdischen Redens fand sich wieder im Gewand eines modernen Antisemitismus. Publizisten wie Blüher, Trebitsch und Fritsch hatten nach Kräften dafür gesorgt, und auch Hider griff in „Mein Kampf das Stereotyp von der „immerwährenden Lüge" der Juden auf: Eine von einem Juden „einmal behauptete Wahrheit" diene dazu, „einer noch größeren Fälschung" die Tarnkappe aufzusetzen. Intelligenz, Eloquenz und Kunstfertigkeit etwa in der Schauspielerei seien lediglich Mittel zum Zweck: Die „Täuschung" wird dadurch nur noch effizienter.173 Die notwendige Reaktion auf die schlechthin lügnerische Sprache der Juden konnte nach Ansicht eines ungenannten „Hammer"-Publizisten vom Juni 1926 dann denkbar simpel ausfallen, denn die Wahrheitsfindung erschloss sich einfach ex negativo: Der Jude ist so sehr Verkörperung der Lüge, Umkehrung der natürlichen Wahrheit, daß man seine Worte nur ins Gegenteil zu verkehren braucht, um der Wirklichkeit nahe zu kommen. 1 7 4

Der Jude lügt also, wenn er deutsch schreibt, spricht, denkt, gittert und selbst dann, wenn er - das Wahre ja doch nur verhehlend - schweigt. Selbst in der totalen und natürlich zwangsläufig kommunikativen Kommunikationsverweigerung ließ sich dem antisemitischen Sprach-Stigma nicht entkommen. 2.4. ...an Redegewandtheit und Überredungskunst ist derJude unerreicht. Die scheinbare Aufwertung: Die jüdische Eloquenz (Agitation 4) Nichtiges braucht niemand zu bekämpfen. Ein vorgestellter Feind, dem keine Stärken - und seien es lediglich destruktive — zugebilligt werden, ist kein ernst zu nehmender Gegner, ja, er ist gar keiner. Eines wirklichen Widersachers Gefährlichkeit muss hingegen so oft und so intensiv wie nur möglich hypostasiert werden, damit die gegen ihn gerichtete Propaganda überhaupt effizient sein kann. So wird der Feind zur Antithese, zum „geistigen Antipoden"175 oder „tiefsten Gegensatz"176, zum Sinnbild einer alles Eigene negierenden und gefährdenden Fremdheit schlechthin stilisiert; ohne ihn wäre dann nicht nur alles anders, sondern alles andere besser. Er,

173 174 175 176

Hider, Mein Kampf, 1924, S. 335. Hammer 575, Juni 1926, S. 270 („Widersprüche in der jüdischen Seele"). Fritsch, Geistige Unteqochung, 1913, S. 22. Hammer 186, März 1910, S. 150 (Theodor Fritsch: „Die geistige Unterjochung Deutschlands IV")·

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der Andere, „unser gefährlichster Widersacher"177, wird selber zur Gefahr für das eigene Selbst. Deshalb muss jede verfügbare Kraft zu seiner Beseitigung mobilisiert werden. Deshalb ist seine Unterschiedlichkeit, seine „tiefe Wesens-Verschiedenheit" 178 immer wieder zu betonen. - Ungefähr so könnten die Lehrsätze einer menschenfeindlichen Agitation lauten, die sich gegen Einzelne oder gegen Gruppen richtet. Die völkischen und dann erst recht die nationalsozialistischen Antisemiten haben genau solche Lehren kontinuierlich befolgt. Indem Fritsch den Juden eine „überlegene sprachliche Gewandtheit", ein „Talent der Überredung und Betörung", eine „Virtuosität" in sprachlicher Irreführung und thematischem „Kritizismus" attestiert179, erhält sein laufend wiederholter Vorwurf von der lügenden Bildlichkeit im jüdischen Umgang mit Sprache ein ganz anderes Gewicht. Erst aufgrund seiner „hervorragende [n] Intelligenz" sei es dem Juden überhaupt möglich geworden, die „geistige Unterjochung Deutschlands" zu betreiben.180 Ein solch gewaltiger Feind aller Deutschen und alles Deutschen darf einfach nicht in der deutschen Nation verbleiben. Solange jedoch seine „Ausscheidung aus dem staatlichen und kulturellen Leben" noch nicht erreicht ist, vermag er durch seine Gefährlichkeit sogar förderlich auf die nichtjüdische Mehrheit zu wirken: indem er die gegnerischen Kräfte bestärkt und vor nachlässiger Trägheit bewahrt. Ein ungenannter Publizist wagt sich in einem Artikel des „Hammer" vom Dezember 1929 sogar so weit vor, noch einmal an seinen Schlusssatz aus einer früheren Rede vor der

177 Die deklamatorische Behauptung vom Juden als dem gefährlichsten Antipoden findet sich •wiederum in den „Zwölf Thesen der deutschen Studentenschaft" vom 13. April 1933 (zit. n. Wulf 1966, S. 44f.). 178 Hammer 186, März 1910, S. 149 (Theodor Fritsch: „Die geistige Unterjochung Deutschlands IV"). Mochten die Juden unzählige Beweise ihrer Eingliederung in die deutsche Kultur geliefert haben und liefern, Fritsch focht all dies nicht an: „Der Hebräer hat außerdem durch Jahrtausende bewiesen, dass er nicht wandlungs- und anpassungs-fähig ist; er hat sich nirgends assimiliert." 179 Hammer 206, Januar 1911, S. 29-31 (Theodor Fritsch: „Kelten und Hebräer"). 180 Hammer 183, Februar 1910, S. 60 (Theodor Fritsch: „Die geistige Unterjochung Deutschlands"). Auch für Adolf Bartels sind die Juden bei der mimetischen Aneignung fremder Kulturgüter „Virtuosen, im guten und im schlechten Sinne, je nach der Größe ihres Talents" (Bartels, Kritiker, 1903, S. 104). 20 Jahre später, 1923, sollte vor allem Oswald Spengler in seinem Monumentalwerk „Der Untergang des Abendlandes" dem Glauben an eine gefährliche, weil „weit überlegene Intelligenz" der Juden weitere Popularität verschaffen (Spengler, Untergang des Abendlandes, 1923, S. 950). Der Topos von der jüdischen Supraintelligenz fand Eingang in die Werke der Rasseneugeniker: „...dass die Juden im Durchschnitt intellektuell begabter sind als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung", so der „Eugeniker" Lenz, „läßt sich meines Erachtens nicht bestreiten; sind sie doch seit Jahrtausenden darauf gezüchtet" (Lenz/Bauer/Fischer, Menschliche Erblehn und Rassenhygiene, 1936, S. 750f.).

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Münsterschen Studentenschaft zu erinnern. Darin hatte er dem Juden eine Art „Vorbildfunktion" zugewiesen: „Seid so fleißig wie die Juden, seid so mäßig wie die Juden und helft euch untereinander wie die Juden, so ist die Judenfrage gelöst." W e r wollte diesen ermahnenden Worten eine ernste Berechtigung abstreiten? [...] Und ebenso gewiß erringt der Jude durch eine straffe Selbstbeherrschung und Zusammenhalt mit den Seinigen allerlei Vorsprünge vor dem Deutschen, überflügelt ihn vielfach und schädigt ihn wirtschaftlich - sozial - moralisch. 181

Hier ist beides - Schaden und Nutzen des vorgestellten Feindes - auf geschickte Weise miteinander verquickt. „Fast dankbar" müsse man dem Juden sein, wenn er „durch sein Beispiel zum Antreiber und Sporner" seiner arischen Gegner werde.182 Wie sehr manche Kulturantisemiten darauf aus waren, die Fremdheit und Feindschaft des jüdischen Antisymbols als eine gleichsam archetypische Grundkomponente des Lebens darzustellen, die, auch wenn man sich ihrer letztlich radikal zu endedigen habe, bis zu einem gewissen Grad einen Zweck erfülle, belegt ein Artikel vom November 1926: Die ewige Urmacht schuf den Juden dazu, durch seine Feindschaft ein steter Sporner und Reizer des Menschengeschlechts zu sein, um es vor Verstumpfung und geistiger Einschläferung zu bewahren. 1 8 3

Jude zu sein bedeutet hier, einem menschheitsgeschichtlichen Schicksalsplan, einer „Urmacht" zu folgen - derart, dass die jüdische Gegnerschaft zu allem Nichtjüdischen ihre teleologische Bestimmung entweder in der Vernichtung oder aber in der Stärkung des anderen findet. Das Zugeständnis der jüdischen Überlegenheit in einer äußerlich zwar wirkungsvollen, inhaltlich aber verfälschenden und interaktiv manipulierenden Eloquenz war in doppelter Weise strategisch ausgeklügelt. Neben dem Effekt, die Gefährlichkeit des Negativsymbols Jude auch mittels mentalitätsgeschichtlich aufgeladener Begriffe wie „Urmacht" steigern zu können, sollte zugleich dem sprachlich-kulturellen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis vieler akkulturierten Juden in Deutschland entsprechend begeg-

181 Hammer 659, Dezember 1929, S. 589f. („Der Schatten des Christentums. Deutsche Mängel und jüdische ,Vorzüge'"). 182 Ebd. 183 Hammer 585, November 1926, S. 535 (Theodor Fritsch: „Aus der Entstehungszeit des ,Hammer'"). Ganz ähnlich Goebbels im bereits erwähnten Tagebucheintrag vom 6. August 1924, wo er mit teleologisch aufgeladener Diktion schreibt: „Der Jude hat die schicksalhafte Mission, die kranke arische Rasse wieder zu sich selbst zu bringen. Unser Heil oder unser Verderb. Das hängt von uns ab" (Goebbels, Tagebücher, Bd. 1: 1924—1929, Eintrag am 6. August 1924, S. 125f.).

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net werden. Die abschätzige Bemerkung eines „Hammer"-Publizisten vom Oktober 1914 („Der Jude hält sich für einen ausgezeichneten Deutschen, ja für einen viel besseren als uns."184) lässt erahnen, wie weit genau dieses sprachlich-kulturelle Selbstwertgefühl der deutschen Juden nach der so effizient verlaufenen Sprachakkulturation entwickelt war. Der gelehrige jüdische Schüler hatte sich im Deutschen regelrecht zum Klassenprimus hochgearbeitet, der sich, so der „Hammer" 1912 in einer erstaunlichen Einlassung, „zuweilen der deutschen Sprache geschickter bedient als mancher Deutsche". Umso deutlicher musste die Abgrenzung erfolgen: Trotz alledem stehe dieser überlegene Sprachkönner „dem deutschen Wesen so fremd und feindselig gegenüber [...] wie nur irgend denkbar".185 Der Vorwurf vom „Talent der Überredung und Betörung" eines Individuums oder einer Gruppe war ein seit der Antike bekannter Topos, den die Antisemiten für ihr Stigma nutzten und trivialisierten. Was Piaton an den Sophisten aufs Schärfste kritisiert hatte, wandten die Judenfeinde nun auf das „Kollektiv" Jude an: Vortrefflich reden und schreiben könne der Jude durchaus, die Wahrheit aber bleibe hinter dieser Überredungskunst auf der Strecke. Nach 1933 konnten die nationalsozialistischen Rassenideologen diesen Argumentationsstrang aufgreifen und weiterführen. Beide Stereotypen im jüdischen Umgang mit Sprache - einerseits die überlegene Eloquenz, andererseits ein auf Falsifikation, Täuschung und Lüge beschränkter Sprachcode - ließen sich mühelos vereinen. Wenn der ,Eugeniker' Fritz Lenz, der zusammen mit Hans F. K. Günther den Begriff der „Rassenseele" prägte, in dem Band „Menschliche Erblehre und Rassenhygiene" von einer spezifisch jüdischen Begabung berichtet, dann nicht ohne dem Juden die für objektive Urteile so notwendige innere Distanz des Subjekts zu den vorgestellten Objekten rundum abzusprechen: An Redegewandtheit und Überredungskunst ist der Jude unerreicht. Die Neigung zu vielen Worten (scherzhaft als „Geseires" bezeichnet) steht in auffallendem Gegensatz zu der germanischen Wortkargheit, die „jüdische Hast" im Gegensatz zur germanischen Ruhe und Schwerfälligkeit. Den inneren Abstand von Menschen und Dingen, der bezeichnend für den Germanen ist, fühlt der Jude kaum; er fühlt sich unter den Menschen zu Hause. 186

Es mag vornehmer und vorsichtiger formuliert sein als Trebitschs plumpes Diktum im „Hammer" vom Oktober 1925: „Dem Juden ist die Idee nichts", wenn er es darauf angelegt habe, eine Idee des Ariers zu „vernich-

184 Hammer 295, Oktober 1914, S. 507. 185 Hammer 239, Juni 1912, S. 291 („Sprache und Geist"). 186 Lenz/Bauer/Fischer, Menschliche Erbkhre und Kassenhygiene, 1936, S. 749.

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ten"187 - gemeint ist dasselbe: Die größte Fähigkeit des Juden zielt nur auf das Verhängnis seiner Gegner. Er ist ein begabter Redner, der zu bramarbasieren und aufzuwiegeln vermag, aber nie je die Wahrheit sagt, einer, der überredet, statt zu überzeugen. Die Voraussetzung für die These des defizitären Umgangs der Juden mit Sprache war im unüberbrückbaren Rassegegensatz gefunden, die Ausformung jüdischen Sprachvollzugs in der Mimikry-Theorie entwickelt und schließlich dessen spezielle Struktur in der Ambivalenz von Eloquenz und Lügenhaftigkeit behauptet worden. Das sprachspezifische Negativstereotyp war damit fast komplett. Nun fehlten nur noch Belege für die Erkennbarkeit des sprachlichen Makels der Juden, die konkreter waren als die sehr abstrakten Vorwürfe von der jüdischen Falsifikationssucht und Wahrheitsverachtung. Ein Markierungsvokabular musste her und beweisen, dass einem Juden die eigene Rasse in der Sprache immer mal wieder unverstellt durchging (wie beim Jüdeln') oder eben in ungehemmter Offensichtlichkeit das Korrumpierte auslebte (wie beim Jiddischen der Ostjuden). Die antisemitischen Agitatoren nahmen beides ins Visier. 2.5. Nu- wie haißtiJiddisch und „Jüdeln": Explizite Belege für jüdische Sprachentstellung (Agitation 5) Als Hider am 9. April 1929 bei einer mehrstündigen Rede den mit der künsderischem Leitung der Bayreuther Festspiele beauftragten Regisseur Max Reinhardt attackierte, indem er dessen Berufung auf den manipulatorischen Einfluss einer jüdisch dominierten Presse zurückführte, streute er in seine Polemik vereinzelt auch Pseudo-Jargonismen ein. Reinhardt sei für die Journalisten eben „aner von insere Leit", weshalb er in Deutschland auf Zustimmung stoßen werde, „soweit die jüdische Zunge klingt".188 Die bewusste, ironisch gewendete Anspielung auf einen der populärsten Bannersprüche grenz jenseitiger Sprachnationalisten, laut Protokoll von den Zuhörern prompt mit „Heiterkeit" quittiert, verband sich hier mit expliziten Markierungszeichen eines vorgeblich jüdischen Sprechens. Statt Reinhardts künstlerische Leistungen gedanklich in Anschlag zu bringen, sollte dem Hörer der konspirative Charakter einer spezifisch jüdischen Presse und Kunst sogleich vor Augen stehen. Tatsächlich nennt Hitler, sonst bekanntermaßen nicht zurückhaltend mit den Markierungs187 Hammer 559, Oktober 1925, S. 368 (Arthur Trebitsch: „Über den Unterschied des Ariers und des Juden in ihrer Beziehung zum Menschen und zur Idee"). 188 Hider, Reden-Schrifien-Anordnungen, Bd. 3, Teil 2: März 1929-Dezember 1929, S. 169.

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zeichen „Jude" und „jüdische Rasse", die Glaubenszugehörigkeit des berühmten Berliner Theatermachers nicht direkt: Das kontextuelle Stereotyp des sprachunkundigen und mit der jüdischen Presse verbündeten jüdischen Künsders reichte vollkommen aus, um ihn zu diskreditieren. Dieser assoziativen Selbstverständlichkeit' antijüdischer Sprachverfemungen hat die Zeitschrift „Der Hammer" seit 1902 vorgearbeitet. Obwohl in ihren Ausgaben hauptsächlich abstrakt-subtile ,Indizien' wie der verborgene „jüdische Ton" die spezifisch jüdische Sprachinkompetenz zu belegen hatten, finden sich durch die Jahrzehnte hindurch doch nach wie vor zahlreiche explizite Markierungsversuche eines vorgeblich typisch jüdischen Sprechens. Tatsächliche oder vermeintliche Lexeme aus dem Jiddischen mussten als sinnfällige Zeichen für jüdische Andersartigkeit herhalten, um daraus Hetzparolen abzuleiten. Das „Diffamierungspotenzial" von stigmatisierenden Kontextualisierungshinweisen wie „Mauscheln"189 wurde zwar leidlich genutzt, dann aber meist nicht weiter ausgeführt. Das unvollkommene ,Assimilationsdeutsch' vergangener Zeiten hatte eine derartig negativ bewertete Geschichte erfahren, dass kleinere Markierungszeichen genügten, um das gesamte Verfemungspotenzial in ihnen konzentrieren und durch sie aktivieren zu können. Während die meisten Publizisten sich damit begnügen, ein „misstönendes Waih-Geschrei" beispielsweise in der „berliner ,C.V.-Zeitung"' zu konstatieren190 oder ein „wunderschönes Mauscheldeutsch" in dem als jüdisch bzw. judenfreundlich klassifizierten liberalen „Wiener Tageblatt" ironisch hervorzukehren191, macht sich ein Schreiber im April 1923 sogar die Mühe, einzelne Sprachproben für einen defizitären Umgang der Juden mit der deutschen Sprache aufzulisten: Wie der Jude die deutsche Literatur kultiviert und bereichert, mögen ein paar Proben aus den Werken der Allermodernsten zeigen. Da erleben wir „zwitschernde DZüge", „wiehernde Türme", „flatternde Steine", „schleimende Finger". „Von Schattenpeitschen getrieben", stoßen die Expressionisten „rubine Schreie" aus; „Qualhetzschreie" entringen sich ihrer Brust; „auf ihren Seelen tanzen Wanzen", „in ihren Brüsten hockt das Rhinozeros". In „Phantastgebeten" heißt es: „An seinen Haaren lassen sich die jungen Affen blitzschnell herab, auf der Fläche meiner Zähne grasen die blauen Pferde". Einer bekennt: „Ich liebe erboste Greise, quittgelb vor Aerger." Diese Wendungen sind nicht erfunden, stammen nicht aus Irren-

189 Althaus 2002, S. 15. 190 Hammer 660, Dezember 1929, S. 638 („Der .antisemitische Staat'"). Komplett heißt der gegen die Vertretung der Liberaljuden gerichtete Satz: „Nun fing der Jude, der sonst für die Heiligtümer seiner Wirtsvölker nur Hohn und Spott hat, mit seinem misstönenden WaihGeschrei an, das einen Widerhall auch in der berliner C.V.-Zeitung findet." 191 Hammer 534, September 1924, S. 362 („Leben und Treiben an der Börse").

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häusern, sondern stehen, ernstgemeint, schwarz auf weiß — Höchstleistungen jüdischer und jüdisch-getränkter Kulturgeister. 192

Der Verfasser versucht hier, den Sprachgebrauch vermeintlich jüdischer, in Wirklichkeit einfach expressionistischer Autoren ins Lächerliche zu ziehen, indem er sich widersprüchlicher oder zumindest dem Leser ungewohnter Adjektiv-Substantiv-Konstruktionen bedient wie des Oxymorons „flatternde Steine" oder der onomatopoetischen Kompositionen „zwitschernden D-Züge" bzw. „wiehernde Türme". Noch vor dem stark wertenden Schlusskommentar soll damit suggeriert werden: Juden schreiben leichtsinnig und bar jedes ,guten' Stils. Sie entstellen die Sprache. Das stereotypisierte Jüdeln' ist in diesem Artikel von der Ebene der Syntax und Phonetik193 auf die Ebene der Lexik und Wortkombinatorik verlagert worden. Angebliche Sprachvetiehlungen waren jedoch schwerer zu stigmatisieren als i/)rarÄverfehlungen, bei denen, wie gesagt, ein einzelnes „Waih" genügte, um den Sprecher zu desavouieren. Weil die Polemik auf Literatur zielt, müssen schiefe Metaphern herhalten, um das Stigma des defizitären Umgangs der Juden mit Sprache einsetzen zu können. Anders sah die Lage freilich im Falle der Ostjuden aus, die seit den russischen Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts ins Deutsche Reich eingewandert waren und sich vor allem in Berlin niedergelassen hatten. Sie sprachen Jiddisch und waren durch Kopfbedeckung, Kaftan sowie Bartund Haartracht schon äußerlich als Sondergruppe erkennbar. Den Antisemiten dienten diese hör- und sichtbaren Unterscheidungsmerkmale dazu, das Negativbild des mauschelnden, fremdartigen, bedrohlichen Juden in allen Farben auszumalen und dadurch tatsächliche Alteritätserfahrungen der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den immigrierten Ostjuden auszunutzen. Dabei galt es, eine angebliche rassische Nähe zwischen jiddischsprachigen Ost- und jiddischunkundigen Westjuden zu deklarieren. Insbesondere die antisemitische Bewertung des Jiddischen erwies sich hierbei als Gradmesser für die Qualität der judenfeindlichen Gesamtargumentation. Die Antisemiten benutzten die relativ kleine Gruppe der nach Deutschland eingewanderten Ostjuden zur Stereotypisierung derjenigen 192 Hammer 499, April 1923, S. 134. Bereits der Titel lässt den ironischen Impetus des nicht genannten Verfassers erkennen: „Veredelung des Schrifttums und der Dichtung." 193 Eine Polemik gegen eine angeblich spezifisch jüdische Verbinversion findet sich ζ. B. in Hammer 19, April 1903, S. 181 (Theodor Fritsch: „Was ist es um Babel und Bibel"). Fritsch wettert dort gegen den berühmten Orientalisten Friedrich Delitzsch mit an den Haaren herbeigezogenen Belegen für syntaktische Verdrehungen: „Delitzsch kann sein jüdisches Blut nicht verleugnen. [...] Ja, er verfällt sogar gelegentlich in den Jargon seiner Landsleute aus dem Osten, wenn er [...] schreibt: ,... noch bevor sie schließen konnte die Lippen' - oder [...] ,Boten, seine Befehle zu tragen in alle Lande'."

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Juden, die mit simpler Stigmatisierung ungleich schwerer zu diffamieren waren: die Akkulturierten. Nur so war es möglich, den vollkommen Unauffälligen die Auffälligkeiten der östlichen Sondergruppe als eigenspezifisches, nur eben geschickt getarntes Wesen anzudichten. Der Bruder, lange Zeit in der Ferne verschollen, kam nun heim — und offenbarte den situierten Verwandten, so das Stigma, all jene Schreckensbilder genetischer Dispositionen, welche die Familie seit Generationen aufwies. Ein „Reisebericht" vom Januar 1905 macht dies besonders deutlich. Friedrich Roderich-Stoltheim alias Theodor Fritsch erzählt von einem Erlebnis im Prag des Jahres 1894. „In dem Glauben angekommen, daß Prag eine im Wesentlichen deutsche Stadt sei", machen er und sein Begleiter die Erfahrung, dass niemand, den sie um eine Ortsauskunft fragen, ihr Deutsch versteht oder verstehen will, offenbar auch, weil die Tschechen Vorurteile gegen die Deutschen und die deutsche Sprache hegen. Da die beiden Reisenden die tschechische Landessprache nicht beherrschen, sind sie zunächst erfreut über einen Juden, der ihnen in einem zwar nicht „einwandfreien", aber doch halbwegs verständlichen Deutsch weiterhilft. Dieser spricht, unschwer zu erkennen, Ostjiddisch. In einem Lokal treffen die Reisenden am nächsten Tag auf einen „gebildeten Tschechen, der redlich bemüht war, sich deutsch mit uns zu verständigen". Er belehrt die Besucher, dass der Hass seiner Landsleute sich nicht „gegen die richtigen Deutschen", sondern „gegen die anderen" richtet. Wen der Tscheche zu diesen „anderen" Deutschen zählt und welche Eigenschaften er ihnen zumisst, kristallisiert sich im Verlauf seiner folgenden Erzählung heraus: Die Leute waren nirgends gern gelitten. Schon ihre Art zu sprechen [...] schien uns widerwärtig. [...] Sie hatten die gleichen unangenehmen Gesichter, dieselbe häßäche Sprache, den geduckten schleichenden Gang und einen listigen, lauernden Blick, als ob sie ein böses Gewissen hätten. Und sie waren alle die nämlichen Betrüger. Sie hängten den armen einfältigen Landsleuten die schofelsten Waren zu teuren Preisen auf, verrechneten sich beim Geld-Herausgeben usw. Es war eine ausgemachte Sache, daß alle Deutschen Spitzbuben wären. Daß wir den eigentlichen Deutschen damit Unrecht taten, habe ich erst ziemlich spät einsehen gelernt.194

Nun folgt die Pointe der Geschichte. Erst bei einem Ausflug in die Dolomiten, so berichtet der Tscheche, sei er auf die „eigentlichen Deutschen" gestoßen: Nun erst fing ich an, mir die Leute im Gebirge genauer anzusehen, und gewahrte, daß sie ganz andere Gesichter hatten, anders sprachen, anders sich bewegten und

194 Hammer 62, Januar 1905, S. 44 (F. Roderich Stoltheim [alias Theodor Fritsch]: „Zweierlei Deutsche") [Kursive: Α. K.].

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anders dachten als die Deutschen, die ich in meinem Geburtsort kannte. Ich lernte nun erst ihre offene Treuherzigkeit schätzen, die mir früher aus Mißtrauen wie Falschheit vorgekommen war. Heute weiß ich, daß die Deutsch-Sprechenden in meiner Heimat gar keine Deutschen waren, sondern Leute aus dem Morgenlande, die sich nur die deutsche Sprache und deutsche Namen angeeignet hatten. Die meisten meiner Landsleute freilich verstehen diesen Zusammenhang heute noch nicht und setzen auf Konto des Deutschen, was der Schein-Deutsche an ihnen sündigt.195

Der als hannloser „Reisebericht" getarnte antisemitische Propagandaaufsatz von Fritsch ist ein wohl durchdachtes Scheinargument für die Minderwertigkeit jüdischer Sprachverwendung, denn er macht die idiosynkratische Erfahrung eines Einzelnen zur Norm. Die beiden Reisenden sind frei von Vorurteilen und verhalten sich gutgläubig sogar gegenüber einem jüdischen Auskunftsgeber. Nicht „so ein Scheusal von Antisemit"196, sondern ein unverdächtiger und dazu auch noch „gebildeter" Ausländer tritt als Kronzeuge für die Verderbtheit der wahren Hassobjekte auf. Die Argumente, die Fritsch dem Tschechen in den Mund legt, machen den Leser glauben, hier spreche einer ,mitten aus dem Leben'. Die Schwarz-WeißZeichnung des tschechischen Bildungsbürgers ist überaus plakativ und gerade dadurch eingängig. Die „Schein-Deutschen" sprechen das „häßliche" Ostjiddisch oder den Jargon', sind äußerlich abstoßend, listige Betrüger und darum allseits verachtet. Da sie deutsche Namen tragen und eine Sprache pflegen, die dem Hochdeutschen ähnlich klingt, bringen sie das Ansehen auch der „eigentlichen Deutschen" im Ausland in Misskredit. Diese „eigentlichen Deutschen" sind wahre Lichtgestalten. Ihre Sprache scheint vollends mit dem positiven äußeren Eindruck auf den Beobachter zu korrespondieren. Der Verfasser sagt Folgendes zwar nicht explizit, doch ist es zweifellos präsupponiert: Es ist - wie nicht anders zu erwarten — die Rasse, die den wesentlichen Unterschied ausmacht. Das Ostjiddische der Ostjuden, dieser „an die deutsche Sprache anklingende Dialekt"197, ist eine weniger vollendete sprachliche „Mimikry" als das Hochdeutsche der assimilierten Westjuden, doch nichtsdestoweniger eine Gefahr für das Deutschtum. Schließlich verfügen die Ausländer nicht über das geschulte Gehör des Rassereinen' Deutschen, weswegen sie ihm zurechnen, was in Wahrheit nur,Schein-Deutsch' tönt. 195 Ebd., S. 46 [Kursive: Α. K.] Ein ganz ähnlicher Kontext findet sich im Hammer 392, Oktober 1918, S. 414. Auch in England würde die Bevölkerung „polnische Juden" mit den „Germans" verwechseln, „da sie dort „Jiddisch-Deutsch sprechen und vielfach deutsche Namen führen". Die Verfehlungen der Juden träfen wiederum allein die Deutschen. 196 Eine bereits zitierte ironische Bemerkung Hiders vom Mai 1920: vgl. Kap. IV. 2.1.3, S. 115. 197 Hammer 567, Februar 1926, S. 56 (Clara Ehrmann-Ernst: „Merkworte").

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Noch bevor der führende Rassenideologe der Nationalsozialisten Hans F. K. Günther das „Mauscheln" im jüdischen Umgang mit Sprache schlechthin zu einem der wichtigsten anthropologischen Erkennungszeichen der jüdischen Rasse erhoben hatte198, war im „Hammer" ganze Arbeit geleistet worden. Aus dem Blickwinkel der völkischen Antisemiten sind der ostjüdische und der westjüdische defizitäre Umgang mit Sprache Folgeerscheinungen der minderwertigen jüdischen Rasse. Aus dieser Stigmatisierungsfalle sollte gerade für die traditionell bildungsbeflissenen Juden kein Entkommen möglich sein. Denn wenn die expliziten PseudoBelege nicht mehr zulangten oder sich als angreifbar erwiesen, dann zogen sich die Antisemiten mit der Kategorie des Gefühls auf ein letztlich von außen unüberprüfbares Terrain zurück, auf dem jeder alles behaupten konnte. Schließlich lag das Gefühl des Antisemiten für das unabänderliche Anderssein des Juden tief in seinem Inneren verborgen. Von dort musste es nun nur noch hervorgeholt werden. Es überrascht nicht, dass sich die Schreiber des „Hammer" auch in dieser Agitationsstrategie hervortaten. 2.6. Gerade das instinktive Gefühlßr die Fremdheit istja der [...] Grundfiir berechtige Judengegnerschaß. „Gefühl" und „Instinkt": Intuitiv-affektive Belege für jüdische Sprachentstellung (Agitation 6) In einem seiner zahllosen, oft sprunghaften Definitionsversuche dessen, was „Rasse" ausmachen soll, schreibt Theodor Fritsch im Mai 1915: Was aber ist nun eigentlich Rasse? Es steht um alle tieferen Lebensbegriffe so, daß sie verstandesmäßig nicht erschöpfend festgelegt werden können. Nur das Gefiihl kann in alles lebendige Wesen schauend und ahnend eindringen, wo der Verstand ratlos vor der Tür stehen bleibt.199

Dieser Artikel ist bezeichnend für ein Phänomen, das den Stil des „Hammer" kennzeichnet. Es ist auffällig, wie oft seine Autoren in ihrer Agitation auf emotionale Selbstevidenzen pochen. Waren die pseudowissenschaftlichen Argumente mit rationalem Anstrich ausgeschöpft, dann blieb immer noch die „Stimme" des „Instinktes"200, um die Divergenz von semitischer und arischer ,Rasse' zu ,erspüren'. Ein „Hammer"-Artikel vom Oktober 1914 zielt genau in diese Richtung: 198 Günther, Rassenkunde desjüdischen Volkes, 1930, S. 254—260. 199 Hammer 309, Mai 1915, S. 215 (Theodor Fritsch: „Rassedefinition: Gefühl") [Kursive: A.K]. 200 Hammer 295, Oktober 1914, S. 507.

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Es sind Dinge des Geßhls, die uns trennen und die sich mit allen Spitzfindigkeiten nicht hinwegdeuten lassen. [...] Darum können dicke Bände gelehrter Abhandlungen und feinsinniger Untersuchungen nicht die Stimme unseres Instinktes ersticken, die da sagt: Du bist uns fremd und dein Wesen stört unser Leben, unsere Kultur.201

Bei dieser Passage diktierte der alte, von Treitschke und anderen herrührende Vorwurf der jüdischen „Doppel-Nationalität"202 untergründig das Wort von der jüdischen Fremdheit. Doch erst das Rassenkonstrukt sorgte dafür, die behauptete nationale Fremdheit als etwas Unaufhebbares hinzustellen. Der Indikator für die ewige Fremdheit des Juden war das Gefühl. Symptom der Fremdheit war die Sprache. Wer die Kategorie des Gefühls auf die Sprache anwandte, konnte auf eine gewisse bürgerliche Tradition zurückgreifen.203 Für den Sprachpuristen Gustav Wustmann, hier ganz Wagner-Schüler, erweist sich der Jude gerade in den Punkten als Fremder, „wo es aufs Sprachgefühl ankommt"204. Solange die „Stimme des Blutes", die jeden Juden lügnerisch reden und schreiben lässt, nicht primär verstandesmäßig erkennbar, sondern emotional zu erfassen ist, liegt alles in der subjektiven Macht des kommentierenden Betrachters. Irrationale Argumente für die sprachlich evidente Andersartigkeit der längst Akkulturierten entiedigten den Attackierenden mit einem Mal aller zeitraubenden Belegnöte und Rechtfertigungszwänge. Im „Hammer", April 1910, heißt es: Wer also eine Abneigung gegen die Juden hegt, braucht nicht nach logischen Gründen zu fragen; er ist durch seinen Geschmack hinreichend gerechtfertigt und befindet sich mit dieser Empfindung in der allerbesten Gesellschaft, unter den feinsinnigsten und tiefsten Naturen. Denn Männer wie Herder, Fichte, Goethe, Friedrich der Große, Arndt, Schopenhauer, Richard Wagner, Lagarde und Andere haben diesen Geschmack geteilt.205

Das Zurückgreifen auf nicht mehr von außen überprüfbare Kategorien wie Geschmack und Empfindung, geschickt aufgewertet durch die lange und missdeutende Reihe testierender Klassiker206, beendete strukturell jede mögliche Diskussion. Demnach ist es ganz und gar sinnlos, nach objektiven Beweisen für den Rassestandpunkt zu suchen. Der antijüdische Ge201 Ebd. [Kursive: Α. K.]. 202 Treitschke, Ein Wort über unser Judentum, 1880, S. 15: „Auf deutschem Boden ist für eine Doppel-Nationalität kein Raum." 203 Vgl. Winde 2001, S. 135. 204 Wustmann, Alterhand Sprachdummheiten, 1891, S. 19. 205 Hammer 187, April 1910, S. 174 (vgl. zu diesem Zitat Bering 1998, S. 288). 206 Weder für Herder noch für Fichte (vgl. die Kap. II. 2.2.1. u. 2.2.2 der vorliegenden Untersuchung) und ganz sicher nicht für Goethe war die „Rasse" eine relevante Bestimmungsgröße des Menschseins.

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richtshof findet, unzugänglich für logische Einwände und offenkundige Widersprüche, im Inneren des antisemitischen Richters statt. Dessen „Gefühl" lässt jeden noch so perfekten Deutschsprecher im Zweifelsfall zum Feind alles Nichtjüdischen werden. Dieses antisemitische „Gefühl", das aufkommt, „wenn man in der Eisenbahn den jüdischen Tonfall hört", triumphiert über jeden noch so ehrlichen „Anpassungswillen" des deutschen Juden. 207 Ein Schreiber geht sogar so weit, das „instinktive Gefühl für die Fremdheit" zum alleinigen Grund für Antisemitismus zu erheben.208 Von einem „Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen" hatte Hider bereits im ersten Schriftstück seiner politischen Karriere, einem Brief vom 16. September 1919, ausdrücklich gesprochen.209 Zwar wurde zumindest im „Hammer" Pogromen als einer ungezügelten Auslebung des Judenhasses nur selten offen das Wort geredet. Die Drohung aber, dass die selbstevidente Animosität gegen die Juden sich in einer Pogromstimmung endaden könnte, falls die Juden nicht unter Fremdenrecht gestellt bzw. ausgewiesen würden, war präsent. Gerade Hider suchte diese Drohung immer wieder wie ein Damoklesschwert über dem Judentum einzusetzen 210 Die Voraussetzung für all dies war eine radikale, romantische Ideale aufgreifende Trennung von Verstand und Empathie, Kunstfertigkeit und Gefühl, die aus einem entschiedenen Anti-Rationalismus und Intellektuellenhass von großen Teilen der völkischen Bewegung resultierte.211 „Wer es nicht fühlt, der wird es nicht erfassen", wird - in Anlehnung an ein Goethewort — demjenigen Philosophen prognostiziert, der sich in rationale Abstraktion flüchtet, während der fühlende „Genius" seine Ziele „im Fluge" erreiche. Die Sprache aller Philosophen sei ja bloß „eine Abziehung vom natürlichen Denken, eine künstliche Gedanken-Konstruktion als Ersatz für das unmittelbare natürliche Anschauen". Davon hebt sich der „künstlerisch und dichterisch veranlagte Mensch" durch „Gefühl, durch Instinkt

207 208 209 210

Hammer 560, Oktober 1925, S. 393 („Abscheu vor sich selber"). Hammer 625, Juli 1928, S. 333 (B. J. Edermann: „Ein undankbares Geschäft"). Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, 1905-1924, S. 60. Wie fließend die Ubergänge zwischen einem vorgeblich ,geordneten' und einem ,zügellosen' Antisemitismus waren, demonstriert Hitler in einer Rede bereits am 6. April 1920: „Wir wollen keine Gefuhlsantisemiten sein, die Pogromstimmung erzeugen wollen, sondern es beseelt uns die unerbittliche Entschlossenheit, das Übel an der Wurzel zu packen und mit Stumpf und Stil auszurotten" (Hider, Sämtliche Aufzeichnungen, 1905-1924, S. 63). 211 Vgl. zur Geschichte des nationalistisch-faschistischen Intellektuellenhasses mit seinen Verfemungsvokabeln „verbildet", „krank - wurzellos", „jüdisch" etc.: Bering 1978, S. 94—147.

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und Intuition" deutlich ab. Denker und Dichter erscheinen so als zwei feindliche Wesen. Man könnte nun meinen, diese Ausführungen stammten von Arthur Trebitsch, dem Prediger des „sekundären" Geistes aller Juden. Weit gefehlt: Die Verfemung trifft ihn selbst. Trotz aller ängstlichen Vorsichtsmaßnahmen der ,Überassimilierten' richteten sich die antisemitischen Attacken gegen den jüdischen Umgang mit Sprache gerade gegen diejenigen Juden, die versucht hatten, sich des Stigmas „Sprachinkompetenz" zu entledigen. In dem besagten Artikel ist es ausgerechnet die Sprache seines ,Vorzeigejuden' Trebitsch, die Fritsch polemisch desavouiert. Es möge zwar sein, dass der „Mischling" „manchmal deutscher denkt als mancher Deutsche", doch betreffe dies eben nicht die Gefühlsebene. „Als Einführer in die jüdische Geisteswelt" sei Trebitsch „jederzeit ein willkommener Weggenosse", ein „echter Deutscher" aber werde er niemals werden können. Seine „übertriebene [!] Judenriecherei" schieße über das Ziel hinaus, schade der Bewegung und werde sich letztlich gegen ihn selbst richten. Denn was und wie Trebitsch auch immer rede und schreibe — der „jüdische Ton" lasse sich doch heraushören: Ich gehe in meiner Offenheit noch weiter: Bei aller ungewöhnlichen Tiefe und Scharfsinnigkeit haftet Trebitsch's Schriften letzten Endes doch ein leiser jüdischer Zug an: jenes allzu Spekulative, das uns Deutschen gelegentlich als spitzfindig und übertreibend erscheint. Auch dünken mich Trebitsch's Gedankengänge und Ausdrucksformen oft zu künstlich und gewunden. Ich liebe eine schlichtere und unmittelbarere Darstellung. Trebitsch hat eine philosophische Schulung durchgemacht und bewegt sich gern in philosophischen Wendungen. Das mag manchem als ein Vorzug erscheinen; in meinen Augen ist es ein Mangel. 212

Trebitschs eigenes Prinzip der epigonalen Indifferenz des jüdischen Geistes und der jüdischen Sprachverwendung fällt so auf ihn selbst zurück. Er, der studierte Philosoph, entgeht Fritschs Intellektuellenhass nicht. Spätestens mit diesem Artikel hatte Fritsch den Dichter Trebitsch seinem Schutz entzogen.213 Offenbar bedrängt von der massiven Kritik an seiner Protektion des halbjüdischen Schriftstellers, lässt Fritsch hier alle Rücksichten fallen, indem er sich auch im Rededuktus ganz seinen antisemitischen

212 Hammer 546, März 1925, S. 109f. (Theodor Fritsch: „Arthur Trebitsch und seine Schriften"). 213 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Fritsch konnte es sich nicht weiter leisten, dem Halbjuden Trebitsch in seinem „Hammer"-Verlag ein Forum zu bieten, zumal Fritsch der Vorwurf anhing, er habe sich von Trebitsch für diese Dienste bestechen lassen. Mit Trebitschs Tod im Jahr 1927 verstummten die kritischen Stimmen, was Fritsch aus einer für ihn prekären Lage befreite.

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Hassgefühlen hingibt. „Pestkranke und Zerstörungsgifte", führt er in Anlehnung an Lagarde aus, „lassen sich nicht assimilieren."214 Bis zu dieser Stelle bleibt Fritsch noch ganz dem Stil seiner früheren Schriften verhaftet, in denen er immer wieder „die tiefe WesensVerschiedenheit zwischen Deutschen und Hebräern" untermauert hatte.215 Dann aber versteigt er sich zu einer Behauptung, die ungewöhnlich erscheint, verglichen mit den üblichen antisemitischen Agitationsmustern. Der Kampf gegen das jüdische Nachtbild, dessen Notwendigkeit sich für Fritsch durch den jüdischen Sprachumgang immer aufs Neue erweist, ist kein rein äußerlicher, sondern er findet stets auch im Inneren eines jeden Subjektes statt: V o r 30 und 40 Jahren habe ich in meinen öffentlichen Reden immer das Wort wiederholt: „Wenn wir die Juden erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir erst den Juden aus der eigenen Brust vertreiben." 216

Auch diese These resultiert letztlich aus der Dominanz der emotiven Instanz des „Gefühls". Da das hierarchische Rassenkonstrukt einer wissenschaftlich-rationalen Prüfung nicht standhält, da folglich die ungemein diffizile rassische Separation alles intuitiv-instinktive ,Gespür' eines ,Experten' benötigt, ist nicht auszuschließen, dass noch im unerbittlichsten Judengegner eine jüdische Nachtseite verborgen liegt. Fritschs erstaunliches Bekenntnis steht nicht solitär im historischen Raum. Es deckt sich sogar mit einer Äußerung Hitlers. Rauschning behauptet, Hitler habe ihm gegenüber bekannt: Der Jude sitzt immer in uns. Aber es ist leichter, ihn in leiblicher Gestalt zu bekämpfen, als den unsichtbaren Dämon. [...] Ist ihnen nicht aufgefallen, wie der Jude in allem und jedem das genaue Gegenspiel des Deutschen ist und ihm doch wieder so verwandt ist, wie es nur zwei Brüder sein können? 2 1 7

Mag man Rauschnings Erinnerungsbericht „Gespräche mit Hitler" als historiografische Quelle noch in Zweifel ziehen218, so kann eine ähnliche

214 Hammer 546, März 1925, S. 111 (Theodor Fritsch: „Arthur Trebitsch und seine Schriften"). 215 Fritsch, Geistige Unteqochung, 1913, S. 21. 216 Hammer 546, März 1925, S. l l l f . (Theodor Fritsch: „Arthur Trebitsch und seine Schriften"). 217 Rauschning, Gespräche mit Hitler, 1940, S. 223f. 218 Allerdings hat Hitler dem 1940 beim Züricher Europa-Verlag erschienenen Buch und damit auch besagtem Zitat niemals widersprochen (vgl. zu der Passage: Loewy 2000, S. 247). Goebbels nannte Rauschnings Erinnerungsbericht eine „Riesengefahr für uns" und erreichte dessen Auflageverbot in der Schweiz (Goebbels, Tagebücher, Bd. 4: 1940-42, Eintrag vom 13. Februar 1940, S. 1376).

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Passage in einer Rede Hitlers am 13. August 1920 im Münchner Hofbräuhaus als sicher belegt gelten. Die Quintessenz des Gedankengangs einer schicksalhaften Nähe zwischen „Juden" und „Deutschen" wird dort von Hitler zwar ironisiert, gleichwohl aber nicht verschwiegen: Einige würden, so Hitler, schon fordern, dass jeder Einzelne beginnen müsse, „den Juden aus sich selbst zu entfernen"219. Hiders Haltung zur Judenfrage, nach Sebastian Haffner ein simples „Weil sie anders sind, müssen sie weg"220, nimmt sich unter diesem Gesichtspunkt komplexer aus. Das jüdische Negativbild, als „Geist des stets Verneinenden"221 charakterisiert und wiederum in Opposition zur „exakten wissenschaftlichen Wahrheit" in der „Welt des Gefühls" verortet222, scheint aus einer sublimierten Verachtung des Selbst zu resultieren. Die Stigmatisierung anderer ist ein schnell wirkendes, aber nicht lange anhaltendes und darum steigerungsbedürftiges Mittel zur Kompensation eigener Labilität. Oder, mit den Worten Adornos und Horkheimers: Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; [...] Im Bild des Juden, das die Völkischen v o r der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. [...] Indem der Verwurzelte an seiner Differenz vom Juden die Gleichheit [...] gewahrt, wird in ihm das Gefühl des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert 2 2 3

Nun sind mit einem Schlag gewichtige Probleme aufgeworfen: Wie denn konnte die schlechthin schädigende jüdische Antithese ein Teil gerade derjenigen sein, die sie mit allen Mitteln bekämpfen und vernichten wollten? Wie war es möglich, Anteile der minderwertigen jüdischen Rasse in der höherwertigen Rasse des Ariers zu verorten? Machte dies nicht jedes vorhergehende Agitationsargument hinfallig? Um eine hinreichende Antwort darauf geben zu können, ist vor dem Fazit ein Exkurs hilfreich.

219 Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, 1905-1924, S. 199. Hitler weiten „und ich befürchte sehr, dass diesen ganz schönen Gedankengang niemand anderer entworfen hat als ein Jude selber." Die Passage löste „Heiterkeit" aus und bezog sich wohl auf Otto Weininger, jenen von Theodor Lessing als jüdischen „Selbsthasser" porträtierten Unglücklichen, der die antisemitisch-frauenfeindliche Schrift „Rasse und Geschlecht" verfasste und 1903 mit 23 Jahren Selbstmord beging. 220 So expressis verbis noch bei Haffner 1978, S. 15. 221 Adolf Hider, Rede auf einer NSDAP-Versammlung in Weimar am 28. Oktober 1925. In: Hider, Reden-Scbnften-Anordnungen, Bd. 1, Februar 1925-Juni 1926, S. 196. 222 Hider, Mein Kampf, 1924, S. 315. 223 Adorno/Horkheimer 1944, S. 177 u. 194.

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2.7. Exkurs: Die Bewertung des Hebräischen Obgleich der Wandel in der antisemitischen Stigmatisierung bestimmter Begriffe stets auch gleitend verlief und die antisemitisch konnotierten Termini laufend miteinander kombiniert wurden (jüdische „Sprache" und „Kultur" als „rassefremd" oder als „seelenlos"), tendierte der deutsche Antisemitismus doch zunehmend zu einer von der sprach- und kulturzentrierten Agitation abgekoppelten Rassenpolemik. Gotzmann nennt Gründe dafür: Mit dem Verlust dieser stilisierten negativen Differenz durch den Erwerb der gesellschaftlichen Kennzeichen kultureller und sozialer Integration wurde das Charakteristikum des Andersseins bekanntermaßen zunehmend auf den zunächst sekundären biologistischen Aspekt des antisemitischen Bildes einer unterschiedlichen Physiognomie und einer eigenen Wesensart verlagert. 224

Weil das Rassenkonstrukt so verblüffend simpel war (,wertvolle' Rassen hier — ,wertlose' Rassen dort), versprach es auch die größere propagandistische Effizienz. Dies gilt besonders für die Zeit nach 1918, als sich die antiliberalen und antisemitischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft - angestachelt von Hindenburgscher Dolchstoßlegende und der fortwährenden Hetze gegen eine angeblich „verjudete" Weimarer Regierung — verschärften. Die Grundthese des cultural pair sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen: Gerade die wachsende Ununterscheidbarkeit von Deutschen und Juden habe die Antisemiten bewegt, die Paradigmen von Kultur und Sprache durch das Paradigma der Rasse auszutauschen. Der am meisten angepasste Jude wurde zur größten Gefahr und musste mit den schärfsten Stigmata markiert werden. Wie sonst wäre es beispielsweise zu erklären, dass der „Hammer" am unerbittlichsten ausgerechnet gegen Max Naumann und die nationaldeutschen Juden polemisiert hat - mithin gegen einen Verband, der die jüdische Identität auf die Sphäre einer bloß formalen Zugehörigkeit zur jüdischen Religion beschränkte und alles andere radikal eindeutschen wollte? Ein „Hammer"-Artikel vom Januar 1922 stützt diese Erklärung. Die so drängende Sehnsucht der nationaldeutschen Juden, endlich nicht mehr als Juden erkannt zu werden, sei sinnlos. Zwar möge es „einzelne Juden geben, denen ernstlich darum zu tun ist, ihr Judentum vergessen zu machen und nicht mehr an das ,alte Erbübel' erinnert zu werden, Leute, die sich einbilden, deutscher zu sein als mancher Deutsche"; die Rasse verunmögliche jedoch die Verwirklichung dieses Ansinnens:

224 Gotzmann 2002, S. 32f.

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Ja, wenn es nur auf das Wollen und Empfinden ankäme! Aber die Natur hat in den .besonderen Saft' so unüberwindbare Eigenschaften gelegt, daß auch die Söhne des ,deutschfühlenden' Juden wieder mit jüdischen Instinkten zur Welt kommen. [...] Es ist nun einmal so, daß Schwefelsäure für alle zarteren Organismen und Gewebe verderblich wird, auch wenn sie noch so sehr vom ^Assimilationsdrang' erfüllt ist — von der Sehnsucht, aufgesaugt zu werden. 225

Man sieht: Bei zwingendem Bedarf ließ sich die so oft kolportierte Hochachtung für Gefühl und Vernunftfeindlichkeit eben doch wieder negieren. Die kulturelle, sprachliche und soziale Anpassung, noch 100 Jahre zuvor den Juden gegenüber nachhaltig eingefordert, sollten als gefahrlicher Irrweg, als eine schädliche Schimäre hingestellt werden. „Daß einer Jude heißt, wirkt als Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht", schrieben Adorno und Horkheimer in ihrer berühmten Analyse des jüdischen Negativstereotyps der Antisemiten.226 Der assimilationswillige Jude, anpassungsbereit mit Ausnahme des faktischen Festhaltens an der jüdischen Religionszugehörigkeit, konterkarierte jedoch dieses Schema. Der Jude musste als Jude erkennbar bleiben. Letztlich stellte ein Mann wie Trebitsch, der partout kein Jude mehr sein wollte, die größte Gefahr für die antisemitischen Rassensektierer dar. Die Erleichterung, mit der Fritsch den Tod seines ehemaligen Ziehsohnes aufgenommen haben muss, kann Fritschs abschließender Rechtfertigungsartikel nicht verhehlen.227 Wie angestrengt die Judenfeinde gegen die Gefahr ankämpften, dass die Konturen ihres jüdischen Schattenbildes sich auflösen oder besser noch: von der Realität aufgesogen werden könnten, lässt der Spott des NS-Chefpropagandisten Josef Goebbels über den „Verband nationaldeutscher Juden" anlässlich einer Wahlveranstaltung der NSDAP im Sportpalast in Berlin am 24. Oktober 1932 durchscheinen: Wenn der Jude in eine nationale Umgebung kommt, dann streicht er sich schwarzweiß-rot an (Heiterkeit). Er ist aber trotzdem ein Jude, er heißt immer noch Breslauer. Er nennt sich zwar nationaldeutscher Jude, aber das kennen wir. Wir sind in diesen Dingen geeicht, wir haben so unsere Erfahrungen (Heiterkeit) 2 2 8

225 Hammer 470, Januar 1922, S. 39 („Von den national-deutschen Juden"). 226 Adorno/Horkheimer 1944, S. 195. 227 „Heute, nachdem Trebitsch seit anderthalb Jahren tot ist, kann seine Person keinerlei schädlichen Einfluß mehr üben" (Hammer 639, Februar 1929, S. 76f., Theodor Fritsch: „Meine Beziehungen zu Arthur Trebitsch"). 228 Josef Goebbels, Funkhaus Berlin (FHB), NM 34/3 (MS S. 21), 1'30 (Privataufnahme). Zit. n.: Deutsches Rundfunkarchiv, Funkhaus Berlin: „Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Tondokumente aus den Jahren 1930-1946", Berlin, Frankfurt a. M. 1991, S. 3.

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Das Gegenbüd zum gefährlich überassimilierten Juden glaubten die Antisemiten in den Zionisten gefunden zu haben. In diesem Punkt unterscheiden sich die ,,Hammer"-Publikationen deutlich von entsprechend ablehnenden Äußerungen Hitlers zum Zionismus.229 Auf der Folie der Theorie des cultural pair können die im „Hammer" des Öfteren auftauchenden Belobigungen der Nationaljuden nun nicht mehr überraschen, waren diese den Judenfeinden ja gerade deshalb „die ehrlichsten Juden"230, weil zumindest ein Teil der Zionisten die differentia speäfica zwischen Deutschen und Juden nicht negierte, sondern ganz im Gegenteil propagierte und so schnell wie möglich in eine Trennung von Deutschland umzuwandeln suchte.231 Dass im „Hammer" keinerlei Polemiken gegen das Hebräische auftauchen, scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, war die Bewertung der Bibelsprache im Laufe der Geschichte doch recht kontrovers erfolgt. Die eine Gruppe von Sprach- und Kulturwissenschaftlern, beeinflusst insbesondere von Herders Hymnen auf die hebräische Literatur, schätzte diese älteste Sprache der Juden hoch ein; die andere suchte sie als semitisches Idiom der indogermanischen Sprachfamilie in einer Weise gegenüberzustellen, dass der unüberwindliche Antagonismus zwischen minderwertiger semitischer und hochwertiger indogermanischer bzw. arischer Rasse seine Entsprechung in Literatur und Kommunikation erhielt. Dazu gehörten Anfang des 19. Jahrhunderts Wissenschaftier wie der Indologe Christian Lassen232 oder eben zur Jahrhundertwende Radikalantisemiten vom Schlage Chamberlains.233 Der „Hammer" schlägt diesen Weg antihebräischer Sprachpolemik nicht ein. Der einzige Artikel, der näher auf 229 Zumindest in „Mein Kampf" wertet Hitler Liberaljuden und Zionisten gleichermaßen ab. Der Streit zwischen beiden Richtungen sei nur ein „scheinbarer" Kampf, der ihn schon nach kurzer Zeit „ekelte" (Hitler, Mein Kampf, 1924, S. 60f.). 230 Hammer 470, Januar 1922, S. 39 („Von den national-deutschen Juden"); vgl. auch Hammer 281, März 1914, S. 138 („Streit innerhalb der Judenschaft"): „Uns will nun dünken, als ob die Zionisten den ehrlichsten und aufrechtesten Teil des Judentums darstellten. Sie besitzen den Mut, ehrlich zu bekennen, dass sie sich in ihrer Nation und Rasse für immer von dem deutschen Volke geschieden fühlen, dass sie nicht Deutsche werden können und wollen." 231 Vgl. wieder Hammer 295, Oktober 1914, S. 507 (Theodor Fritsch, „Burgfrieden"): „Erfüllen wir also endlich den Wunsch der Zionisten und geben wir den Juden ein eigenes Vaterland, so wird beiden Völkern am besten gedient sein." 232 Vgl. Nicholls 1993, S. 324: „Lassen opposed this Indo-Germanic race to a Semitic race [...] He also determined that the Semitic race was inferior." 233 Chamberlain behauptet, dieser Sprache habe zu jeder Zeit die originäre Kraft gefehlt, um mit ihr begrifflich rein denken bzw. argumentieren zu können: „Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich macht" (Chamberlain, Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, 1899, S. 349). Wagner hatte das Hebräische noch lediglich als „eigentümliches", weil „todtes" Idiom bezeichnet (Wagner, Das Judenthum in der Musik, 1850, S. 71).

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das Hebräische eingeht, beklagt ausgerechnet die verhängnisvolle Wirkung der Lutherschen Übersetzung der Bibelworte ins Deutsche. Luthers Transkription sei ein „Danaergeschenk", ein Trojanisches Pferd, eingeschleust hinter die ehedem festen Mauern neuhochdeutscher Sprachlichkeit. Die Gründe dafür lassen sich denken. Bei dem Autor des Artikels, Pastor Bublitz, hören sie sich so an: In Luthers Übersetzung ist, eben weil sie eine fast volle Verdeutschung ist, das hebräische Sprachdenken fast verloren gegangen. Auch der Sinn ist an vielen Stellen verdeutscht. [...] Hätte er sich doch lieber die Mühe gespart! Wir schelten ihn nicht, aber sein Altes Testament deutsch ist gar zu sehr ein Danaergeschenk geworden. Das Fremde hat sich unter deutscher Maske eingeschmeichelt; und nun, w o wir den fremden Leib und Atem spüren, ist's die Maske, von der die vielen nicht so leicht lassen wollen. 2 3 4

Martin Bubers sehr eigenwillige Transkription zeige hingegen, dass „eine wirkliche Übersetzung des Alten Testaments in die deutsche Sprech-, Denk- und Fühlweise unmöglich ist"235; dass mithin Deutsch und Hebräisch sich semantisch und semasiologisch ebenso ausschließen wie Deutscher und Jude anthropologisch und lebensweltlich; dass der eindeutige Vorteil des Hebräischen eben darin liegt, seine Sprecher und Literaten ohne Umschweife als Juden erkennen zu können. Die originär jüdische Sprache konnte der von den Antisemiten eingeforderten Abund Ausgrenzung der deutschen Juden dienen. Anders gesagt: Einen hebräisch sprechenden Juden überhört man nicht. Allein zu diesem Zweck war die Sakralsprache Adolf Bartels eine längere Passage in „Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft" wert. Zwei Jahre vor dem oben zitierten „Hammer"-Artikel redete er darin einer Neubelebung des Hebräischen das Wort: Natürlich hätte ich auch nichts dagegen, wenn die Juden verschmähten, sich der deutschen Sprache fiir ihre Dichtung zu bedienen und sich wieder, wie im Mittelalter durch die Jehuda ben Halevi, Mose ibn Esra und Salomo Alchirisi, eine neuhebräische Poesie schüfen. 236

All dies kulminierte schließlich in der zu Anfang dieses Unterkapitels zitierten Forderung der nationalsozialistischen „Deutschen Studentenschaft" vom 13. April 1933, „jüdische Werke" nur noch auf Hebräisch zuzulassen.237 Was 234 Hammer 594, März 1927, S. 158 (Pastor Bublitz: „Eine jüdische Verdeutschung des Alten Testaments") 235 Ebd., S. 159. 236 Bartels, Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft, 1925, S. 42f. 237 „Zwölf Thesen der deutschen Studentenschaft" am 13. April 1933 (zit. n. Wulf 1966, S. 44f.).

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Namenszwang und Judenstern ab 1939 endgültig verwirklichen sollten, wurde hier, zweieinhalb Monate nach Hitlers Machtergreifung, an der Literatur vorexerziert: die Sprengung der deutsch-jüdischen Synthese und ihre Separierung in zwei einander antagonistische Prinzipien. 2.8. Fazit Es ist gezeigt worden, dass viele der aus „Hammer"-Artikeln eruierten Agitationsargumente gegen den jüdischen Umgang mit Sprache an anderer Stelle bereits angedacht worden waren, dass sie also in einen Traditionszusammenhang einzuordnen sind, den der „Hammer" nutzte. Nahezu allen Argumenten ist eine sprachspezifische Konklusion inhärent, die sich in diametraler Weise von den Sprachphilosophien eines Humboldt und Herder, ja, selbst eines Fichte unterscheidet. Insofern wird nun eine topologische Konklusion antisemitischer Sprachauffassung versucht. Zuvor aber sind die Grenzlinien zur kulturpositiv-kosmopolitischen Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts nochmals genauer zu konturieren: Denken ist nach Humboldt Sprache und Sprache ist Denken, Wirkung des Geistes und Wirkkraft für den Geist. Nicht nur die rationale, sondern auch die emotionale Ebene wird sprachlich gefasst und verlautbart. Die Aufnahme und Mitteilung beider Ebenen können sich einerseits in der Muttersprache, also in der von Kindheit an erlernten Erstsprache vollziehen, andererseits in einer Sprache, die das denkende Subjekt als neue Umgangssprache bevorzugt. Fremdsprachenerwerb dient der Objektivierung des je eigenen Denkens und Empfindens. Wenn eine Nation eine Sprachgemeinschaft bildet, dann lässt sie sich sprachphilosophisch wie ein Individuum betrachten. In der Sprache einer Nation - der Nationalsprache — wird darum immer auch die Geisteseigentümlichkeit oder Weltansicht einer Nation geäußert. Es war gezeigt worden, dass sich das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation inklusive der Gewährung des nationalen Zugehörigkeitsrechts für (national-)sprachlich Kompetente genau auf diese Grundlage stellte. Das Rassenkonstrukt hat in einer solchen kultur- bzw. sprachzentrierten Ideologie keinen Platz. Mehrfach und deutlich hatten Herder und Humboldt, ja selbst der zu idiomatischer Hierarchisierung neigende Fichte es abgelehnt, das individuelle und nationale Menschsein in erster Linie auf Abstammungskriterien zu gründen. Diesem Konzept hielten die Judenfeinde im Wesentlichen zwei Agitationsschemata entgegen, die sie mit diversen textimpliziten oder -expliziten Argumenten unter-

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fütterten. Das erste Schema war von eher kulturantisemitischer, das zweite von eher rassenantisemitischer Provenienz. Agitationsmuster I (primär kulturantisemitisch): Die Juden können den Prämissen für deutsche Nationalität, die sich vorzüglich am Kriterium sprachlicher ,Normerfüllung' messen lassen, überhaupt nicht oder nicht ausreichend genügen. Ihr Sprachgebrauch und ihr Sprachgefühl erfüllen in keiner oder in nicht ausreichender Weise die Sprachnorm. Die Juden sind deshalb als Fremde anzusehen, eine nationale Gleichberechtigung ist ihnen zu verwehren. Agitationsmuster II (primär rassenantisemitisch): Das Konzept der sprachbestimmten Kulturnation ist ein Anachronismus bzw. ein Irrtum, der von Beginn an von falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Der deutsche Nationalbegriff definiert sich nicht primär über Kultur, Bildung und Sprache, sondern über die Zugehörigkeit zu einer arischen Rasse. Nation ist gleich rassenreine Volksnation oder — in organologischer Deutung — ein abgeschlossener Volkskörper. Die rassefremden Juden sind, obgleich scheinbar sprachkompetent und staatsbürgerlich treu, als innere „Schädlinge" des „Volkskörpers" anzusehen, unter Fremdenrecht zu stellen, auszuweisen oder „auszuschalten". I und II zwischengeschaltet war ein Perspektivenwechsel, der die Sprache nicht mehr als Heil- und Bindemittel der politischen und sozialen Zerrissenheit akzeptierte, sondern der in der Sprache ein Erkennungszeichen für völkische Zugehörigkeit sah; er eröffnete insofern den Juden auch nicht mehr die Möglichkeit, bei Angleichung ihres Sprachgebrauchs an die normativen Anforderungen in die nationale Gemeinschaft aufgenommen werden zu können. Das noch im 19. Jahrhundert populäre, kulturoptimistische Agitationsmuster I ließ sich seit der überaus erfolgreichen Sprachakkulturation der Juden spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch unter größten Anstrengungen aufrecht halten. Als Hauptagitation taugte es überhaupt nicht mehr, da seine Distinktionsmechanismen längst von der Realität einer erfolgreichen jüdischen Sprachakkulturation eingeholt und durch sie widerlegt worden waren. Auch deshalb bevorzugte der „Hammer" in der überwiegenden Zahl seiner sprachbezüglichen Artikel das kulturpessimistische Agitationsmuster II. feilte dafür aber die Rolle der Sprache mit diversen polemischen Argumenten (Agitationen 1—6)238 aus.

238 Vgl. die Überschriften Kap. IV. 2.1-2.6.

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Das zweite Agitationsmuster erwies sich als flexibler.239 Es änderte zwar die ,Richtung' der Argumentation, indem es folgerte: Nicht weil seine Sprache defizitär ist, ist der jüdische Sprachverwender minderwertig, sondern weil er minderwertig ist, erweist sich alles an ihm, auch seine Sprache, als defizitär. Insofern glich es eher einem Anti-Sprachkonzept denn sprachnationalistischen Entwürfen mit chauvinistischem Hauptbzw. Unterton. Das zweite Argumentationsmuster hielt sich jedoch altbekannte Stereotypen in der Hinterhand, wenn es einschränkte, dass dem Juden eben doch zuweilen ein minderwertiges jüdisches Wort durchrutschte'. So ließ es sich aus der Verlegenheit heraushelfen, mit dem Rassestigma alleine keine sichtbaren und „unverkennbaren Merkmale" des Juden aufweisen zu können.240 Die Schlussfolgerung blieb letztlich dieselbe: Der jüdische Umgang mit Sprache ist und bleibt defizitär und destruktiv, kompromittiert und kompromittierend, aber er ist - und diese Nuance war entscheidend — letztlich nur deshalb der Betrachtung und Beurteilung wert, weil er die Verderbtheit der jüdischen Sprecher bezeugt. Sprache, erst Heil-, dann Trennmittel, war damit nur noch Krankheitssymptom.241 In den angeführten Artikeln des „Hammer" wird der Sprache mehrheitlich keine eigenständige Kraft zugeschrieben, die Volksgemeinschaft zu verwirklichen, weil nicht Sprache, sondern Rasse den zentralen Bestimmungsgrund für Volk darstellt. Gegenteilige Meinungen tauchen zwar auf, lassen sogar stellenweise an das alte Ideal der sprachbestimmten Kulturnation erinnern, zweifeln aber niemals die Notwendigkeit des Ausschlusses der Juden aus der deutschen Kultur an und bleiben deshalb widersprüchlich. Der argumentative Spagat — Sprache als nationaler „Prägestempel" nur für den Arier, nicht für den Juden — wird vom Herausgeber Fritsch, sonst nicht um Paradoxien bekümmert, rasch unterbunden. Rasse versprach der weitaus solidere Parameter für Stigmatisierungen zu sein als Sprache, denn Erstere ließ sich nicht bewusst erwerben. Die Antisemiten mussten also, wollten sie ihre Ideologie aufrechterhalten, mit bildungsbürgerlichen Traditionen brechen. Mochten völkische Kreise

239 Überhaupt erwies sich die antisemitische Semantik als extrem wandlungsfähig, „indem sie sich an jeweils neue wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Entdeckungen und Theorien anlehnte und ζ. B. aus der Bakteriologie, aus der Mimikrytheorie sowie vor allem aus den Rassenlehren Passendes übernahm" (vgl. Erb 1989, S. 169). 240 Physiognomische und phänotypische Stigmatisierungen der „jüdischen Rasse" waren im „Hammer", anders als im „Angriff" oder „Stürmer", die Ausnahme, nicht die Regel. 241 Vgl. Kautsky, Rasse und Judentum, 1921, S. 52f., wo der wortgewaltige Theoretiker des Marxismus und frühere SPD-Abgeordnete die subtile Strategie der Antisemiten entlarvt, den Sprachantisemitismus nur als Mittel zum Zweck des Rassenantisemitismus zu gebrauchen.

Die Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache

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auch in vielen Bereichen die Wissenssysteme des Bürgertums inkorporiert haben: In diesem Fall taten sie es nicht. Sprache, so die von Fritsch diktierte Mehrheitsmeinung, ist kein unmittelbar mit dem Denken verknüpftes und das Denken bildende organ, sondern nur ein wandel- und auswechselbarer Ausfluss oder Abdruck der unwandelbaren rassischen Verfasstheit eines Individuums bzw. eines Volkes, die wiederum einer Wertigkeitshierarchie unterliegt. Sprache als die „Stimme des Blutes" bleibt demnach der Rasse als genusproximum untergeordnet. Das verändert die von Humboldt mitgetragene These der leiblichen Verfasstheit des Subjekts als Bedingung für sprachgebundenes Denken radikal. Nicht ist der Leib mehr bloße Kondition für das Bewusstseinskönnen des einzelnen Subjekts, sondern die biologischgenetische Determination prägt alles vor: Sprache, Seele, Geist, Bewusstsein — und zwar nicht nur für das einzelne Subjekt, sondern für alle möglichen Subjekte einer Rassengemeinschaft. Auf die „Judenfrage" bezogen, bedeutet dies: Der Jude hat ,seine' ursprüngliche Sprache verloren, nicht aber seine minderwertige Rasse. Letzteres ist unmöglich. Wenn der Jude in einer ihm fremden Sprache redet, dann verlautbart er nicht sein Denken, sondern aus ihm ,spricht' lediglich seine minderwertige Rasse (Agitation 1). Originelle Kulturwerte sind dem Juden nicht zu Eigen, deshalb muss er die Standards anderer übernehmen, die er dann wiederum als seine eigenen ausgibt. Indem er sich fremder Sprachen bedient, sucht er seine rassische Minderwertigkeit hinter einer Maske zu verbergen und sich analog zur biologischen Mimikry in die Gesellschaft des stärkeren Volkselements einzuschleichen (Agitation 2). Der Jude spricht deshalb immer und überall als Täuschender, Schwindelnder und Lügender, der in Wahrheit die Kulturwerte des Ariers zerstören will (Agitation 3). Seine sprachliche Gewandtheit, sein beträchtlicher Bjldungsstatus und seine hohe Intelligenz helfen ihm bei alledem weiter. Er ist ein niemals zu unterschätzender Feind mit einer teleologischen Bestimmung: Entweder durch seinen Hass und seine Feindschaft den ehrlichen und sprachlich schwerfälligeren Arier so weit zu stärken, dass dieser ihn austreibt bzw. vernichtet; oder aber selber so stark zu werden, dass er den Arier vernichtet (Agitation 4). Für den mangelhaft-minderwertigen Umgang der Juden mit Sprache werden im „Hammer" subjektiv-intuitive und objektiv-explizite ,Evidenzen' beansprucht. Die objektiv-expliziten Evidenzen, oft markiert durch die Verfemungsvokabel „Mauscheln", offenbaren sich nach antisemitischer Sicht in einem phonetisch bzw. lexikalisch-syntaktisch von der Norm abweichenden Umgang der Juden mit der neuhochdeutschen Standardsprache. Ungebremsten Ausdruck findet diese Abweichung im Jiddischen, mangelhaft verschleierten Niederschlag im „Mauscheln" (Agitation 5).

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Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept

Die subjektiv-intuitiven ,Belege' wiederum, stets idiosynkratische Pseudo-Beweise, evoziert das „Gefühl" des sensibilisierten und entsprechend geschulten arischen Hörers bzw. Lesers. Er wird die Andersartigkeit des jüdischen Sprechers oder Literaten auch dann zu erkennen, besser: zu erspüren vermögen, wenn die expliziten Distinktionen zu fehlen scheinen, etwa bei sprachlich perfekt akkulturierten Juden, also der Mehrheit der deutschen Juden seit Ende des 19. Jahrhunderts (Agitation 6). Die Offenheit, mit der die völkischen Publizisten den emotional-affektiven Kern ihrer Argumentation eingestanden, resultierte sicherlich auch aus dem Antirationalismus und Intellektuellenhass der Bewegung - beides Komponenten, die von den Nationalsozialisten übernommen wurden. Das in der Einleitung angedeutete Paradoxon machte den Exkurs zur Bewertung des Hebräischen notwendig: Die Wesensverwandtschaft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, welche die Theorie des cultural pair zum Ausgangspunkt nimmt, ist gerade von denjenigen bestätigt worden, die diese beiderseitige Nähe mit allen Mitteln in unerreichbare Fernen zu rücken versuchten. Weil die jüdische Antithese wie ein schicksalhaftes Negativprinzip aufzufassen ist, könnten nach völkischer Logik die gefährlichen Elemente dieses Prinzips selbst im arischen Judenhasser vorhanden sein. Zumindest hatten diverse Aussagen von Fritsch und Hitler genau dies nahe gelegt: Der Rassenantisemitismus muss es sich zur Aufgabe machen, solch inhärente Negativkräfte zu orten und sodann zu zerstören, bevor sie ihre unheilvollen Effekte entfalten können. Zwar setzten sich nach dieser Argumentation Judenhasser wie Fritsch selbst einer gewissen Gefahr aus — schließlich konnte die jüdische Antithese dann auch in ihnen selber stecken —, doch überwogen insgesamt die Vorteile. Auf diese Weise war es möglich, prinzipiell jeden, auch den langjährig bewährten Gesinnungsgenossen unter den Verdacht der Kooperation mit dem Feind zu stellen und als Konkurrenten auszuschalten. Auf den Punkt gebracht, sind den diversen Argumentationsmustern folgende Kausalschemata mit einem allgemein gültigen Satz (a), einer konkreten Feststellung (b) und der daraus folgenden Konklusion (c) inhärent: Wenn erstens Sprache allein an Rasse gebunden ist (a) und wenn zweitens die Juden eine minderwertige Rasse bilden (b), dann ist auch die jüdische Sprache resp. jüdische Sprachverwendung minderwertig (c). Wenn erstens die Zugehörigkeit einer Nation sich nicht anhand der Beherrschung ihrer Nationalsprache erweist, sondern vom Faktum irreversibler rassischer Volkszugehörigkeit abhängt (a), und wenn zweitens mit derjüdisch-undeutschen und der arischurdeutschen Rasse %wei voneinander grundverschiedene Rassen existieren (b), dann

Die Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache

gehören die in Deutschland lebenden Juden auch nicht der deutschen Nation deutschnationalen „ Volksganr^en " an (c).

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dem

Deutsche und akkulturierte Juden mögen, so die Konsequenz der antisemitischen Gesamtagitation gegen jüdische Sprachverwendung, zwar dieselbe Sprache reden. Sprachmotivisch, -pragmatisch und -semantisch aber sind keine größeren Unterschiede als zwischen beiden denkbar. Der Arier, leutselig und naiv, der Jude, eloquent, verschlagen und destruktiv. So bildete das Judentum nicht nur die Anti-Rasse schlechthin, sondern auch eine von seinem Blut bestimmte Anti-Sprachgemeinschaft. Weil sich der Judenhass durch alle Schichten zog, erschien er vielen als der am besten geeignete „Blitzableiter für alles Unrecht"242. Ebenso gerichtet gegen die Ergebnisse der jüdischen Emanzipation wie gegen die mit ihr verschränkte nationale Klammer des Kulturnationenkonzeptes, bot der Antisemitismus im Konstrukt rassischer Privilegierung eine Kontrastideologie an, eine Art nationale Ersatzklammer, zusammengehalten vom auf ein .kollektives Subjekt' projizierten Hass 243 Alle agitatorischen Argumente der Antisemiten als „nationale Aufladungen der Fremdheitsprojektion"244 Jude mussten insofern explizit oder implizit das aufgezeigte Denkmuster einer Sprachphilosophie im Sinne Herders und Humboldts torpedieren, auf das die offen einladende Variante des Kulturnations-Konzeptes im Sinne Grimms (= Deutsch ist, wer die deutsche Sprache spricht) baute. Sprache ist nach antisemitischer Logik eben kein Verlautbaren des Verstandes im Sinne von Humboldts und Herders Theorem von der IntellektualitäP-45 des Sprachvollzugs, sondern Expression des „Blutes"; keine Reflektierung und Expression der Weltsicht, sondern oft genug allein deren Maskierung; weder ein erlernbares Wissenssystem noch eine dynamische Tätigkeit als A.ktuaütät respektive Alterabilität, sondern vielmehr ein statisches und irreversibles Produkt biologischer Determination; kein reziproker ,Partner' der Nation (Nationalität der Sprache), sondern ein mehr oder minder wohl geratenes bzw. missratenes Kind der Rasse; kein Mittel für und

242 Heinrich Claß, Vorsitzender des antisemitischen „Alldeutschen Verbands", hatte im Oktober 1918 die Aktivisten aufgefordert, die prekäre Kriegslage zu „Fanfaren gegen das Judentum" und die Juden als „Blitzableiter für alles Unrecht" zu benutzen (zit. n. Jochmann 1988, S. 120). 243 Der Antisemitismus rassischer Provenienz ist hier also nicht nur verstanden als „nationale Klammer, konstitutiv für die politische Kultur" in allen sozialen Schichten (Heid 1999, S. 242), sondern als kontrastives Bindeelement, das die weit ältere kulturell-sprachliche Klammer zu ersetzen suchte und dann auch zeitweilig ersetzte. 244 Kirn-Frank 2003, S. 42. 245 Vgl. die Klassifizierung der wichtigsten Sprachgesetze Herders und Humboldts in Kap. II. 5., S. 64f.

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Rasse vor Sprache: Das antisemitische Sprachkonzept

Ausdruck von Universalität im harmonischen Schulterschluss mit Humanität, da der humanitäre Universalitätsgedanke nur die Verschiedenartigkeit der Rassen verschleiert; und deshalb kann sie, als Fremdsprachenkompetenz, auch nicht der Objektivierung der je eigenen Weltsicht dienen, sondern befördert auf gefährliche Weise deren Verdeckung. Das Rassenkonstrukt, so das antisemitische Kalkül, sollte den Juden jede Möglichkeit verbauen, dem semitisch-arischen Antagonismus unter Verweis auf die gemeinsame Umgangs- und Schriftsprache Deutsch zu entkommen. Zwar teile der Westjude seit der Emanzipation die neuhochdeutsche Leitvarietät mit der nichtjüdischen Mehrheit, doch bediene er sich ihrer erstens untergründig mangelhaft und zweitens ausnahmslos aus hinterhältigen Beweggründen: zur Schädigung des Ariers und zur Schmähung des Vaterlandes, wie schon Treitschke behauptet hatte.246 Kein zweites Mal sollte es den deutschen Juden erlaubt sein, ihre muttersprachliche Kompetenz und Emotionalität als Beweis für ihre Vaterlandsliebe und ihr nationales Zugehörigkeitsrecht zu veranschlagen. Doch genau dies taten sie.

246 Gegen seinen - neben Mommsen — zweiten Intimfeind, den deutsch-jüdischen Historiker Heinrich Graetz, wettert Treitschke: „Nun frage ich, kann ein Mann, der also denkt und schreibt, selber für einen Deutschen gelten? Nein, Herr Graetz ist ein Fremdling auf dem Boden ,eines zufalligen Geburtslandes', ein Orientale, der unser Volk weder versteht noch verstehen will; er hat mit uns nichts gemein, als dass er unser Staatsbürgerrecht besitzt und sich unserer Muttersprache bedient — freilich um uns zu verlästern" (Treitschke, Herr Graet% und sein Judentum, 1879, S. 668).

V. Muttersprache, Vaterland: Das liberaljüdische Sprachkonzept Die deutschen Juden kamen nicht umhin, in ihrer eigenen, notwendig apologetischen Sprachauffassung dem Radikalangriff der Antisemiten auf das von ihnen mitgetragene Konzept einer sprachbestimmten deutschen (Kultur-) Nation entsprechend zu entgegnen. Weil Sprache als kulturhistorische Größe und als Verlautbarung des Selbstbewusstseins die zentrale Voraussetzung zur Herausbildung von Ich-Identität darstellt, war die sprachspezifische Abwehrarbeit der C.V.-Juden ein existenzieller Kampf, noch bevor überhaupt zu ahnen war, dass ihm ein Kampf auf Leben und Tod folgen würde. Die Sprachauffassung der liberalen deutschen Juden musste die Schlussfolgerung der Antisemiten - den unüberwindlichen Gegensatz zwischen dem „ewigen" Juden und dem „ewigen" Deutschen 1 — widerlegen. Alles, so schien es, stand und fiel nun mit den Gegenargumenten. Doch bevor die anti-antisemitischen Argumentationsmuster gegen Angriffe auf jüdische Sprachverwendung ins Zentrum der Untersuchung rücken, sind die Argumentierenden näher zu charakterisieren. Programmatik und Publizistik derjenigen Organisation, der sie weitgehend angehörten, müssen ebenso skizziert und hinterfragt werden wie ihre Selbstbezeichnung „liberal" einer begrifflichen Klärung bedarf. Denn auf die Frage: „Gibt es ein liberales Judentum?", 1907 in einem Vortrag im „Liberalen Verein für die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinde" in Berlin gestellt2, kann nur dann zureichend beantwortet werden, wenn geklärt ist, was überhaupt unter einem „liberalen Judentum" zu verstehen ist. Hier ist also nachzufragen, mit welcher Berechtigung diese Arbeit das akkulturierte und im „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" organisierte Judentum in Verbindung setzt mit einer Grundanschauung, die

1

2

Hammer 427/428, April 1920, S. 139 („Vogel-Strauß-Politik"). Vgl. das antisemitische Pamphlet des Sprachwissenschaftlers Max Wundt, Der ewige Jude von 1926, in dem er das Stigma des infinit inferioren Juden zu zementieren versuchte. Kellermann, Liberales Judentum, 1907, S. 4.

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept

sich Liberalismus nennt, und wie sie so weit gehen kann, diese Konnexion unter dem Adjektiv „liberal-jüdisch" zu fassen.3

1. Liberalismus und Judentum Der jüdische Liberalismus als weitgehend disparates Phänomen hat seine Ursprünge in der religiösen Reformbewegung des Judentums. Als die europäischen Juden aus der Isolation des Gettos heraustraten, fanden sie sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, einerseits die jüdische Tradition zu bewahren, andererseits sich den Anforderungen der Moderne zu stellen. Neben das objektive trat nun verstärkt das subjektive Moment, neben das göttliche Gesetz als Richtschnur jüdischer Religiosität das religiöse Erlebnis des Einzelnen. Diese Wandlung war von einem stark emanzipatorischen Impetus gekennzeichnet, der sich unter anderem die Gleichberechtigung der Frau in der religiös-rituellen Sphäre zum Ziel setzte. Die ersten reformierten Gottesdienste 1810 in Seesen, 1815 in Berlin und 1818 in Hamburg fanden schon unter verändertem Muster statt: mit Orgelmusik, einer Predigt nach protestantischem Vorbild und vereinzelten Gebeten in deutscher Sprache. Um ihre patriotische Gesinnung unter Beweis zu stellen, entfernten die deutschen Reformjuden aus der Liturgie Passagen, welche die Sehnsucht nach einer baldigen Rückkehr ins Land der Väter und nach Wiedererbauung des Tempels zum Ausdruck brachten.4 Nach den drei großen Rabbinerversammlungen von 1844 bis 1846 spaltete sich das deutsche Reformjudentum in drei Richtungen auf, die sich sowohl von der Orthodoxie als auch vom Zionismus distanzierten und bis in den Nationalsozialismus hinein Bestand hatten. Während der rechte Flügel unter dem Rabbiner Zacharias Frankel bei allem Fortschrittsglauben doch den Kern religiöser Offenbarung in der Ritengesetzgebung akzeptierte, rang das liberale Judentum der Mitte mit den Zugkräf-

3

4

Margarethe Edelheim, C.V.-Aktive und zeitweilig Schrifdeiterin der „C.V.-Zeitung", sprach noch 1933 von „Jüdischliberalen", empfahl jedoch angesichts des Niedergangs des politischen Liberalismus eine Namensänderung, um von der Gesellschaft nicht von vornherein mit der Seite der Verlierer identifiziert zu werden (zit. n. Barkai 2002, S. 326). An diesen und anderen Änderungen wurde festgehalten. Vgl. die „Richtlinien zu einem Pogramm für das liberale Judentum" aus dem Jahre 1912, XI, 3: „Unter Festhaltung der hebräischen Sprache für die im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehenden Gebete ist der deutschen Muttersprache in Gebet und Gesang ein breiter Raum zu gewähren". Unter XI, 4, heißt es dann, vieldeutig formuliert, aber in damaliger Zeit leicht entschlüsselbar: „Aus den Gebeten sind diejenigen Wünsche zu entfernen, die nicht Wahrheit in unserem Herzen sind" (Richtlinien sp einem "Programm für das liberale Judentum, 1912, S. 63). Absentiert werden sollten zweifelsohne die herzensfernen „Wünsche" in hebräischer Sprache.

Liberalismus und Judentum

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ten von Progression und Tradition und stellte dem vermeintlich ,starren' und rückschrittlichen Ritus ein an der idealistischen Philosophie orientiertes Sittengesetz und Humanitätsideal entgegen. An diesem religiösprogressiven Mittelweg versammelte sich die überwiegende Mehrheit des deutschen Judentums. Für eine gewisse ideologische Geschlossenheit des gemäßigten jüdischen Liberalismus sorgte das 1870 gegründete Rabbinerseminar in der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Am linken Rand wiederum organisierten sich die radikal reformatorischen Liberalen in der Berliner Reformgemeinde. Nicht nur fand dort der sonntägliche [!] Gottesdienst fast ausschließlich auf Deutsch statt; auch war es den männlichen Teilnehmern erlaubt, ohne Kopfbedeckung zu Gott zu beten.5 Im Anschluss an Abraham Geiger (1810-1874), den berühmten Historiker, Reformatoren und Prediger, war die progressive Dynamik des Judentums als Fähigkeit gedeutet worden, mit der umgebenden Kulturwelt interagieren und sich immer wieder veränderten historischen Bedingungen anpassen zu können. In den Versuchen, eine Synthese von Judentum und neuzeitlichen Philosophiesystemen wie Neukantianismus und Hegelianismus zu erreichen, wurde das Ethos des Judentums als universelle Menschheitsaufgabe betont, die Autorität des messianischen wie auch rituellen Gehalts jedoch in den Hintergrund gedrängt. In radikaler Auslegung des reformatorischen Gedankens musste die wissenschaftliche Erkenntnis die religiöse Offenbarung auf ihren Wahrheitsgehalt befragen und letztlich als rein natürlich-historisches Phänomen ausweisen. „Unsere Lehren und Gesetze gelten nicht deshalb, weil sie auf übernatürliche Weise offenbart sind", unterstreicht der Reformrabbiner Julius Lewkowitz auf einem Vortrag im Jüdisch-liberalen Jugend-Verein zu Berlin, „sondern weil wir sie als wahr erkennen."6 Libera/ war also erstens eine Selbstbezeichnung des reformorientierten Judentums, um sich in der Deutung jüdischer Legitimität von orthodoxen oder konservativen Kreisen abzusetzen7; für die deutschen Juden drückte

5 6

7

Vgl. Neues Jüdisches Lexikon, 1998, S. 693-96. Lewkowitz, Die Grundsätze desjüdisch-religiösen Liberalismus [ ], S. 6. Der 1876 geborene Julius Lewkowitz gehörte seit 1913 der Berliner Reformgemeinde als Rabbiner an. Er war Mitunterzeichner der vorgenannten „Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum" von 1912. Vgl. dazu ζ. B. das damalige Standardwerk des amerikanischen Wissenschafders Montefiore, Umrisse des liberalen Judentums, 1906. Der Begriff diente den Zionisten zur Diskreditierung oder zumindest Distanzierung von antizionistischen Juden. Vgl. ferner Weltschs Attribute: „.. .liberale und assimilatorische Juden" (Weltsch, Zu ^wei Enqueten. Judenfrage und Zionismus, 1932, S. 14).

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es zweitens die politische Verbundenheit mit den Parteien des deutschen Liberalismus aus, die sich, von Ausnahmen abgesehen, bis zum Ende der Weimarer Republik als weitgehend resistent gegen judenfeindliche Unterwanderung erweisen sollten und mit ihrer ökonomisch mittelständischen, politisch national-patriotischen und sozial bildungsbürgerlichen Ausrichtung dem Status und bürgerlichen Leistungsdenken der meisten deutschen Juden entsprachen; es bildete drittens im jüdischen Binnendiskurs seit Ende des 19. Jahrhunderts das Gegenwort der akkulturationsbejahenden Judenheit zur Nationalbewegung des Zionismus;8 es war viertens das Erkennungszeichen der nicht-zionistischen und nicht-orthodoxen deutschen Juden in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus der nationalen Rechten; und es war fünftens eine Art historisch bestärkte Treuevokabel, ein Ausdruck des Maßes an Verbundenheit mit „einer Theorie, die den Prozeß der jüdischen Emanzipation legitimiert hatte".9 Daraus ergibt sich ein doch recht klares Profil. Hineingestellt in den gewaltigen Wandlungsprozess des 19. Jahrhunderts in Europa, der vom allmählichen Niedergang des Liberalismus und Aufstieg des Nationalismus gekennzeichnet war, traf das akkulturierte liberale Judentum in Deutschland der Hass der anti-rationalistischen, extrem nationalistischen und sozialdarwinistischen Kräfte, die sich gegen die altmodische „Schwächlingsphilosophie" des Liberalismus richteten. Schon seit der so genannten Gründerkrise 1873 bis 1879 und der durch Bismarcks Kulturkampf angetriebenen antiliberalen Wende wurden „jüdisch" und „liberal" als Synonyme verwendet.10 Die völkischen Antisemiten übernahmen diese semantische Vermengung, indem sie beispielsweise die liberalhumanistische Tradition in Deutschland dafür verantwortlich machten, die Brisanz der „Judengefahr" verschleiert zu haben.11 Indem sich der moderne Antisemitismus, als „Protestbewegung gegen den Liberalismus"12 entstanden, seit Ende der 1870er Jahre vom „Radauantisemitismus" der Straße distanzierte, erwuchs „eine Art ,respektabler' Antisemitismus der ,besseren Stände'"13, der sich immer straffer organisierte. Der „Alldeutsche Verband", 1891 gegründet, avancierte zum Sammelbecken

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Vgl. Goldmann, Zionismus oder Uberalismus, 1911. Mosse 1986, S. 179. Bergmann 2002, S. 40. So schreibt Theodor Fritsch in seinem Pamphlet „Geistige Unterjochung": „Der sentimentale Humanismus und die liberale politische Phrase haben mit geholfen, uns gegen die Judengefahr blind zu machen, ja uns die Hände zu binden" (Fritsch, Geistige Unterjochung, 1913, S. 19). Kampe 1987, S. 189. Ebd.

Der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.)

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der völkischen Bewegung. 1893 saßen bereits 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien im Reichstag. Die deutschen Juden mussten reagieren.

2. Der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) Zwar hatten als eine erste gebündelte Reaktion auf den auch viele Nichtjuden beschämenden Antisemitismus christliche und liberale Politiker und Professoren im Jahre 1891 den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" aus der Taufe gehoben, jedoch waren dessen Möglichkeiten beschränkt. Er blieb eine Hilfsorganisation für Juden, nicht eine von Juden. Doch wandelte das dramatische Erstarken eines organisatorisch gebündelten Antisemitismus moderner Prägung das Selbstverständnis jüdischer Abwehrarbeit. Nicht mehr die Ausrichtung eines vom Mittelalter herrührenden bittstellerischen Schutzjudentums, sondern staatsbürgerliches Selbstbewusstsein im Kampf um die Realisierung der politischen Rechte müsse die erste Handlungsdevise für das deutsche Judentum sein, mahnte die 1893 zuerst anonym erschienene Broschüre Raphael Löwenfelds „Schutzjude oder Staatsbürger?"14 Statt den Kaiser zu bitten, den antisemitischen Tendenzen im Parlament entgegenzuwirken, sollten die Juden ihre Verteidigung in die eigenen Hände nehmen. Dieser Aufruf läutete zugleich die Geburtsstunde des „Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" am 26. März 1893 in Berlin ein.15 Die Grundsätze des Centraivereins lehnten sich eng an die Forderungen Löwenfelds an, der prompt zum ersten Schriftführer des Vereins avancierte. Vornehmlich sollten alle Kräfte zur Selbstverteidigung gesammelt und das Bewusstsein uneingeschränkter Gleichberechtigung gestärkt werden. Auf der zweiten C.V.Versammlung am 27. September 1893 beschloss der Vorstand um den Arzt Martin Mendelssohn und die Rechtsanwälte Eugen Fuchs und Heinrich Meyer-Cohn folgende Statuten: 1. Wir deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Unsere Gemeinschaft mit den Juden anderer Länder ist keine andere als die Gemeinschaft der Katholiken und Protestanten anderer Länder. Wir erfüllen als

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Vgl. dazu Barkai 2002, S. 19f. Zur Geschichte und Struktur des C.V. bis 1914 vgl. Paucker 1976, S. 489-507; bis 1933 vgl. Bernstein 1969, S. 49-71; insgesamt vgl. Barkai 2002.

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Staatsbürger freudig unsere Pflicht und halten fest an unseren verfassungsmäßigen Rechten. 2. Wir gehören als Juden zu keiner politischen Partei. Die politische Meinung ist wie die religiöse Sache des einzelnen. 3. Wir verwahren uns gegen die leichtfertige oder böswillige Verallgemeinerung, mit der Vergehen einzelner Juden der jüdischen Gesamtheit zur Last gelegt werden.16 An diesem programmatischen Grundgerüst hat der Centraiverein bis zum Ende der Weimarer Republik festgehalten. Der erste Grundsatz beschwor die Doppelstruktur deutscher Gesinnung und jüdischen Glaubens. Das Bekenntnis zur deutschen Nationalität als Staatsbürgerlichkeit und damit letztlich vor allem zur deutschen Sprache und Kultur sei vollkommen vereinbar mit der Treue zur jüdischen Religionsgemeinschaft. Allein konfessionell unterscheide sich der deutsche Jude von seinen nichtjüdischen Mitbürgern, nicht anders als der Katholik vom Protestanten. Demnach liefere der deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens „nicht den geringsten Anlass, als Deutscher minderen Grades betrachtet zu werden".17 Eugen Fuchs, nach der frühen Abdankung Martin Mendelssohns (Dezember 1894) und dem Tode Maximilian Horwitz' (Oktober 1917) dritter Vorsitzender des Centraivereins, hat den ersten Leitsatz in seiner für die organisatorische Ideologie richtungweisenden Schrift „Um Deutschtum und Judentum" auf eine griffige Formel gebracht: Für mich liegt die Synthese von Deutschtum und Judentum in folgendem: Ich bin Deutscher von Nation, Jude von Religion und Stammes wegen. 18

Diese oft zitierte „deutsch-jüdische Synthese" oder „geeinte Zwienatur"19 der liberalen deutschen Juden bedeutete freilich auch, den zionistischen Hoffnungen einer Wiederbelebung der jüdischen Nation skeptisch bis ablehnend gegenüberzustehen. Konträr zu den Nationaljuden wertete der Centraiverein die jüdische „Zerstreuung" in alle Welt nicht als Provisorium, sondern als vollendete Tatsache: Assimilation heißt nicht Selbstaufgabe und Selbstverrat, sondern Selbstbildung innerhalb der deutschen Kul-

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Zit. n. Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden, 1918, S. 21 f. Reichmann, Oer Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1930, S. 26. Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 252. Eugen Fuchs (1856-1923) hat „als theoretischer Begründer der C.V.-Synthese zwischen Deutschtum und Judentum [...] die Weltanschauung des Vereins im Grunde bis 1933 geprägt" (Bernstein 1969, S. 69). Vgl. zur Geschichte dieses Goetheschen Wortes für eine als symbiotisch empfundene Doppelexistenz: Bering 1982, S. 199, Anm. 11.

Der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.)

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turnation, in der man aufgegangen ist. Zwar sind die Juden einmal ein Volk gewesen, doch hat die universelle Tendenz der jüdischen Lehre die Schranken des Volkstums überwunden. Die objektiven Kriterien für eine nationale Einheit des jüdischen Volkes — der animus gemeinsamer Sprache und Kultur wie der corpus eines gemeinsamen Landbesitzes20 — sind nicht mehr existent. Was die in aller Welt lebenden Juden verbindet, ist vor allem die gleiche religiöse Grundlage. Vom Liberalismus übernahmen die Reformjuden die Grundhaltung einer strengen Trennung von Kirche und Staat. Die Bedeutung, die der C.V. dabei dem jüdischen Glauben beimaß, wechselte von bloßer Religiosität21 bis hin zur Betonung einer jüdischen Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft mit einem durch permanente Erinnerungsarbeit zusammengehaltenen Kollektivgedächtnis.22 Zwar besann man sich angesichts des zweifachen, nämlich antisemitischen und zionistischen Identitätsdrucks gegen Ende der Weimarer Republik mehr und mehr auf die ,Mneme' der jüdischen Tradition; doch zuvorderst und die längste Zeit ging es um den Beweis, dass man Deutscher sei23, wobei das Bekenntnis „deutscher Gesinnung" teilweise sogar in die Sehnsucht mündete, von der deutschen Gesellschaft als „Volksgenossen" anerkannt zu werden 24 Der erste Akzent lag also nicht auf der religiösen oder religionsgeschichtlichen, sondern auf der durch die gemeinsame Kultur und Sprache bestimmten sozialen Identität. In der Ferne falle, so Eugen Fuchs, die Wahl immer auf dasjenige, das heimatliche Nähe verspreche. Der Glaube sei sekundär: Ich bin fest überzeugt, daß, wenn ich mit einer Reihe von Menschen in die fremde Wildnis verschlagen würde, ich zuerst Annäherung an den Deutschen suchen würde, mag er Jude oder Christ sein, und daß ich nicht in allererster Reihe zu dem mich hingezogen fühlen würde, der nicht Deutscher, aber Jude ist. 25

Festzuhalten bleibt, dass es vor allem der erste Leitsatz des Centraivereins war, der seine Mitglieder und Sympathisanten von den verschiedenen zio20 21

22 23 24 25

Vgl. Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 250. Selbst diese ,bloße', also in jeder Hinsicht nicht-orthodoxe Religiosität wurde von manchen zeitgenössischen C.V.-Mitgliedern noch einmal relativiert. So betont Dr. Paul Rieger in seiner Rückschau „Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der Juden" von 1918: „Der Namenszusatz jüdischen Glaubens' wurde deshalb gewählt, weil er die staatliche Kategorie bezeichnet, in welche das Judentum in Deutschland eingeordnet ist; es ist ein staatspolitischer, aber kein religiöser Ausdruck" (Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden, 1918, S. 19). Vgl. Bering 1982, S. 184f. Vgl. zum Judentum als einer geradezu Imperativisch ausgerichteten Erinnerungskultur: Yerushalmi 1996. Bering 1982, S. 184. Barkai 2002, S. 213. Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 253.

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nistischen Ideologien innerhalb des deutschen Judentums schied. Ferner grenzte er ihn von dem 1921 gegründeten „Verband nationaldeutscher Juden" unter seinem Führer Max Naumann ab. Indem dieser zahlenmäßig unbedeutende und innerhalb der deutschen Judenheit weitgehend isolierte Verband jüdische Religiosität als rein äußerliches Phänomen wertete und ausschließlich deutschnationale Interessen in den Vordergrund rückte, bildete er eine eigene Antithese zur .harmonischen' Synthese von Deutschtum und Judentum. Folgerichtig traten Naumann und seine Anhänger 1926 aus dem von ihnen als Versammlung der „Zwischenschichtler" verschrienen C.V. aus,26 nicht ohne zuvor die entsprechenden Versammlungen und Vereinsorgane als Plattformen für ihre rechtsextremen Uberzeugungen genutzt zu haben.27 Zum zweiten C.V.-Leitsatz der parteipolitischen Neutralität und Religionsfreiheit muss angemerkt werden, dass er von den beiden anderen Leitsätzen abhängig war. Der C.V. konnte schon deshalb nicht parteipolitisch wertneutral bleiben, weil er sich gegen die weitere Etablierung antisemitischer Parteien und deren Führer richtete, die eben jene im dritten Leitsatz angeprangerte „böswillige Verallgemeinerung" jüdischer Minderwertigkeit propagierten. So unterstützte der Verein bei Wahlen offen die jeweiligen philosemitischen Gegenkandidaten. Arnold Paucker betont, dass der „C.V. immer [...] das Interesse der Juden mit dem Interesse einer liberalen Politik verbunden"28 und zumindest von 1893 bis 1914 „mit Gruppierungen rechts vom Liberalismus nur sporadisch paktiert hat".29 Das lag, wie Robert Weltsch 1932 konstatiert, keineswegs „am mangelnden Verständnis für konservative Ideen, sondern an der aggressiven Judenfeindschaft dieser Parteien".30 Relativ immun gegen antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen zeigten sich allein sozialdemokratische und liberale Parteien, beides an sich zuverlässige Bundesgenossen im Kampf um die Rechte der jüdischen Minderheit. Während jedoch die Sozialdemokratie als Organisation der Arbeiterschaft den meisten deutschen Juden „klassenmäßig nicht entsprach und ihnen zunächst einmal als antipatriotisch und umstürzlerisch verdächtig war"31, engagierte sich der C.V. für die unternehmerisch und patriotisch ausgerichtete Programmatik der liberalen Parteienverbände.

26 27 28 29 30 31

Vgl. M. Naumann, Oer nationaldeutsche Jude in deutscher Umwelt, 1921, S. 27-35. Barkai 2002, S. 235-238. Paucker 1976, S. 501. Ebd., S. 499. Weltsch, Z» %wei Enqueten. Judenfrage für den Juden, 1932, S. 20. Paucker 1976, S 501.

Der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C. V.)

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Lange Zeit stand der Centraiverein der Freisinnigen Volkspartei nahe, der auch Horwitz und Fuchs angehörten. Die 1912 wiedervereinigte Fortschrittspartei wurde dann bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die Stimme jüdischer Interessen im Reichstag. Erst als die liberalen Parteien parlamentarisch zunehmend in die Bedeutungslosigkeit absanken und die SPD nach 1918 das größte Gegengewicht zum antisemitischen Nationalismus bildete, hat sich der C.V. der Sozialdemokratie entscheidend angenähert.32 Da in Deutschland keine nationale Einheitsgemeinde des liberalen Judentums zustande kam,33 der C.V. aber zahlreiche liberale Gemeinden repräsentierte, lässt er sich als eine Vereinigung charakterisieren, in der liberale Juden eine organisatorische Heimat fanden. Der dritte Leitsatz des C.V. versteht sich aus der eingangs erwähnten Überzeugung, die Abwehr antisemitischer Polemik in die eigene Verantwortung nehmen und stärker systematisieren zu müssen. Dies zeigte sich in einer umfassenden Rechtsschutztätigkeit für jüdische Bürger einerseits und einer vor allem publizistischen Aufklärungsarbeit andererseits. Die mit professionellen Anwälten arbeitende C.V.- Rechtsschutzabteilung gewann zunehmend an Bedeutung, seitdem der Antisemitismus nach einer Krise in den Jahren 1918/1919 wieder erstarkte. Da ein eigenes Gesetz gegen judenfeindliche Äußerungen in der Weimarer Republik nicht existierte und auch in absehbarer Zukunft illusorisch bleiben musste, suchten die Vereinsjuristen den Antisemitismus mittels der beiden Weimarer Strafgesetzesparagrafen § 130 („Aufreizung zum Klassenhaß") und § 166 („Religionsbeschimpfung") gerichtlich einzuschränken.34 In einer täglich geöffneten Rechtsschutzstelle konnte sich jeder jüdische Bürger juristischen Rat einholen und antisemitische Vorfälle melden.35 Eine vereinseigene Bibliothek und ein umfangreiches — 1938 von den Nationalsozialisten beschlagnahmtes, später teils wiederentdecktes Archiv36 ermöglichten es allen Mitarbeitern und Mitgliedern, sich über den Stand der antisemitischen wie philosemitischen Publikationen zu informieren. Fast jede auch noch so scheinbar bedeutungslose antisemitische

32

33 34 35 36

Dennoch scheint sich die deutsche Judenheit niemals ganz vom politischen Liberalismus abgekehrt zu haben. Mosse behauptet sogar: „Zumindest bis 1930 hielten die meisten deutschen Juden den liberalen Parteien die Treue, die andererseits zu einer immer unbedeutenderen politischen Gruppierung wurden" (Mosse 1986, S. 178). Dienemann, Liberales Judentum, 1935, S. 38. Vgl. Walter 1999, S. 248. Vgl. speziell zur Rechtschutzarbeit auch die Dissertation von Steinitz 2007. Vgl. Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das R£cht und die Zukunft der deutschen Juden, 1918, S. 26. Vgl. S. 17, Anm. 53 der vorliegenden Studie.

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Äußerung wurde in einer eigenen „Preßüberwachungsstelle" dokumentiert.37 Der hauseigene Verlag des Centraivereins, der „Philo-Verlag", edierte seit 1919, zunächst unter der Leitung Ludwig Holländers38, jede Woche zahlreiche Bücher, Broschüren, Flugblätter und Zeitschriften.39 Das Hauptwerkzeug des publizistischen Abwehrkampfes war jedoch die eigene Vereinspresse: die Monatsschrift „Im deutschen Reich" von 1895 bis 1922 und, ihr nachfolgend, die wöchentliche „C.V.-Zeitung" von 1922 bis 1938. Der Centraiverein, der nach dem Ersten Weltkrieg die Wandlung von einer kaisertreuen zu einer republikanischen Organisation vollzogen hatte, repräsentierte die Mehrheit der deutschen Juden 40 . Allein in einem Zeitraum von 20 Jahren wuchs seine Mitgliederzahl von 1420 deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens im Gründungsjahr 1893 bis auf ca. 36 000 im Vorkriegsjahr 1913 an. Die C.V.-Aktivistin und Mitherausgeberin des „Morgen", Eva Gabriele Reichmann, kommt für 1922 schon auf „etwa 60 000 Einzelmitglieder, die in 555 Ortsgruppen und 21 Landesverbänden vereinigt sind."41 Einschließlich der dem C.V. angeschlossenen Körperschaften und Vereine, zu denen auch der 1919 gegründete „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" mit ca. 30 000 Mitgliedern gehörte, hat der Centraiverein laut Reichmann über 300 000 deutsche Juden vertreten.42 Das wäre bei damals ca. 600 000 deutschen Juden 43 eine Repräsentativität von 50 Prozent gewesen. Obgleich diese Schätzung letztlich unbewiesen ist44, bleibt doch festzuhalten, dass keine andere Organisation 37 38 39 40 41 42 43

44

Vgl. Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden, 1918, S. 27. Ludwig Holländer (1877-1936), Rechtsanwalt, Politiker (DDP) und C.V.-Vorstandsmitglied, leitete den Verlag bis 1933. Siehe zum Philo-Verlag. Urban-Fahr 2001. Vgl. Kampmann 1979, S. 360: „Der ,Centraiverein' umfaßte den größten Teil der deutschen Juden." Vgl. Paucker 1976, S. 491; vgl. Bering 1982, S. 184. Fuchs, Die Zukunft der Juden, 1912, S. 24 und S. 56. Reichmann, Der Centralvemn deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1930, S. 23. Vgl. Jüdisches Lexikon, Bd. 1,1927, S. 1289, das zu derselben Schätzung kommt. Eine tabellarische Statistik über die jüdische Bevölkerungsentwicklung findet sich zum Beispiel bei Richarz 1989, S. 17. Laut Richarz habe es im Jahre 1900: 586 833, 1910: 615 021 und 1925: 564 379 deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens gegeben. Exakte Angaben über die steigende Anzahl der C.V.-Mitglieder liefern nur die erhaltenen Mitgliederlisten (vgl. Philo-Lexikon, 1936, Sp. 153; vgl. Bernstein 1969, S. 73). Deren Daten decken sich zwar mit den zeitgenössischen Nennungen bei Rieger oder Reichmann, doch lassen diese Daten nur bedingt Rückschlüsse auf korporative Mitgliederverhältnisse zu. Reichmanns Angaben zur offiziellen Mitgliederstärke werden im Philo-Lexikon von 1936 und in neueren Forschungen präzisiert. Urban-Fahr nennt in ihrer Dissertation für 1922 die Zahl von 62 996 individuellen Mitgliedern. Diese steigerte sich 1925 auf den Höchststand von 70 134 und fiel bis 1933 auf 64 000 ab (Urban-Fahr 2001, S. 66). 1925

,Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung"

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deutscher Juden jemals zuvor und jemals wieder eine solche Breitenwirkung erreicht hat. Breitenwirkung bedeutet nicht Indifferenz. Wer den Centraiverein einfach nur als inhomogenen Verein zur Vertretung aller noch so divergierenden jüdischen Interessen versteht, verkennt die spezifische sozioökonomische Struktur der deutschen Judenheit in Kaiserreich und Weimar. Die Tatsache, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Mehrheit der deutschen Juden politisch wie religiös als liberal, kulturell als angepasst und wirtschaftlich als weitgehend mittelständisch charakterisiert werden muss, prägte die ideologische Physiognomie' des Centraivereins ganz entscheidend. Nur dadurch konnte er sich letztlich gegenüber konkurrierenden nationaljüdischen oder auch extrem deutschnationalen Programmen innerhalb der deutschen Judenheit behaupten. Gegründet als nach außen gerichtete Abwehrorganisation, suchte der Centraiverein die antisemitischen Vorurteile durch „Aufklärung" zu überwinden. Sämtliche Initiativen zielten darauf ab, die jüdische Gleichberechtigung soziale Wirklichkeit werden zu lassen und die nichtjüdische Öffentlichkeit von der Widersinnigkeit und Infamie judenfeindlicher Denk- und Weltbilder zu überzeugen. Doch ohne positive Identitätssetzung ist die Abwehr persönlicher und kollektiver Diffamierungen schwierig. Barkai betont noch einmal, dass der C.V. von der allgemeinpolitischen Lage zunehmender Ideologisierung der Politik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts voll erfasst wurde und sich Schritt für Schritt von einem reinen „Abwehrverein" zu einem „Gesinnungsverein" gewandelt habe.45 Beides, Abwehr und Gesinnung, spiegelt sich in den Vereinsorganen wider.

3. „Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung" 1895-1938: Zentralorgane des C.V. 3.1. „Im deutschen Reich" Mit der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Im deutschen Reich" am 1. Juli 1895 schuf sich der Centraiverein ein eigenes Publikationsorgan, was schon der seitdem obligatorische Untertitel offen legte: „Zeitschrift des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Die Ansied-

45

etwa, bei einer Gesamtzahl von 564 000 Juden in Deutschland, war jeder achte Jude offiziell im C.V. organisiert! Vgl. dazu Barkai 2002, S. 9f. Der C.V. hat diese ideologische Kehre, die nach der Hauptversammlung von 1928 zum offiziellen Programm wurde, in einigen Schriften thematisiert, unter anderem in dem vom Centraiverein herausgegebenen C.V .-Kalender, 1929, S. 59-62.

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lung des Redaktions- und Verlagssitzes in Berlin46 trug dem Umstand Rechnung, dass die Hauptstadt Ende des 19. Jahrhunderts die größte Anzahl von Deutschen jüdischen Glaubens beherbergte. Von den ca. 1500 Mitgliedern des C.V. in dessen Gründungsjahr waren etwa 70 Prozent in Berlin sesshaft.47 „Im deutschen Reich" wurde kostenlos an alle C.V.Mitglieder verschickt48, scheint aber auch vereinzelt von Nichtjuden gelesen worden zu sein, da die Zeitschrift nach Angaben der Redaktion an christliche Reichstags- und Landtagsabgeordnete, staatliche und städtische Behörden wie an Volksbibliotheken unentgeltlich versandt wurde.49 Zugang zu breiteren nichtjüdischen Leserschichten hat die Zeitschrift jedoch offenbar nicht gefunden.50 Die Publizität des C.V.-Organs richtete sich wie bei grundsätzlich jeder Vereinspresse stark nach der Mitgliederzahl seines Trägers. Während Angaben über die Auflagenstärke der meisten jüdischen Blätter vage bleiben müssen, weil sie ausschließlich auf Mitteilungen der Verleger beruhen51, liegen durch die erhaltenen C.V.Mitgliederlisten für „Im deutschen Reich" genauere Daten vor. Bereits 1900 waren nach Auskunft von Maximilian Horwitz durch den Umstand, daß 10 000 Einzelmitgüeder die Zeitschrift unentgeltlich erhalten [...] die Chancen des Verlegers so beeinträchtigt worden, daß wir uns entschlossen haben, vom Beginn dieses Jahres ab die Zeitschrift im Selbstverlage erscheinen zu lassen.52

Dieser „Selbstverlag" war der schon genannte „Philo-Verlag". Die 1895 mit 3500 Exemplaren gestartete Auflage verzehnfachte sich allein bis zum Jahr 1913 auf etwa 37 000 Exemplare.53 Bis 1922 wird das C.V.-Organ eine Auflage von 60 000 Heften erreicht haben54. Die einzelnen Hefte hat46 47 48 49 50 51

52 53 54

Redaktionssitz war zunächst die Kronenstraße 22 im Westen Berlins. Der Verlagssitz wechselte ab Oktober 1905 von der Karl-Straße 27 zur Lindenstraße 13. Vgl. Paucker 1976, S. 490, Anm. 35. Für Abonnenten ohne C.V.-Mitgüedschaft betrug der Bezugspreis für die kürzeste Bezugszeit von einem Jahr insgesamt drei Reichsmark. IdR 28, Heft 3/4, März/April 1922, S. 52 (Julius Schneider: „Nun, zu guter letzt ..."). Vgl. auch Bernstein 1969, S. 30, Anm. 57. Bernstein 1969, S. 30. Im „Sperling", dem „Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse" von 1915, fehlen gerade in der Rubrik „Jüdische Blätter" sehr oft Angaben zur Auflagenstärke der Zeitungen wie Zeitschriften. In Sperlings „Erläuterungen" steht dazu: „Die Angaben darüber beruhen auf eigenen Mitteilungen der Blätter [...] Fehlen bei einem Blatt nähere Angaben, so konnten diese auch auf wiederholte Anfragen hin nicht erlangt werden" (Sperling, Sperlings Zeitschriften-Adreßbuch, 1915, S. 12). IdR 6, Heft 3, März 1900, S. 116 (Maximilian Horwitz: „Geschäftsbericht"). IdR 19, Heft 2, Februar 1913, S. 52: „... in einer Auflage von 37 000 Exemplaren jetzt die verbreitetste jüdische Zeitschrift in Deutschland." Bernstein 1969, S. 73.

„Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung"

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ten einen Umfang von 40 bis 50 oder mehr Seiten. Das Oktavformat, die monatliche, manchmal sogar nur zweimonatliche Periodizität wie auch die wissenschaftliche Breite der Artikel lassen „Im deutschen Reich" eher an ein Magazin und weniger an eine Zeitung im heutigen Sinne erinnern. Insofern war die Eigenbezeichnung „Zeitschrift" korrekt. Das strukturelle Konzept des ersten C.V.-Organs blieb über die Jahre im Wesentlichen unverändert: Auf einen längeren Leitartikel sowie Aufsätze, Auszüge aus Büchern, Briefwechsel etc. folgte eine so betitelte Rubrik „Umschau", in der sich die Redaktion kritisch mit Beiträgen aus anderen Zeitungen und Zeitschriften auseinander setzte. Zuweilen wurden fremde Beiträge, die für sich selber sprachen, auch ohne Kommentar zitiert. Weitere Rubriken waren „Korrespondenzen" mit kurz gehaltenen Nachrichten aus verschiedenen deutschen Städten; „Vereinsnachrichten", die über Neuigkeiten aus dem Centraiverein und anderen jüdischen wie nichtjüdischen Organisationen informierten; „Briefakten", eine Rubrik, die den Leserbriefkolumnen heutiger Zeitungen entspricht; „Bücherschau", in der literarische Neuerscheinungen vorgestellt wurden; und schließlich ein nach heutigen Maßstäben eher spärlicher Anhang an Inseraten. Gerade Rubriken wie „Umschau", „Korrespondenzen" oder „Bücherschau", für die die Redaktion allein verantwortlich zeichnete, dokumentieren in anschaulicher Weise, welche Unmengen an journalistischen und literarischen Produkten die Redakteure und ihre Helfer monatlich gelesen und ausgewertet haben müssen. Verschiedene jüdische Presseagenturen und zahlreiche Zuträger versorgten die Zeitschrift mit den nötigen Informationen. In der ersten Ausgabe bat die Redaktion ihre Leser explizit darum, „uns [...] Material zu schicken".55 Den ersten redaktionellen Leiter Alphonse Levy unterstützte eine Redaktionskommission unter dem Vorsitz des Berliner Oberlehrers Julius Schneider. Levy folgten ab Herbst 1916 Julius Landau und dann ab Ende 1917 Jakob Scherek nach. Levy war von 1894 bis zu seinem Tode 1917 erster Generalsekretär des Centraivereins, Schneider C.V.Vorstandsmitglied, wie auch die meisten Redaktionsmitglieder gleichzeitig C.V.-Mitglieder waren.56 Ludwig Holländer, der über Jahrzehnte hinweg für „Im deutschen Reich" und nach der Einstellung der Zeitschrift auch noch bis 1936 für die nachfolgende „C.V.-Zeitung" schrieb, übernahm im Centraiverein ab 1908 die Funktion des Syndikus, während der eifrige Publizist Eugen Fuchs nach seiner Zeit als C.V.-Vorsitzender von 1917 bis 1919 noch bis zu seinem Tode im Jahre 1923 den Ehrenvorsitz ausüb55 56

IdR 1, Heft 1, Juli 1895, S. 27 (A. L. [Alphonse Levy]: „Umschau"). Vgl. Bernstein 1969, S. 30f.

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept

te. Ebenso wie der Centraiverein nicht wirklich überparteilich bleiben konnte, war auch sein Vereinsorgan kein wertneutrales Medium. Schließlich mussten alle eingesandten Artikel erst von der Schrifdeitung akzeptiert werden und wurden, falls angenommen, entsprechend gekürzt und kommentiert. Seit der Juli-Ausgabe von 1911 war auf dem Titelblatt jedes Heftes der erste Paragraf einer neu formulierten C.V.-Satzung zu lesen: Der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" bezweckt, die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrten Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken.

Wie im vorhergehenden Kapitel über die Struktur des C.V. berichtet, musste eine Mitgliedersammlung „ohne Unterschied der religiösen [...] Richtung" gerade deshalb illusorisch bleiben, weil Anhängern religiöser Strömungen, die die deutschspezifische Akzentuierung ablehnten, der Austritt nahe gelegt wurde.57 Die Monatsschrift bezweckte einerseits, wie es in der ersten Ausgabe heißt, „ein einigendes Band, die Schaffung eines äußerlichen Zusammenhangs unter uns [jüdischen Deutschen]" zu stiften, um diesen Bund dann wiederum als Trutzbund gegen die Antisemiten einsetzen zu können, so „daß ein jeder von uns mitarbeite an dem Werke der Selbstvertheidigung"58. Gleich jeder anderen jüdischen Zeitschrift sollte das C.V.-Organ andererseits auch einfach nur den Lebensalltag seiner Klientel präsentieren: Familien- und Urlaubsfreuden, Bücherzirkel, Theatergänge, religiöse Feste etc. Doch weil dieser Alltag mehr und mehr durch judenfeindliche Aktionen beeinträchtigt wurde, nahm die Dokumentation der antisemitischen Attacken die redaktionelle Arbeit vordringlich in Anspruch. Schon der Leitartikler der ersten IdR-Ausgabe im Juli

57

So stellt Paul Rieger in IdR 19, Heft 5/6, Mai 1913, S. 233 klar. „Wenn aber ein deutscher Zionist sich dem Centraiverein anschließt, so muß er natürlich sich auch dem anschließen, was § 1 fordert, den Grundsätzen des ganzen Centraivereins, nämlich, dass er deutsche Gesinnung betätigen und sich der Pflege deutscher Gesinnung widmen will [...] Ein Zionist, der den § 1 nicht anerkennt, kann ja eo ipso nicht unser Mitglied werden. Unterwirft er sich aber diesem Paragraphen, so ist er uns willkommen." Riegers Aussage beweist, dass sich die Centralvereiner gegenüber den Zionisten nicht selten im Ton vergriffen haben. Zu Unterwerfungsgesten war der Großteil der deutschen Zionisten trotz aller Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur verständlicherweise nicht bereit. Vgl. ferner IdR 19, Heft 5/6, Mai 1913, S. 200, Ludwig Holländer: „Zur Klarstellung": „Wir verlangen von unseren Mitgliedern nicht bloß die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten, sondern deutsche Gesinnung und die Betätigung dieser Gesinnung im bürgerlichen Leben."

58

IdR 1, Heft 1, Juli 1895, S. 3 (Μ. M. [Martin Mendelssohn]: „Ein Wort zur Einführung").

„Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung"

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1895 hatte dies geahnt, wenn er einen „Krieg" prophezeite, „der abermals ein dreißigjähriger zu werden droht". 59 3.2. „C.V.-Zeitung" Mit der Radikalisierung des Antisemitismus gerade nach 1918 zeichnete sich ab, dass immer mehr nichtjüdische Deutsche gewillt waren, das Konzept der deutschen Kulturnation als Sprachnation aufzugeben und stattdessen kruden Rassentheorien anzuhängen. Deshalb musste auch die Konzeption einer Zeitschrift deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens reformiert werden. Die notwendige Neubewertung erläutert der C.V.Syndikus Ludwig Holländer 1922 genauer: Rassentheorien nahmen von der nervösen Volksseele in einem Umfang Besitz, den man nicht ahnen konnte, weil mit so viel Unwissenschaftlichkeit und Torheit noch selten eine Seele geblendet wurde - die Verbreitung v o n Dinter, „Die Sünde wider das Blut" spricht dafür Bände [...] Hat sich aber das Angriffsfeld erweitert, so müssen wir Gelegenheit haben, häufiger und in erweitertem Umfange an die gesamte Öffentlichkeit, keineswegs nur an die jüdische, zu treten. Darum muß ein Wochenblatt geschaffen werden. 6 0

Das Manko der monatlichen, manchmal zwei- bis dreimonatigen Periodizität und die offenkundigen Schwächen in der Publizistik spielen eine wichtige Rolle für die Auflösung des ersten C.V.-Organs. 61 E s scheint, dass die IdR-Redaktion der zunehmenden Schärfe antisemitischer Agitation nicht mehr gewachsen war. Die detaillierte Dokumentation antisemitischer Taten im Monatsrhythmus wurde auf die Dauer einfach zu schwerfällig, um auf die hereinbrechende Flut judenfeindlicher Pamphlete, Zeitungen, Bücher und Reden angemessen, das heißt auch: zeitlich angemessen reagieren zu können. Auch hatte der Centraiverein offenbar erkannt, dass der Antisemitismus nur dann wirksam bekämpft werden konnte, wenn die apologetische Publizistik verstärkt nichtjüdische Kreise erreichte. Die erste Ausgabe der „C.V.-Zeitung" im Mai 1922 war die logische Konsequenz dieser Überlegungen. Wöchentlich ediert und verstärkt an ein nichtjüdisches Publikum gerichtet, sollte sie den Antisemitismus fortan effizienter bekämpfen helfen. Tatsächlich erreichte die „C.V.-Zeitung"

59 60 61

Ebd., S. 4. IdR 28, Heft 3/4, März/April 1922, S. 50 (Ludwig Holländer: „Nun, zu guter letzt"). Vgl. Diehl 1997, S. 190.

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eine Steigerung der Publizität und auch Rezeptivität,62 zunächst unter der redaktionellen Leitung Ernst Groths, dann unter der Ägide Artur Schweriners.63 Im Zeitraum von 1923 bis 1929 schwankte die Auflagenhöhe zwischen 60 000 und 80 000 Exemplaren64, 1926 lag sie bei 73 000, 1931 wieder bei ca. 60 000 Exemplaren.65 Indem die Redaktion ihre Wochenedition ab 1926 um eine Monatsausgabe ergänzte, die hauptsächlich auf nichtjüdische Leser abzielte und mehrheitlich CVZ-Artikel übernahm, erweiterte sie den Bekanntheitsgrad der C.V.-Ideologie. Die ehrgeizigen editorischen Ziele der Redaktion bewegten sich im Falle der CVZMonatsausgabe in sechsstelligen Dimensionen66, und auch in den „Führerbriefen" vom September 1928, einer internen Informationsbroschüre für Führungskräfte des Vereins, wurde langfristig „jeder zehnte Wahlberechtigte" als potenzieller Leser anvisiert. Wenngleich dies letztlich nur ein Wunschtraum blieb, so hatte die Monatsausgabe zu diesem Zeitpunkt doch immerhin eine Auflagenhöhe von 50 000 Exemplaren erreicht.67 Von verbreiteten „350 000 Broschüren und 1,5 Millionen C.V.Monatsausgaben" sprach der Philo-Verlag auf der Presseausstellung 1928 in Köln.68 Nimmt man derlei Publizitätserfolge in Anschlag, dann muss Bernsteins Schlussfolgerung, der C.V. sei über den engen Kreis einer jüdischen Leserschaft nicht wesentlich hinausgekommen, relativiert werden.69 Jedenfalls näherte sich der Centraiverein nach 1922 zunehmend modernen pressetechnischen Anforderungen und propagandistischen Methoden an, ohne damit sein traditionelles Konzept einer besonnenen Aufklärungsar62

Vgl. C V Z 36, 4. September 1925, S. 597 („Die Hauptsache: Aufklärung. Vor allem fur die christlichen Mitbürger"). Stolz wird erwähnt, dass das neue C.V.-Organ „jede Woche in rund 8000 Exemplaren an nichtjüdische Empfinger" gehe, und zwar an „alle öffentlichen Bibliotheken, Staats-, Stadt-, Universitätsbibliotheken, akademische Lesesäle, die Schriftleitungen der wichtigsten deutschen Zeitungen, die Korrespondenten der ausländischen Presse in Berlin, alle Reichs- und Landesparlamente, sämtliche zentrale Reichs- und Landesbehörden", sowie an „Hunderte von Lehrern, Oberlehrern, Geistlichen, Parteisekretären, Parteiführern".

63

Auf Schweriner folgten Margarete Edelheim und von 1933 bis 1938 Alfred Hirschberg. Ludwig Holländer übernahm bis zu seinem Tod 1933 die Aufgaben des Hauptschrifdeiters. Angaben aus: Bernstein 1969, S. 39. Angaben aus: Edelheim-Muehsam 1956, S. 172. C V Z 10, 5. März 1926, S. 114f. (Alfred Wiener: „C.V.-Zeitung"): „300 000"; C V Z 1, 3. Januar 1930, S. 2 (Alfred Wiener: „Mehr Kleinarbeit, keine großen Worte! Aus dem am 15. Dezember 1929 erstatteten Geschäftsbericht"): „500 000". Führerbriefe Nr. 1, 15. September 1929, S. 2 („Zur Einführung"). C V Z 20, 18. Mai 1928, S. 284f. (Margarete Edelheim: „Der Centralvertein auf der ,Pressa'. Sonderbericht für die ,C.V.-Zeitung'. Köln, 12. Mai"). Bernstein 1969, S. 41.

64 65 66

67 68 69

„Im deutschen Reich" und „Central-Vereins-Zeitung"

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beit in einem weitgehend gemessenen, elaborierten Stil aufzugeben.70 Erst in den 30er Jahren fand, unter dem Eindruck nationalsozialistischer Wahlerfolge, auch hier ein Bewusstseinswandel statt. Wiederum ist es einer der hellsichtigsten und emsigsten Köpfe aus dem Funktionärskreis des Centraivereins, der dies ausspricht. Ludwig Holländer, Hauptschrifdeiter von CVZ, fordert im April 1932, auf den „erdrutschartigen" Erfolg der NSDAP entsprechend zu reagieren: A u f die G e f a h r hin, v o m „Völkischen Beobachter" zitiert zu w e r d e n , stellen w i r als objektive K e n n e r nationalsozialistischer Propagandamethoden fest, o h n e G e s c h i c k lichkeit, o h n e Fleiß und die Energie der N S D A P w ä r e die Partei niemals zu ihren Erfolgen gelangt. [...] W e r heute darauf verzichtet, seine Beweise mit den Mitteln der politischen Organisation u n d Propaganda d e m V o l k vorzutragen, gibt sich d e n Anschein, als o b er mangels eigenen Standpunktes auf eine Auseinandersetzung zu verzichten gezwungen ist. 71

Die Redaktion der C.V.-Zeitung war bemüht, sich nicht als bloßes Anhängsel des Centraivereins zu präsentieren,72 blieb aber natürlich von dessen Veränderungen stark beeinflusst. Zu dem Grundsatzproblem der Abwehrarbeit nach außen trat seit Mitte der 20er Jahre ein programmatischer Dissens im Inneren. Anfangs hatte die „C.V.-Zeitung" die Leitlinie ihrer Vorgängerin fortgeführt: Nicht die nach innen zielende Kräftigung des jüdischen Identitätsbewusstseins stand im Mittelpunkt der Publizistik, sondern die nach außen gerichtete Propagierung des Judentums „als eines integralen Bestandteils des deutschen Volkes"73. Die Erfolge des Zionismus gerade bei jüngeren Juden zwangen jedoch mehr und mehr zu einer Neubewertung jüdischer Identität. Gedrängt durch die jüngere Generation an C.V.-Mitgüedern, die seit September 1925 mit der Beilage „Von deutsch-jüdischer Jugend" ein eigenes Forum einforderte und erhielt, verschärfte sich die Auseinandersetzung darüber, ob der jüdischen Identitäts-

70

S. Levi fordert, ganz im alten Stil der IdR-Ära: „Der empfindsame Jude [...] soll den Gegner nicht zum Schweigen, sondern zum Reden bringen, und soll ihn durch das W o r t zur Erkenntnis, zur Selbstklärung leiten [...] Aufklärungsarbeit ist somit der Erfolg der Empfindsamkeit. Abwehr ist System und Ziel. Erziehung nach innen, Aufklärung nach außen sind Methode und Erfolg" (CVZ 10, 5. März 1926, S. 120, S. Levi: „Nicht Empfindlichkeit, sondern Empfindsamkeit"). Alfred Wiener betont die Unbelehrbarkeit judenfeindlicher Fanatiker und die Notwendigkeit anti-antisemitischer Kärrnerarbeit in der größtenteils indifferenten deutschen Gesellschaft. Aufklärung sei allein dafür sinnvoll (CVZ 1 1930, 3. Januar 1930, S. 4, Alfred Wiener: „Mehr Kleinarbeit, keine großen Worte! Aus dem am 15. Dezember 1929 erstatteten Geschäftsbericht").

71 72

C V Z 18, 29. April 1932, S. 73f. (L. H. [Ludwig Holländer]: „Erdrutsch"). Vgl. C V Z 1, 5. Januar 1933, S. 1 („Wir kommen früher!"): Zwar sei man „das Blatt des Centraivereins", stimme aber „nicht in jeder Zeile" mit dessen Meinung überein. Bernstein 1969, S. 34.

73

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komponente genügend Raum gegeben werde. Diese in der gesamten jüdischen Presse lebhaft geführte Diskussion ebbte auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht ab und nahm erst mit dem Verbot aller jüdischen Periodika im Jahre 1938 ein abruptes Ende.

4. Die C.Y.-Periodika als Spiegelflächen antisemitischer Agitation Im dritten Kapitel zur antisemitischen Sprachideologie waren zwei zentrale Agitationsmuster beleuchtet worden, die zwischen einer Judenfeindschaft mit dem hauptsächlichen Angriffsziel Kultur, Geist, Sprache (Agitationsmuster I) und einem primär rassespezifischen Antisemitismus (Agitationsmuster II) differenzierten. Zwischen beidem - Kultur- und Rassenantisemitismus — sind durchaus fließende und keineswegs konsequent lineare Paradigmenverschiebungen zu konstatieren. Genau in den Schnittpunkt dieses Übergangs fanden sich die Juden in dem zu behandelnden Zeitraum 1895-1932 gestellt, allerdings bereits mit einem überdeutlichen Gewicht auf Agitationsmuster II. Die geglückte Sprachakkulturation sowie die daraus folgende Tatsache, dass die antisemitischen Kräfte den kulturell-nationalen Sprachpatriotismus zugunsten eines anthropologisch-rassistischen Sprachnationalismus verworfen hatten, lassen sich anhand der Artikel in „Im deutschen Reich" und in der „C.V.-Zeitung" nachweisen. Bereits in der Novemberausgabe von 1895 analysiert ein Rezensent, Curt Pariser, den Wandel in der Gewichtung antisemitischer Stereotypisierungen überaus treffend, wenn er diesen vorerst auch auf die Paradigmen Religion und Rasse beschränkt: Man hatte zu dem guten alten ein gutes neues Hetzmittel und zugleich ein Mittel, das eine unendlich viel bessere Werbekraft versprach als das frühere. Es wurde also gesagt: Nicht nur von Religionswegen, sondern auch von Rassewegen gehören die Juden nicht zu uns, sondern sie stehen unendlich tiefer als der Deutsche. 74

Zweifelsohne verlief der viel diskutierte Sprung von der judenfeindlichen Religionspolemik des Antijudaismus zur Rassenpolemik des modernen Antisemitismus, den Pariser als ein eher abruptes Phänomen vorstellt, nicht ohne Zwischenschritte. Kein Geringerer als Alfred Döblin, dessen 1929 erscheinender Roman „Berlin Alexanderplatz" Weltruhm erlangen sollte, beleuchtet den vielleicht entscheidenden Paradigmenwechsel 1926

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IdR 1, Heft 6, November 1895, S. 213 (Curt Pariser, „Antisemitismus - Anarchismus").

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in einer bissigen Rezension von Ludwig Ferdinand Clauß' antisemitischem Pamphlet „Rasse und Seele": Ich weiß nach einem Blick, was der Autor will, und nach einem zweiten Blick weiß ich, daß er der nordischen Rasse ein Loblied singen will, und die Juden sollen ihm vom Leibe bleiben. Clauß setzt da, wo vorher „Kultur" gesagt war, „Rasse" ein, und dieser Rasse schreibt er dieselben seelisch-eigentümlich produzierenden Funktionen zu, wie die früheren ihrer „Kultur". 75

Während Döblin dabei noch vordringlich den Einzelfall im Blick hat, zieht Fritz Friedländer, langjähriges C.V.-Mitglied und fleißiger Publizist in den Vereinsorganen, zwei Jahre später die Wandlungsfähigkeit antisemitischer Agitation ins Allgemeine. Erst als nach der Emanzipation alle ökonomischen, religiösen und nationalen Verfemungsstrategien an ihre Grenzen gelangt wären, sei die im 19. Jahrhundert aufgefrischte Rassentheorie erneut in den Vordergrund judenfeindlicher Argumentation gerückt: Die staatsbürgerliche Emanzipation bewirkte eine gewaltige Veränderung in der Lage der Juden, so daß sich der Antisemitismus nach neuen Argumenten umsehen mußte. [...] Der Einwand der religiösen Andersartigkeit der Juden wurde dadurch widerlegt, daß der moderne Rechtsstaat eben nicht bloß ein christlichkonfessioneller Staat war. Der Einwand der nationalen Fremdheit der Juden verlor angesichts ihres Hineinwachsens in die deutsche Kultur seine Berechtigung. [...] Zuletzt wurde die Rassentheorie in den Dienst des Antisemitismus gestellt.76

Anders als Friedländer suggeriert, standen die verschiedenen Strategien der Antisemiten zur Diffamierung des Judentums bis zuletzt nebeneinander, wurden miteinander kombiniert, bauten aufeinander auf. In der CVZAusgabe vom 16. August 1929 ist eben diese Verzahnung unterschiedlicher Stereotypen deutlich beim Namen genannt. Felix Goldmann77 referiert dort über ein Buch des Leipziger Universitätsprofessors Walter Kruse78. Zwar habe sich der Hochschullehrer gegen den Rassenindex von Schädelmessungen verwehrt, die traditionellen Indizes für die jüdische und negroide Rasse aber beibehalten. Physiognomische Stereotypen wie die „an eine Sechs erinnernde eigentümliche Nasenform" oder „die auf-

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C V Z 10, 5. März 1926, S. 134 (Alfred Döblin: „Rasse und Seele"). C V Z 47, 23. November 1928, S. 660 (Fritz Friedländer: „Zur Geschichte und Theorie des Antisemitismus").

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Der Leipziger Rabbiner Felix Goldmann (1882-1934) war einer der richtungsweisenden Ideologen des Centraivereins. Walter Kruse: „Neue Grundlagen der Anthropologie, Rassen-, Völker-, Stammeskunde und Konstitutionslehre nebst Ausführungen zur deutschen Rassenhygiene", Leipzig 1929.

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geworfenen Lippen" seien von Kruse mit dem Stigma einer „lispelnde [n], mauschelnde [n] Sprache" zusammengerührt worden.79 Wenn auch die Begründungsversuche für solch merkwürdige „Verquickung geistiger und seelischer Eigenschaften mit Rasseneigentümlichkeiten"80 bei den einzelnen Autoren in IdR und CVZ oftmals voneinander abwichen, so war der Zweck des genannten Paradigmenwechsels, der „den Geist durch das Blut ersetzen will"81, ihnen doch bewusst. Den deutschen Juden sollte mit allen möglichen Mitteln und Methoden verweigert werden, was sie insbesondere seit der Emanzipation zu den Basen ihres Selbstbewusstseins zählten: religiöse Eigenständigkeit, kulturell schöpferische Essenzialität und ein spezifisches Nationalrecht in ihren jeweiligen Heimadändem. Die C.V.-Publizisten haben durchaus früh erkannt, dass die antisemitische Diffamierung ihres Deutschtums und damit ihrer Identifikation mit der deutschen Sprache und Kultur nur der erste Schritt zu weitaus gravierenderen Repressalien sein sollte82 und dass die Rassenpolemik letztlich jeden treffen konnte, der liberalem Gedankengut anhing und seinen Geist frei von Dogmatismus zu halten sich getraute.83 Weil sich „Im deutschen Reich" und „C.V.-Zeitung" mit den verschiedenen antisemitischen Strategien und Sprachbewertungen offen auseinander setzen und sich immer wieder auf den „Hammer" beziehen, können die beiden Zeitschriften auch als „Spiegelbild" der Entwicklungsgänge des deutschen Antisemitismus gelesen werden.84 Eine augenfällige Dokumentation der Steigerung judenfeindlicher Polemiken zeigt sich schon bei einem

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C V Z 33, 16. August 1929, S. 433f. (Felix Goldmann: „Die ,anderen Faktoren'. Judenfeindliche Theorien eines Leipziger Universitätsprofessors. - Die Leipziger medizinische Fakultät soll,judenrein' bleiben."). C V Z 47, 19. November 1926, S. 608 (S. Fest: „Ostpreußische ,Rassenforschung'. Die Fragebogen des Professor Arvid Schultz"). C V Z 1, 6. Januar 1928, S. lf. (Ludwig Holländer: „1928"). Eine Passage aus der IdR-„Zeitschau" vom Oktober 1920 liest sich wie eine düstere Vorahnung der nationalsozialistischen „Endlösung": „Wir haben an dieser Stelle oft genug unsere warnende Stimme erhoben vor einer Unterschätzung der antisemitischen Agitation. [...] sie wollen einen Scheiterhaufen errichten, auf dem wir verbrannt werden. Aber dieser Scheiterhaufen soll so sein, daß auf ihm das gesamte Judentum seinen Platz hat! (IdR 26, Heft 10, Oktober 1920, S. 307). „Für die Antisemiten gibt es keine Schuldfrage. [...] Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und ist er kein Antisemit so ist er — Jude, mag er auch König im Reiche der Kunst und Wissenschaft [...] sein. Für diese vorweggenommene Folgerung ergibt sich die Richtlinie der nachträglich zu setzenden antisemitischen Beweisführung von selbst: Jüdische ,Rassenmerkmale' körperlicher und geistiger Art müssen gefunden werden" (IdR 26, Heft 1, Januar 1920, S. 10f., Dr. L.: „Semi-Imperator"). Vgl. C V Z 1, 5. Januar 1933, S. 1 („Wir kommen früher!").

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Vergleich der „Sachregister" in den IdR-Jahresbänden vor und nach Anfang 1919. Im Jahr des Kriegsendes 1918 finden sich zu den Schlagwörtern „Rassenfrage" und „Rassenhetze" gerade einmal vier Verweise, während 1919 zu „Rassenfrage" schon 17 Verweise vermerkt sind. Hatten 1915 noch zwei Artikel den „Antisemitischen Drucksachen während des Burgfriedens" Genüge getan, so füllen 1919 die alphabetischen Verweise auf Artikel zu „Antisemitismus" (von „Antisemitismus und Arbeiterschaft" bis hin zu „Antisemitismus und Zionismus") ganze zwei Seiten. Deutlicher lässt sich der gesellschaftliche Denkwandel nicht dokumentieren: Der zum Ausbruch des Krieges vom Kaiser mit großer Geste deklarierte Burgfrieden zwischen allen Parteien und Religionen Deutschlands war beendet. Die alten Un-Geister durften wieder aufleben. Von Anfang bis Ende hat der Centraiverein daran geglaubt oder zumindest darauf gehofft, dass sich Gabriel Rießers „mächtige Waffe", die deutsche Sprache, auch im Kampf gegen die antisemitische Biogenese bewähren würde. Es ist also nicht verwunderlich, dass die meisten IdRund CVZ-Publizisten die vom deutschen Bildungsbürgertum ja einstmals selbst postulierte Einheit von Nationalität und Nationalsprache gerade gegen ein anti-bildungsbürgerliches Rassenkonstrukt anführten,85 das angestrengt nach Beweisen suchte, die es nicht gab, weil es keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielt.86 Allerdings erfolgten diese publizistischen Gegenzüge zumindest bis 1922 mit signifikanter zeitlicher Verzögerung, da „Im deutschen Reich" trotz der zunehmenden Virulenz des Rassenantisemitismus an der monatlichen Editionsweise festhielt. Erst mit Gründung der „C.V.-Zeitung" 1923 zeichneten sich wirklich radikale Neuerungen in der anti-antisemitischen Apologie ab, weil die Wochenschrift im Ganzen ein moderneres Konzept verfolgte, als dies ihrer eher schwerfälligen Vorgängerin möglich gewesen war. Der sinnfälligste Beleg dafür ist wiederum die immense Steigerung der expliziten Rekurse im „Hammer" auf das C.V.-Organ, seitdem die „C.V.-Zeitung" die Leitung der publizistischen Apologie übernommen hatte. Während IdR der antisemitischen Agitationsschrift nur kleinere Nebenbemerkungen wert war, also kaum ernst genommen wurde, finden sich stellenweise regelrecht bewun85

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IdR 22, Heft 5/6, Mai/Juni 1916, S. 105 - Dr. Sigmund Feist aus Berlin antwortet auf die Leitfrage seines Vortrages „Gibt es eine arische Rasse?": „Es gibt wohl .arische' oder .indogermanische' Sprachen, wie es semitische [...] Sprachen usw. gibt, es gibt aber keine ,Arier'." IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 73 (Alphonse Levy: „Umschau"): „...die Antisemiten [...], denen eine geschickt mit wissenschaftlichen Phrasen verbrämte unwissenschaftliche Rassentheorie auch in gebildeten Kreisen einigen Anhang verschafft hat."

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dernde Kommentare zur Effizienz ihrer Nachfolgerin. An deren Auflagenhöhe („im fünften Jahrgange in einer Auflage von 70 000 Stück") und Management könne sich die völkische Publizistik ein Beispiel nehmen.87 Im Folgenden soll anhand der beiden wichtigsten C.V.-Organe untersucht werden, mit welchen Argumentationsmustern die C.V.-Juden ihre Einstellung zu Sprache und Sprachen rechtfertigten, auf welche ideologischen Traditionen sie bauen konnten und welche argumentativen Strategien zum Einsatz kamen, um sich gegen antisemitische Angriffe auf den jüdischen Umgang mit Sprache zu wehren. Nun ist also der Standpunkt der Verteidiger von Interesse, der dem Konflikt die zweite Seite gibt. Unter einem Sprachkonßikt im Sinne des lateinischen confligere ist, wie gesagt, nicht der die Sprachkontaktforschung interessierende Zusammenprall zweier oder mehrerer Sprachen bzw. Varietäten zu verstehen88, sondern das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher konzeptioneller Standpunkte zu Sprache allgemein bzw. zu Einzelsprachen im Besonderen. Die Kontrahenten, welche ihre jeweils eigenen Sprachkonzepte argumentativ zu stärken suchen, behaupten dabei in einer sozial verankerten und öffentlich ausgetragenen „Konkurrenzsituation" die „Unvereinbarkeit ihrer Positionen"89. 5. Die Apologie des jüdischen Umgangs mit Sprache Ludwig Graetz, Universitätsprofessor und engagierte Stimme des deutschjüdischen Bildungsbürgertums, zitiert zum 25-jährigen Regierungsantritt Wilhelms II. einen Passus aus einer Rede der C.V.-,Ikone' Moritz Lazarus: Die deutsche Sprache ist unsere Muttersprache, das deutsche Land ist unser Vaterland; wie wir deutsch reden und denken, wie unsere Seele durch deutsche Dichtung und Wissenschaft erfüllt und gebildet ist, also wirken wir mit Geist und Herz, nach dem Maße unserer Kraft, an deutschen Werken; die Größe, Hoheit und Macht der deutschen Nation ist die Sehnsucht unseres Gemüts. 9 0

Natürlich ist der Einsatz eines solchen Zitats in einem Artikel von 1913 im Uberschwang der noch weitgehend ungebrochenen Begeisterung für das Kaisertum zu verstehen; nach Kriegsende änderte sich die Haltung zu

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Hammer 576, Juni 1926, S. 300 (Rudolf Linke: „Der Hammer und seine Leser. Ein persönliches Wort"). Vgl. dazu Oksaar 1984. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, 1998, S. 1233. IdR 19, Heft 7, Juni 1913, S. 294 (Ludwig Graetz: „Zum 25jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II.", hier zitiert aus Moritz Lazarus: „Treu und frei: Gesammelte Reden und Vorträge über Juden und Judentum", Leipzig 1887, S. 180).

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Kaiser und Monarchie oft radikal. Die in der zitierten Passage enthaltenen Treueschwüre aber hatten Bestand, ja, sie erscheinen nach eingehender Durchsicht von fast 40 Jahrgängen beider C.V.-Organe merkwürdig zeitlos. Noch 1932 druckt die speziell für nichtjüdische Leser bestimmte Monatsausgabe der „C.V.-Zeitung" ein emphatisches Gedicht des Literaturund Theaterkritikers Julius Bab91 ab, in dem beides — Verwurzelung in deutscher Sprache und Festhalten an jüdischer Religiosität — in die appellativen Verse gekleidet wird: „Ich kann mit Gott nur eure Sprache sprechen!/Ich kann vor keinem andern Gotte knien!"92 Weiter noch: All jene Bekenntnisse zur deutschen Muttersprache wie zum literarischwissenschaftlichen Kanon deutscher Kultur als Ausdruck eines rational und emotional erlebten Nationalrechts lassen sich ebenso gut 1933 oder darüber hinaus finden. Zum 100. Todesjahr Humboldts, 1935 eben, erinnerte der frühere Privatsekretär Gustav Stresemanns, Felix Hirsch, an des deutschen Juden Heymann Steinthals Verdienste um die Rezeption des großen Sprachphilosophen und „Künders der Humanität". Über zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung also, als das Gesicht des Landes längst verhüllt war von Hakenkreuzflaggen, da beschwor Hirsch das durch Humboldt, „Lessing, Kant, Goethe und Schiller" verkörperte „innere Deutschland", „an dem auch wir einen unverlierbaren Anteil haben, solange wir uns strebend darum bemühen".93 Der „Bannkreis von Aufklärung und Klassik"94 wirkte immer noch, nur hatte er, der Geist von Humanismus und Menschenwürde, in die innere Emigration gehen müssen — und mit ihm ein großer Teil der deutsch-jüdischen Intelligenz. Die diffizile und fragile Verbindung von Sprache und Nation war der Stützpfeiler jüdisch-deutschen Selbstbewusstseins im Sinne der C.V.-Ideologie. Es erscheint darum gerechtfertigt, ihre einzelnen Komponenten einmal nacheinander zu analysieren. Weil die antisemitische Literatur „die Juden selbst" beeinflusste, die „Sicherheit ihrer Lebenswerke" ins Wanken geraten ließ und die „seelische Einheit von Deutschtum und Judentum" gefährdete, suchte der Centraiverein in seiner Publizistik diese Einheit trotz „gefährliche[r] Minderwertigkeits-

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Julius Bab (1880—1955), Vorstandsmitglied des Centraivereins, Kritiker in diversen Berliner Zeitungen, ab 1927 Mitarbeiter am „Jüdischen Lexikon", 1938 über Paris in die USA emigriert. MCVZ Januar/März 1932, S. 11 (Julius Bab: „Deutschland - !"). Der Morgen, Heft 1, Aprü 1935, S. 21 (Felix Hirsch: „Der Künder der Humanität: Wilhelm von Humboldt und das deutsche Judentum"), angeführt bei Mosse 1990, S. 180. Sieg 2001, S. 33.

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komplexe" zu stärken.95 Gegen die agitatorische These von der Minderwertigkeit jüdischer Sprachverwendung aufgrund rassischer Inferiorität verteidigten sich die liberalen deutschen Juden mit einer Argumentation, die eine von Kompetenz und Liebe geprägte, außerordentliche Nähe der Juden zur deutschen Sprache und Kultur betonte. In der folgenden Analyse werden spezifische Argumentationstopoi nach folgendem Schema aufgeschlüsselt: (1) Voraussetzung(en) (2) Prämissen/Ansprüche (3) Belege: Steigerungen (4) Probleme: Zwiespalt (5) Schlussfolgerung Die einzelnen Argumente sind als Teil eines Diskurses zu verstehen und insofern nicht vom agitatorisch-apologetisch Kontext zu lösen. Deshalb sind in den Überschriften zu den jeweiligen Unterkapiteln, die den jüdischen Umgang mit Sprache positiv bewerten und gegen judenfeindliche Attacken verteidigen, die entsprechenden und von uns im vorhergehenden Kapitel aufgeschlüsselten antisemitischen Agitationen, auf die sie explizit oder implizit rekurrieren, in Klammern angefugt. 5.1. Ist nicht die Sprache alles? Die geistesgeschichtliche Basis: Die Muttersprachenideologie (Apologie 1 vs. Agitation l 96 ) Das Glücksmoment, nach Kriegsende wieder auf Heimatboden zu stehen, lässt den Frontheimkehrer Julius Goldstein aufatmen. Doch nicht allein die physische Rückkehr ist es, die ihn innerlich bewegt. Weit mehr noch gelten seine Gedanken der deutschen Geistes- und Kulturwelt, den Werken ihrer Dichter und Denker: Und nun ist der Augenblick gekommen: Geistes Heimkehr! Nun steh ich vor euch, ihr meine alten lieben Gefährten [...] Und ich greife weiter mit zögernder Hand zu euch, ihr deutschen Dichter und Denker aus der Zeit, als noch in Jena und Weimar die Seele des deutschen Volkes lebte. Früher habe ich immer ein leises Gefühl der Scham gehabt, wenn ich im alten imperialistischen Deutschland mich in euch vertiefte. Kant und Fichte, Goethe und Herder, Schelling und Hegel - auf euch hat

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CVZ 31/32, 5. August 1927, S. 434 (Julius Goldstein: „Vom Sinn des C.V. und seiner deutschen Kulturarbeit"). Vgl. die Überschrift des Kap. IV. 2.1.

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man sich stets berufen, wenn man lärmend vom Imperialismus des deutschen Geistes sprach. Waren wir wirklich eure Erben? War dieses Deutschland der „Realpolitik", des „Egoismus", das Deutschland Treitschkes und Chamberlains, war es das Deutschland, das ein Recht hatte, sich auf euch zu berufen? Ich habe es nie glauben können. 97

Goldstein vertraut in die Kraft eines anderen, ,edleren' Deutschland. „Geistes Heimkehr" bedeutet gleichzeitig Rückkehr des Essenziellen, die Hoffnung auf eine Renaissance traditioneller, nicht nationalistisch verengter Ideen und Ideale — auf das, was J. Stern im nachfolgenden Artikel den „klassische[n] deutschefn] Idealismus (Herder, Schiller, Fichte) mit seinem Doppelideal von Weltbürgertum und Nationalstaat" nannte.98 Peter Gay hat lange nach der Katastrophe des Holocaust noch einmal an eine Tatsache erinnert, die schon C.V.-Apologeten wie Goldstein oder Stern wieder und wieder hervorkehrten: Dass es immer zwei Deutschlands gegeben habe, eines von liberal-aufklärerischer, eines von nationalistischer Tradition.99 Im Juli 1929, als Goldsteins Erinnerungsbericht wenige Wochen nach seinem Tod erschien,100 war der Kampf gegen das andere, das barbarische Gesicht Deutschlands noch lange nicht entschieden. Die humanis97

CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 383 (Julius Goldstein: „Geistes Heimkehr"). Ein Rabbiner namens Gallinger wählt dafür ganz ähnliche Worte, hier allerdings, um sich gegen die Auswanderungsappelle der Zionisten zu wehren: „Während Buber den Zionisten als einen Menschen kennzeichnet, der immer .unterwegs' ist, sagen die deutschen Juden mit Cohen: ,Wir sind daheim'." (CVZ 46, 15. November 1929, S. 616: „Gegen nationaljüdische Agitation. Eine Kundgebung im Herrenhaus in Berlin"). 98 CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 384 (J. Stern: „Nationalismus"). Vgl. dazu den Frontbrief des jüdischen Kriegsteilnehmers Hans Mosse vom 2. Mai 1915 an seine Eltern. Auf die Behauptung vom mangelnden Kriegsengagement deutscher Juden anspielend, freut er sich darüber, nun die Gelegenheit zu haben, „den inneren Feinden zu zeigen, dass sie Unrecht hatten", denn schließlich wäre es „doch auch schlimm, wenn wir unsere Klassiker vergeblich gelesen hätten" (Knegsbriefe gefallener deutscher Juden, 1961, S. 95). 99 Gay 1986, S. 41: „Man darf nie vergessen — und unter modernen Historikern ist es besonders George Mosse, der daran wieder und wieder erinnert hat - , dass es zwei Deutschlands gab und dass sie beide eine lange Vergangenheit hatten." Gays Äußerung hat nichts an Aktualität verloren. Noch durch die Proteste israelischer Abgeordneter gegen eine auf Deutsch gehaltene Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler 2005 in der Knesset hatte sich der Schinui-Parteiführer und Shoa-Überlebender Josef Lapid genötigt gefühlt, daran zu erinnern, dass Deutsch nicht nur die Sprache von Hitler, Goebbels und Eichmann, sondern auch von Goethe, Schiller und Heine gewesen sei (Kölner Stadt-Anzeiger Nr. 28, 3. Februar 2005, S. 3, Gemma Pörzgen: „Richtiger Ton, bewegende Worte. Der Bundespräsident gewinnt mit seiner Rede vor der Knesset die Achtung der Abgeordneten"). 100 Julius Goldstein, geistig herausragender Repräsentant des liberalen Judentums, war am 25. Juni 1929 in Dortmund gestorben. In den zahlreichen Würdigungen in CVZ wird unter anderem seine „sprachliche Begabung" hervorgehoben. Seine in Deutschtum und im Judentum wurzelnde Redekraft stellt Julie Meyer in eine Linie mit derjenigen Fichtes und Rathenaus (CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 80, Julie Meyer: „Meister des Worts"). Vgl. die ganze Artikelreihe zu Goldstein, S. 377-380.

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tisch-kosmopolitische Dimension in den Werken der von Goldstein gepriesenen Dichter und Denker sollte einen neuen „Enthusiasmus des Geistes" entfalten, dem das rassistisch-nationalistische Deutschlandbild der völkischen Antisemiten vom Schlage Chamberlains nicht werde standhalten können: Darum gleiten jetzt meine Blicke voll neuer Hoffnung an diesen Kostbarkeiten deutschen Geistes endang: was -wir mit altem, verbrauchtem Wort als „Revolution" bezeichnen, das birgt die Möglichkeit zu einem anderen, edleren Deutschland, das eure Gedanken zu neuem Leben und Segen zu erwecken vermag. Ich schütde den Staub von euch ab, ihr Werke — ich hebe euch zum Lichte empor: ich habe die Rückkehr zur deutschen Heimat gefunden. 101

Sicherlich, Goldsteins Erinnerungsbericht ist nicht frei von Stilisierung, doch rückt er nichtsdestotrotz einen zentralen Aspekt des liberaljüdischen Identitätskonzepts in den Fokus: Die Schrecken und Enttäuschungen des Ersten Weltkrieges haben das Vertrauen der C.V.-Juden in die deutschjüdische Synthese nur erschüttern, nicht aber in seinen Grundfesten einstürzen lassen können. Letzten Endes tritt es sogar, die „Klassiker" fest im Blick, gefestigt aus den politischen Trümmern hervor. So heißt es in der IdR-„Zeitschau" Ende 1920: Wir Juden, die wir deutsche Juden sind, sind in größerem Maße so, daß wir unsere Seelenanalyse nicht mehr geben können, weil wir nicht wissen, daß in uns ein komplizierter Prozeß sich vollzogen hat. Das aber i s t e s : D e u t s c h t u m und J u d e n t u m ; die E r k e n n t n i s des einen, das B e k e n n t n i s zum andern, haben sich in uns, aus getrennten Gründen fließend, zu einer E i n h e i t des F ü h 1 e η s, zu einer E i n h e i t des B e w u ß t s e i n s verschmolzen. 102

Verschmelzung bedeutet hier Symbiose der Unterschiede. Jude in Deutschland sein heißt, die Treue zu zwei Gesetzmäßigkeiten — nämlich nationale „Erkenntnis" und religiöses „Bekenntnis" — über einen so langen Zeitraum in sich aufgenommen zu haben, dass schließlich kein Widerspruch zwischen beidem mehr sichtbar ist.103 Das Judentum wird nicht

101 CVZ 29,19. Juli 1929, S. 383 (Julius Goldstein: „Geistes Heimkehr"). 102 IdR 26, Heft 12, Dezember 1920, S. 375 („K.A.", „Zeitschau). 103 IdR 1, Heft 1, Juli 1895, S. 10 (Karl Emil Franzoß, „Familiengeschichten"). Die biografischen Hinweise von Karl Emil Franzoß - des Autors der Ostjuden-Erzählung „Der Pojaz" — fügt „Im deutschen Reich" bei, um die Genese dieses Vereinigungsprozesses an einer Person exemplifizieren zu können: „Früh wurde dem Dichter vom Vater eingeprägt, dass er ein Deutscher und jüdischen Glaubens sei. .Nachdem mich mein Vater allabendlich [...] eine Stunde im Deutschen unterrichtete, sprach er mir bald von den deutschen Befreiungskriegen, bald von den Kämpfen der Makkabäer, von Hermann dem Cherusker und den jüdischen Märtyrern zu Worms. So wuchsen mir Deutschthum und Judentum thatsächlich zu einer Einheit zusammen.'"

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mehr als staatenlose religiöse Volksgemeinschaft aufgefasst, die in einem fremden Land leben muss, sondern als Religionsgemeinschaft, die in genau diesem (deutschen) Staat leben will, weil sie national denkt und fühlt. Da eine Nation „keine Tierrasse, keine Viehkoppel, sondern [...] ein geistigsittliches Element"104 ist, erhält die Bewusstseinsleistung ein überragendes Gewicht. Doch ist, wie noch zu zeigen sein wird, der jüdische Wille zur deutschen Nation keineswegs ein Willensakt im eigentlichen Sinne des Wortes. Er stellt zwar eine immer wieder aufs Neue zu bekräftigende Handlungsgröße dar, erweist sich aber letztlich als Faktizität, die keine Existenzialität, das heißt Seinsmöglichkeit in dem Sinne impliziert, dass der Einzelne sich entscheiden könne, so oder nicht so zu sein, deutsch oder auch nicht deutsch, jüdisch oder auch nicht jüdisch. Das damit einhergehende Paradoxon liegt in der genannten Untrennbarkeit der deutsch-jüdischen Synthese begründet. Beide Konstituenten seien „bis zur chemischen Unlösbarkeit der Elemente verschmolzen".105 Die „Seelenanalyse" spricht von einer Einheit, bei der nicht mehr zwischen „deutsch" und „jüdisch" (im Sinne von „israelitisch", dem untergegangenen Reich Israel zugehörig) unterschieden wird. Ab einem bestimmten Stadium ist man - zwangsläufig und unumkehrbar, gleichsam schicksalhaft — deutsch und jüdisch, statt jüdisch zu sein, obwohl man deutsch ist. Psychologisch lässt sich Identität als die als „Selbst" erlebte innere Einheit einer Person verstehen.106 Im sozialen Kontext war die Einheit in der „deutsch-jüdischen Synthese" — als ein „Akt sozialer Konstruktion"107 — für die liberale deutsche Judenheit demnach identitätsstiftend. Die C.V.Publizisten bemühten eingängige Vergleiche, um dies zu demonstrieren. „Wie uns Mutter und Vater etwas Selbstverständliches sind", schreibt 104 CVZ 27, 3. Juli 1925, S. 476 („Die deutschen Juden im Nationalstaat. Ein Vortrag von Professor Hugo Preuß"). 105 CVZ 31/32, 5. August 1927, S. 433 (Sonderthema: „Unsere Mitarbeit an der deutschen Kultur", Alfred Wiener: „Zur Einführung"). 106 Vgl. ζ. B. Dorsch. Psychologisches Wörterbuch, 1994, S. 340: „Identität, Selbigkeit. Die Einheit und letztinnige Unveränderlichkeit eines .Selben' in seinem Selbstsein." Vgl. Lexikon der Psychologie, Bd. 2., 1988, S. 980: „Im Identitätserleben wird die Gleichheit von [...] Bewußtseinsinhalten im Zeitverlauf konstatiert oder das Selbst des Subjekts in seiner Kontinuität erfaßt." 107 Lexikon der Psychologie in fünf Bänden, Bd. 2, 2001, S. 244: „Identität ist ein Akt socialer Konstruktion·. Die eigene Person oder eine andere Person wird in einem Bedeutungsnetz erfaßt." Identität verweise „auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit" und suche einen Kompromiss zwischen dem einzigartig Individuellen und dem gesellschaftlich Akzeptablen. Gerade der hier beschriebene Doppelcharakter von Identität vermag den zweifachen Konnex der Synthese - Bindung an die deutsche Gesellschaft einerseits, Bewahrung der jüdischen Religiosität andererseits - treffend zu erklären.

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Emst Holzer im Mai 1929, so seien eben auch das Deutschsein „nach Kultur und Nationalität" und das Jüdischsein „nach Stamm und Religion" als feste Größen der Selbstbestimmung anzusehen.108 Das zentrale Moment für die jüdische Komponente war von jeher die Religiosität als Glaube an den göttlichen Gesetzen gewesen. Das zentrale Moment für die Integration in die deutsche Gesellschaft wiederum bildete die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur und darin vor allem die neuhochdeutsche Sprachkompetenz. Nur in diesem Sinne schien „Assimilation" legitim.109 Gezeigt worden war, dass die antisemitische Hauptagitation die Sprache von der Rasse determinieren und dependieren ließ, wobei die voluntaristischen Merkmale des Nationenbegriffs ausgeschaltet wurden. Sprache wurde von einem primären zu einem peripheren Phänomen, von einer conditio humana zu einem genus proximum degradiert. Dies war und blieb die Grundlage für das Stigma des minderwertigen Umgangs der Juden mit Sprache. Die sprachspezifischen Apologien der C.V.-Juden mussten demnach genau hier ansetzen und den anti-antisemitischen Wall verstärken. Konnte der Angriff an dieser Stelle abgewehrt werden, dann würde, so schien es, auch die Hinfälligkeit aller weiteren Attacken erwiesen sein. Mit dem immer wieder kolportierten und von Walther Rathenau präzisierten Grundsatz, dass neben geschichtlichen Prozessen und religiösen Uberzeugungen vor allem die jeweiligen Sprachen und Kulturen „hoch über den physiologischen Dingen der Blutmischung schweben und sie ausgleichen"110, waren die Fronten abgesteckt. Man durfte nicht zulassen, dass die Sprache immer dann zu einem Büttel der Rasse herabgewürdigt wurde, wenn es um das deutsch-jüdische Verhältnis ging. Zur schärfsten Waffe ihrer Verteidigung wählten die C.V.-Juden den mentalitätsgeschichtlich aufgeladenen, hoch bedeutsamen Topos der Muttersprache als Organis108 CVZ 5, Beilage, 17. Mai 1929, S. 16 (Ernst Heilbrunn: „Gedanken um die .Deutschjüdische Einstellung'"). 109 Ludwig Geiger (1848-1919), Historiker, Goethe-Forscher und Mitherausgeber der liberalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums", kleidet das, worunter er positive „Assimilation" versteht, in die Worte: „Die Assimilation ist uns ein resdoses Aufgehen in dem Deutschtum, wenn man darunter Nationalität, Sprache, Kultureigentümlichkeit versteht; kein restloses, wenn man darunter den Glauben versteht. Wir sind Deutsche unserer Gesinnung, Gesittung, Sprache nach, wir bleiben Juden, ohne dass wir aufhören, Deutsche zu sein" (AZJ, Heft 41, 10. Oktober 1913, S. 484f., Ludwig Geiger: „Die Assimilation der Juden"). 110 Walther Rathenau am 23. Januar 1916 an Wilhelm Schwaner (Rathenau, Briefe, Bd. I: 1883-1912, S. 203f.). Rathenau wehrt sich in dem Schreiben auf überaus höfliche Weise gegen Schwaners Diktum, das „unedlere [jüdische] Blut" habe in Deutschland „kein unbedingtes, unerschütterliches Heimatrecht". In der „C.V.-Zeitung" ist diese „Überzeugung" des Weimarer Außenministers im Gedenken an seine Ermordung wortwörtlich zitiert (CVZ 47, 23. November 1928, S. 663, Hans Lazarus: „Harry Graf Kessler: ,Walther Rathenau. Sein Leben und Werk'").

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mus und als Organ ihres nationalen Denkens und Fühlens. Diese Denkfigur verfügte über eine lange und wirkmächtige Tradition, die gegen das Rassenkonstrukt ins Feld geführt werden konnte. Sie ist im Folgenden kurz zu erläutern. 5.1.1. Ursprung und Genese der deutschen Muttersprachenideologie Für die Nationalitätsdebatte des 19. Jahrhunderts war die Diskussion um die von Jean Paul präzisierte „Mutter-Sprache [...] welche noch richtiger die Sprach-Mutter hieße", von ganz enormer Bedeutung.111 Der Sprachpfleger Adelung hatte bereits 1782 souffliert, wie diese schillernde Denkfigur zu definieren sei: Als „Muttersprache eines jeden, der von diesem Volke ist".112 Campes Definition in seinem Wörterbuch von 1809 fokussierte auf Wortgeschichte und Spracherwerb, aber auch auf die sozusagen ,nationale Semantik' des Begriffs, indem er die Sprache, „welche man von seiner Mutter erlernt hat", zugleich an das „Mutterland" koppelte.113 Herder, der den Konnex von Nation und Sprache in zahlreichen Schriften festgezurrt hatte, pochte darauf, dass die Kohärenz von Sprache, Bewusstsein und Gefühlswelt jeder gelehrigen, gleichsam metaphysischen Bildung vorgeschaltet sei. Als Ursprung aller Geistessphären rückte das emotional besetzte Kompositum passgenau ins Bild. Nachdem Herder schon früh der imaginierten Nation den Körper „Mutter Vaterland" verliehen hatte,114 band er die Sprache an eben diese Inkorporierung. In geradezu hymnischen Anaphern preist er die Wirkkraft der eigenen Muttersprache: Wir sind Menschen, ehe wir Weltweisen werden: wir haben also schon Denkart und Sprache, ehe wir uns der Philosophie nähern, und beide müssen also zum Grunde liegen, die Sprache des Verstandes, der Vernunft, die Denkart des Lebens, der Spekulation. Und wie viel liegt damit zum Grunde? Muttersprache, der ganze Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen — Muttersprache, die ganze

111 Ahlzweig hat den Gang nachgezeichnet, in dessen Verlauf die „Denkfigur .Muttersprache - Sprache aller Deutschen - Sprache der Mutter - Naturgesetzlichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Nation'" ins Sprachbewusstsein des national gesinnten Bürgertums gelangte (Ahlzweig 1989, S. 43). Teilweise mündete dieser Prozess in eine nationalistische Verabsolutierung der Sprache. 112 Johann Christian Adelung und Jean Paul zit. n. Ahlzweig 1989, S. 41. 113 Zit. n. ebd., S. 174. 114 So 1770 in dem Gedicht „An den Genius Von Deutschland": „Bist mehr Weiberlieb' und Mann- und Vaterherz/und Brudertreu' und Freundesschmerz/bist Kind- und Weib- und Mutterschall/und Freundeskreis! bist wie ein All/der Erderuhms- und Tugendnamen/und großer Mutter Menschlichkeit/der erstgebohrne Saamen/und Erdeseligkeit,/die Höchste! Vaterland!" (zit. n. Herrmann 1998, S. 110)

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept Welt von Känntnissen, die nicht gelehrte Känntnisse sind - Muttersprache, das Feld, auf welchem alle Schriften des guten Verstandes hervor wuchsen — was ist sie also für eine Menge von Ideen! 115

Herder trieb die Analogie zwischen Primärspracherwerb und Kindheit auf die Spitze. So wie das unmündige Kind „schwach und unwissend an den Brüsten seiner Mutter, an den Knien seines Vaters" hänge, um deren Verstandes- wie Gefühlswelt zu erlernen, so nennt es die sprachliche Manifestation dieser Sphären eines Tages „Vater- oder Muttersprache". Diese Eindrücke sind unauslöschlich. Bis zum Tod werden sie in jedem Einzelnen „leben und würken."116 Neben solch sprachphilosophische Implementierungen traten im 19. Jahrhundert historische Entwicklungen wie die verstärkte Kompensation der fehlenden deutschen Einheit durch das vorzüglich vom Bürgertum getragene Konzept der sprachbestimmten Kulturnation. Indem das Bürgertum seine Selbstbestätigung und nationale Zielsetzung zunehmend an die Sprache koppelte, „entwickelte sich die Muttersprachenideologie zu einer der bedeutendsten weltanschaulichen Triebkräfte im 19. Jahrhundert".117 Organisationen wie der „Allgemeine Deutsche Sprachverein", mit dem Ziel einer Sprachnormierung gegründet, sind ein Ergebnis dieser Entwicklung. In seiner Zeitschrift hatten sich Artikel zum Thema Muttersprache derart gehäuft, dass er — mit verspätetem Gespür für den Effekt programmatischer Titel — sein Organ 1925 in „Muttersprache" umbenannte.118 Unter denen, welche die Muttersprache von allen vermeintlichen oder tatsächlichen Fremdwörtern „reinigen" wollten, fanden sich auch deutsche Juden. Der vielleicht prominenteste unter ihnen, Eduard Engel, förderte mit seinen „Verdeutschungswörterbüchern" eine puristische Muttersprachenideologie.119 Mehr und mehr rückte so die Denkfigur der Muttersprache ins Zentrum der Sprachwissenschaft. Wie präsent das Ideal der durch die Muttersprache geeinten deutschen Kulturnation im Denken der Zeitgenossen selbst lange nach der politischen Einigung 1871 geblieben war, beweist Ernst Kieseritzkys Band „Die Schönheit der Muttersprache" von 1926. Angesichts der gewaltigen Gebietsverluste nach der Kriegsniederlage beschwört Kieseritzky die einigende Kraft der Muttersprache jenseits aller Grenzen:

115 116 117 118

Herder, Über die neuere Deutsche Literatur.; 1768, S. 98. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772, S. 116f. Winde 2001, S. 33. Von 1923 bis 1924 hatte das Organ den nüchternen Titel „Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins" getragen. Den neuen Gesamttitel „Muttersprache. Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins" behielt die Zeitschrift bis 1939 bei. 119 Engel, Sprich Deutsch, 1917; ders., Entwebchung, 1918.

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Die Liebe zur Muttersprache [...] was ist sie uns Deutschen? Nun, kann sie uns etwas anderes sein, als die Landesmutter? Wir vermögen nicht ihrer zu gedenken, ohne uns zu erinnern, daß sie es ist, welche die Deutschen zu einem Volke eint, sie allein. [...] Wir dachten wohl, die napoleonische Politik wäre eine Erinnerung, in der wir uns alle zusammenfinden, aber nun sehen wir, daß sie für weite Kreise unseres Volkes überhaupt weder Erlebnis noch Erfahrung war, und daß wir sie noch einmal durchmachen müssen, als ob sie etwas Neues wäre. Die Muttersprache ist wirklich unser einziges Band.120

Mochte Kieseritzky noch ein eher unbekannter Publizist sein, so erreichte die Muttersprachenideologie renommierterer Sprachwissenschaftler ein breiteres Publikum. Einer von ihnen, der Keltologe Leo Weisgerber, sorgte durch Werke mit Titeln wie „Muttersprache und Geistesbildung" von 1929 dafür, die Auffassung von Sprache als einer geistigen Anverwandlung von Welt im Mentalitätsbewusstsein des 20. Jahrhunderts wach zu halten.121 Ehe Weisgerber mehr und mehr in nationalistischchauvinistische Fahrwasser abdriftete und den Einzelnen „vor seiner Sprache" durch „das blutmäßige Erbgut" bestimmt wissen wollte122, standen seine Untersuchungen noch relativ fest auf dem Boden von Humboldts Deutung der Sprache als Organismus, dem eine eigenständige und letztlich unbestimmbare Dynamik innewohnt.123 Weisgerbers Vereinnahmung der energeia als Definiens für die „Daseinsform einer Muttersprache"124 war recht eigenwillig, da Humboldt die Denkfigur „Muttersprache" im Unterschied zu Herder eher vermieden hatte. Der Terminus barg die Gefahr, Sprache immer nur als Sprache eines bestimmten Volkes zu sehen und darüber die Lebendigkeit in jedem einzelnen Sprechakt und die Universalität der Sprache aus den Augen zu verlieren.125 Dennoch glaubten viele Sprachwissenschaftler, dass die metaphorische Kontextur der Sprache als einer schöpferischen mater linguae die drängenden Fragen nach Voraussetzung und Ursprung der menschlichen Geisteswelten eindringlicher beantworten könne. Sprache ist demnach wirkende Kraft („Emanation") nicht nur des individuellen, sondern auch - als Totalität des Sprechens - des nationalen Geistes: als Sprachfähigkeit in der Menschheit, als Muttersprache in der Sprachgemeinschaft und als 120 Kieseritzky, Die Schönheit unserer Muttersprache, 1926, S. 379f. [Kursive: Α. K.]. 121 Weisgerber, Muttersprache und Geistesbildung, 1929. Der anerkannte Sprachwissenschaftler passte sich schließlich 1939 mit dem Werk „Die volkhaften Kräfte der Muttersprache" der nationalistisch-rassischen Leitlinie an und unterwarf seine Muttersprachenideologie einer „germanischen Sehweise" (vgl. dazu Ahlzweig 1989, S. 50). 122 Vgl. G. Simon 1979, S. 160-162. 123 Vgl. zu Weisgerbers Humboldt-Rezeption und Neudeutung: Ivo 1994, S. 92-149. 124 Weisgerber 1971, S. 153. 125 Vgl. dazu: Borsche 1981, S. 68f.

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Sprachtätigkeit im Einzelleben. Dieser Dreifachdefinition lag ein Denkmodell zu Grunde, das die Sprache personalisierte und verlebendigte. 1922 übertitelte Wilhelm Oppermann seine „Einführung in das Verständnis deutscher Sprache und Art" bezeichnenderweise mit: „Aus dem Leben unsrer Muttersprache", die er eigens als „lebendiges Gebilde" bestimmte. Das Büchlein (Leipzig 1922) war offenbar so erfolgreich, dass es 1928 eine Neuauflage erfuhr. Mühelos ließen sich weitere Beispiele dafür finden, wie präsent das metaphorische Kompositum Muttersprache auch im Denken einer Gesellschaft gewesen sein muss, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vom Glauben an die Allmacht der Naturwissenschaften durchdrungen schien. Dass die Muttersprachenideologie mit naüonaHstisch-chauvinistischem und rassistischem Gedankengut unterminiert werden konnte, was zu einer Verschränkung von Rassen- und Sprachklassifikation führte, ist bekannt und materialreich untersucht worden.126 Doch spielt die obskure Liaison von Sprache und Rasse weder eine überragende Rolle im völkischen Antisemitismus eines Theodor Fritsch noch schien sie den Nationalsozialisten als primäre Antwort auf die Judenfrage geeignet.127 Weil eine derartige Partnerschaft' erst künstlich geschaffen und gegen die viel ältere und gesellschaftlich stärker etablierte Zweisamkeit von Sprache und Nation behauptet werden musste, weil sie zweitens die Deutung ermöglichte, beide ,Partner' als gleichberechtigt auszulegen, hatte sich im völkischen Weltbild die Sprache der Rasse letztlich unterzuordnen. Die Subordination ersetzte hier die Konnexion. Der anti-antisemitischen Gegenseite wiederum fiel es leichter, sich mit einer Muttersprachenideologie zu identifizieren, die im Anschluss an Herder und Humboldt den Weltbildcharakter jeder Sprache bekräftigt und die unauflösliche Verbundenheit von Primärsprache und Nationalsprache postuliert hatte. Bereits 1880 hatte der deutsch-jüdische HumboldtForscher Heymann Steinthal gefordert, „die Liebe zur Muttersprache frei von jeder törichten National-Eitelkeit" zu halten, denn sie hindere nicht, „die Vorzüge jeder fremden Sprache anzuerkennen und sich daran zu er-

126 R. Römer 1985. 127 Der Versuch des Deutschen Sprachvereins etwa, nach 1933 den Part der „SA der Muttersprache" zu übernehmen und sich zum Gralshüter einer rassischen Sprachideologie aufzuschwingen, wurde von den Nationalsozialisten skeptisch beäugt. Als der traditionell fremdwortpuristische Sprachverein sogar die Vorliebe der Nationalsozialisten für propagandistischen Fremdwortgebrauch zu kritisieren wagte, folgten die gesellschaftspolitische Isolierung und - nach einer Rüge von Goebbels und einer Direktive Hitlers - die faktische Entmachtung des Vereins (vgl. Stukenbrock 2005, S. 325f.).

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freuen".128 Es liegt nahe, diese positiv intendierte Wechselseitigkeit von Selbst- und Fremdbezug129 im Anschluss an Humboldts Objektivationstheorem zu sehen, demzufolge die Selbst-Perspektive auf die Welt durch Fremdsprachenerwerb aus dem Kreis der bloßen Subjektivität heraustritt. So brach auch der Romanist Karl Vossler 1925 eine Lanze für „Zwei- und Mehrsprachigkeit", für linguale Toleranz und Verständigung. Jeder Nationaldünkel gegenüber einer nachbarlichen Muttersprache sei ganz und gar unangebracht, denn: Meines Nachbarn Muttersprache ist ja sein inneres Auge, seine Denkform mit all ihren Möglichkeiten von Weltansichten, seine geistige Kindheit und Zukunft. Jedem, der dies verstanden hat, müssen alle Gewaltmaßregeln gegen die Sprache einer Nation als ein Vergehen am keimenden Leben ihres Geistes gelten. 130

Vossler hätte, wiewohl er sich hier nicht auf sie bezog, den deutschen Juden damit aus der Seele sprechen können. Die antisemitischen „Gewaltmaßregeln" gegen ihre Sprachauffassung betrachteten sie als „Vergehen" an der Nation, der sie angehörten. 5.1.2. Die Implementierung der Muttersprachenideologie im Centraiverein Die Denkfigur der Mutter-Sprache schien gleich vier wichtige Voraussetzungen zu erfüllen, um für eine herausragende Rolle in der Apologie der C.V.-Juden prädestiniert zu sein: Erstens war sie, soweit nicht elitärchauvinistisch, sondern egalitär-universalistisch ausgerichtet, mit der Erinnerungskultur von Humanismus, Aufklärung und Liberalismus kompatibel, da die Liebe zur Muttersprache eine Achtung vor den Sprachen anderer Nationen keineswegs ausschloss; zweitens konnte sie weitgehend bruchlos in der Traditionslinie der jüdischen Haskala stehen, in der die umgangssprachliche Präferenz der jiddischen „Mame-Loschn" (MutterSprache) von der „reinen deutschen Mundart" (Moses Mendelssohn) abgelöst worden war; drittens griff sie das bürgerliche Konzept von der sprachbestimmten Kulturnation auf, das die deutschen Juden als Chance für die Gleichberechtigung gedeutet hatten; und viertens stemmte sie dem so übermächtig wirkenden Konstrukt der rassischen Determination aller

128 Steinthal, Von der Liebe %ur Muttersprache, 1867, S. 105. 129 Ebd., S. 99: „Das Fremde ehren und lieben und dabei das Eigene bewahren und bereichern: das ist die Stimmung, in welcher die Liebe zur Muttersprache erwächst." 130 Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, 1925, S. Höf.

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Lebens- und Sprachwelten ein anderes, eben nicht rassentheoretisches Paradigma entgegen. Die Muttersprache war ein Organismus, aber keiner, dessen Blutzusammensetzung zu bestimmen war. Und: Sie war jedem zugänglich, der sie als Primärsprache erlernt, erfahren, erwählt hatte. Damit bot sie eine ganz konkrete Alternative zu der seit dem 19. Jahrhundert immer virulenter werdenden Rassendoktrin. Nach der Überzeugung von Julius Goldstein etwa durfte man es den Völkischen nicht durchgehen lassen, dass sie den Spracherwerb zu einer austauschbaren Aneignungsfahigkeit, einer bloßen techne deklassierten. Die Muttersprache sei für die deutschen Juden eben keinesfalls eine Technik sprachlicher Ausdrucksform, sondern ein beglückender Wert, die Verleiblichung unserer Gedanken und Gefühle, ein anvertrautes Erbgut, das zu hüten und zu mehren auch dem begnadeten Menschen unseres Stammes hohe Pflicht ist. Die gleiche Muttersprache, die Deutsch-Völkische genau so erlernen müssen wie •wir [...] in dem köstlichen Reichtum ihrer heimatlichen Dialekte bedeutet ja nicht, eine mehr oder minder große Anzahl von Wörtern gemeinsam haben: Das Einigende und Innigende der Muttersprache lebt in dem, was jenseits des bloßen Wortes an Sinnbedeutungen mitschwingt, lebt in dem Schatz gemeinsamer Erlebnisse, die das Wort wie ein geheimnisvoller Zauber umwittern. 131

Zur Affirmation der Muttersprachenideologie nutzt Goldstein Vokabeln, die auch die Völkischen im Munde führen, legt ihnen aber keine rassische Bedeutung unter. Nicht die diachrone, sondern die synchrone Dimension der Sprache als eines „Erbguts" ist entscheidend für das überaus enge Verhältnis des einzelnen zu seiner Muttersprache. Über den bloßen, tatsächlich schnell erlernbaren Zeichencharakter hinaus langt der in der Sprache vermittelte gemeinsame Erfahrungsschatz als das, was jeder mit den Zeichen verbindet. Erst ihre Geschichtlichkeit in Ansehung von Individuum und Sprachgemeinschaft lässt die Muttersprache zu einer „Verleiblichung unserer Gedanken und Gefühle" werden. Nichts könne die deutschen Juden vom Körper dieser Mutter reißen. Bis zuletzt sollte der C.V. an dieser Argumentation festhalten. In einer C.V.-Schrift um 1933, welche die weit reichende historische Verwurzelung der deutschen Juden mit ihrer Heimat zu untermauern sucht und den programmatischen Titel „Wir deutschen Juden 321-1932" trägt, legen die Verfasser unter anderem ihre Einstellung zur Sprache dar. Das zweiseitige Kapitel ist überschrieben mit „Muttersprache, Mutter-

131 Der Morgen, Heft 5, Dezember 1926, S. 472 (Julius Goldstein: „Völkischer Antisemitismus. V. Irrtümer der Völkischen)."

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laut".132 Die Frage, wie viel an angeborenen Strukturen dem Spracherwerb des Kindes voraus gehen, ist für die C.V.-Publizisten kein nennenswertes Problem. Die Sprachfähigkeit ist in erster Linie Produkt der individuellen Entwicklung des Menschen. Das Kind begreift anhand der mütterlichen Laute Schritt für Schritt die Wirksamkeit eines ihnen zugrunde liegenden Systems. Doch bleibt Sprache stets ein Phänomen, das weit mehr bedeutet als ein — ähnlich den Tierlauten — aus einer „Gebärdensprache" weiterentwickeltes, durch Nachahmung erlerntes Tonsystem, eben weil sie nicht nur erlernt und angewandt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes erlebt, mit Leben gefüllt wird. Immer schließt sprachliches Handeln die prinzipielle Unvorhersehbarkeit des je eigenen Fühlens und Denkens genauso mit ein wie die weitgehende Autonomie der Sprache selbst. Die Mutterlaute werden vom Kind gefühlt und erkannt als Sprache der Mutter, als Muttersprache, bis endlich Denken und Empfinden mit ihr aufs engste verbunden sind. Das alles verlieh dem Centraiverein eine plausible Argumentationsbasis. Untrennbar sei das deutsche Judentum allein deshalb mit der deutschen Sprache verbunden, weil die „Mutter" das deutsch-jüdische Kind schon am Kinderbett „mit deutschen Liedern in den Schlaf gesungen"133 habe. Sprache als kulturelle Identitätsgröße und -leistung wird mittels des Determinativkompositums als Phänomen identifiziert, das aus dem Prozess einer individuellen emotionalen Bindung hervorgegangen ist. Von der Muttersprache als Ausdruck des eigenen Selbst zur Muttersprache als Gegenstand der emotionalen Wir-Verbundenheit ist es dann nur noch ein weiterer Schritt, da Sprache nicht nur Mittel zum Ausdruck von Identität, sondern gleichzeitig auch ein Zweck dieser Identität in Abgrenzung zu anderen ist. Der Terminus meint demnach weit mehr als die in der Kindheit erlernte Primärsprache. Vielmehr ist damit das sprachliche Zusammengehörigkeitsgefühl ganz verschiedener Individuen als eine soziale Kompetenz-

132 Centraiverein, Wir deutschen Juden, [1933], S. 6 f . Die Schrift übernimmt wesentliche Teile aus MCVZ Januar/März 1932, S. 11: „In deutscher Sprache und Kultur." 133 IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 71 (Alphonse Levy, „Umschau"). 24 Jahre später hat sich nichts an dieser emotionalen Bindung geändert, im Gegenteil: Sie wird umso stärker betont, desto präsenter der Antisemitismus in der Gesellschaft erscheint. Julius Goldstein beschwört 1924 im „Morgen" in einem überaus scharfsichtigen Aufsatz über den völkischen Antisemitismus vehement die Muttersprachenideologie.' „Wir sprechen und schreiben die Sprache des deutschen Volkes, nicht als eine nachträglich erlernte, sondern als unsre Muttersprache. Das deutsche Wiegenlied sang uns in den Schlaf, das deutsche Dichterwort verklärte die Träume unsrer Jugend und die Enttäuschungen unsres Mannesalters; das deutsche Schrifttum kündet auch unsere Namen" (Der Morgen, Heft 5, Dezember 1926, S. 466, Julius Goldstein: „Völkischer Antisemitismus: V. Irrtümer der Völkischen").

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leistung intendiert.134 Das Syntagma Sprache der Mutter wird zum Kompositum Mutter-Sprache, indem die Bedeutung aus der Ebene des bloßen Spracherwerbs in die Sphäre nationaler Bedeutsamkeit gehoben wird. Die Nation kommt ins Spiel. Moritz Lazarus' Beschwörungsformel „Wir sind Deutsche, nichts als Deutsche", ganze 13 Jahre vor der Gründung des Centraivereins geschrieben, wird bekräftigt durch das Argument, dass Muttersprache und Vaterland „deutsch" sind und Bewusstsein wie Seele des deutsch sprechenden und in Deutschland lebenden Juden nicht nur beeinflussen, sondern überhaupt erst ins Leben rufen: „...beide Erzeuger unseres Innern".135 Lazarus steigert, den Sprachaspekt nur scheinbar verlassend, die Metapher ins Polymorphe: Ahnlich unsinnig wie der Gedanke, dass eine Mutter nach der Geburt ihres Kindes zwangsläufig sterben müsse, sei die Behauptung, dass das Judentum mit der Existenz des Christentums seine Existenzberechtigung eingebüßt habe. Damit werden, spielt man Lazarus' Bildlichkeit konsequent durch, die deutschen Juden zu Kindern und Eltern zugleich: zu Erben der deutschen Muttersprache und des deutschen Vaterlandes einerseits, zu Schöpfern des Christentums andererseits. Die These von der Paria-Rolle des Judentums, mit der Moritz Goldstein 1912 in seinem berühmten Kunstwart-Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnaß" die Gemüter erregen sollte136, zeigt sich bei Moritz Lazarus 1880 als Glaube an eine kulturell-religiöse Doppelverantwortung. Während jedoch bei dem Zionisten Goldstein Zweifel aufkommen, ob die deutsch-jüdischen Siegelbewahrer Goethes und Kants auch zukünftig in der deutschen Sprache ihre Selbstgewissheit finden können, ist der liberale Jude Lazarus frei von jeder Skepsis in dieser Richtung. Wenn die deutsche Sprache in der Romantik „geradezu als der Geburtskanal der Nation" angesehen wurde,137 dann hatten die deutschen Juden ihr Schicksal mit eben diesem Geburtsweg am engsten verknüpft,

134 Coulmas 1985, S. 31. 135 Lazarus, Was heißt national?, 1880, S. 18f. 136 Goldsteins Aufsatz von 1912, erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift „Der Kunstwart" (Kunstwart 25, März 1912, S. 281-294, Moritz Goldstein: „Deutsch-jüdischer Parnaß"), spaltete die Gemüter. Die Zionisten bejubelten seine angebliche Assimilationsfeindlichkeit, die Antisemiten fühlten sich im Glauben an die gefährliche Überlegenheit des Judentums bestätigt. Neuerlich hat Jost Hermand kritisch angemerkt, dass die Goldstein-These von der Wissenschaft zum deutsch-jüdischen Verhältnis unreflektiert übernommen wurde. Der Kanon vieler Historiker damals wie heute, dass die Weimarer Republik in ihrer kulturellen Entfaltung hauptsächlich von jüdischen Kulturschaffenden geprägt worden sei, rechtfertige posthum ungewollt die antisemitische These von der „Verjudung" des Weimarer Kulturbetriebes. In Wirklichkeit sei der Anteil der jüdischen Kulturschaffenden proportional nicht höher gewesen als derjenige der nichtjüdischen (Hermand 1996, S. 137-156). 137 Bering 2002, S. 276.

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ja, verknüpfen müssen. Schließlich war ihnen, daran sei noch einmal erinnert, lange vor der nationalen Einigung die Beherrschung des Hochdeutschen explizit zur Voraussetzung für die staatsbürgerliche Gleichberechtigung gemacht worden.138 Es lag also nahe, das mentalitätsgeschichtlich aufgeladene Kompositum „Muttersprache" auf das Banner der sprachbestimmten Kulturnation zu schreiben. Unverhohlen spielt Werner Rosenberg in der Ausgabe der „C.V.-Zeitung" vom 7. März 1930 auf Ernst Moritz Arndts Gedicht „Was ist des Deutschen Vaterland?" und August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied an, wenn er von einer „Schicksalsgemeinschaft" im großdeutschen Sinne spricht, die von den Bergen Siebenbürgens bis zur Eider, von der Etsch bis an die Memel alles, was deutsch denkt, spricht und fühlt, umfasst. 139

Rosenberg begrüßt hier eine zunehmende „Solidarität" der deutschen Jugend für alle deutschsprachigen Minderheiten in den ehemaligen Reichsgebieten des Ostens. Seine Ausführungen sind deutlich nationalistisch gestimmt und erinnern an Fichtes Nationalideologie. Den Grundgedanken des Kulturnationskonzeptes greift Rosenberg auf, indem er prophezeit, dass die gemeinsame Muttersprache Deutsch die Nation auch jenseits staatlicher Grenzen zusammenhalten werde. Dadurch lässt sich eine deutsche Nationalität der polnischen, russischen oder sogar tschechischen Ostjuden, die pflichtgetreu auf solchen „Außenposten des Deutschtums" ausharrten, behaupten. Der Umstand, dass weite westjüdische Kreise die Ostjuden hauptsächlich als Konservatoren oder Pioniere deutscher Kulturmission wahrzunehmen bereit waren, wird uns bei der Analyse der liberal-jüdischen Einstellung zum Jiddischen noch näher beschäftigen. Jedenfalls erlebte das nie aufgegebene Ideal einer prinzipiell uniimitierten deutschen Sprachnation gerade nach der Kriegsniederlage auch in nichtjüdischen Kreisen eine Art Renaissance. Ganze Aufsatzsammlungen beschäftigten sich mit der Wirkung der Muttersprache im Ausland und dem „Kampf der „deutschen Sprachstämme"140. Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation, die länderübergreifend wirkt, wurde

138 Vgl. Kap. III. 2: Edikte, Einheit, Ernüchterung. 139 CVZ 10, 7. März 1930, S. 119 (Werner Rosenberg: „Volksbürger oder nationale Minderheit"). 140 Vgl. zum Beispiel das Heftchen „Muttersprache Mutterlaut. Aufsätze der Kölnischen Volkszeitung zum Kampf um die Muttersprache" (Kölnische Volkszeitung, Muttersprache Mutterlaut, 1926), in dem unter anderem vom „stolzen Bekenntnis der ganzen deutschen Kulturgemeinschaft auf ihre herrliche Sprache" (S. 11) die Rede ist und auch die entsprechende Berufung auf Herders Muttersprachenideologie nicht fehlen darf (S. 21 f.). Generell sei zu betonen „wie wenig politische Grenzen mit den kulturellen zusammenfallen" (S. 27).

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mehr und mehr zu einem zentralen Grundsatz der C.V.-Ideologie. Eine Passage aus einem in der Ausgabe vom 17. Dezember 1926 zitierten Aufsatz lässt es an Klarheit nicht fehlen, wenn es dort unter anderem heißt: Ich rechne [...] die Deutschen in der ganzen W e l t zur deutschen Nation, wie es die Engländer, Italiener, Franzosen usw. auch tun. Soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt", reicht die deutsche Nation. Für mich fallt also der Begriff Nation nicht mit V o l k und Staat zusammen, wir Deutschen haben ja immer das Schicksal gehabt, zu beträchtlichen Teilen außerhalb des deutschen Staats und Volks zu w o h n e n . 1 4 1

Die Konzessionen, die man hier an die Rassenideologie zu machen bereit ist, erscheinen marginal. Zwar könne zu den Merkmalen einer Nation auch das „Blut" gezählt werden, doch sei dies nicht „das Entscheidende"142. Es bleibt dabei: Seele und Sprache des Einzelnen und der Gemeinschaft behalten die Vorrangstellung. Ohne sie gibt es keine Nation: Die Sprache ist das Organ des Geistes der Nation. D u r c h die Muttersprache empfängt jeder ihr geistiges W e s e n und den Reichtum ihrer Geistesschätze. 1 4 3

Der Centraiverein konnte und wollte auf die reiche und wirkmächtige Traditionslinie der Muttersprachenideologie nicht verzichten. Beherzt griff er bürgerliche Sprachideale auf, solange sie sich für den apologetischen Kontext nutzen ließen. Herder wurde dezidiert als derjenige gerühmt, der die deutsche Judenheit auch mittels seiner Sprachphilosophie auf den Weg der Aufklärung geführt habe, denn „was an den Menschen ist, das verrät sich in ihrer Sprache"144. Überhaupt darf es in den C.V.-Organen insbesondere nach 1922 an Referenzen zu „Humanus Herder" nicht fehlen genauso wenig wie an Hinweisen auf die Bedeutung seiner Sprachphilosophie als Leitsystem für die Liebe zur eigenen Sprache und Dichtung gespart wird.145 Die Rekurse sind fast immer positiv, an Kritik fehlt es zu-

141 CVZ 51, 17. Dezember 1926, S. 664 („Was ist eine Nation ...?"). Die Redaktion zitiert hier Johannes Müller, den Herausgeber der „Grünen Blätter. Zeitschrift für persönliche und völkische Lebensfragen" [Kursive: Α. K.]. 142 Ebd. Wie überhaupt die liberalen Juden den Begriff der Rasse keineswegs per se ablehnten, solange die wissenschaftliche Objektivität gewahrt blieb (vgl. MCVZ Juni 1926, S. 46, G. F.: „Zwei Bücher zur ,Rassenfrage'"; Otto Feldmann: „Gedanken zur Rassenpsychologie"). Nur tauge der Rassebegriff eben nicht zur Abwertung einer Persönlichkeit oder ganzer Gruppen. 143 CVZ 51, 17. Dezember 1926, S. 664 („Was ist eine Nation ...?"). 144 CVZ 9, 4. März 1927, S. 1 1 6 (Robert Fritzsche: „Die .Christliche Welt' über den ,Morgen'"). 145 CVZ 22, 30. Mai 1930, S. 285-87 (Hugo Lachmanski: „Das heutige und das klassische Weimar"): „Humanus Herder"; CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 383 (Julius Goldstein: „Geistes Heimkehr"); CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 384 (J. Stern: „Nationalismus"). Auch in der für nichtjüdische Leser bestimmten Monatsausgabe der CVZ wird auf Herder verwiesen. Her-

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meist völlig. Fichte wird gegen völkische Vereinnahmungsversuche in Schutz genommen.146 Der „Rabbiner Dr. Baeck", mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit dem C.V.-Vorstandsmitglied und bedeutenden Repräsentanten der deutsch-jüdischen Synthese Leo Baeck identisch, legt in einem Artikel vom 18. Oktober 1931 Schritt für Schritt dar, wie eng sein Denken mit der humanistisch-idealistischen Sprachphilosophie verknüpft ist. Er braucht in seinem Aufsatz — bezeichnenderweise verfasst anlässlich eines Vortragsabends des Deutschen Sprachvereins zehn Tage zuvor — die Namen Herder und Humboldt gar nicht mehr zu erwähnen. Sie drängen sich dem Leser geradezu auf. Mit der These „Neues Denken ist neues Gestalten der Sprache" immer dann, wenn „Gefühle schöpferisch werden", ist Humboldts Äquivalenzschritt Sprache — Denke» zu seinem Recht verholfen.147 Und dem Standpunkt, nur das „Eigenste" Denken und Fühlen in der „eigenen Sprache" könne den Menschen den (lyrischen) Zauber einer Sprache erschließen lassen, sind Grundsätze inhärent, die sich an Herders Muttersprachenideologie und seinen so populären Volksliedsammlungen orientieren: Wer in entliehenen Worten, in Fremdworten davon sprechen wollte, der wollte in Fremdem davon reden, wovon nur Eigenes, nur Ich reden kann. Von dem, was im Eigensten unsagbar ist, kann der Mensch nur dichten. Und dichten kann er nur aus den Urgründen seines Ichs hervor, nur in der eigenen Sprache. [...] Wer die Gelegenheit findet, Völker und Länder zu beobachten, der wird immer eines erkennen:

ders, Fichtes, Lessings und Kants Philosophie der Humanität sei gegen den Rassenantisemitismus ins Feld zu führen (MCVZ Mai 1928, S. 55f., W. Kinkel: „Humanität!"). Die Treuebekenntnisse zu Herders (Sprach-)Philosophie beschränkten sich natürlich nicht auf die Periodika des Centraivereins. In der national-liberalen, zuerst von Ludwig Geiger edierten „Zeitschrift für die Geschichte des Judentums" beispielsweise wehrt sich Siegmund Feist dezidiert gegen den Versuch völkischer Kreise, Herders und Humboldts Überlegungen zur Sprache für ihre Zwecke zu missbrauchen. Beide hätten sich immer wieder gegen eine Übergewichtung von Abstammungskriterien ausgesprochen. An die Stelle des von ihnen verfochtenen Humanitätsideals sei — mit tatkräftiger Unterstützung von Populisten wie Chamberlain oder Günther - „ein überspannter Nationalismus" getreten, der die falsche Lehre „arischer" Sprachen biologisiert habe (ZGJD Heft 1, 1930, S. 42£, Siegmund Feist: „Zur Geschichte des ,Rassenantisemitismus in Deutschland'"). 146 Vgl. den Artikel in MCVZ September 1930, S. 57, mit dem viel sagenden Titel „Hitler und Fichte". Ein mit dem Kürzel F. F. zeichnender Schreiber wehrt sich dort gegen eine Vereinnahmung Fichtes durch Hider und seine Anhänger. Vgl. zu Fichte auch MCVZ Januar/ März 1932, S. 9 („Einiges zur Rassenfrage allgemein"), wo Fichtes Philosophie der Freiheit zur Stützung der menschlichen Würde herangezogen wird. 147 Vgl. zu Baecks Anlehnung an Humboldtsches Gedankengut: Mosse 1990, S. 176: „So war für Baeck [...] die Humboldtsche Bildung ein integraler Bestandteil des Judentums, jenseits aller politischen Überlegungen."

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept die Liebe zum Vaterland, die Ehrfurcht vor ihm ist bedingt durch die Liebe zu seiner Sprache.' 48

Indem die C.V.-Aktivisten die seit dem 14. Jahrhundert populäre und von Herder in ihrem Bekanntheitsgrad gesteigerte Denkfigur der lingua materna noch um das metaphorische Kompositum des Vater-Landes ergänzten, trieben sie den konsekutiven Zusammenhang von Sprache und Nation auf die Spitze. Die beiden Konstituenten ihrer Identität wurden so sprichwörtlich von ihnen ,verehelicht'.149 Die C.V.-Juden empfanden sich als Wunschkinder einer Verbindung, die ihrer Überzeugung nach mit der Blütephase der jüdischen Aufklärung begonnen hatte. Nicht nur habe Moses Mendelssohn „den deutschen Juden die deutsche Sprache erschlossen und sie so in den deutschen Kulturkreis eingeführt", sondern durch seine Verdienste um die Sprache „den Gedanken vom deutschen Vaterlande der Welt" gleich mitgeliefert, zitiert die „C.V.-Zeitung" aus Dessauer Festreden zum 200. Geburtstag des Philosophen.150 Durch ihn sei die „sprachliche Scheidewand" zwischen Juden und Nichtjuden niedergefallen, durch Mendelssohns Bibelübersetzung die „Liebe zur deutschen Muttersprache" geweckt und dadurch die Bindung ans deutsche Vaterland gefestigt worden.151 Je heftiger die Antisemiten auf ihr Rassedogma pochten, desto beharrlicher insistierten die C.V.-Juden auf diesen Mutter-Vater-Kontext von Sprache und Nation. Noch einmal sei auf die in der Einleitung zitierte Passage aus einer Predigt des langjährigen Rabbiners der Berliner Jüdischen Reformgemeinde, Felix Coblenz, verwiesen, dessen 1926 vom Philo-Verlag herausgegebenen Sammelband der Rezensent Karl Rosenthal überschwänglich preist. Coblenz habe in seinen Predigten den deutschen Juden die „Liebe zu deutscher Art" überliefert mit Worten wie: Wir lassen uns von denen nicht losreißen, deren Kultur die unsere ist, deren Sprache wir als unsere Muttersprache sprechen und deren Jammer und Not wir als un-

148 CVZ 42, 16. Oktober 1931, S. 494 („Rabbiner Dr. Baeck über die Sprache des Gottesgelehrten"). Ganz ähnlich hatte Herder Sammlung und Edition seiner „Deutschen Volkslieder" begründet: Wer den Wert und inneren Gehalt der eigenen Dichtung verachte, sei für das, „was Körper der Nation ist, unwert und unfühlbar geworden" (Herder, Volkslieder, 1774, S. 19). 149 Vgl. IdR 5, Heft 4, Aprü 1899, S. 211 (A. L. [Alphonse Levy]: „Umschau"). Vgl. zu diesem Kontext auch Eugen Fuchs, Die Zukunft der Juden, S. 20: „Wir aber sind deutsche Juden, für uns ist Deutschtum und Judentum Vater und Mutter [...] Ein kläglicher Geselle, der Vater und Mutter abwertet und sie nicht beide gleich liebt und ihnen gleiche Treue bewahrt" [Kursive: Α. K.]. 150 CVZ 37, 13. September 1929, S. 497 („Feiern um Mendelssohn"). 151 CVZ 35, 30. August 1929, S. 457 (Fritz Friedländer: „Der Reformator"). Der Beitrag ist eine von vielen Würdigungen in einer Festnummer zu Ehren Mendelssohns.

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ser persönliches Leid erleben. Der Boden, auf dem wir geboren und erzogen sind und in dem -wir einmal begraben sein wollen, ist der heilige Mutterboden unseres deutschen Vaterlandes. 152

Dies sei, so die Schriftleitung der Zeitschrift, das „heilige Vermächtnis" des Rabbiners. Nicht aufs Heilige Land der Väter, nicht also auf Ere^ Israel und nicht auf die biblische Sprache Hebräisch zielte alles Fühlen, Denken und Sehnen der C.V.-Juden, sondern allein auf Deutschland, dessen Sprache, Kultur und Boden zuweilen in beinahe sakrale Sphären entrückt zu sein schien. Die patriotisch gefärbte Muttersprachenideologie half über religiöse Traditionen hinweg, schärfer: sie ließ diese in einer Art Scheuklappenperspektive regelrecht vergessen. Nur so ist es überhaupt erklärlich, warum im offiziellen Organ des Centraivereins derartige Behauptungen in Druck gehen konnten, die eine weit über 300-jährige Kultur- und Glaubenstradition des Judentums in einer Weise umzudeuten wagten, die nicht nur orthodoxen Juden den Atem hätte rauben müssen. Die kein Pathos scheuende Personifikation der Sprache als Mutter wird ein ganz zentrales Leitbild in der Sprachbewertung des Deutschen durch den C.V. bleiben. Muttersprache, Mutterlaute, Mutterschoß, Mutterboden, Mutterland waren häufig gebrauchte Komposita, die ein gewaltiges Assoziationspotenzial bargen. Mit der zeittypischen Emphase betonen die C.V.Publizisten, dass Deutsch die Muttersprache und Deutschland das Vaterwie Heimatland ist153, und zwar seit mindestens 1800 Jahren 154 ; dass jede nationale Erziehung auf der kulturellen Grundlage der Muttersprache und dem staatlichen „Mutterboden" des deutschen Rechts ansetzen muss155; dass erst die „deutsche Heimaterde und die Laute der deutschen Muttersprache" Körper und Seele der Juden in Deutschland geformt hatten156; dass die schicksalhafte Verbundenheit der Juden mit Deutschland dem

152 C V Z 37, 8. September 1926, S. 479f. (Karl Rosenthal: „Erlebte Religion. Predigten, gehalten in der Synagoge der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, von Dr. Felix Coblenz").Vgl. die Einleitung der vorliegenden Studie, S. 1 und 5. 153 IdR 19, Heft 7, Juni 1913, S. 294 (Prof. Ludwig Graetz: „Zum 25-jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II."; Zitat aus einer Rede von Moritz Lazarus). 154 Vgl. IdR 28, Heft 1/2, Januar/Februar 1922, S. 2 (Landesrabbiner Dr. Rieger: „Im Kampf um unser Vaterland"). Die Deutschsprachigkeit der Juden könne, so Paul Rieger in C V Z 9, 27. Februar 1931, S. 96f. („Wir sind Deutsche!"), mindestens „für ein volles Jahrtausend erbracht werden". 155 C V Z 18, 3. Mai 1929, S. 236 (Rechtsanwalt Picard: „Dr. h. c. Ernst Fuchs"): Der Kölner Rechtsanwalt Picard legt Ernst Fuchs zu dessen Todestag folgende Worte in den Mund: „Nationale Erziehung auf dem Grund der deutschen Muttersprache und des deutschen Rechts, als dem unbesiegten, unverletzlichen Mutterboden, macht die Volkheit erst zur inneren unvergänglichen Einheit." 156 C V Z 23, 8. Juni 1928, S. 325 (Alfred Hirschberg: „Festtag in Köln").

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„Mutterschoß" von Staatsauffassung, „Heimatgefühl" und „Bildungsgemeinschaft" entsprungen ist.157 Fügt man beide Komponenten - Land und Sprache — zusammen und macht sie zur unhintergehbaren Voraussetzung individueller wie nationaler Essenzialität, dann ist die Schlussfolgerung zwingend: Deutschland ist das „Mutterland der jüdischen Seele"158, denn „nur in der Muttersprache kann das Zarteste und Tiefste unseres Wesens Ausdruck finden".159 Die Deutschsprachigkeit der Juden wird zum Paradefall des Deutschseins schlechthin stilisiert: „Deutsch sein heißt sprechen wie ein deutscher Jude." 160 Für all dies bildete die Korrelation zwischen Sprache und Denken die notwendige Basis. Humboldts eherner Grundsatz findet sich denn auch in „Wir deutschen Juden 321-1932" an exponierter Stelle wieder, anders formuliert zwar, aber inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit der Hauptthese des Sprachphilosophen: „Ein wesentliches Merkmal der kulturellen und nationalen Gemeinschaft ist die Sprache. Sprachgemeinschaft bedeutet Denkgemeinschaft."161 Da die „seelische Einfügung" an die „sprachliche Einordnung in eine Volksgemeinschaft" geknüpft sei, befreit sich der Sprecher mit Aufgabe der ersten Muttersprache auch von seiner heimatlichen Bodenhaftung. Er bleibt nur so lange Ausländer, bis er die neue Sprache als seine Muttersprache „empfindet". Eine konsequentere und vor allem: engere Bindung von Sprache und Nation ist kaum vorstellbar und so auch weder in IdR noch in CVZ jemals wieder vertreten. Wie weit man in diesem Punkt letztlich zu gehen bereit war, zeigt eine Passage, die einen ausschließlich englischsprachigen Deutschen in den Vereinigten Staaten zum Engländer [!] macht.162 Doch ist hier ein anderer Aspekt wichtiger: Die Deutung der (Mutter-) Sprache

157 CVZ 6 , 1 0 . Februar 1928, S. 66 (Gemeinderabbiner Dr. Reinhold Lewin: „Gegenwart und Zukunft. Die C.V.-Idee, ihre Verwirklichung und ihre Träger. Im Lichte jüdischer Geistigkeit")· 158 IdR 23, Heft 4, April 1917, S. 166 (Felix Goldmann, „Deutschtum und Judentum"). 159 IdR 27, Heft 7/8, Juli/August 1921, S. 200 (Julius Goldstein: „Betrachtungen zum jüdischen Nationalismus"). 160 CVZ 10, 5. März 1926, S. 118 („Die Glocken von Köln"). Aus dem Geläut des katholischen (!) Kölner Doms hört der Rabbiner Gottschalk „ganz unverfälscht die Glocken unseres Heimatgefuhls" heraus als „Liebe zu allem, was wahrhaft deutsch, der Liebe zum Boden, zur Sprache, zum Volk". An diesem Nationalgefühl, genährt vom humanistischen Ideal universeller Brüderlichkeit in Schillers Friedenshymne und den Parolen der 1848er Revolution, erweist sich für Gottschalk die innere Wesensverwandtschaft zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen: „Und dieses Deutschsein - ist es nicht jüdisch? Deutsch sein heißt singen mit den Glocken von Köln: Einigkeit und Recht und Freiheit! Und solch ein Sang, ist er uns fremd? Deutsch sein heißt sprechen wie ein deutscher Jude." 161 Centraiverein, Wir deutschen]udeti, [1933], S. 6. 162 Ebd.

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als Entäußerung des Nationalen ergänzt die Sprachauffassung um die dritte Kategorie Humboldts, welche die Verschiedenheit und Lebendigkeit von Sprache in der Subjektivität des Sprechenden, aber auch jenseits dieser Subjektivität bereichert: die letztlich selbstevidente Entität des Empfindens. Sie bildete das zweite zentrale Argument in der antiantisemitischen Abwehrstrategie der C.V.-Juden. 5.2. Ich spreche deutsch, empfinde deutsch. Die sprachaffektive Affirmation: Die Muttersprache als Sprache des „Gefühls" (Apologie 2 vs. Agitation 6163) Ein Gefühl ist eine seelisch-körperliche, immer subjektive, nicht-kognitive und nicht-willentliche Empfindungsreaktion auf intentionale Erlebnisinhalte.164 Im linguistischen Kontext ist das Gefühl eingebettet in die sprachliche Handlung der Prädikation, mittels derer einem Gegenstand oder Sachverhalt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Will man die Sprache als Gegenstand, besser: als Wissens- oder Kultursystem betrachten, dann wird dem Objekt deutsche Sprache von seinen jüdischen Sprachbenutzern somit zugeschrieben, dass es für sie hochgradig emotionalisierend wirke - und zwar im Sinne gelungener Sprachverwendung. Das Gefühl erscheint in den untersuchten Artikeln als ein nicht weiter zerlegbarer Basisbaustein des Bewusstseins, auf den die Sprachpsychologie des 19. Jahrhunderts immer wieder rekurriert hat. Herder, für den die Muttersprache die Welt der „ersten Empfindungen" bildet165, prägte den Begriff des „Sprachengefühls"166, womit er vor allem die naturgesetzliche Sprache sinnlicher Gefühle in Abhebung zur Verstandes-Sprache der Abstraktion meinte. Von Campe war das Kompositum Anfang des 19. Jahrhunderts in der heutigen Form als „Sprachgefühl" in die Debatte um die fremdwortbereinigte „Eindeutschung" eingebracht167 und dann allmählich von der bürgerlichen Sprachauffassung übernommen worden.168 Seither hat es zahlreiche Deutungsversuche und Differenzierungen in der Sprachphilosophie erfahren. „Die Sprache", schreibt Humboldt um 1822, „leiht der Empfin163 164 165 166

Vgl. die Überschrift des Kap. IV. 2.6. Vgl. Metzler Philosophie Lexikon, 1996, S. 177. Herder, Über den Ursprung der Sprache, 1772, S. 118. Herder, Über Thomas Abbts Schriften, 1768, S. 346: „...weil sie über die Natur unserer Sprache [...] ein verschiedenes Sprachengefühl haben." 167 Campe, Wörterbuch %ur Erklärung und Verdeutschung, 1801, S. X. 168 Vgl. Winde 2001, S. 77.

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dung Ausdruck und ruft die Empfindung hervor".169 Nach Humboldt denkt, fühlt und lebt der Mensch, wie gesagt, in der Sprache. Doch ist damit noch nicht gemeint, dass jedes Individuum allein in seiner eigenen Sprache die je eigenen Denk- und Lebenswelten artikulieren kann. Das Erlernen fremder Sprachen und das Einfühlen und Eindenken in deren Charakteristika sind genauso notwendig, weil dies der Objektivation sonst einseitiger Weisen des Denkens und Fühlens dient. Die Verfasser der programmatischen C.V.-Schrift „Wir deutschen Juden 321—1932" lassen keinen Zweifel daran, dass nach ihrer Auffassung die emotionale Nahstellung zu der je eigenen (Mutter-)Sprache sich durchaus verändern und transformieren kann. Dieser Gedanke erscheint dann weniger überraschend, wenn die Folgerungen in Ansicht der historischen Sprachsituation der deutschen Juden so gezogen werden, wie es die Verfasser der Schrift vorexerzieren. Möge auch der nichtjüdische Deutsche im englischsprachigen Ausland seine Muttersprache abgelegt und aufgegeben haben, die jüdischen Deutschen seien ihr durch das mittelhochdeutsche Jiddische seit 1000 [!] Jahren treu geblieben. Denn niemand, so suggeriert das Kapitel „Mutterlaut, Muttersprache", habe mit größerer „Zähigkeit" an der deutschen Sprache festgehalten als gerade die Juden, insbesondere die Ostjuden.170 Ohne die hebräische Gebetssprache auch nur mit einem Wort zu erwähnen, verorten die ungenannten Autoren den Beginn deutscher Predigten im synagogalen Gottesdienst einfach im 9. Jahrhundert.171 Sie versuchen damit, ob nun ungewollt oder ganz bewusst, die historische Begründung mindestens für die Gleichberechtigung des Deutschen gegenüber der hebräischen Sakralsprache auch auf der Ebene religiöser Praxis zu liefern.172 Eine kontinuierliche deutschsprachige Predigttradition seit dem frühen Mittelalter klingt zweifellos beeindruckend: Wenn eine

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Humboldt, Über den Nationalcharakter der Sprachen, 1822, S. 84. Centraiverein, Wir deutschen Juden, [1933], S. 7. Ebd. Der Sprachdiskurs über das Hebräische wird in dieser Arbeit noch eingehend untersucht. Es sei an dieser Stelle aber schon darauf hingewiesen, dass die hebräische Sprache im Zuge der Sprachakkulturation an das Deutsche nicht immer nur als bereicherndes Vermächtnis der Religion, sondern eben auch als Konkurrenzsprache angesehen wurde. Manch bedingungslos akkulturierter Jude hielt die Sakralsprache für ungeeignet, um mit ihr die emotionale und rationale Seite religiöser Lebenswelten auszudrücken. Der Königsberger Rabbiner Heymann Jolowicz plädierte auf der ersten Rabbinerversammlung in Braunschweig vom 12. bis 19. Juli 1844 genau deshalb für die Eindeutschung der Gebete. Sprachdenken und Sprachempfindung müssten mit der staatsbürgerlichen Faktizität korrespondieren: „Was fühlt das Volk - und wie denkt und spricht es? Wir sind Deutsche und in deutscher Sprache müssen wir beten" (zit. n. Gotzmann 2002, S. 36).

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ganze Glaubensgemeinschaft im Galuth trotz aller Anfeindungen „seit mehr als einem Jahrtausend" an der deutschen Sprache festgehalten hat, dann kann dies, so suggeriert der Aufsatz, doch wohl nur an einer inneren Nähe zwischen Deutschen und Juden liegen, an einer Wahlverwandtschaft, nicht aus äußerlichen Zwängen, sondern aus Liebe geboren. Das Gefühl ist hier der entscheidende Parameter im System sprachgebundener Diktion. Denn das Sprach-Gefühl ist nicht allein die intuitive Fähigkeit eines Sprachbenutzers zum stilistisch sicheren, korrekten, angemessenen und akzeptablen Gebrauch der Muttersprache im Sinne einer linguistic intuition. Es lässt darüber hinaus auch den Sprecher im ,Haus' genau derjenigen Nation sich heimisch fühlen, die seine Sprache spricht. Wenn nun das Gefühl den Sprecher laut „Wir deutschen Juden 321— 1923" auch veranlassen kann, die Mutter- oder Erstsprache aufzugeben und mit der Annahme einer neuen zugleich die Nationalität zu wechseln, dann ist ein für lange Zeit nachweisbares positives Empfinden für eine bestimmte Sprache, also eine Art sprachspezifisches Treuegefühl, der beste nationale Treuebeweis. Mit einer gewichtigen Ausnahme, die noch ein Stück zurückzuhalten erlaubt sein mag, stimmen die Ansichten der meisten liberaljüdischen Autoren anderer C.V.-Publikationen mit den Sprachbewertungen der Verfasser von „Wir deutschen Juden 321-1932" überein. Wortwörtlich hält sich beispielsweise Paul Rieger an dieselbe Konklusion der Äquivalenz von Sprache und Denken, nachdem er die sprachphilosophischen Prämissen genannt hat. Zwingend wirke die Sprache auf die Gedanken und die Gefühle ihrer Sprecher, denn: „Sprachgemeinschaft bedeutet Denkgemeinschaft."173 Stellt man nun Riegers Konklusion gegen den Leitsatz aller antisemitischen Sprachverfemung: „Blutsgemeinschaft erzeugt Sprachgemeinschaft"174, dann wird die apologetische Verve des C.V.Granden unübersehbar. Mühelos lassen sich weitere Beispiele anführen. Den Autor Jacob Picard verleitet das notwendig passionierte Verhältnis, das ein Schriftsteller zur Sprache hegt, zu emotional gefärbter Diktion. So entrüstet er sich 1925 über die Behauptung Wilhelm Schäfers, die Juden hätten „lediglich völkische Merkmale wie die Sprache übernommen", mittels einer Reihe rhetorischer Fragen, die kein Pathos scheuen: Lediglich, nur die ... Sprache! Wie durften Sie, ein Dichter, dieses schreiben! Haben Sie es vergessen, was das ist: der gute Ton der Heimatlaute? Ist nicht die Sprache alles? Umschließt sie nicht das ganze Gefühl eines Volkes, all seiner Teile? Ist es nicht

173 Rieger, Vom Heimatrecht der deutschen Juden, 1921, S. 17. 174 Vgl. die einschlägig zitierten Hammer-Artikel; vgl. Wundt, Was heißt völkisch?, 1925, S. 17.

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ein Unterschied, ob ich Mutter sage oder Linde, oder Sommerabend oder Tod in deutscher Sprache, oder ob ich in einer anderen diese Begriffe bezeichne? [...] — was verbindet, wenn nicht die Sprache, nur die Sprache, das wichtigste Bindemittel der Völker? Zerschlagen dann nicht auch Sie das, was allein unser Land zusammenhalten kann, zusammengehalten hat, das Gefühl der gemeinsamen Sprache, gewachsen aus der Schicksalsgemeinschaft. [...] Ist es Ihnen nicht bekannt, daß man fast sagen kann, die Sprache, durch die sich die meisten Juden der Welt verständigen können, sei die d e u t s c h e ? 1 7 5

Picards Beweiskette bezieht sich, analog zu der Argumentation in „Wir deutschen Juden 312-1932", auf die Ostjuden. Von ihnen sei die deutsche Sprache eines Meister Eckart oder des jüdischen Minnesängers Süßkind von Trimberg176 mit schier grenzenloser Treue bewahrt worden, während nichtjüdische Exilanten „schon auf den Ozeandampfern englisch zu sprechen" begonnen hätten. Von diesem mittelhochdeutschen, von Ostjuden konservierten „Rhythmus" werde die deutsche Sprachgemeinschaft als „Schicksalsgemeinschaft" bis heute bewegt; er sei es gewesen, „der unseren Gefühlen reinstes Zeichen wird und deutschen Geist notwendig als Inhalt hat".177 Der Zusammenhang von Sprache, Nation, Denken und Gefühl in Anlehnung an Humboldts Sprachphilosophie ist in den C.V.-Organen unübersehbar und in den thematischen Kontext der deutsch-jüdischen Synthese eingebettet. Der Weg dorthin führte über die bahnbrechenden Zäsuren in den Reden eines liberal-jüdischen Idols wie Gabriel Rießer, dem die deutsche Sprache und Kultur die Orientierung seiner Gefühle und Gedanken war. „Ich spreche deutsch, empfinde deutsch", hatte der langjährige C.V.-Vorsitzende und Ehrenvorsitzende Eugen Fuchs jenen entgegengehalten, die ihm seine deutsch-jüdische Idendtätsauslegung streitig zu machen versuchten.178 Doch seine emotive Argumentation ging über den Einzelfall hinaus. Fuchs und mit ihm andere C.V.-Juden hoben den Singular ins Kollektiv der Wir-Gemeinschaft. Die Aussage des Aachener Rabbiners Davin Schönberger vom Juli 1932, dass das Deutschtum für den größten Teil der Juden den „Rhythmus ihres Fühlens und Denkens" bestimmt,179 hatte ihre auf die Sprache angewandte Konse-

175 CVZ 42, 16. Oktober 1925, S. 681 (Jacob Picard: „Offener Brief an Wilhelm Schäfer"). 176 In der Großen Heidelberger Liederhandschrift wird der urkundlich nicht bezeugte Spruchdichter aus Franken für einen Juden gehalten und in jüdischer Tracht abgebildet. Diese Schlussfolgerung ist wissenschaftlich umstritten. 177 CVZ 42, 16. Oktober 1925, S. 682 (Jacob Picard: „Offener Brief an Wilhelm Schäfer"). 178 IdR 23, Heft 9, September 1917, S. 341 (Eugen Fuchs: „Glaube und Heimat"). 179 CVZ 31, 29. Juli 1932, S. 327 (Davin Schönberger: ,„Was wird werden?' Gleichberechtigung oder Ghetto").

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quenz längst in einer These vom Februar 1909 gefunden, gerade die Juden hätten immer wieder gezeigt, welch „feine Empfindung für den deutschen Sprachgeist [sie] besitzen".180 Auch hier wird mit „Sprachgeist" ein Begriff verwendet, der in allen Organismusmodellen, besonders aber in der Sprachphilosophie Humboldts eine entscheidende Rolle spielt. Es ist der jeder Sprache innewohnende Geist, der die Sprachgemeinschaft prägt, arbiträrem Zugriff jedoch entzogen ist, da Sprache — erinnert sei nochmals an Humboldts Deutungshorizont — nicht einfach nur als opus humani, sondern als ständig sich neu erzeugende „Thätigkeit" zu verstehen ist. Der Artikel von 1909 suggeriert nun: Einige ausgesuchte Sprachverwender, die deutschen Juden eben, haben aufgrund eines exquisiten Sprachgefühls einen vor allen anderen ausgezeichneten ,Zugriff* auf den die Sprachgemeinschaft erst ermöglichenden Sprachgeist. Das deutsche Sprachgefühl dieser Extraordinären muss nach der Überzeugung des C.V.-Strategen Ludwig Haas zwingend ein deutsches Nationalgefühl zeitigen.181 Sie sind es, deren Sprachkompetenz und Kulturverständnis die Prüfungs- und Prägeinstanzen des Nationsbegriffs bilden.182 Die Fähigkeit, „deutsch zu empfinden", lebt und artikuliert sich in der liebevollen Beherrschung der Muttersprache, die geradezu ein Nationalrecht darauf verbirgt, „als Volldeutscher anerkannt [zu] werden".183 Denn mit der Kausalität Nationalität durch Nationalsprache sei die „Formel" gefunden, um in der mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaft in Deutschland bestehen zu können.184

180 IdR 15, Heft 2, Februar 1909, S. 81 (Rabbiner Dr. Stein: „Sprachwandlung und Sprachverderb"). 181 IdR 19, Heft 9, September 1913, S. 401 (Ludwig Haas: ,„Der deutsche Jude in der Armee.' Ein Wort für die Rechtsgleichheit gegen Vorurteil und Unrecht. Vortrag gehalten in der allgemeinen Versammlung des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Berlin am 17. Mai 1913 vom Reichstagsabgeordneten Dr. Ludwig Haas, Karlsruhe"). Haas hält in dieser langen, speziell gegen den Zionismus gewandten Rede eines der engagiertesten Plädoyers für die These der Korrelation von Muttersprache und Vaterland: „Wir wissen, daß auf uns eingewirkt hat die deutsche Dichtkunst, die deutsche Kunst, die deutsche Literatur. Deutsch ist unsere Sprache, deutsch ist das Land, in dem wir und unsere Vorfahren seit langen Zeiten leben; ein anderes Land kennen wir als Heimat nicht; jetzt sage mir mal einer, wo soll da ein anderes Nationalgefühl herkommen!" 182 Ebd., S. 403: „Die Kulturgemeinschaft macht die Nationalität aus, die Sprache macht die Nationalität aus und die Liebe zum Lande, in dem man lebt, das schafft den Nationalbegriff und das Nationalge fühl." 183 IdR 27, Heft 3, März 1921, S. 81 (Landesrabbiner Paul Rieger, „Vom Heimatsrecht der deutschen Juden"). 184 So urteilt Alfred Hirschberg, ab 1933 Syndikus des C.V. und letzter CVZ-Chefredakteur, über die Forderung Adam Röders, „dass jeder als national angesehen werden solle, der Deutschland als sein Vaterland betrachtet, mit dem ihn Sprache, Erziehung und Lebensstil verbinden" (IdR 28, Heft 1/2, Januar/Februar 1922, S. 39, „Zeitschau").

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Während in der Weimarer Republik viele C.V.-nahe Juden wenigstens der älteren Generation begonnen hatten, den jüdischen Teil ihres Erbes zu marginalisieren, zuweilen zu ignorieren, meist aber als bloße Faktizität hinzunehmen, wurde die deutsche Geschichte und Kultur emphatisch ins Zentrum der eigenen Lebenswelt gerückt. Der deutsche Bildungskanon, eng an die Sprache geknüpft, ist Seelenteil, am jüdischen nimmt man nur Anteil. Das eine wird als das Eigene geliebt, das andere nur als Fremdes gewusst. „Die Kant und Lessing, die Goethe und Schiller, die Schopenhauer und Beethoven", schreibt ein „Dr. E. L." im Herbst 1930 in CVZ, hätten ihn innerlich „vollständig erfasst"; zu „Abraham und Moses" aber mehr als eine distanzierte Achtung aufzubauen sei ihm niemals gelungen.185 Wirklich von Interesse für kommende Generationen kann nur das deutsche Kulturerbe sein. So hat auch für den ehemaligen Volksschullehrer Professor Ferdinand Gutheim die pädagogische Passion eine vor allem kulturpatriotische Zielrichtung: W i e ich selbst mich durchaus deutsch fühle, w i e deutsche K u l t u r und Sprache meine K u l t u r u n d Sprache sind, w i e ich deutsche Literatur und Geschichte als die meine e m p f i n d e u n d erlebe, so ist es auch mein Bestreben, dies der J u g e n d als lebendige G a b e weiterzugeben. 1 8 6

Sprachgemeinschaft ist Sprachgefühlsgemeinschaft. Mit dem Gefühl für die eine deutsche Sprache liegt genau das Gewicht auf der Schale, das die Waage in Richtung Heimatboden in Bewegung setzt und die akkulturationsbejahenden deutschen Juden, allen Bekundungen einer Synthese aus Deutschtum »«^/Judentum zum Trotz, der jüdischen Tradition entfremdet. 5.2.1. Gefühlsnotstand ohne Alternativen: Das sekundäre Merkmal des Willens Andere Kausalitäten hatten sich der emotiven Kategorie nach Meinung vieler liberaler Juden unterzuordnen, unter Umständen sogar bedingungslos. „Der Untergrund", der das Unterpfand des Deutschseins der deutschen Juden bildet, „liegt nicht im Willen, sondern im Gefühl", schreibt der C.V.-Syndikus Alfred Wiener noch im Juni 1932 aus Anlass eines im Rundfunk übertragenen Zwiegesprächs zwischen Ludwig Holländer und 185 C V Z 40, 3. Oktober 1930, S. 529 („Bekenntnis"). Auch hier darf der Hinweis auf die Bedeutung der muttersprachlichen Bindung fur die individuelle Lebenswelt nicht fehlen: „Die ersten Worte, die ich sprechen lernte, waren deutsch. Deutsch ist meine Muttersprache." 186 CVZ 28, 10. Juli 1925, S. 488 (Prof. Dr. Ferdinand Gutheim: „Der jüdische Knabe im Unterricht").

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Wilhelm Stapel.187 Wiener betont die Unausweichlichkeit der Emotionalität, die er 1927 mit Verve zur Basis der deutsch-jüdischen Kultursynthese erhoben hatte. Allein „weil Herz und Gefühl es so heischen", sei das „Hohelied unerschütterlicher Heimat-, Kulturzugehörigkeit der deutschen Juden" anzustimmen.188 Der Wille in strengem Sinne ist deshalb keine annehmbare Kategorie, weil er - entsprechend Kantscher Tradition — als freier Wille die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen impliziert. Diese Wahl aber hätten die deutschen Juden gar nicht mehr: „Wir sind nicht Deutsche, weil wir es sein wollen, sondern weil wir es nicht anders k ö n n e n . " Damit ist für Wiener die Debatte erledigt: „Jedes ,Argument' hat diesem Gefühl gegenüber zu schweigen."189 Wieso auch sollte man etwas wollen, das man im emotionalen Sinne längst als erreicht betrachtete? Nur weil es gesellschaftlich zu großen Teilen verweigert wurde? Bedeutete dies nicht gerade ein Anpassen an die Verweigerungshaltung der anderen? Der C.V.-Grande Eugen Fuchs demonstriert in einem Satz unfreiwillig die Schwierigkeiten, die manche akkulturierten Juden mit einer voluntaristischen Argumentation hatten: Wir deutschen Juden, und insbesondere wir CVer, wollen nicht bloße Staatsbürger, sondern deutsche Volksgenossen sein, die deutsch fühlen und deutsch denken, und wir sind es! 190

Man will deutsch sein, ist es aber eigentlich schon längst. Paradoxer geht es nicht. Der vom Gefühl meist strikt unterschiedene Wille zur gleichberechtigten Teilhabe an den Rechten und Pflichten des deutschen Natio-

187 Wilhelm Stapel (1882-1952), Schriftsteller, Publizist und Übersetzer. Der bekennende Antisemit Stapel hatte in der von ihm herausgegebenen Hamburger Zeitschrift „Deutsches Volkstum" den Begriff der deutsch-jüdischen Symbiose in die Debatten um die „Judenfrage" eingebracht und im streng negativen Sinne gedeutet (Deutsches Volkstum, Heft 6, 1927, S. 418, „Judenhaß"). Der Streit zwischen Juden und Antisemiten sei kein Streit von Individuen, sondern Ausdruck eines unüberwindlichen Gegensatzes von Volksinstinkten und Volksanlagen. Damit war er auf heftige Gegenwehr bei den liberalen Juden gestoßen, insbesondere bei Felix Goldmann, der den Antisemitismus als „Folge der Erkennbarkeit", also einer noch nicht hinreichenden Einpassung der Juden in die deutsche Gesellschaft verstand (vgl. Goldmann, Vom Wesen des Antisemitismus, 1924, S. 80f.). 188 CVZ 31/32, 5. August 1927, S. 433 (Sonderthema: „Unsere Mitarbeit an der deutschen Kultur"; Alfred Wiener: „Zur Einführung"). 189 CVZ 23, 3. Juni 1932, S. 236f. (Alfred Wiener, „Das Rundfunk-Zwiegespräch StapelHolländer"). Vgl. CVZ 6, 10. Februar 1928, S. 72 (Ludwig Freund: „Der Kämpfer"). Zur deutsch-jüdischen Synthese heißt es: „Der C.V. kennt die Richtung seines Gefühls und des durch sein Gefühl bestimmten Willens, sofern es sich um Glaube und Heimat handelt. In der Entscheidung gegenüber diesen heiligen Gütern bestimmt ihn nicht rationalistische Konstruktion, sondern einfach — das Gefühl." 190 Zit. in: CVZ 51/52, 21. Dezember 1928, S. 723 (L. H. [Ludwig Holländer]: „Glaube und Heimat. Zum fünften Todestage von Eugen Fuchs").

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nalstaates hatte als historischer Motor der jüdischen Emanzipation seine Berechtigung gefunden und war danach nicht mehr aus der Diskussion wegzudenken.191 Der Streit um die Bedeutung von Willensakt und Gefühlsmoment bildete im Wilhelminischen Kaiserreich, vor allem aber in der Weimarer Republik einen raumgreifenden Aspekt des jüdischen Binnendiskurses über Sprache. Friedrich Brodnitz' These, dass die Basis des deutschen Judentums in einem autonomen Willensakt als einer bewussten Entscheidung für den deutschen Kulturkreis liege192, lehnt Rudolf Stahl im Oktober 1928 entschieden ab - nicht ohne zuvor auf die Bedeutung des Sprachaspekts verwiesen zu haben. Schließlich sei gerade die Sprache als stärkster Ausdruck der „Verflechtung" der Juden mit der deutschen Kultur neben der Kunst eine der wichtigsten „dem Willen ferner stehenden Regungen des menschlichen Geistes".193 Die Ressentiments gegen eine betont voluntative Argumentation sind nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass viele C.V-Aktivisten die Muttersprachenbindung nicht als flexible Größe anzusehen bereit waren. Während die Idee von der Staatsnation das gezielte, eben voluntative Bekenntnis in den Vordergrund rückte, wurde gerade für die Kulturnation „ein nahezu natürliches und damit nicht sinnvoll hinterfragbares Begründetsein der Nation angenommen".194 Die Zugehörigkeit einer Gruppe oder eines Individuums zur Kulturgemeinschaft eines Volkes, die sich vorzüglich in der Sprache erweist und beweist195, schafft ein Nationalgefühl, das weder künstlich erworben noch willentlich abgelegt werden kann. Damit stellten sich die meisten C.V.-Schreiber in den Vereinsorganen

191 Vgl. CVZ 48, 28. November 1930, S. 614 (Α. H.: „Deutschenverfolgung"): „... wir sind nach Willen und Überzeugung Deutsche"; CVZ 20, 18. Mai 1928, S. 281 („Auf zur Wahl! An die Jugend!"): „Jeder ist Deutscher, den Kultur und Wille auf deutscher Erde dem Vaterland verbindet." 192 CVZ 24, 15. Juni 1928, S. 341 (Friedrich Brodnitz: „Zionismus oder jüdische Gemeinschaft?"). Andere Publizisten versuchten, Determinismus und Voluntarismus zu vereinigen. CVZ 41, 10. Oktober 1930, S. 540f. („Der Jude im deutschen Kulturkreise") etwa druckt einzelne Passagen aus Felix Goldmanns gleichlautender Abhandlung ab - wie immer bei Goldmann, einem der Leitphilosophen des Centraivereins, mit wohlwollendem Unterton: „Deutschtum ist demnach eine Naturtatsache und eine WUlensregung." 193 CVZ 40, 5. Oktober 1928, S. 560. Der Titel ist Programm: „Unser Deutschtum tiefer als der Wille!" 194 Gardt 2005, S. 370. 195 Siehe hierzu auch Adolf Ecksteins Schrift „Haben die Juden in Bayern ein Heimatrecht?", die Kriegsstatistiken zum Beweis des jüdisch-deutschen Patriotismus anführt und die Synthese zwischen (bayrischen) Juden und Deutschen als Produkt von vier unlösbaren Konnexionen einfasst: Schicksals-, Willens-, Kultur- und Sprachgemeinschaft. Das Deutsche, nicht das Hebräische sei seit dem Mittelalter das entscheidende Bindeglied (Eckstein, Haben die]udett in Bayern ein Heimatrecht?, 1929).

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diametral zur Quintessenz in „Wir deutschen Juden 312—1932 ". Der Versuch, die Muttersprache zugunsten einer anderen aufzugeben, um so eine neue nationale Zugehörigkeit zu erreichen, gerät zur contradictio ad absurdum. Schließlich ist es die Sprache, welche die individuelle Innenwelt und nationale Außenwelt aufs engste verzahnt, ja völlig miteinander verschmelzen lässt. „Deutschsein", so kritisiert die IdR-Redaktion 1920 die ausreisewilligen Juden, „ist kein politischer und daher veränderlicher Begriff, sondern eine innere Erkenntnis und ein inneres Erlebnis."196 Der IdR-Schriftleiter Alphonse Levy bemüht eine eingängige Metapher zur Illustration dieses Sachverhalts: Weil dem deutschen Juden sein Deutschtum und damit auch seine Muttersprachenbindung wie die eigene Haut anhaften, sei er „nicht Deutscher, weil er will, sondern weil er muß!" 1 9 7 Diese Haut lässt sich nicht ablegen, allenfalls um den Preis des Lebens. Besonders eindringlich hat dies Gabriel Rießer, nicht umsonst wieder und wieder vor allem in IdR zitiert, in seinem berühmten, uns schon hinlänglich bekannten Fanal ausgerufen, er müsse sich gegen einen Angreifer auf sein deutsches Nationalgefühl „wie gegen einen Mörder" wehren. Rießer, weithin als Redner der Extraklasse bewundert, wollte den Anspruch auf sein Vaterland mit den „Waffen" der Muttersprache verteidigen. Mit ihr sei die antisemitische Agitation gegen die deutsch-jüdische Identität am wirksamsten abzuwehren: Wohl mir, daß ich sprache, liebreicher mächtigen Waffen Ernst ihrer Streiche

es in freier deutscher Rede kann, daß mindestens die Mutterals ihre Jünger, sich mütterlich meiner annimmt und mir ihre nicht versagt - vielleicht wird mein Gegner an dem derben den Deutschen erkennen. 198

Die deutschen Juden sind nicht „eingewandert", sondern „eingeboren". Da sie keine Immigranten mehr darstellen, sondern kulturell-sprachlich Integrier-

196 IdR 16, Heft 6, Juni 1920, S. 195f. (Κ. Α.: „Zeitschau"). 197 IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 71 (A. L. [Alphonse Levy]: „Umschau"). Ähnlich in IdR 19, Heft 9, September 1913, S. 401: „Zu einer anderen [Kulturgemeinschaft] können wir überhaupt nicht gehören, weil wir eine andere Kultur als die deutsche überhaupt nicht besitzen." Vgl. dazu Steinthal schon 1890 mit typisch emotionaler Logik: „Wir sind Deutsche, weil es uns [...] unmöglich ist, nicht Deutsche zu sein" (Steinthal, Das auserwählte Volk oder Juden und Deutsche, 1890, S. 14). 198 IdR 3, Heft 3, März 1897, S. 140 (Emil Lehmann: „Gabriel Rießer"). Das Zitat selbst stammt aus Rießers „Rede gegen Moritz Mold's Antrag zur Beschränkung der Rechte der Juden", gehalten am 29. August 1848 in der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt (vgl. Rießer, Rede gegen Morit^Mohl's Antrag, 1848, S. 84). An Rießers inhaltlich daran anknüpfende rhetorische Frage „Sollen wir Juden es als ein Unglück erachten, dass wir deutsch reden?" wird unter anderem in IdR 11, Heft 11, November 1913, S. 509 („Korrespondenzen") und in IdR 12, Heft 3, März 1906, S. 145 (Max Grunwald: „Gabriel Rießer") erinnert.

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te, also Enkulturierte, können sie nur bleiben — oder heimatlos werden.199 Beides, Muttersprache und Vaterland, bilden keine austauschbaren Variablen mehr im Koordinatensystem nationaler Zugehörigkeit. Die liberale jüdische Presse übernahm diese trotzig-stolze Haltung. Eine innerliche vollkommene Loslösung von der Mutter- wie Vaterbindung erscheint unmöglich, wie ein Leserbrief vom 22. Juli 1932 betont.200 Heimatgefuhle könne man durchaus viele haben, bekräftigt Eugen Fuchs 1903 auf einer Versammlung in Polen, aber immer nur eine Sprache und darum auch immer nur eine Nationalität: Wie man ein doppeltes Nationalgefühl haben kann, ist mir unverständlich. Ich habe ein Koschentiner und Tarnowitzer Heimatsgefühl, ein schlesisches Provinzialgefühl, ein preußisches Landesgefühl, ein deutsches Reichsgefiihl, ein germanisches Völkerschaftsgefühl, aber ich habe kein jüdisches Nationalgefühl. [...] Ich bin ein Deutscher, weil die deutsche Sprache, die deutsche Geschichte, die deutsche Literatur meine Sprache, meine Geschichte, meine Literatur ist. 201

Dagegen sei noch einmal der Gedankengang aus „Wir deutschen Juden 321-1932" angeführt, der alle Abstammungskriterien außer Kraft zu setzen sich getraut: Der Deutsche in den Vereinigten Staaten, der seine Muttersprache ablegt und die englische Sprache annimmt, wird unmerklich Engländer. Der Franzose, der in der deutschen Sprachgemeinschaft lebt, verliert mit der Muttersprache unwillkürlich seine Heimat. 202

Man sieht nun deutlich: Eine derart flexible Deutung des Sprach- und damit Nationalgefuhls als einer austauschbaren, dem Willen unterworfenen Größe, wie in der C.V.-Schrift 1933 gefordert, haben viele führende C.V.-Persönlichkeiten in IdR und CVZ zuvor nicht vertreten. Im Gegenteil: Die deutsche Haut, eindringlich hatte man das betont, war unter keinen Umständen abzustreifen 203 Für diese Deutung gab es gute Gründe. 199 Rießers Ausspruch, oft verkürzt zitiert, lautet vollständig: „Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf Heimat; wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimathlos" (Rießer, Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, 1831, S. 133). CVZ druckt Rießers Fanal ab in: CVZ 10, 5. März 1926, S. 120 („Unser Erbe. Gabriel Rießer und Eugen Fuchs sprechen") und in MCVZ Juni 1929, S. 46 (Basnitzki: „Wir sind Deutsche ... " Zwei Streitschriften Gabriel Rießers"). 200 „Wenn man uns das Deutschtum auch absprechen will, es ist unmöglich; denn wir sprechen die deutsche Sprache — manche in einer Form, die den Gehalt veredelt. Wir sind von deutschen Dichtern und Denkern erzogen, von der Heimat Natur gestaltet, an der Heimat Schicksal gebunden" (CVZ 30, 22. Juli 1932, S. 314, Leserbrief von R. M. Müllerheim: „Fremdstämmig — doch eingewurzelt"). 201 IdR 9, Heft 12, Dezember 1903, S. 712 („Die Central-Vereins-Versammlung in Posen"). 202 Vgl. Kap. V. 5.1.2., S. 202. 203 IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 73 (Alphonse Levy: „Umschau").

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Nur so konnten sich die Anhänger der liberal-jüdischen Idee gegen zionistische Auswanderungsappelle und Verratsvorwürfe immunisieren. Denn war die in „Wir deutschen Juden 321-1932" gezogene Schlussfolgerung einmal eingestanden und in letzter Konsequenz durchdacht (ein primär Englisch sprechender Deutscher wird eben Engländer usw.), dann stellte sich natürlich die Frage, warum ein primäres Sprachgefühl für das Hebräische nicht automatisch auch zu einer nationalen Beheimatung des hebräisch Sprechenden in Palästina führen müsste, selbst wenn die jüdische Nation noch nicht politisch realisiert war. Schließlich mussten zumindest die kulturzionistisch orientierten Strategen, um ihrerseits die Berechtigung zur Gründung der jüdischen Nation deklamieren zu können, eigentlich nur auf dieselben kulturnationalen Parameter und Prozesse verweisen, auf die ihre liberalen Glaubensbrüder ihre Existenzberechtigung in der deutschen Nation gründeten. Indem indes so scharfsinnige Analytiker wie Eugen Fuchs beide Empfindungen — National- und Sprachgefühl — als irgendwann eherne und feste, im Grunde dann statische Grundlagen für das nationale Zugehörigkeitsrecht werteten, sicherten sich die C.V.-Juden gegen die Gefahr ab, von den Zionisten beim Wort und in die Pflicht genommen zu werden. Anders formuliert: Das Kind kann, wenn es mag, Mutter und Vater zwar äußerlich verlassen und sogar gegen Stiefeltern eintauschen. Innerlich aber bleibt es ihnen auf ewig verhaftet. Eine sprachgebundene Identität lässt sich weder abstreifen noch wechseln wie ein Kleid. Hatten die Antisemiten nicht gerade dies immer wieder behauptet? „Spreche ich französisch, so werde ich zwangsläufig und naturnotwendig die Denkgesetze, die Gefühlswerte, die seelischen Begriffe der Franzosen in mich aufnehmen", konstatiert zwar derselbe Paul Rieger, der 1921 die nationale Empfindung mit der nationalen Zugehörigkeit aufs engste verbunden hatte. Dass dies dann aber auch die Möglichkeit der Aufgabe des ,Deutschseins' und somit mehr als die bloße Objektivation der eigenen Sprachlichkeit im Humboldtschen Sinne bedeuten könnte, ist für Rieger keine weitere Erläuterung wert. Das „erste urtümliche Heimaterlebnis" der Muttersprache ist und bleibt für ihn das „Fundament meiner Geistigkeit"204. Die paradoxen Aspekte einer solchen Argumentation scheinen dem erfahrenen C.V.-Publizisten offenkundig nicht wirklich bewusst gewesen zu sein. Wie anders könnte Rieger sonst die zionistische Bewegung als eine unausgegorene Trotzreaktion gegen den Antisemitismus deuten, als 204 CVZ 9, 27. Februar 1931, S. 96f. („Wir sind Deutsche! Eine Aussprache über Heimatrecht und Heimaterlebnis zwischen Stadtrabbiner Dr. Paul Rieger (Stuttgart) und Dr. MüllerClaudius").

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einen Protest „politischer Desperados"205, der nationaljüdisch auftritt, in Wahrheit aber deutsch empfindend bis in die Wurzeln ist?206 Ein Fundament für das Gebäude des Geistes, so Riegers zugrunde liegende Überlegung, lässt sich eben nicht einfach wegziehen und durch ein neues ersetzen. 5.2.2. Wenn ich dich Bebe, was geht es dich an? Das trotzige Gefühl einseitiger Zuneigung Innerhalb der emotionalen Konnotate kommt der Liebe der deutschen Juden zur deutschen Sprache und Kultur eine zentrale Bedeutung zu. Wichtiger noch als der Umstand, dass Gabriel Rießer seine Glaubensbrüder und -schwestern „deutsch reden gelernt" habe, ist für die CVZ-Beilage „Von deutsch-jüdischer Jugend" die Art und Weise, wie seine ,Schüler' dies verinnerlichen. Als sei da eine innewohnende, verborgene Sehnsucht ans Tageslicht getreten, haben die Juden diese deutsche Sprache mit „dem ganzen ungeheuren Gefühlswerte einer stürmisch begehrten, zutiefst aufgenommenen, mit Liebe besessenen Kultur" erlebt.207 Das Goethewort „Wenn ich dich liebe, was geht es dich an?" durchzieht die Argumentation zahlreicher C.V.-Publikationen wie ein roter Faden, nimmt doch die schicksalhaft gedeutete Beziehung der Juden zu Deutschland die Form einer zuweilen einseitigen Liebe an, die umso fester und trotziger wird, je stärker andere sie bekämpfen: Bei ihnen gilt Deutschland gegenüber der Satz: „Wenn ich Dich liebe, was geht es Dich an?" Die deutsche Sprache ist ihre Muttersprache, deutsches Wissen die Grundlage ihrer Bildung und ihrer Erfolge. 208

Diese Liebesaffäre war unverbrüchlich. Selbst wenn sich der Liebende tatsächlich frei entscheiden könnte, wäre die Geliebte keine andere als die vom Schicksal Auserwählte, keine andere als Deutschland. Die Personifikation der Mutter-Sprache bot dafür die Voraussetzung, und die irrationale Liebesbindung an sie als ein allumfassendes Phänomen enthob die sonst 205 CVZ 10, 5. März 1926, S. 113 („Aufklärung und immer wieder Aufklärung"). 206 CVZ 9, 27. Februar 1931, S. 96f. 207 CVZ 37, 8. September 1926, S. 24 (Α. H. [Alfred Hirschberg?]: „Die neue RießerBiographie [Fritz Friedländers]"). 208 IdR 1, Heft 3, September 1895, S. 109 (Alphonse Levy: „Reichstagswahlen in der Ostmark"); ähnlich, nur noch expressiver in IdR 17, Heft 7/8, Juli/August 1911, S. 407: „Wir lieben dieses Land [...] Es ist unser Vaterland! Und ist uns auch ein Teil der Menschen feind, die gleich uns die Luft dieses Landes atmen: was tut's? Was scheren sie uns? Wir lieben sie nicht - aber unser Land, unser Heimatland, lieben wir!" Vgl. zu dem ganzen Komplex: Barkai 2002, S. 284-299.

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üblichen Zweifel jeglicher Berechtigung. Wenn ausgerechnet ein so beharrlicher Sprachkritiker wie Fritz Mauthner, dessen skeptische Einstellung zur Authentizität der Wörter Alfred Wiener an den Anfang eines CVZ-Sonderheftes zur deutsch-jüdischen Kultursynthese209 platziert, das eigene Nationalgefühl an die Liebe zur Muttersprache koppelt, dann übersteigt diese Liebe in unfasslicher Weise alle anderen Bindungen, mögen sie auch noch so fassbar sein. Liebe zur Muttersprache ist nicht nur Vaterlandsliebe, sondern in erster Linie Liebe zum eigenen Selbst. Deshalb liebt man „die Muttersprache sogar stärker, als man seine Familie liebt, als man seinen Nächsten lieben kann".210 Eher opferte der Liebende die Familie oder die nationale Wir-Bindung als sein sprachbestimmtes Selbst. Es war wiederum die bedeutende C.V.-Akteurin Eva G. Reichmann, die auf dieses Pathos einer „unverbrüchlichen Liebe" zur deutschen (Kultur-) Heimat „noch im Tode"211 prononciert hingewiesen hat: Je stärker ihre deutsche Volkszugehörigkeit von außen bestritten wurde, um so innigere Einkehr hielten sie bei ihrer Liebe zur deutschen Heimat, zur deutschen Sprache und zum deutschen Geistesgut, um so bewußter wurde ihnen die fast schon unproblematische Ganzheit ihrer deutschen und jüdischen Wesensart. 2 1 2

Diese - laut Reichmann - ursprünglich unproblematische deutschjüdische Synthese des Wesens geriet erst durch die Attacken der jüdischen und der antisemitischen Gegner des C.V. in eine erzwungene Abwehrstellung, die sich zunehmend schwieriger gestaltete.213 Hatte bereits der Humboldt-Kenner Heymann Steinthal die jüdische „Liebe zur Muttersprache"214 mit einem „Patriotismus" begründet, der an den Klassikern deutscher Literatur und Philosophie geschult war und deshalb „der Hu209 CVZ 31/32, 5. August 1927, S. 433: „Fritz Mauthner hat schon mit seiner ,Kritik der Sprache' ins Schwarze getroffen. Die Wörter sind minderwertige, höchst fadenscheinige Hüllen um ihren eigentlichen Körper." 210 Mauthner, Muttersprache und Vaterland, 1920, S. 52. 211 CVZ 40, 3. Oktober 1930, S. 529 (E. L. [Ernst Löwenthal?]: „Bekenntnis"). 212 Reichmann, Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1930, S. 29. Vgl. dazu auch die von einem „E. G. L." dokumentierte trotzige Haltung des C.V.-Vorstandsmitglieds Julius Brodnitz in CVZ 49, 4. Dezember 1931, S. 561 („Wir deutschen Juden, ein Bekenntnis und eine Anklage"): „Wir lassen uns trotz aller Mißachtung, die uns widerfährt, und trotz allen Hasses, der gegen uns gesät wird, unsere Liebe zur Heimat nicht rauben und werden darum unser Leben lang kämpfen. Der C.V. steht auf dem Posten." 213 Vgl. wieder Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 251: „Meine Eltern und Großeltern sind ihr ganzes Leben und ich den größten Teil meines Lebens gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass wir Fremde in Deutschland sein könnten." Vgl. CVZ 24, 17 Juni 1927, S. 340 (Reinhold Lewin: „Abwehr und Gesinnung"): „Bis zum Aufflammen des neuzeitlichen Judenhasses [...] wußte man gar nichts anderes, als dass man deutsch denke und fühle, dass man deutsch in Haß und Liebe sei." 214 Steinthal, Von der Liebe ipr Muttersprache, 1867.

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manität nicht widerspricht"215, so wurde beides nun zum Fanal des antiantisemitischen Widerstands, an das man sich klammerte, bis zuletzt. Die beiden Äquivalenzschritte Mutter —Sprache und Sprache —Gefühl machten den Kern der Sprachapologie in den Vereinsorganen IdR und CVZ aus. Das Erklärungsmodell Gefühlfür ein gefühltes Objekt, das seine Steigerung in der Liebe ψ einem geliebten Objekt fand, band sich an die mentalitär-historische Figuration einer deutschen Mutter-Sprache. Solcherart kombiniert, erscheint das Muttersprachengefühl resp. die Muttersprachenliebe als Gesetz des Herzens. Hocherfreut greift die CVZ-Redaktion den Ausspruch eines katholischen deutschnationalen Prälaten namens Ulitzka auf, der in einer Rede zur Frage der Gebietszugehörigkeit Oberschlesiens im Jahre 1931 erklärt habe: „Deutsch ist, wer deutsch fühlt und wer eben deutsch sein will." Demgegenüber könne, so der Prälat weiter, der Äquivalenz-Schritt Sprache —Nationalität keine Gültigkeit für das ehemals deutsche, aber nach der Kriegsniederlage Polen zugesprochene Oberschlesien beanspruchen. Zugehörigkeitswunsch und Zugehörigkeitsgefühl sind nach Ulitzkas Vorstellung also gewichtiger als der Umstand, dass die Deutschen in dem nun vorwiegend polnischsprachigen Oberschlesien eine Sprachminderheit bilden. Der C.V. weiß diese These „aus so stark nationalem Munde" zu nutzen, um an ihr die Widersinnigkeit des antisemitischen Rassenkonstrukts demonstrieren zu können. Wie könnten, wenn schon das Nationalgefühl und der Wille zur Nation „ohne Rücksicht auf die Muttersprache" über das Nationalrecht entscheiden, die Judenfeinde es überhaupt noch wagen, uns deutschen Juden, die wir deutsch fühlen, deutsch sein wollen und außerdem noch seit altersher deutsch sprechen, ja sogar bedeutende Förderer der deutschen Sprache zu den Unsern zählen, das Deutschtum abzusprechen! 216

Je stärker antisemitische, völkische oder einfach nur kulturpessimistische Kreise das Moment der Irrationalität in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs einbrachten und als Stimmung zu etablieren wussten, desto mehr versuchte der Centraiverein, auf die Trumpfkarte des wahrhaft patriotischen, in Sprache und Kultur sich manifestierenden Gefühls zu setzen. Eva Reichmann hält den nationalsozialistischen Judenfeinden im Juni 1932 sogar entgegen, dass sie die deutschen Juden als Fremde zu stigmati215 Steinthal, Das auserwählte Volk oder Juden und Deutsche, 1890, S. 15. Wieder werden „Lessing und Herder, Kant, Fichte und Schiller, Goethe und beide Humboldt" genannt, um die Wesensverwandtschaft von Juden und Deutschen zu demonstrieren. Für sie habe sich das deutsche Judentum „neben den Propheten" am meisten begeistern können. 216 CVZ 45, 6. November 1931, S. 518 („Deutsch ist, wer deutsch fühlt"). Auch abgedruckt in MCVZ November 1931, S. 73.

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sieren suchten mittels einer irrationalen, mystifizierenden Argumentation, die der deutsch-jüdischen Synthese als einer gelebten und gefühlten Realität eigentlich sogar beipflichten müsste: Gerade ihr, die ihr euch als die Wiederentdecker der Seele ausgebt, als die Verkünder des Gefühls, das unter den Lasten des Verstandes noch nicht versunken ist; gerade ihr müßtet auch Ehrfurcht vor unserem Innersten haben, v o r der großen Mystik unseres tausendfach verfluchten und tausendfach gesegneten, tausendfach verleugneten und tausendfach echten deutschen und jüdischen Seins. 217

Wohlgemerkt: Hier ist von Mystik die Rede, nicht von Aufklärung, Vernunft und Humanismus. Solche und andere Aussprüche, die keinesfalls allein aufklärerischen Traditionen geschuldet sind218, widerlegen aufs deutlichste die oft kolportierte Behauptung, die C.V.-Juden hätten sich in dem langen anti-antisemitischen Kampf ausschließlich auf Vernunftprinzipien berufen und hinter einem stumpfen Sachlichkeitsvokabular geradezu verbarrikadiert. „Volkszugehörigkeit ist Seelenzugehörigkeit" — ein solches Diktum könnte in der Tat auch von einem ,Kulturantisemiten' wie Adolf Bartels stammen. Es stammt aber von dem deutsch-jüdischen Schriftsteller Georg Bernhard, der damit nicht das jüdische Volk meinte, sondern das deutsche Volk, dessen einer Teil eben die Juden sind.219 So gesehen erscheint es durchaus konsequent, dass sich unter den C.V.-Publizisten ganz entschiedene Gegner einer Primärgewichtung des Willensaktes fanden. Gefühle als weder kognitive noch willentliche Reaktionen eines Individuums auf die Inhalte seines Erlebens entziehen sich aufgrund ihrer extremen Subjektivität bei gleichzeitig relativer Invarianz jedweden Bewertungskriterien von außen. Sie sind höchstens angemessen oder unangemessen, niemals aber wahr oder falsch. Der Einzelne kann durchaus einen ,falschen', weil widersprüchlichen Willen zu den Maximen einer Handlung haben - Beispiel: Ich will nicht wollen —, niemals aber ein falsches Gefühl. Indem jedoch viele liberale Juden die seit Aristoteles gän-

217 CVZ 26, 24. Juni 1932, S. 263 („Wir fragen. Zur Rundfunkrede Georg Strassers"). 218 Ein weiterer Quellenbeleg unter vielen anderen findet sich in CVZ 45, 6. November 1931, S. 517 (Hans Herzfeld: „Nationalismus in Deutschland"). Herzfeld lässt die Volksgemeinschaft hier auf drei gemeinsamen Komponenten fußen: dem Schicksal, dem Willen und einem Patnotismus der „irrationalen Vaterlandsliebe". Um die Sprengkraft solcher Worte für den so bemüht sachlich-rationalen Impetus deutsch-jüdischer Synthetiker wissend, antwortet ihm Heinz Cohn nur eine Wochenausgabe später mit kaum übersehbarer Vorwurfshaltung: „Der deutsche Jude, der sein Judentum bewahren und zugleich am Neubau der deutschen Nation mitarbeiten will, hat im Lager des deutschen Nationalismus von Hitler bis Jünger nichts verloren" (CVZ 46, 13. November 1931, S. 526). 219 CVZ 49, 4. Dezember 1931, S. 561 (E. G. L.: „Wir deutschen Juden, ein Bekenntnis und eine Anklage").

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gige Definition des Willens als eines Ausdrucks menschlicher Unabhängigkeit von naturhafter Determination abwerteten, gaben sie auch eine bewährte Kulturwaffe gegen biologistische Attacken der Antisemiten preis. Denn wenn ein Publizist wie Heinrich Stern die Willenskraft für die Zugehörigkeit zur „Volksgenossenschaft" hoch veranschlagt, dann konnte er auch völlig zu Recht darauf verweisen, dass der von ihm bekämpfte britische Rassenantisemit Houston Steward Chamberlain als glühender Wahldeutscher das beste Beispiel für die Wirksamkeit freier Willensentscheidungen liefere.220 Dass Stern die Komponente des Gefühls ausgerechnet dann ins Spiel bringt, wenn er die fehlende hebräische Sprachkompetenz der Zionisten monieren zu müssen meint, kann jetzt nicht mehr verwundern. Das Gefühl als innere Stimme gesteht er zwar auch den Nationaljuden zu, der Wille wird im Folgenden dann aber doch wieder der emotionalen Lebenssphäre untergeordnet: „Der eigene Wille entscheidet, und er entscheidet, wie das Gefühl [...] es vorschreibt."221 5.3. Gäbe es einen Nobelpreisfiir deutsche Gesinnung... Der bildungsbürgerliche Superlativ: Hypostasierung der eigenen (Sprach-)Bildung und „Geistigkeit" (Apologie 3 vs. Agitationen 2-4.) 222 Ein Generalvorwurf der Antisemiten an das Judentum zielte, wie gesagt, auf die angebliche jüdische Nachahmung von fremden Sprachschätzen und Kulturgütern. Der Jude könne nicht schöpferisch tätig sein, er bleibe in all seiner Epigonalität ein Lügner und Verneiner. Angesichts solch vehementer Attacken erscheint es auf den ersten Blick erstaunlich, dass IdR und CVZ auf die besonders seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert so populäre Mimikry-Agitation der Antisemiten kaum explizit reagierten - erstaunlich auch, da gerade dieser Vorwurf in jüdischen Kreisen kontrovers diskutiert wurde und die Beiträge mancher deutschen Juden selber in judenfeindliche Fahrwasser abglitten. Karl Kraus schrieb: Nichts geht doch über den Instinkt der Tiere. Aber daß sie [die Juden] sich sprachlich dem Feind assimiliert haben, ist überraschend. Vielleicht eine Mimikry zum Schutz vor Verfolgung? Aber da sollte nur im Moment der Gefahr gejüdelt werden,

220 Stern, Warum sind wir Deutsche?, 1926, S. 26. 221 Ebd., S. 28. 222 Vgl. die Überschriften der Kap. IV. 2.2^1.2.4.

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man gewöhnt es sich leicht an; wenn sie unter sich sind, könnten sie deutsch reden. 223

Offenbar glaubten die Schriftleitungen der C.V.-Organe, sich auf eine solche Debatte nicht näher einlassen zu müssen. War unter Zuhilfenahme der Gefühlskomponente die Frage des Vorrangs von Rasse oder Sprache einmal zugunsten der Letzteren entschieden, dann gerieten im Blickfeld der C.V.-Juden auch die anderen Agitationen der Antisemiten zu hohlen Behauptungen. Mit dem weit gefassten Begriff des (muttersprachlichen) „Sprachgefühls" hatten die C.V.-Juden eine effektive Erwiderung auf das antisemitische Stigma gefunden, dass die Juden in ihren verbalen wie nonverbalen Verhaltensmustern animalischen „Instinkten" verhaftet bleiben würden - schließlich enthebt gerade die Fähigkeit zu einer geregelten, bewussten und dann auch emotional bewerteten Sprache den Menschen der Sphäre des Animalischen. Die C.V.-Juden betrachteten ihre Leistungsfähigkeit in der deutschen Sprache und Kultur als eine durch die Jahrhunderte gewachsene und darum letztlich erwiesene Tatsache. Auch deshalb musste ihnen der Vorwurf einer grundsätzlich mimetischen Nachahmung sprachlich-kultureller Güter besonders absurd erscheinen. In den seltenen Fällen, in denen Vergleiche aus der Biologie herangezogen werden, wird wiederum die Leistung des deutschen Judentums auf der kulturellgeistigen Ebene betont. Stefan Zweig, seit der Ausgabe vom 20. Mai 1927 freier Mitarbeiter der CVZ, zieht eine Analogie zwischen dem aus Neugierde reiselustigen jüdischen Geistesmenschen und dem „Schmetterling", der „auf seinen Flügeln unbewusst Pollen und Samen von einer Blüte zur andern" trage. Der Vergleich legt es nahe: Das schöpferische Vermögen resultiert gerade aus der jüdischen Bildungsbeflissenheit und Offenheit für andere Kulturen.224 Auf die Anthropomorphisierung des Juden als eines lebensbedrohlichen „Parasiten" antwortet Zweig mit dem positiven Gegenbild. Der Jude wird als Lebensspender geistiger Werte stilisiert. Es ist diese Emphase jüdischer „Geistigkeit", welche die Handschrift der beiden C.V.-Organe wesentlich bestimmt. Der „Grundzug jüdischen Menschentums" sei immer die „vertiefte geistige Prägung" gewesen, konstatiert ein Königsberger Rabbiner namens Lewin im April 1926 in CVZ225, und die Preisgabe des

223 Zit η. E. Grözinger 1998, S. 191. 224 CVZ 20, 20. Mai 1927, S. 281 (Stefan Zweig: „Flüchtiger Spiegelblick"). Die Schrifdeitung schreibt stolz: „Besonders -warm begrüßen wir nun auch Stefan Zweig unter unseren Mitarbeitern." 225 CVZ 14, 1. April 1926, S. 192 (Rabbiner Dr. Lewin: „Das Positive in der C.V.-Arbeit"). Auch abgedruckt in MCVZ Aprü 1926, S. 29.

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept

„Geistigen" sieht Paul Westheim im Januar 1928 gleichbedeutend mit der Entfremdung des Juden von „seiner eingeborenen Natur". Gegen den „Ungeist" heutiger Zeit in einem neuerlichen Kulturkampf zusammenzustehen, sei die Pflicht und „Mission" aller geistvollen Menschen, ganz gleich, welcher Konfession sie angehörten.226 Auch Westheim setzt also dem antisemitischen Stereotyp des Juden als eines bloßen Nachahmers die Stilisierung jüdischer Geistigkeit entgegen. Es sei eine „Tatsache", dass es dem Juden schwerer falle, „dem Geistigen sich zu entfremden als ihm zuzustreben". Dass dies an der traditionellen Bildungsbeflissenheit einer ausgesprochenen Schriftkultur liegt, ist durchaus intendiert. Der Name des in den Augen vieler deutscher Juden ersten Fahnenträgers der Aufklärung wird dabei nicht verschwiegen: Herder, „Geistmensch und Geisteskämpfer, der er war", habe den Blick auf die „Weltliteratur" und auf die Humanität auch jenseits nationaler Grenzen gelenkt.227 Durch ständig wiederholte Betonung des hohen Bildungsanspruchs228 und einer außerordentlichen Anzahl bemerkenswerter Bildungstaten229 im deutschen Judentum sollte dem antisemitischen Vorwurf einer unkreativen Nachahmungstendenz jüdischer Denker und Dichter die Stirn geboten werden: „Man suche eine andere Religionsgemeinschaft", schreibt Felix Goldmann 1912, „für welche es keinen größeren Schimpf gab als ungebildet zu heißen!"230 Unermüdlich halten die liberalen Juden die „deutschen Taten"231 eines Spinoza, eines Mendelssohn, eines Heine oder Bör-

226 C V Z 3, 20. Januar 1928, S. 30 (Paul Westheim: „Mission im Geistigen"). 227 Ebd. 228 IdR 17, Heft 1, Januar 1911, S. 22: „... die jüdischen Kaufleute, in denen notorisch das allereifrigste Bildungsstreben lebt"; vgl. auch IdR 12, Heft 2, Februar 1906, S. 68. Justizrat Loevinson lässt sich dort über Nachteile der deutschen Juden durch das neue preußische Volksschulgesetz aus: „Der Segen der Schulpflicht hat nirgends mehr in Preußen und Deutschland Anerkennung finden können als in der deutschen Judenheit. Bildung und Gelehrsamkeit erfreuen sich ja hier traditionell einer höheren Anerkennung als Besitz materieller Güter." 229 Selbst der nichtjüdische Liberale Gustav Freytag (1816—1895), dessen Roman „Soll und Haben" von 1855 den Antisemiten als Steinbruch für judenfeindliche Stigmata diente, kommt in IdR posthum als jemand zu Wort, der dem Judentum exzeptionelle Kulturleistungen testiert: „Die Juden haben auch in der Zeit ihrer Unfreiheit unserer Wissenschaft und Kunst unter sehr ungünstigen Verhältnissen eine merkwürdig große Zahl bedeutender Namen geliefert" (IdR 18, Heft 4, April 1912, S. 162, „Der Streit über das Judentum"). 230 IdR 18, Heft 7/8, Juli/August 1912, S. 322. Bezeichnend auch der Titel seines Vortrags zur Jahrhundertfeier der Emanzipation 1 8 1 2 - 1 9 1 2 : „Reichtum und Geisteskraft im deutschen Judentum." 231 IdR 21, Heft 5/6, Mai-Juli 1915, S. I l l (B. May, „Juden als Träger deutscher Kultur im neunzehnten Jahrhundert"): „Man könnte den ,Phädon' [Mendelssohns] eine deutsche Tat nennen."

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ne ihren Feinden entgegen232, deren „niedriges Bildungsniveau"233 kontrastiert wird. Allein der wieder und wieder diffamierte Heinrich Heine habe „seine Muttersprache mächtiger gesprochen [...] als alle deutschen Müllers oder Schultzes" zusammengenommen 234 Die Autoren in den C.V.-Organen, die sich zu Sprache und Kultur äußerten, legten immer wieder die Gewichte Bildung und Wissen auf die Messwaage patriotischer Gesinnung. Natürlich schwangen in den Periodika noch andere Gründe dafür mit, die deutsch-jüdischen „Superpatrioten"235 zu den „edelsten Deutschen"236 zu rechnen, die sich, gerade auf der sprachlich-kulturellen Ebene237, als „deutsch bis auf die Knochen"238 einschätzten. Nicht minder wichtig waren in diesem Zusammenhang die beharrlichen Nachweise jüdischer Kriegstüchtigkeit im Ersten Weltkrieg, die zu rühmen der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" nicht müde wurde. Doch stand letztlich auch diese Opferbereitschaft im Zeichen der Hoffnung, eines Tages die „Heimkehr" des Geistes im Schöße deutscher Klassiker erleben zu dürfen. Der Verweis auf die Bildungsbeflissenheit und in diesem Kontext dann auch auf die hohe Sprachkompetenz der jüdischen Deutschen blieb die eigentliche Konstante kulturspezifischer Apologetik und wurde zum bildungsbürgerlichen Superlativ der C.V.Presse. Sie half nicht nur, das Selbstbewusstsein der Anhängerschaft zu stärken, sondern schien auch den als irrational und geistfeindlich empfundenen Judenhass als Folge eines Minderwertigkeitskomplexes plausibel zu machen. „Die ernstzunehmenden Kritiker des jüdischen Deutschen sind in der Regel seiner G e i s t i g k e i t gram", schreibt Fritz Friedländer im

232 IdR 1, Heft 5, November 1895, S. 248 (Gerhard Stein: „Im Verwaltungswege"): „Andererseits hat die deutsche Sprache durch hervorragende jüdische Stilisten, wie Mendelssohn, Heine, Börne, Auerbach u. A. m., schon manche Bereicherung erfahren, wie das deutsche oder sagen wir lieber das universelle Wissen durch den jüdischen Denker Spinoza." IdR 3, Heft 7/8, Juli/ August 1897, S. 368 (M. L. W.: „Die Juden als Deutsche"): „Es haben ja Juden viel in englischer, italienischer, französischer Sprache geschrieben, aber einen Heinrich Heine hat doch nur Deutschland hervorgebracht." 233 IdR 17, Heft 1, Januar 1 9 1 1 , S. 21 (Max Wittenberg: „Die antisemitischen Handlungsgehilfen im Lichte der Statistik"). 234 CVZ 42, 18. Oktober 1929, S. 568 (Werner Rosenberg: „Die Welt ehrt Heine - Und Deutschland?"). 235 Haffner 1978, S. 110. 236 CVZ 5, 19. Februar 1926, S. 87 (Ludwig Holländer: „Der Bund des Geistes mit dem Leben"). Auch abgedruckt in: MCVZ Februar 1926, S. lOf. 237 Sondernummern wie die Anfang August 1927 herausgegebene CVZ-Edition „Unsere Mitarbeit an der deutschen Kultur" (CVZ 31/32, 5. August 1927) sollten die exzeptionelle Stellung der deutschen Juden im deutschen Kulturbetrieb testieren. 238 IdR 11, Heft 1, Januar 1905, S. 19 (Ludwig Holländer: „Die erste C.V.-Versammlung in München").

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Juli 1928.239 Im Ressentiment gegen die deutsch-jüdischen Kulturleistungen, gedeutet als „alles zersetzender Geist", sei die Hauptursache für Antisemitismus zu suchen. Mühelos ließen sich weitere Passagen anführen, die zeigen, dass CVZ auf die stilisierende Hypostasierung der jüdischen Geistigkeit und Beredsamkeit, welche die Antisemiten aus niederen Motiven in ihre Agitation einbrachten, nicht etwa mit Relativierungsversuchen der Kemaussage, sondern mit einem trotzigen „Ja, aber" reagierte. In einer Rede auf einer Protestversammlung gegen die Ernennung des Nationalsozialisten Wilhelm Frick zum thüringischen Innenminister im Juni 1930 hatte Alfred Wiener das nationale und kulturelle Selbstbewusstsein der akkulturierten Juden in einer Art Superlativ des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums gefasst: Ein völkischer Führer hat einmal gesagt: D e u t s c h sein heißt eine Sache u m ihrer selbst willen tun. G ä b e es einen Nobelpreis f ü r deutsche Gesinnung, so w ü r d e n die jüdischen Deutschen nicht die schlechtesten A n w ä r t e r auf diesen

Nobelpreis

sein. 2 4 0

Moritz Goldsteins These von der Paria-Rolle des Judentums in Deutschland taucht hier in neuem Gewand auf, was - wenig überraschend - wiederum zu scharfen Polemiken auf Seiten der Antisemiten führte.241 Die „hohe Geistigkeit" und sprachliche Befähigung der deutschen Juden werden in den C.V.-Organen als förderliches Phänomen gedeutet: Nicht der Zersetzung der deutschen Kultur, sondern deren Stärkung diene es. Wenn die Volksschullehrerin Lydia Stöcker im April 1926 von der geistigen Frühreife der jüdischen Kinder spricht, welche die jüdischen Eltern insbesondere durch „Theaterbesuche" und „Lektüre" förderten242, dann unterscheidet sich diese These nur in ihrer hier natürlich keineswegs antisemitischen Intention von dem Stereotyp, das im judenfeindlichen „Hammer" kolportiert wird.243 Inhaltlich ist dasselbe ausgesprochen: Der

239 C V Z 29, 20. Juli 1928, S. 4 1 0 (Frit2 Friedländer: „Bilanz/Unser Grundcharakter im Spiegel der Vergangenheit"). 240 CVZ 25, 20. Juni 1930, S. 328 (Julius Brodnitz: „Unsere Antwort an Dr. Frick, 3. Protestversammlung in der Reichshauptstadt"). 241 So „Munins" ironische Replik in Hammer 675/76, August 1930, S. 272: „Herr Wiener stellte fest, wenn es einen Nobelpreis für deutsche Gesinnung gäbe, dann würden die Juden die nächsten Anwärter auf diesen Preis sein. [...] Nein — es gibt nichts Erhabeneres. Höchstens etwa den ,erhabenen Haß' [...] gegen alles Nichtjüdische." 242 C V Z 16, 16. Aprü 1926, S. 214f. (Lydia Stöcker: „Wünsche an jüdische Eltern! Schulanfang"). 243 Vgl. ζ. B. Hammer 639, Februar 1929, S. 80 (A. F.: „Der Jude noch nicht genügend erforscht").

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Jude besitze eine geistige Überlegenheit, die sich vorzüglich im Sprachlichen offenbare. Über die Motive der Antisemiten für die paradoxe Beurteilung des Juden, ihn einerseits als minderwertigen Untermenschen zu dämonisieren und doch zugleich als hochbegabten Intellektmenschen und Redner zu stilisieren, waren sich viele Publizisten in den C.V.-Organen durchaus im Klaren. Als Beleg dafür kann eine überaus scharfsichtige Besprechung von Erich Kuttners Studie über die „Pathologie des Rassenantisemitismus" dienen: Aus dem pathologischen Charakter des Rassenantisemitismus erklärt sich nach Kuttner der Zwiespalt, dass der Jude für den Rassenfanatiker zugleich ein verächtliches und ein höchst überlegenes Wesen ist. Der gleiche Jude, der nach der Theorie der Rassenfanatiker unbegabt, minderwertig und lächerlich ist, erscheint ihm auf der Seite als ein dämonischer Widersacher, der die ganze Weltgeschichte zu lenken vermag. Der Antisemit legt dem Juden eine ans Wunderbare grenzende Allmacht zu.244

Die Antisemiten benötigten, daran sei noch einmal erinnert, beide Komponenten, um das Stigma des alle arischen Werte gefährdenden Juden komplettieren zu können: die These des hochbegabten und die Gegenthese des zugleich minderwertigen Feindes, gewaltig in seiner Anpassungs-, gewalttätig in seiner Zerstörungsgabe. In antisemitischer Logik zeigte sich die jüdische Hochbegabung in einer dem Juden eigenen Eloquenz, während die Falschheit und Lügenhaftigkeit seiner Semantik sein minderwertiges Wesen offenbarte. Dieser Stigmatisierung begegneten die liberal-jüdischen Apologeten nun mit einer einseitigen Stilisierung, die zuweilen auch biologisches Vokabular nicht scheute und dadurch die Rassendoktrin mit ihren eigenen Waffen zu schlagen suchte. So wähnt Frank Thieß das „religiöse, wissende [jüdische] Volk" dem „ungesammelten und nur in Einzelpersönlichkeiten sich hoch aufrichtenden [deutschen] Volkstum" unter anderem deshalb überlegen, weil das Judentum auf eine „viertausendjährige streng geistige Konzentration" zurückblicke und dadurch einen höheren Intelligenzquotienten regelrecht geerbt habe: Weisheit ist in alten jüdischen Familien geradezu Erbgut und in so hohem Maße, daß der Durchschnittsjude vor dem Durchschnittsgermanen zum wenigsten die Intelligenz voraus hat.245

244 C V Z 15, 11. April 1930, S. 195f. (S. W. Jaeger: „Pathologie des Rassenantisemitismus. Erich Kuttners politisch-psychologische Studie"). 245 C V Z 44, 1. November 1929, S. 592f. (Frank Thieß: „Bemerkungen zur Rassenfrage"). [Kursive: Α. K. ].

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5.4. ...die antisemitischen Helden [...] geigen, daß sie selbst sogar mit der deutschen Sprache noch auf Kriegsfuß stehen. Der Gegenangriff: Vorwürfe gegen antisemitische Unbildung und Sprachinkompetenz (Apologie 4 vs. Agitationen 2-4 246 ) Den antisemitischen Diffamierungen des jüdischen Umgangs mit Sprache entgegneten die liberalen Juden nicht nur, indem sie auf die Bildungsbeflissenheit und traditionelle Sprach(zu)gewandtheit des deutschen Judentums hinwiesen und seine Kulturleistungen in der Heimat unterstrichen. Konfrontativer noch war die direkte Infragestellung der Judenfeinde selbst. Es wurde in Zweifel gezogen, dass deren Bildungsgrad sprachlichkulturellen Mindestanforderungen genügte. Nach 1918, als sich abzeichnete, dass die Juden um den versprochenen Lohn für ihr Engagement im Krieg betrogen werden sollten, ging der Centraiverein verstärkt in die Offensive. Der Zorn über den immer dreister anstürmenden Antisemitismus bei gleichzeitig gesteigertem kulturellem Selbstbewusstsein der deutschen Juden veranlassten IdR und CVZ, den antisemitischen Agitatoren ihrerseits ein „schlechtes Deutsch" vorzuwerfen. Im Dezember 1918 schreibt ein Rezensent über die Erzeugnisse des „geradezu borniert antisemitischen Literaturhistorikers" Adolf Bartels: Das völlig ungepflegte schlechte Deutsch, in dem sich Vordersatz und Nachsatz beständig in den Haaren liegen und oft geradezu widersprechen, ist auf längere Strecken kaum zu ertragen.247

Den Judenfeinden wird das Paradoxon vorgehalten, einerseits ihr Deutschtum zu glorifizieren und gegen alles ,Fremdartige' zu hetzen, andererseits aber die eigene Muttersprache wie eine Fremdsprache zu behandeln und dadurch zu misshandeln: Und die großen, mittleren und kleinen antisemitischen Helden ziehen durch das Land und verkünden die Schlechtigkeit des Judentums. Sie verkünden sie, pochen dabei laut an ihr deutsches Herz, sagen, daß sie das alleinige Deutschtum vertreten, und zeigen dabei, daß de selbst sogar mit der deutschen Sprache noch auf Kriegsfuß stehen. Denn gar mancher von denen, der da draußen im Lande die .deutsche Sache' der Antisemiten betreibt, ist nicht einmal in der Lage, seine Rede in einem richtigen

246 Vgl. die Überschriften der Kap. IV. 2.2-2.4. 247 IdR 24, Heft 12, Dezember 1918, S. 472. Die Redaktion lässt hier einen Rezensenten der „angesehenen" „Deutschen Literaturzeitung" für sie sprechen. Dadurch, dass die Attacke aus einer nichtjüdischen Zeitung übernommen wird, soll sie unangreifbarer werden. Eine weitere, in C V Z nicht abgedruckte Gegenattacke auf Bartels' Sprache findet sich in dem betont ironischen Aufsatz M C V Z Januar 1926, S. 6 (Hugo Lachmanski: „Blut oder Geist. Eine Abrechnung mit Adolf Bartels"): Ihm sei „das Recht verwiesen, sich als Lehrmeister der deutschen Sprache aufzuspielen. [...] Ja, Herr Bartels beherrscht, wie ersichtlich, die deutsche Sprache .voll'".

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Deutsch zu halten. Eine traurige Garde, die sich die Antisemiten da gebildet haben. 248

Die ungenügenden Sprachkenntnisse antisemitischer Autoren ausgerechnet im republiktreuen Satireblatt „Simplizissimus" entlarvten sich, so ein Schreiber mit dem sprechenden Pseudonym „Ridens"249 Ende Mai 1929, gerade an ihrem mangelhaften „Sprachgefühl" 250 Ein härteres Urteil ist im Sinne der Herderschen Muttersprachenideologie kaum möglich: Wer kein Gefühl für eine Sprache zu entwickeln imstande ist, der bleibt in ewiger Distanz zu ihr. Der hinter all diesen Artikeln liegende Gedanke: Diejenigen, welche die Grundfesten der deutschen Kulturnation zu erschüttern suchen, beherrschen nicht einmal die Grundlage jeder Zivilisation und Kulturgemeinschaft. Die keineswegs mehr nur sachlich abwägenden Angriffe gegen eine vorgeblich mangelhafte Sprachbeherrschung, ja, gegen einen diachronen Sprachverfall in völkischen Kreisen gehen so weit, dass ein Rabbiner namens B.Jakob im Sommer 1925 den Sprachstil des Autors eines Lexikonartikels über „Antisemitismus" seinerseits pejorativ markieren zu können meint. Allein das schlechte Deutsch in seinen Zeilen rechtfertige die Vermutung, „daß der Verfasser in die Schule der Völkischen gegangen ist"251. Wenn der Inhalt die Verfassung des Schreibers schon nicht direkt verrät, dann doch zumindest indirekt der Stil. Um die Absurdität der antisemitischen Sprachverfemung zu demonstrieren, gingen ganze Passagen aus anderen Zeitschriften und Zeitungen, die sich kritisch mit antisemitischen Sprachpolemiken auseinandersetzten, wortwörtlich in den Druck. Jeder Misston im Kanon rechtskonservativnationalistischer Stimmen war den jüdischen Apologeten ein willkommener Anlass, in die Offensive zu gehen. Aus der Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins, „Muttersprache", nicht gerade philosemitischliberalpolitischer Tendenzen verdächtig, zitiert CVZ die Kritik eines Professor Sigismund an der „Stilverwilderung" der Völkischen. Der Sprachpurist wettert ganz im Stile Eduard Engels gegen die „Verhunzierung" mit Fremdwörtern, die einem Volk zugemutet werde, „dem der Himmel zwei

248 IdR 26, Heft 9, September 1920, S. 267f. (R. Α.: „Zeitschau") [Kursive: Α. K.]. 249 Lateinisch: „lachend", „der Lachende". 250 C V Z 22, 31. Mai 1929, S. 288 (Ridens: „Die Erben des Rabbi Tableau. Der Emil-LudwigBrief des - .Simplizissimus'"). 251 C V Z 29, 17. Juli 1925, S. 504 (Rabbiner B. [Benno?] Jakob: „Antisemitismus im Konversationslexikon"). Es handelt sich hier trotz der anderen Schreibweise wohl um den „liberalen Dortmunder Rabbiner und profilierten Bibel-Kommentator" Benno Jacob (Barkai 2002, S. 218).

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Meister der Form wie Goethe und Schiller geschenkt hat".252 Passgenau ins Bild rückt der Zusatz, dass der Lehrstuhl von Friedrich Sigismund ausgerechnet in Weimar liegt. Es genügt, ihn in Klammern hinter den Namen des Professors zu setzen, um jedem Leser vor Augen zu führen, welche Prinzipien sich hier diametral gegenüberstehen: das bürgerliche Sprachideal der „Klarheit" und „Kraft" bei den deutschen Klassikern253 einerseits und andererseits die „Dunkelheit" und „Überschwänglichkeit" der „Sprachlichen Sünden jungdeutschen Schrifttums". Damit ist die antisemitische Sprachverfemung gegen ihre Urheber gekehrt. Suggeriert wird: Obskur und defizitär schreiben nicht die Juden, sondern die Judenfeinde. „Deutsch sein heißt bekanntlich wahr sein", kommentiert die CVZ-Redaktion die Weigerung von acht im Januar 1929 vor Gericht stehenden Nationalsozialisten, wahrheitsgemäß über ihre Ausschreitungen in Bremen zu berichten.254 Die nahe liegende Assoziation: Undeutsche (wie eben diese Nationalsozialisten) müssen lügen. All diese Gegenangriffe belegen, dass die C.V.-Periodika sich nicht darauf beschränkten, „das Hohelied des Humanismus" zu singen255. Sie waren beredter Ausdruck des verletzten Stolzes der C.V.-Juden darüber, dass die deutsche Gesellschaft es nicht nur duldete, sondern teilweise sogar begrüßte, wenn die so bildungsbeflissenen jüdischen Staatsbürger als „vogelfreie" Undeutsche diffamiert wurden256 - und das ausgerechnet von selbst ernannten „letzten Vorkämpfern für das Deutschtum", die doch unfähig waren, sicher auf den Grundpfeilern des bildungsbürgerlichen Kulturmodells zu stehen. Die Gräfin Freda Marie zu Dohna, eine nichtjüdische Publizistin in CVZ, geht in ihrer Rezension des Buches „Erotik und Rasse" von Herwig Hartner mit einer Argumentationsweise ins Gericht, die von der — hier literarischen — Sprache auf die „Rasse" des Autors Rückschlüsse zu ziehen

252 CVZ 26, 1. Juli 1927, S. 375 (Professor Sigismund: „Deutschlands Erneuerer. Sprachliche Sünden jungdeutschen Schrifttums"). 253 Vgl. Winde 2001, S. 69: „Das bürgerliche Sprachideal basierte auf den Tugenden der Reinheit und Klarheit." 254 CVZ 4, 25. Januar 1929, S. 47f. („Die Sühne für die Bremer Überfälle/Gefängnis für acht Nationalsozialisten"). 255 CVZ 21, 20. Mai 1932, S. 206 (Walter Strauss II; Ludwig Holländer: „Zum Problem des Nationalismus/Zwei Buchbesprechungen"). 256 IdR 11, Heft 1, Januar 1905, S. 6 („Graf Pückler, ζ. B. der einzige Vertreter des wahren Deutschtums"). Der als „Judenschläger" bekannte schlesische Graf Walter Pückler-KleinTschirne hatte mehrfach öffentlich zu Mordpogromen aufgerufen. Seine in IdR dokumentierten Äußerungen, die in einem Gerichtsprozess gegen ihn zur Sprache kamen, sind zugleich ein psychopathologisch interessantes Beispiel für die labile geistige Verfassung mancher judenfeindlicher Demagogen.

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versucht. Einerseits hatte der judenfeindlich justierte Hartner das Werk des populären deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann gelobt; andererseits musste er sich im nächsten Schritt wieder von diesem abgrenzen, weil eine uneingeschränkt positive Identifikation selbst mit einem einzelnen Juden für einen ausgewiesenen Judenfeind nicht denkbar war. Hartners Lösung des Dilemmas, von zu Dohna zitiert: Wassermann wird sogar von Judengegnern vor allem deshalb verehrt, weil sein Deutsch beim erstmaligen Lesen noch von unwiderstehlich mitreißender Kraft zu sein scheint; die abermalige Prüfung aber müsse ergeben, dass es den Vergleich mit der Großartigkeit anderer, eben nichtjüdischer Werke nicht mehr standzuhalten vermag. Wassermanns „schwere, überladene, so wenig unmittelbare Sprache" lässt ebenso wie „die Geistigkeit seiner Gestalten" den Dichter doch als Juden erkennen. Unwiderstehlich trete die „jüdische Wesenheit" hervor. Die Gräfin antwortet auf diese recht gezwungene Schlussfolgerung Hartners mit einer für CVZ typischen Replik, welche die ganze Absurdität der antisemitischen Sprachpolemik durch Gegenbeispiele aufzudecken sucht: W e n n eine schwere, überladene, wenig unmittelbare Sprache ein Beweis f ü r jüdische Wesenheit ist, dann müssen w i r ζ. Β. Κ a η t zu den J u d e n r e c h n e n . 2 5 7

Die Subjektivität und Diffusion der Erkennungszeichen jüdischer Sprachlichkeit sollen damit abermals offen zutage liegen. Die stigmatisierenden Signa für eine vorgeblich defizitäre Sprache der Juden in Wort und Schrift verfügen über keinerlei Beweiskraft und sind auf jeden anderen, auch nichtjüdischen Sprachteilnehmer anwendbar - selbst auf die Granden in der Liga deutscher Dichter und Denker258, ja, sogar auf den Titan unter den deutschen Aufklärungsphilosophen schlechthin. Der Artikel der Gräfin ist nicht frei von Courage, zumal sie weder ihre Stellung noch ihre ,Rassenzugehörigkeit' verschweigt. Lange Zeit habe sie gezweifelt, ob sie „als Arierin berufen sei, eine Kritik dieser deutschvölkischen Schrift in dem führenden Blatte des deutschen Judentums zu schreiben". Schließlich scheint ihre Empörung ob des zunehmenden Antisemitismus gesiegt zu haben, so dass sie zu dem Entschluss gekommen sei,,gerade in dem Blatte des Centraivereins der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" zu 257 C V Z 19, 7. Mai 1926, S. 254 (Freda Marie Gräfin zu Dohna: „Erotik und Rasse"). Auch abgedruckt in M C V Z Mai 1926, S. 39, was beweist, dass dem C.V. die Worte der konservativen, christlichen Gräfin auch gegenüber einem vorwiegend nichtjüdischen Leserkreis besonders wichtig waren. 258 In IdR 26, Heft 1, Januar 1920, S. lOf. (Dr. L.: „Semi-Imperator") wird die antisemitische Strategie, jeden — ζ. B. philosemitischen - Missliebigen zum Juden zu stempeln, klar herausgearbeitet.

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publizieren — ein kleiner Triumph für den C.V., der bestrebt war, ideologische Überläufer oder zumindest Grenzgänger verstärkt zu Wort kommen zu lassen. Indem die streitbare Gräfin sich gegen die These einer fehlenden Unmittelbarkeit in der Sprache jüdischer Sprecher und Literaten wehrt, wird genau das offen attackiert, was Antisemiten vom Schlage eines Fritsch oder Trebitsch unermüdlich als Parademerkmal des mangelhaften Umganges der Juden mit Sprache angeführt hatten: Was nicht unmittelbar auftritt, das ist verschleiernd, unwahrhaftig, ja, bewusst lügnerisch - und insofern jüdischer Provenienz. Die Maske der jüdischen Mimikry wird demjenigen übergezogen, der sich judenfreundlich gibt oder einfach nur jüdische Themen behandelt, ohne in krude Rassentheorien abzudriften. Und da die Rasse im Zweifelsfall dann doch hinter den Neigungsstrebungen stehen kann, ist es möglich, jeden als Literaten mit dem Stigmatisierungstopos „Jude" zu markieren und zu diffamieren. 5.5. Mauschelnde Bewegung und betonter Jargon. Der innere Zwiespalt:: Die ambivalente Bewertung vorgeblich jiddischer Residuen im Deutschen (Apologie 5 vs. Agitation 5 259) Dass der strategische Paradigmenwechsel der Antisemiten nicht konsequent linear von „Kultur" und „Sprache" zu „Rasse" verlaufen ist, sondern immer auch zyklisch hin und her rotierte, beweisen die von den C.V.-Organen dokumentierten Angriffe auf den jüdischen Umgang mit Sprache, die nicht explizit auf biogenetische ,Argumente' rekurrieren. Dazu gehören Hetzkampagnen gegen das so genannte „Jüdeln" im Kulturbetrieb und gegen die angebliche „Mischung von Jargonbrocken und Papierdeutsch, wie sie von den halbgebildeten Juden der Großstädte gebraucht wird"260; dazu müssen die im Pseudojargon verfassten längeren Schmähtiraden gegen jüdische Schriftsteller wie Kurt Tucholsky gerechnet werden261; dazu zählt einerseits der gezielte Einsatz bestimmter Idiome

259 Vgl. die Überschrift des Kap. IV. 2.5. 260 IdR 24, Heft 1, Januar 1918, S. 37 („Vermischtes"). 261 IdR 27, Heft 4, April 1921, S. 136f. („Vermischtes"). IdR zitiert aus der landwirtschaftlichen Zeitschrift „Egge und Pflug" und kommentiert die Passage als „antisemitischen Erguß" gegen Tucholsky. Tatsächlich ist die Passage gespickt mit einem Pseudo-Jargon, der über sprachliche Stereotypisierungen den Sprachverwender zu diffamieren sucht: „Reisende, meidet Bayern! Das ist die Aufschrift von einem Schmontzes was geschrieben hat der Chaim Wrobel, alias Teiteles Tucholsky, alias Isaak Achselduft in der ,Weltbühne' in der Spreestadt Berlin. [...] Der Wrobel berschwört die Mischpoche vom Kurfiirstendamm, dass sie nix mehr nach Bayern fahrt. Er haißt uns eine Partikularistenblase."

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oder Pseudo-Idiome (meist ,anomale' Diphthonge wie „haißt" statt „heißt", „Lait" statt „Leute", „daitsch" statt „deutsch" oder skurrile Lautmalereien wie das häufig wiederholte „Waih!"262), andererseits die Karikierung der jüdischen Sprechweise durch Verbinversionen und Dissonanzen, allgemein durch das Anschlagen eines „mauschelnden Tons"263 — alles dies Methoden, um die ,Imago' jüdischer Minderwertigkeit im Umgang mit Sprache wach zu halten bzw. wach zu rufen. 264 Indes wurden nicht nur antisemitische Sprachverfemungen dokumentiert und angeprangert. Die C.V.-Periodika bezogen auch selber Stellung zu der Verwendung (pseudo-)jiddischer Restsubstrate im Deutschen, also zum so genannten Jüdeln'. Welche Furcht die C.V.-Juden vor einer gesellschaftlichen Neuetablierung des altbekannten Stereotyps vom Mauscheljuden hatten, führen Artikel vor Augen, die sich vehement gegen eine sprachspezifische „Verzerrung" jüdischer Figuren auf den Theater- und Kabarettbühnen Berlins richten.265 Den Umstand, dass diese Bühnen nicht von antisemitischen Hetzern, sondern von deutschen Juden bespielt, besucht und geleitet wurden, empfand der C.V. als unerträgliche Provokation. Künsderische Freiheit dürfe nicht dazu fuhren, von einem entstellten Bild ausgehend, die Entstellung gewissermaßen zur Regel zu machen und dadurch einem ganzen Volksteil ein Stigma aufzudrücken, das nun einmal vorhandene Vorurteile vergrößern und vertiefen muß, besonders wenn sie aus jüdischem Munde bestätigt werden 2 6 6

262 IdR 6, Heft 6/7, Juni/Juli 1900, S. 349 („Korrespondenzen"). Die Redaktion führt hier eine Passage aus dem antisemitischen Blatt „Sachsenschau" vom 19. Juli 1898 an, in der die Übernahme eines jüdischen Schnittwarengeschäftes durch einen „Christen" als Triumph über das Judentum gefeiert wird: ,„Waih geschrieen!' ist das ein Schreck, der .unseren Lait' in die Knochen fährt!" CVZ 44, 1. November 1929, S. 587 („Der Aufruf der Satten. ,Eine ganze Reihe von Juden'") wiederum dokumentiert, wie die deutschnationale Zeitschrift „Unsere Partei" den Physiker Albert Einstein und den Maler Max Liebermann mittels antisemitischer Sprachmarkierungen zu diffamieren sucht, weil diese sich an einem Protestaufruf gegen Hitlers und Hugenbergs Volksbegehren gegen den Young-Plan beteiligt hatten: „Und weiter heißt es in dem deutschnationalen Aufruf: ,Eine ganze Reihe von Juden! Warum? Nebbich! Was haißt Volksbegehren? In Daitschland hot nur einer zu begehren, und dos ist der Jud! Nu, wie haißt?'" 263 IdR 21, Heft 10/11, Oktober/November 1915, S. 226 („Antisemitismus in den Schulen"). 264 Vgl. dazu Bering, der einschlägige Stellen aus Goebbels' Propagandablatt „Der Angriff heranzieht: Bering 1991, S. 339f. 265 „Auf der Kleinbühne, in manchen Kabaretts und Varietes wird der Jude in schnöder Verzerrung zur besonderen .Attraktion' gemacht. Er wird äußerlich und innerlich zur größten Karikatur verunstaltet. Er sieht liederlich aus, er mauschelt übertrieben, er forciert die Gebärde, er ist frech, betrügerisch, gemein, habgierig" (CVZ 18, 1. Mai 1925, S. 314f., Fritz Engel: „Der Jude auf der Bühne"). 266 CVZ 18, 30. April 1926, S. 243 (L. H. [Ludwig Holländer]: „Gegen die Verzerrung des jüdischen Wesens. Das Jüdeln in den Kabaretts").

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Unter allen Umständen seien deshalb die „mauschelnde Bewegung und der betonte Jargon" zu bekämpfen267, jenes „alberne Jüdisch-Deutsch, das weder jüdisch noch deutsch ist"268 und die von Mendelssohn verachtete „Vermischung der Sprachen" in verzerrter Form aufzuweisen schien. Erbost fragt Alfred Wiener im November 1925: W e l c h e r deutsche J u d e oder welcher J u d e aus d e m Osten spricht Sätze wie: „Drück'n Se mers af mei Herz u n sogn S e mer, w a s Se spüren!" Solche „Kulturmenschen" malen die Herren Völkischen v o m Schlage der Dinter und K u n z e ab. U n s sind sie n o c h nicht begegnet. 2 6 9

Die Kritik der C.V.-Publizisten richtete sich nicht gegen rein jiddischsprachige Bühnen, die im Zuge des ostjüdischen Exodus nach russischen Pogromen vor allem in Berlin vermehrt gegründet wurden. Kritisiert wurde vielmehr die damals nicht unübliche Praxis im Theaterbetrieb, jüdische Figuren in ihrer Aussprache oder Wortverwendung auf eine ähnliche Weise zu kennzeichnen, wie dies die antisemitischen Agitatoren seit Jahrhunderten vorexerziert hatten. Mochten die Motive der überwiegend jüdischen Kulturschaffenden auch nicht antisemitische sein, so befürchtete der C.V. doch mit einem gewissen Recht, dass solche Markierungen auch die vollends akkulturierten Juden des C.V. „in den Augen ihrer nichtjüdischen Mitbürger herabzusetzen" vermochten — ob dies nun auf der Bühne, im Kino oder Radio geschah.270 Dass es sich hier um keine Randdiskussion einiger promovierter C.V.Redakteure handelte, sondern um eine Problematik, die auf eine breite Resonanz in der jüdischen Bevölkerung Berlins stieß, belegen die zahlreichen „Protestkundgebungen" des Centraivereins mit Hunderten von Besuchern in überfüllten Sälen.271 Vehement waren die C.V.-Juden dabei bemüht, ihren Standpunkt auch in der nichtjüdischen Presse vertreten zu wissen und begrüßten jeden Artikel, der sich der Meinung des jüdischen Abwehrvereins anschloss. Die journalistisch aktiven C.V.-Mitglieder prangerten die von ihnen empfundenen Missstände solange an, bis endlich einige Berliner Theaterdirektoren davon überzeugt werden konnten, nur noch „Darbietungen ohne selbstbeschimpfende Mauscheleien" in ihr Programm aufzu267 Ebd. 268 C V Z 21, 24. Mai 1929, S. 278 (Ingram: „Der Freiherr von Holzschuher. Ein .Satiriker' und ein Bücherfreund"). 269 C V Z 46, 13. November 1925, S. 731 (Alfred Wiener: „Kabaretts, Witzbücher, heitere Wochenblätter und die ,jüdische Witwe'"). 270 C V Z 1 1 , 1 3 . März 1925, S. 192 (C. Pinn: „Gegen das Jüdeln im Radio. Übergroße Empfindlichkeit?"). 271 C V Z 18, 30. April 1926, S. 243 (L. H. [Ludwig Holländer]: „Gegen die Verzerrung des jüdischen Wesens. Das Jüdeln in den Kabaretts").

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nehmen.272 Der Druck, den der C.V. auf jüdische Künstler ausübte, muss enorm gewesen sein, denn am Ende hatten sich die C.V.-Juden sogar eine Art Vetorecht erkämpft. Als der wegen seines Vortragsstils hart angegangene Kabarettist Professor Wiesenthal brieflich versicherte, vor jedem seiner Auftritte das jeweilige Programm mit dem C.V.-Vorstand durchzusprechen, konnte die CVZ-Schrifdeitung im Februar 1927 zufrieden verkünden: „ U n s e r K a m p f g e g e n d i e m a u s c h e l n d e n K a b a r e t t s [...] geht einem erfolgreichen Ende entgegen."273 Die Angst des C.V. vor dem ,jüdelnden' Kabarett war nicht unbegründet, hatte der idiomatische Witz über vorgeblich genuin jüdische Angewohnheiten doch nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und dem Erstarken des Antisemitismus seine Unbeschwertheit verloren.274 Dass allerdings nicht nur die verständliche Abwehr sprachlicher Stigmatisierungen die Motivation für die Kritik der C.V.-Publizisten bildete, sondern zuweilen auch eigene Ressentiments gegen die überwundene Vergangenheit des Westjiddischen mitspielten, belegen all jene Artikel, in denen jiddische Restsprachenelemente im Neuhochdeutschen eine pejorative Bewertung erfahren. Wenn beispielsweise Julius Bab die Wandlung des jüdischen Schauspielers Paul Graetz vom „unappetitlichen Singspielhallenkomiker" zum ausdrucksstarken Schauspieler in Berlin lobt, dann nicht ohne sich darüber zu mokieren, dass Graetz „seinen maßlos prononcierten jüdischen Akzent noch keineswegs immer freiwillig und als Kunstmittel zu benutzen schien". Solch „grobe Angewohnheiten" würden aber doch mehr und mehr durch „Töne eines wirklichen Menschendarstellers" ersetzt. Wohlgemerkt: Bab polemisiert hier nicht gegen die bewusst stigmatisierende Verzerrung jüdischer Figuren, sondern gegen die unfreiwillige Aussprache eines Mimen, weil sie ihn an einen bestimmten jüdischen Tonfall eünnert,275 Mendelssohns Abneigung gegen den „Jargon" der „Unsittlichkeit"276 blieb im Bewusstsein vieler akkulturierter Juden offenbar genauso tief verwurzelt wie das Gegenideal einer neuhochdeutschen ,Sprachreinheit'. Heinz Stroh ist die Inszenierung von Alfons Paquets Drama „Sturmflut" vor allem deshalb des Lobes wert, weil dem Schau-

272 C V Z 53, 31. Dezember 1926, S. 695 (Sehr.: „Eine letzte Mahnung! Immer noch Würdelosigkeit in Berliner Kabaretts"). 273 C V Z 5, 4. Februar 1927, S. 61 (Sehr.: „Erfolg im Kabarettkampf. Es geht auch ohne .Mauscheln' in den Kabaretts"). 274 Wassermann 1986, S. 24f. 275 C V Z 48, 26. November 1926, S. 625f. (Julius Bab: „Paul Graetz"). 276 Vgl. Kap. III. 1 , S . 81.

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spieler Alexander Granach eine ,sprachreine' Darstellung des Juden gelungen war. „Der Tonfall", so Groh, „liebkoste die Sprache".277 Althaus hat es materialreich dokumentiert: Der mentalitätsgeschichtlich wertungsbeladene Ausdruck „Mauscheln" wurde nicht nur jahrhundertelang zur stigmatisierenden Sprachmarkierung der Juden, sondern auch von vielen Juden selbst benutzt, um eine von der Norm abweichende Sprachverwendung zu deklassieren.278 Das führte mitunter zu dem merkwürdigen Phänomen, dass manche Aussagen in IdR und CVZ, die sicherlich ursprünglich der Verteidigung gegen antisemitische Sprachpolemiken dienten, selber agitatorisch und polemisch sind. Denn das „widerliche Gemauschel", von dem Artur Schweriner im Dezember 1927 voller Abscheu spricht279, rief bei vielen C.V.-Juden eine Aversion hervor, die nicht immer mit der Notwendigkeit einer anti-antisemitischen Abwehrarbeit erklärt werden kann. Teilweise kamen dabei auch eigene chauvinistische Ressentiments zum Vorschein. Schweriners Artikel intendiert eben mehr als die hehre Kampfansage gegen das „Mauscheln in den Kabaretts", das in Budapest „unter dem begeisterten Beifall des jüdischen Publikums" stattfand; er offenbart auch den Ekel des C.V.-Vorstandsmitglieds vor pseudo-jiddischen Idiolekten, die ausgerechnet dem Mund eines „Negers" entstammen.280 Mit seiner Kunstkritik an jüdischen Theatern und Kabaretts glaubte der Centraiverein seiner Pflicht als anti-antisemitischer Abwehrverein nachgehen zu müssen, doch erweist er sich zuweilen auch als puritanischer und konservativer Schulmeister in Sachen künstlerischer Konformität. Dass ausgerechnet das Berliner „Tingel-Tangel", die nach 1933 von den Nationalsozialisten observierte und schließlich zwangsgeräumte Bühne des deutsch-jüdischen Librettisten Friedrich Holländer, „Zerrbilder" von Juden darbieten würde281, kann selbst im Vereinsblatt nicht ohne Widerspruch bleiben. Im Zusammenhang mit der in diesem Artikel geäußerten Filmkritik argumentiert Friedrich Brodnitz in seiner Replik, dass man als deutscher Jude lernen müsse, durchaus auch mit den Abweichungen vom Idealtypus des aufgeklärten, sprachlich akkulturierten Juden zu leben:

277 CVZ 12, 19. März 1926, S. 166 (Heinz Stroh: „Jüdische Rollen auf Berliner Bühnen. .Gesellschaft' — ,Sturmflut' — Juarez und Maximilian' — ,Der entfesselte Wotan' - ,Duell am Lido' — Hermann Struck und Else Lasker-Schüler zum Geburtstage"). 278 Althaus 2002, S. 14. 279 C V Z 49, 9. Dezember 1927, S. 681 (Artur Schweriner: „Kabaretts und Film. Rückfälle ins Unwürdige in Berliner Kabaretts"). 280 Ebd. 281 C V Z 40, 2. Oktober 1931, S. 475 („Wir hören und lesen. Weg mit dem ,Spuk' im /TingelTangel"·).

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Wenn es uns angenehm ist, daß der idealisierte Jude — im „Nathan" — seine Wirkung von der Bühne herab ausübt, dann müssen wir es uns auch gefallen lassen, wenn jüdische Alltagstypen mit den ihnen innewohnenden humoristischen Werten dargestellt werden. 282

Anders, obwohl nicht minder ambivalent, verhielt sich der C.V. in seiner Einstellung zum Jiddischen. Da es sich hierbei nicht nur, aber in erster Linie um eine innerjüdische Kontroverse zwischen C.V.-Juden und Zionisten handelte, soll das anti-antisemitische Argumentationsmuster in den beiden C.V.-Organen IdR und CVZ abschließend noch einmal zusammenfassend dargestellt werden. 5.6. Fazit Der C.V., als Interessenvertretung aller deutschen Juden gegründet, um die staatsrechtlich gewährte Egalität auch gesellschaftlich zu verwirklichen, musste sich geradezu zwangsläufig an Herder und Humboldt als den beiden wohl einflussreichsten Exponenten des korrelativen Zusammenhangs von Sprache und Nation orientieren. Der Geist eines Individuums wie einer Gemeinschaft artikuliert sich in der Sprache, während die sich kontinuierlich wandelnde Sprache dem Volksgeist eine Nation zum Leben erweckt und sie am Leben erhält. Diese Quintessenz einer organischhumanistischen Sprachphilosophie bildete die ideelle Grundlage des liberal-jüdischen Sprach- und Kulturverständnisses. Sie stand deshalb auch im Zentrum einer Argumentation, die sich gegen den biologistischchauvinistischen Volksbegriff des 19. Jahrhunderts richtete. Den Stereotypen der Antisemiten begegneten die C.V.-Juden mit Gegen-Bildem von hohem mentalitätsgeschichtlichen Traditionsgehalt (Apologien 1-5 vs. Agitationen 1-6 283 ). Mittels der Denkfigur Muttersprache, welche die Ebenen von Sprache und Herkunft zusammenband, und ihrer Parallelisierung mit der räumlich-nationalen Identitätskomponente Vaterland ließ sich die essenzielle Wirkkraft der Sprache gegen die Rassendoktrin in Stellung bringen (Apologie 1 vs. Agitation 1). Indem die C.V.-Juden die deutsch-jüdische Synthese immer wieder als Synthese aus Muttersprachen- und Vaterlandsliebe deuteten, suchten sie das Konzept der sprachbestimmten Kulturnation, an das sie ihre Akkulturation und damit einen zentralen Teil ihrer kulturellen Identität knüpften, gegen Angriffe zu be282 C V Z 43, 23. Oktober 1931, S. 503 (Friedrich Brodnitz: „.Agent Silberstein.' Berechtigte und unberechtigte Filmkritik"). 283 Vgl. die Überschriften in den Kap. IV. 2 . 1 - 2 . 6 und V. 5.1-5.5.

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haupten. Wenn die deutsche Gesellschaft davon überzeugt werden konnte, die Sprache nicht als genus proximum der Rasse, sondern als conditio humana, ja, als conditio sine qua non der Nation anzusehen, dann war den sprachmächtigen deutschen Juden das Partizipationsrecht an den Rechten und Pflichten deutscher Nationalbürger nicht mehr abzustreiten. Es war deutlich gemacht worden, dass die C.V.-Juden Begrifflichkeiten wie Muttersprache und (Spracb-)Gefübl aus einem traditionsreichen Kanon übernahmen, der sich insbesondere an Herder orientierte und dabei auch bürgerliche Sprachideale kolportierte. Gleichzeitig bot er die Möglichkeit einer offensiv emotiven Abwehr antisemitischer Attacken gegen den jüdischen Umgang mit Sprache (Apologie 2 vs. Agitation 6). Dem waren letztlich alle anderen Argumentationen untergeordnet: erstens die vehemente, zuweilen hypostasierende Betonung der eigenen Sprachbeherrschung und intellektuellen Bildung, die den deutschen Juden das nötige Selbstbewusstsein verlieh, um die lingualen und intellektuellen Kompetenzen der Judenfeinde offensiv in Zweifel zu ziehen (Apologien 3—4 vs. Agitationen 2-4): zweitens die prinzipielle Abneigung gegen jegliche Formen des als „Mauscheln" verschrienen Jüdelns' (Apologien 5 vs. Agitation 5). Ihre sprachphilosophische Basis fanden diese Argumente in den aufgezeigten Modalitäten und Wirkungen der Sprache, wie sie vor allem Humboldt und Herder systematisch herausgearbeitet hatten. In den Augen der liberalen deutschen Juden war Sprache nicht nur Medium des Verstandes, sondern gleichbedeutend mit ihm (Intellektualitäi), weswegen der Wechsel vom Jiddischen zum Neuhochdeutschen nicht einfach nur die Idiome, sondern auch die Weltsicht verändert hatte. Insofern war die neuhochdeutsche Leitvarietät auch Ausdruck und Spiegel einer neuen Weltsicht (Rßflektierung). Eine dynamische Deutung von Sprache (Aktualität resp. Alterabilität) garantierte eine größere Offenheit gegenüber neuen, beispielsweise ostjüdischen Sprachverwendern. Während die enge Konnexion von Sprache und Nation {Nationalität) den Integrationswünschen der jüdischen Minderheit gelegen kam, entsprach die von Herder favorisierte Ergänzung der lingualnationalen Dualität um die Faktoren Humanität und Universalität dem Liberalismus des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums, besonders dem anfänglich primär aufklärerischen Impetus des Centraivereins. Mit einer These hatte die akkulturierte Judenheit in Deutschland jedoch ihre Schwierigkeiten: Zwar wurde die in Humboldts Bildungskonzept so wichtige Objektivierung der eigenen Weltsicht mittels Fremdsprachenerwerb (Objektivität) akzeptiert, doch seine pädagogische Präferenz für die „Form" alter Sprachen (Medialitäf) nicht aufgegriffen. Diese Zurückhaltung war verständlich, denn wenn der Nationalcharakter des antiken

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Griechenlands über das Dorische oder Attische zu eruieren war, dann auch die jüdische Nation über die Form des Hebräischen — eine Form allerdings, die der Großteil der Akkulturierten nicht mehr beherrschte und auch nicht mehr beherrschen wollte. Analog zu den beiden zentralen Agitationsmustern der Antisemiten verfolgte die Verteidigungsstrategie des C.V. zwei Hauptrichtungen, die hinsichtlich ihrer Argumentationsweise differierten. Die eine Apologie erscheint als eine eher vernunftorientierte, weil aufklärerischen Prinzipien verpflichtete Sprachbewertung mit voluntaristischen Zügen; die andere vertraute primär auf,irrationale' Argumentationstopoi, indem sie die Zugehörigkeit zur deutschen Sprache und Nation als unabwendbare ,Gefühlstatsache' deutete und dafür entsprechende Termini wie Seele, Empfindung, Liebe, Gefühl etc. verwendete. Apologiemuster I (primär voluntaristisch): Der antisemitischen These von der biogenetisch-rassischen Determination und Dependenz der Sprache ist mit der Gegenthese von der ideengeschichtlich-organischen Autonomie der Sprache zu kontern. Außerdem muss auf die Referenzialität zwischen Sprache und Sprachbenutzer insistiert werden. Die langjährige Verbundenheit der deutschen Juden mit der deutschen Muttersprache ist eine historisch gewachsene Tatsache. Der Wille zur deutschen Sprache und zur deutschen Nation beweist immer wieder aufs Neue, dass die deutschen Juden den sprachbestimmten Prämissen für deutsche (Kultur-) Nationalität in vorzüglicher Weise genügen. Darüber sind sowohl die realen als auch die potenziellen Antisemiten in der deutschen Gesellschaft argumentativ aufzuklären. Apologiemuster II fprimär emotivisch und anti-voluntaristisch): Die antisemitische Agitationsthese von der intuitiv-affektiv erfassten Evidenz jüdischer Fremdheit und Andersartigkeit ist mit dem Gefühl für das genaue Gegenteil zu parieren. Es ist nicht primär der Wille als eine existenzialistische Entscheidungsfreiheit zwischen mindestens zwei Varianten, der den Juden das Recht auf ihre deutsche Heimat verbürgt; vordringlich ist vielmehr das Gefühl in Form einer selbstevidenten, untrennbaren, unzerstörbaren und von außen nicht anzuzweifelnden Uebesbindung an die deutsche Muttersprache als Abbild und Trägerin individueller wie nationaler Identität. Sprachnation ist Sprachgefühlsgemeinschaft. Gerade die Liebe und Treue zur deutschen Sprache trotzt allen antisemitischen Attacken, wird im Gegenteil durch diese umso fester und selbstbewusster. Die Antisemiten mittels sachlicher Aufklärung davon überzeugen zu wollen, muss ein vergebliches Bemühen bleiben.

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Die Konklusion der apologetischen Argumente fasst der Syllogismus in der Form wenn (a) und wenn (b), dann (c): Wenn Sprache erstens nicht an eine Rasse gebunden ist, sondern — als NationalSprache — an eine Nation (a), und wenn zweitens die deutschen Juden die deutsche National-Sprache als ihre Muttersprache beherrschen (b), dann sind die jüdischen Deutschen von keiner anderen Nationalität als die nichtjüdischen Deutschen (c). Obwohl die zwei angeführten Apologieschemata fortwährend miteinander verschwammen, lässt sich doch eine Tendenz eruieren, die mit einem spezifischen Zeitphänomen korrespondierte: Entsprechend dem sukzessiven Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer antirationalistischen Rassenpolemik setzte die 1922 gegründete Wochenzeitschrift CVZ gerade in den letzten Jahren der Weimarer Republik vermehrt auf die emotionsbestimmte Verteidigungsstrategie (II), ohne jedoch das altbewährte rationalistische Apologiemuster (I) deshalb zur Gänze aufzugeben.284 Der Strategiewechsel stand durchaus im Einklang mit damaligen Argumentations- und Denkmustern zur Bestimmung von Kulturnation, die im Unterschied zum Ideal der Staatsnation das voluntative Moment schwächer gewichteten; er resultierte aber auch aus einer Desillusionierung hinsichtlich der Wirksamkeit rationaler Argumente. Die Neukonzeption von „Im deutschen Reich" in Form der „C.V.-Zeitung" hatte dieser Ernüchterung Rechnung getragen. In der Einleitung war dafür plädiert worden, den Sprachenkampf zwischen Agitatoren und Apologeten nicht in die Fesseln wechselseitiger Referenzen zu legen. Das sollte nicht bedeuten, dass „Der Hammer" und die C.V.-Organe einschließlich der CVZ-„Monatsausgabe" nicht in zahlreichen Artikeln direkt aufeinander eingegangen sind. An dieser Stelle sei -

284 Das lässt sich anhand einer einfachen Aufzählung veranschaulichen. Mit der Einschränkung, dass es sich hier immer um Ausschnitte handelt, die nicht zwingend das Hauptthema des Gesamtartikels repräsentieren müssen, finden sich im Fundus der durchgesehenen CVZ-Jahrgänge vier hauptsächlich pro-voluntaristische Beiträge zum Themenkomplex um deutsche Sprache und Deutschtum (Nr. 20, 18. Mai 1928, S. 281; Nr. 45, 9. November 1928, S. 632; Nr. 48, 28. November 1930, S. 614; Nr. 24, 12. Juni 1931, S. 304), aber mehr als doppelt so viele Beiträge, die einem Emotionalismus mit Begriffen wie „Gefühl", „Empfindung" oder „Liebe" das Wort reden: Nr. 28, 10. Juli 1925, S. 488; Nr. 3, 21. Januar 1927, S. 34f.; Nr. 6, 10. Februar 1928, S. 69-72; Nr. 37, 14. September 1928, S. 508; Nr. 40, 5. Oktober 1928, S. 560; Nr. 6, 7. Februar 1930, S. 65£; Nr. 23, 3. Juni 1932, S. 236; Nr. 26, 24. Juni 1932, S. 262£; Nr. 49, 4. Dezember 1932, S. 561. Immerhin zwei Beiträge suchen beides - Wille und Gefühl - zu verbinden. Exemplarisch Nr. 12, 22. März 1929, S. 147 (Rei [Hans Reichmann?]: „Was bleibt? Der Zensor der deutschen Sprache - ein Jude"): „... dass der deutsch ist, der deutsch fühlt und deutsch sein will." Ferner Nr. 45, 6. November 1931, S. 518.

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stellvertretend für viele andere285 — auf zwei Referenzen verwiesen, welche die Kernproblematik des Konfliktes vielleicht am eindringlichsten zu zeigen imstande sind. Im Februar 1920 hatte „Im deutschen Reich" das voluntaristische Merkmal des Kultur- und Nationenbegriffs vom autokratischen Determinismus der Antisemiten eindringlich abgegrenzt. Nicht auf das „Blut" komme es mithin an, sondern auf die Kultur, auf die geschichtliche Entwicklung und auf den Willen der Menschen [...] Und darüber hinaus haben wir auch den Willen zum Deutschtum. 286

Dem war im „Hammer" unter Rückgriff auf eine Passage in der IdR„Zeitschau" vom Dezember 1919 explizit widersprochen worden: Bei der Unhaltbarkeit des unnationalen Standpunktes des Zentralvereins nimmt es nicht wunder, wenn er ihn in einem Atem aufstellt und widerlegt. Es heißt in der „Zeitschau" Nr. 517: „Die Ostjuden haben eine jüdische Nationalität; bei den Westjuden dagegen ist der Angleichungs-Prozeß so weit vorgeschritten, daß eine jüdische Nationalität nicht mehr vorhanden ist"! Aus seiner Nationalität kann niemand durch eine Willens-Erklärung austreten, auch die hauptsächlich dem Ostjudentum entstammenden jüdischen Bewohner Deutschlands nicht. Jude bleibt Jude in alle Zukunft. Deshalb ist ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen dem ewigen Juden und dem ewigen Deutschen 2 8 7

Gegenüber diesem infiniten und irreversiblen Antagonismus zwischen Juden und Deutschen mussten voluntaristische Kriterien wie Wille (zu einer Nation und Kultur) und Wahl (für eine Nation und Kultur), auf denen das Ideologem von der deutsch-jüdischen Synthese unter anderem fußte, in ihrer Bedeutung marginalisiert werden. Die antisemiti285 Rekurs auf den „Hammer" oder seinen Herausgeber in IdR, CVZ und MCVZ allein bis 1930 in den Ausgaben: IdR 21, Heft 1/2, Januar/Februar 1915, S. 18; CVZ 49, 4. Dezember 1925, S. 767; CVZ 24, 11. Juni 1926, S. 321f.; CVZ 25, 18. Juni 1926, S. 336; CVZ 41, 8. Oktober 1926, S. 535; CVZ 42, 15. Oktober 1926, S. 560; CVZ 48, 26. November 1926, S. 619f.; CVZ 51, 17. Dezember 1926, S. 665 (auch in MCVZ Dezember 1926, S. 92); CVZ 4, 28. Januar 1927, S. 44; CVZ 20, 20. Mai 1927, S. 285; CVZ 49, 9. Dezember 1927, S. 682; CVZ 48, 30. November 1928, S. 673f.; CVZ 12, 22. März 1929, S. 144 (auch in MCVZ April 1929, S. 30); CVZ 28, 12. Juli 1929, S. 368; CVZ 30, 25. Juli 1930, S. 396; MCVZ Januar/März 1932, S. 5. Den C.V.-Organen, v. a. CVZ, schenkt der „Hammer" immer wieder seine Aufmerksamkeit: Hammer 427/428, April 1920, S. 138; 458, Juli 1921, S. 274; 530, Juli 1924, S. 283; 556, August 1925, S. 317; 560, Oktober 1925, S. 296f.; 576, Juni 1926, S. 300; 582, September 1926, S. 463; 614, Januar 1928, S. 49; 623, Juni 1928, S. 286; 625, Juü 1928, S. 333; 639, Februar 1928, S. 80; 643, April 1929, S. 180; 675/676, August 1930, S. 271. 286 IdR 26, Heft 2, Februar 1920, S. 64 (Κ. Α.: „Zeitschau"). 287 Hammer, 427/428, April 1920, S. 139 („Vogel-Strauß-Politik"). Zitiert wird aus IdR 25, Heft 12, Dezember 1919, S. 517 (nicht „Nr. 517"!), wo der „Gegensatz zwischen Ostjuden und Westjuden" eingebettet ist in das Versprechen, weiterhin Hilfs- und Fördergelder für das Ostjudentum zu sammeln.

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sehe Zustandsbeschreibung des behaupteten Gegensatzes war in Wahrheit propagandistisches Zielprojekt: Erst wenn die Gesellschaft weniger an eine förderliche deutsch-jüdische Symbiose als vielmehr an ein feindliches Adversativ Deutsch - Jüdisch zu glauben bereit wäre, würde die geforderte „Ausscheidung der Juden" aus dem öffentlichen Leben auf ausreichend Akzeptanz stoßen. So die Kalkulation. Der entscheidende Unsicherheitsfaktor in dieser zynischen Rechnung blieben die in Sprache und Literatur erwiesenen Akkulturationserfolge der deutschen Juden, also jene unübersehbaren Belege ihres „Willenfs] zum Deutschtum". Aus diesem Grund attackiert in der letzten „Hammer"-Ausgabe des Jahres 1922 ein Schreiber die These Paul Riegers, dass die Muttersprache über das Vaterland entscheide, 288 in einem längeren Passus. Riegers Argumentation sei unsinnig, denn: dann ist der Oberkellner und der jüdische Handlungsreisende, die sechs Sprachen ,perfekt' sprechen, Volldeutscher, Vollrusse, Vollengländer, Vollfranzose usw. — alles in einer Person [...] Man braucht nur den Rieger'schen Satz .Sprache bestimmt die Nationalität' praktisch anwenden, um auch dem Schwachbegabten zu zeigen, zu welch kläglichen Finten rabbinischer Talmudismus Zuflucht nehmen muß 2 8 9

Darauf folgt wieder der Vorwurf jüdischer Sprach-„Mimikry", die das Deutschtum mit jüdischem Denken zu infizieren trachte, und zwar sowohl auf der rationalen wie auf der emotionalen Ebene: Das Judentum hat unsere Sprache benutzt, nicht um sich daran aus seiner rassischen Bestimmtheit in die deutsche Nationalität einzuleben — was selbst bei ehrlichstem Willen unmöglich wäre — sondern um dem deutschen Volke in deutschen Worthülsen jüdisches Leben, Geistesart und Gefüihlsweise einzuflößen 2 9 0

Hier sind die wichtigsten appellativen Stigmata noch einmal vereint aufgelistet: unaufhebbares Rassendogma, Distanz zu der bloß ,benutzten' deutschen Sprache, Vorwurf der sprachlich-kulturellen Mimikry aus niederen Motiven. Wer nur mit übernommenem, semantisch abgetrenntem Sprachmaterial („Worthülsen") redet, dessen Sprachgefühl ist vorgetäuscht. Er strebt an, seine eigene, rassisch bestimmte Gefühls- und Gedankenwelt in die Sprache der anderen hineinzuschmuggeln und deren Gefühls- und Gedankenwelt dadurch zu unterwandern. Nur in dieser vollends pervertierten Abart findet die Muttersprachenideologie des 19. Jahrhunderts im „Ham-

288 IdR 3, Heft 12, Dezember 1897, S. 643; IdR 27, Heft 2, März 1921, S. 80f. 289 Hammer 90, November/Dezember 1922, S. 460. 290 Ebd.

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mer" Verwendung.291 Kaum ein Artikel rekurriert positiv auf eine Muttersprachenideologie jenseits rassischer Doktrin - hätte dies doch bedeutet, dem zentralsten Apologieargument der C.V.-Juden ungebührlichen Raum zu geben. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Redaktion des „Hammer" den Fremdwortpurismus anderer extrem nationalistischer Kreise nicht mittrug.292 Eine .reinliche' und ,klare' Sprache wurde meist nur dort gefordert, wo es angebliche Mängel in der jüdischen Sprachverwendung anzuprangern galt. Was der publikationsfreudige Fritsch in seiner Zeitschrift und in Hunderten von Pamphleten verbreitet, was Hitler in „Mein K a m p f unumwunden ausgesprochen hatte, übernahmen die nationalsozialistischen Zeitungen in ihrer Agitation. In der CVZ-Monatsausgabe Februar 1931 dokumentiert die Schrifdeitung, wie der „Völkische Beobachter", einer der „eifrigsten Leser unserer Wochenausgabe", das übliche Bekenntnis der Juden zur deutschen Muttersprache ausführlich zitiert, um es dann anzufeinden. Senta Meyers Bekräftigung, die deutsche Judenheit habe an der deutschen Sprache „mitgeformt und mitgebildet" 293, sei zu bekämpfen, denn das Mitformen und Mitbilden der Juden an der deutschen Sprache ist der deutschen Sprache nur zum Übel ausgefallen, und wenn die Juden die deutsche Kultur für sich beanspruchen und sich als ihre .stolzen Träger' erklären, so rufen sie uns damit zum schärfsten Abwehrkampf auf. 2 9 4

Die Schärfe des „Abwehrkampfes" musste deshalb superlativisch sein, weil die Nähe der deutschen Juden zur deutschen Sprache selbst für das NSDAP-Organ nicht mehr zu ignorieren war. Zu diesem Zeitpunkt, das

291 Ein Umstand übrigens, durch den sich die aufs Völkisch-Rassische umgepolte Muttersprachenideologie des „Hammer" von denjenigen nationalsozialistischen Zeitungen unterscheidet, die (bildungs-)bürgerliche „Wissenssysteme" ganz bewusst inkorporierten. Winde stellt fest: „Für die meisten Autoren der Zeitung ,Das Reich' ist die Muttersprache etwas Höhergestelltes, eine Instanz, an der die Deutschen .innigen Dienst' zu leisten haben" (Winde 2001, S. 70). 292 Wiederum seien zwei Ausnahmen von der Regel erwähnt: Hammer 292, Juni 1903, S. 293 (Georg Meurer: „Über deutsche Erziehung"), in dem - ganz im Stil des Deutschen Sprachvereins - die „schillernde französische Phrase" „im Zeitungs-Jargon" zur Zielscheibe wird; und der Hammer 154, November 1908, S. 689 („National und international"), wo der Autor dafür plädiert, das Deutsche vor einer esperantoartigen „Weltsprache" zu retten. Vgl. dazu auch S. 102, Anm. 43 der vorliegenden Untersuchung. 293 Senta Meyer hatte in einer in Hamburg erschienenen Denkschrift der „Deutsch-Jüdischen Jugend" gesagt: „Wir sind Deutsche! Die deutsche Sprache ist unsere Muttersprache, in der wir nicht nur miteinander reden, an der wir mitgeformt und mitgebildet haben. Die deutsche Kultur ist unsere Kultur; wir sind bewußt deren stolze Träger." 294 MCVZ Februar 1931, S. 13 („Nachwort der Schrifdeitung").

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dokumentieren auch die Rekurse in der C.V.-Presse, hatten mit vulgären antisemitischen Illustrationen gespickte und an modernen Propagandamethoden geschulte Blätter wie Streichers „Der Stürmer" oder eben Hitlers „Völkischer Beobachter" den eher schwerfälligen „Hammer" als antisemitische Wortführer abgelöst. Der Argumentations Stil blieb der gleiche.295

6. Die Einstellung zum Jiddischen: Eine Frage der Benennung? „Is judisch-daijtsch a schprach?"296 Das Problem, das sich hinter dieser Frage nach der definitorischen Zuordnung der aschkenasischen Judensprache(n) verbirgt, führt an die Wurzel der jüdischen Identität qua Sprache. Darum sind die zahlreichen kontroversen Antworten auf diese Frage oft emotionaler Natur und nicht immer durch wissenschaftliche Argumente gehärtet. Das liegt auch daran, dass die Kriterien für eine genaue Unterscheidung von Einzelsprache einerseits und Erscheinungsform einer Sprache andererseits umstritten sind. So war die Forschung bis in die neueste Zeit im Dissens darüber, ob das Jiddische einer unter vielen anderen Soziolekten der deutschen Sprache ist,297 oder ob es gerade nicht als Varietät des Deutschen angesehen werden kann 298 Grözinger konstatiert für die Umgangssprache der deutschen Juden im 15. Jahrhundert: Noch heute ist die Diskussion nicht abgeschlossen, ob die Sprache der Juden im mittelalterlichen Deutschland als Judendeutsch oder Jiddisch zu bezeichnen ist.299 Jedenfalls sind monokausale Erklärungsmuster für Sprachphänomene in sich problematisch. Eine Sprache ist kein Monosystem, sondern ein Polysystem mit verschiedenen Varietäten. Dialekte bzw. Mundarten als regionale Phänomene spielen ebenso eine Rolle wie Soziolekte als soziale,

295 Bering hat, spezifische Paradigmenwechsel von Kultur zu Rasse eruierend, den Kampf um Sprache unter anderem anhand von Goebbels' Zeitung „Der Angriff" nachverfolgt (Bering 1991, S. 339f.). Es wäre lohnend, den Quellenfundus auch einmal um den täglich erschienen „Völkischen Beobachter" zu ergänzen — und zwar nicht wiederum so, dass dessen Sprachlichkeit im Sinne von Klemperers „Lingua Tertia Imperii", sondern vielmehr dessen Sprachbewertung im Fokus steht. Die Frage wäre dann: Wie zeigt sich der mentalitätsgeschichtliche Entwicklungsgang als zunehmende Abwertung von Sprache und Kultur in einem nationalsozialistischen Propagandablatt? 296 Die Frage ist Titel eines Aufsatzes über das Jiddische von 1894/95 (zit. n. Weinberg 1981, S. 262). 297 Althaus 1981, S. 212. 298 Polenz 1999, S. 139. 299 Κ. E. Grözinger 1998, S. 77.

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Fachsprachen als funktionale und Idiolekte als individuelle Varietäten.300 In der Sprachbewertung können nun die Varietäten hierarchisch gegliedert sein, so dass eine einzelne Varietät die Wirkungskohärenz einer Sprache leitet. Statt eines abermaligen Versuchs, die Frage „Is judisch-daijtsch a schprach?" zu beantworten, stellt es sich dieses Kapitel vorrangig zur Aufgabe, die in den C.V.-Organen publizierten Einordnungen und Bewertungen des Jiddischen zu dokumentieren und zu erläutern. Dies wird zu weiteren Antworten auf die Ausgangsfrage nach der sprachspezifischen Selbsteinschätzung der liberalen deutschen Juden führen. Es wird sich zeigen, dass gerade das Jiddische als Muttersprache der ostjüdischen Glaubensbrüder und -schwestern den C.V.-Ideologen zum Problem wurde. Die Kontroverse über die Auslegung des Jiddischen war insbesondere in dem untersuchten Zeitraum an innerjüdische ideologische Differenzen gekoppelt. An ihr schieden sich die Geister innerhalb und außerhalb des Centraivereins. Eine kurze Erläuterung des Jiddischen als Sprache und seiner Terminologie ist notwendig, um den Sinn und Zweck der verschiedenen Sprachbewertungen im deutschen Judentum verstehen zu können. Die Terminologisierung des Jiddischen bedeutete ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Wertung, denn sie bedeutete notwendig, positiv oder negativ zu dieser Sprache Stellung zu beziehen. 6.1. Benennung und Struktur des Jiddischen So vielfältig die Sprache der aschkenasischen Juden ist, so vielfaltig sind auch ihre Benennungen: „Jüdisch", „jüdische Sprache", „Judensprache" bis hin zu „Judendeutsch", „Jüdischdeutsch", „Hebräischdeutsch" und schließlich „Jiddisch"301. Wenn auch jeder dieser Begriffe in Gebrauch blieb, so haben sich die terminologischen Präferenzen doch mit der Zeit gewandelt, und zwar von „Jüdischdeutsch" (bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) über „Jiddisch" (ab Anfang des 20. Jahrhunderts) 302 bis hin zu „Westjiddisch" und „Ostjiddisch" (vor allem nach 1945). Die räumliche Scheidung, die das Westjiddische im deutschen Sprachraum und das Ostjiddische im Bereich Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine ansiedelt, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Sie soll auch uns als Terminolo300 Vgl. Wolff 1994, S. 14. 301 Vgl. Polenz 1999, S. 139. 302 Der Begriff „jiddisch" gelangte ab 1888 von Russland in den englischsprachigen Raum, insbesondere nach Nordamerika, dem Hauptziel der ostjüdischen Pogrom-Flüchtlinge. Zur Vermeidung von Verwechslungen mit dem englischen „jaidis" wurde er mit dem Doppelkonsonanten -dd- geschrieben und so ins Deutsche übernommen.

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gie dienen, immer unter Beachtung der Tatsache, dass beide Begriffe vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine Popularität besaßen. Ebenso neueren Ursprungs ist die chronologische Unterteilung Urjiddisch (bis 1250), Altjiddisch (bis 1500), Mitteljiddisch (bis 1750) und Neujiddisch (seit 1750). 303 Spätestens im 13. Jahrhundert, so der wissenschaftliche Konsens nach Eggers, kann dem Jiddischen der Rang einer eigenständigen Sprache zuerkannt werden. 304 Tatsächlich herrscht in den meisten wissenschaftlichen Darstellungen zum Jiddischen Einigkeit darüber, dass die Sprache der aschkenasischen Juden insgesamt als Einzelsprache zu bewerten ist.305 Den Entstehungsraum des Jiddischen siedelt Weinreich im Rheinland an306, während Eggers in einer neueren Untersuchung für den bayerisch-tschechischen Raum plädiert.307 Das Jiddische, das bis 1900 noch schätzungsweise sieben Millionen Menschen gesprochen haben, lässt sich als „Mischsprache"308 oder Mehrkomponentensprache charakterisieren, die im wesentlichen aus drei Elementen besteht: einem germanischen, einem slawischen und einem semitischen.309 Das germanische Element setzt sich aus Bestandteilen verschiedener Mundarten (Mittelhochdeutsch, Oberdeutsch) und aus temporären Sprachstufen (insbesondere spätes Mittelalter und 19. Jahrhundert) zusammen. Weil es in Morphologie, Phonologie und Syntax überwiegt und bis zu zwei Drittel

303 Vgl. Eggers 1998, S. 57. Vgl. B. Simon 1988, S. 30: „Es ist erst heutzutage weitgehend üblich geworden, jiddisch als einen Begriff in diesem umfassenden Sinne zu verwenden und sowohl eine zeitliche Unterteilung in Urjiddisch, Altjiddisch, Mitteljiddisch und Neujiddisch vorzunehmen als auch räumlich zwischen West- und Ostjiddisch zu unterscheiden." Weinberg ist einer der wenigen Forscher, der eine Rehabilitierung des Begriffs „Jüdischdeutsch" „als nützlichen und treffenden Terminus für philologische Studien innerhalb der Jiddistik und Germanistik" propagiert (Weinberg 1981, S. 254). Letztlich aber bestärkt sein mit eigenen Erinnerungen angefüllter Aufsatz nur die Vermutung, dass der einem Laien vielleicht absurd anmutende Streit um die richtige Bezeichnung für das Jiddische bis in die heutige Zeit auch emotional-lebensweltliche Hintergründe hat - ganz ähnlich wie ein Sprecher aus dem deutschen Norden tief in sein Inneres blicken lässt, wenn er seinen Dialekt als „(Ostfriesisches) Platt" oder „Norderdeutsch" und eben nicht als „Niederdeutsch" zu bezeichnen pflegt. 304 Eggers 1998, S. 57. 305 Bettina Simon glaubt, das Westjiddische als „Erscheinungsform des Deutschen" klassifizieren zu können, während das Ostjiddische als „Einzelsprache" zu bewerten sei. Diese definitorische Differenzierung ist aber schon deshalb fraglich, weil sich die Sprachen der aschkenasischen Juden des Ostens und der des Westens grammatikalisch, lexikalisch und phonetisch ursprünglich nur marginal voneinander unterschieden haben (B. Simon 1988, S. 13-52). 306 Weinreich 1980, S. 332-340. 307 Eggers 1998, S. 223-286. 308 Best 1973, S. 15. 309 Vgl. Weissberg 1988, S. 49f.

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der Lexeme stellt310, wird das Jiddische auch oft als „Nahsprache" des Deutschen bezeichnet. Der sprachgeschichtliche Entwicklungsgang des Jiddischen ähnelt dem des Deutschen. Beide Sprachen haben einen gemeinsamen mittelalterlichen Wortstamm.311 Von seiner Sprachstruktur her unterscheidet sich das Jiddische vom Deutschen vor allem in der Morphematik und Syntagmatik, und zwar sowohl durch eine insbesondere im Substantivbereich stark reduzierte Flexion als auch durch eine flexiblere Relativität der Wörter im Satz. Erika Timm, profilierte Erforscherin einer germanistisch interessierten Jiddistik, hat betont, dass das Ostjiddische der im Mittelalter in den slawischen Raum ausgewanderten mitteleuropäischen Juden mit dem Deutschen stärker kontrastiere als das bis zur Aufklärung gesprochene Westjiddisch. Dies könne auch an einer „Selbstabgrenzung" der in Pogromen des 13. und 14. Jahrhunderts Verfolgten gelegen haben.312 Das slawische Sprachelement des Jiddischen vereinigt polnische, ferner weißrussische und ukrainische Segmente, die besonders in der Derivation das Jiddische beeinflusst haben.313 Mit dem Semitischen schließlich hat es grammatikalische und lexikalische Besonderheiten der biblischen und nachbiblischen Zeit gemein, so genannte „zum Teil als Synonyme ausgebildete Hebraismen"314. Die Sicherung der Tradition und Einheit der Sprache wurde bis ins 19. Jahrhundert durch den exklusiven Gebrauch der hebräischen Schrift gewährleistet. Zu differenzieren ist das Jiddische von der jiddischen Restidiomatik im Deutschen. Diese „Mischmundart", „a mixed dialect that was an approximation of pure German and came to be known as jüdeln and later jargon"315, unterschied sich oft nur in einigen Vokalklängen von der neuhochdeutschen Leitvarietät. Als beinahe, aber eben nicht ganz geglücktes ,Assimilationsdeutsch' war die Mischmundart im Prinzip ein unvollkommenes Ergebnis der durch Mendelssohn und seine Schüler angetriebenen und ansonsten ja überaus wirkungsvollen Sprachakkulturation der deutschen Juden im 18. und 19. Jahrhundert. Eine wissenschaftliche Abgrenzung des Jiddischen von der Mischmundart fand schon Anfang des

310 Weissberg spricht sogar von einem Anteil deutschsprachiger Elemente von „70 bis 75 Prozent" (Weisberg 1988, S. 17). 311 Vgl. Kiefer 1995, S. 2: „ . . . unter allen Sprachen des germanischen Kontinuums ist das Jiddische die einzige, die mit dem Deutschen eine gemeinsame mittelalterliche Basis hat." 312 Timm 1986, S. 5f. 313 Eggers 1998, S. 452. 314 Althaus 1981, S. 213. 315 Bering 1998, S. 263.

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20. Jahrhunderts Fürsprecher.316 Der besonders im 18. Jahrhundert beliebte, aber auch später noch populäre Begriff Jargon benannte wohl beides, das Jiddische als Ganzes als auch die jiddischen Residua bei dominant deutscher Sprachverwendung. Jedenfalls haftete dem Terminus ein negativer Impetus an, was eine der französischen Wortbedeutungen zu unterstreichen scheint: „Kauderwelsch". Da das Sprachprestige eines „Kauderwelsche" oder einer „Mischsprache" nach Setzung von Sprachstandards üblicherweise unterhalb der so genannten ,Hochsprache' steht, bedeutete die Deklarierung des Jiddischen als Jargon eine linguistische Deklassierung. Demgegenüber betonte die jiddische Eigenbezeichnung Mameloschn die alle Varietäten umfassende Eigenständigkeit einer Sprache, mit der man sich emotional tief verbunden fühlt.317 6.2. Das Westjiddische und die Emanzipation Bereits 1839 hatte der Rabbiner Abraham Muhr, der „engagierte Kämpfer für die Gleichberechtigung der Juden" 318 , in einer gegen stigmatisierende Namensgebung gerichteten Petition an den preußischen Minister des Inneren das Jiddische als den „Gott sei Dank aussterbende[n] jüdischefn] Jargon" deklassiert.319 Als der so oft herbeigesehnte Sprachtod des Jiddischen in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich weitgehend Realität geworden war, atmeten viele Erben der Haskala auf: das „Brandmal", von dem Muhr mit Blick auf Namen wie „Leiser" und „Schmerel" gesprochen hatte, schien nun auch von der Oberfläche der Alltagssprache getilgt. Die genauen Gründe, weshalb das Westjiddische als Umgangssprache innerhalb der jüdischen Gemeinschaft im alten deutschen Reich innerhalb von vielleicht gerade einmal 100 Jahren von der Bildfläche verschwinden konnte, waren im dritten Kapitel erörtert worden. Nur noch in lexikalischen und prosodischen Lehnwörtern, phonetischen Derivaten oder in der Literatur blieb eine Ahnung von dieser auch in Westeuropa einst so populären Sprache übrig. An dieser Entwicklung nahmen aktualitätsnahe Zeitorgane wie „Im deutschen Reich" und „C.V.-Zeitung" Anteil: Die Sprache der aschkenasischen Juden in Westeuropa ist für die Zeitschriften kein eigenständiges

316 317 318 319

Birnbaum, Die Sprache des jüdischen Volkes, 1910, S. 315f. Vgl. Best 1973, S. 14. Bering 1987, S. 87. Eingabe vom 26. August 1839 (zit. n. Bering 1987, S. 87).

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Thema mehr. Alle untersuchten Artikel, in denen von „Jargon"320, „Jiddisch"321 oder „Judendeutsch"322 die Rede ist, rekurrieren auf das Ostjiddische, also auf die Umgangssprache der osteuropäischen Judenheit. Während die Periodika dieses Ost-Jiddische überwiegend positiv charakterisieren, erfährt die beschriebene ,Mischmundart' eine deutlich negative Bewertung. Allein schon der jiddische Begriff „Mauscheln", von den Antisemiten jahrhundertelang als Terminus zur sprachspezifischen Stigmatisierung und Stereotypisierung der Juden reserviert und dadurch gleichsam gebrandmarkt, ist für die C.V.-Publizisten ein rotes Tuch, das sie nichtsdestotrotz mit spitzen Fingern über alle Anzeichen von unvollkommenem ,Assimilationsdeutsch' breiten. Statt den pejorativen Begriff zu meiden, übernehmen sie ihn nicht nur für ihre Apologien — was ebenso notwendig wie verständlich ist - , sondern immer wieder auch im Rahmen ihrer Kritik an gezielt eingesetztem oder sogar an unfreiwilligem „Jüdeln". Weder wird dabei zwischen dem bewussten und unbewussten Einsatz solcher komponentensprachlichen Residuen unterschieden noch ausgiebig über die Situation vor der jüdischen Sprachakkulturation in Deutschland reflektiert. Die seltenen Bezüge werten diese Zeit negativ. Ein Artikel im Juni 1918 etwa thematisiert explizit das sprachliche Erbe auch der Westjuden, indem er es als frühere „Sprachverderbnis" abwertet, die durch Moses Mendelssohn - jenen von der liberal-jüdischen Vereinspresse so oft gelobten „Lehrer des deutschen Stils"323 - beseitigt worden sei324.

320 IdR 20, Heft 10-12, Oktober-Dezember 1914, S. 382 (Carlernst Donner: „Die russischen Juden als Pioniere des Deutschtums im Osten"); CVZ 13, 30. März 1928, S. 169f. („Unsere Leser schreiben", hier: Sally Geis: „Für C.V.-Tätigkeit auch jenseits der deutschen Grenzen"). 321 IdR 21, Heft 10/11, Oktober/November 1915, S. 207: „... jiddische Muttersprache" [der polnischen Juden]; CVZ 38, 19. September 1930, S. 506-508 (S. W. Jaeger: „Jiddisch - eine deutsche Nebensprache. Eine wichtige Untersuchung der Deutschen Akademie"). 322 IdR 22, Heft 3/4, März/April 1916, S. 70f. („Umschau"). Hier findet sich auch der terminologische Umbruch angedeutet, wenn von „der jüdisch-deutschen, der sogenannten .jiddischen Sprache der Ostjuden'" die Rede ist. 323 IdR 21, Heft 5, Mai 1915, S. I l l (B. May: .Juden als Träger deutscher Kultur im neunzehnten Jahrhundert"). 324 IdR 24, Heft 6, Juni 1918, S. 238 (Theodor Wieruszowski: „Wilhelm von Humboldt und seine Beziehungen zu den Juden"). Weitere negative Bewertungen des Jiddischen finden sich in IdR 20, Heft 7/ 8, Juli/August 1914, S. 298, wo es zum „jüdisch-nationalistischen" Wandervogel-Turnverein „Blau-Weiß" heißt: „Eltern, die ihre Kinder im Blau-Weiß wandern lassen, sollten sich überlegen, ob sie [...] gerade die jiddischen Jargonlieder für diejenigen Gesänge ansehen, die Gemüt und Herz ihrer Kinder beim Wandern besonders erheben." In IdR 5, Heft 3, März 1899, S. 181 (D. G.: „Briefkasten der Redaktion") lässt sich der Kommentator aus Beslau anlässlich einer antisemitischen Persiflage in einem Witzblatt sogar über die „gesinnungslose jüdische Jargon-Literatur" aus, welche „für die Judengegner eine wahre Fundgrube bildet".

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Fritz Friedländer erinnert noch einmal an Goethes Eindrücke im Frankfurter Judengetto, nicht ohne der Aversion des Dichters gegen das Jiddische325 beizupflichten. Zweifellos habe der Dichterfürst „manches Unerfreuliche" in seiner Heimatstadt erfahren, worunter auch die „üble Sprech- und unhygienische Lebensweise" im Getto zu rechnen seien.326 Den „Spiegel der Vergangenheit", mit dem Friedländer seine Sympathie für Goethes Eindrücke betitelte, hatte die überwiegende Mehrheit der akkulturierten Juden nach 1900 längst in weite Ferne gerückt. Keiner der sprachlich akkulturierten C.V.-nahen Juden wollte sich noch einmal umdrehen und die Augen öffnen. Jegliche positive Bewertung des Jiddischen orientiert sich, wenn überhaupt, immer an den Ostjuden als leuchtenden Vorbildern für die unverbrüchliche Bewahrung eines mindestens 80-prozentigen Deutsch, nicht aber an der Sprachvergangenheit des deutschen Judentums bis zur Haskala. S. W. Jaegers heftige Kritik an der „Jargon-Psychose" will die Sprache der Ostjuden vor Fehlurteilen schützen, dass sie jedoch mit Abwandlungen Mendelssohns eigene Muttersprache war, bleibt unerwähnt.327 Die erfolgte Sprachakkulturation wird nicht als kultureller Verlust, sondern als Gewinn bringendes Resultat einer bewussten Entscheidung328 angesehen. Keine einzige Textpassage in dem untersuchten Zeitraum von 38 Jahren weist auch nur mit einer Spur des Bedauerns darauf hin, dass das Westjiddische - immerhin die Sprache der deutschen Juden vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert und allein in Wortschatz und Lautstand graduell vom Ostjiddischen zu unterscheiden — innerhalb von etwas mehr als 100 Jahren praktisch eliminiert worden war. Ruft man sich die Geschichte der jüdischen Emanzipation in Erinnerung, dann kann der ablehnende Standpunkt in IdR und CVZ zur lange favorisierten Umgangssprache der Juden in Westeuropa kaum überraschen. Die Publikationsorgane des C.V. hätten eine positivere Bewertung des Westjiddischen vor ihren Lesern und Gönnern nur schwer vertreten können, da mit jedem Wort des Bedauerns über den Sprachtod des Westjiddischen einer der wichtigsten Grundsätze des Centraivereins in Zweifel gezo-

325 Goethe beschreibt, wie im Frankfurter Judengetto „der Akzent einer unerfreulichen Sprache" auf ihn als Kind „den unangenehmsten Eindruck" gemacht habe (Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 4. Buch, 1811, S. 160). 326 CVZ 29, 20. Juli 1928, S. 409 (Fritz Friedländer: „Bilanz/Unser Grundcharakter im Spiegel der Vergangenheit"). 327 CVZ 38, 19. September 1930, S. 506-509 (S. W. Jaeger: „Jiddisch - eine deutsche Nebensprache. Eine wichtige Untersuchung der Deutschen Akademie"). Das Zitat findet sich auf dort S. 508. 328 IdR 22, Heft 5/6, Mai/Juni 1916, S. 119 (Rabbiner Dr. Samuel: „Ostjuden").

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gen worden wäre. Die Emanzipation, so jener Leitgedanke, war fur die hart erkämpfte deutsch-jüdische Synthese absolut notwendig und richtig, die Sprachakkulturation ein begrüßenswerter Vorgang, die Spracheliminierung des Westjiddischen ein notwendiges Opfer gewesen. Schließlich hatte nach einhelliger Meinung der jüdischen wie nichtjüdischen Bildungsbürger nicht die zu keinem Zeitpunkt nationenkonstituierende Umgangssprache Jiddisch, sondern allein die deutsche Sprache die Nation geschaffen und seitdem am Leben erhalten. Ihre Liebe zum deutschen Vaterland, so dachten die C.V.nahen Juden, sei ganz natürlich und keineswegs aufgezwungen aus ihrer Liebe zur deutschen Sprache erwachsen. Das Westjiddische war Vergangenheit. Den Anhängern des Centraivereins erschien es weder sinnvoll noch notwendig, sich mit einer schon lange abgestreiften Haut zu beschäftigen. Wie aber waren die polnischen und russischen Juden durch Aufwertung ihrer Umgangssprache gegen Sprachverfemungen zu verteidigen, ohne dabei die Freude über den Untergang des Westjiddischen zu verleugnen? Ein Spagat schien unvermeidlich. 6.3. Das Ostjiddische und die Ostjudenfrage Im August 1933, als die Republik und mit ihr jede Hoffnung auf Demokratie und Rechts Staatlichkeit verloren war, schreibt Heinrich Mann in der Exilschrift „Der Haß": Drei2ehn Millionen Juden sprechen auf der ganzen Erde einen Dialekt, der dem Deutschen entnommen und mit dem Deutschen vermischt ist. In manchen Ländern, wo sonst niemand Deutsch versteht, erhalten die Juden sich ihre deutsche Bildung und empfinden sie als Auszeichnung.329

Mit der Katastrophe der nationalsozialistischen Machtübernahme schien das Scheitern nicht nur der deutsch-jüdischen, sondern auch der ,deutschjiddischen' Synthese ein unbestreitbares Faktum. Jedes andere Land, so Mann weiter, würde einen derartigen Treuebeweis zu seiner Bildung im Ausland honorieren, nur „Deutschland will nicht". Die Lage wirkt hoffnungslos: Statt Dankbarkeit erntet der Jude Demütigungen, statt Respekt Restriktionen, statt Anerkennung nur Ablehnung. Obwohl die Ostjuden lange vor 1933 bevorzugte Hassobjekte der deutschen Antisemiten waren, so konnten deren Angriffe im kaiserlichen und dann republikanischen Deutschland doch durch ein mehr oder minder funktionierendes Rechtssystem gebremst werden. Die dem Centralve329 H. Mann, Der Haß, 1933, S. 102f.

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rein nahe stehenden Juden erkannten die Gefahr einer Neuauflage des Stereotyps vom ,mauschelnden Ahasver' und setzten in ihrer sprachspezifischen Abwehrarbeit im Prinzip auf dasselbe Argument, mit dem Heinrich Mann in seiner Exilschrift die ganze Widersinnigkeit gerade der deutschen Judenfeindschaft noch einmal zu verdeutlichen suchte: „In Wirklichkeit sind die Deutschen das letzte Volk, das auf den Judenhaß ein Recht hätte. Sie sind den Juden viel zu ähnlich."330 Ähnlich sind beide sich, so heißt es in den C.V.-Organen wieder und wieder, ja schon im Sprachlichen. Weil das Ostjiddische dem Neuhochdeutschen etymologisch zwar die mittelalterlichen Zwischenstände widerspiegelte, in der alltäglichen Lebenswirklichkeit aber phonetisch von diesem unüberhörbar differierte — ein Umstand, den die Antisemiten, wie gesagt, leidlich auszunutzen verstanden331 - , war die C.V.-Presse um Klarstellung bemüht. Die deutsch-jüdischen Aufklärer hatten ein neues Betätigungsfeld gefunden, vielmehr: sie wurden darauf gestoßen. Die „Ostjudenfrage" zwang den Centraiverein zu einer Konturierung seines Standpunkts. Da in der Folge osteuropäischer Pogrome von 1881 bis 1925 insgesamt 85 500 polnische und russische Juden Zuflucht in Deutschland suchten332, was zu einer regelrechten Renaissance des Jiddischen in Berlin führte333, wurde die deutsche Öffentlichkeit mit einer Sprache konfrontiert, die bei manchem Hörer Abwehrreflexe hervorrief: Freilich am meisten erscheint dem Deutschen oft gerade das in der jüdischdeutschen [ostjiddischen] Sprache fremd, was am urdeutschesten ist, nämlich die beibehaltenen altdeutschen Wörter und Formen. 3 3 4

Das weit fortgerückte Eigene ist hier das vorgerückte Fernste. Diese Interpretation wurde zum Programm. Die Terminologie war da nur äußeres Anzeichen des Leitbilds. Seitdem der Begriff „Jiddisch" seit Anfang des 20. Jahrhunderts, spätestens aber nach 1913 von namhaften jüdischen 330 Ebd., S. 97. 331 Vgl. dazu auch Klemperer, Die unbewältigte Sprache, 1966, S. 90. Klemperer analysiert in seiner erstmals 1946 erschienenen „Lingua Tertia Imperii" die Mittel zur Aussonderung der Juden im nazistischen Deutschland. Neben der Namenssügmatisierung erwähnt er auch die Verfemung des Jiddischen: „Als Mittel hierfür bot sich [...] der Jargon dar, der den Deutschen seinen Wortformen nach als eine Verzerrung der deutschen Sprache erscheint, und der ihnen rau und häßlich klingt. Daß sich gerade im Jargon die durch Jahrhunderte bewahrte Anhänglichkeit der Juden an Deutschland ausdrückt, und dass ihre Aussprache sich weitgehend mit der eines Walter von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach deckt, das weiß natürlich nur der Germanist von Metier." 332 Vgl. Herzog 1996, S. 257. 333 Diese Renaissance fand ihren Niederschlag im Boom jiddischsprachiger Zeitschriften in den 20ern unc Anfang der 30er Jahre. Vgl. dazu Neiss 1998. 334 Loewe, Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden, 1915/1916, S. 35.

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Forschern in Deutschland als der adäquate Terminus technicus für das Ostjiddische propagiert worden war335, konnte die Wahl anderer Paraphrasen wie „Jüdischdeutsch" oder „Jargon" keine vollkommen wertneutrale mehr sein.336 Sie war, ganz im Gegenteil, kommentarlos evokativ, da mit ihr immer auch zugleich „Bewertungen und Konnotationen zum Ausdruck" kamen.337 Selbstständige Einzelsprache oder Erscheinungsform einer anderen Sprache? Dieser Frage vermochte niemand mehr auszuweichen, der Position zum Jiddischen beziehen wollte. Bereits 1897 hatte das Hauptvorstandsmitglied Paul Rieger die definitorische Leitlinie vorgegeben. An seiner Position hielt der Centraiverein fortan fest: Wie aus den vorhandenen mittelalterlichen Fastnachtsspielen hervorgeht, kannten die damaligen Juden keinen Jargon, sondern sprachen ein reines Mittelhochdeutsch [...] Die deutschen Juden, welche weit weniger Analphabeten unter sich hatten als ihre christlichen Zeitgenossen, wurden durch zahlreiche deutsche Niederschriften in hebräischen Lettern die treuen Beifahrer deutscher Sprachdenkmale. 338

Die Ausgangsfrage scheint für Rieger damit beantwortet zu sein: Weil das Ostjiddische in dem sprachgeschichtlichen Entwicklungsgang, der schließlich zum so genannten ,Neuhochdeutschen' geführt hat, ein wichtiges, dann aber nicht weiterentwickeltes Stadium darstellt, kann es keine Einzelsprache, sondern allenfalls die frühe Erscheinungsform einer Sprache sein. Die weiteren Konsequenzen aus Riegers Standpunkt werden im Verlauf seiner Rede deutlich, die der Hauptschriftführer von „Im deutschen Reich", Alphonse Levy, indirekt wiedergibt: Der Vortragende betonte, daß die deutschen Juden nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der neusten Zeit stets Träger der deutschen Kultur gewesen und sich als Pioniere des Deutschthums im Ausland bewährt haben. [...] Sie würden aber jetzt und künf-

335 Vgl. B. Simon 1988, S. 27—30: „Die Bezeichnung Jiddisch in ihrer historischen Entwicklung." 336 CVZ 13, 30. März 1928, S. 169f. („Unsere Leser schreiben", hier: Sally Geis: „Für C.V.Tätigkeit auch jenseits der deutschen Grenzen"). Der bereits angeführte Leserbrief zeigt an, dass auch für das Ostjiddische die Bezeichnung „Jargon" noch lange nach der Etablierung des Terminus „Jiddisch" populär blieb. Vgl. S. 245, Anm. 320 der vorliegenden Untersuchung. 337 Althaus 2002, S. 225. 338 IdR 3, Heft 12, Dezember 1897, S. 643 („Vereinsnachrichten") [Kursive: Α. K.]. Vgl. dazu im „Anti-Anti" noch einmal die Bekräftigung dieses Standpunktes durch den Centraiverein als Herausgeber der Abwehrschrift: „Etwa 10 Millionen Juden sprechen einen auf der Sprachgrundlage der Deutschen beruhenden Dialekt. Das Jiddisch ist in seinen Grundelementen mittelalterliches Deutsch" (Centraiverein, Anti-Anti, 1920, 3. Blatt, 10 C). Auch nichtjüdischen Lesern gegenüber vertrat der C.V. diese Position. Vgl. dazu beispielsweise MCVZ Januar/März 1932, S. 11: „Noch heute ist das Deutsche für elf Millionen Juden, also für zwei Drittel aller Juden der Erde, die Muttersprache."

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-judische Sprachkonzept

tig beweisen, daß nicht Abstammung und Religion, sondern Sprache, Sitte und Gemnungftir die Nationalität maßgebend seien und daß man sie deshalb als wahre Deutsche gelten lassen müsse.· 539

Nochmals also: Kompetenz in der Nationalsprache fuhrt zu nationaler Zugehörigkeit. Offenbar legt Rieger hier nahe: Eigentlich sind auch die osteuropäischen Juden als die Nachfahren deutscher Juden des Mittelalters kulturell ,deutsch' geblieben, weil sie die Ursprünge der deutschen Sprache sozusagen konserviert haben. Ohne Kindheit kann keiner erwachsen werden, und die ,Kindheit' einer Sprache diffamieren zu wollen hieße, die aus diesem ersten Stadium hervorgegangene Sprache selbst verleugnen, hieße somit auch, die nationenkonstituierende Wirkkraft der Sprache ihrer einmal eingeräumten Rechte zu berauben. Rieger hält es deshalb für eine Selbstverständlichkeit, die nach Deutschland zurückkehrenden ostjüdischen „Pioniere des Deutschthums im Ausland" nicht wie Fremde, sondern ganz im Gegenteil wie Brüder zu behandeln. Eine solch idealisierte Stellung des Ostjudentums hätte natürlich an Gewicht verloren, wenn das Ostjiddische der Gegenwart als Einzelsprache, mithin als eine neben dem Hochdeutschen gleichberechtigt existierende Sprache mit nicht unbedeutenden semitischen und vor allem slawischen Einflüssen bewertet worden wäre. „Pioniere" bewegen sich zwar auf fremdem Terrain, aber nur, um es zu erschließen. Hatten die ostjüdischen Wegbereiter die Ostgebiete erst einmal für das Sendungsbewusstsein deutscher Kultur sensibilisiert, dann würden, so das Kalkül, auch die wirklichen Grenzen fallen, und sei es durch Gewalt. Wenn auch neuere Studien das Paradigma von einer zur Einstellung der Nichtjuden völlig äquivalenten Kriegsbegeisterung der deutschen Juden differenziert haben340, so lässt sich doch nur schwer bestreiten, dass zumindest unter den enthusiastischen Mitgliedern des C.V. viele das Ostjudentum für nahe oder künftige Kriegsziele zu instrumentalisieren bereit waren. Die meisten Publizisten in den Vereinsorganen des C.V. definieren das Ostjiddische als „deutschen Dialekt"341. Konform mit Rieger, räumen

339 IdR 3, Heft 12, Dezember 1897, S. 643 („Vereinsnachrichten") [Kursive: Α. K.]. 340 Vgl. Sieg 2001, S. 320-323. 341 So in IdR 5, Heft 2, Februar 1899, S. 70 (Austriacus: „Galizischer Antisemitismus"): „Sie [hier: die galizischen Juden Österreichs] sprechen auch in den slavischen Provinzen einen deutschen Dialekt." Vgl. ferner IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 46, wo ein Μ. A. Klausner in seinem Artikel „Sprache und Nationalität" die Sprache der Ostjuden — den „Jargon" — „als den verbreitetsten und zugleich interessantesten und ausgezeichnetsten deutschen Oialekt' zeigen will. Bemerkenswert ist dabei, dass er die Mendelssohnsche Pejoration „Jargon" in überaus wohlmeinender Konnotation für das Ostjiddische verwendet. Ahnlich verfährt die Argumentation des Rabbiners Dr. David, wie sie Carlernst Donner in seinem Aufsatz „Die

Die Einstellung zum Jiddischen: Eine Frage der Benennung?

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sie der regionalen Variante im eingangs dargestellten Sprachmodell nicht nur den Vorzug ein, sondern nehmen sie sogar als alleiniges Muster an, um die Sprache ihrer östlichen Glaubensbrüder und -schwestern deuten und einordnen zu können. Das gilt keineswegs nur für die Zeit während des Ersten Weltkrieges und kurz danach. Noch im September 1930 verwehrt sich in CVZ der bereits angeführte S. W. Jaeger lediglich dagegen, das Jiddische als „Jargon" oder als ^schlechtes' Deutsch" zu deklassieren — eine andere Terminologie hätte angesichts des Siegeszugs der Paraphrase „Jiddisch" auch überrascht; keinesfalls aber plädiert er für die im damaligen Denken immer noch hochwertigste Qualifizierung als Eigensprache. Sein Titel ist Programm: „Jiddisch - eine deutsche Nebensprache."342 Mit einer einzigen Ausnahme setzt sich kein Schreiber in den beiden C.V.-Organen dafür ein, das Ostjiddische als Einzelsprache einzuschätzen, und selbst diese eine Ausnahme schwenkt später auf die Linie der Mehrheitsmeinung ein. Einerseits erstaunt Felix Goldmann im Kriegsjahr 1915 mit der couragierten Bemerkung, die Ostjuden sprächen „keineswegs einen deutschen Dialekt, [...] sondern eine eigene S p r a c h e , die übrigens auch eine große und wertvolle Literatur hervorgebracht hat"343; andererseits erklärt derselbe Felix Goldmann in der vom Centraiverein edierten Schrift „Polnische Juden" (1915) das Jiddische kurzerhand zum „Jargon" und „echten deutschen Dialekt"344. Zwei Jahre darauf entscheidet sich der äußerst rege Publizist dann endgültig für die zweite Variante: Die starken und auffallenden äußerlichen Zusammenhänge zwischen der Judenheit und Deutschland sind [...] nicht zufälliger Natur. Es geht auf diese innerliche Wesensgleichheit zurück, wenn elf Zwölftel der gesamten Juden einen deutschen Oialekt als Umgangssprache zäh bewahren, wenn sie in Ländern fremder Zunge und

russischen Juden als Pioniere des Deutschtums im Osten" (IdR 20, Heft 10-12, OktoberDezember 1914, S. 382) darstellt: „Zwar sind wir geneigt und gewöhnt, uns über den sogenannten Jargon' lustig zu machen, weil er scheinbar mit unserer deutschen Sprache wenig Klangverwandtschaft hat. Aber auf den Ton und den Klang kommt es hier ebensowenig an wie bei vielen anderen deutschen Dialekten, von denen sich einige für das norddeutsche Ohr geradezu furchtbar anhören. Der Jargon' ist ja mehr rückständiges wie verdorbenes Deutsch; es ist mittelhochdeutsch." Davids rhetorische Frage liegt ganz auf Paul Riegers Linie: „Muß man da nicht von diesen russischen Juden [...] als von den Pionieren des Deutschtums im Osten sprechen?" [alle Kursive: Α. K.] 342 CVZ 38, 19. September 1930, S. 506-508 (S. W. Jaeger: „Jiddisch - eine deutsche Nebensprache. Eine wichtige Untersuchung der Deutschen Akademie"). Vgl. S. 245. Anm. 321; S. 246, Anm. 327 der vorliegenden Studie. 343 IdR 21, Heft 10/11, Oktober/November 1915, S. 207 (Felix Goldmann: „Deutschland und die Ostjudenfrage"). 344 Goldmann, Polnische Juden, 1915, S. 6.

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept Sitte den deutschen

Ursprung

und die deutsche Richtung

ihrer Kulturanschauungen

nicht ver-

leugnen. 345

Goldmanns letztendliche Entscheidung könnte durch die neue Lage an der Ostfront seit Anfang 1917 begründet worden sein. Zwar hatten bereits im ersten Kriegsjahr 1914 die schweren Niederlagen der russischen Armee bei Tannenberg und an den Masurischen Seen die deutsche Öffentlichkeit in dem Glauben bestärkt, dass das zaristische Russland rasch zur Kapitulation gezwungen werden könnte; aber erst mit der russischen Februarrevolution 1917 und der Ermordung Zar Nikolaus II. war Russlands Niederlage besiegelt und der für das Deutsche Reich äußerst günstige Diktatfrieden von Brest-Litowsk möglich geworden. Dieser Umstand entfachte eine Diskussion in Deutschland über den zukünftigen Status der mehrere Millionen zählenden Juden auf polnischen sowie russischen Gebieten346, die, so glaubte man, bald zum deutschen Reich gehören würden. Es kann angesichts dessen nicht verwundern, dass die liberalen Juden in Deutschland auf Spezifika hinwiesen, durch welche die osteuropäischen Juden dem Deutschtum nahe stünden. Die rein äußerliche Andersartigkeit der russischen ,Schtetl'-Juden (Kaftan, Hut- und Barttracht etc.) konnte nicht geleugnet werden. Ein anderer Indikator musste her. Es war, wie nicht anders zu erwarten, die Sprache: Weil Deutsch unsere Muttersprache ist, liegt uns als Deutschen, durchaus nicht als Juden, nur als Deutschen, am Hereen, daß der größte deutsche Dialekt, das zu Unrecht verhöhnte alt-oberdeutsche Jiddisch', nicht ins Meer des Slawentums versinke. 347

Die Ausrichtung des Autors dieser Zeilen von 1918, das Jiddische in einer Art Überlebenskampf gegen das „Slawentum" zu porträtieren, ist natürlich reine Kriegspolemik.348 Die zaristische Regierung zeigte kein wirkü345 IdR 23, Heft 4, April 1917, S. 166 (Felix Goldmann: „Deutschtum und Judentum") [Kursive: A.K]. 346 Allein für Polen errechnet Adolf Friedemann in seinem Vortrag „Die Bedeutung der Ostjuden für Deutschland" aus dem Jahre 1916 insgesamt „1 957 000 Juden (gleich 15 Prozent der Gesamtbevölkerung), von denen 1 942 000 (gleich 14,87 Prozent der Gesamtbevölkerung) den Jargon sprechen". Friedemanns Folgerung deckt sich gänzlich mit der C.V.Position zur Ostjudenfrage in Kriegszeiten. Zusammen mit den sechs Millionen russischen Juden könnten die polnischen Juden gerade durch ihre dem Deutschen so verwandte Sprache „deutscher Vormachtstellung im Osten Pioniere sein, deutsche Kulturwerte in die Ferne tragen und dem deutschen Handel unschätzbare Dienste leisten" (Friedemann, Die Bedeutung der Ostjudenflir Deutschland, 1916, S. 676 u. 680). 347 IdR 24, Heft 4, April 1918, S. 148 (Franz Oppenheimer: „Gemeinbürgschaft"). 348 Über einen Umweg lässt auch die Redaktion der IdR-„Umschau" vom März/April 1916 (IdR 22, Heft 3/4, März/April 1916, S. 71) ihren antirussischen Gefühlen freien Lauf. Hier findet sich gleichzeitig eines der seltenen Beispiele dafür, dass die Monatsschrift auf die an-

Die Einstellung zum Jiddischen: Eine Frage der Benennung?

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ches Interesse daran, die verhassten und verfolgten ,Schted-Juden' kulturell wie sprachlich zu assimilieren und ihnen nach dem deutschen Modell staatsbürgerliche Rechte einzuräumen349. Einmal abgesehen von einer kleinen elitären Schicht, unternahmen auch die Juden des ,Schtetl' selbst wenig, um sich in die russische Gesellschaft zu integrieren, was ja — das deutsche Beispiel bewies es — offenbar nur um den Preis einer radikalen Neuformulierung der eigenen Identität möglich war. Nicht primär die ostjiddische Sprache war also gefährdet, sondern ihre Sprecher mussten um ihr Leben fürchten. Die Pogromwellen in Russland trieben seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine große Anzahl Juden aus dem Land. Zwar übernahmen diejenigen aus den unteren Schichten, die blieben, weiterhin slawische Lehnwörter in das Ostjiddische, doch war dies ein für diese Sprache seit Jahrhunderten charakteristischer Vorgang.350 Eine radikale Sprachakkulturation wie bei den aschkenasischen Westjuden fand nicht statt. Obiges Zitat soll vor allem einen anderen Aspekt erhellen: Wieder ist es die Ausschließlichkeit der regionalen Variante, durch die das Ostjiddische charakterisiert wird. Dahinter stand zweifellos eine ganz bestimmte C.V.-Strategie, die drei Hauptziele verfolgte: Erstens glaubte man die ostjüdischen Einwanderer in die deutsche Gesellschaft leichter integrieren zu können, wenn ihre Sprache nicht den Nimbus einer Eigensprache erhalte und damit in den Verdacht einer Fremdsprache gerate; zweitens sollte dem sprachspezifischen Antisemitismus die Stirn geboten werden, indem die C.V.Aktivisten beständig darauf verwiesen, dass hier Quasi-Deutsche der Verfemung ausgesetzt seien; drittens leisteten die in Russland, Polen und Galizien verbliebenen Ostjuden gerade dann die wertvollsten Dienste als ,Kulturmissionare', wenn gar kein Zweifel daran bestand, dass sie etymologische Sendboten der neuhochdeutschen Sprachwirklichkeit seien. Der zweite Punkt erlangte in einem Abwehrverein wie dem C.V. besondere Bedeutung. Offensichtlich glaubte man, dass eine wiederholte Markierung des Ostjiddischen als „deutschen Dialekts" es eher vor judentisemitische Polemik ihrerseits rassenpolemisch antwortet: „Übrigens ist das Deutsch, das diese Ostjuden sprechen, bis auf sehr wenige hineingemischte jüdische Brocken die Sprache, die in Mitteldeutschland vor Jahrhunderten allgemein gesprochen wurde, als die meisten Ahnen unserer heutigen so häufig den slawischen Typus deutlich aufweisenden Antisemiten noch kein deutsches Wort verstanden." 349 „Man konnte unter der zaristischen Regierung nicht wohl ,Russe jüdischen Glaubens' sein, da die russische Judenheit ein offiziell als solches bezeichnetes und behandeltes Fremdvolk eigener Sprache, Sitte und Religion darstellte" (CVZ 49, 3. Dezember 1926, S. 635, Franz Oppenheimer: „Zur Entgiftung des politischen Kampfes"). 350 Vgl. Eggers: „Der jiddisch-slavische Sprachkontakt [...] findet etwa ab dem 13. Jh. [...] v. a. in der Richtung vom Slavischen in das Jiddische statt" (Eggers 1998, S. 293 u. S. 300).

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feindlichen Attacken schützen würde als das Zugeständnis einer autonomen Wertigkeit dieser Sprache. Denn wenn sich das Ostjiddische tatsächlich „zum Hochdeutschen gleich wie das [...] Steierische, Bayerische, Berlinische, Ostpreußische" verhält, alles ja deutsche Dialekte, die „ebenfalls kein konstituierendes Merkmal einer besonderen Nationalität bilden"351, dann würde sich eine Ablehnung des Ostjiddischen und seiner Sprecher letztlich auch gegen die nichtjüdischen Deutschen kehren. Auf die Spitze getrieben, bedeutete das: Wer die Sprecher eines deutschen Dialektes als ,undeutsche' Fremde diffamierte, die es auszuweisen gelte, der müsste konsequenterweise halb Deutschland entvölkern, das heißt jeden des Landes verweisen, der umgangssprachlich in alemannischen, obersächsischen, schlesischen u. a. Mundarten kommunizierte.352 „Wenn die Juden immer und überall mauscheln", zitiert der „C.V.-Dienst", eine vereinsinterne Informationsschrift, den Marxisten Karl Kautsky, „so sächseln die Sachsen, schwäbeln die Schwaben immer und überall. Will man daraus Rassencharaktere konstruieren?" Ein Spross sächsischer Eltern, der in München aufwachse, werde bayrisch, ein Kind der Waterkant eben plattdeutsch reden.353 Doch was sollte nun mit diesem „deutschen Dialekt" Ostjiddisch werden, den die eingewanderten Ostjuden - sozusagen als wandelnde Relikte mittelalterlicher deutscher Sprache, als Konservatoren des deutschen Sprachursprungs - im Deutschen Reich redeten? Könnte er neben dem reinen »Hochdeutsch' der Sprachpuritaner, das ja eigentlich auch nur ein Kunstdialekt war, aber besonders seit der Einheit von 1871 die Herrschaft über alle Dialekte beanspruchte,354 in gleicher Weise fortdauern wie das Baltische, Friesische oder Schwäbische? Rabbiner Dr. Samuel prophezeit im Mai/Juni 1916, dass das Ostjiddische ebenso dem Untergang geweiht sei, wie das Westjiddische als Preis der Emanzipation geopfert worden war: Auch soll gewiß keine feindselige Zerstörung gegen sie [die jiddische Sprache] ins Werk gesetzt werden, aber ihr Fortleben ist uns zweifelhaft. Der Westjude hat sie

351 IdR 26, Heft 12, Dezember 1920, S. 385f. („Jüdische Rundschau"). 352 In dieses Bild passt Walther Rathenaus Bekenntnis zum Deutschtum in einem Brief an den glühenden Nationalisten Wilhelm Schwaner vom 18. August 1916: „Mein Volk sind die Deutschen, niemand sonst. Die Juden sind für mich ein deutscher Stamm, wie Sachsen, Bayern oder Wenden" (Rathenau, Briefe, Bd. 1: 1883-1912, S. 220). 353 Kautsky, Rasse und Judentum, 1921, S. 52 (vgl. CVD 1, Heft 8, 30. Oktober 1924, S. 61). 354 Vgl. Bering 1998, S. 264: „Finally, beginning in 1870 [...] the systematic, restructuring of the German Empire, including linguistic restructuring, began in earnest. All dialects were repressed in favour of a uniform written language and a more and more clearly developing uniform colloquial language."

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aufgeben wollen; ich glaube, auch der Ostjude wird sehr bald eben dahin gelangen. 355

Dass gewichtige Stimmen im C.V. unter Umständen auch ihr altes Ideal von der sprachlichen Pionierleistung der Ostjuden zu opfern bereit waren, zeigt sich insbesondere an einigen Passagen in der „C.V.-Zeitung". Das Argument der ostjüdischen Bannerträgerschaft für die deutsche Sprache und Kultur verliert dort zunehmend an Gewicht. Selbst ein C.V.-Grande wie Felix Goldmann, der 1917 in patriotischer Kriegsstimmung zumindest auf den „deutschen Ursprung und die deutsche Richtung" der ostjüdischen „Kulturanschauungen" insistiert hatte, ist zwölf Jahre später zum Verzicht darauf bereit. In seinem Artikel „Wohin wandern die Ostjuden aus?" vom Oktober 1929 hat das Jiddische auch in den relativ abgeschlossenen Schtetl-Gesellschaften des Ostens keine Zukunft mehr. Die höhere Entwicklungsstufe der „allgemeine[n] Kultur" im Westen werde dem Osten als leuchtendes Vorbild dienen, der Weg, den „im Osten die Völker [einschlagen] wollen und müssen", sei deshalb vorgezeichnet. Jedes ostjüdische Handeln habe sich zwangsläufig an der erfolgreichen Akkulturation der Juden in „Westeuropa und Amerika" zu orientieren. Die Sprachassimilation als ein „erstaunliche [r] Umschwung in der Stellung der Juden zu den Landessprachen" in Polen und Russland sei ein Indiz für die Emanzipation und den Beginn der „Kulturassimilation". Beides könne nur im jeweiligen Herkunftsland zu Ende geführt werden. Mit anderen Worten: Je eher die Ostjuden einsehen, dass sie sich sprachlich und kulturell genauso anzupassen haben, wie es die Westjuden in Deutschland effektiv vorexerziert hatten, desto besser für sie und desto besser auch für Deutschland, da sich erst dann „das heute so niederdrückende und aussichtslose Problem der Auswanderung" mindern werde.356 Für die bereits in Deutschland lebenden Ostjuden ist in diesem Szenario gleichfalls nur eine Zielrichtung vorgesehen, die Goldmann im Januar 1927 klar absteckt: Unweigerlich werde die Immigranten „die assimilierende Kraft des deutschen Wesens" erfassen.357 Wie sind solche Wandlungen zu erklären? Goldmanns Ausführungen resultieren aus Überlegungen, die das effektivste Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus in immer weiterführenden Akkulturationsbestrebungen sehen. In seiner 1924 erschienenen Schrift „Vom Wesen des Antisemitismus" deutet er den Rassenantisemitismus zwar als Kriegsstrategie gegen den sei355 IdR 22, Heft 5/6, Mai/Juni 1916, S. 119 (Rabbiner Dr. Samuel: „Ostjuden"). 356 CVZ 43, 25. Oktober 1929, S. 579 (Felix Goldmann: „Wohin wandern die Juden aus?"). 357 CVZ 1, 7. Januar 1927, S. 8 („Philo-Verlag, Ostjudenfrage und Keren Hajessod. Eine Aussprache zwischen Dr. Ernst Simon [Frankfurt a. M.] und Dr. Felix Goldmann [Leipzig]").

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ner Meinung nach aus dem 19. Jahrhundert herrührenden sprachspezifischen deutschen Nationalbegriff; allerdings betrachtet er die andauernde Judenfeindschaft vor allem als Folge einer selbst in Deutschland noch immer nicht vollständig beseitigten „Erkennbarkeit" der Juden als Juden: Wenn nun freilich wiederum die Juden von nationalistischer Seite es sich gefallen lassen müssen, trotz ihrer sprachlichen Anpassung nicht zu den einzelnen Nationen gerechnet zu werden, so liegt das daran, dass sie trotz allen Aufgehens in die Kultur der einzelnen Länder sich gewisse sichtbare Zusammenhänge bewahrt haben, die sie nicht nur aus der gemeinsamen Religion, sondern auch aus der gemeinsamen Leidensgeschichte und der gemeinsamen Abstammung nebst späterer Fernhaltung von fremden Beimischungen ergeben. So sind sie trotz der Eingliederung von der Majorität der Bevölkerung unterschieden. 358

Wenn schon die sprachliche und kulturelle Angleichung der deutschen oder französischen Juden nicht ausreicht, um dem Antisemitismus wirksam die Stirn zu bieten, wie musste es dann erst um die Situation der Ostjuden bestellt sein? Die Eliminierung des Ostjiddischen als Signum für die von Julius Goldstein so befürchtete „Erkennbarkeit" sollte der erste Schritt auf einem langen Weg zur jüdischen Akkulturation im Osten sein. Dafür gab es seiner Überzeugung nach keinerlei Alternative. 6.4. Brüder, so fremd? Die Kluft zwischen West- und Ostjuden Einige Publizisten haben in der Ostjudenfrage radikale Standpunkte bezogen, die andere C.V.-nahe Juden in ähnlicher Weise vertraten, nur entweder nicht auszusprechen wagten oder zumindest verklausulierten. Das Ostjiddische war davon nicht ausgenommen. Ein Beispiel für ein vorsichtig formuliertes Eingeständnis von Fremdheitsgefühlen findet sich in einem Artikel vom Januar/Februar 1916. Kurt Alexander359, der für ein

358 Goldmann, Vom Wesen des Antisemitismus, 1924, S. 80. Für eine solche Argumentation finden sich Vorläufer in den C.V.-Organen. In IdR 22, Heft 1/2, Januar/Februar 1916, S. 17. (Feldarzt Dr. Edmund Hirsch: „Der russischen Juden Not und Trost") fordert der Mediziner Hirsch aus Gera die russischen Juden nicht nur zur sprachlichen Assimilation, sondern auch zur Anpassung ihres äußerlichen Erscheinungsbildes an eine Art ,physiognomische Norm' auf: „Sie müssen darüber belehrt werden, daß sie tatsächlich schon dunh ihr Aeußeres jenen fremdartigen Eindruck erwecken, der sie als Juden' in Galizien und Polen charakterisiert, und sie müssen auch systematisch wirklich deutsch sprechen lernen." [Kursive: Α. K.] 359 Kurt Alexander (1893-1962) hatte als Herausgeber von „Im deutschen Reich" zwischen 1919 und 1922 eine wichtige Position inne. Zudem war er im gleichen Zeitraum Syndikus des Centraivereins in Berlin. Später saß er als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei im Krefelder Stadtparlament. Barkai konstatiert: „In seinen Schriften und Reden vertrat er

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striktes Einwanderungsverbot plädiert, sieht die Ressentiments vieler Deutscher gegenüber den eingewanderten Ostjuden gerade durch den fremden Klang der ostjiddischen Sprache provoziert: Gewiß hat das Jiddische' seinen Ursprung in der deutschen Sprache. Aber gerade dieser Jargon bietet vielleicht einen der stärksten Widerstände gegenüber der Aufnahme der östlichen Juden in Deutschland. Er [...] muß geradezu durch das Eigenartige saner Ausdrucksweise und Aussprache befremdend und entfremdend wirken.36°

Sein Argument ist durchaus schlagend, denn es stellt die Mehrzahl der Darlegungen zum Ostjiddischen als einen akademischen Diskurs bloß, der sich von der Wirklichkeit der gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung längst entfernt hat. Schließlich sei nicht jeder Deutsche [...] Etymologe und gewillt, den jüdischen Dialekt auf seine mittelhochdeutschen Ursprünge zu untersuchen.361

Auch der deutsch-jüdische Schriftsteller Georg Hermann betont den mittelhochdeutschen Ursprung des Jiddischen, doch erweist sich seine Einschätzung der ostjüdischen Kultur untergründig als Abwertung. In einem CVZ-Artikel vom 22. März 1928 verteidigt er sich gegen Vereinnahmungsversuche seines Vortrages („Juden als Autoren in der modernen deutschen Literatur") durch den „Völkischen Beobachter". Hitlers NSDAP-Propagandablatt hatte Hermann als Kronzeugen für die „Verjudung der deutschen Literatur" angeführt. Dieser wehrt sich, indem er die Kernaussage seiner Rede, einen Vergleich zwischen Ost- und Westjudentum, noch einmal wiedergibt. Während der Ostjude der „deutsche Jude des Mittelalters" in Sprache, Volksliedschatz und Mystik geblieben sei, dem „Kammerdiener" gleich, der immer noch Voltaires Französisch spreche, habe der „deutsche Jude" längst einen ganz anderen kulturellen Entwicklungsstand erreicht. Er sei „mit Beginn einer deutschen, international wertbaren Literatur [...] von Generation zu Generation immer stärker und vielgestaltiger, selbstschöpferisch geworden, und zwar" - dieser Zusatz lässt aufmerken — „durchaus nicht als Jude, sondern als Deutscher." 3 6 2 Hermanns Passage geht über die üblichen restriktiven Klassifizierungen der ostjüdischen Sprache als Bewahrungs- und Bewährungsgröße des

rechtsorientierte nationalistische Positionen, die seiner Parteizugehörigkeit entsprachen" (vgl. Barkai 2002, S. 399f., Anm. 45). 360 IdR 22, Heft 1/2, Januar/Februar 1916, S. 22 („Deutschland und die Ostjudenfrage") [Kursive: Α. K.]. 361 Ebd. 362 CVZ 12, 22. März 1929, S. 147 („,Grauenhafte Verjudung der deutschen Literatur.' Georg Hermann und der ,Völkische Beobachter'").

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Deutschtums hinaus. Sein Vergleich der mittelalterlichen, stagnierenden ostjüdischen Schtetl-Kultur mit der fortschrittlichen westjüdischen Akkulturationsgesellschaft legt die chauvinistische Haltung eines deutsch empfindenden und schreibenden Juden gegenüber dem Ostjudentum bloß. Um den immer auch sprachspezifischen Kulturpatriotismus der liberalen Juden gegen antisemitische Anzweifelungen zu stärken, dienen ihm die Ostjuden als kontrastierende Gegenbeispiele. Stellt man sie der „selbstschöpferischen" Modernität eines akkulturierten deutschen Juden gegenüber, dann wirken sie nur noch wie lebende Anachronismen. Solch subtile Abwertungen der ostjüdischen Kultur waren indes nicht jedermanns Sache. Jakob Wassermann, der in „Im deutschen Reich" öfters zitierte Literat des deutsch-jüdischen Weges,363 gesteht offen, dass ihm die polnischen oder galizischen Juden „in den Äußerungen, in jedem Hauch fremd", ja manchmal „sogar abstoßend" seien. Einem Großteil der akkulturierten Juden wirft Wassermann dagegen Unehrlichkeit vor. Zwar teilten sie seine Animosität gegen das Ostjudentum, doch: Viele Juden, die sich als Juden fühlen, verhehlen sich dies; einem Pflichtgefühl oder Parteidiktat zuliebe oder um feindlichen Angriffen keinen Zielpunkt zu geben, üben sie Zwang auf sich aus. 364

Aschheim sieht in seiner Untersuchung „Brothers and Strangers" von 1982 den Gegensatz zwischen deutsch akkulturierten „Krawattenjuden" („cravat jews") und orthodox-traditionalistischen „Kaftanjuden" („caftan jews") vor allem in der Weigerung der Westjuden begründet, das ethische Stereotyp des unzivilisierten, unsauberen, gerissenen, mauschelnden und abergläubischen Ostjuden zu revidieren.365 Für den Centraiverein lässt sich Aschheims These so allerdings nicht vertreten. Ein solch extrem starres Klischeebild hielt zweifellos Max Naumanns „Verband nationaldeutscher Juden" aufrecht, sicherlich aber nicht das liberale deutsche Judentum.366 363 Es kann nicht überraschen, dass das C.V.-Organ Wassermanns berühmtes Bekenntnis zur deutsch-jüdischen Synthese sich zu Eigen macht: „,Ich bin Deutscher und ich bin Jude! Eines so sehr und so völlig wie das andere! Keines ist vom anderen zu lösen.' Diese Worte [Wassermanns] enthalten das unverrückbare Programm des Centraivereins. Deutschtum und Judentum in inniger Vermählung" (IdR 27, Heft 4, April 1921, S. 121, Ludwig Holländer: „Verband nationaldeutscher Juden und Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens"). 364 Wassermann, Mein Weg als deutscher aWJude, 1921, S. 115. 365 Aschheim 1982, S. 58-79. 366 In IdR 27, Heft 2, Februar 1921, S. 54f. („Zeitschau") zitiert Ludwig Holländer eine extrem pejorative Bewertung der Ostjuden durch Max Naumann und wendet sich, ihre antisemitische Brisanz erkennend, unmissverständlich dagegen: „In der erwähnten Schrift ,Vom nationaldeutschen Juden' heißt es: ,Dem nationaldeutschen Juden ist der Ostjude ein Fremder, und nichts als ein Fremder, er ist ihm gefühlsfremd, geistesfremd, körperlich fremd.'

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Dennoch ist, wie gezeigt, eine nicht immer vorsichtig formulierte Abwehrhaltung auch von Seiten einiger liberaler Juden nicht zu leugnen. Bayerdörfer behauptet, dass die Distanzierung vieler Westjuden von den Ostjuden vor allem aus der Angst herrührte, wieder in die ,Stereotypisierungsfalle' der Antisemiten geraten zu können. Das Berliner Scheunenviertel beispielsweise, das sich zu einer Art ostjüdischem Getto entwickelt hatte, wurde für die liberalen Juden zum „Fremdkörper", „da es den vermeintlich gesicherten Stand von Emanzipation und Integration bedrohte, indem es alte Vorurteile und antijüdische Klischees wiederbelebte". 367 Dieses Phänomen betrifft besonders die Sprache der Ostjuden. Ihre akkulturierten und inzwischen mittelständisch etablierten Glaubensgeschwister im Westen hatten ja am eigenen Leibe erfahren, wie eng Sprachprestige und Sprecherprestige in Deutschland verknüpft waren, und gerade deshalb alle artikulatorischen Auffälligkeiten' nivelliert. Jede offene Solidarisierung mit einer eigenständigen ostjüdischen Kultur barg die Gefahr in sich, lautstärker denn je von den Antisemiten des Verrats am Deutschtum bezichtigt zu werden. Was Richter insbesondere für das Westjiddische zur Zeit der Haskala konstatiert, gilt nicht minder für das Ostjiddische im 20. Jahrhundert: Denn gerade was das Jiddische betrifft, ist der Zusammenhang von Sprachprestige und Sprecherprestige immer dahin bestimmt worden, daß der Gebrauch des Jiddischen oder spezifisch jüdischer Spracheigentümlichkeiten im weitesten Sinne dem gesellschaftlichen Ansehen des Sprechers höchst abträglich sei und ihn dem Spott und der Verachtung aussetze.368 Die kulturell selbstständigen Ostjuden sind den akkulturierten Westjuden lediglich Erfüllungsgehilfen des Deutschtums, indem sie angeblich einen Geist missionarisch in die Welt zu tragen helfen, dem sich die C.V.-nahen Juden verbunden und verpflichtet fühlen. Nach Kriegsende werden sie sogar zu Rettern des durch die Niederlage politisch ohnmächtig gewordenen „deutschen Gedankens" stilisiert. Mit der andauernden Weigerung der Ostjuden, ihre kulturelle und sprachliche Identität wie auch ihre offen gezeigte Religiosität abzulegen, ebbt jedoch allmählich auch diese Begeisterung für die ostjüdischen Konservatoren und Emissäre der deutschen Sprache und Kultur ab.

Wenn das der Inhalt des ,Nationaldeutschen Juden' wäre, so würden wir allerdings von ihm [...] abrücken müssen." 367 Bayerdörfer 1985, S. 213. 368 Richter 1995, S. 65.

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Eine wirklich kulturelle Eigenständigkeit, die auf die deutsche Kultur nachdrücklich hätte Einfluss nehmen können, wird den Ostjuden zu keiner Zeit zugestanden.369 Das .Deutscheigentümliche' im Ostjiddischen ist prinzipiell das verloren gegangene, aber nun wieder gefundene .geistige Eigentum' der deutschen Westjuden. Der Status des Ostjuden zeigt sich als ein von anderen bestimmter und mit den Fremdbestimmungen wandelbarer. Die Sprache und Kultur der Ostjuden bestehen dadurch immer nur für andere und haben keinen Bestand für sich. Umso leichter fällt es, sie verloren zu geben. 6.5. Fazit Die Einstellung des Centraivereins zum Jiddischen war insgesamt gekennzeichnet von einer gewissen Janusgesichtigkeit, die abwechselnd protektionistisch-philantropische und nationalistisch-chauvinistische Züge hatte. Diejenigen Artikel, die sich in den beiden C.V.-Periodika von 1895 bis 1933 mit dem Jiddischen und der ostjüdischen Sprachenfrage beschäftigen, lassen deutlich den Spagat erahnen, zu dem sich der C.V. gezwungen fühlte. Einerseits musste unter allen Umständen vermieden werden, die Massen ostjüdischer Einwanderer den antisemitischen Attacken schutzlos preiszugeben, unter anderem weil der C.V. zu Recht um die Reputation der akkulturierten Juden fürchtete.370 Dafür war es strategisch erforderlich, immer wieder auf Spezifika hinzuweisen, die das .Deutscheigentümliche' der Ostjuden zu belegen imstande schienen. Eine solche ,Evidenzkonstante' für Patriotismus, die sich in der bildungsbürgerlichen Tradition Deutschlands immer als besonders tragfähig erwiesen hatte, war die Sprache. Das Ostjiddische mochte ja fremd klingen, das wollte man zugeste369 Die sehr positive Einstellung zum Ostjiddischen in der so genannten ChassidimBewegung, welche die Eigenständigkeit der ostjüdischen Sprache und Kultur hervorhebt, •wird in der IdR-Rubrik „Jüdische Rundschau" als Euphemismus kritisiert: „All das, wovon die ,Westjuden' des Ostens die Massen ihrer Brüder mit dem Aufgebot aller Kraft zu befreien streben: die Unwissenheit, der Aberglaube, die wirtschaftliche Hilflosigkeit, die Weltfremdheit, mit einem Worte, die Kulturlosigkeit, in der sie vegetieren, wird immer mehr verhimmelt, mit einem erlogenen romantischen Schimmer umgeben. Ein förmlicher Kultus des ,Ostjuden' grassiert. Alles, worunter er seufzt und wovon er sich selber nach Kräften, im äußersten Fall durch Auswanderung, zu befreien sucht, wird als seine ,Eigenart gepriesen, ja als die Eigenart des Juden überhaupt beinahe heiliggesprochen" (IdR 27, Heft 1, Januar 1921, S. 24) [Kursive: Α. K.]. 370 Maurer 1986, S. 175: „Wenn sie duldeten, dass die Ostjuden als Juden aus der Gruppe der Ausländer herausgenommen wurden, hatten sie zu gewärtigen, dass sie in gleicher Weise aus der Gruppe der Staatsbürger ausgesondert würden — was die Antisemiten ja bereits forderten."

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hen - aber im „Kern" sei es, als ursprüngliche Erscheinungsform des Deutschen,,deutsch'. 371 Weil ein „deutscher Kern" nach sprachpuritanischer Denkweise keine „fremden Beimischungen" verträgt, mussten die auch nach damaligem wissenschaftlichen Stand der Dinge nicht unerheblichen slawischen und hebräischen Etyma des Jiddischen als Marginalien abgetan werden, die der Wirkung des deutschen ,Sprachgeistes' völlig untergeordnet wären. „Nur der Wortschatz hat Wörter hebräischen, slawischen und — in Amerika — englischen Ursprungs übernommen", konzediert S. W. Jaeger. Der „Charakter" aber sei deutsch geblieben. Eine allzu positive Bewertung der Umgangssprache der ,Schtetl-Juden' reizte auf der anderen Seite nun aber auch zu der Gegenfrage, warum dann die ,Schwestersprache' Westjiddisch nur eine „Sprachverderbnis" gewesen sein sollte, die man aus freien Stücken unter der Anleitung Moses Mendelssohns bereinigt hatte. Dieser Frage sind die C.V.-Periodika weitgehend ausgewichen, denn sie ließ sich nicht im Sinne der Vereinsideologie beantworten. So wurde über die eigene Sprachvergangenheit entweder ein Mantel des Schweigens gehüllt; oder wie in Goldmanns Ausführungen vom Oktober 1929 die völlige Aufgabe des Jiddischen in West und Ost zugunsten einer Assimilation an die Sprachpraxis der Herkunftsländer prophezeit. Waren die Auffälligkeiten der östlichen Glaubensbrüder und schwestern aus Lodz erst einmal beseitigt, dann konnten sie die akkulturierten Juden weder an den eigenen Großvater aus Posen erinnern noch das Auftreten der Musterschüler in den Augen der Nichtjuden desavouieren. Dies hinderte die meisten Schreiber in IdR und CVZ daran, die gerade von zionistischen Kreisen getragene Begeisterung für die jiddische Sprache und Kultur mitzutragen. Eine „Renaissance" der jüdischen Kultur im Westen konnte nicht zum Interessensschwerpunkt einer Vereinigung geraten, die in ihrer Abwehrarbeit vorrangig darauf baute, das deutsche Element der Akkulturationssynthese zu betonen. Die Probleme, die der Centraiverein mit der Bewertung des Jiddischen hatte und die ihn zu recht zwiespältigen Stellungnahmen veranlassten, resultierten in erster Linie aus der vielfach als Geburtsstunde der deutschjüdischen Synthese angesehenen Emanzipation, deren Akkulturationspro-

371 So heißt es in der Rezension eines jiddisch-deutschen Wörterbuches für deutsche Beamte im Osten: „Der Kern der Sprache aber ist wieder echtes, deutsches Sprachgut, das uns sonst entweder ganz verloren gegangen ist, oder nur noch im Alemannischen, im heutigen ,Schwitzerdütsch', sich erhalten hat. Dieses Kulturerbe gepflegt und erhalten zu haben ist ein Verdienst der Ostjuden" (IdR 23, Heft 1, Januar 1917, S. 19, J . L.: „Ein Wörterbuch ein Tatsachenbuch").

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zesse wiederum eng verbunden waren mit dem Konzept der deutschen Kulturnation als Sprachnation. Wenn die Ostjuden ein konserviertes Mittelhochdeutsch sprachen, dann waren sie entsprechend dem Grimmschen Sprachideal automatisch als Deutsche anzusehen. Jedoch wollten oder konnten viele akkulturierte Juden diese Logik zwar rational anerkennen, emotional aber nicht hinnehmen: Zu fremdartig sahen die Ostjuden aus, zu anders klang ihre Sprache, zu entrückt schien ihre Religiosität. Zudem korrespondierte das Selbstbild vieler Ostjuden nicht mit dem stilisierten Bild, das sich die Juden im Westen von ihnen machten. Nach Lazarus Friedmann, einem Bewunderer der ostjüdischen Lebensweise, von deren Vorbildfunktion er sich eine Renaissance der jüdischen Kultur in Westeuropa versprach, sahen sich die Ostjuden selber keineswegs in erster Linie als Emissäre deutscher Kultur im Ausland: Wenn man einen solchen Juden [im Osten] fragen würde, was er eigentlich ist, so würde er erstaunt antworten: Was ich bin? Ich bin Jidd, ich gehör' zum jiddischen Volk, ich bin a russisch Untertan, ich bin in Goluth (in der Verbannung). 372

Die allgemeine Ernüchterung nach der Kriegsniederlage von 1918 wandelte vielfach auch die Einstellung zur Bedeutung des Jiddischen. Nachdem sich der Traum von der Eroberung großer Ostgebiete zerschlagen hatte, büßte die Instrumentalisierung der Ostjuden als Vorboten deutscher Kulturherrlichkeit an Gewicht ein. Die altbekannte Furcht vor einer „Überfremdung" machte nun wieder verstärkt die Runde und ließ den Centraiverein Schritte zur Eindämmung der ostjüdischen Immigration ins alte deutsche Reich unternehmen. Im Verbund mit der traumatischen Angst, mit den so ostentativ jüdischen' Ostjuden in die altbekannte Stigmatisierungsfalle antisemitischer Judenklischees hineingezogen zu werden, führte all dies zu erstaunlichen Kehrtwendungen. Die Ostjuden sollten, so die communis opinio, in ihren Herkunftsländern verbleiben und auch sprachlich Polen, Russen oder Türken werden. Hilfe in der Not wollte der C.V. leisten, Hilfe zur Auswanderung nicht. Paul Nathans Hilfsfonds für die verarmten ostjüdischen Schichten vor Ort erhielt zwar weiterhin große Unterstützung. Man ließ die Brüder also nicht völlig im Stich. Für Deutschland aber gab man sie verloren. Die in IdR eröffneten und ausgeweiteten Diskussionen um die ,richtige' Bewertung des Ostjiddischen ebbten zwar auch in CVZ nicht ab, hatten jedoch nicht dieselbe Virulenz. Eine Sprache der Vergangenheit konnte, ja durfte nicht die Zukunft der Abwehrarbeit bestimmen. Ganz ähnliches galt für das Hebräische. 372 Friedmann, Die Emanzipation der Ostjuden und ihr Einfluß auf die Westjuden, 1917, S. 19.

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7. Die Einstellung zum Hebräischen: Negation einer Revitalisierung Prinzipiell lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Zionisten um das Hebräische in ganz ähnlicher Weise wie der antisemitischapologetische Kampf als ein Konflikt bezeichnen, der mit spezifischen Argumentationstopoi geführt wurde. Allerdings ist ein solcher Vergleich selbst auf der rein methodischen Ebene problematisch und nur statthaft, wenn man die enormen Unterschiede in der Intention beider Konflikte benennt. Der Sprachdiskurs um das Hebräische hatte natürlich von Anfang an eine andere Tragweite, denn er blieb ein vorwiegend innerjüdisches Phänomen, das in den untersuchten Quellen aus dem antisemitischen Kontext auf seltsame Weise herausgelöst erscheint. Einer der angeführten Gründe hatte in diesem Punkt bereits für Aufklärung gesorgt: Die Antisemiten klammerten in ihrer Agitation gegen den jüdischen Umgang mit Sprache das Hebräische überwiegend aus, und das aus guten Gründen. Vereinzelt tauchten zwar Vorwürfe gegen die jüdische „Geheimsprache" auf, die dann von selbst ernannten und in Wahrheit sprachunkundigen Übersetzern wie Theodor Fritsch erst .entziffert' werden musste. Im Ganzen aber bot die auch von vielen Christen hoch geachtete Bibelsprache keine ähnlich offene Angriffsfläche wie das dem Deutschen doch so verwandte Jiddische. Der von den Antisemiten eingeforderten und durch markierende Stigmatisierungen bekräftigten Auftrennung in Juden und Nichtjuden stand das Hebräische keinesfalls im Wege, im Gegenteil: Wer Hebräisch als seine erste Umgangssprache wählte, der war im gesellschaftlichen Bild als Jude, zumindest als Nichtdeutscher schnell zu erkennen. Aufwendiger ,Nachweise' für angebliche „Mimikry" an das Deutsche bedurfte es da nicht. Niemand braucht stereotypisch markiert zu werden, der sich bewusst von der Mehrheit abhebt. Die Einstellung zum Hebräischen im jüdischen Binnenverhältnis war beeinflusst von der Diskussion über den Antisemitismus. Während die C.V.-nahen Juden der zionistischen Kulturideologie argumentative Hilfsdienste für den gemeinsamen Gegner vorwarfen, hielten die Nationaljuden den Liberalen servile Anbiederungsversuche an die Judenfeinde vor. Beide Kritikpunkte waren Ausdruck diametral entgegengesetzter Ideologien und insofern überzogen. Dennoch lassen sie die Heftigkeit erkennen, mit der sich Liberale und Zionisten gerade auf dem Feld der Sprache befehdeten. Zwar bestritt niemand dem anderen ein generelles Existenz-, gar Lebensrecht, doch wurde der reziproke Angriff durchaus nicht als harmlos empfunden, war er doch gegen die eigene Religiosität bzw. das subjektive Heimat- oder Nationsverständnis gerichtet. Der Minimalkonsens: Ju-

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de ist, wer von einer jüdischen Mutter abstammt, reichte vielen nicht mehr aus. Durfte sich ein des Hebräischen unkundiger Jude als vollwertiges Mitglied des Judentums betrachten, dessen religionsursprüngliche Sprache die Sprache der Gesetze, die Sprache Gottes war? - so fragte vielleicht ein Kulturzionist. Durfte ein Jude die Sprache einer Nation, in der er lebte, durch ein anderes, fremdes und dazu auch noch pragmatisch nicht gebräuchliches Idiom ersetzen wollen? - so fragte vielleicht ein Liberaler. Da der innerjüdische Sprachkonflikt ineinander verzahnt war und kein weitgehend lineares Schema von Angriff und Verteidigung aufweist, soll in der Analyse der Argumentationsmuster auf die Terminologie von Agitation und Apologie verzichtet werden. Gleichwohl erscheint es auch im Falle des Hebräischen methodisch sinnvoll, zunächst die Position der Liberalen zu beleuchten, die gegen das Hebräische argumentierten, um dann in einem zweiten Schritt die zionistischen Befürworter darzustellen. Der Zionismus zwang die dem C.V. nahe stehenden Juden, ihre Haltung zum Hebräischen neu zu konturieren. Dennoch resultieren nicht alle liberal-jüdischen Einstellungen zum Hebräischen aus dem Konflikt mit den Zionisten. Im ersten Schritt soll deshalb zunächst auf eine detaillierte Darstellung der diversen zionistischen Sprachbewertungen verzichtet werden. Es genügt vorerst, sich zu vergegenwärtigen, dass die C.V.-nahen Juden insbesondere gegen ein Schreckensszenario Sturm liefen, das sie als zionistische Forderung identifiziert zu haben glaubten. Gemeint ist die Etablierung des Hebräischen als umgangssprachlicher Leitvarietät für alle Juden nicht nur innerhalb des neu zu gründenden israelischen Staates, sondern auch in der Diaspora. In einem zweiten Schritt ist dann die zionistische Einstellung zu Sprache und Sprachen umfassend aufzuzeigen. Denn erst aus den Ergebnissen beider Ideologien und der daraus resultierenden innerjüdischen Frontstellung werden sich Antworten auf die Frage herauskristallisieren lassen, ob die sprachspezifisch argumentierenden Zionisten auf dieselben oder zumindest auf ganz ähnliche Säulen bauten, auf denen schon das Gedankengebäude der sprachbestimmten deutschen Kulturnation gestanden hatte. Um die immer auch emotionale Brisanz des jüdischen Binnenkonflikts über die zukünftige Rolle des Hebräischen in der Judenheit fassen zu können, ist es sinnvoll, vor dem innerjüdischen Sprachkonflikt die religiöse Tragweite des Hebräischen in den Blick zu nehmen. Denn weder die zionistische noch die liberal-jüdische Einstellung zum Hebräischen kann ohne den religiösen Stellenwert verstanden werden, den die jüdische Ursprache im Judentum von jeher eingenommen hat.

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7.1. Leschon ba-Qodescb. Die religionsursprüngliche Sakralität des Hebräischen Bis heute ist die von der zionistischen Bewegung bewusst geplante Weiterentwicklung des Alt- und Mittelhebräischen zum Neuhebräischen (Iwrit) durch Sprachausbau der einzig gelungene Versuch, eine als Primärsprache größtenteils ausgestorbene Sprache wiederzubeleben und zu einer alltäglich gebrauchten Standardsprache zu machen. Die Sprachplaner konnten dabei den enormen Stellenwert des Hebräischen in der jüdischen Tradition als Ur-Sprache des göttlich inspirierten Gesetzes und des Gebets nutzen. Für die religionsursprüngliche Bedeutung der Sprache lassen sich Belege im Alten Testament finden, wo sie als Medium zur Vermittlung des göttlichen Willens dient. Als Moses auf das Verlangen Jahwes, dem Volk Israel vom Erscheinen seines Gottes und der baldigen Befreiung vom ägyptischen Joch zu erzählen, einwendet, dass er nicht über die notwendige Redegabe verfüge, da antwortet Jahwe: „Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst."373 Die Atmosphäre eines Quasi-,Gesprächs' zwischen Gott und Moses wird in einer späteren Passage noch deutlicher: „Der Herr und Moses redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden."374 Gott trug Moses auf, mit den israelitischen Stämmen zu sprechen, natürlich in einer Sprache, die diese verstehen konnten. Dem Propheten Ezechiel befiehlt er, nachdem er ihm aufgetragen hatte, die Bundesrolle zu „essen": „Geh zum Haus Israel, Menschensohn, und sprich mit meinen Worten zu ihnen! Nicht zu einem Volk mit fremder Sprache und unverständlicher Rede, deren Worte du nicht verstehst."375 Ob die damalige Umgangssprache der Stämme schon das durch das Alte Testament dokumentierte Althebräische war, ist ebenso unsicher wie der exakte Ursprung des Hebräischen.376 Sicher ist: Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausend v. Chr. hat sich aus den verschiedenen Dialekten und dem kanaanäischen Zweig des Semitischen das biblische Althebräische herausgebildet377, für das außer dem Alten Testament nur noch vereinzelte Inschriften und die sprachlich bewusst archaisierenden Qumran-Schriftrollen am Toten Meer Zeugnis ge373 374 375 376

Ex. 4,12. Ex. 33,11. Ez. 3,5-6 Vgl. Saenz-Badillos 1993, S. 53: „... the exact beginnings of the Hebrew language are still surrounded by mystery." Vgl. Rabin 1988, S. 5. 377 Vgl. ebd., S. 1: „Hebrew is a Semitic dialect or language which developed [...] during the later half of the second millennium BCE."

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ben. Diese im Trockenklima von einer Höhle konservierten Aufzeichnungen der - vermutlich - Essener „belegen die Entwicklung der Sprache von der Spätzeit der Bibel bis zum Aufstand gegen Rom (66-70)" 378 , wobei das Hebräische seit dem Babylonischen Exil von dem ihm verwandten Aramäischen insbesondere in Galiläa und Samaria verdrängt worden war.379 Im Alten Testament selbst ist nur von Sefat kern: an die Rede, der Sprache Kanaans,380 und von Jehudit, dem Judäischen.381 Der Name „Hebräisch" findet sich erstmals um 130 v. Chr. im Vorwort zur griechischen Fassung des Buches Jesus Sirach.382 Danach taucht er auch im Neuen Testament auf.383 Unter der Anleitung Jahwes verschriftlicht Moses den göttlichen Auftrag, den die israelitischen Völker im Bundesschluss am Berge Sinai zu befolgen schwören, im Gesetzestext der Zehn Gebote des „Fünfrollenbuches" (Griech.: „Pentateuch"): „Mose schrieb alle Worte des Herrn auf."384 Über den Urheber des Buches lässt die Bibel keinen Zweifel: „Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den Tafeln eingegeben war, war Gottes Schrift."385 Aus der göttlichen Offenbarung, die Moses empfängt, entsteht also die Thora. Diese fünf Bücher Mose sind seit fast 3000 Jahren zentral für die jüdische Identität, denn sie garantierten den religiösen Zusammenhalt des in alle Welt zerstreuten Judentums. Die Ursprünge seiner Religion findet der gläubige Jude in der Schrift, tradiert in einer Ursprache, deren weltjenseitige Dimension die Targumin hervorheben. In diesen Übersetzungen der althebräischen Bibel ins Aramäische wird das Hebräische explizit als „Heilige Sprache" (IJschon ha-Qodesch) bezeichnet und der Profansprache QJeschon hedjof) gegenübergestellt.386 SäenzBadillos kommt in seiner „History of the hebrew language" zu dem Schluss: „For Jews it was [...] the language of sanctity, the holy tongue."387 Nach Grözinger, der seine These auf eine Überlegung des Religionssoziologen Hans Mol stützt, habe der traditionelle Jude seine Identität mittels des Hebräischen als Bedingung und Ausdruck von jüdischer Religiosität sozusagen sakralisiert. 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387

Stemberger 2002, S. 23. Vgl. Maier 1973, S. 256. Jes. 19,18. 2 Kön. 18,26-28; Neh. 13,24. Stemberger 2002, S. 22. Off. Joh. 9,11. Ex. 24,4. Ex. 32,16. Vgl. hierzu: Jüdisches Lexikon, Bd. 3, 1927, S. 1471, Stichwort „Hebräische Sprache". Saenz-Badillos 1993, S. 2. Vgl. auch Harshav 1995, S. 182: „Die Texte, die studiert wurden, lagen in der ,heiligen Sprache' vor."

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Der Niedergang des Hebräischen als Umgangssprache seit der jüdischen Diasporazerstreuung konnte diese identitätsstiftende Kraft nicht wirklich schwächen, denn das Hebräische als „Schlüsselwort" für jüdische Geistigkeit „bleibt auch da als identitätsstiftend wirksam, wo die eigentliche Sprachfähigkeit nicht mehr gegeben ist".388 Es ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass bestimmte Strömungen im Judentum auch nach dem Eintritt in die Moderne die Bedeutung des Hebräischen als Sakralsprache unterstrichen haben. Für Moses Mendelssohn beispielsweise ist das Hebräische genau die Sprache, in der sich Gott an A d a m , Kain, N o a h u n d an unsere heiligen V ä t e r gewandt hat, i n d e m er die zehn G e b o t e am Berge Sinai verkündete und sie auf die Tafeln eingravierte. Es ist die Sprache, in der er M o s e s und die Propheten anrief, u n d dies allein gibt ihr den V o r rang v o r allen anderen Sprachen, s o daß wir sie als ,heilige' bezeichnen d ü r f e n . 3 8 9

Obwohl die jüdischen Mystiker der Kabbala weniger auf den Aspekt der Sakralität des Hebräischen insistierten, sind auch sie der „überschwänglich positiven Deutung der Sprache" als eines im Symbolischen verborgenen und geoffenbarten Geheimnis Gottes gefolgt.390 Trotz Einschränkungen wurde das biblische Althebräisch als die sakrale Gesetzes- und Gebetssprache der Τ bora (Gesetze), Nebi'im (Propheten) und Kethubim (Schriften) von fast allen Richtungen im Judentum akzeptiert. Die immense Bedeutung des Hebräischen als Sprache der göttlichen Offenbarung und damit als Leitidiomen der Liturgie, ja, als religiös-sakrales Leitidiomen des Judentums schlechthin, blieb bis ins 19. Jahrhundert „weitgehend gesichert".391 Und auch danach war die Zugkraft eines vermeintlich ,toten' Idioms stark genug, um so revitalisiert zu werden, dass es 1922 in Palästina von der britischen Mandatsregierung neben Arabisch und Englisch als dritte offizielle Landessprache anerkannt wurde und im heutigen Staate Israel erste Umgangssprache ist. Der Vorteil des Hebräischen gegenüber damals in Israel konkurrierenden Sprachen wie dem Jiddischen, aber auch dem Deutschen

388 Κ. E. Grözinger 1998, S. 85. 389 Folgerichtig verfasste Mendelssohn diese Worte ursprünglich auf Hebräisch (zit. η. M. Mayer 1996, S. 289). 390 Der Mystiker und Erforscher der Kabbala, Gershom Scholem, hat dies in einem subtilen Aufsatz erläutert: Scholem 1973, S. 7 - 7 0 . Die zitierte Stelle findet sich auf S. 10. 391 Gotzmann 2002, S. 34. Gotzmann bespricht in seinem Aufsatz die einzelnen Nuancierungen und Wandlungen im Diskurs über das Hebräische, das mit der Etablierung der deutschen „Muttersprache" in das axiologische Spannungsfeld von Eigenem und Fremden geriet, ohne seinen Einfluss als religiöse Sprache zu verlieren.

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lag eben „in seiner Bindung an [...] eine klassische, von Juden wie Nichtjuden als heilig erachtete Literatur, der Bibel."392 Im Allgemeinen ist bereits das Hebräische späterer Bibeltexte nicht mehr Umgangs-, sondern nur noch Literatursprache.393 Seine einstige Funktion als Sprache des alltäglichen Lebens, in der Bibel als solche vermittelt, hatte das Hebräische nach der römischen Okkupation Judäas 63 v.. Chr. und der jüdischen „Zerstreuung" sukzessive an die jeweiligen Sprachen der Exilländer394 oder an das diese Sprachen in sich aufnehmende aschkenasische Jiddische bzw. sephardische Judeo-Spanische verloren. Weil das Hebräische das göttliche ,Maß aller Dinge' schriftsprachlich tradiert, konnte es nicht den Wandlungsprozessen anderer Sprachen unterworfen sein. Da bereits in der antiken „westlichen Diaspora die Kenntnis des Hebräischen [und Aramäischen] rapide zurückging, bedurfte man hier einer religiösen Literatur in griechischer Sprache".395 Im Mittelalter schrieben bedeutende jüdische Gelehrte wie Maimonides dann ausschließlich auf Arabisch. Seit der frühen Neuzeit nahm die Unkenntnis im Hebräischen so eklatante Ausmaße an, dass zunehmend Bibelübersetzungen in einer Sprache auftauchten, „die überall verstanden werden könnte".396 Um dem zu entgegnen, versuchten die Maskilim der Haskala, ein „Modernhebräisch"397 im Alltag zu etablieren, das flexibler war als das diachronisch stagnierende' Bibelhebräisch. Wie gezeigt, gehörten noch für Moses Mendelssohn Kenntnisse im Hebräischen zur Voraussetzung eines praktizierten Judentums. Nicht zufällig hatte der Aufklärer seine Übersetzung des Pentateuchs aus dem Jiddischen ins Deutsche, die gemeinhin in erster Linie als Lehrschrift zur „Sprachreinigung" verstanden wird, in hebräischen Lettern verfasst.398

392 Harshav 1995, S. 135. 393 Stemberger 2002, S. 23. 394 Vgl. Nir 1992, S. 67. Maier vertritt die These, dass „Renaissance des Hebräischen auch noch über das Jahr 70 n. Chr. hinausgewirkt" habe (Maier 1973, S. 257). 395 Maier 1973, S. 258. 396 N. Römer 1995, S. 38. 397 Stemberger 2002, S. 27. 398 N. Römer 1995, S. 13, stellt die These auf, dass Mendelssohns Ubersetzung „nicht vorrangig das Ziel hatte, als eine Art Lehrbuch für das Deutschtum zu fungieren, sondern vielmehr die Bibel wieder zur Quelle der moralischen Erziehung machen wollte. Die deutsche Übersetzung sollte also die Leser wieder näher an die hebräische Sprache heranführen". Römers letzte Folgerung scheint jedoch nicht voll durchdacht. Erstens führt die alleinige Pflege des Alphabets einer mündlich nicht mehr allgemein gebräuchlichen Sprache nicht zwingend dazu, diese Sprache dem Einzelnen wirklich näher zu bringen, sonst würde heutzutage jeder Grieche auf Anhieb Altgriechisch verstehen, was nicht der Fall ist. Und zweitens war für Mendelssohn die Nutzung des Alphabets einer als heilig erachteten Gebetssprache vor allem ein pragmatisches Mittel zum Zweck, eine passend gewählte Verpackung für den

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Schließlich war den meisten deutschen Juden das hebräische Alphabet im Schriftverkehr und in der Rezeption literarischer Werke im 18. Jahrhundert und darüber hinaus immer noch weitaus geläufiger als das lateinische. Die von Mendelssohn 1750 begründete jüdische Zeitung „Kohelet mussar" („Sittenprediger") ging sogar ausschließlich auf Hebräisch in Druck. Zwar blieb das Hebräische weiterhin Sprache religiöser Veröffentlichungen, doch schien im Zuge der fortschreitenden Sprachakkulturadon der Vorzug des Deutschen nicht nur vor dem umgangssprachlich bis dato dominanten Jiddischen, sondern auch vor der Literatur- und Wissenschaftssprache Hebräisch besiegelt worden zu sein.399 7.2. ... daß das Hebräische bereits vor mehr als 2000Jahren aufgehört hat, kbende Sprache ψ sein. Der sprachdiachrone Einwand: Die mangelnde Vitalität des Hebräischen (Contra-Argument 1) Obwohl eine Würdigung Mendelssohns als „hervorragenden Stilisten"400 und Kämpfers wider „die Sprachverderbnis seiner Glaubensgenossen"401 in kaum einem Jahresband von „Im deutschen Reich" oder „C.V.Zeitung" fehlen darf, teilen die Vereinsorgane Mendelssohns Auffassung, ein frommer Jude müsse zwingend des Hebräischen mächtig sein, nicht. Kenntnisse in der jüdischen Ursprache sind von Vorteil, Unkenntnis ist aber keineswegs ein Zeichen für unvollkommenes Judentum.402 Der zionistische Standpunkt einer eigenständigen jüdischen Nationalität qua Nationalsprache wird bis auf wenige Ausnahmen403 in keinem der herange-

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viel wichtigeren Inhalt: die „reine deutsche Mundart". Vgl. S. 81, Anm. 25 der vorliegenden Untersuchung. Vgl. E. Grözinger 1998, S. 174. Vgl. auch Richter 1995, S. 28. Richter konstatiert, dass „hundert Jahre nach Mendelssohns Übersetzung die deutsche Sprache [...] anstelle des Hebräischen zur Literatur- und Wissenschaftssprache" geworden war. IdR 1, Heft 5, November 1895, S. 248 (Gerhard Stein: „Im Verwaltungswege"). IdR 24, Heft 6, Juni 1918, S. 238 (Theodor Wieruszowski, „Wilhelm von Humboldt und seine Beziehungen zu den Juden"). IdR 23, Heft 9, September 1917, S. 341 (Eugen Fuchs: „Glaube und Heimat"). So stärkt Binjamin Segel („Verax") in seiner Kritik an der Schrift „Probleme des modernen Judentums" von Jakob Klatzkin die zionistische These einer nur äußerlich unterbrochenen, innerlich aber kontinuierlich fortbestehenden jüdischen Nation gerade dadurch, dass er sie angreift: „Wir sind eine Nation, nur haben wir die entscheidenden Attribute einer solchen, die gesprochene Nationalsprache und das gemeinsame Territorium, bereits vor 2000 Jahren oder schon früher eingebüßt" (IdR 25, Heft 4, April 1919, S. 147, Binjamin Segel: „Die Flucht aus der Wirklichkeit"). Eine solche Argumentation schließt gerade nicht aus, dass durch eine Wiederbelebung der Nationalsprache und entsprechende Landgewinne in Palästina die jüdische Nation revitalisiert werden könnte. Genau von dieser Option gingen weite Teile der Zionisten aus.

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zogenen Artikel positiv bewertet. Schließlich hätten ja auch die Katholiken „ihre besondere Kultussprache, das Lateinische [...] Sind sie deshalb von den Protestanten national verschieden?", zitiert Alphonse Levy eine Frage des „christlichen Denkers" Professor Kirchhoff.404 Dieser Vergleich ist jedoch nicht so „einleuchtend", wie Levy behauptet. Das Lateinische war niemals Alltagssprache aller Katholiken, während Hebräisch bis zur Zerstreuung von nahezu allen Juden gesprochen und verstanden wurde. Doch lässt der Artikel den Grad an Verunsicherung erkennen, der viele akkulturierte Juden durch die zionistischen Vorwürfe erfasst haben musste. Kommentare wie Rosi Graetzers Forderung vom August 1926, „die heilige Gebetssprache" wieder stärker in die jüdische Lebenswelt zu integrieren, bilden die Ausnahme und zielen immer nur auf die Beherrschung des Hebräischen als Gebetssprache. Dass sich jedoch selbst dieser seltene Appell zur Stärkung des Hebräischen auch jenseits der rabbinischen Sphäre letztlich der deutsch akkulturierten Primäridentität unterordnet, führt schon der Verweis auf einen Ausspruch Goethes vor Augen. Nicht aus der Bibel wird hier zitiert, nicht aus der religionsursprünglichen Sphäre gegriffen, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Um in einem C.V.Organ die Traditionsbewahrung des Hebräischen letztgültig legitimieren zu können, muss wieder einmal der deutsche, pantheistische (!) Dichterfürst herhalten: Legt mit dem Radikalismus der Neuzeit nicht Hand an das Rückgrat unseres Judentums: die h e i l i g e G e b e t s s p r a c h e ! Von ihr gilt das Goethe-Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, e r w i r b es, um es zu besitzen", dann ermöglichen wir auch der kommenden Generation, sich an der erhabenen Weihe zu stärken, die für uns in der heiligen Sprache unserer Väter liegt, weil sie der Widerklang unserer Offenbarung ist, die Sprache, in der Mose die z e h n G e b o t e G o t t e s seinem Volke übermittelte, in welchen der g a n z e n W e l t das noch heute geltende Sittlichkeitsgesetz gegeben wurde! 405

Die Relevanz des Hebräischen als einer dem Alltag enthobenen „Sprache des Gebets"406, als tradierter und die Gemeinschaft verbindender „Kultus-

404 IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 73 (A. L. [Alphonse Levy]: „Umschau"). Wie so oft wird hier ein Nichtjude als nichtjüdischer Kronzeuge angerufen, um dem antisemitischen Vorwurf der konspirativen Zitierweise schon im Ansatz begegnen zu können. Eine ähnliche Argumentation findet sich in IdR 28, Heft 1/2, Januar/Februar 1922, S. 3 („Im Kampf um unser Vaterland"): „Das Hebräische war für sie [die deutschen Juden], ganz wie das Lateinische für die christliche Welt, nur die Gebets- und Gekhrtensprache" [Kursive: Α. K.]. 405 CVZ 33, 13. August 1926, S. 434f. (Rosi Graetzer: „Frauengedanken über die Sprache des Gottesdienstes"). 406 IdR 15, Heft 2, Februar 1909, S. 80 (Rabbiner Stein, „Sprachwandlung und Sprachverderb").

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spräche"407 oder schlicht als „Sprache der Bibel"408 erkennen die C.V.Organe mehrheitlich an, wobei der hebräischen Sprachkompetenz in einem Fall auch eine kulturverbindende Dynamik zugemessen wird. 409 Nichts davon kann wirklich überraschen. Weder die hohe Stellung des Hebräischen im synagogalen Gottesdienst noch die traditionelle, in Deutschland nach Ende des 19. Jahrhunderts ohnehin stark rückläufige jüdische Mehrsprachigkeit bildeten Angriffspunkte für die Publizisten des Centraivereins; es war in erster Linie das zionistische Ideal einer Wiederbelebung des Hebräischen auch jenseits religiöser Riten, das die Gemüter vieler akkulturierter Juden erhitzte. Die C.V.-orientierten Schreiber konterten auf dieses Ideal von der Revitalisierbarkeit des Hebräischen als Umgangssprache mit verschiedenen Argumenten. Deren Basis bildete der stete Hinweis auf den historischen ,Tod' des Hebräischen als Leitvarietät im Zuge der Diasporaexistenz: D i e hebräische Sprache hat sich als Sprache des G e b e t e s und teilweise auch in der literarischen Produktion der J u d e n erhalten, aber als eigentliche Umgangssprache ist sie längst g e s c h w u n d e n . 4 1 0

Das besagt im Sinne eines sprachdiachronen Einwands: Als lexisch und pragmatisch statische Sprache den Veränderungsprozessen anderer Idiome entrückt, mochte das Hebräische seine (metaphysisch-religiöse) Existenzberechtigung behalten — lebensweltlich aber ,existierte' das deutsche Judentum in dieser alten Sprache nicht mehr. 7.2.1. Die Preisgabe des Hebräischen im religiösen Ritus Doch selbst der Minimalkonsens, das Hebräische als primäre Gebetssprache im synagogalen Gottesdienst anzuerkennen, schien nicht einheitlich. Viele C.V.-nahe Juden mochten ihm nicht einmal diesen Status zubilligen und näherten sich damit den Einstellungen radikal reformatorischer Ge-

407 IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 73 (A. L. [Alphonse Levy]: „Umschau"). 408 IdR 25, Heft 5, Mai 1919, S. 212 (B. S. [Binjamin Segel?]: „Jüdische Rundschau"). 409 C V Z 49, 4. Dezember 1925, S. 770 (Lenka von Koerber: „Das Judentum als Kulturfaktor"). Die Autorin misst dem Hebräischen auch im Sinne der traditionellen Mehrsprachigkeit des Judentums eine gewisse Bedeutung zu. Die Traditionssprache habe „die Juden dazu befähigt, die Verbindung zwischen den Völkern aufrechtzuerhalten". 4 1 0 IdR 15, Heft 2, Februar 1909, S. 80 (Rabbiner Stein: „Sprachwandlung und Sprachverderb"). In C V Z wird Hebräisch offen als „tote Sprache" bezeichnet (CVZ 33, 16. August 1929, S. 435, Hans Reichmann: „Ausklang des 16. Zionistenkongresses. Sonderbericht für die ,C.V.-Zeitung'").

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meinden an. Dafür wurden im Wesentlichen zwei Gründe angeführt: pragmatische und emotionale. Die pragmatischen Argumente zielten auf die zunehmende Unverständlichkeit der alten Gebetssprache in weiten Kreisen akkulturierter Juden, die emotionalen auf den mangelnden inneren Zugang zur weitgehend fremd gewordenen lingua hebraica. Unter vielen radikal deutsch akkulturierten Juden führte die Uschon ha-Qodesch selbst bei den wichtigsten Hochfesten nur noch ein Schattendasein. In „Em Deutscher auf Widerruf erinnert sich der aus jüdisch-liberalem Elternhaus stammende Literaturhistoriker Hans Mayer, wie er bei seiner Bar-Mi im Köln des Jahres 1920 die obligatorische Thorapassage aus dem Kopf vorlas, ohne auch nur ein Wort aus dem Text verstanden zu haben: Ich hatte Unterricht erhalten, konnte meinen Part auswendig und machte gute Figur zur Freude der Familie. Ich erinnere mich aber, daß ich bewundernd die schöne Schrift der Thora anstarrte, während ich meinen Text rezitierte. 412

Ein Jahr vor Mayers Bar-Mizwa hatte Franz Kafka in seinem berühmten „Brief an den Vater", in dem sich der Dichter nicht nur mit der Allmacht des Vaters, sondern auch mit der Machdosigkeit jüdischer Traditionen im Vaterhaus auseinander setzt, seine unbändige Angst beschrieben, „dass auch ich zur Thora aufgerufen werden könne." Letztlich aber habe die „Barmizwe [...] nur lächerliches Auswendiglernen" erfordert.413 Auch Gershom Scholem musste seinen Wunsch, Hebräisch zu lernen, gegen den Widerstand seiner Eltern durchsetzen. Alles geschah auf Eigeninitiative, denn im jüdischen Religionsunterricht war die Ursprache der Bibel nicht vorgesehen: dort, erinnert sich Scholem, „hatten wir auf deutsch ausgewählte Kapitel aus der Bibel gelesen" 414 Letztlich können diese Phänomene als Ergebnisse eines Prozesses angesehen werden, in dessen Verlauf sich die jüdische Religiosität mehr und mehr ins Private zurückzog, wo sie in recht kümmerlichen Verhältnissen weiterlebte. Die Akkulturation wurde gleichsam enkulturiert. Denn wenngleich Gershom Scholems und Franz Kafkas Väter kaum noch die Synagoge aufsuchten und auch sonst nahezu alle äußeren Zeichen ihres Judentums ablegten, so

411 Bei der Bar-Mizwah wird die religionsgesetzliche Vollmündigkeit der jüdischen Jungen mit dem 13., der Mädchen (Bat-Mizwah, nur bedingt mit Zeremonie) mit dem 12. Lebensjahr mit einer feierlichen Rezitation ausgesuchter Passagen aus der Thora begangen. 412 H. Mayer 1982, S. 59f. Der Zionist Heinrich Loewe hatte 1911 missmutig festgestellt: „Während man früher die Gebete ohne Verständnis herleierte, kann man sie jetzt auch nicht einmal lesen. Die Jugend steht dem Hebräischen völlig fremd gegenüber" (Loewe, Die Sprachen der Juden, 1911, S. 93f.). 413 Kafka, Brief an den Vater, 1919, S. 46. 414 Shedletzky 2002, S. 56.

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bevorzugten sie in ihrem persönlichen Umgang doch Juden. Allerdings konnte diese enkulturierte, „intime Kultur"415 in den Augen eines strenggläubigen Juden geradezu blasphemische Ausmaße annehmen. Luther etwa, „der große Sprachkünstler", habe nach Meinung von Alphonse Levy mit seiner Bibelübertragung bewirkt, „daß die Deutschen den lieben Gott nunmehr deutsch reden hörten".416 Vernahmen ihn dann auch die liberalen Juden, die sich nach über 100 Jahren intensivster Akkulturation vollends als Deutsche fühlten, nicht länger auf Hebräisch, sondern auf Deutsch? Levy scheint dies bejahen zu wollen, wenn er feststellt, dass den von Luther initiierten Sprachwechsel im Religiösen „nicht erst die Juden anerkannt [haben]". Auch B. Mays Artikel „Die Juden als Träger deutscher Kultur im 19. Jahrhundert" vom Sommer 1915 suggeriert, die deutschen Juden hätten nur auf Luther gewartet, damit er mit seiner Bibelübersetzung „dem deutschen Denkergeiste seine Schwingen verlieh".417 Die Entwicklung, die den allmählichen Rückzug des Hebräischen selbst aus der Sphäre des religiösen Ritus in Deutschland von der Mitte des 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet, soll hier nicht in allen Einzelheiten, sondern nur anhand dreier Stadien grob skizziert werden. Bereits auf der zweiten Rabbiner-Versammlung des Reformjudentums zu Frankfurt am Main vom 15. bis 28. Juli 1845 war die Beibehaltung der hebräischen Sprache im Gottesdienst zwar als „rathsam", aber als „nicht objektiv nothwendig" erachtet worden.418 Die deutschen Rabbiner wählten vorsichtige Formulierungen, doch im Gesamtkontext wird deutlich: Nicht nur hatte das Hebräische an Einfluss im Gottesdienst verloren, es schien den Abgesandten auch gar nicht zwingend geboten, diesem Verfallsprozess entgegenzuwirken 419 Die Protokolle der Versamm-

4 1 5 Wassermann 1986, S. 14f. 4 1 6 IdR 1, Heft 2, August 1895, S. 84 („Umschau"). Die Redaktion zitiert hier ein W o r t des Dichters und Meistersingers Hans Sachs aus dem 16. Jahrhundert. 4 1 7 IdR 21, Heft 5/6, Mai-Juli 1915, S. 125. 4 1 8 Die zweite Rabbiner-Versammlung zu Frankfurt vom 15.-28. Juli 1845 (zit. n. Schoeps 2002, S. 91 f). 419 Über die Einführung der Landessprache Deutsch in den Synagogengottesdienst wurde nicht weiter beraten bzw. abgestimmt - wohl deshalb nicht, weil das Deutsche als „integraler Teil des Gottesdienstes" längst bejaht worden war. Es ging der Rabbinerkonferenz also bereits um 1845 eher darum, das Hebräische im Gottesdienst zu retten, was voraussetzt, dass die Sakralsprache an Einfluss verloren hatte. Wie ein glühendes Plädoyer fur das Hebräische liest sich dieser beinahe ängstliche Beschlusstext jedenfalls nicht. Dazu passt auch, dass die Rabbiner explizit bestimmten, die „Bitte um Zurückführung in's Land unserer Väter und Herstellung eines jüdischen Reichs" vom Gebetskanon auszuschließen. Dieser reformatorische und antizionistische Ansatz passt zu dem, was die erste Rabbinerkonferenz zu Braunschweig vom 12. bis zum 19. Juni 1844 hinsichtlich ihrer vaterländischen Einstellung deklamiert hatte: „Der Jude ist verpflichtet, das Land, dem er durch Geburt und bür-

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lung zeigen, dass die jüdischen Gelehrten auch die Sakralität der religionsursprünglichen Schriftsprache als solche in Zweifel zogen, da ihrer Überzeugung nach allein der entsprechende Inhalt, nicht aber die bloße Form einer Sprache — der „Buchstabe" — heilig zu nennen sei. Den Teilnehmern schien dieser Punkt besonders wichtig, denn so ließ sich nochmals ein Treuegelöbnis zur deutschen Sprache galant unterbringen. Man beachte die Reihenfolge der Klassifizierung, die wohl auch gegen einen sakralsprachlichen Mystizismus gerichtet ist: Rede ich in deutscher Sprache Wahrheit, so ist das deutsche Wort heilig; spreche ich im Hebräischen eine Lüge aus, so ist das hebräische Wort unheilig.420

Knapp 15 Jahre später werden die Beschlüsse konkreter. Das Philadelphia-Programm, das auf einer Konferenz vom 3. bis 6. November 1869 in den Vereinigten Staaten angenommen wurde und als klassische Formulierung des Reformjudentums Gültigkeit über die amerikanische Judenheit hinaus beanspruchte, redet zwar immer noch von der „heiligen Pflicht" zur Bewahrung des Hebräischen, doch sei diese Sprache schon „für die große Mehrheit unserer Glaubensgenossen unverständlich geworden". Sie müsse, wolle sie nicht ganz „zur seelenlosen Formalität" verkommen, einer zugänglicheren Sprache Platz schaffen.421 Wiederum 50 Jahre später werden im ersten C.V.-Organ der Sieg der deutschen Landessprache und der auch synagogale Rückzug des Hebräischen mit den Worten konstatiert: Seit mehr als einem Jahrhundert spielt sich das gesamte religiöse und geistige Leben in deutscher Sprache ab. Die Rabbiner predigen in den Synagogen in der deutschen Sprache, den Kindern wird in den Religionsschulen der Unterricht auf deutsch erteilt, alle Lehrbücher der Religion und der Moral, alle Erbauungsbücher und die gesamte religiöse Literatur sind in deutscher Sprache abgefaßt.422

Zwar ist die Bestandsaufnahme des Publizisten mit Vorsicht zu betrachten, denn da er sich offen gegen den antisemitischen Vorwurf jüdischer Geheimgesetze und Geheimsprache wendet, könnte er aus apologetischen

gerliche Verhältnisse angehört, als sein Vaterland zu betrachten, es zu vertheidigen, und all seinen Gesetzen zu gehorchen" (vgl. Schoeps 2002, S. 90). Sieht man diese Äußerung im Kontext der Dohmschen Schrift und auch der Hardenberg-Humboldtschen Reformen, dann ist ersichtlich, wieso die zweite Rabbinerkonferenz nicht unumwunden für das Hebräische plädiert: Der Landessprache des Staates, dem man uneingeschränkt dienen wollte, sollte letztlich auch im Gebet ein wie auch immer gearteter Vorrang eingeräumt werden! 420 A. Adler in: „Protokolle und Aktenstücke der zweiten Rabbinatsversammlung abgehalten zu Frankfurt am Main vom 15.-28. Juli 1845" (zit. n. Gotzmann 2002, S. 38). 421 „Das Philadelphia-Programm des Reformjudentums. Angenommen auf der PhiladelphiaKonferenz, 3.-6. November 1869" (zit. n. Solomon 1999, S. 159). 4 2 2 IdR 27, Heft 4, April 1921, S. 129 (.Jüdische Rundschau") [Kursive: Α. K.].

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Gründen die synagogale Bedeutung des Hebräischen unzureichend herabgesetzt haben. Nichtsdestotrotz demonstriert sein Kommentar ein ganz bestimmtes Sprachverständnis, eine dezidierte Einstellung zu den Sprachen Deutsch und Hebräisch. An keiner Stelle seines Artikels bedauert der Schreiber das Zurückdrängen des Hebräischen, nirgendwo fordert er im Sinne Mendelssohns die Zweisprachigkeit. Ein nicht unerhebliches Problem war, dass die akkulturierten Juden allein von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ausgingen. Sie übertrugen die rudimentäre Existenz des Hebräischen in ihrer Lebenssphäre auf die gesamte Judenheit, ohne zu sehen, welche Basis die Sakralsprache etwa bei orthodoxen Juden in West wie Ost hatte. Die publizistische Abwertung der zionistischen Hebraisierungsbestrebungen423 in Palästina sollte dem entgegenarbeiten und den Beweis erbringen, dass die „Fiktion eines besonderen jüdischen Volkes mit eigener Nationalsprache"424 nicht zu verwirklichen war. 7.2.2. Die mangelnde Durchsetzungskraft des Hebräischen in Palästina Mit der Balfour-Deklaration von 1917425 schien der alte Traum einer israelischen Nation auf heiligem Boden und damit die Implementierung des Hebräischen als Umgangssprache in der jüdischen Gemeinschaft Palästinas Realität werden zu können. Einem Palästina-Reisenden der damaligen Zeit konnte nicht verborgen bleiben, dass immer mehr Schulen das Hebräische zur ersten Unterrichtssprache erkoren hatten und in einigen jüdischen Siedlungen die Bewohner bereits auf Hebräisch miteinander kommunizierten 426 Insofern verschließt auch der C.V.-nahe Rabbiner Ernst Jacob nicht die Augen vor den neuen Realitäten, doch zieht er daraus keineswegs eine Schlussfolgerung, die dem Hebräischen eine blendende Zukunft verheißt.427 Noch im März 1925 - die Hebräische Universität in Jerusalem 423 Unter Hebraisierung oder Hebräisierung ist ein Sprachkonzept zur linguistischen Revitalisierung und sozialen Neuetablierung der hebräischen Sprache als primärer Umgangssprache zu verstehen. 424 CVZ 24, 11. Juni 1926, S. 325f. (Karl Rosenthal: „Juden und Judentum von heute.' Ein Handbuch von J. Kreppel"). 425 Der britische Außenminister Lord Arthur James Balfour hatte in einem Brief an Baron Rothschild vom 2. November 1917 überraschend die Hilfe Großbritanniens für die Gründung einer „nationalen Heimstätte" der Juden in Palästina in Aussicht gestellt. 426 „Bei Beginn der Mandatszeit wurde Hebräisch bereits als offizielle Sprache des jüdischen Bevölkerungsteils anerkannt" (Maier 1973, S. 787). 427 CVZ 11,13. März 1925, S. 192 (Rabbiner Ernst Jacob: „Seit wann ist Hebräisch eine tote Sprache?").

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steht kurz vor der Eröffnung — konzediert er zwar, „daß heute in Palästina wieder Hebräisch gesprochen, geschrieben und gedruckt wird", doch sei das Hebräische nun einmal vor 2000 Jahren ausgestorben, ohne je seine diachrone Vitalität wiedererlangt zu haben. Von einer „lebendigen Sprachtradition" könne also keinesfalls die Rede sein. Er beharrt auf dem induktiven Fehlschluss, dass, weil etwas Bestimmtes in der Vergangenheit nicht geschah, dieses auch in Zukunft nicht geschehen könne. Jeglicher Revitalisierungsversuch, so suggeriert seine Schlussbemerkung, ist reine Illusion.428 Jede kritische Stimme aus selbst nur vermeintlich zionistischem Lager war da willkommen. So referiert der Stuttgarter Rabbiner Rieger im August 1926 mit kaum verhohlener Genugtuung einen Kommentar Hugo Bergmanns in Bubers Zeitschrift „Der Jude", der die Erfolge der Hebraisierung in Palästina offen anzweifelt: Hugo Bergmann gesteht, daß der Versuch des Zionismus, die Überleitung der gegenwärtigen palästinensischen Judenheit zur hebräischen Sprache anzubahnen „allen krampfhaften Anstrengungen" zum Trotz mißlungen ist. Er bekennt, daß der Zionismus „vorschnell ruhmredig von einer Renaissancebewegung" gesprochen hat, denn, „die Tatsache, daß die Zahl der hebräisch Verstehenden, der im Hebräischen Lebenden zurückgegangen ist und ständig zurückgeht, erscheint mir außer Zweifel." [...] Es hat sich sogar in Palästina „eine sehr einflußreiche gesellschaftliche Schicht ausgebildet, welche allem, was hebräisch geschrieben, gesprochen, gedacht wird, fremd, manchmal mit Ressentiment gegenübersteht".429

Der zitatgespickte Artikel demonstriert die in beiden C.V.-Organen bis zur Meisterschaft getriebene Fähigkeit, die eigenen Standpunkte mehr oder minder versteckt mittels fremder Kommentare zu äußern. Bergmann zieht aus dem „gegenwärtigen" Scheitern der Hebraisierung eine Schlussfolgerung, die Rieger und alle anderen C.V.-nahen Juden nur erfreuen kann, denn sie betrifft die Zukunft der hebräisch aufwachsenden Jugendlichen: Ebenso wie der historische Westjude vor der Haskala und der Schtetl-Jude des Ostens werde sich eines Tages auch der hebräischsprachige Israeli die Segnungen der europäischen Kultur zurückwünschen. Wohin aber wird diese seine Sehnsucht zielen? Man ahnt es schon: ins Land deutscher Sprache und Kultur. Rieger ergänzt:

428 Ebd.: „Auch das Hebräisch der jüdischen Dichter des Mittelalters, eines Juda Halevi und Salomon Gabirol, ist Kunstsprache. Nicht einmal die Meinung des Midrasch, dass die Engel im Himmel hebräisch sprechen und dass die ewige Seligkeit vom Sprechen dieser Sprache abhänge, hat sie wieder zum Leben erwecken können. Wird das in unseren Tagen anders werden?" 429 C V Z 35, 27. August 1926, S. 458f. (Stadtrabbiner Rieger, Stuttgart: „Galuth in Erez Israel. Das Sonderheft,Erziehung' der Zeitschrift,Der Jude' ").

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Der palästinensische Jüngling muß, ob er will oder nicht, die Vorstellung erhalten, daß jenseits der Pfähle seiner Sprache ein reiches Leben strömt, während er in einen Kreis eingesperrt ist [...]. Der in Palästina geborene und erzogene Jüngling muß, darüber wird alle nationalistische Phrase nicht hinweghelfen, nach Europa mit denselben sehnsüchtigen Blicken schauen, mit denen der junge Mann des vormendelssohnschen Ghettos oder der russischen Jeschiwoh nach der europäischen Kultur blickte. 430

Mit anderen Worten: Selbst wenn die Hebraisierung in der Zukunft Erfolg haben sollte, so wird sie trotz allem rückgängig gemacht werden. Jede kurzfristig effektive Renaissance hebräischer Sprache muss irgendwann einer Reaktion weichen, die letztlich wieder den alten Stand herbeiführt. Der erste Satz des obigen Zitats lässt — bewusst oder unbeabsichtigt — an die Metaphorik humboldtscher Sprachphilosophie erinnern, doch ist der ursprüngliche Gedankengang in sein Gegenteil verkehrt. Nach Humboldt barg jede Beschäftigung mit Fremdsprachen die Möglichkeit in sich, den Einzelnen aus dem Kreis seiner eigenen Sprache, in den er sich notwendig immer wieder einspinnt, herauszuleiten und so die eigene, sprachgebundene Weltsicht zu objektivieren. Nach der von Rieger gebilligten Prognose Bergmanns muss nun aber die in der hebräischen Sprache und Kultur vermittelte Weltsicht dem Jugendlichen zu einem Gefängnis werden, aus dem ihn nur die Kraft einer einzigen Sprache befreien kann. Diese Ausführungen sind letztlich von derselben Arroganz geleitet wie jene Bewertungen, die das Jiddische immer nur als Derivat des Deutschen anzusehen bereit waren. Die Ergebnisse der Haskala erscheinen auch hier als das Nonplusultra. Entweder ist alles andere Teil dessen — oder will es werden. Dass die C.V.-Schreiber den Prozess in Palästina mit kritischem, teils hämischen Blick beobachteten, ist aus ihrer Perspektive plausibel. Wenn die Zionisten den Beweis für ihre These der Revitalisierbarkeit des Hebräischen als nationenkonstituierenden Umgangssprache auf diesem Feld schuldig blieben - was hatte der Centraiverein dann noch von nationaljüdischen Angriffen auf seine Sprachauffassung zu befürchten? Ruft man sich die Ideologie der deutsch-jüdischen Synthese und das sie stützende Konzept der deutschen Kulturnation als Sprachnation in Erinnerung, dann wird zwar die Ablehnung einer hebräischen Umgangs- und Nationalsprache in den C.V.-Organen verständlich; die Gleichgültigkeit mancher Publizisten gegenüber der Verdrängung der Sakralsprache selbst aus der ihr traditionell reservierten Religionssphäre erhält dadurch aber noch keine zureichende Erklärung. Wie war es möglich, dass die Sprache, „in der Mose die zehn Gebote

430 Ebd., S. 459.

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seinem Volke übermittelte", auch dort allmählich verschwand, wo Gottes Gesetze auf den Thorarollen verwahrt wurden? 7.3. ... denn Hebräisch ist nicht die Sprache ihres Gefiihls. Der sprachaffektive Einwand: Die mangelnde Emotionalität für das Hebräische (Contra-Argument 2) Den eigentlichen Grund für das Verschwinden des Hebräischen auch in der synagogal-rituellen Sphäre fanden die C.V.-Ideologen in einer selbstevidenten Komponente, die sich die aufgezeigte Muttersprachenideologie auf die Fahnen geschrieben hatte: dem Gefühl. „Wir sprechen nicht hebräisch", schreibt der C.V.-Grande Eugen Fuchs mit einem Selbstbewusstsein, das eines festen Fundaments bedarf: „... deutsche Kultur und deutscher Geist erfüllen mich mehr als hebräische Dichtung und jüdische Kultur".431 Selbst der konziliante, um Ausgleich bedachte Fuchs kann die Kränkung, die er durch zionistische Vorwürfe gegen die deutsch-jüdische Synthese erfahren haben muss, nicht verhehlen. Sie ist ihm eine Fußnote wert: Er sehe in seiner Unkenntnis des Hebräischen keinesfalls eine „,nationale Entehrung'."432 Ludwig Holländer assentiert ihn darin. Sein trotziger Standpunkt pro Deutsch und Centraiverein Hebräisch hat den üblichen Bekenntnischarakter führender C.V.-Ideologen: Ich s t e h e v o l l in d e u t s c h e r K u l t u r und kann einen Standpunkt außerhalb der Betrachtungsweise dieser Kultur nicht einnehmen. Die Neubelebung der h e b r ä i s c h e n S p r a c h e in allen Ehren, sie aber wird die Liebe der Menschheit ebensowenig wie eine noch so gelungene Siedlung in Palästina. 433

Heiligkeit hin oder her — empfunden wurde auf deutsch, nicht auf hebräisch. Das Hebräische mochte seinen Raum im bibliothekarischen Archiv behaupten, im Konversationszimmer hatte es nichts zu suchen. „Viele junge Frauen", zitiert der C.V.-Rechtsexperte Hans Reichmann beinahe

431 IdR 23, Heft 9, September 1917, S. 341 (Eugen Fuchs: „Glaube und Heimat"). 432 Ebd. Ins Politische gewendet bedeutet das: „Ich will nicht national-jüdisch sein, und glaube, kein schlechterer Jude als sie [die Zionisten] zu sein" (vgl. auch die Originalschrift: Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 251). 433 CVZ 35, 28. August 1925, S. 582 (Ludwig Holländer: „In Wien. Die Unruhen/Der äußere Verlauf des Zionistenkongresses/Seine Lehren"). Vorab heißt es dort: „Ich bin kein Teildeutscher, der an der deutschen Kultur nur mitmacht; ich bin kein Fremder, der sich denkbar gut eingelebt hat, oder dem das vielleicht auch nicht ganz gelungen ist; ich lebe nicht als Gast in einem Wirtsland, wie es noch dieser Tage der Bund der jüdischen nationalen Verbindungen in Deutschland erklärt [Fußnote: „Die neue Welt", Zionist.-Akad. Blätter vom 17. August 1925, S. 28]."

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triumphierend einen angeblichen Ausspruch des jüdischen Nationalisten Jabotinsky, würden „ihrer Seele einen Zwang antun, wenn sie mit ihrem Kind hebräisch sprechen; denn hebräisch ist nicht die Sprache ihres Gefühls."434 Zunehmend wurde der Mehrheit der deutschen Juden das Deutsche nicht nur die einzig adäquate Sprache ihrer nationalen Existenz, sondern auch die in den Predigten bevorzugte Ausdrucksform. Die Uschon haQodesch erschien ihnen nur mehr als eine von kundigen Rabbinern präsentierte Sprache, welche die jüdische Tradition in seltsam unbestimmter Weise mitrepräsentierte. Sie war ,da', weil immer da gewesen, ohne dass ihr Sinngehalt eine tiefere Reflexion erfuhr. So geriet sie den meisten C.V.nahen Juden langsam, aber sicher zu dem, was der Schriftsteller Georg Hermann metaphorisch als ein schönes Erbstück aus grauer Vorzeit beschreibt. Hin und wieder, vielleicht zu besonders feierlichen Anlässen, nahm es der Hausherr aus der Vitrine und erfreute sich an der exotischen Gestalt dieses Schmuckstücks, das seltsame Initialen trug. Dann stellte er es wieder zurück ins Regal — und vergaß es: E i n e Hemmung war, daß sie [die jüdische Religion] sich einer Sprache bediente, die nur noch in ihr, der Religion selbst, wurzelte; aber das nahm man als Zeichen ihrer Vornehmheit und wollte es nicht anders. So, wie man zu feierlichen Anlässen gern die alten Gläser aus Familienbesitz hervorholt, die man nicht täglich benutzt, und die auch heute nicht mehr gemacht werden können 4 3 5

Grötzingers These, das Hebräische habe seine identitätsstiftende Kraft für das Judentum auch dort bewahrt, „wo die eigentliche Sprachfähigkeit nicht mehr gegeben ist.", widerspricht dem nicht.436 Die Uschon ha-Qodesch blieb als Bedingung und heiliger Ausdruck von jüdischer Religiosität ein „Schlüsselwort", ein Schibboleth für geistig-kulturelle Kontexte. Daran konnte alle sprachliche Akkulturation nicht rütteln. Anders wäre die einzigartige Dynamik, die eine angeblich tote Sprache im Zuge der zionistischen Bewegung entwickelte, kaum zu erklären. Allein, zahlreiche C.V.nahe Juden hatten das sprachaffektive Moment einer tiefen Verbundenheit mit dem Hebräischen längst verloren oder verdrängt. Sie gingen zwar nicht so weit wie die übereifrigen Postaufklärer des 19. Jahrhunderts, welche die Sakralsprache als anachronistisches und „esoterisches Medium eines untergegangenen Gelehrtengeschlechts" verschmäht und verworfen

434 CVZ 33, 16. August 1929, S. 435 (Hans Reichmann: „Ausklang des 16. Zionistenkongresses. Sonderbericht für die ,C.V.-Zeitung'"). 435 CVZ 39, 24. September 1926, S. 513f. (Georg Hermann: „Vom deutschen Juden und seinen Gegnern II"). 436 Κ. E. Grözinger 1998, S. 84f.

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hatten.437 Ein Objekt der Liebe aber war sie ihnen auch nicht mehr. Um in Georg Hermanns Bild zu bleiben: Die meisten der akkulturierten, C.V.nahen Juden wollten die alten Gläser keinesfalls in Scherben gehen lassen, doch es ihren Urahnen nachzutun und sie auch bei Tisch zu benutzen, kam ihnen nicht in den Sinn. Man besaß mit der deutschen Muttersprache ja bereits „Echtes", wie es in den „Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin" vom Juli 1925 heißt. Kein idiomatisches „Surrogat" würde jemals dieses Echtheitszertifikat erhalten können.438 7.4. Endlich [...] denkt die ungeheure Mehrzahl der Deutschenjüdischen Bekenntnisses gar nicht daran, ihre liebe deutsche Muttersprache aufzugeben. Der sprachrezeptive Einwand: Die mangelnde Akzeptanz des Hebräischen (Contra-Argument 3) Das emotionale Bekenntnis zur deutschen Sprache lässt sich allein schon deshalb in zahlreichen Artikeln der C.V.-Organe finden, weil viele C.V.nahe Juden sich in ihrer sprachspezifischen Identität auch von den zionistischen Hebraisierungsbestrebungen bedroht fühlten. Die Angst vor dem Verlust des emotional Vertrauten verstärkt in der Regel die Vehemenz der Ablehnung des Fremden, mag das reale Bedrohungspotenzial noch so gering sein. Nahezu dasselbe Phänomen war schon in den Sprachbewertungen des Jiddischen herauskristallisiert worden: Sobald die liberalen deutschen Juden ihre Präferenz des Deutschen durch eine andere Sprache gefährdet sahen, suchten sie sich von dieser Konkurrenzsprache mit aller Verve zu distanzieren. Das Hebräische war in dieser Hinsicht von weit größerer Brisanz, weil es sich im Unterschied zum Jiddischen nicht als deutscher Dialekt markieren und damit passgenau in die deutsch-jüdische Synthese einordnen ließ. Auch deshalb entwickelte sich die „Hebraisierung des Galuth"439 zu einem Schreckgespenst für die akkulturierten deutschen Juden. Die vorgeblich genuin zionistische Forderung, „man müsse schon in Deutschland sehen, die jüdische Kultur auszubauen und sie von der deutschen zu trennen", da nun einmal die Muttersprache nicht deutsch sei, sondern hebräisch440, empfanden viele C.V.-nahe Juden als Affront gegen ihre Identität. Die

437 Brämer 2002, S. 143. 438 MJRB 4 , 1 . Juli 1925, S. 1 (Alfred Peyser: „Muttersprache - Gottesdienstsprache"). 439 CVZ 33, 16. August 1929, S. 435 (Hans Reichmann: „Ausklang des 16. Zionistenkongresses. Sonderbericht für die ,C.V.-Zeitung'"). 440 IdR 20, Heft 7/8, Juli/August 1914, S. 301 (Ludwig Holländer: „Rückblicke").

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mühsam errungene geliebte „Zweiheit"441, formuliert und formalisiert in den ,Glaubensgrundsätzen' der deutsch-jüdischen Synthese, durfte nicht durch eine falsche Überbetonung des jüdischen Parts ins Ungleichgewicht geraten. Die Balance war zu halten: Die Bewältigung [des Galuth] bedeutet in Vorträge, noch ein abstraktes „jüdisches nes G l e i c h g e w i c h t s v e r h ä l t n i s s e s des d e u t s c h e n J u d e n u n d s e i n e r g e f o r m t e n Umwelt.442

erster Linie weder Hebräischlernen, noch Geistesleben", sondern S c h a f f u n g eizwischen der jüdischen Eigenart f ü r ganz a n d e r s a r t i g e M e n s c h e n

Zur deutschen Sprache, mittels derer die deutschen Juden den Anschluss an die Moderne erreicht hatten, sollte es keine Alternative geben. „Gefahrlich und unerreichbar", so ein IdR-Rezensent bereits 1899, sei die von den Zionisten aufgestellte Parole einer „geistigen Wiedergeburt des jüdischen Volkes durch Verbreitung der Kenntniß [!] der hebräischen Sprache und Literatur'." Einmal sei die Hebraisierung zu verwerfen, weil der Umwandlungsversuch einer „todten Sprache" „zur Familien- und Gemeinsprache" eine Profanisierung des Hebräischen bedeute.443 Dieses Argument deckte sich, wie gesagt, weitgehend mit der Kritik orthodoxer Kreise an der Revitalisierung des Hebräischen für den Alltagsgebrauch.444 Das entscheidende Contra steht indes, ganz wie es journalistische Lehrbücher vorschreiben, am Ende des Abschnitts: Endlich [...] denkt die ungeheure Mehrzahl der Deutschen jüdischen Bekenntnisses gar nicht daran, ihre liebe deutsche Muttersprache aufzugeben.445

441 CVZ 4 (Beilage), 11. Juni 1926, S. 327f. (Ludwig Lewin: „Forderungen der Zeit"). 442 CVZ 40, 5. Oktober 1928, S. 559 (Erich Hirschberg: „Stimmen unserer Freunde/Eine innerjüdische Aussprache. Der gemeinsame Weg"). 443 IdR 5, Heft 5, Mai 1899, S. 303 („Bücherschau"). Auch nach Meinung des C.V.Vorsitzenden Eugen Fuchs bedeutet die Vernationalisierung der Judenheit, die metaphysischen Idee einer nicht in staatliche Grenzen gezwängten Religion herabzuwürdigen: „Nach meiner Auffassung degradieren wir das Judentum, wenn wir seinem geistigen Ideenkreise einen Körper geben, der raum-zeitlich lebt und stirbt, der blüht und verwelkt." Der in der Diaspora lebendig gebliebene jüdische Messias-Gedanke würde entheiligt, „wenn sie [die Zionisten] aus dem ,Volke des Buchs' ein leibhaftiges Wald- und Wiesenvolk machen" (Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 259). Es ist auffallig, dass selbst führende C.V.-Akteure, die dem Judentum sonst den Status einer reinen Glaubensgemeinschaft zumaßen, sich im Falle des Hebräischen auf einmal recht orthodoxen Positionen annäherten. 444 Nach orthodoxer Interpretation ist die heilige Sprache schon seit der babylonischen Sprachverwirrung und der daraus folgenden Zergliederung in 70 Sprachen mit Profanem vermischt. Die Sakralität des Hebräischen beginnt und endet mit der Hebräischen Bibel. Alle zionistischen Revitalisierungsversuche der Ursprache können nach orthodoxer Sichtweise insofern nur blasphemische Säkularisierungen sein. 445 IdR 5, Heft 5, Mai 1899, S. 304 („Bücherschau") [Kursive: Α. K.].

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Der Liebende klammerte sich an sein Objekt und wehrte Angreifer von zwei Seiten ab. Nicht genug, dass die Antisemiten seine neuhochdeutsche Sprachkompetenz und Sprachtreue attackierten. Nun schienen sogar die eigenen Glaubensgenossen seine Gefühlswelt in Frage stellen zu wollen. Die ,Zwickmühle', in der die liberalen deutschen Juden steckten, wird nun deutlicher. Das Eingeständnis einer nationenkonstituierenden Kraft des Hebräischen, durch welche die Juden der Diaspora wieder zur alten israelitischen Nationalität zurückfinden würden, hätte die akkulturierten, dem C.V. ideell nahe stehenden Juden in ihrer so schwer errungenen Heimat Deutschland erneut zu Fremden gestempelt, die eine fremde (weil nichtjüdische) Sprache in einer fremden (weil nichtjüdischen) Nation ihr Eigen nennen. Genau als solche Fremde und Fremdsprachige betrachteten sich — zumindest nach Überzeugung der C.V.-Organe - viele Zionisten.446 Sie suchten, so die Behauptung der C.V.-Schreiber, dieser deutschen Fremde zu entkommen, indem sie in eine Fremde zogen, die sie als ihre wahre, durch Gebot und Tradition verbürgte Heimat betrachteten.447 Der Großteil der liberalen deutschen Juden aber wollte bleiben. Sie hatten nicht den Wunsch, „nach Hause zu kommen", denn sie fühlten sich längst zu Hause448, wenigstens in der Bibliothek des Hausherrn, in der die Werke der deutschen Klassiker in goldenen Einbänden standen.449 100 Jahre Läuten und Läuterungen, bis sich die Tore zu diesem Haus endlich geöffnet hatten, durften einfach nicht umsonst gewesen sein. Die Zeiten der heimatlosen Wanderschaft seien endgültig vorbei, betont Levy im Januar 1904. Nie wieder wollte man sich — entsprechend dem antijüdi-

446 „Ein großer Teil des Nationaljudentums betrachtet sich als fremd, Deutschland ist Wohnland, die deutsche Kultur ist eine fremde Kultur. Es wird immer betont, man müsse schon in Deutschland sehen, die jüdische Kultur auszubauen und sie von der deutschen zu trennen. Die Muttersprache sei nicht deutsch, sondern hebräisch." Der Verfasser Ludwig Holländer legt den Zionisten eine Sprache in den Mund, die den Leser ganz bewusst an die Wortwahl der Antisemiten erinnern soll: „Man müsse aber erkennen, man sei ein Gastvolk im Wirtsvolk, man sei [...] ein Fremdkörper" (IdR 20, Heft 7/8, Juli/August 1914, S. 301, Ludwig Holländer: „Rückblicke"). 447 Vgl. JR 13, 25. März 1904, S. 1 1 9 - 1 2 2 („Der Weg zum Ziel"): „Nach Ζ i ο η führt der Weg [...] für uns alle nach dem Zion nationaler Freiheit und Selbstständigkeit." 448 Vgl. Scholem 1970, S. 32: „Das unendliche Verlangen [vieler assimilationsorientierter deutscher Juden], nach Hause zu kommen, verwandelte sich bald in die ekstatische Illusion, zu Hause zu sein." Vgl. ein Zitat Franz Oppenheimers in IdR 20, Heft 7/8, Juli/August 1914, S. 300 (Ludwig Holländer: „Rückblicke"): „Deutschland ist mein Vaterland, meine Heimat [...] Wenn ich aus der Fremde nach Hause komme, so komme ich heim." 449 Vgl. Scholem 1970, S. 30: „Schiller, der Sprecher des reinen Menschentums, der Pathetiker der höchsten Ideale der Menschheit, hat für Generationen von Juden in [...] Deutschland das repräsentiert, was sie als deutsch empfanden oder empfinden wollten [...] Denn Schiller, an den sich ihre Liebe so leidenschaftlich geheftet hat, war ja kein Beliebiger, er war wirklich der Nationaldichter der Deutschen."

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sehen Stigma vom Juden als ewigem Ahasver — zu ruhe- und heimatlosen Wanderern stempeln lassen: Der Jude ist längst kein Nomade mehr; der deutsche Jude hat ein Vaterland und liebt es und hat Ursache es zu lieben. Hafteten die deutschen Juden schon in den Zeiten der Bedrückung so fest an der Scholle, daß die Gemeinden von Worms und Prag auf ein fast tausendjähriges Alter zurückblicken, so haben wir jetzt noch viel mehr Grund, unser deutsches Vaterland zu lieben, das uns im Jahre 1869 die volle Gleichberechtigung gewährte, dessen Sitten und Sprache uns täglich mehr zu eigen werden. 450

Für den Chefredakteur des C.V.-Organs ist die Akkulturation der Juden in Deutschland auch Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen: Die „feine Empfindung" der Juden „für den deutschen Sprachgeist", die der Rabbiner Stein im Februar 1909 für sich und seine deutschen Glaubensgenossen in Anspruch nimmt,451 sollte im Humboldtschen Sinne — also infinit dynamisch - weitergebildet werden. In diesem Vervollkommnungsprozess wollte man sich nicht von selbst ernannten Nationaljuden aufhalten lassen, die, obwohl zumeist in und mit deutscher Kultur aufgewachsen, sich nach Ere% Israel sehnten, die rezeptive Sprachentreue der liberalen Juden umzupolen suchten und mit dem Hebräischen eine Sprache propagierten, die sie selbst nur rudimentär oder überhaupt nicht beherrschten - gerade dies ein scheinbarer Widerspruch, den die C.V.Organe natürlich nicht unerwähnt lassen konnten. 7.5. Diese, die sich extremjüdisch-national nennen, können bis heute weder hebräisch sprechen, noch hebräisch übersetzen. Der sprachpragmatische Einwand: Die mangelnde Sprachkompetenz der Hebraisten (Contra-Argument 4) Dem zionistischen Vorwurf der ungebremsten Selbstaufgabe des C.V.nahen Judentums zugunsten einer Anbiederung an die nichtjüdische Umwelt konnte die C.V.-Publizistik entgegenhalten, dass die Zionisten ja ihrer propagierten Nationalsprache selbst keineswegs kundig seien.452 Ihren Sprachappellen stand ein eklatanter Mangel an Verwendungskompetenz

450 IdR 10, Heft 2,Januar 1904, S. 96f. („Der ewige Jude - kein Jude! II."). 451 IdR 15, Heft 2, Februar 1909, S. 81 (Rabbiner Stein: „Sprachwandlung und Sprachverderb"). 452 „Viele, die sich extrem jüdisch-national nennen, können bis heute weder hebräisch sprechen, noch hebräisch übersetzen" (IdR 20, Heft 7/8, Juli/August 1914, S. 302, Ludwig Holländer: „Rückblicke").

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entgegen. Die deutschen Zionisten würden sich idealistisch von ihrer deutschen Muttersprache zu trennen suchen, ohne ihre Wurzeln aus der Erde reißen zu können453, und das alles wegen einer Sprache, der stets „die Resonanz der Massen fehlen" werde.454 „Deutsch überwiegt entschieden auf diesem Kongreß", beschreibt Ludwig Holländer die Konversationsform auf dem 14. Zionistenkongress von August bis September 1925 in Wien. Seine Bestandsaufnahme ist nicht frei von strategischem Kalkül: „Müssen wir uns als Deutsche jedweden Glaubens dieser Tatsache nicht freuen und sollten wir sie nicht ganz anders noch nutzen?"455 Nicht einmal die Speerspitze der Bewegung schien des Hebräischen ausreichend mächtig. Chaim Weizmann, langjähriger Präsident des Kongresses und führendes Mitglied des osteuropäischen Zionismus, streute in seine Reden nach Holländers Beobachtung allenfalls ein hebräisches Zitat ein, obwohl der Kongress die Wiederbelebung der hebräischen Sprache explizit gefordert hatte.456 Theodor Herzls reuelose Distanz zum Hebräischen und seine Naivität gegenüber dem Nationalsprachenproblem sind bekannt 457 Dass sich auch das prominente Gründungsmitglied der Demokratischen Fraktion, Martin Buber, im Jahre 1909 weigerte, auf dem Hebräischen Kulturkongress Hebräisch zu sprechen458, mag man noch mit dem frühen Datum begründen: Wenige beherrschten zu diesem Zeitpunkt das Hebräische tatsächlich fließend. Aber selbst im Mai 1927 vermochte Buber, beharrlicher Forderer einer „hebräischen Geistesatmosphäre" in der Diaspora, seinen Vortrag an der Hebräischen Universität nur als Referat in deutscher Sprache anzukündigen. Die vehementen Proteste konnten den 453 So charakterisiert der Philosoph Julius Goldstein seinen Namensvetter Moritz Goldstein, den Autor der zionistischen Schrift „Deutsch-jüdischer Parnaß", letztlich als tragische Figur, die vor etwas zu fliehen suchte, vor dem keine Flucht möglich sei: „Einen Ausweg [...] sieht er nur im Zionismus und in der Wiederbelebung hebräischer Sprache und Literatur. Und dennoch vermag er diesen Weg nicht zu gehen; denn sich vom Deutschtum losreißen, wäre ihm gleichbedeutend mit geistigem Selbstmord. So fühlt er sich hin- und hergezerrt von den widerstreitenden Empfindungen, fühlt sich als Ewig-Halber in einer Lage, deren Tragik er in bewegter Sprache zu schildern weiß" (IdR 18, Heft 10, Oktober 1912, S. 437f., Julius Goldstein: „Deutsch-jüdischer Parnaß") [Kursiv: Α. K.]. 454 Ebd., S. 445. 455 CVZ 35, 28. August 1925, S. 582 (Ludwig Holländer: „In Wien. Die Unruhen/Der äußere Verlauf des Zionistenkongresses/Seine Lehren"). 456 CVZ 36, 4. September 1925, S. 595 (Ludwig Holländer: ,„Chika' und ,Malewki'"). 457 Herzl zählte kein einziges hebräisches Buch zu seiner umfangreichen Bibliothek. Eine hebräischsprachige jüdische Nation stellte für ihn vielleicht auch deshalb keine realistische Option dar: „Wer von uns weiß genug hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?" Als Lösung schlug er, reichlich naiv, eine ungeordnete Mehrsprachigkeit vor, ein modernes Babel: „Dennoch ist die Sache sehr einfach. Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist" (Herzl, Der Judenstaat, 1896, S. 92). 458 Brenner 2002b, S. 62.

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wohl populärsten deutschen Kulturzionisten nicht umstimmen: Nicht firm genug fühlte er sich im Hebräischen, um einen öffentlichen Vortrag darin durchzustehen.459 Und dennoch: Die C.V.-Kritik blendete entscheidende Fortschritte der palästinischen Hebraisierung aus und ignorierte die konsequente Verwendung des Hebräischen bei Achad Haam, Elieser Ben Jehuda und anderen bedeutenden Kulturzionisten. Der eigentliche Grund fur den Topos der Inkompetenz des Kompetenz Einfordernden liegt auf der Hand. Suggeriert werden sollte: Die Zionisten verlangen nicht nur, was sie selbst nicht erfüllen können, sondern was sie selbst im Emstfall emotional auch gar nicht erfüllen wollten. Es wird bezweifelt, ob den sprachorientierten Kulturzionisten die Tragweite ihres Postulats für den eigenen Lebensvollzug ersichtlich ist. In der Fremde angekommen, würde sich — so Ludwig Haas auf einer Versammlung des Centraivereins am 17. Mai 1913 - auch „der eifrigste Zionist" keinesfalls einen fremdsprachigen „Juden irgendeiner fremden Nationalität", sondern vielmehr einen Deutschen herbeiwünschen, um sich mit ihm in der gemeinsamen Muttersprache austauschen zu können.460 Erinnert sei an die Muttersprachenideologie, die sich die C.V.-nahen Juden zu Eigen gemacht hatten: Die ursprüngliche Bindung an die Muttersprache ist eine endgültige und lässt sich durch keinen anderen, ihr folgenden Spracherwerb ersetzen. Die abermalige Zitierung des Ausspruchs „Nur in der Muttersprache kann das Zarteste und Tiefste unseres Wesens Ausdruck finden" geschieht an dieser Stelle nicht ohne Hintergedanken. Denn dieser Kommentar des Darmstädter Landesrabbiners und Universitätsprofessors Julius Goldstein liest sich wie eine Verteidigungsrede der liberaljüdisch gedeuteten Muttersprachenideologie gegen zionistische Appelle zur umfassenden Hebraisierung des Judentums: Es gibt keine kulturellen Amphibien. Der Mensch kann nur in e i n e r Kultur ganz wurzeln und nur in einer schaffend mitarbeiten [...] Für den Juden, der sich in Palästina ansiedelt, liegen die Verhältnisse einfach. Er wächst mit der jüdischen Sprache auf, sie beut sich ihm von selbst als Werkzeug kulturellen Schaffens. Für die Millionen außerpalästinensischer Juden [...] aber ist schon die Mangelhaftigkeit der Sprachbeherrschung ein unaufhebbares Hindernis, an einer jüdischen Vollkultur produktiv mitzuarbeiten. Man kann wohl in einer zweiten Sprache sich fehlerlos ausdrücken lernen, aber nicht in ihr Werke dauernden Gehaltes schaffen. Die Spra-

459 Ebd., S. 64. 460 IdR 19, Heft 9, September 1913, S. 405f. Wie schon zuvor Eugen Fuchs schließt auch das C.V.-Mitglied Ludwig Haas einfach von sich auf andere.

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Muttersprache, Vaterland: Das liberal-jüdische Sprachkonzept che [...] ist mehr als etwas Aeußerliches. Sie gibt dem Geiste die besondere nationale Prägung. 461

Der Prägestempel der Sprache war untilgbar. Nichts, auch nicht das religionsursprüngliche Hebräisch der Altvorderen werde das etwas ändern können. 7.6. Fazit In seiner Bewertung des Hebräischen verfolgte der Centraiverein eine Doppelstrategie: Einerseits stellte er die Heiligkeit der religionsursprünglichen Sprache nicht in Abrede, ohne sie jedoch übermäßig zu betonen; andererseits war er mit allen Mitteln darum bemüht, das Hebräische als Sprache des religiösen Ritus zu definieren, die nie mehr den Status einer umgangssprachlichen Leitvarietät erreichen könne. Dies sollte sich auf kulturellem Sektor als einer der dauerhaftesten Streitpunkte zwischen Centraiverein und kulturzionistisch orientierten Ideologen erweisen. In seiner kompromisslosen Ablehnung einer Revitalisierung des Hebräischen als Umgangssprache traf sich der C.V. mit orthodoxen Anschauungen, allerdings mit völlig konträrer Intention. Während die zahlenmäßig kleine Gruppe orthodoxer Juden in Deutschland durch nichtreligiösen Alltagsgebrauch eine Profanisierung der Sakralsprache befürchtete, sahen die C.V.-nahen Juden ihre muttersprachliche Identität gefährdet. Im Unterschied zum Jiddischen war dem Hebräischen der Status einer Eigensprache nicht streitig zu machen. Um es dennoch weder in der Diaspora noch in Palästina zu einer umgangssprachlichen Konkurrenz des Deutschen werden zu lassen, sprachen die liberalen, betont akkulturierten deutschen Juden den Befürwortern des Hebräischen jede Möglichkeit zur Wiederbelebung der Uschon haQodesch ab. Dies suchten sie sowohl objektiv als auch subjektiv zu begründen (Contra-Argumente 1—4)462. Objektiv werden die fehlende Performanz und Kompetenz im Alltag - der Rückzug des Hebräischen im synagogalen Gottesdienst genauso wie sein angebliches Scheitern in Palästina — als unmittelbare Konsequenz mangelhafter Vitalität der Sprache selbst erklärt (Contra-Argument 1): subjektiv könne, so die Unterstellung, kein akkulturierter deutscher Jude zum Hebräischen eine derart tief sitzende Verbundenheit empfinden wie zu der identitätsstiftenden deutschen Muttersprache, wobei jede Aufwertung des Hebräischen in den Verdacht ge-

461 IdR 27, Heft 7/8, Juli/August 1921, S. 200 (Julius Goldstein: „Betrachtungen zum jüdischen Nationalismus"). 462 Vgl. die Überschriften in den Kap. V. 7.2-7.5.

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rät, das Deutsche substituieren zu wollen (Contra-Argument 2). Die unausgesprochene Angst vor einem möglichen Konkurrenzidiom zur favorisierten, innig geliebten deutschen Muttersprache diktiert die Behauptung, in Deutschland würde sich nie eine Mehrheit finden, die das Hebräische als erste Umgangssprache annähme (Contra-Argument 3). Die Steigerung dazu liefert das letzte Argument: Die Postulanten können ihren eigenen Postulaten nicht genügen. Sie fordern die Revitalisierung einer Sache, der sie selbst fremd und unwissend gegenüberstehen (Contra-Argument 4). Wiederum mag ein kurzer Syllogismus nach dem Schema wenn (a) und wenn (b), dann (c) die Quintessenz der Argumentationen pointieren helfen: Wenn erstens Sprache und Nation korrelativ aneinander gebunden sind (a) und wenn Reitens diejüdische Nation nicht mehr existiert (b), dann existiert auch keine jüdische Nationalsprache mehr (c). Dass diese in sich schlüssige Argumentation in Widerspruch zu einem Grundgedanken des sprachbestimmten Kulturnationenkonzeptes stand, wurde nicht problematisiert. Denn was der deutschen Sprache an produktiver Dynamik zugemessen wurde, hätte von den liberalen deutschen Juden konsequenterweise auch dem Hebräischen attestiert werden müssen: Dass nämlich die Sprache einer geopoütisch nicht mehr existenten Nation die Nation gerade deshalb bewahren und Wiederaufleben lassen könne, weil der Wortschatz den Wissensbestand der Nation in sich trage. Alle angeführten Argumente gegen die Wiedereinführung eines umgangssprachlichen Hebräisch erklären sich aus einer sehr verengten Muttersprachenideologie. Eine „tote" Sprache, so die These, ließ sich nicht mehr als primäres Medium der eigenen Lebenswelt etablieren, denn eine derart konservierte Sprache transportierte genau genommen allein den mentalitätsgeschichtlichen Fundus, den sie vor ihrem ,Exitus' aufgenommen hatte. Mit anderen Worten: Sie war eine ,Schriftmumie' ohne transitorische und genetische Dynamik. Die zuerst erworbene Muttersprache der deutschen Juden und das ihr innewohnende, durch sie artikulierte Denken und Fühlen waren durch nichts zu ersetzen, nicht einmal durch den Sprachursprung der eigenen Glaubenstradition. Mochte Gott Moses die Gesetze auf Hebräisch diktiert haben — die deutschen Juden waren durch eine andere Schule gegangen. Hier brillierten sie, allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz. Dachten ausgerechnet die Deutschland abtrünnigen Zionisten, ihnen dies nehmen zu können? Diese Frage führt uns unmittelbar zum kulturzionistischen Sprachkonzept.

VI. Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept Ein Jahr nach Kriegsbeginn publizierte Hermann Cohen mit der Studie „Deutschtum und Judentum" eine viel gelesene Schrift. Neben nüchternen staats- und religionsphilosophischen Gedankengängen wagte sie hochexplosive Aussagen zum deutsch-jüdischen Verhältnis. In einer der brisantesten verpflichtete der Grandseigneur des postkantischen Idealismus die Juden „in aller Welt" zur hingebungsvollen Treue zu Deutschland, dem „Mutterland seiner [des Juden] Seele."1 Anders gesagt: Auf geistig-kulturellem Gebiet strebte ganz Osteuropa, gerade wo es jüdisch war, nach Königsberg und Weimar. Zur Verifikation seines Versuchs, das Mutterland des Judentums nicht etwa am Berg Sinai, sondern in Deutschland zu verorten, dient Cohen unter anderem der ostjüdische „Jargon". Weil in der Sprache die „Urkraft des Geistes" aufgenommen werde, sei im ostjüdischen „Jargon" — nach liberal-jüdischem Verständnis bekanntermaßen ganz mittelhochdeutschen Ursprungs - das Kraftzentrum deutscher Kultur chiffriert. Das deutsche Judentum müsse sich, statt sich zionistisch zu versagen, für die „Anerkennung der deutschen Vormacht in allen Grundlagen des Geistes- und des Seelenlebens" stark machen.2 Zudem gelte es, das spezifisch jüdische Ideal staatsbürgerlicher Treue und supranationaler Religiosität einzubringen. Die „tiefe Verwandtschaft" 3 beider Pole zwingt eben diese zur Vorbildfunktion für andere. So werde die Welt in der Synthese von messianischem Judentum und idealistischhumanitärem Deutschtum das Leitbild wahrer Sittlichkeit erblicken. Es konnte nicht ausbleiben, dass der Centraiverein Cohens Wort vom deutschen Urboden jüdischer Seelenlandschaft begeistert aufgriff - steigerte es doch die eigene Programmatik mit rhetorischer Finesse ins Metaphorisch-Emphatische. Ebenso notwendig musste seine Schrift Protest im zionistischen Lager hervorrufen, das mehrfach von Cohen scharf attackiert worden war. Jakob Klatzkin, einer der entschiedensten Vertreter des Zionismus4, pariert mit einem zwölfseitigen Essay in der Zeitschrift „Der

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Cohen, Deutschtum und Judentum, 1915, S. 35. Ebd., S. 37. Ebd., S. 13. Jakob Klatzkin, 1882 in Weißrussland geboren, war in Deutschland und der Schweiz publizistisch tätig und siedelte später in die USA über. Er plädierte von Anfang an für eine strikte Loslösung von der Diaspora.

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Jude". 5 Insbesondere Cohens Verortung des jüdischen Geistesbodens in Deutschland, jener postulierte deutsche „Rechtsanspruch auf die Juden aller Völker"6, reizt Klatzkin zum Widerspruch. Mit ironischem Unterton führt er an: Die Juden in der ganzen Welt hätten die Pflicht der Pietät gegen Deutschland, das ^Mutterland der Seele' aller Juden sei. Nun ist die Verwandtschaft zwischen Judentum und Deutschtum lückenlos hergestellt. Sie haben einen gemeinsamen Vater im jüdisch-christlichen Gotte und ein gemeinsames Mutterland der Seele. Es ist ein altes Lied: ,Einen Vater in den Höhen, eine Mutter haben wir. Gott, ihn, aller Wesen Vater, Deutschland unsere Mutter hier' (Rießer). Cohen aber erklärt dieses Hier als das Mutterland aller Juden. 7

Ungewollt habe Cohen damit die Notwendigkeit des Zionismus bestätigt. Denn wenn alle Juden in ihrer Seele nach dem deutschen „Mutterland" verlangten, dann erst recht nach dem jüdischen Stammland, dem „Lande der Väter". Trotz des kulturgeschichtlichen Machtfaktors Sprache und trotz der unbestreitbar deutschen Wurzeln des „Jargon" habe gerade die Sprache der Ostjuden die assimilatorische ,Germanisierung' des Judentums nicht herbeizuführen vermocht. Dass für ihn allein das Hebräische die Muttersprache des Judentums sein kann, darüber hat Klatzkin seine Leser eigentlich nie in Zweifel gelassen. Schließlich steht für ihn fest: „Der gewagte Versuch, Deutschtum und Judentum als wesensgleich oder wesensverwandt darzustellen, konnte nicht glücken."8 Das Gegenteil sei der Fall: Bei allen Verbindungslinien sei das Verhältnis von Juden und Deutschen von „Wesensfremdheit" dominiert. 1921 dann, in seinem Buch „Krisis und Entscheidung im Judentum", sollte Klatzkin die Unvereinbarkeit der Axiome Deutschtum und Judentum als Definitivum proklamieren: Wir sind niemals gute Juden und gute Deutsche [...] die eine Güte schließt die andere aus. [...] Wer von uns das fremde Land Vaterland nennt, begeht den schlimmsten Verrat an unserem Volke. 9

Mit Cohen und Klatzkin schienen die Repräsentanten zweier Welten aufeinander geprallt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Und doch hatten sich beide anfangs näher gestanden, als ihre so konträren Worte vermuten lassen. Denn der radikale Zionist Klatzkin war ein Schüler Cohens, 5 6 7 8 9

Der Jude, Heft 5/6, Jg. 2, 1917/18, S. 358-370 (Jakob Klatzkin: „Deutschtum und Judentum"). Zit. n. Uthmann 1976, S. 38. Der Jude, Heft 5/6, Jg. 2, 1917/1918, S. 368 (Jakob Klatzkin: „Deutschtum und Judentum"). Ebd., S. 370. Klatzkin, Knsis und Entscheidung im Judentum, 1921, S. 111 und S. 116.

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der als ein „Verehrer Hermann Cohens auch einen persönlichen Schmerz" über den Bruch mit dem Meister bekundet. Es ging dabei von Anfang an um mehr als um persönliche Antipathien. Die Streitfrage, ob nun Fremdheit oder Affinität die deutsch-jüdische Relation vordinglich bestimmte, war nur ein Derivat der Frage, ob die „Zweiheit" (Klatzkin) des Axioms „deutscher [bzw. französischer, britischer, russischer etc.] Jude" aufzulösen oder zu stärken sei. Der Zionismus plädierte für die Loslösung, der jüdische Liberalismus für Stärkung. Und wieder bildete die Sprache die Trennlinie. „Der Weg des Zionismus ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit; wollte man alle seine Etappen erzählen, so würde man mehrere Bände benötigen."10 - Jacob Tsurs Wort von 1978 hat nichts an Gültigkeit verloren. Im folgenden Kapitel wird also keine Geschichte des Zionismus zu lesen sein. Hier ist auf eine Vielzahl anderer Studien zu verweisen, materialreich und hervorragend recherchiert.11 Eine kurze ideologische und organisatorische Verortung des deutschen Zionismus ist dennoch notwendig, um daran das zionistische Sprachkonzept als drittes und letztes Bindeglied in der Trias sprachthematischer Argumentationsmuster anknüpfen zu können.

1. Zionismus und Kulturzionismus Als nationale Bewegung nahm das „epische Abenteuer"12 des Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts Gestalt an, also mitten in der Hochphase des europäischen Nationalismus. Der Antisemitismus, organisatorischpolitisch erstarkt in Westeuropa und pogromartig entfesselt gegenüber den Ostjuden, gab Bestrebungen Auftrieb, die jahrhundertealte Zionssehnsucht der Juden in eine nationale Zionswirklichkeit zu überführen.

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Tsur 1978, S. 16. Trotz ihres ,hohen Alters' ist Adolf Böhms monumentale zweibändige Geschichte des Zionismus, die auf sein kürzeres Werk von 1920 aufbaut, immer noch Standard (Böhm 1935/1937). Elementar für die Entwicklung der deutschen zionistischen Bewegung ist neben Reinharz 1986 v. a. Eloni 1987. Eloni zieht bis dato unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Central Zionist Archives (CZA) in Jerusalem heran und nimmt mit dem orthodox-zionistischen Zweig („Misrachi"), der nationaljüdischen Studenten- und Jugendbewegung sowie der Gemeindepolitik vor dem Krieg drei bis heute vernachlässigte Themen in den Blick. Zentral für die vorliegende Studie ist seine detaillierte Analyse des Konflikts zwischen Hilfsverein und Hebraisten über die zu favorisierende Schulsprache in Palästina. Als Ergänzung zur Wissenschaftsperspektive taugen Lichtheims sehr persönliche Lebenserinnerungen (Lichtheim 1970) mehr noch als seine „Geschichte des Zionismus" (ders. 1954). Informativ und prägnant zur Geschichte des Zionismus: Brenner 2002b. Tsur 1978, S. 43.

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Westliche Judenfrage und östliche Judennot wurden als moderne nationale Fragen angesehen, zu beantworten mit politischen Mitteln jenseits bloß religiöser Diskurse. So glaubt der nationaljüdisch gesinnte Heinrich Loewe die tiefere Ursache für den Zionismus in einem Nationalismus entdeckt zu haben, „der alle europäischen Kulturvölker nach einander geschaffen hat und zuletzt uns, bei denen er am allermeisten Berechtigung hat."13 Wenn das Phänomen des Nationalismus tatsächlich verstanden werden kann „als eine Ideologie und zugleich als eine politische Bewegung [...], die sich auf die Nation und den souveränen Nationalstaat als zentrale innerweltliche Werte beziehen und in der Lage sind, ein Volk oder eine große Bevölkerungsgruppe politisch zu mobilisieren"14, dann hatte der zionistische Nationalismus beides relativ fest im Blick: Anvisiert war der eigene jüdische Nationalstaat, angesprochen die Judenheit in aller Welt. Das Erwachen des jüdischen Nationalbewusstseins manifestierte sich in der ländlichen Kolonisation Palästinas, dem Wunsch nach Rückkehr in das „heilige Land", der Wiederbelebung einer hebräischsprachigen Literatur und dem Gedanken, das Judentum bilde in erster Linie eine Volks-, nicht eine Religionsgemeinschaft. Moses Hess' Pioniertat „Rom und Jerusalem" aus dem Jahre 1862 15 , Leon Pinskers aufrüttelndes Pamphlet „Auto-Emanzipation" von 1882 16 , schließlich der 1896 publizierte „Judenstaat" des jungen Wiener Redakteurs Theodor Herzls17, allesamt auf Deutsch geschrieben, waren wichtige literarisch-programmatische Zäsuren einer Bewegung, die sich topografisch unter anderem in den Zentren

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JR 9, 26. Februar 1904, S. 79f. (Heinrich Loewe: „Purim, ein Nationalfeiertag"). Alter 1985, S. 14. Die Schrift des in Bonn geborenen Moses Hess, der in seinem bewegten Leben nach einer jüdisch-orthodoxen Erziehung am „Kommunistischem Manifest" mitarbeitete und sich später zusammen mit Lassalle für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein engagierte, besteht aus zwölf Briefen an eine Jüdin, einem Epilog und diversen Bemerkungen zeitgeschichtlich-historischen Inhalts. In scharfer Frontstellung zum Reformjudentum identifiziert Hess das Judentum mit sozialdemokratischen Ideen und schreibt von der notwendigen „Rückkehr" zum „Boden der Väter". In seiner einzigen, zunächst vor allem in Osteuropa einflussreichen Schrift forderte der russische Arzt Leon Pinsker die jüdische Nationsbildung in Palästina, da das Projekt der Assimilation gescheitert sei. Statt auf fremde Hilfe zu hoffen, müsse der Jude zur „Selbsthilfe" greifen. In „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage" entwirft Herzl das Projekt einer souveränen jüdischen Nation, ohne sich auf ein Territorium festzulegen. Der Antisemitismus lasse die Assimilationsreflexe von Anpassung, Toleranz und Verständnis sinnlos erscheinen, verhindere aber auch die weitere Atomisierung der Judenheit: „Wir sind ein Volk - der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu [...] Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden" (Herzl, Der]udenstaat, 1896, S. 33) Herzls Schrift bestärkte all diejenigen, die den Zionismus nicht als philanthropische Maßnahme, sondern als nationale Befreiungsbewegung verstanden wissen wollten.

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Wien, Paris, Basel und Odessa formierte. 18 In Wien gab Herzl mit der „Welt" die erste zionistische Zeitschrift heraus, in Paris brachte ihn das Schockerlebnis des Dreyfus-Prozesses 19 dazu, in wenigen Wochen das nationaljüdische Utopieprojekt des „Judenstaates" zu verfassen. Und während in Basel 1897 der erste Zionistenkongress ein Programm verabschiedete, das den Juden in aller Welt die Schaffung eine „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina" versprach, entwickelte sich Odessa zur bedeutendsten Zentrale des ostjüdischen Zionismus. So nahm die Bewegung der „Chibbat Zion" von hier aus ihren Anfang. 20 Weil Herzl, der Prototyp eines westeuropäisch assimilierten Juden, und mit ihm viele andere Nationaljuden im Antisemitismus die größte Gefahr für die Judenheit erblickten, hatte für sie die Erlangung territorial-nationaler Souveränität oberste Priorität. Gegen die dadurch drohende Vernachlässigung kultureller Fragen wandten sich Kräfte, die eine geistige Renaissance des Judentums vor jeder politischen Implementierung erstrebten und darum unter der Bezeichnung „Kulturzionisten" firmieren. Natürlich erfasst die Auftrennung der Bewegung in einen primär politisch und einen eher kulturell orientierten Teil nicht die zahlreichen fließenden Übergänge. Wenn diese Untersuchung dennoch mit eben solch vereinfachenden, aber auch hilfreichen Polarisierungen — Ost und West, politischer Zionismus und Kulturzionismus, Herzl und Achad Haam etc. - arbeitet, dann ist immer präsent zu halten, dass damit kein abschließendes Abbild der zionistischen Wirklichkeit vorgestellt ist.21 Es geht hier in

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Brenner 2002b, S. 12-29. Der französisch-jüdische Hauptmann Alfred Dreyfuss wurde in einem antisemitisch motivierten Schauprozess trotz nachweislicher Unschuld des Landesverrats (Spionage für Deutschland) beschuldigt und verurteilt. Herzl berichtete als Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse" über den Skandal, der Frankreich tief spaltete, Emil Zola sein berühmtes „J'accuse" zu Dreyfuss' Verteidigung ausrufen ließ und Herzl die Augen über die Sinnlosigkeit der Assimilation öffnete. „Chibbat Zion", hebr.: „Liebe zu Zion": Zionistische Bewegung in Osteuropa, besonders in Russland und Rumänien, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts um praktische Unterstützung der Emigranten nach Palästina bemühte. Ihre Anhänger nannten sich „Chowewe Zion" („Zion-Liebende"). Vgl. dazu Böhm 1935, S. 96-115. Lichtheim betrachtet es als falschen Ansatz, „von einem Gegensatz zwischen Ost und West zu sprechen, denn es gab im Osten ausgesprochene politische Zionisten und Territorialisten, wie es andererseits im Westen scharfe Gegner des Herzischen rein politischen Zionismus und Anhänger der praktischen Arbeit gab." Aufgrund der Vorbildfunktion Herzls, den nicht die Zionssehnsucht, sondern die moderne Judenfrage motiviert hätte, sei es dennoch verständlich gewesen, warum „die Anhänger des politischen Zionismus' im Westen stärker vertreten waren als im Osten" (Lichtheim 1970, S. 98). Die Unterscheidung in West- und Ostjuden und deren „befremdende Begegnung" (Kampmann 1979, S. 362) war Bestandteil damaliger Debatten. Die jüdische Presse geht wie selbstverständlich von diesem Gegensatz aus, ob durch ihn die ostjüdische Kultur nun auf- oder abgewertet wird.

Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD)

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erster Linie um Tendenzen, allerdings um meinungsbildende, ins Gewicht fallende Tendenzen, die schon damals als solche erkannt wurden. Denn die genannten Polarisierungen sind keine Erfindung der deutsch-jüdischen Forschung nach 1945, sondern waren in dem behandelten Zeitraum populäre Versuche, die Vielgestaltigkeit des Zionismus schematisch begreifbarer zu machen. Nichts anderes bezweckt eine Aufteilung der deutschen zionistischen Bewegung nach zeitlichen Grenzmarken, als da wären: eine „vorkongressliche" Periode vor 1897; daran anschließend eine Phase der allmählichen Implementierung zionistischer Grundanschauungen in Politik und Gesellschaft mittels einer schlagkräftigen Organisation; nach 1910 die ideologische Konsolidierung in Richtung einer akkulturationsfeindlichen, palästino-zentrischen Programmatik; die wechselnde Politik der „Zionistischen Vereinigung fur Deutschland" (ZVfD) während des Krieges und der Weimarer Republik; und schließlich die letzte Phase von 1933 bis 1938, die in bedrückender Lage erstaunliche Arbeitskräfte freisetzte und der Organisation einen deutlichen Zuwachs an Mitgliedern einbrachte.

2. Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) Zwei Monate nach dem Ersten Zionistenkongress in Basel vom 29. bis 31. August 1897, an dem bereits sechzehn Delegierte aus Deutschland teilgenommen hatten, beschlossen die deutschen Zionisten, den bisherigen Namen „National-Jüdische Vereinigung Deutschlands" in „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) umzuwandeln. Der Wechsel vom Genitiv zur Präposition zeigte die inhaltliche Neuorientierung an: Die Vereinigung sollte nicht einfach nur in Deutschland wirken, sondern sich für deutsch-jüdische Interessen auf der Grundlage des Basler Programms einsetzen.22 Die nationale Zionsidee und das Anwachsen des Antisemitismus ließen für viele den organisierten Zionismus attraktiver erscheinen als jene „hohle Phrase" der „Gleichberechtigung auf dem Papier"23, als deren Verteidiger die C.V.-nahen Juden identifiziert wurden. Der Zionismus konterte auf die Vorstellung, ein deutscher Jude sei etwas grundsätzlich anderes als ein französischer, russischer oder polnischer Jude, mit Herzls Ideal des einen und einzigartigen jüdischen Volkes. „Wir haben uns", so 22

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Vgl. § 1 der Statuten: „Die Zionistische Vereinigung für Deutschland hat den Zweck, die zionistische Idee im Sinne des Baseler Programms unter den in Deutschland lebenden Juden zu verbreiten" (Statuten der Z V f D , CZA, A 1/2/2/6, Sammlung gedruckter Manuskripte). Vgl. wieder Reinharz 1981, S. 48. Erstes Propaganda-Flugblatt der Z V f D [Anfang 1898], CZA, Ζ 1 /433. Vgl. Reinharz 1981, S. 51 f.

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heißt es Anfang 1898 in dem ersten Propaganda-Flugblatt der ZVfD, „assimilirt [sie!] bis auf die Nasen. [...] Was hat uns das genützt? Wir sind in den Augen der Völker Juden geblieben, [...] Söhne eines armen Stammes." Demgegenüber propagierte man Selbstbewusstsein und die Volksbindung jenseits geografischer Schranken. Der Geburtsort sei Zufall, das Verbindende liege „im Blute."24 Als einzige ernst zu nehmende Gegenkraft zur Politik des innerjüdisch mächtigen Centraivereins bildete der deutsche Zionismus, obzwar anfangs gering an Mitgliedern, zu keinem Zeitpunkt eine quantite negligeable. Seit dem Krieg stieg dann auch die zahlenmäßige Bedeutung der ZVfD im Vergleich zu anderen zionistischen Bewegungen an. Lag die Mitgliederzahl in den ersten Nachkriegsjahren noch bei rund 20 000, so schenkten der Vereinigung im Jahre 1923 schon 33 000 Juden offiziell ihre Unterstützung.25 Die von den Mitgliedern demokratisch gewählten Abgeordneten traten einmal im Jahr zu einem Delegiertentag zusammen, der das „oberste Organ der Vereinigung" bildete. Beschlüsse wurden mit einfacher Mehrheit gefasst.26 Als Landesorganisation mit ca. 200 Ortsgruppen offiziell ein Teil der „Zionistischen Weltorganisation" - der „World Zionist Organization" (WZO) - deckten sich die Entscheidungen der ZVfD nicht in allen Punkten mit denen der Weltorganisation. Die Vereinigung bewahrte sich, auch aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Wilhelminischen Regierung, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit, das in ihren Statuten zum Ausdruck kam: Mit Ausnahme des Basler Programms findet sich darin kein Hinweis auf ihre eigentlich untergeordnete Beziehung zur WZO.27 Da sich diverse zionistische Strömungen unter ihrem Dach versammelt hatten, war die ZVfD von Beginn an Schauplatz interner Richtungskämpfe. Weltsch erinnert an zahlreiche Gruppierungen, „die die in Kundgebungen und Resolutionen ausgedrückte Politik der ZVfD und die in dem offiziellen Organ vertretene Richtung missbilligten und sich stärker mit den außerhalb Mitteleuropas in der zionistischen Bewegung vorherrschenden radikalen nationalistischen Richtungen identifizierten."28 Die neue Generation, die zum Zionismus kam, sei jedoch insgesamt „im Rahmen der faktischen Assimilation" geblieben,

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Ebd.. Vgl. Reinharz 1981, S. 53. Angaben bei Zimmermann 1997, S. 33. Vgl. § 9 der Statuten auf dem 3. Delegiertentag: „Der Delegiertentag bildet das oberste Organ der Vereinigung. Er beschließt über alle Abgelegenheiten des Zionismus in Deutschland mit einfacher Majorität" (Statuten der ZVfD, CZA A15/VII/34). Vgl. Eloni 1987, S. 94. Eloni 1987, S. 96. Weltsch 1961, S. 61.

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denn die „Vorstellungswelt" dieses assimilatorischen Zionismus „war die des Idealismus des liberalen Zeitalters."29 Das galt besonders für ihr Verhältnis zur deutschen Heimat und Kultur. Natürlich hatten die deutschen Zionisten den Aufbau Palästinas materiell und ideell immer unterstützt, so dass aus Deutschland insgesamt „mehr Gründungen palästinensischer Gesellschaften, mehr Geldmittel gekommen [waren] als aus irgend einem anderem Lande mit Ausnahme Russlands"30. Doch viele Nationaljuden sahen darin weder einen Widerspruch zu ihrer deutschen Staatsbürgerschaft noch zu ihrer deutschen Kultur- und Geisteswelt. Als sich auf einer eigens einberufenen Hauptversammlung der Centraiverein in einer Resolution vom 30. März 1913 von zionistischen Mitgliedern ohne „deutsche[s] Nationalgefühl" zu trennen beschloss,31 verteidigte sich die Z V f D in einer ersten Reaktion zwei Tage später, indem sie die Vereinbarkeit der axiomatischen Begriffe — jüdischnationale und staatsbürgerliche „Gesinnung" — unterstrich.32 Noch einmal, in der Resolution vom 1. Mai 1913, wehrte sich die Vereinigung gegen den Versuch, „Judentum und Deutschtum gegen einander auszuspielen"33, doch die Verletzung über die „unerhörte Stellungnahme des CV" saß zu tief. Unmissverständlich erklärte die Z V f D nun ihrerseits: „Die Zugehörigkeit zur Zionistischen Vereinigung für Deutschland ist unvereinbar mit der Mitgliedschaft im Zentralverein Deutscher Staatsbürger Jüdischen

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Weltsch 1961, S. 56 u. S. 63. Lichtheim 1954, S. 10. In der Resolution griff der C.V. das palästino-zentrische, kulturzionistische Nationaljudentum an, während er den philantropisch-politischen Zionismus und dessen Hilfe für die Ostjuden zu stärken suchte: „Soweit der deutsche Zionist danach strebt, den entrechteten Juden des Ostens eine gesicherte Heimstätte zu schaffen oder den Stolz des Juden auf seine Geschichte und Religion zu heben, ist er uns als Mitglied willkommen. Von dem Zionisten aber, der ein deutsches Nationalgefühl leugnet, sich als Gast im fremden Wirtsvolk und national nur als Jude fühlt, von dem müssen wir uns trennen" (IdR 19, Heft 5/6, Mai 1913, S. 200; S. 224; S. 247: „Hauptversammlung des C.V."). Abgehandelt auch bei Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden, 1918, S. 55f. CZA, A 102/Η 9, Sammlung gedruckter Manuskripte. Vgl. Reinharz 1981, S. 108-110. Ebd. Vgl. Reinharz 1981, S. 111-113. Die Resolution wurde veröffentlicht in: JR 18, 2. Mai 1913, S. 178 („Unsere Antwort an den Zentralverein. Ein einstimmiger Beschluß der zionistischen Vertrauensmänner"). Bereits 1897 hatte die „National-Jüdische Vereinigung für Deutschland" in Köln die Losung ausgegeben, man solle die Juden in Deutschland „deutsche bzw. preußische Staatsbürger jüdischen Stammes oder jüdischer Nationalität" nennen. Trotz aller Kritik an der C.V.-Formel legte jedoch auch diese alternative Doppelbezeichnung die Versöhnung beider Axiome nahe. So wurde betont, dass die Liebe zur deutschen Heimat die Liebe zur jüdischen Nation nicht hindere, sondern ganz im Gegenteil fördere (Flugblatt No. 2, hg. von der National-jüdischen Vereinigung für Deutschland in Köln. CZA, W 147/1). Vgl. Reinharz 1981, S. 45f.

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Glaubens."34 Die anfängliche Neutralitätspolitik im Verhältnis zweier Organisationen, deren gegenseitige Verflechtungen nicht unterschätzt werden dürfen,35 hatte damit ein jähes Ende gefunden.36 „Nachdem einmal der Kampf proklamiert ist", so der Vorstand der ZVfD in einem internen Schreiben an alle Ortsgruppen und Vertrauensmänner, müsse man ihn „mit aller Energie und mit allen Mitteln führen, die uns als wirksam erscheinen."37 Das Tischtuch war „zerschnitten".38 Ein entscheidender Grund für die Eskalation des Konflikts zwischen ,Liberalen' und ,Nationalen' ist sicherlich in der ideologischprogrammatischen ,Kehre' der ZVfD seit 1910 zu suchen. Auf den assimilatorischen Zionismus war die von Kurt Blumenfeld so genannte „postassimilatorische" Bewegung39 gefolgt, die Formen und Inhalte der völkisch-rassischen Ideologie für ihre Zwecke adaptierte. Zwar gehörte auch der postassimilatorische Zionist durch Elternhaus und Erziehung der deutschen Kultur- und Geistessphäre an, empfand aber „den Mangel seiner legitimen Zugehörigkeit zur deutschen Welt" 40 als derart entscheidend, dass er ihn durch eine verstärkte Identifikation mit dem jüdischen Volk zu kompensieren suchte. In radikalisierter Ausprägung kämpfte der postassimilatorische Zionismus letztlich für die „Durchsetzung des Gedankens, daß Juden keine Deutschen sind."41 Zwar blieben diese Radikalen in der ZVfD anfangs in der Minderheit, doch unter dem Vorsitz Arthur Hantkes (1910-1920), der auf Max Isidor Bodenheimer (1897-1910) gefolgt war, rückte die Organisation auch in ihrer kulturellen Programmatik immer stärker vom Denkmodell der zweifachen Treue ab. Unter dem Einfluss 34 35

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Ebd. Vgl. Reinharz 1981, S. 113. Eine Anzahl von deutschen Zionisten blieb so lange wie möglich im Centraiverein. Darunter waren herausgehobene Persönlichkeiten wie Max Kollenscher und Alfred Klee (vgl. Barkai 2002, S. 53). Auf der anderen Seite saßen führende Vertreter des C.V. noch bis Anfang der zwanziger Jahren im Vorstand des Keren Hajessod, des zionistischen Hilfswerkes für Palästina (vgl. ebd., S. 135). Die diffizile Beziehung zweier Organisationen, die Richtungskämpfe mit teils harten Bandagen austrugen, obwohl ihre Akteure demselben ideologisch-mentalitätsgeschichtlichen Boden entstammten, behandelt früh Reinharz 1975. Während Goldmann das Scheitern einer gemeinsamen jüdischen Interessenvertretung nach 1930 in der „dogmatischen Verbohrtheit des C.V." begründet sieht (Goldmann 1996, S. 38), trägt für Barkai der Zionismus „die Hauptverantwortung fur die Schärfe dieses ideologischen Konflikts". Nach 1912 sei der ZVfD bestimmt worden von den Scharfmachern der palästino-zentrischen Fraktion, die ein elitäres Überlegenheitsgefühl verbreitet hätten (Barkai 2002, S. 53f). Schreiben der ZVfD an alle Ortsgruppen und Vertauensmänner vom 28. Mai 1913, CZA DD 806. Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 249. Vgl. Lichtheim 1954, S. 127. Blumenfeld 1957/58, S. 131. Blumenfeld 1976, S. 11.

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einer neuen, palästino-zentrischen Fraktion junger Zionisten plädierte sie dafür, sich innerlich vom Deutschtum abzugrenzen und der so eigenständigen wie einzigartigen jüdischen Identität und Nationalität zuzuwenden. Weltsch umschreibt diese Wandlung mit den Worten: „Patriotische Deklarationen und Identitätserklärungen an das Deutschtum wurden als würdelos empfunden und verschmäht."42 Gleichwohl verstummten die Gegenstimmen nicht. Zionisten der ersten Generation, die religiös-oppositionelle Gruppe „Misrachi" und 1901 gegründete „demokratisch-zionistische Fraktion" um Martin Buber weigerten sich weiterhin, den radikal palästino-zentrischen Kurswechsel mitzugehen. Als sich die Konflikte mit den Arabern in Palästina verschärften, kam ab 1925 eine langjährige Konfrontation mit den Revisionisten hinzu. Während große Teile der ZVfD-Akteure Chaim Weizmanns pro-britische und um Ausgleich mit den Arabern bemühte Kooperationspolitik unterstützten, verfolgte die von Vladimir Jabotinsky in Polen gegründete Revisionistische Partei einen tendenziell antibritischen und antiarabischen, militant nationalistischen Kurs. Die konträre Interpretation des eigenen Verhältnisses zum Deutschtum markiert die eine Konfliktlinie; die zum Judentum die andere. Während die politischen Zionisten im Anschluss an Herzl die DiasporaExistenz43 als historisch sinnlosen Versuch werteten, dem Antisemitismus zu entgehen und für die Sammlung aller Juden in einer eigenen souveränen Nation plädierten, wehrten sich die Kulturzionisten gegen diese ,Galuth- oder Golusverneinung', indem sie ein kulturell-nationales Judentum bereits in der Diaspora erstrebten. Durch religiös-kulturelle „Gegenwartsarbeit"44 sei die jüdische Identität zu stärken und das Selbstbewusstsein des Volkes zu heben. Kurzum: Der Rettung aller Juden müsse die Rettung des Judentums vorangehen. Der Orientierungspunkt dafür lag im Osten, wo die Bewegung der „Chibbat Zion" ihren Ursprung hat. Die ostjüdische, als autark und ursprünglich angesehene Kultur geriet zum bedingten Leitbild, da hier das Wesen des Judentums erhalten sei.45 Dieses Leitbild

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Weltsch 1961, S. 99. „Zerstreuung" oder „Exil". Die hebräischen Begriffe Galutb- bzw. Golusverneinung waren in der zionistischen Publizistik und Literatur populär. Sie sollten den Zwangscharakter des Exils betonen und sich vom eher neutralen griechischen Terminus Diaspora abheben (vgl. Neues Jüdisches Lexikon, 1992, S. 117f). Weltsch 1961, S. 101. Volkov konstatiert: Erst die Ostjudenfrage und die Ostorientierung der Westjuden habe den „Prozeß der Dissimilation", der bereits durch das Erstarken des Antisemitismus in Gang gesetzt worden sei, für die Betroffenen zu einem „bewußten Prozeß" werden lassen (Volkov 1990b, S. 170f.).

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blieb deshalb ein bedingtes, weil nicht alle Realitäten des Ostjudentums als nachahmenswert empfunden wurden. So stellte für die allermeisten Kulturzionisten das im Osten vorherrschende Jiddische nur ein sprachliches Durchgangsstadium dar. Die Vorstellung einer jiddischen Umgangssprache in Palästina erschien ihnen vollkommen inakzeptabel. In der Arbeit der ZVfD nahm die Förderung des Unterrichts in hebräischer Sprache einen wichtigen Stellenwert ein. Bereits in den „Anweisungen an Vertrauensmänner", die den Statuten 1899 gefolgt waren, werden die Ortsgruppen in die Pflicht genommen, für hebräische Sprachkurse zu sorgen und bei jeder Versammlung hebräische Lieder anzustimmen.46 Für Fabius Schach, den Sekretär der Kölner Ortsgruppe, hatte das Hebräische als „einzige" Verkehrssprache für die jüdischen „Stammesgenossen aller Länder*' und als allein denkbare „Nationalsprache für die Zukunft"47 sowohl einen aktuell-pragmatischen als auch ideell-programmatischen Nutzen. Gegen diese Interpretation wehrten sich nicht allein liberale Juden. Auch vielen deutschen Zionisten war Schachs „einzige" Verkehrssprache ein fremdes Idiom, das sie durchaus nicht für die deutsche Muttersprache einzutauschen gedachten. Eines der wichtigsten Podien für die ab Anfang des 19. Jahrhunderts virulenten Debatten um das Hebräische seinen Wert, seine gegenwärtige wie zukünftige Rolle für das Judentum in der Diaspora und in Palästina - bildete von Beginn an das ZVfD-Organ „Jüdische Rundschau".

3. Die „Jüdische Rundschau": Zentralorgan der ZVfD Namentlich tritt die „Jüdische Rundschau" am 1. Oktober 1902 in die Geschichte deutschsprachiger jüdischer Periodika ein. Mit diesem Datum übernahm sie als Organ der ZVfD die Rolle der zu diesem Zeitpunkt bereits im siebten Jahrgang existierenden und aus dem „Berliner Vereinsboten" hervorgegangen „Israelitischen Rundschau". Ihre grundsätzliche Orientierung hatte die „Israelitische Rundschau" bereits am 24. Mai 1901 offengelegt und auf die Übernahme des Blattes durch den „Preßausschuß der Zionistischen Vereinigung für Deutschland" hingewiesen. Der Ausschuss erklärte seine Bereitschaft, die Zeitung „in gut zionistischem Geiste" zu leiten.48 Nach der abermaligen und nun letzten Namensänderung in „Jüdische Rundschau" zum 1. Oktober 1902,

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Eloni 1987, S. 102. Zit. n. ebd., S. 97. Vgl. Eloni 1987, S. 156; vgl. Reinharz 1981, S. 55f.

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mit welcher der verfemte Name „Jude" als Ehrennamen angenommen werden sollte49, war in der Kopfzeile jeder Ausgabe der Kernpunkt des Basler Programms von 1897 abgedruckt: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina." Die Zeitschrift bekannte sich damit auch zum § 1 der ZVfD-Satzung, in der die Partei es sich zum Ziel gemacht hatte, „die zionistische Idee im Sinne das Baseler Progamms unter den in Deutschland lebenden Juden zu verbreiten."50 Dennoch wäre es verfehlt, die JR als bloße Spiegelfläche einer singulären Parteienideologie zu charakterisieren. Spätestens seit 1906 suchte die Zeitschrift jedem Verdacht redaktioneller Uneigenständigkeit entgegenzutreten und strich die Unterzeile „Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland" von der Titelseite.51 Von da an erschienen Vereinsnachrichten, Berichte über die Ortsgruppen, Nachweise über Spenden etc. in einem Beiblatt. Insgesamt weniger Stimme als Stimmungsträger, bot die JR durchaus unterschiedlichen Meinungen ein Forum. Für innerzionistische Konflikte und Konsense bildete sie eine geeignete Plattform.52 Eine Untersuchung ihrer Artikel bedeutet demnach keineswegs, reine Parteienanalyse zu betreiben. Die Gründung der JR trug dem Bedürfnis Rechnung, die spezifischen Anliegen deutscher Zionisten öffentlichkeitswirksam zu erörtern.53 Eine entsprechende Rubrik in Theodor Herzls „Die Welt" informierte zwar über die zionistische Bewegung in genere, ging aber kaum auf den deutschen Ausläufer der WZO ein.54 Der Versuch, zionistische Inhalte in Deutschland durch Flugblätter und Broschüren zu verbreiten, musste dem politischen Tagesgeschäft hinterherhinken.55 Periodizität, Aktualität und Publizität - das Dreigestirn journalistischen Erfolges damals wie heute — ließen sich allein durch ein eigenes, regelmäßig erscheinendes und fest

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„Gerade weil der Name Jude einen Geschmack von Schimpf hat, weil er von unsern Feinden missbraucht wird, unser Volk zu schmähen, wollen wir gerade diesen Namen und keinen andern tragen" (JR 40, 1. Oktober 1902, S. 3f, Heinrich Loewe: „Jude und Israelii"). Statuten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 31. Oktober 1897 (dokumentiert in: Reinharz 1981, S. 22). Vgl. Gross 1989, S.37d. Vgl. Diehl 1997, S. 160. Auch für den bedeutenden JR-Redakteur Robert Weltsch erschöpfte sich im Rückblick die Aufgabe der Zeitschrift nicht allein darin, ein Organ der Z V f D gewesen zu sein. Die JR habe vor allem eine Standortbestimmung und Diskussion zeitgenössischer zionistischer Ideen geleistet (Weltsch 1957, S. 86). Eloni 1987, S. 153; ders. 1989, S. 31d. Diehl 1997, S. 157. Eloni 1987, S. 153.

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installiertes Periodikum verwirklichen.56 Die Erfolgsgeschichte der JR, die bereits Zeitgenossen als „die zionistische Zeitung in deutscher Sprache" galt57, lässt sich auch an ihrer Auflagenstärke ersehen. 1926 lag sie bereits bei 10 000 Exemplaren - immer noch wenig im Vergleich zur „C.V.Zeitung" (73 000), doch unter den deutschsprachigen zionistischen Zeitschriften und Zeitungen nahm sie damit eine Führungsrolle ein.58 In ihrer Periodizität hatte die JR die C.V.-Organe von Beginn an überflügelt. Während „Im deutschen Reich" bis 1922 nur monatlich, die „C.V.Zeitung" dann wöchentlich in den Druck ging, erschien die JR bereits bis 1918 einmal, von da an sogar zweimal in der Woche.59 In der Chefredaktion der JR saßen mit Heinrich Loewe60 und später mit Robert Weltsch61 zwei charismatische Köpfe, welche den Stil des Blattes entscheidend prägten. Unter Loewes Ägide bis 1908 wandelte sich die JR zu einer kämpferisch-politischen Wochenzeitschrift, die regelmäßig Position gegen assimilatorische Tendenzen und den Centraiverein bezog.62 Dazu gehörte eine spezifische Kultur- und Sprachideologie, welche die JR im Sinne der dritten „These" der „National-jüdischen Vereinigung, Köln" von 1896 als „Pflege jüdischen Wissens und jüdischer Sitte (Literatur, Geschichte und hebräische Sprache)" auslegte.63 Allerdings blieb die Zeitschrift von Anfang bis Ende deutschsprachig. Das lag nur vordergründig an dem immensen Kostenaufwand, den eine Umstellung des Drucks in hebräischen Lettern bedeutet hätte; viel entscheidender war, dass sich die JR um den größten Teil der Leserschaft gebracht hätte, der kein Hebräisch verstand, geschweige denn fließend lesen konnte. Die Redaktion war überzeugt davon, dass „die hebräische Presse auf die Unterstützung der

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Zwar kamen bis 1929 über 30 zionistische Periodika auf den Markt, doch blieb deren Verbreitungsgrad beschränkt, ihre Lebensdauer gering (vgl. Diehl 1997, S. 158). Tramer 1972, S. XI. Vgl. zu den Auflagenzahlen Strauss 1991, S. 377; vgl. zur Abonnentenzahl Zimmermann 1997, der von „zirka 10 000 Personen" spricht, welche die Zeitschrift regelmäßig bezogen (S. 33). Schlesinger 1936/1937, S. 97. Heinrich Loewe, 1869—1951, Bibliothekar und Journalist. Mitglied im russischen jüdischen wissenschaftlichen Verein, Mitbegründer des Jung-Israei. 1933 Auswanderung nach Palästina. Robert Weltsch, 1891 (Prag)-1982 (Jerusalem), Journalist. Schon als Student in Prag aktiver Zionist, Mitglied der Prager zionistischen Studentenverbindung Bar Kochba, Anhänger Martin Bubers, Soldat im 1. Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Armee, danach Wechsel nach Berlin. Von 1918 bis 1938 redigierte er die JR und siedelte 1939 nach Palästina über. Mitbegründer des Leo Baeck Instituts (Neues Jüdisches Lexikon, 1992, S. 854f.) Vgl. Diehl 1997, S. 159-163. Thesen der national-jüdischen Vereinigung Köln [Anfang 1896], CZA, A 147/23/3. Vgl. Reinharz 1981, S. 38.

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Massen nicht rechnen konnte."64 Erst 1933 wurde eine eigene Rubrik „hebräischer Fernunterricht" eingerichtet.65 Von Beginn an verfolgte Loewe als Chefredakteur eine sehr eigenständige redaktionelle Linie, indem er Stellungnahmen veröffentlichte, die gegen offizielle Vereinsrichtlinien Opposition bezogen. Die ZVfD, Eigner und Herausgeber des Organs, tolerierte dies immerhin sechs Jahre lang. 1908 jedoch führten die zunehmenden Differenzen zu Loewes Entlassung.66 Zehn Jahre später übernahm Robert Weltsch den Posten des redaktionellen Leiters. Seitdem war die JR aufs Engste mit seiner Person verbunden: „die Jüdische Kundschau wurde sein Blatt, trug den Stempel seiner Individualität."67 Laut Strauss verlieh er der JR das „geistige Profil" und dem Zionismus die „moralische Linie."68 Weltsch hielt die Zeitschrift auf klaren Kurs gegen den Akkulturationismus, wobei er sich um Fairness im Stil bemühte.69 Fast schon legendäre Berühmtheit in zionistischen wie nichtzionistischen Kreisen erlangte er mit einer Reihe von Leitartikeln nach der nationalsozialistischen Machtübernahme.70 In einem fordert er die Juden dazu auf, das Stigmazeichen des „gelben Flecks" als Ehrenzeichen zu tragen.71 Die JR orientierte sich besonders stark an den Bedürfnissen ihrer Leserschaft. In einer eigenen Rubrik „An unsere Leser" wurde über redaktionelle Hintergründe und programmatische Entscheidungen informiert. Die thematische Palette war sehr umfassend. Es finden sich Kommentare und Stellungnahmen zu tagespolitischen und ideologischen Fragen; Ankündigungen von offiziellen Ereignissen (Wahlen, Konferenzen etc.); Nachrufe auf verstorbene Persönlichkeiten; Ehrungen berühmter Töchter und Söhne des Judentums; Essays zu religiösen Festtagen;72

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JR 18, 2. Mai 1907, Nr. 18, S. 187 („Die Jiddisch-Presse in Polen"). JR 99, 12. Dezember 1933, S. 940 („Hebräischer Fernunterricht in der Jüdischen Rundschau"). Vgl. Eloni 1987, S. 2 1 1 - 2 1 5 . Tramer 1972, S. XI. Strauss 1991, S. 3 8 1 - 3 8 3 . Vgl. E. G. Reichmann 1961, S. 132f. Vgl. Strauss 1991, S. 382f. Auch für Weltsch selbst markiert dieses Ereignis die zentrale Wende. Bis dahin sei die JR nur ein „ernstes zionistisches Parteiorgan mit relativ geringer Verbreitung gewesen" (Weltsch 1957, S. 90). Vgl. JR 27, 4. April 1933, S. 224f. (Robert Weltsch: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck"). Die Diskussion religiöser Themen und Probleme spielte in der J R eine eher untergeordnete Rolle. Religiöse Festtage sollten die historische Dimension des Judentums hervorheben und die Berechtigung der zionistischen Idee untermauern. Nach 1933 erkannte die J R religiösen Fragen dann allerdings mehr Gewicht zu (Diehl 1997, S. 168f.)

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Repliken auf Angriffe der C.V.-Presse; Berichte über die Entwicklung Palästinas. Die Nachrichtenpolitik der Vorkriegszeit folgte der politischen und kulturzionistischen Weltanschauung73, was der patriotischen Gesinnung der Zeitschrift bei Kriegsbeginn keinen Abbruch tat.74 Nach Kriegsende orientierte sich die Redaktion globaler und berichtete zunehmend über organisatorische und innerzionistische Ereignisse und Auseinandersetzungen der WZO, was sie auch für nichtdeutsche Leser interessanter machte.75 Laut Weltsch war die JR die „erste politische jüdische Zeitung in Deutschland",76 doch vernachlässigte sie im Unterschied zu den C.V.Organen die innerdeutsche Nachkriegspolitik. Strauss meint, die JR habe nach 1918 in ihrem Nachrichtenteil „zu neun Zehnteln über Vorgänge im Ausland, die jüdisches Leben oder jüdische Interessen berührten", berichtet. Deshalb sei sie als Quelle zionistischer Standpunkte zu innerdeutschen oder deutsch-jüdischen Problemen ungeeignet.77 Für Eloni lag der zentrale Verdienst der Zeitschrift in ihrem Beitrag „zur Festigung und Vertiefung der zionistischen Idee."78 Ihre Wirkung auf Nichtjuden blieb dagegen wesentlich beschränkter als die der liberalen Abwehrspezialisten. 1932 übernahm die JR zwar die Idee der „C.V.Zeitung", mit einer eigenen Monatsausgabe an ein nicht-jüdisches Publikum heranzutreten,79 doch blieb dies ein kurzes, gerade einmal einjähriges Zwischenspiel. Nach der Katastrophe vom 31. Januar 1933 beanspruchte die Zeitschrift mehr und mehr die Führungsrolle für das gesamte deutsche Judentum. Der Akkulturationismus schien endgültig gescheitert, der Zionismus in seinen Prophezeiungen bestätigt. Nun kam es auf die „Behauptung jüdischen Selbstbewusstseins und die Verteidigung der jüdischen Würde" an. „Die Zeitung |JR]", so Weltsch weiter, „war das einzige Werkzeug, daß [...] den Erniedrigten und Beleidigten Mut zusprechen und ihnen ein jüdisches Lebensgefühl geben konnte."80 Zumindest die wachsende Publizität gab ihm Recht. Während 1938 die 73 74 75

76 77 78 79 80

Strauss 1991, S. 380. JR 32, 7. August 1914, S. 343 („Deutsche Juden!"): „In dieser Stunde gilt es für uns zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören." Gross 1989, S. 39d. Weltsch geht so weit, die JR als „ein politisches Zentral-Organ für die nationaljüdisch empfindenden mittel- und osteuropäischen Juden" zu bewerten (Weltsch 1957, S. 8 η . Weltsch 1957, S. 83. Strauss 1991, S. 380. Eloni 1987, S. 161. Vgl. dazu Steinhoff 2003/4, S. 54f. Weltsch 1961, S. 89.

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Auflagenziffer der „C.V.-Zeitung" auf 39 500 zurückging, stieg umgekehrt die der JR auf 25 300 an.81 Das Ende der JR war das aller jüdischen Periodika: Mit dem 9. November 1938 wurde ihr Erscheinen von der NSDAP verboten.82

4. Die Einstellung zum Hebräischen: Affirmation einer Revitalisierung Nachdem die Strukturen der deutschzionistischen Hauptorganisation und ihrer zentralen Presseplattform nun deutlich geworden sind, wird in den folgenden Kapiteln auszuloten sein, welche Position die deutschen Nationaljuden im innerjüdischen Diskurs über die gegenwärtige bzw. zukünftige Rolle des Hebräischen einnahmen, wie sie ihre jeweiligen Positionsmeldungen argumentativ unterstrichen und welche Differenzen bzw. Parallelen zu den liberal-jüdischen Gegnern sich in ihren Argumentations mustern herauskristallisieren lassen. 4.1. Wieder Hebräisch, immer noch deutsch: Zur Zwienatur des „deutschen Zionisten" Die von zionistischen Utopien beflügelte Erneuerung des Hebräischen, allgemeiner: der jüdischen Kultur und Religion im 19. Jahrhundert etablierte sich um die Zentren Warschau, Odessa und Wilna, wobei Basel und Wien als Standorte heftiger Sprachdebatten vieler Zionistenkongresse nicht vergessen werden sollten. Sie folgte, wie Avineri ganz richtig schreibt, „dem Muster vieler nationaler Bewegungen in Mittel- und Osteuropa, wo eine kulturelle Renaissance die Herausbildung einer klar definierten politischen Nationalbewegung vorbereitete, die schließlich zu der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung, Souveränität und Unabhängigkeit führte."83 Doch wenn dieser Folgeprozess für das mittelund osteuropäische Judentum der „Chowewe Zion" zu konstatieren ist, musste er dann nicht ebenso für das zionistisch orientierte Judentum im Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts gelten, wo eine kulturelle Nationalbewegung der „verspäteten Nation" von 1871 vorangegangen war -

81 82 83

Strauss 1991, S. 377. Gross 1989, S. 39d. Avineri 1999, S. 24.

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eine Bewegung, die von Anfang an vor allem auf den einigenden Faktor Sprache gesetzt hatte?84 Nun stimmt andererseits: Der Bonner Moses Hess empfahl in seiner 1862 erschienenen Schrift „Rom und Jerusalem" dem Projekt einer jüdischen Nation gerade nicht die Deutsche (National-)Bewegung, sondern die italienische „Risorgimento" zum Vorbild. Die fehlgeschlagene Revolution von 1848 und ein mehr und mehr grassierender Antisemitismus schienen ihn über die deutschen Verhältnisse endgültig ernüchtert zu haben. Doch existierte neben der chauvinistisch-antisemitischen Dominante der deutschen Nationsbewegung ab 1871 das humanistisch-tolerante, kultur- und sprachzentrierte Ursprungskonzept weiter, und zwar so, dass es in den Auseinandersetzungen mehr und mehr als ein Gegenentwurf fungierte. Die im Rückblick richtige Kritik der Zionisten an der heillosen Überschätzung der Durchsetzungskraft dieses traditionellen Konzepts durch den Centraiverein schließt ja nicht aus, dass die Nationaljuden dessen effektive Dynamiken nicht auch für die eigene Sache hätten ausnutzen können. Sprechen also nicht Gründe für die Annahme, dass die deutschen Zionisten, kulturell ganz ähnlich sozialisiert wie die C.V.-nahen Juden, trotz aller Kritik an der Assimilation den Nährstoff für zumindest einige ihrer zionistischen Ideale und Utopien aus eben dem geistes- und kulturgeschichtlichen Boden zogen, dem sie selbst entstammten? Ist es nicht denkbar, dass auch sie einer problematischen Dualität von Deutschtum und Judentum anhingen — exemplifizierbar an dem ambivalenten Sprachprojekt, einerseits das Hebräische als Umgangssprache zu revitalisieren und dennoch so lange wie möglich, mindestens bis zur endgültigen Auswanderung nach Palästina, an der deutschen Muttersprache festzuhalten? Der überwiegende Teil neuerer wissenschaftlicher Studien ist gerade diesen Fragen gar nicht oder nicht konsequent genug nachgegangen. Im Falle der innerjüdischen Beziehung zwischen der im Centraiverein organisierten Mehrheit und der zionistischen Minderheit haben sich die Historiker, nicht selten entsprechend der eigenen biografisch-ideologischen Prägung, hauptsächlich auf die Konfrontationslinien konzentriert.85 Akkulturationisten und Akkulturationsgegner — das konnte, das durfte

84

85

Eine eigentlich nahe liegende Folgerung, die indes weder Avineri noch Brenner ziehen (Avineri 1999, S. 18-38; Brenner 1999, S. 39-53). Tsur deutet sie nur an: „Er [der Zionismus] hat die fortschrittlichen Doktrinen der nationalen Bewegungen geerbt" (Tsur 1978, S. 12). Zimmermann nennt plausible Gründe dafür: „Es ist ganz natürlich, dass für nichtzionistische Historiker der deutsche Zionismus im wesentlichen eine Protest-Ideologie war und blieb [...]. Für Zionisten dagegen war der Central Verein ein Teil des Irrtums der Diaspora" (Zimmermann 1997, S. 107).

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einfach nicht zusammen passen. Die These war nur folgerichtig, nimmt man in Anschlag, die Forschungsliteratur noch vor einigen Jahren eine grundsätzliche Fremdheit auch zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen postulierte, um damit die mörderische Kulmination der deutsch-jüdischen Begegnung erklären zu können.86 Hier wie dort dieselbe Quintessenz: Nicht Konvergenz, gar Kompatibilität, sondern Divergenz habe das Verhältnis zwischen liberalen, auf Deutschland zentrierten und zionistischen, zumindest ideell nach Palästina gewandten Juden, zwischen C.V. und Z V f D bestimmt.87 Seit 1 9 1 0 sei durch die ideologische Radikalisierung der zweiten zionistischen Generation um Kurt Blumenfeld die Kooperationsbereitschaft beider Organisationen nachhaltig erschüttert, 88 mit der Krise von 1913/14 dann eine „dauerhafte Entfremdung" beider Positionen eingetreten.89 Die Frontstellung wird meist an diversen Streitthemen wie der Haltung zu Palästina,90 zum Ostjudentum,91 zum Antisemitismus92 oder zu politischen Orientierung93 verankert, und wirklich drifteten im Verlauf der Jahre die Antworten jüdischer Liberaler und Nationaljuden darauf immer weiter auseinander.94 Innerhalb dieser Palette

86 87 88 89

90 91 92 93 94

Ganze Publikationen stützen diese Fremdheitsthese, so beispielsweise Alter 1999. Vehement gegen sie votiert Bering 2002. Schoeps 1996, S. 32; Paucker sieht eine wirkliche Annäherung erst 1932 gegeben (Paucker 1968, S. 41 und 44). Reinharz 1975, S. 230-234. Vgl. Matthäus 1986, S. 134: „Die aus ihrer Programmatik und Vorkriegsentwicklung tendenziell bereits sichtbare, jedoch erst im Krieg manifest werdende völlige Disparität in der Gewichtung inner- und außerdeutscher Probleme jüdischer Existenz durch C.V. und ZVfD trug entscheidend zur dauerhaften Entfremdung beider Organisationen bei." Pierson 1970, S. 147. Aschheim 1982, S. 58-79; Barkai 2002, S. 77. Paucker 1968, S. 39. Toury 1966, S. 210. Ungeschminkt heißt es beispielsweise in den Informationsblättern „Führerbriefe" vom Dezember 1929, die nur intern an Mitglieder des Hauptvorstandes und an Vorstandsmitglieder in den Ortsgruppen versandt wurden: „Eines scheint ihnen [den Nationaljuden] die Kampfjparole in dieser schweren Zeit zu sein: Die Tötung des Central-Vereins" (Führerbriefe Nr. 2, 22. Dezember 1930, S. 17, „Der Kampf der Nationaljuden gegen den CentraiVerein"). Barkai weist auf die ideologisch-programmatischen Metamorphosen im Verhältnis von Liberalen und Zionisten hin. Er konstatiert, dass „der sozioökonomische Standort und die Mentalität der Gründungsgruppen fast völlig identisch" gewesen wären. Zwar hätten sich die Gegensätze zwischen ZVfD und C.V. nach dem Krieg verschärft, doch seien auch danach in beiden Lagern „Differenzierungen" zu erkennen. Einige Vertreter der älteren Generation deutscher Zionisten seien im C.V. verblieben, „solange dies möglich war", während der C.V. zunehmend mit der Propaganda radikaler Anrizionisten rang. Insgesamt sei die Verschärfung des Konflikts aber den Zionisten anzulasten, vor allem der Gruppe „radikal ,palästino-zentrischer' jüngerer Intellektueller, die nach 1912 die Führung der ZVfD übernahmen" (Barkai 2002, S. 50-54).

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disparater Einstellungen ist indes ausgerechnet der für jüdische Binnenverhältnisse so elementare Sprachaspekt ungenügend bis gar nicht berücksichtigt worden. Das verwundert, könnte die Divergenz-These doch gerade mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen liberal-jüdischen und zionistischen Sprachbewertungen Festigung erfahren. Einen der einschlägigsten Gründe liefert der so genannte Sprachenstreit in Palästina. Er kann in dieser Untersuchung nicht unterschlagen werden, ist aber im Unterschied zu anderen sprachthematischen Aspekten gut dokumentiert.95 Im Folgenden soll es deshalb wiederum nur um die wichtigsten Stationen des Konfliktes gehen. Erst danach wird die in der Forschung eher vernachlässigte Gegenposition gestärkt: die Konvergenz- oder KompatibilitätsThese, welche die „deutschen Bahnen" zionistischer Grundpositionen zu Sprache und Kultur unterstreicht.96 Wieder interessiert hier primär die öffentliche Diskussion, weshalb dieses Mal einschlägige Stellungnahmen zu Sprache in der „Jüdischen Rundschau" unsere Hauptquelle bilden.97 Daneben kommen vereinzelt Noten aus anderen zionistischen Blättern wie der „Welt" und dem „Juden" zu Wort. 4.2. Divergenz oder Konvergenz? Die deutschen Zionisten und der Sprachenstreit Der „Hilfsverein der deutschen Juden", 98 dessen bekannteste Persönlichkeit Paul Nathan zugleich Vorstandsmitglied im Centraiverein war, unterhielt seit den ersten größeren Einwanderungswellen russischer Juden nach Palästina ab 1905 eigene Schulen in dieser Provinz des kränkelnden Osmanischen Reiches. Die Bildungsarbeit im zunehmend jüdisch besiedelten

95 96

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98

Zu verweisen ist insbesondere auf Eloni, der die verschiedenen Phasen des „Sprachenstreits" materialreich aufgeschlüsselt hat (Eloni 1987, S. 313—356). Immer wieder bei Bering 1999, S. 3 1 8 - 2 6 und ders. 2002, S. 285f.; früh anklingend schon bei Poppel, der auf die deutsche Züge des Zionismus („The Germaness of German Zionism") hinweist (Poppel 1977, S. 123—135), allerdings ohne den Kultur-Parameter Sprache zu berücksichtigen. Für wertvolle Quellenhinweise zur „Jüdischen Rundschau" danke ich Julia Heinen, Nathanael Riemer und vor allem Ellen Bülte, die mir ihre unveröffentlichte Magisterarbeit zur Sprachenpolitik in der JR zur Verfügung gestellt hat. Der Hilfsverein, 1901 gegründet von James Simon und Paul Nathan mit Hauptsitz Berlin, hatte vor 1 9 1 4 ca. 20 000 Mitglieder. Er widmete sich schwerpunktmäßig der Erziehungstätigkeit in Palästina und Osteuropa, insbesondere an dortigen Schulen und Kindergärten. In seinen Reihen gab es „viele Antizionisten und liberale Assimilanten" (Reinharz 1981, S. 118).

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und kultivierten Palästina warf rasch die Frage nach der ersten Unterrichtssprache an den dortigen Schulen auf. An ihr entzündete sich ein langwieriger Konflikt zwischen (meist anti-zionistischen) Anti-Hebraisten und (zumeist pro-zionistischen) Hebraisten, der in den C.V.-Organen und der JR offen ausgetragen wurde. Auf dessen Höhepunkt stellte von radikal-reformatorischer Warte aus das „Antizionistisches Actions-Comite" den Zionismus an die Seite des Rassenantisemitismus, weil er dessen Blutund-Boden-Theorien übernommen und diese dann dem Kunstprodukt einer jüdischen Sprache übergestülpt habe;99 und auf radikalzionistischer Seite schrieb Elieser Ben Jehuda, Pionier der Revitalisierung des Hebräischen und erster Herausgeber eines neuhebräischen Wörterbuches,100 in einem Brief an Paul Nathan: Man fühlt sich hier verletzt und des einzigen Heiligtums beraubt, auf dessen baldigen Besitz man gehofft hatte, und im ganzen Lande herrscht eine g e w a l t i g e A u f r e g u n g , d i e z u b e r u h i g e n a b s o l u t u n m ö g l i c h erscheint. Man ist zum Äußersten, zu allem und jedem entschlossen, und keine menschliche Kraft würde das verhindern können. Die Eröffnung des Technikums wird nicht ohne V e r g i e ß e n j ü d i s c h e n B l u t e s abgehen.101

Der Sprachenkampf stand demnach kurz vor einem blutigen Sprachenkrieg. Die Frage steht im Raum: Wie hatte es so weit kommen können? Zwar hatten der „Hilfsverein" und die ZVfD lange Zeit versucht, ihre gegenseitigen guten Beziehungen durch die Kontroversen zwischen liberalen und zionistisch orientierten Juden nicht beeinflussen zu lassen.102 Als sich das Augenmerk auch der deutschen Zionisten aber mehr und mehr auf die Erziehungsarbeit in Palästina richtete, kam es zwischen dem Hilfsverein und den Zionisten zum Streit über die Schulsprache vor allem an höheren Lernanstalten. Sollte den jüdischen Einwandererkindern nach Palästina, viele davon aus Deutschland oder dem jiddischsprachigen Russland bzw. Polen, der Lehrstoff primär auf Hebräisch oder auf Deutsch vermittelt werden? Wie zu erwarten, plädierte der Hilfsverein für die deutsche Sprache. Das war ideologisch, aber auch machtpolitisch begründet. Schließlich hatte sich der Hilfsverein gegenüber der kaiserlichen Regierung verpflichtet, Rücksicht auf den „deutschen Charakter" der Schulen zu

99

Vgl. dazu Eloni 1987, S. 3 2 4 - 3 2 7 .

100 Elieser Ben Jehuda (1857-1922) war 1881 nach Palästina eingewandert. Die umgangssprachliche Etablierung des Hebräischen als Neuhebräisch („Ivrit") geht wesentlich auch auf seine Initiative zurück. 101 JR 50, 12. Dezember 1913, S. 537 („Ein Brief Ben Jehudas"). 102 Eloni 1987, S. 318.

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nehmen.103 Schon früh kam deshalb von zionistischer Seite der Verdacht auf, der Hilfsverein wolle seine palästinensischen Lernanstalten zu Bastionen des Deutschtums formen. Anfang September 1906 druckt die JR einen Artikel der Jerusalemer hebräischsprachigen Zeitung „Haschkafa" ab, in dem gewisse „pangermanische" Bestrebungen des Hilfsvereins scharf angegriffen worden waren: Wenn der Hilfsverein der deutschen Juden wirklich ernste Germanisation treiben und sich der deutschen Regierung und Nation gefällig erweisen will, so sorge er dafür, daß entweder nur deutsch-jüdische wissenschaftlich gebildete Assimilanten hierherkommen, oder noch besser er verlege das Jerusalemer Lehrerseminar nach Berlin in die Nähe des Kaiserlichen Schlosses, nach dem Vorbilde der französischen „Alliance", welche unter ihrer speziellen Aufsicht den zukünftigen Jugendbildnern in Paris den nötigen französischen Nationalgeist einimpfen lässt. 104

Da die JR den Artikel nur als „launig ernste Betrachtung" deklariert, ohne sich von ihm zu distanzieren, legt Paul Nathan in einem Leserbrief Protest ein. Zu keinem Zeitpunkt, so Nathan, habe der Hilfsverein den Versuch unternommen, „deutschen Unterricht den Gemeinden im Orient aufzudrängen." Vielmehr habe man sich stets allein nach den Bedürfnissen der lokalen Institutionen und Gemeinden gerichtet.105 Während der „Sitzung des Kuratoriums des Technikums in Berlin" am 26. Oktober 1913, in der eine endgültige Regelung des Sprachenstreits für das 1911 gegründete Realgymnasium und das so wichtige „Jüdische Institut für technische Erziehung" (Technikum) in Palästina getroffen werden sollte, standen sich schließlich zwei diametrale und nur schwer versöhnliche Standpunkte gegenüber. Die zionistischen Vertreter, unter ihnen der bekannte Kulturzionist Achad Haam, wollten die hebräische Sprache als pädagogische Leitvarietät etablieren; denn das Hebräische diene, wie Achad Haam betonte, nicht allein dem Zweck der Verständigung:

103 Eloni 1987, S. 320. Feder stellt in seinem stark autobiografisch geprägten Nachwort auf „Paul Nathan, the man and his work" den Sprachenstreit so dar, als hätten sich Nathan und der Hilfsverein ausschließlich diplomatisch verhalten und den Ansprüchen der Zionisten an das Hebräische als Unterrichtssprache mehr als genüge getan. Am Ende aber zitiert auch Feder einen Ausspruch Nathans, der die keineswegs uneigennützigen Ziele des Hilfsvereins und deren endgültiges Scheitern offen legt: „The great plans which the Hilfsverein had in the East for linking the German culture with the German economy, as would have been natural and logical for the Asckenasi emigrants, aire dead for the time being" (Feder 1958, S. 77). 104 JR 36, 7. September 1906, S. 543 („Der Kampf der Mächte um einen Jerusalemer Schuldirektor"). 105 JR 37, 14. September 1906, S. 555 (Paul Nathan:„An die Redaktion der Jüdischen Rundschau").

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Für uns handelt es sich nicht darum, daß die Kinder hebräisch sprechen können, es handelt sich darum, daß die Kinder hebräisch fühlen. 106

Paul Nathan und der Hilfsverein hielten dem dagegen, dass fehlende Lehrmaterialien sowie mangelnde Berufsperspektiven der Schulabsolventen eine derartige Bevorzugung des Hebräischen unmöglich machten. Da Nathan trotz eines Kompromissangebotes liberaler Kuratoren, nur einzelne Schulfächer auf Hebräisch unterrichten zu lassen, unnachgiebig blieb, kam es schließlich zum Eklat: Ascher Ginzberg (Achad Haam), Schmaria Levin und Jechiel Tschlenow erklärten ihren Austritt aus dem Kuratorium. Sie zogen damit die Konsequenzen aus einem Versammlungsbeschluss, durch den sie die Hebräische Sprache zugunsten des Deutschen benachteiligt sahen.107 Tatsächlich aber hatte die Resolution die Sprachenfrage nur aufgeschoben. Die JR vom 31. Oktober 1913 veröffentlichte den Beschluss des Kuratoriums wörtlich. Dort heißt es: Eine offizielle Unterrichtssprache, die für alle Fächer der Institute bleibend obligatorisch ist, wird nicht eingeführt. Dem Hebräischen wird die eingehendste Pflege zuteil, entsprechend dem jüdischen Charakter des Technikums. Die naturwissenschaftlich-technischen Unterrichtsgegenstände werden in deutscher Sprache gelehrt, um den Schülern so den Anschluß durch eine der großen Kultursprachen an die wissenschaftliche Entwicklung der modernen Zeit zu vermitteln. 108

Der Leitartikler nannte in derselben Ausgabe die Ergebnisse des Kuratoriums „unbefriedigend"109. Nathans Beteuerungen, sich für die hebräische Sprache einzusetzen, versuchten nur die wahren Motive des Hilfsvereins zu verdecken. In Wirklichkeit bezwecke man, das Hebräische aus den palästinensischen Schulen zu verdrängen. Dass die jüdische Traditionssprache nicht „die alles tragende Form des Unterrichts", sondern nur ein „Unterrichtsgegenstand" von vielen sein solle, könne nicht hingenommen werde. Auch dürfe es nicht angehen, Hebräisch allein deshalb rudimentär zu lernen, um die religiösen „Urtexte" studieren zu können. Hebräisch werde am besten „vom Munde der Mutter" gelernt. Spätestens damit war das eigentliche Ziel preisgegeben, die Kontur des Konflikts noch einmal nachgezogen. Hilfsverein und Hebraismus

106 Protokoll der Sitzung des Kuratoriums des Jüdischen Instituts für technische Erziehung in Palästina am 26. Oktober 1913, C Z A Z3/1569. Vgl. Eloni 1987, S. 320. 107 Vgl. Eloni 1987, S. 320. 108 JR 44, 31. Oktober 1913, S. 470 (U. Ginzberg; Schmarja Levin; Ε. W. Tschlenow: „Vom Technikum in Haifa"). 109 JR 44, 31. Oktober 1913, S. 467 (Η. H.: „Das jüdische Technikum").

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konnten nicht zusammenkommen, denn das Konzept der Fremdsprache Hebräisch stand gegen das Ideal einer hebräischen Muttersprache im Alltag, dem das pädagogische Leitidiom selbstverständlich zu entsprechen hatte. Von da an berichtete die JR beinahe in jeder Nummer ihrer Editionen vom November/ Dezember 1913 über den Sprachenstreit. Anfangs um einen eher moderaten Stil bemüht, beschränkte sich die Redaktion zunächst darauf, aussagekräftige Stellungnahmen aus hebräischsprachigen Zeitschriften wiederzugeben. In einer, „Hazephirah", war ein Leitartikel veröffentlicht worden, den die JR ins Hebräische übersetzte. Der Publizist hatte betont, dass trotz aller Spannungen „die angesehenen und einflussreichen Personen, die im Hilfsverein der deutschen Juden tätig sind, uns näher stehen, als andere Kreise." Nach wie vor wolle man sich nicht zu den „Radikalen" rechnen, die Arbeit des Hilfsvereins „rühmen" und auf Ausgleich hoffen. Doch sei die Grenze der Toleranz klar gesteckt, denn diese Frage unserer nationalen Sprache in unserem nationalen Lande ist die Frage v o n Sein oder Nichtsein. [...] w i r w e r d e n das, was uns w e r t und heilig ist, zu verteidigen wissen: unsere nationale Sprache in Erez Israel. W e r f ü r das Hebräische ist, der k o m m e zu u n s ! 1 1 0

Noch einmal sei daran erinnert: Der Sprachenstreit eskalierte nur wenige Monate, nachdem sich die latenten Spannungen zwischen C.V. und ZVfD in zwei geharnischten Resolutionen entladen hatten. Dennoch bemühte sich gerade die JR lange Zeit um eine eher abwägende, dokumentierende Beurteilung der Auseinandersetzung. Wie Eloni konstatiert, konnte die ZVfD an einer .„zweiten Front' gegen eine finanzkräftige jüdische Organisation" nicht interessiert sein, zumal der Hilfsverein von der deutschen Regierung protegiert wurde.111 Zunehmend aber verschärften sich die Fronten, denn auch den deutschen Zionisten dämmerte allmählich, „daß es um mehr ging als nur die Unterrichtssprache am Haifaer Technikum. Es ging um das Hebräische als Muttersprache des werdenden Erez Israel."112 Das Ideal war in der Realität angekommen. Jetzt musste es Vitalität beweisen. In diesem Kontext geriet der Sprachenstreit zur Schicksalsfrage der Kulturzionisten. Würden sie in Palästina unterliegen, so schien das ganze Projekt einer Revitalisierung der jüdischen Traditionssprache als nationenkonstituierende Umgangssprache gefährdet.113 „Der Schüler", so

110 111 112 113

JR 45, 7. November 1913, S. 480 („Das Technikum"). Eloni 1987, S. 321. Ebd., S. 322. Vgl. die Resolution des Zionistischen Aktionskomitees, dargelegt in JR 48, 28. November 1913, S. 513 („Die A.-C.-Sitzung"): „Das Große Actions-Comite [...] ist der Ueberzeugung, dass die Durchführung dieser Beschlüsse [des Kuratoriums] die schwere und erfolgreiche

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stellte es der Protestler Schmaria Levin in einem Interview klar, „kann ja nicht zwei Muttersprachen haben." Zudem könne eine Sprache nur mit einem Volksleben erwachen [...] Es ist unpädagogisch und unwissenschaftlich, die Sprache anders betrachten zu wollen denn etwas Organisches, dem Leben Entspringendes, Lebendiges. Die Diaspora hätte das unerhörte und ungeahnte Aufblühen der hebräischen Sprache als Umgangs- und Muttersprache nie erzeugen können [...] Nur mit [...] einer jungen Generation, die nicht nur in der Vergangenheit hebräisch denkt, sondern in der Gegenwart hebräisch fühlt und sich auslebt, ist dieser Aufschwung möglich geworden. 114

Natürlich änderte sich mit dem Hebräischen die Konstante, doch steht hinter Levins „kultureller Renaissance" eine Muttersprachenideologie, die durchaus Parallelen zur Einstellung des Centraivereins aufweist. Laut Levin durfte die individuelle Haltung zur Sprache eben nicht nur in der rationalen Sphäre eines Vergangenheitsbezugs belassen werden, sondern sie war - als „Organisches, dem Leben Entspringendes" — in die emotional erlebte Gegenwart zu überführen. Die Trennlinie zur C.V.-Ideologie war wiederum mit dem Begriff „Volksleben" markiert, den die liberalen Juden, sensibel geworden für antisemitisch ,verminte' Termini, vorwiegend vermieden hatten. Nun ging es Schlag auf Schlag. Unzähligen Demonstrationen, Versammlungen und Petitionen in den Instituten des Hilfsvereins standen zionistische Aktionen wie beispielsweise ein „ P r o t e s t m e e t i n g unter freiem Himmel" in Haifa gegen „die Verdrängung des Hebräischen aus der Mittelschule".115 Schüler verließen die Lehranstalt, Lehrer traten in den Streik. Diese Atmosphäre entschlossenen Widerstandes auf Seiten der Lehrenden und Lehrenden habe, so Eloni, bei den deutschen Zionisten zu einem Bewusstseinswandel geführt.116 Man erkannte die Notwendigkeit, die „Rolle der hebräischen Einheitssprache für Palästina" gegen - so die

Arbeit der Wiederbelebung der hebräischen Sprache untergraben und dem Institut seinen jüdischen Charakter nehmen würde." 114 JR 47, 21. November 1913, S. 502 („Das Technikum"). 115 JR 48, 28. November 1913, S. 514 („Das Technikum"); JR 50, 12. Dezember 1913, S. 536 („Das Technikum"); JR 52, 25. Dezember 1913, S. 558 („Der Sprachenkampf in Palästina"). 116 Eloni 1987, S. 322.

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damalige Diktion — „germanisierende Tendenzen des Technikums"117 und „Galuthinteressen" des Hilfsvereins118 durchzusetzen. In ihrer Ausgabe vom 12. Dezember 1913 druckt die JR einen Artikel nationaljüdischer Lehrer an den palästinensischen Schulen des Hilfsvereins ab, der in der hebräischsprachigen Jerusalemer Tageszeitung „Hacheruth" veröffentlicht worden war. Dort wird der Rücktritt aller führenden Persönlichkeiten des „Hilfsvereins" gefordert und „der Geist der heuchlerischen Assimilation" angeprangert. Die Sprache Israels sei zu heiligen und in letzter Konsequenz das eigene Leben im Dienst des Hebraismus zu opfern: „Man ziehe den Tod der Übertretung des Gesetzes vor."119 Mit keinem Wort distanziert sich die JR von diesem ungewöhnlich radikalen Statement. Nun war von „Kämpfern für die heilige Sprache"120 und vom „ruhmvollen Kampfe um die Gleichberechtigung unserer nationalen Sprache"121 die Rede. Wenngleich die JR hier nur aus Protestresolutionen diverser zionistischer Organisationen zitierte, so standen diese martialischen Bemerkungen wie eigene Kommentare im Raum. Auf großformatige Aufrufe zur „Verteidigung" des Hebräischen in der JR vom 19. und 25. Dezember 1913 folgte am 5. Februar 1914 eine ganzseitige Anzeige in mehreren liberal gesinnten deutschen Tageszeitungen, in der die Unterzeichner zum Boykott gegen die deutschen Zionisten aufriefen. 300 jüdische Persönlichkeiten hatten der Erklärung ihre Unterschrift gegeben, darunter deutsch-jüdisch Prominente wie Ernst Simon, Hermann Cohen und Paul Nathan.122 Mit diesem Anzeigenkrieg, zweifellos vom Sprachenstreit direkt beeinflusst, war der Konflikt in die entscheidende Phase getreten. Das Zünglein an der Waage spielten schließlich die amerikanischen Kuratoren des Technikums, auf deren finanzielle Unterstützung der Hilfsverein angewiesen war. Sie drängten darauf, Hebräisch nach einer Übergangsfrist von sieben Jahren als alleinige Unterrichtssprache in allen Fächern des Technikums zu etablieren.123 Dem

1 1 7 Briefe und Telegramme aus Palästina, Brief der Organisation der jüdischen Lehrer in Palästina (Merkas Hamorim) an das E. A. C. der Zionistischen Organisation vom 15. November 1913, S. 5, CZA D D 820. Vgl. auch JR 48, 28. November 1913, S. 514 („Das Technikum"): „Germanisierung des Technikums". 118 JR 52, 25. Dezember 1913, S. 557 (H.: „Sprüche und Widersprüche des Antizionistischen Komitees"). Man habe mit dem Hilfsverein kooperiert, „bis er den Frevel beging, dem aufblühenden Palästina Galuthinteressen aufzwingen zu wollen". 119 Das Ausspruch ist eine Anspielung auf 2 Makk 7,2: „Eher sterben wir, als daß wir die Gesetze der Väter übertreten." 120 JR 5 0 , 1 2 . Dezember 1913, S. 536 („Das Technikum"). 121 JR 52, 25. Dezember 1913, S. 558 („Der Sprachenkampf in Palästina"). 122 Vgl. dazu wiederum Eloni 1987, S. 347-354. 123 Vgl. ebd., S. 341 f. und S. 354.

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Hilfsverein blieb keine andere Wahl als nachzugeben. Und so konnte das „Zionistische Actions-Comite" 1914 in einer eigens publizierten Schrift zufrieden verkünden: „Die Prinzipien, für die wir gekämpft haben, haben sich durchgesetzt."124 Das Konzept einer Revitalisierung des Hebräischen in Palästina, für das Namen wie Achad Haam oder Elieser Ben Jehuda stehen, hatte an den palästinensischen Schulen seine erste, vielleicht wichtigste Bewährungsprobe bestanden. Auffällig ist, dass IdR diesen Sprachenkampf zwischen Zionisten und Hilfsvereinsmitgliedern anfangs mit keinem Wort erwähnt, obwohl er für andere liberale jüdische Blätter durchaus ein Thema war.125 Erst im Februar 1914 stellt die Redaktion anlässlich von Nathans Schrift „Palästina und palästinensischer Zionismus" die Frage, „ob der Hilfsverein mit seinem oder die Zionisten mit ihrem Programm das Richtige für die Heranbildung der palästinensischen Jugend getroffen haben." Die Antwort überrascht nicht. Nathans Stellungnahme gegen (zionistische) „Fanatische Agitatoren" sei eher Glauben zu schenken — auch gegen alle Zweifler, die fragten: „Woher wisst Ihr, daß diesen Geboten [zu friedlichen Übereinkünften] seitens der Zionisten in Palästina entgegengehandelt wurde?" Wir wissen es durch die obige Broschüre des Herrn Dr. Nathan, dessen Liebe zum Judentum, und vor allen Dingen zur Wahrheit, einem jeden Kenner seiner Person und der Zeitumstände seit Jahrzehnten bekannt ist. Die Meinungen eines solchen Mannes können irrig sein, seine tatsächlichen Angaben sind nicht falsch. 126

Mochte dieser kurze Artikel noch so vorsichtig formuliert sein - die Sympathien für Nathan und die Sache des Hilfsvereins lassen sich darin nicht verbergen. Das auffällig lange Schweigen im C.V.-Organ könnte hierin seine Ursache haben: Einer auf breite Zustimmung angelegten Massenorganisation wie dem C.V., der sich offiziell der Überparteilichkeit verschrieben hatte, konnte nicht daran gelegen sein, sein deutsches Sendungsbewusstsein in Palästina an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, zumal sich spätestens im Februar 1914 die Niederlage des Hilfsvereins abzeichnete. Irgendwann aber ließ es sich nicht mehr vermeiden, eindeutiger Position zu beziehen, denn den anti-zionistischen Boykottaufruf hatten auch führende Mitglieder des Centraivereins signiert. Nachdem der Sprachenstreit endgültig zugunsten der Zionisten entschieden war, breitete

124 Zionistisches Actions-Comite, Im Kampf um die hebräische Sprache, 1914, S. 71. 125 Selbst in überregional unbedeutenden Zeitschriften wie dem „Israelitisches Gemeindeblatt" in Köln wurde der Sprachenstreit ausführlich diskutiert (vgl. die Ausgaben des Blattes vom 7. November 1913 bis zum 27. Februar 1914). 126 IdR 20, Heft 2, Februar 1914, S. 87f. („Palästina und palästinensischer Zionismus").

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die C.V.-Publizistik wiederum einen Mantel des Schweigens über die Affäre. Erst viel später, in einer Gedenknummer zum Tode Paul Nathans vom 14. April 1927, wird noch einmal an die denkwürdigen Ereignisse erinnert. Zu einem Zeitpunkt, da die Fortschritte der Sprachrevitalisierung in Palästina auch vom Centraiverein nicht mehr zu übersehen waren, ehren Alfred Wiener und Ephraim Cohn-Reiß den verstorbenen Nathan als Vorkämpfer des Hebraismus.127 Cohn-Reiß, ehemaliger Direktor der Lehranstalten des Hilfsvereins, deutet das zionistische Verhalten sogar als eine Art Propagandafeldzug gegen Nathan und den Hilfsverein, dessen Schulen erst „das Hebräische in Palästina als lebendige Sprache eingebürgert hatten." Um eine vorläufige Bilanz zu ziehen: Gerade der Sprachenstreit scheint geeignet, die Divergenz-These zu stützen. Schließlich hatten sich die deutschen Zionisten nach einer Phase des Zauderns mit aller Kraft gegen eine höhere Repräsentanz ihrer deutschen Muttersprache gestemmt und das Hebräische öffentlichkeitswirksam zu stärken versucht. Sie waren dadurch in eine irreversible Opposition zum Hilfsverein getreten, der die Sympathien des Centraivereins genoss, weil er das Projekt ,Deutschtum in Palästina' nicht völlig aufzugeben gewillt war. Die deutschen Zionisten hatten sich, so scheint es, vom „Geist der Assimilation" endgültig verabschiedet, während der Centraiverein ihm nach wie vor anhing. Das musste nicht auf Palästina beschränkt bleiben. Wenn es in der JR Ende Januar 1903 heißt: „Es giebt [sie!] kein Judentum ohne Hebräisch, wie es keine Kirche ohne Kreuz gibt"128, dann liest sich das beinahe wie ein Diktum, das alle des Hebräischen Unkundigen aus der jüdischen Gemeinschaft auszuschließen droht. Der Kampf für das Hebräische und gegen das Deutsche, in Palästina entschieden, konnte nun auf die Diaspora ausgeweitet werden. Die Aufgabe, gegen eine solche Sprachkonzeption zu opponieren, musste dementsprechend allein in den Händen der Liberalen liegen. Unter diesem Eindruck stehend, ist die Aufdeckung des ideologischen Hintergrundes folgender Bemerkungen ein recht simples Unterfangen: Auch wir [...] sind mit Goethe und Schiller, mit Lessing und Herder, mit Kant und Fichte groß geworden. Wir genießen deutsche Bildung, wandern in deutschen Landen, dienen im deutschen Heere. Daher haben wir das Recht und die Pflicht, mit dem erforderlichen Takte an der deutschen Zukunft mitzuarbeiten.

127 CVZ 15, 14. April 1927, S. 208 (Alfred Wiener: „Die Palästina-Arbeit. Bodenständigkeit und Planmäßigkeit"); ebd. S. 209f. (Ephraim Cohn-Reiß: „Arbeit und Kampf im Heiligen Lande"). 128 JR 5, 30. Januar 1903, S. 33f. („Judentum ohne Hebräisch?").

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Auch wir [...] empfinden unsere seelische Verknüpftheit mit dem deutschen Volke, mit deutscher Landwirtschaft, deutscher Sprache, deutschen Dichtern und Denkern.

Quellenangaben scheinen hier geradezu überflüssig, derart vertraut klingt das Zitierte. Redet da nicht wieder ein überzeugter C.V.-Akteur, vielleicht sogar jener Felix Goldmann, dessen engagiertes Bekenntnis zum Kanon deutschsprachiger Klassik bereits vorgestellt worden war?129 „Kant und Fichte, Goethe und Herder, Schelling und Hegel — auf euch hat man sich stets berufen", auf sie wollte ja auch der von der Front heimkehrende Paladin des Centraivereins seine Hoffnung in ein neues, nicht übersteigert nationalistisches Deutschland setzen.130 Vielleicht mag den aufmerksamen Leser das vorangestellte „Auch wir" vor der Auslassung verwundern, doch in den anti-antisemitischen Kontext eingeordnet, ergibt es den uns nun schon längst vertrauten Sinn. Die vom Verfasser gesetzte Leerstelle ist demnach leicht auszufällen: „Auch wir liberalen deutschen Juden" (in Gedanken zu ergänzen ist dann: und nicht nur ihr Judenfeinde, die ihr uns verschmäht und verleumdet!) sind Kinder der Aufklärung, auch wir sind Schüler der deutschen Klassik, aufgewachsen mit den Gütesiegeln deutscher Kultur, dem schillernden Oeuvre ihrer „Dichter und Denker". So gelesen, stehen die Zitate wie reinste Offenbarungen des deutschen Teils der „geeinten Zwienatur" da — eben wie sehr persönliche Beglaubigungen der Programmatik des Centraivereins. Jedoch ist hier eine kleine Falle gestellt worden, denn für die zitierten Sätze zeichnen sich nicht Exponenten des Centraivereins verantwortlich, sondern ganz im Gegenteil dessen innerjüdisch ärgste Widersacher, Zionisten also. „Auch wir deutschen Zionisten", heißt es dementsprechend beide Male in der „Jüdischen Rundschau",131 und die Vergleichsmasse bilden dann weniger die Antisemiten als die Gegner auf Seiten der Akkulturation. Das drängt Fragen auf. Warum finden sich derartige Äußerungen ausgerechnet im wichtigsten Organ des deutschen Zionismus? Wie sind diese und andere Bekenntnisse zur deutschen Sprache und Kultur132 in einen glaubhaften Zusammenhang mit der immer wieder gehörten und in Palästina dann ja verwirklichten Forderung zu bringen, der Nationaljude müsse dies alles baldmöglichst, je früher desto besser, hinter sich lassen und fort129 Vgl. Kap. V. 5.1, S. 184. 130 CVZ 29, 19. Juli 1929, S. 383 (Julius Goldstein: „Geistes Heimkehr"). 131 Erstes Zitat aus: J R 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend"); zweites Zitat aus: JR 8, 28. Januar 1925, S. 73 ( M.S. Dik: „Unvergessenes"). 132 Vgl. ein Wort von Elias Auerbach aus dem Jahr 1902: „Kein deutscher Jude, der zum Zionismus kommt, gebe sein Deutschtum oder die Liebe zum Deutschtum auf" QR 48, 28. November 1902, S. 66, Elias Auerbach: „Unnötige Sorgen").

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an nur noch Hebräisch reden, also die Fremdsprache zur Muttersprache erheben? Natürlich ist der zeitliche Abstand zwischen all diesen Auslassungen genauso zu berücksichtigen wie ihre historischen Kontexte, in die sie jeweils eingebettet sind. Wenn etwa Paul Michaelis im Mai 1914 von der „Pflicht" spricht, „mit dem erforderlichen Takte an der deutschen Zukunft mitzuarbeiten",133 dann findet dieses Treuebekenntnis seine Gründe auch in der Atmosphäre einer langsam, aber sicher aufkommenden Kriegsbegeisterung, der sich die deutschen Zionisten anfangs ebenso wenig entzogen haben wie die meisten liberalen Juden. Berücksichtigt werden muss ferner die erwähnte programmatische Wende seit 1910, als die ZVfD und mit ihr die JR immer mehr von dem Standpunkt abrückten, man sei in erster Linie Deutscher und erst dann Zionist. Der sich ab 1913/1914 verschärfende Konflikt mit dem Centraiverein ließ die Zweiheit „deutscher Zionist" mehr und mehr als Zwiespalt, ja als Widerspruch erscheinen. Doch wirkte sich dieser Kurswechsel seltsamerweise weit weniger auf die Einstellung zur Sprache als auf andere Ideologeme aus.134 Zudem finden sich in JR auch nach 1914 immer wieder Artikel, die in ihren Gedankengängen spezifisch deutsche Züge verraten. „Deutsch" und „Hebräisch" mussten sich auch von da an keineswegs ausschließen. So lobt noch knapp elf Monate nach Hitiers Machtergreifung, am 22. Dezember 1933 [!] nämlich, ein Schreiber die „Treue" der Juden zur deutschen Sprachgemeinschaft vom Mittelalter bis heute135, nachdem drei Ausgaben zuvor für kontinuierlichen hebräischen Fernunterricht geworben worden war.136 Auch die These der innerjüdischen Konvergenz hat demnach gute Argumente auf ihrer Seite, zumal wenn man die Linie zwischen politischem Zionismus und Kulturzionismus, zwischen dem westeuropäischdeutschen und osteuropäisch-russischen Nationaljudentum streng zieht. Ganz klar: Nicht Unterschiede, sondern Parallelen sind für das Verhältnis von deutschen Nationaljuden und deutsch-jüdischen Akkulturationisten die entscheidenden Triebkräfte gewesen. Die überwiegende Zahl der politisch orientierten Zionisten hat die deutsche Kultur nur unwesentlich anders beurteilt als die nicht-zionistische Mehrheit unter den deutschen Ju133 JR 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend"). 134 Zum Konflikt zwischen C.V. und Z V f D seit 1 9 1 3 / 1 9 1 4 vgl. ζ. B. Matthäus 1986, S. 3 1 - 3 9 . Auch für die sehr innovative Arbeit von Matthäus gilt die nun oft gelesene Einschränkung: Sie enthält so gut wie nichts zur zionistischen Einstellung zur Sprache. 135 JR 102, 22. Dezember 1933, S. 990 („Die Juden in der deutschen Sprachgemeinschaft"). 136 JR 99, 12. Dezember 1933, S. 940 („Hebräischer Fernunterricht in der Jüdischen Rundschau").

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den. Beide Lager fühlten sich der Kultur und Sprache ihrer deutschen Lebenswelt eng verbunden, und auch deutschen Zionisten war der Gedanken fremd, die von ihnen zwar hoch geachtete, aber der eigenen Lebenswelt entfremdete Sakralsprache Hebräisch könnte einmal den Status einer umgangssprachlichen Leitvarietät in der Diaspora erringen. Durchaus war eine „gutjüdische Erziehung mit hebräischem Wissen" für die Kinder erwünscht, dann aber „natürlich [mit] deutscher Kultur"137. Obwohl ihm „die Assimilations sucht ein Greuel ist", so scheint der deutsche Zionist von 1903 doch nach „vier Generationen des übermächtigen [!] deutschen Kulturlebens" letztlich „nicht weniger assimiliert, als jeder andere Jude". 138 Dass die Privatbibliothek eines Theodor Herzl zwar eine Vielzahl deutscher Klassiker, jedoch kein einziges hebräischsprachiges Buch enthielt, kommt einer solchen Argumentation zupass. Wenn der deutsche Zionismus tatsächlich als ein postassimilatorisches Judentum mit Dissimilationsschüben definiert werden kann, dann doch nur deshalb, weil die Mehrzahl seiner nicht aus Osteuropa stammenden Exponenten inklusive Blumenfeld selber längst assimiliert war — und sich aus dieser lebensweltlichen Bindung ans Deutsche erst in einem ungeheuren Kraftakt befreien musste. Die Widerstände innerhalb des deutschen Zionismus gegen den Beschluss des 18. Delegiertentags im Juni 1912, die Übersiedlung nach Palästina zur Pflicht eines jeden Zionisten zu machen,139 waren beträchtlich. So stand kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Gruppe deutscher Zionisten unter der Führung Adolf Friedemanns, Max Isidor Bodenheimers und Franz Oppenheimers vehement gegen Blumenfelds Appell zur „Entwurzelung" (vom deutschen KulturBoden) auf.140 Und doch klafft hier eine Plausibilitätslücke. Eine solch einseitige Deutung in Richtung Konvergenz kann genauso wenig wie die erwähnte Di137 JR 25, 19. Juni 1914, S. 267 (Adolf Friedemann in: „Der XIV. Delegiertentag in Leipzig"). 138 JR 7, 13. Februar 1903, S. 50 (Elias Auerbach: „Deutsche Kultur im Zionismus"). Der Arzt und Bibelforscher Auerbach siedelte als einer der ersten Zionisten 1909 nach Palästina über. 139 Vgl. Lichtheim 1970, S. 128; die Resolution, welche die Umstellung der ZVfD von einem politischen Zionismus Herzischer Prägung zu einem praktischen, palästino-zentrischen Zionismus einleitete, wurde von den Delegierten Zlocisti und Esterman eingebracht und war stark beeinflusst von Blumenfelds ideologischer Vorarbeit (vgl. Reinharz 1981, S. 106). 140 Vgl. Lichtheim 1970, S. 128. Der Rechtsanwalt Max Bodenheimer (1865-1940) betonte in einem Brief an Friedemann vom 29. Mai 1914 die Möglichkeit einer zweifachen Sendung: deutsch-patriotisch und palästino-zentrisch. Er unterstrich, „dass ich mich den nationalen Interessen und Empfindungen des deutschen Volkes auf das Innigste verbunden fühle" und kanzelte Blumenfelds Position als „Phrasengedresche und Gewäsche" ab (Max Bodenheimer: „Zionistische Arbeit und deutsche Volkszugehörigkeit", Brief an Adolf Friedemann vom 29. Mai 1914, CZA A 15/I/8/e; vgl. Reinharz 1981, S. 131).

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vergenz-These die zahlreichen Ambivalenzen in der zionistischen Haltung zu Sprache und Kultur erklären. Sie vermag erstens keine triftige Antwort darauf zu liefern, wie angesichts einer derartigen Übereinstimmung in der Kulturbewertung die oftmals schonungslos ausgetragenen Differenzen zwischen Zionisten und C.V.-nahen Juden überhaupt möglich waren. Im Falle des eskalierten Sprachenstreits in Palästina wirkt der Konvergenzgedanke nahezu absurd: Warum schwieg das C.V.-Organ dann, statt sich überglücklich darüber zu zeigen, dass die Hebraisten sich auf Palästina und nicht auf die Diaspora stürzten? Zweitens macht obige Argumentation kaum nachvollziehbar, weshalb das Nationaljudentum auch in seiner kulturzionistischen Form schon lange vor 1933 eine solch große Anziehungskraft vor allem auf die jüngere Generation deutscher Juden hatte ausüben können, die sich ja gerade — wie Scholem, wie Blumenfeld, wie Lichtheim - von der assimilatorischen Lebenswelt ihrer Eltern zu lösen suchten.141 Und drittens bleibt bei übermäßigem Insistieren auf die deutschen Geistesbahnen des deutschen Zionismus unklar, warum die völkischen Antisemiten gerade die Nationaljuden von ihren Attacken auffallend ausnahmen.142 Bringt man all dies in Anschlag, so fällt es nicht leicht, eine Bilanzierung mitzutragen, nach der die nationaljüdischen Schritte zum eigenen Staat „eindeutig, fast in erschreckender Weise" dem „typisch deutschen Weg" gefolgt seien.143 Höhere Plausibilität kann der Argumentation nur dann bescheinigt werden, wenn es ihr gelingt, die Ubergänge zwischen zwei Extremen — Affirmationen der deutsch-jüdischen Akkulturationstradition hier, Forderungen nach Dissimilation und Hebraisierung bis hin zu offenen Auswanderungsappellen dort — innerhalb des deutschen Zionismus aufzuweisen. Es gilt also, beide Thesen zum liberaljüdisch-zionistischen Verhältnis — die Vorstellung totaler Verschiedenartigkeit und das Denkmodell größtmöglicher Übereinstimmung - zu vereinen. Zu zeigen ist dann, ob und wenn ja, auf welche Weise die Vertreter des Nationaljudentums tradierte signifikan141 Gershom (Gerhard) Scholem beispielsweise war gerade einmal 14 Jahre alt, als er begann, sich von seinem Elternhaus innerlich abzukehren, dem er Apathie gegenüber der jüdischen Religiosität vorwarf. Seiner Überzeugung nach war der Zionismus in Deutschland anfangs nicht in erster Linie politisch motiviert, sondern eine Rebellion der Jungen gegen die „Selbsttäuschung vom vollkommenen Deutschtum" der Väter. Das Erlernen der hebräischen Sprache empfand er als einen ersten Schritt in diese Richtung (vgl. Shedletzky 2002, S. 50-53). 142 Vgl. Kap. IV. 2.7, S. 152. 143 Bering 2002, S. 289. Bering untersucht in diesem Aufsatz die These einer spezifischen „Wesensverwandtschaft" von Juden und Deutschen gerade im Hinblick auf ihre kulturellen, sprachlichen und nationalen Bestrebungen. Die zionistische Perspektive wird nur angedeutet.

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te Denkmuster in Deutschland zu nutzen wussten, um die weitaus ältere Tradition einer hebräischsprachigen Nation aufs Neue aufleben zu lassen. Denn wenn der Zionismus in seiner ganzen ideologischen und politischen Stoßrichtung tatsächlich als „ein Teil des europäischen Nationalismus" zu betrachten ist,144 dann müssen sich diverse Phänomene und Paradigmen des deutschen Nationalismus auch an zionistischen Sprachentwürfen aufweisen lassen. Deutlich wird: Es bedarf umfangreicheren Materials, um diese Dichotomie eines Lebens in „deutscher Zukunft" einerseits und der Koppelung des jüdischen „Lebensnervs" an das Hebräische145 andererseits stimmig erklären zu können. Die folgende Analyse ist ein Versuch genau in diese Richtung. Sie soll zeigen, welch nationenstiftende Dynamik weite Kreise unter den Kulturzionisten der religionsursprünglichen Traditionssprache zugemessen haben und wie sie — bei aller Abgrenzung zur Assimilation — den Gedanken einer in der Sprache geeinten jüdischen Nation auf Grundlagen stellten, die ihnen gerade als deutsche Juden vertraut gewesen sind. Wiederum sind die einschlägigen Argumente für das Hebräische als direkte oder indirekte Reaktionen auf die Contra-Argumente des C.V. verstanden. Diese werden der besseren Übersichtlichkeit halber jeweils in Klammern beigefügt. Genau wie die zuvor dargestellten Verteidigungslinien der C.V.-nahen Juden gegen antisemitische Attacken waren die zionistischen Plädoyers zugunsten einer Neuetablierung des Hebräischen meist nicht nur Ausdruck einer argumentativen actio, sondern Teil einer rhetorischen refutatio: eines Widerlegungsversuchs des Gegners. Weil viele Kulturzionisten das Wohl und Wehe einer künftigen jüdischen Nation an die zukünftige Rolle des Hebräischen banden, mussten sie die jüdische Ursprache eben auch apologetisch stärken. Ihr Argumentationsmuster folgt in meiner Analyse dem Schema: (1) Prämissen/ Affirmationen (des Sprachprogramms) (2) Konzessionen (an den liberal-jüdischen Gegner) (3) Nähe und Distanz (zur Diasporakultur) (4) Schlussfolgerungen

144 Brenner 2002b, S. 118. 145 JR 5, 30. Januar 1903, S. 33f. („Judentum ohne Hebräisch").

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4.3. Aber die Sprache [...] kbt. Die sprachdiachronische Affirmation: Die Vitalität und Progressivität des Hebräischen (Pro-Argument 1 zu Contra-Argument 114(S) Das Hauptargument des C.V. gegen eine Wiederbelebung des Hebräischen war der immer wiederkehrende Hinweis auf die vollkommene Absurdität dieses Vorhabens. Ein Idiom jenseits aller Vitalität, nahezu am Rande der Glottophagie stehend, werde sich, so die Behauptung, unmöglich revitalisieren lassen. Die zionistischen Schreiber der JR widersprachen dieser These entschieden. Ihre Widerlegung bildete die Grundvoraussetzung für alles Weitere.147 Mit ihr stand und fiel die gesamte kulturzionistische Programmatik, denn nur einer lebendigen bzw. vitalisierbaren Sprache konnte überhaupt erst eine nationenkonstituierende Dynamik zukommen. Die argumentative Strategie der JR-Zionisten wechselte zwischen direkter Konfrontation und scheinbarer Übernahme von C.V.typischen Denkmustern. So wurde für die These von der ungebrochenen Vitalität des Hebräischen ein Kronzeuge bemüht, dessen Stimmgewicht kein liberaler Jude überhören konnte: Herder. Nicht nur habe der große Humanist die poetische Supravalenz des Hebräischen nachgewiesen,148 seine Studien hätten ferner belegt, ... daß sie nicht die tote Sprache ist, f ü r die m a n sie hält. Alles in ihr ruft: „ich lebe, bewege mich, wirke. Mich erschufen Sinne und Leidenschaften, nicht abstrakte D e n k e r und Philosophen: Ich bin also f ü r den Dichter, ich bin selbst Dichtung." 1 4 9

Das Hebräische erfährt in diesem Passus einen Grad an Personalisierung, ja, Anthropologisierung, der kaum noch zu steigern ist. Die Sprache selbst ist schöpferische Poesie, geboren für Poeten, ein sinnliches, ein aus Passion erschaffenes Wesen — wer konnte da behaupten, das Hebräische sei „tot"? Hieran zeigt sich: Je stärker die Begründung eines Standpunktes die Position bzw. Denkweisen des Gegners mit einbezieht, desto Erfolg versprechender ist sie, lässt sich doch auf diese Weise das emotionale Potenzial einer Argumentation besser ausschöpfen. Auf der Grundlage eines 146 Vgl. die Überschrift zu Kap. V. 7.2. 1 4 7 Die Diskussion um den Sprachzustand des Hebräischen dauert bis in die heutige Zeit an (vgl. Harshav 1995, S. 181 f.). Der wertende Gebrauch von nicht-linguistischen Termini wie „Revitalisierung", „Wiederbelebung", „tote Sprache" wird in neuerer Forschung immer kritischer gesehen (vgl. Nir 1992, S. 71 f.). 148 Diese Werthaftigkeit nimmt eine Stellung a priori ein: „Die hebräische Sprache ist die poetischeste Sprache der Welt, ist poetisch schlechthin — das scheint mir das Hauptergebnis der Herderschen Untersuchung zu sein" (JR 101, 21. Juli 1928, S. 711, S. Meiseis: „Herder und die hebräische Sprache"). 149 JR 25, 21. Juni 1907, S. 256 (Loewy: „Vom Geist der ebräischen Poesie").

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vorläufigen Einverständnisses wird die Zurückweisung plausibler. In einer Rubrik der JR vom 20. März 1925 nimmt ein nicht namentlich genannter Schreiber zunächst den Gegenstandpunkt ein, indem er die Ausgangsfrage „Hebräisch eine lebendige Sprache?" überraschenderweise verneint: Mausetot ist sie, und zwar seit zweitausend Jahren. Hat man je gehört, daß ein Toter nach zweitausend Jahren wieder zum Leben erwacht? [...] item, die Tatsachen leugnet niemand, auch der verbohrteste Fanatiker des Hebräischen nicht. 150

Dann aber wird schnell deutlich, dass nach Uberzeugung des Publizisten ein solcher Vergleich zwischen der Revitalisierung einer Sprache und der Resurrektion eines Toten hinken muss, da sich das Hebräische trotz aller pragmatischen Mängel in beständiger Progression befunden hat und befindet. Durchaus in Anlehnung an Humboldts ergon-energeia-Satz streitet der Anonymus ab, dass sich die zumindest literarisch und orthografisch pausenlos gebräuchliche, religiös höchst bedeutsame Traditionssprache Hebräisch in einem Zustand der Stagnation befinde. Der vom C.V. diagnostizierte Exitus wird kurzerhand zum „Scheintod" erklärt, dem ja immer die Hoffnung anhaftet, der Patient werde irgendwann vollständig ins Leben zurückkehren. Mit dieser nicht unwichtigen Nuance gerät die Wiederbelebung zu einer Neubelebung. Der ,Tote' ist nicht tot — er schläft nur: Wir Zionisten wissen genau, daß auch heute noch die hebräische Sprache bedroht ist, daß ihre moderne Literatur relativ ärmlich ist, aber daß die Sprache lebt, daran ist unseres Erachtens nicht der leiseste Zweifel möglich. Ebensowenig wie daran, daß sie sich auch in den zweitausend Jahren ihres Scheintodes dauernd fortentwickelt hat. 151

Es kann kein Zufall sein, wenn ein anderer Publizist mit Formulierungen wie „Auferstehung unserer Sprache" oder „Wiedergeburt" an mythischreligiöse Kontexte erinnern lässt. Mit solch gewollten Assoziationen gewinnt der implizite Äquivalenzschritt, der die „nationale" eng an die linguale „Auferstehung" koppelt, deutlich an Zugkraft. Alles, was aufersteht, muss noch einen Rest an lebendigem Odem in sich getragen haben, sonst wäre jede Revitalisierung schlichtweg unmöglich. Neben die religiöse Symbolik tritt zudem eine Muttersprachenideologie, welche die Verwen-

150 JR 23, 20. März 1925, S. 206 („Rubrik: Rundschau"). 151 Ebd. Ein weiterer Beleg für diese Einschätzung: „Die vielverbreitete Meinung, dass die hebräische Sprache tot sei, ist entschieden falsch: denn von der Zeit an, da unser Volk die alten erhabenen Werke in dieser Sprache hervorbrachte, bis über das Mittelalter [...] lebte sie in einer grossen Literatur fort bis auf unsere Tage" (JR 46, 16. November 1906, S. 684, „Aufruf" [des „Zionistischen Zentralvereins" ,Wien]).

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dung det Traditionssprache als Antriebskraft nationaler Konstituierung zur unbedingten Aufgabe macht. Der alltägliche Gebrauch des Hebräischen wird nicht nur in Palästina, sondern auch in der Diaspora zur „Pflicht" erhoben. Von der deutschen, polnischen, russischen Muttersprache des Juden in der Diaspora ist dann ebenso wenig die Rede wie von der jiddischen Mameloschn. „Der Nationaljude der Diaspora" darf, will er nicht zum Verräter an der Idee des Nationalen werden, künftig nur noch einen Gast in seinem Haus empfangen: das Hebräische.152 Die lebendig gewordene, geheiligte Sprache wird zum Schibboleth der jüdischen Einheit, zum integrativen Symbol schlechthin erhoben und bildet damit, ganz im Sinne Achad Haams, das kulturelle Zentrum einer neu erwachten jüdischen Identität: Solange das jüdische Volk besteht, hat es stets ein Heiligtum gehabt als Zentrum des nationalen Lebens. In der Wüste hatte es das Stiftszelt und die Bundestafeln, im Lande den Tempel, im Galuth Thora und Gebote. Das Stiftszelt unserer Zeit ist die Sehnsucht nach der Erlösung aus dem Galuth und nach der Auferstehung unserer Sprache! 153

Dem Argument vom konservierten, in der Schrift geradezu mumifizierten Status des Hebräischen war also apologetisch entgegenzutreten. Indem das Hebräische zum Transporteur der historischen Gedankenwelten erklärt wird, gewährleistet es die Lebendigkeit der Tradition. Als Medium der Literatur erscheint es so als Heil- und Wundermittel zur Schaffung einer zeitlosen jüdischen Einheit, denn allein in ihr habe sich seit frühester Vergangenheit das gesamte Geistesleben des jüdischen Volkes kristallisiert; mit der Sprache muss daher die Vertrautheit mit der ewigen Gedankenwelt des Judentums, mit der eigentlich jüdischen Kultur, mit der Welt des hebräischen Schrifttums wachsen und sich steigern.154

In jedem hebräischen Wort steckt der Ursprung des Judentums, in jeder Silbe kulminiert der gesamte Schatz des jüdischen Geistes, und zwar auf diachroner wie synchroner Ebene. Wenn die Quintessenz des nationalen Gedankens darin besteht, sich qua Sprache „in einem unzertrennlichen

152 Wörtlich heißt es: „Die Pflicht des Hebräisch-Redens muß vom Volke mit derselben Gewalt und demselben Ungestüm verlangt und übernommen werden, wie die Pflicht der Beteiligung an der Bildung der gesicherten Heimstätte in Palästina. Der Nationaljude der Diaspora muß, gleichviel ob er daran denkt, in naher Zukunft nach Palästina zu ziehen oder nicht, die hebräische Sprache in sein Haus einführen, als seine und seiner Familie Muttersprache" (JR 13, 17. Februar 1920, S. 88, S. Jabneeli: „Die Anfänge der hebräischen Wiedergeburt"). 153 Ebd. 154 JR 3, 12. Januar 1908, S. 23 (Joseph Carlebach: „Ein jüdisches Lehrerseminar").

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historischen und ideellen Zusammenhang mit den Judenschaften aller Länder [zu] wissen",155 dann gilt dies sowohl für die Vergangenheit als auch fur die Gegenwart. Eine derartig hohe mentalitätsgeschichtliche Relevanz konnte keiner Sprache zukommen, die „tot", weniger bildlich ausgedrückt: außer Gebrauch war. Die Vitalität des Hebräischen ist der zentrale Grund dafür, dass die Traditionssprache immer noch als ein Wissenssystem fungiert, das mentalitätsgeschichtlich bedeutsame und politisch-religiös einheitsstiftende Kräfte freisetzt. 4.4. Es gebt kein Judentum ohne Hebräisch. Die sprachursprüngliche Affirmation: Die zwingende Bindung des Hebräischen an die religiös-nationale Identität des Judentums (Pro-Argument 2 zu Contra-Argumenten 2-3 156) Mit der eingangs zitierten These aus der „Jüdischen Rundschau", ohne das Hebräische sei das Judentum ebenso undenkbar wie das Christentum ohne Kreuz,157 wird eine bestimmte Sprache zum religiösen Symbol schlechthin erhoben. Ein akkulturierter deutscher Jude des Jahres 1903, gleich dem überwiegenden Anteil seiner Gesinnungsgenossen des Hebräischen nur rudimentär bzw. gar nicht kundig, hätte erschrecken müssen, wäre ihm ein solches Urteil in der „Jüdischen Rundschau" vom Januar 1903 ins Auge gefallen. Lautete doch dessen Konsequenz in einfachem Syllogismus: Wenn (a) das Hebräische eine unabdingbare Größe des Judentums bildet, dann ist (b) derjenige, der das Hebräisch weder versteht noch praktiziert auch (c) kein Jude im vollwertigen Sinne. Mochte der Leitartikel noch einen konkreten und begrenzten Fall zum Anlass genommen haben - die Entscheidung des Provinzialschulkollegiums der Berliner Jüdischen Gemeinden, das Hebräische aus dem Jüdischen Religionsunterricht zu verbannen —, so ist er in seiner Zielrichtung doch derart zugespitzt, dass ihn gerade die akkulturierten Juden als Kritik an ihrer Auslegung des Judentums verstehen mussten. Die eifersüchtige Liebe zur deutschen Kultur, spezifischer: zur deutschen Sprache, die ihre liberalen Glaubensgenossen seit den Tagen der Haskala sorgsam pflegten, war in den Augen vieler Zionisten oder zumindest assimilationskritischer Juden ein Ausdruck von „innerer Knechtschaft", von „Verrat am Judentum": Nicht zu Staatsbürgern, sondern zu 155 JR 22, 28. Mai 1908, S. 190 (Judaeoborussus: „Jüdisch-Stammestümlich"). 156 Vgl. die Überschriften zu den Kapitel V. 7.3 u. 7.4. 157 JR 5, 30. Januar 1903, S. 33f. (.Judentum ohne Hebräisch?").

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„Sklaven" ihrer Wohnländer seien die westeuropäischen Juden geworden.158 Das Produkt dieses Prozesses totaler „Assimilationssucht" wurde verstanden als fundamentaler Verlust jüdischer Identität. „Was ist denn Assimilation, wenn nicht das, was ihr getan habt?" schreibt Gershom Scholem 1915 in sein Tagebuch mit Blick auf die jüdischen Kriegsteilnehmer, die ausgezogen waren, den Beweis ihres Deutschtums auf den Schlachtfeldern zu erbringen. „Ihr seid noch mit Leib und Seele hier und habt die Flügel der Sehnsucht, die aus dem Orient zu euch herüberrauschen, nicht vernommen. Ihr seid Halbe."159 Als hätte Georg Orkin den später so berühmten Kabbalisten und Mystiker Scholem zu diesem Urteil anregen wollen, schreibt er im Juli 1914 in der „Jüdischen Rundschau" zum Thema „Deutscher Zionismus und hebräische Sprache": Sollte sich diese Begeisterung [für die hebräische Sprache] unter den deutschen Juden aber nur bei den wenigsten erwecken lassen, so mußten wir dennoch diesen Weg gehen, da es keinen anderen Weg gibt, und wenigstens ein kleiner Teil von uns würde dann Volljude werden, auch außerhalb Palästinas (Man darf vielleicht auch die Ghettojuden des Mittelalters zwar nicht als Vollmenschen, aber mit gewissem Recht als Volljuden bezeichnen.) 160

Es bedarf wenig Fantasie, sich vorzustellen, welch Wirkung solche Formulierungen auf die Mehrheit der akkulturierten C.V.-nahen Juden gehabt haben müssen, die ihre deutsch-jüdische Lebenswelt als Ergebnis einer stolzen Abwehrbewegung gegen Gettoisierung und sozialer Rechtlosigkeit verstand. Für Orkin sind selbst die von der übrigen Gesellschaft separierten und beständig degradierten Juden des mittelalterlichen Gettos noch eher zur Klasse der „Volljuden" zu rechnen als die hebräischunkundigen Akkulturationisten.161 Sein engagiertes Plädoyer für das Hebräische ist zugleich eine versteckte Anklage gegen all jene, die dem Redner nicht folgen wollten, ja, die selbst als Mitglieder der jüdischen Turnerschaft bei ihrem Einzug in Tel Aviv noch deutsche Lieder in der Art von „Wohlan, 158 Achad Haam, Außere Freiheit und innere Knechtschaft, 1891, S. 146. 159 Scholem, Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen, 1. Halbband: 1913—1917, S. 85. Vgl. zum Identitätsproblem auch JR/Beiblatt 3, 31. Juli 1914, S. 66-68: „Sollte sich diese Begeisterung [für das Hebräische] unter den deutschen Juden aber nur bei den wenigsten erwecken lassen, so müßten wir dennoch diesen Weg gehen, da es keinen anderen Weg gibt, und wenigstens ein kleiner Teil von uns würde dann Volljude werden, auch außerhalb Palästinas." Es ist klar, was aus dem Diktum folgt, dass nur ein hebräischkundiger Jude „Volljude" sein könne: ein halbes, also unvollkommenes Judentum für all diejenigen, welche die hebräischen Sprache noch nicht einmal erlernen wollen. 160 JR/Beiblatt 31, 31. Juli 1914, S. 67 (Georg Orkin: „Deutscher Zionismus und hebräische Sprache"). 161 Es versteht sich von selbst, dass Orkin die Kategorie „Volljude" positiv und nicht antisemitisch wertet.

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lasst das Sinnen und Sorgen" sangen.162 Es können hier die bekannten Schlussfolgerungen gezogen werden. Wenn allein der Zionismus, so Orkin, den „Willen zum Judentum" zu repräsentieren imstande ist und wenn das Judentum ohne das Hebräische keine Daseinsberechtigung haben kann, dann fehlen dem hebräischunkundigen Juden, und sei er Zionist, jeder Antrieb und jedwede Grundlage für seine jüdische Existenz. Er bleibt, allenfalls, ein halber Jude. 163 Orkin positioniert sich mit diesem Artikel nah an den westlichen Kulturzionisten, die bei Achad Haams Primat der kulturell-sprachlichen Erneuerung des Judentums noch vor jeder politischen Implementierung Orientierung suchten. Den sprachlich desinteressierten Zionismus Herzischer Prägung glaubt er seit der Zeit des 6. und 7. Zionistenkongresses überwunden. Hier sind seiner Überzeugung nach die Weichen für eine Renaissance des Judentums gestellt worden, deren Wert und Wirkung an der Durchsetzungskraft der Hebraisierung jenseits aller ethnischterritorialen Verwirklichung hängt. Wie nicht anders zu erwarten, geht sein Blick nach Osten. Allein durch den konsequenten Anschluss an den östlichen Zionismus sei die drohende Bedeutungslosigkeit des westlichen Nationaljudentums zu verhindern. Belege dafür, „daß nur der Zionismus des Ostens imstande sei, das Ideal nicht verblassen zu lassen und neue Quellen der Begeisterung zu erschließen", hätte spätestens der 7. Zionistenkongress erbracht. Nur deshalb seien die Versammlungen „zu hebräischen geworden". Dabei rechnet sich Orkin, obgleich von Berufs wegen Hebräischlehrer, selber zur deutsch akkulturierten Schicht von Westjuden, die „zum größten Teil durch unsere Erziehung so wenig positives Judentum besitzen".164 Umso radikaler und umfassender muss deshalb die Abwen-

162 JR/Beiblatt 31, 31. Juli 1914, S. 66 (Georg Orkin: „Deutscher Zionismus und hebräische Sprache"). Vgl. dazu auch Scholems scharfe Kritik an einer zionistischen Jugendbewegung, welche „Assimilation innerhalb des Zionismus" generiert habe: „...sie ahmten fremde Formen nach, sangen vierhundert Jahre alte Landsknechtlieder" (zit. n. Shedletzky 2002, S. 62). 163 Die Gegenprobe liefert Max Schwabe im Februar 1920. Für ihn vermag ausschließlich das Hebräische der fortschreitenden „Entjudung" Einhalt zu gebieten und eine existenzielle Bewusstwerdung herbeizuführen: „Die Sprache ist bisher gerade bei uns Westjuden als Beiwerk, als Nebensache im Erneuerungsprozeß betrachtet worden. Ganz zu Unrecht. Erst wenn wir anfangen, uns um sie zu mühen, werden wir unserer Entjudung im verdienten Maße bewußt." Die wiedergefundene Sprache wird den Einzelnen zu einer höheren lebensweltlichen Bewusstseinsstufe führen: „An dem Erlebnis unserer wiedererstandenen Sprache werden wir am Ende die höchste Form des Bewußtseins der Umgestaltung unserer Existenz haben" (JR 11, 10. Februar 1920, S. 73. Max Schwabe: „Unsere Hebräische Sprache"). 164 JR/Beiblatt 31, 31. Juli 1914, S. 65 (Georg Orkin: „Deutscher Zionismus und hebräische Sprache").

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dung von allem Deutschen erfolgen165 — und umso schwieriger erscheint ein derartiges Postulat gerade für eine Bewegung, deren wichtigstes Publikationsorgan mit der Aufgabe der deutschen Sprache das Gros seiner Rezipienten verloren hätte. Mit einem Artikel von Heinrich Margulies noch vor Kriegsende lässt die Redaktionsleitung schließlich einen der radikalsten Distanzierungsversuche von der westeuropäischen Akkulturation in Druck gehen. „Wir bekennen", beginnt Margulies dort, „daß wir in die falsche Richtung gingen", denn: Es gilt, nicht der verbindenden, sondern der trennenden Dinge zu gedenken. Wir erinnern uns [...] daß wir uns abzugrenzen haben gegen alles, was Spuren dieses Ursprungs aufweist [...] befreien wir uns von den geistigen Fallstricken all der lockenden Dinge, die heute das Galuth und im Galuth geborener Judengeist um uns breitet [...] Darum ist dies allein Aufgabe das jüdischen Jugend in Deutschland (und nur in diesem Sinne verstehe ich seit einem Jahrzehnt das seither so mißbrauchte Wort vom Kulturzionismus): Nicht die Verwirklichung, sondern die Erkenntnis des Judentums - und seiner Negation: Christentum, Deutschtum, Griechentum. 166

Margulies' radikal kulturzionistischem Standpunkt fehlt es nicht an Deutlichkeit. Seine Maximen sind jüdische Selbstbesinnung und Mobilisierung der eigenen inneren Stärken. Die Einkehr gelingt nur mittels Abkehr von anderem. „Spuren" der Assimilations- bzw. Akkulturationsgeschichte werden nicht verleugnet, sind aber im weiteren Verlauf zu tilgen. Die tragenden Säulen abendländisch-christlichen Kulturverständnisses stützen nicht das Judentum. Seine These, die christliche Lehre negiere die jüdische Mutterreligion, überrascht nicht, zumal sie historische Argumente auf ihrer Seite hat und sicherlich auch für viele C.V.-nahe Juden tragbar war; von weit größerer Brisanz ist der Gedanke, „Deutschtum" und „Griechentum" als Verneinungen des Judentums zu klassifizieren. Der Kulturzionismus, wie ihn stellvertretend Margulies präsentiert, lässt damit eine lange Reihe klassizistischer und humanistisch-idealistischer Fahnenträger der deutsch-jüdischen Synthese zu Boden sinken. Der Schreiber scheint zu glauben: Nur durch eine vollständige und vor allem reuelose Abkehr von einem Ideal, wie es beispielsweise Hermann Cohen repräsentierte, ist Zionismus als nationale Zionsidee realisierbar.167 165 Und zwar in allen, noch so banalen Lebensbereichen, vom Akt des Händewaschens bis zum Weintrinken. Die spezifisch jüdische Note, das „jüdische Bouquet" also, darf nirgends fehlen (ebd., S. 65). 166 JR 39, 27. September 1918, S. 305 (Heinrich Margulies: „Wir bekennen!"). 167 Über den zionistischen Juden um 1900 heißt es im Leitartikel der JR 14, 16. Februar 1923, S. 75 (F. L.: „Deutscher Zionismus"): „es entstand der Typ des Zionisten im Galuth, der assimiliert war und blieb, der die Assimilation verwarf und am Aufbau Palästinas vom Ga-

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Wenn sich auch weite Kreise unter den Kulturzionisten gegen eine derart radikale Interpretation der jüdischen Renaissance als einer QuasiRestauration stemmten, so waren sie sich in der Wahl der ,Waffen' doch weitgehend einig. Das „wirksamste Agitationsmittel" für eine Rückbesinnung zur jüdischen Wertetradition bleibt für sie die hebräische Sprache.168 Da der Traum eines jüdischen Staates bis zur Konferenz von San Remo und der Anerkennung der Balfour-Deklaration im Jahre 1920 in weite Ferne gerückt schien, musste das jüdische Nationalgefühl bereits in den europäischen Wohnländern wiedererweckt, das Hebräische revitalisiert werden. Als sich die deutsche Niederlage mehr und mehr abzeichnete, wurden die Attribute einfach ausgewechselt. Statt der „deutschen Tat", die Kaiser und Reich unter zunehmenden Illoyalitätsvorwürfen von den jüdischen Kriegsteilnehmern gefordert hatten, galt es nun, eine „jüdische Tat" zu vollbringen. Deren Endziel hieß Israel.169 4.5. ... daßes auch dem extremsten Zionisten nicht angefallen ist, die deutsche Sprache in Deutschland durch die hebräische ersetzen ψ wollen. Die sprachräumliche Konzession: die Konzentration der Hebraisierung auf Palästina (Pro-Argument 3 zu Contra-Argument 3 170 ) Achad Haams Forderung nach einer Stärkung des Hebräischen bereits in den Ländern der Diaspora, die jeder jüdischen Renationalisierung vorauszugehen habe, wurde von zahlreichen Zionisten aufgegriffen. Auch in der JR war sie ein lebhaft diskutiertes Thema. Den oben zitierten zustimmenden Positionen standen andere, eher um Ausgleich mit den Liberalen bemühte Äußerungen gegenüber. Über all die Jahre ihres Erscheinens erluth aus teilnahm. Für diese Juden entstand ein neues Problem. Die assimilierende Tendenz der Umwelt hörte nämlich nicht auf. Auch er wird in deutscher Landschaft und Sprache groß, in deutscher Kultur gebildet, und mehr als das, er wollte ja diese Dinge nicht aufgeben. Wogegen sich sein Kampf richtete, war die volksverräterische bewusste Aufgabe eigenen Volkstums, war das Verbergen und Verstecken des unsicher gewordenen emanzipierten Juden." 168 Georg Orkin koppelt die jüdische Nationalisierung und deren Verlust untrennbar an die hebräische Sprache: „Wenn man einmal zu der Ueberzeugung gekommen ist, dass der Zionismus sich proportional der hebräischen Sprachbewegung entwickeln wird [...], dass wir, mag unsere Lage noch so anormal sein, als wirksamstes Agitationsmittel die Sprache besitzen, und mag sie sich noch so schwer einbürgern wollen, so muß natürlich in der ganzen jüdischen Welt hier der Hebel angesetzt werden" QR/Beiblatt 31, 31. Juli 1914, S. 68, Georg Orkin: „Deutscher Zionismus und hebräische Sprache"). 169 JR 39, 27. September 1918, S. 304 (Israel Reichert: „Die erlösende Tat. Ein Aufruf zu tätiger Gesinnung"). 170 Vgl. die Überschrift zu Kap. V. 7.4.

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weist sich die JR als ein Abbild der überaus lebhaften Debatte zwischen den verbliebenen politischen Zionisten Herzischer Prägung, der Masse von eher gemäßigten Kulturzionisten und der Minderheit an weitgehend kompromisslosen Hebraisten. Vor allem im Zuge der „BlumenfeldRevolution des Jahres 1910"171 liefen einige Funktionäre zum Lager radikaler Zionisten und Hebraisten über. Heinrich Loewe hingegen, erster Chefredakteur der JR, bemühte sich um eine vermittelnde Position. „Wer von den Juden in Deutschland [...] kennt denn auch nur die Elemente der jüdischen Geschichte, von der hebräischen Sprache ganz zu schweigen?" fragt er 1905 mehr elegisch denn zornig. Zwar fordert er vehement, die „ideelle Judenfrage" im Sinne verstärkter Kenntnisse „von der Sprache und Kultur des eigenen Stammes" zu beantworten, stellt sie aber im Gegensatz zu Achad Haam in ihrer Bedeutung nicht vor, sondern neben „die materielle und politische Seite dieser Frage."172 Die als „Umwandlungsprozess" verstandene hebräische Sozialisierung, welche die jüdischen Einwanderer nach Palästina sprachlich und kulturell auf das Ideal einer hebräischsprachigen Lebenswelt vorbereiten und gleichzeitig die jüdische Nation vor den Einflüssen der Diaspora schützen sollte, betrifft auch bei dem Herzl-Politiker Ringel ausdrücklich nur die „Auswanderungslustigen."173 Andere Publizisten zeigten sich in ähnlicher Weise bemüht, die Ängste der C.V.-nahen Juden vor einer Hebraisierung des Galuth zu zerstreuen. So sieht ein Publizist die Kampfansage des „Vorsitzenden für das liberale Judentum", man würde gegen jede Substituierung der deutschen Muttersprache durch das Hebräische mit allen Mitteln zu Felde ziehen, aus einer ,,naive[n] Unkenntnis jüdischer Dinge" entsprungen, die heute noch im liberalen Lager herrscht. Wir brauchen hier nicht zu erklären, daß es auch dem extremsten Zionisten nicht eingefallen ist, die deutsche Sprache in Deutschland durch die hebräische ersetzen zu wollen. Wir erstreben die hebräische Sprache als Umgangssprache in Palästina, und wir sind allerdings der Meinung, daß die „gründliche Vorbereitung fur das Verständnis unserer Quellen" nicht erzielt werden kann ohne Kenntnis der hebräischen Sprache [...] Wir Zionisten hingegen glauben, daß ein Jude nur dann seines eigenen Wesens und Wertes bewußt ist, wenn er die alten Quellen wirklich versteht, wenn er begreift, was seinen Ahnen durch viele tausend Jahre das höchste Gut war, und wenn er auch an dem jüdischen

171 Weltsch 1961, S. 54. 172 JR 12, 24. März 1905, S. 126f. (Heinrich Sachse [H. Loewe]: „Gibt es eine Judenfrage?"). 173 JR 20, 10. März 1925, S. 180 (Senator Michael Ringel: ,„Neu-BerdyczewY oder IdealStaat?").

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Leben der Gegenwart positiven Anteil zu nehmen imstande ist. Wenn wir dies alles fordern, so liegt darin keine „Ersetzung der deutschen Muttersprache". 174

Die entgegengesetzte Behauptung sei nichts weiter als eine „Angstparole". Das emotionale Konfliktpotenzial der Muttersprachenideologie tritt in diesem Diskurs zwischen akkulturationsbejahendem und nationaljüdisch orientiertem Judentum erneut zutage. Der Albtraum zahlreicher liberaler Juden in und außerhalb des Centraivereins war ja gerade die eigentlich irrationale Vorstellung, sie müssten die von Kindheit an erlernte und geliebte Sprache des Fühlens und Denkens nun plötzlich innerhalb Deutschlands mit einem Idiom vertauschen, zu dem sie höchstens in habitueller und letztlich emotional distanzierter Beziehung standen. Hinter den Versuchen zur Revitalisierung der Traditionssprache vermutete der C.V. deshalb nicht selten Pläne zur Substituierung des Deutschen. Die rational-intuitive Seite wehrte sich vehement gegen eine befürchtete Diktatur der Ritussprache. Solche und andere Artikel in der „Jüdischen Rundschau" suchten derartigen Ängsten die Grundlage zu nehmen: Allein auf Palästina ziele die Hebraisierung des Judentums.175 Gleichzeitig aber verhehlt der Anonymus nicht seinen Missmut über eine indifferente bis ablehnende Einstellung der C.V.-nahen Juden gegenüber der Sprachenfrage. Mit Mut zur Ironie führt er an: Die Liberalen allerdings haben diese Kenntnis für überflüssig gehalten, unter ihrem Einfluß ist es bekanntlich sogar in der Synagoge zu einer schrittweisen Verdrängung der hebräischen Sprache gekommen, sie haben sich damit abgefunden, daß ein Jude im besten Fall soviel hebräisch lesen kann, um ohne Verständnis Gebetstexte herzusagen, aber die Sprache verstehen ist doch gänzlich unmodern, rückschrittlich, für das praktische Leben unnötig und eine Belastung des Gehirns. 176

Seine Position ist die deutlich abgemilderte Variante einer kulturzionistischen Sprachbewertung, die den Centraiverein mit recht plakativen Appellen und Angriffen herauszufordern suchte. Einerseits spart der Verfasser nicht an rhetorischen Spitzen gegen die „Liberalen", andererseits vermeidet er ausdrücklich den Gipfelpunkt der Provokationen gegen deren Sprachideologie. So hält er die Waage zwischen zwei Extremen.

174 JR 6, 20. Januar 1925, S. 49 („Rubrik: Wahl - Rundschau'·). 175 Vgl. dazu: JR 25, 19. Juni 1914, S. 267 (Adolf Friedemann in: „Der XIV. Delegiertentag in Leipzig"). 176 JR 6, 20. Januar 1925, S. 49 („Rubrik: Wahl - Rundschau"). Gershom Scholem erinnert sich an „Familienfeste" an Freitagabenden und am Pessach, bei denen allenfalls noch Substrate religiöser Ritualität vorkamen. Das galt auch für die Traditionssprache. Einer seiner Onkel konnte zwar Hebräisch lesen, jedoch „ohne es zu verstehen" (zit. n. Shedletzky 2002, S. 50-53).

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4.6. ... die mästen unter uns kmen das Hebräische als durchaus fremde, neue Sprache. Die sprachaffektive Konzession: Das Eingeständnis von Fremdheitsgefühlen beim Spracherwerb (Pro-Argument 4 zu Contra-Argument 4177) Die zionistischen Publizisten in der JR hatten mit einem entscheidenden Problem zu kämpfen, das sie nicht ignorieren konnten, schon weil es der Centraiverein als ein zentrales Gegenargument zur Revitalisierbarkeit des Hebräischen anführte: Das Gros an Befürwortern einer Hebraisierung der Judenheit sprach weder Hebräisch noch verstand er es in ausreichendem Maße. Das Diktum „Es giebt [sie!] kein Judentum ohne Hebräisch" hatte von Anfang an mit dem Vorwurf der Lebensferne zu kämpfen. Viktor Chaim Arlasoroff, zionistisch-sozialistischer Redakteur des Blattes „Die Arbeit", warf der nationaljüdischen Sprachbewegung sogar „Lüge" vor, weil sie mit Pfründen handelte, über die sie nicht verfügte.178 Was gemeint ist, wird anhand einer Debatte deutlicher, die Max Schwabe und Hans Oppenheim in der JR zwischen Februar und März 1920 führten. Schwabe hatte die Erlernung der hebräischen Sprache mittels zweier Methoden empfohlen: erstens über das historische Studium der „Monumentalität unserer Antike", zweitens über konsequenten Sprachgebrauch. Längst verloren geglaubtes Eigenes könne dadurch zurück gewonnen, sozusagen anamnetisch dem Verborgenen endockt werden. Seiner Schlussfolgerung: „Wir bekämen unsere Seele wieder, wenn wir Hebräisch lernen", kann Oppenheim zwar theoretisch zustimmen; seiner Überzeugung nach bleibt in der Praxis diese existenziell-essenzielle Rückbesinnung jedoch einer Elite vorbehalten, denn beim G r o s trifft es jedenfalls nicht zu. D a ß die Sprache vielleicht die einzige Möglichkeit ist, die Seele des J u d e n t u m s zu erleben, scheint mir unbestreitbar zu sein. A b e r wir, die meisten unter uns, lernen das Hebräische als durchaus fremde, neue Sprache. 1 7 9

Letztlich würde, nach Abzug der oststämmigen Juden in Deutschland, „nur eine Anzahl von wenigen hundert deutschen Juden übrig bleiben, die schon einen gefühlsmäßigen Zusammenhang mit dem Hebräischen haben." Solche Äußerungen offenbaren die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwar erkannten die Kulturzionisten den Wert der heb-

177 Vgl. die Überschrift zu Kap. V. 7.5. 178 JR 39, 27. September 1918, S. 304 (Viktor Ch[aim] Arlosoroff: „Die Lüge des Hebräischen"). Dennoch befürwortet Chaim Arlosoroff (1899-1933), ein enger Freund Chaim Weizmanns und nach seiner Ubersiedlung nach Palästina 1924 Direktor der Politischen Abteilung der Jewish Agency, ganz entschieden eine hebräische Nationalsprache. 179 JR 21, 26. März 1920, S. 148 (Hans Oppenheim: „Unsere hebräische Sprache").

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räischen Sprache für die jüdische Renaissance, doch standen sie der Sakralsprache teils entfremdet gegenüber. Auch Schwabe bezeichnet die Konversationsdisziplinierung mittels kontinuierlicher Bevorzugung neuhebräischer Lexeme, und seien es Neologismen, als einen Vorgang, der zunächst „äußerlich und befremdlich" anmutet. Die tiefere Verbindung zu Volk und Nation, zu Volksleben und Volksempfinden ließ sich nicht durch mechanisches Hebräisch-Sprechen erzwingen. Oppenheims Überzeugung von der Revitalisierbarkeit des Hebräischen als Umgangssprache stützt sich deshalb in erster Linie auf den frühkindlichen Spracherwerb: Es galt, der Sakralsprache den Vorzug einer lebendigen Muttersprache einzuräumen. Die zionistischen Eltern müssten alles daran setzen, ihre Kinder vom ersten Augenblick an hebräisch zu erziehen. Wenn es ihnen auch eine große Überwindung ist, so sollen sie lieber hebräisch radebrechen als deutsch sprechen. 180

Zwar sollten auch die Erwachsenen auf eine „Hebraisierung ihres häuslichen Lebens" hin wirken, etwa indem sie Theatervorstellungen oder Privatunterricht in hebräischer Sprache frequentierten, doch darf auf der anderen Seite nicht der Hinweis fehlen, die deutschen Zionisten bräuchten deshalb noch keine Angst zu haben, dadurch irgendwelcher ζ. B. deutscher Kulturwerte verlustig zu gehen, wenn wir uns vorübergehend in unserem Leben mal gänzlich von ihnen abstrahieren.181

Die Distanzierung von deutscher Sprache und Kultur, so notwendig sie auch war, könnte genauso gut eine lediglich ephemerische Erscheinung sein, eine „vorübergehende" und damit nicht zwingend dauerhafte Abstraktionsleistung. Selbst ein Schreiber wie Oppenheim, der sich für einen „guten hebräischen Chauvinismus"182 ausspricht, lässt dem Leser der JR dieses Hintertürchen offen. So eindeutig die JR im Sprachenstreit an den Schulen in Palästina letztlich Position bezog, so unsicher präsentierte sie sich mit Blick auf die Situation der Zionisten in Deutschland. Die Fürsprecher einer nationalen Segregation wagten zumeist nicht, den Kulturund Sprachwechsel offen als irreversiblen Abnabelungsprozess von vertrauten Kulturwerten auszugeben. Die geschichtlich gewachsene, innige Verbundenheit des deutschen Judentums mit der Sprache und Kultur ihres Heimatlandes, die Kampmann und andere exponierte Forscher des

180 Ebd.. 181 Ebd., S. 149. 182 Ebd., S. 148.

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deutsch-jüdischen Verhältnisses immer wieder angeführt haben,183 galt ja mit Einschränkungen auch für viele deutsche bzw. westeuropäische Zionisten. Zu stark schienen sie dem Mutterboden ihrer eigenen Kindheit verhaftet, als dass die letzte Konsequenz eines „hebräischen Chauvinismus" hätte zum Zuge kommen können. Die feine axiologische Differenz lag meist in der Art und Weise, wie die Hebraisierung eingeschätzt wurde. Während Oppenheim und Schwabe nur in der Methodik, nicht aber in ihrer Zielsetzung differieren, lässt sich bei anderen Publizisten deutliche Skepsis erkennen. Ging es um die Diaspora, dann steigerten sich die Zweifel gar zu radikaler Ablehnung. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist ein Aufsatz des bekannten Soziologen und Nationalökonomen Franz Oppenheimer,184 der sich zeitweilig Herzls politischem Zionismus verschrieben hatte und später zum Widerstand gegen Blumenfelds „Entwurzelungstheorie" stieß.185 Die höchst unterschiedlichen Rollen, die er West- und Ostjudentum für den Zionismus zumaß, werden die Ambivalenz zionistischer Sprach- und Kulturbewertungen noch einmal konturieren helfen. Oppenheimer hatte bereits im Dezember 1901 und Januar 1902 einen in Fortsetzungen erscheinenden Aufsatz in der offiziellen Wochenschrift der Zionistischen Organisation „Die Welt" unter dem Titel „Jüdische Siedlungen" verfasst und darin sein Konzept landwirtschaftlicher Siedlungen als Produktivgenossenschaften vorgestellt. Herzl soll von dieser Studie, die Oppenheimers Genossenschaftsgedanken in Kolonisationsfragen früh offen legt, begeistert gewesen sein.186 Vielleicht beförderte der ähnliche soziokulturelle Hintergrund die gegenseitige Nähe beider Denker. Denn ganz wie Herzl verstand sich Oppenheimer, Sohn eines Predigers der Berliner Reformgemeinde, als akkulturierter deutscher Jude, dem das deutsche Idiom „Muttersprache, die Sprache des täglichen Umgangs, seines Denkens und seines Schreibens war."187 Auch stand für ihn das deutsche Nationalgefühl eines Juden keineswegs im Widerspruch zum Basler

183 Kampmann 1979, S. 393: „Das deutsche Judentum war tiefer mit Geist und Gesittung der deutschen Kultur verbunden als irgendwo die Juden mit der Kultur ihrer Vaterländer. Es war ja nicht nur ihre bürgerliche Sicherheit und Wohlsituiertheit, die sie durch den nationaljüdischen Gedanken bedroht sahen, es war ihr Leben und Denken in Kant und Goethe, in Lessing und Hegel, ihre tatsächliche Einwurzelung in den deutschen Geist." 184 Franz Oppenheimer (1864—1943), Nationalökonom, Soziologe und Politiker, 1 9 1 7 Professor in Berlin, 1 9 1 9 - 2 9 in Frankfurt, Lehrer Ludwig Ehrhards, emigrierte 1933 in die USA. 185 Lichtheim 1970, S. 128. 186 Bein 1964, S. 7f. Bein schreibt: „Vier Monate danach, Mitte Mai 1902, traf Herzl in Berlin mit Oppenheimer zusammen. Die beiden Männer machten aufeinander einen tiefen Eindruck." 187 Ebd., S. 8.

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Programm. Im deutschen Kulturkreis aufgewachsen, fühlte er sich nicht als Assimilant und insistierte auf die Vereinbarkeit von deutscher Kulturidentität und „jüdischem Stammesbewusstsein."188 Allerdings bewahrten ihn weder sein Verständnis von Zionismus noch sein liberaler Sozialismus vor deutlichen Ressentiments gegenüber dem ostdeutschen Nationaljudentum. So stellt er in seinem Aufsatz „Stammesbewusstsein und Volksbewußtsein", im Februar 1910 in der von Buber herausgegebenen „Welt" und dann in der JR publiziert, die These auf , dass die Westjuden sich im zionistischen Ideal von den Ostjuden unterschieden, da sie „soziologisch ganz anders determiniert" seien. Seine Prämissen sind bestimmt von einem Dualismus zwischen zwei Polen, die nicht zueinander finden können. Einerseits bestehe ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem auf vergangene Kulturkodizes aufbauenden Stammesbewusstsein der Westjuden und dem „auf Gegenwärtiges: auf Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte, der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen usw. und der geistigen Kultur" ausgerichteten Volksbewusstsein der Ostjuden. Für das Stammesbewusstsein der Westjuden spielt nach Oppenheimer weder die jüdische Kultur noch die Sprache eine Rolle. Da sie dieser Kriterien und Merkmale ermangeln, partizipieren sie nicht am jüdischen Volk.189 Eine weitere Disparität kommt hinzu. Während das Ostjudentum ein kulturell und national jüdisches Bewusstsein entwickelt habe, seien die Westjuden bestimmt von den Kulturwerten der jeweiligen Heimatiänder. Diese Prägestempel scheinen für Oppenheimer unlöschbar. Das Nationalgefühl der unter Anfeindung und Benachteiligung leidenden Juden sei geringer als das der „heimischen" Staatsangehörigen. Doch das Ideal der Kulturnation greift immer noch: Aufgrund ihres Kulturbewusstseins sind die Westjuden „mehr oder weniger Nationaldeutsche"; den Ostjuden bleibt indes keine Rückzugsmöglichkeit, kein Surrogat abendländischer Kultur. Sie können weder Nationaldeutsche noch Kulturdeutsche sein, sie sind N a t i o n a l j u d e n , wie sie K u l t u r j u d e n sind. Sie sind und empfinden sich daher als Angehörige eines Fremdvolkes, das heimatlos unter Fremden lebt, eines Fremd-

188 Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, 1931, S. 12. Den ideologisch weitaus fundamentaleren Zionisten Richard Lichtheim haben Oppenheimers Bewusstseins-Häufungen zu heftiger Ironie herausgefordert: „Sie besitzen nach Ihren Ausführungen [...] jüdisches Stammesbewußtsein, deutsches Kulturbewußtsein, märkisches Heimatbewußtsein. Warum nicht auch Berliner Wohnungsbewußtsein? Und englisches Parlamentsbewußtsein? Und französisches Malereigefühl?" (Die Welt, Heft 30, 24. Juli 1914, S. 764. Zitiert wird aus einem Brief Lichtheims an Oppenheimer). 189 Demgegenüber stehe: „Wir Westeuropäer, die wir dem Jüdischen Volke nicht angehören..." (JR 45, 9. November 1906, S. 665, „Jüdische Arbeit in Palästina. Vortrag von Dr. Franz Oppenheimer").

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volkes mit eigener Sprache, Religion, Tradition, Kultur, das unter eigenen harten entwürdigenden Gesetzen lebt. 190

Schon Oppenheimers Abwertung einer gesetzestreuen Haltung bei den orthodoxen Ostjuden („entwürdigend") zeigt an: Für jüdische Elemente bleibt bei einem Westjuden kaum Raum. Für ihn sind die Westjuden „zu 95 Prozent zusammengesetzt aus westeuropäischen Kulturelementen", und auch die übrigen fünf Prozent scheinen ihren Grund allein in einer Art religiös-historischer Nostalgie zu finden. Für seine eigene Person hatte Oppenheimer in seinen Memoiren von 1931 sogar noch einige Prozentpunkte draufgelegt: Zu „99 Prozent" sei er geprägt von Kant und Goethe und nur zu einem Prozent beeinflusst durch das Alte Testament.191 Doch bleibt es in dem JR-Artikel nicht bei bloßen antithetischen Bestandsaufnahmen. Seinen extremen Dualismus lässt Oppenheimer in eine Wertung münden, die ihre chauvinistischen Züge nicht verhehlen kann: Wir sind nämlich Kulturdeutsche, Kulturfranzosen, Kulturengländer, Kulturamerikaner usw., weil wir das Glück haben, Kulturgemeinschaften anzugehören, die in der ersten Reihe der Völker stehen, weil es uns eine Ehre ist, unsere weltberühmten Denker, Forscher, Künsder und Erfinder die Unseren zu nennen. Wir können nicht Kulturjuden sein, denn die jüdische Kultur, wie sie in den Ghetti des Ostens aus dem Mittelalter herübergerettet worden ist, steht unendlich rief unter der neuzeitlichen Kultur, deren Träger unsere Völker sind. 192

Die Kultur der Ostjuden hingegen ist „gerade so hoch über der osteuropäischen Barbarei" angesiedelt, „wie sie tief unter der westeuropäischen Hochkultur steht." Obwohl die Westjuden in letzter Konsequenz Nationaldeutsche waren und nicht an dem in Osteuropa fremden, kulturellreligiös abgeschlossenen Volk partizipierten, gab es auch Westjuden, die für sich ein jüdisches Volksbewusstsein deklarierten. Diese westlichen Kulturzionisten beanspruchten damit sozusagen ein zukünftiges Gefühl; eines, „das sie empfinden werden, wenn sie erst in einem jüdischen Gemeinwesen leben." Die gegenwärtige Situation der Westjuden spricht indes eine andere Sprache. Die Nationalität, staatsrechtlich und soziologisch eine „Gruppe, die durch den Kitt gemeinsamer Interessen an einer Spra190 JR 8, 25. Februar 1910, 87 (Franz Oppenheimer: „Stammesbewusstsein und Volksbewusstsein"). 191 Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, 1931, S. 211 f.: „Ich habe niemals [...] den geringsten Hehl daraus gemacht, dass ich vollkommen ,assimiliert' sei: ich fände, wenn ich in mich hineinfiihlte, neunundneunzig Prozent Kant und Goethe und nur ein Prozent Altes Testament, und auch das nur noch wesentlich durch Vermitdung Spinozas und der Lutherbibel." 192 JR 8, 25. Februar 1910, S. 86—89 (Franz Oppenheimer: „Stammesbewusstsein und Volksbewusstsein").

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che und ihrer Kultur zusammengehalten wird", kann für die überwiegende Zahl der westlichen Juden keine jüdische mehr sein. Denn: Dieser K i t t existiert f ü r die J u d e n Westeuropas nicht, trotz gewisser Velleitäten jener winzigen G r u p p e des jungen „nationalen" W e s t j u d e n t u m s , die mit d e m G e danken einer Renaissance der hebräischen Sprache spielen (wir r e d e n hier nicht v o n Palästina, w o das Hebräische seine Berechtigung haben mag, s o n d e r n eben v o n Westeuropa); was wir hier lächelnd erleben, ist [...] das im Spiegel des gekränkten Selbstbewußtseins umgekehrte Bild des Rassenantisemitismus. 1 9 3

Rigider kann eine Absage an die sprachliche Renaissance der Diaspora kaum ausfallen. Oppenheimers Polemik scheint tief sitzenden Ängsten vor einer äußeren Bedrohung der eigenen Identität entsprungen. Eine solch perhorreszierende Haltung zur Hebraisierung unterschied sich allenfalls graduell von Standpunkten, wie sie führende Vertreter des Centraivereins einnahmen. Selbst Oppenheimers Vorwurf, ein sprachfanatisches Nationaljudentum mit letztlich völkischem Antlitz arbeite dem Rassenantisemitismus zu bzw. sei dessen verqueres Abbild, war uns in der Analyse der liberal-jüdischen Sprachbewertungen des Öfteren begegnet. Wenngleich die JR-Redaktion sich beeilte, in einer Fußnote eigens zu betonen, Oppenheimers Deutungen enthielten „manches Richtige und vieles Falsche", so ließ sich diese nach Ansicht mancher Zionisten skandalös antiostjüdische Haltung doch nicht als Auswuchs des innerjüdischen Gegners abkanzeln. Denn Oppenheimer war ja weder ein C.V.- Anhänger noch Parteigänger der Außenseiter um Max Naumanns „Verband nationaldeutscher Juden", sondern Zionist. Und das nicht nur seinem Selbstverständnis nach,194 sondern auch im Urteil anderer: 1903 hatte ihm Herzl die schmeichelhafte, letztlich dann aber verfehlte Prognose erteilt, Oppenheimer würde einmal „von vielen unserer Besten für einen trefflichen Zionisten gehalten werden."195 Nimmt man nun alle drei Artikel der Autoren Max Schwab, Hans Oppenheim und Franz Oppenheimer zusammen, dann liegt die Ambiva-

193 Zitiert nach JR 9, 3. März 1916, S. 74 (L. H. „Ostjuden"). 194 Im Juni 1903 hatte er sich in einem in der „Welt" veröffentlichten Brief offen zum Zionismus bekannt: „Sie wissen, dass ich Zionist bin und fest auf dem Boden des Basler Programms stehe" (zit. n. Bein 1964, S. 11). 195 Zit. n. Bein 1964, S. 8. Bein beschreibt die Kluft, die Oppenheimer und Blumenfeld trennte: „die beiden Welten, die jüdische und die deutsch-europäische, waren in seinem [Oppenheimers] Innern so eng verbunden, dass ihn die Forderung konsequenter zionistischer Führer von der Art Kurt Blumenfelds völlig unverständlich anmutete, die auf den zionistischen Landestagungen von Posen (1912) bis Leipzig (1914) die Forderung aufstellten, die deutschen Juden sollten anerkennen, dass sie nicht wirklich mit Deutschland verwurzelt seien" (ebd, S. 9 - 1 0 ) .

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lenz im kulturellen wie sprachlichen Selbstverständnis deutscher Zionisten offen zu Tage. Konnte der eine die kulturnationale Schlussfolgerung aufstellen, „Wir bekommen unsere [Seele] wieder, wenn wir Hebräisch lernen", so hätte der andere das vielleicht ungeheuerlichste, aber auch konsequenteste Akkulturationsfanal des C.V.-nahen Judentums — die schon zitierte Behauptung Hermann Cohens, die jüdische Seele habe in Deutschland ihr eigentliches Mutterland - sicherlich nicht als eine befremdliche Behauptung zurückgewiesen. Denn ersteres umschrieb das Ideal für wenige, letzteres die Quintessenz der jüdisch-deutschen Vergangenheit und Gegenwart seit den Tagen der Haskala. Mochte die hebräischsprachige Zukunft auch locken, die Wurzeln des deutschen Geistes ragten tief. Das führt uns direkt zum nächsten Punkt. 4.7. .. .tief wurzelt in uns deutsche Kultur. Nähe und Distanz, Abgrenzung und Zugeständnis: Die Verwurzelung in deutscher Sprache und Kultur als Übergang zur jüdischen Nationsidee Oppenheimer mag, was die Radikalität seiner Abwertung des Ostjudentums anbelangt, eine — wenn auch nicht solitäre — Randerscheinung im deutschen Zionismus gewesen sein196; sein Bekenntnis zum deutschen Wissenssystem und Kulturcode wirkt in der JR alles in allem in keiner Weise deplatziert. Zu oft lässt sich ähnliches in den Artikeln anderer Publizisten wiederfinden. Auch für den ebenfalls zur Anti-BlumenfeldGruppe gehörenden Adolf Friedemann scheint die Bindung der deutschen Juden an die deutsche Kultur so stark, dass „die westlichen Juden für einen nadonal-kulturellen Zionismus, soweit er sie selbst betrifft, nicht zu haben [sind]." Stärker noch: Eine reine „Zumutung" sei der Versuch kulturzionistischer Kreise, die „Persönlichkeit" eines westlichen Juden vollkommen umzugestalten. Konsequenterweise wird der Hebraismus von ihm genauso abgelehnt wie eine rasche, von manchen radikaleren Zionisten geradezu zur Pflicht erhobene Repatriierung nach Palästina - allein für „spätere Generationen" sei dies eine Option und eine „Hoffnung."197 Im Juli 1914 bekräftigte Friedemann diese Position noch einmal in aller Deutlichkeit. „Radikale" Forderungen nach schnellstmöglicher Perfek196 Auch für Adolf Friedemann steht der Kulturkreis, an dem die Westjuden partizipieren, „unvergleichlich viel höher [...] als der des östlichen Judentums". Deshalb, so sein fester Glaube, müssen „die Juden des Ostens uns mit offenen Armen aufnehmen", denn nur so kämen sie endlich in den Genuss westlicher Kulturgüter (JR 13, 1. April 1910, S. 147f., Adolf Friedemann: „Westlicher Zionismus"). 197 JR 13, 1. April 1910, S. 147f. (Adolf Friedemann: „Westlicher Zionismus").

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tion im Hebräischen verkennten, dass ein noch so perfektes, aber eben äußerlich bleibendes Erlernen der Fremdsprache Hebräisch das Gefühl des „deutscherzogenen Juden", Teil einer kulturell-sprachlicher Einheit in der Diaspora zu sein, nicht zu verdrängen vermag, schließlich könne niemand „außerhalb seiner selbst spazieren gehen." Seine Schlussfolgerung bringt die ganze Problematik des innerzionistischen Ringens um Abgrenzung, Eingrenzung oder Verteidigung der deutschen Wurzeln auf den Punkt: „Die hebräische Kultur aber fängt mit der Landung in Jaffa an. Früher nicht!"198 Auch von ausländischen Beobachtern wurden diese dem zionistischen Programm eigentlich widersprechenden Dichotomien aufmerksam registriert. Den polnischen Zionisten Jeremias in der „Welt" lädt die scheinbar unauflösliche Affinität des Judentums zum Deutschtum zu der halb bewundernden, halb ironisierenden Auslassung ein: Es sind Deutsche „bis auf die Knochen" [...] der deutsche Geist, die deutsche Kultur hält sie ganz umfangen. Jeder Bekehrung eines deutschen Juden zum Zionismus geht ein hartes Ringen mit der Anhänglichkeit an die liebgewonnenen Kulturgüter voraus, die Loslösung ist stets langsam und bleibt immer schmerzhaft. 199

Die Wunde der Loslösung von deutschen „Kulturgütern" ließ sich, so scheint's, niemals ganz schließen. Doch wo blieb da noch Raum für Absatzbewegungen, für die erforderliche Distanzierung vom Deutschtum? Wie konnte die alte Kultur eines hebräischsprachigen Judentums neu etabliert werden, wenn es vielen Zionisten offenbar derart schwer fiel, den Fuß vom deutschen Mutterboden abzuheben? Das eingangs erwähnte Deutungsdilemma ist also noch nicht gelöst, im Gegenteil: Es scheint sich noch verstärkt zu haben. Zweifelsfrei: Die assimilierten Zionisten wollten sich mehrheitlich dissimilieren. Aber wie? Sollte die Renaissance des Judentums etwa auf der Grundlage einer deutschkulturellen Nostalgie erfolgen, von der Oppenheimer durchdrungen zu sein scheint? Darauf müssen Antworten gegeben werden. Im Folgenden gilt es also, die eingangs erwähnte Flausibilitätslücke200 nachhaltiger zu schließen und beide Thesen — die der Divergenz und die der Konvergenz zwischen deutsch-jüdischen Zionisten und Akkulturationisten — zu vereinen. Am 24. Juli 1924 publiziert die JR einen Artikel von Hans Kohn mit dem zeittypischen Doppel-Sujet im Titel: „Kultur und Politik". Explizit rekurriert Kohn darin auf den Sprachaspekt: 198 Die Welt, Heft 30, 24. Juli 1914, S. 765. Zitiert wird hier aus einem früheren JR-Artikel Friedemanns: „Sachlicher Radikalismus oder endlich radikale Sachlichkeit". 199 Die Welt, Heft 46, 14. November 1902, S. 4 (Dr. Jeremias: „Das deutsche Judentum und der Zionismus"). 200 Vgl. Kap. VI. 4.2., S. 317.

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Die deutsche Sprache war für das Leben des Judentums in den letzten hundertfünfzig Jahren von besonderer Bedeutung. Es war die Sprache, in der die Aufklärung unter den Juden zuerst wirkte und sie war es, die in die östlichen Massen die Gedankenwelt Europas trug. [...] Die deutsche Sprache stellte noch bis vor kurzer Zeit das verbreitetste Verständigungsmittel unter den Juden verschiedener Länder dar. 201

Der zionistische Autor bekennt sich zur Tradition deutschsprachiger Akkulturation des Judentums und bekräftigt dessen Signifikanz. Allerdings wählt er als Tempus die Vergangenheitsform: Mag dies alles auch erst wenige Zeit zurückliegen, die Umgangssprache mit dem größten Verbreitungsgrad im Judentum ist das Deutsche nicht mehr. Anders als Georg Orkin, der seine eigene Akkulturationsgeschichte mit sehnsüchtigem Blick auf ein westlich unverbildetes Ostjudentum mehr eingesteht denn bekennt, deutet Hans Kohn die ostjüdische Gesellschaft als eine von „der Gedankenwelt Europas" beeinflusste Kultur. Weiter heißt es: Die nationale Wiedergeburt eines Volkes war nie oder wenigstens niemals in erster Linie der Ausfluß des Werkes von Politikern und Kriegern, sondern die Furcht der Arbeit von Dichtern und Sprachschöpfern, Gelehrten und Erziehern. Sie gingen daran, die alte, sei es ungenützte, sei es ihrer Würde als Schriftsprache entkleidete Volkssprache wieder zu beleben und ihr all die Geschmeidigkeit und den Reichtum wiederzugeben, um die modernen Schöpfungen des Volkes nicht nur aufzunehmen, sondern auch anregen zu können. 202

Dieser Passus, für sich genommen, hätte von einem überzeugten Herder- oder Humboldt-Adepten nicht besser formulieren werden können. Nicht die politischen Akteure vermögen gleichsam in einem Kraftakt ein Volk zur „nationale [n] Wiedergeburt [!]" zu heben, sondern allein die Dichter und Denker, die Forscher und Pädagogen, Sprachphilosophen und Sprachschöpfer haben einer zwar tradierten, aber sozial scheinbar obsoleten Sprache neue und dann entscheidende Impulse verliehen. Es liegt nahe, an Herders „Volksliedsammlungen" oder an den Göttinger Hain zu denken, doch erfüllt dieser Rekurs bei Kohn keinen Selbstzweck. Die entscheidenden Lehren aus den Voraussetzungen zur Bildung einer sprachbestimmten, selbstbewussten Nation hat das Judentum gezogen: Diese Wahrheit wird einem immer wieder deutlich zum Bewusstsein gebracht, wenn man den geheimnisvollen und infolge unseres Schicksals zerstreuten und verworrenen Prozeß betrachtet, durch den im neunzehnten Jahrhundert in die verfallenen und zerfallenen Teile der Judenheit langsam ein neues Bewußtsein einzog, die jüdische Volkssprache zur Würde einer Schriftsprache erhoben wurde, und die

201 JR 58, 24. Juli 1925, S. 500 (Hans Kohn: „Kultur und Politik"). 202 Ebd.

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seit Jahrhunderten nicht mehr benützte hebräische Sprache ihre Wiedergeburt feierte. 203

Der eingeforderte Ubergang zur Schließung der Plausibilitätsliicke liegt nun vor aller Augen. Nicht die Demarkation zum Traditionstopos einer sprachbestimmten deutschen Kulturnation, sondern ganz im Gegenteil dessen Rezeption und Transformation stehen bei Kohn im Mittelpunkt seiner Gedankengänge. Statt des Deutschen setzten die jüdisch nationalbewussten Exponenten nun das Hebräische als nationenkonstituierenden Movens ein, indem sie der alten Sakralsprache die „Würde einer Schriftsprache" zurückgaben und dadurch Schritt für Schritt „ihre Wiedergeburt feierte[n]". Stellt man diese sprachliche Renaissance neben die zu Anfangs von Kohn erwähnte „nationale Wiedergeburt", dann ergibt sich die uns lang vertraute Reziprozität von Sprache und Nation fast wie von selbst. Indes drängen sich abermals Zweifel auf. Wurde hier nicht ein singulärer Beleg einfach generalisiert? Dass ein einzelner auf das Konstrukt der deutschen Kulturnation rekurriert, um daran der jüdischen Nation einen ähnlichen, nur eben ,hebräischen' Lebensweg zu weisen, beweist ja noch keineswegs eine ins Gewicht fallende Präsenz dieses Argumentationsstranges. Zugestanden — doch Kohn war eben kein Einzelfall. Er griff nur auf, was in der JR schon Jahre zuvor mit viel deutlicheren Worten vorformuliert worden war. Mit einem zweiteiligen Essay zur Stellung des Jiddischen hatte Hugo Bergmann bereits im März 1914 die Diskussion befruchtet. Seine Worte gewähren Einblick in eine innerzionistische Debatte zu der Frage, ob der nationaljüdische Weg über die Wegmarken bzw. Stolpersteine der westjüdischen Akkulturation führen müsse: Was ist Wahres daran, daß der Weg zum Zionismus über die Assimilation führt? Daß unser moderner Nationalismus ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist, und daß wir — wenigstens viele von uns — ohne den Weg über Kant, Fichte, Ibsen, Nietzsche auch die Forderungen nicht verstanden hätten, die den Sinn des Judentums und daher letztlich den Sinn aller jüdischen Bewegung ausmachen. Kurz, ohne den Weg durch die europäische Kultur hätten wir die Synthese zwischen Judentum und Menschentum nicht vollziehen können, die uns der Zionismus bedeutet. 204

Bergmann, ein Freund Martin Bubers und späterer Professor an der Hebräischen Universität,205 kennzeichnet derlei Thesen als „gefahrlich", weil sie allenfalls für einzelne, nicht aber für das jüdische Kollektiv Geltung haben könnten. Seine brisanten Fragen blieben nicht lange ohne Antwort. 203 Ebd. 204 JR/Beiblatt 9/10, 6. März 1914, S. 59 (Hugo Bergmann: „Alljudentum"). 205 Hugo Bergmann (1883-1975), seit 1898 Zionist, Hochschullehrer und Kritiker, Vorkämpfer des Kulturzionismus und Hebraismus, enger Freund Robert Weltschs.

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Jener Paul Michaelis, der zu Anfangs dieses Kapitels vorgestellt worden war206 und dessen Aussage nun endlich als Teil eines längeren Artikels vervollständigt werden kann, schreibt nur zweieinhalb Monate später, Ende Mai 1914: Die folgende Betrachtung der deutschen Vergangenheit soll dazu dienen, die jüdische Renaissance unserer Tage besser zu verstehen, denn wir Juden machen jetzt eine ähnliche Bewegung durch wie Deutschland in den Jahren 1770 bis 1870. [...] Auch wir deutschen Zionisten sind mit Goethe und Schiller, mit Lessing und Herder, mit Kant und Fichte groß geworden. Wir genießen deutsche Bildung, wandern in deutschen Landen, dienen im deutschen Heere. Daher haben wir das Recht und die Pflicht, mit dem erforderlichen Takte an der deutschen Zukunft mitzuarbeiten. [...] In jüdischen Sachen jüdisch: Wir Zionisten stehen vor einer ähnlichen Bewegung wie das Deutschland zur Zeit des „Sturmes und Dranges" und der Befreiungskriege. Wie Deutschland damals, so legen wir Nationaljuden den Grund zu unserem Werke. Wir wecken die Liebe zu unserem Ahnenlande. Zionistische Turner wandern, wenn der Frühling kommt, hinüber nach Erez Israel und ziehen mit hebräischen Liedern durch die Ebene Saron und die Berge Judas. Auch wir sind im Begriff eine jüdische Universität zu gründen wie Deutschland im Jahre 1810 als Zeichen nationalen Aufschwungs. 207

Erstaunliches lässt hier ein Zionist verlauten. Zum besseren Verständnis der „jüdischen Renaissance" soll ausgerechnet die nähere Beschäftigung mit einer historischen Zeitspanne beitragen, während derer die Judenheit Schritt für Schritt die kulturellen Codes der nichtjüdischen Mehrheit übernommen und die eigenen verloren hatte. Dazu gehörte, wie gesagt, nicht nur die Eliminierung des Jiddischen zugunsten des Deutschen, sondern auch die prozessuale Verdrängung des Hebräischen als Sprache des Ritus. Die Zeitspanne „1770 bis 1870" war aber auch die Hochphase der Deutschen Bewegung mit ihrem vorläufigen Endpunkt der deutschen Einigung im Jahre 1871. Ihre wirkmächtigsten Exponenten sind es, die den allen Deutschen und Juden gemeinsamen Kulturboden bereichert haben. Aufgewachsen mit den Dichtern und Denkern der Weimarer Klassik (Goethe, Schiller), der humanistischen bzw. idealistischen Aufklärung (Lessing, Kant) und des wiedererwachten nationalen Selbstbewusstseins (Herder, Fichte), könne der Zionist in „einer ähnlichen Bewegung wie das Deutschland zur Zeit des ,Sturmes und Dranges' und der Befreiungskriege" den Grundstein legen zum Bau der jüdischen Nation. Weniger der explizite Bezug auf Herder als die erklärte Vorbildfunktion Fichtes, eines Denkers mit nicht gerade philosemitischem Neigungswinkel, 206 Vgl. S. 314f.; S. 315, Anm. 131 der vorliegenden Studie. 207 JR 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend"). Siehe zur Bedeutung dieser Passage auch Bering 2002, S. 288f.

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könnte an dieser Stelle erstaunen — wäre nicht in einer neueren Studie die Disposition gerade des deutschen Zionismus für Fichte erneut materialreich nachgewiesen worden.208 Fichtes Prophetie des deutschen Nationalismus trotz gesellschaftlicher Realitätsdiskrepanz, sein beharrliches Insistieren auf der Identitäts- und Widerstandsdynamik der Sprache, all dies prädestinierte ihn dafür, nicht nur den akkulturierten jüdischen Bewahrern und Verteidigern ihres Deutschtums, sondern auch den zionistischen Rebellen und Vordenkern einer jüdischen Nation als Leitfigur zu dienen. Fichte habe, so heißt es in der „Jüdischen Rundschau" vom 14. Juli 1911, als einzelner das Wort ergriffen gegen „Zagheit und Ausländerei", weil er überzeugt gewesen sei von der tieferen „Mission" seines Volkes.209 Es ist schnell zu erahnen, wieso Fritz Abraham, der Autor dieser Huldigung, daran erinnert, dass Fichte an den Schluss seiner dritten Rede an die deutsche Nation eine Stelle aus dem Buch Ezechiel gesetzt hatte: Abraham will den Vergleich, den biblischen und den historischen, den zwischen der Geschichte des deutschen und des jüdischen Volkes, zwischen den Befreiungskriegen von 1813 und der zionistischen Nationsidee. Und er will, dass gerade die Zögerlichen in den eigenen Reihen die Parallelen mit Händen greifen können. Prophetisch: Ezechiels alttestamentarische Heilsweissagung für einen künftiges jüdisches Reich; prophetisch: Fichtes Glaube an die „Macht einer Idee" über den Kleingeist der Wankelmütigen; prophetisch: der „Geist, aus dem Hendls Judenstaat' geboren wurde." Behauptet wird: Allein dem Mutigen ist der weltgeschichtliche Sieg seiner Idee beschieden. Fichte darf ihn in einem längeren Zitat abermals verkünden. Abraham fasst sich kürzer: D e r Satz, den Fichte aus der Weltgeschichte v o r 1 8 1 3 ableitet, galt auch f ü r dieses große Freiheitsjahr der Deutschen, er wird gelten in alle Ewigkeit auch f ü r unser Judentum.210

In Fichte ausgerechnet, dessen Satz vom „mächtigen, feindselig gesinnten Staat" des Judentums die antisemitischen Claqueure begeistert und beharrlich herangezogen haben,211 glaubten viele Zionisten, auf einen Seelenbruder gestoßen zu sein. Der nationale Überschwang in der Anfangszeit des

208 Voigts 2003. Sieg konstatiert, Fichte habe während des Krieges sowohl für Zionisten als auch für liberale Juden zu den „neben Kant und Nietzsche am häufigsten beschworenen Philosophen" gehört (Sieg 2001, S. 192). 209 JR 28, 14. Juli 1911, S. 319 (Fritz Abraham: „Johann Gottlieb Fichte. II. Fichte als Prophet des Deutschtums"). 2 1 0 Ebd. [Kursive: Α. K.]. 211 Vgl. zu der ganzen Passage aus Fichtes „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution" von 1791 ausfuhrlich: Becker 2000, S. 3 3 - 3 8 .

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Ersten Weltkrieges verstärkte dieses Empfinden nur noch. „Nur weil wir Fichte hatten", schreibt der anfangs doch so skeptische Hugo Bergmann in einem Brief an Martin Buber vom 11. Mai 1915, „fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur, verstanden wir erst das Judentum. Dort wurden wir erzogen, hier haben wir entdeckt."212 Sein Misstrauen gegen Vergleiche von Jetzt und Früher, von westeuropäischem und jüdischem (Kultur-) Nationalismus, von Fichte und Herzl — nun scheint es wie weggeblasen. Paul Michaelis also schrieb seinen Artikel in einer Atmosphäre des Verständnisses, wenn er seinen zionistischen Lesern neben Herder auch Fichte zum Vorbild empfahl. Dabei plädiert er keineswegs für eine Verbrüderung von Deutschtum und Judentum, sondern nur für einen Lernprozess ohne ideologische Scheuklappen. Erst in einem zweiten Schritt wird auf die notwendige Hinwendung zur Kultur des Heimatlandes die ebenso notwendige Abwendung, auf die Assimilation die Dissimilation folgen müssen. Denn wenn Michaelis die Geschichte der deutschen Juden als eine Art Pendelschlag zwischen Gettoisierung, Assimilation und Nationalisierung porträtiert, dann lässt er keinen Zweifel daran, nach welcher Seite des Pendels ihm unter keinen Umständen der Sinn steht: Wer sich einem anderen assimilieren, anähneln will, kann nichts Neues schaffen, er ahmt nach. [...] Da wir Zionisten etwas Neues wollen, können wir mit jenen Liberalen nur schwer diskutieren, weil ihre Vorbildung in bezug auf die deutsche Vergangenheit gering, ihre jüdischen, historischen und hebräischen Kenntnisse meistens noch geringer sind. 213

Eine ganze Generation deutscher Juden habe, fährt Michaelis fort, der Assimilation gehuldigt und den persönlichen Bezug zum Jüdischen auf Floskeln reduziert, auf „einige Jargonwörter. Ghettogeist." In wenigen, 212 Hugo Bergmann an Martin Buber, 11. Mai 1915. - In: Buber, Martin Buber. Briefwechsel, Bd. 1: 1897-1918, S. 389. Bergmann sah keinen grundlegenden Widerspruch zwischen einem an Fichte geschulten Deutschtum und der zionistischen Idee. Die Schwierigkeiten einer Hebraisierung des Judentums empfand er ganz persönlich. In einem anderen Brief an Buber klagt ihm der im abendländischen Kulturkreis stehende Freund, natürlich auf Deutsch: „Die Wahl steht wieder einmal vor uns: ich weiß wie schwer sie ist, möchte ich doch bei jeder hebräischen Zeile, die ich schreibe, weinen ob der Inadäquatheit von Wort und Gedanke [...]. Aber wir müssen der Wirklichkeit klar ins Auge sehen [...], Sie vor allem, der Sie uns bis hierher gefuhrt haben: dass wenn wir uns nicht loszulösen die Kraft haben werden, wenn wir uns nicht einstellen werden [...] in das geistige Leben des hebräischen Schrifttums - dass dann die Entwicklung [...] über uns hinweggehen wird wie über Zurückgebliebene, halben Weges stehen Gebliebene, Alte" (Hugo Bergmann an Buber, 19. 9. 1919. In: Buber, Martin Buber Briefwechsel, Bd. 2: 1918-1938, S. 59). Ein Jahr darauf siedelte Bergmann nach Palästina über. 213 JR 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend").

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aber scharfen Worten stellt der Autor sich und seine zionistischen Mitstreiter weit über die Lebenswelt des liberalen Judentums. Aufmerken lässt gar nicht so sehr die Tatsache, dass er - ähnlich wie seine Zeitgenossen Scholem und Kafka — das liberale Judentum der Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber der jüdischen Sprache und Kultur zeiht; ungewöhnlich ist vielmehr Michaelis' Vorwurf weitgehender Unkenntnis der Liberalen „in bezug auf die deutsche Vergangenheit". „Jene Liberalen", nach eigenem Bekunden, doch „deutsch bis auf die Knochen"214, sollen ausgerechnet inkompetent in deutschen „Dingen" sein? Die Antwort ergibt sich aus dem Kontext: Ja, denn gerade die Glaubensbrüder und -schwestern aus den Reihen des Centraivereins haben es nicht verstanden, das deutsche Element ihrer Synthese für die jüdischnationale Perspektive zu nutzen. Das deutsch akkulturierte, aber antizionistische Judentum hat damit doppelt versagt, während die gleichermaßen sozialisierten, jedoch pro-zionistisch orientierten Juden zweifach gewinnen werden. Sie sind die bessern Juden — und die besseren Deutschen. Dies wird unter Umständen auch auf die Haltung zum jüdischen „Blut" zurückgeführt. Der Pädagoge und Zionist Moses Calvary (1876-1944) erklärt im Januar 1911 zur prädestinierten Verbindung eines selbstbewussten, zionistisch-völkischen Judentums zum Deutschtum in der „Welt": Erst die Besinnung auf unser jüdisches Dasein macht es uns möglich, deutsche Kultur von innen heraus zu verarbeiten und zu gestalten, wie ja eben diese Kultur nur von den Juden wahrhaft gefördert wurde, die, bewußt oder unbewußt, ein entschiedener Ausdruck jüdischen Blutes waren.215

Im Unterschied zu Calvary vermiedet Michaelis Vokabeln wie „Blut" und „Rasse". Stattdessen summiert er zentrale politische und kulturgeschichtliche Stationen der „Deutschen Bewegung" bis hin zur politischen Implementierung der Nationsidee auf: die Implementierung „nationaler Eigenart" „unter den Stürmern und Drängern, unter den Jüngeren also" in den Jahren 1770 bis 1780; Lessings Abwehr französischer Kulturdominanz; die Befreiungskriege und Burschenschaften; schließlich die siegreichen Schlachten gegen Österreich und Frankreich, die Deutschland an die „Spitze des germanischen Europa" gehoben hätten. Die zionistischen „Befreiungskriege" gegen Assimilation als Selbstaufgabe und gegen den grassierenden Antisemitismus sollen zunächst vor allem das von Achad Haam vorgegebene Ziel der Schaffung eines kulturell-sprachlichen Zentrums des Judentums in Pa-

2 1 4 Vgl. S. 221, Anm. 238 u. S. 337, Anm. 199 der vorliegenden Studie. 2 1 5 Die Welt, Heft 1, 6. Januar 1911, S. 5 - 8 (Moses Calvary: „Die erzieherische Aufgabe des deutschen Zionismus") [Kursive: Α. K.].

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lästina erreichen helfen. Diese K ä m p f e ähneln den .Schlachtfeldern' zur deutschen Nationsgründung, n u r dass sie „mit den W a f f e n des Geistes" respektive der hebräischen Sprache geschlagen werden: Wir deutschen Juden haben die Glanzzeiten Deutschlands erlebt und tief wurdet in uns deutsche Kultur. [...] Mit den Waffen des Geistes, mit der hebräischen Sprache, führen wir unsere Befreiungskriege. Wenn dann stolz-jüdischer Geist und hebräische Sprache in unsere Schulen und in unsere Jerusalemer Universität eingezogen sein werden, wenn in den Landerziehungsheimen und den Freien Schulgemeinden von Erez Israel hebräisch gesprochen werden wird, dann wird unser Düppel, Kömggrätz und Sedan gekommen sein. Auch wir werden wohl ein Jahrhundert brauchen, bis unsere Träume in Erfüllung gegangen sein werden: ein jüdisches Zentrum im Ahnenlande, ein einiges Judentum, gefestigt durch das Band der hebräischen Sprache.216 M a n ist geneigt, an den n u n hinlänglich b e k a n n t e n Protestschrei eines Gabriel Rießers in der Frankfurter Paulskirche zu denken, der mit den „mächtigen W a f f e n " der Muttersprache die Zugehörigkeit zu seinem Vaterland verteidigen wollte. 2 1 7 D o c h er, der engagierte Liberale, fühlte sich trotz aller A n f e i n d u n g e n in seinem Vaterland und seiner Muttersprache heimisch. Michaelis und mit ihm die zionistischen Pioniere der zweiten G e n e r a t i o n mussten beides, Land und Sprache, erst erringen. D a s jüdische Nationalgefühl qua Sprache als einigendes „Band" der Nation w e r d e n den G l a u b e n an die jüdische Nation wach halten u n d erneuern. Z i o n bleibt der Zielpunkt allen Handelns. N u r einen M o n a t v o r Beginn des Ersten Weltkriegs also, als im patriotischen Rausch ein Heinrich L o e w e o d e r ein Martin Buber gegen jeden V e r d a c h t einer anti-deutschen Nationalisierung anschrieben, 2 1 8 feiert Michaelis ganz o f f e n die Renaissance der jüdischen Nationalidee:

216 JR 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend"). 217 Vgl. Kap. V. 5.2.1, S. 21 lf. der vorliegenden Untersuchung. 218 Nicht anders als die meisten C.V.-Akteure nimmt auch der Herausgeber der „Jüdischen Rundschau", Heinrich Loewe, den Kriegseintritt des Deutschen Reiches zum Anlass, seine Liebe zum „Vaterlande" zu bekunden und all diejenigen zu bedauern, die außerhalb des Kreises der deutschen Nation stehen. Loewe steigert sogar die emotionale Symbolik. Statt des üblichen Goethe-Zitats „Wenn ich dich liebe, was geht es dich an", das dem Verschmähten seinen Stolz bewahren hilft, wird die Liebe nun über alle Maßen erwidert: „Denn wenn auch wir deutschen Juden uns genau in derselben Lage befinden, wie alle Bewohner und Bürger unseres Reiches, wenn wir dieselben Opfer willig bringen und uns freuen, dass wir Gelegenheit haben, dem Vaterlande zu dienen, das uns ein wahres Vaterland geworden ist, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass sich nur wenige Juden in der glücklichen Lage befinden, für ein Land zu streiten, das sie lieben können und lieben müssen, weil es diese Liebe tausendfaltig vergilt." Von einer jüdischen Nation ist hier mit keinem Wort mehr die Rede. Vgl. JR 36, 4. September 1914, S. 357 (Heinrich Loewe: „Die Juden im Kriege").

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Jetzt, w o die nationalen Empfindungen eines jeden Volkes sich regen, lodert die kleine Flamme e m p o r und ist schon ein großes Feuer geworden: die Idee der jüdischen Nation ist wieder lebendig. 2 1 9

Mit diesem längeren Artikel scheint die Plausibilitätslücke nun endgültig geschlossen: Michaelis, ohne Zweifel deutsch akkulturiert, hebt sich einerseits explizit ab vom Akkulturationismus der Vorgängergeneration und betont andererseits die Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit deutscher und jüdischer Staatsgründungsprozesse. Konvergenz und Divergenz vereinen sich zu einer Polarität, die Gegensätzliches bei wesenhafter Zusammengehörigkeit demonstriert. Die aus der deutschen Geschichte bekannte Linie nationaler Bestrebungen wird, so sein Credo, für die jüdische Zukunft weiterzuzeichnen sein - nur eben auf anderem Gebiet, mit anderen Mitteln und anderen Akteuren. Wenn also das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts auf den Patriotismus der Befreiungskriege vor allem deshalb zurückgegriffen habe, „um den neuen und aggressiven Nationalismus zu überwinden",220 dann hat Michaelis' Rückgriff auf die Schlachtfeld-Assoziationen von 1914 eine andere Zielrichtung: Hier soll ein neuer - nämlich jüdischer — Nationalismus implementiert werden. Freilich einer, der auf dem gemeinsamen Kulturgut von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gebaut war. Aus deutschen Geistesbahnen kommend und aus der deutschen Geschichte lernend, wird die zionistische Revolution des Denkens sich dereinst von eben diesen Gründern und Vorbildern emanzipieren. Wie zur Bestätigung siedelt Kurt Rosenbaum in der JR vom 5. Juni 1914, also nur zwei Ausgaben nach Michaelis' Ausführungen, die Grundlagen dafür in vermeintlich deutschen Erziehungstugenden an. Mittels „Erziehung zur Exaktheit, Sorgfalt und Sauberkeit" könne erreicht werden „was wir für Palästina brauchen", denn: „In Palästina selbst schätzt man auch die Errungenschaften deutscher Zivilisation und Technik höher als die anderer Länder."221 Nach wie vor blieb das oberste Ziel die Abnabelung von all jenen Beziehungsgrößen, von denen die C.V.-nahen Juden nicht lassen wollten oder konnten.222 Doch bewiesen ist damit allemal, wie

219 220 221 222

JR 21, 21. Mai 1914, S. 221 (Paul Michaelis: „Die neue Jugend"). Mosse 1990, S. 174. JR 23, 5. Juni 1914, S. 240 (Kurt Rosenbaum: „Erez Israel und das Galuth"). In JR 12, 10. Februar 1925, S. 107 („Die Lehren der Wahlen") werden sogar die Errungenschaften des „religiösen Liberalismus" gewürdigt: „Zahlreiche Vorkämpfer der jüdischen Volksidee haben mit dem religiösen Liberalismus die Idee der Gewissensfreiheit und der Abwehr erstarrter Fesseln des geistigen Lebens gemeinsam". In einem Folgeschritt lässt es sich dadurch von dessen „Assimilationstendenz, die bisher unangefochten im deutschen Judentum geherrscht hat", umso deutlicher abgrenzen.

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schwer dieser Prozess selbst den Forderern und Förderern der Auswanderung gefallen sein muss. Der in der langen deutsch-jüdischen Geschichte gewachsene Ast, auf welchem auch die deutschen Zionisten saßen, ließ sich nur schwer vom Baum trennen. 4.8. Die Idee von der hebräischsprachigen jüdischen Nation auf den Fundamenten der sprachbestimmten deutschen Kulturnation Es war gezeigt worden, dass der deutsche Zionismus die Gründungsmythen der Deutschen Bewegung für die jüdische Renaissance im Kulturellen wie Nationalen zu nutzen wusste. Dazu zählte vorzüglich die Sprache. Die integrative Dynamik der mentalitätsgeschichtlich wirkmächtigen und so auch lebendig gebliebenen hebräischen Traditionssprache bildete das Movens für die Renationalisierung des Judentums. Das Hebräische als kultureller ,Bind-Faden' aller Juden zu allen Zeiten war die lebensweltlich erfahrbare Basis einer künftigen jüdischen Nation, war Projektion und Surrogat, Nationalprojekt und Ersatzheimat zugleich. Die Analogie zwischen den historischen Grundentwicklungen sprachlicher Nationsbildungen und der jüdischen Beheimatung im Hebräischen wurde auch von nichtjüdischen Wissenschaftlern gezogen.223 Ein Kulturzionist insistierte erst recht darauf. Etwas verklausuliert heißt es in einem JR-Beitrag Martin Bubers zur hebräischen Sprache und zum Kongress für hebräische Kultur im Jahre 1910: Was eine Menge gleichgearteter Individuen erst zur Volksgemeinschaft macht, ist die durch d i e s p e z i f i s c h e G r u n d f o r m c h a r a k t e r i s i e r t e G e s c h l o s s e n h e i t i h r e s V e r k e h r s , die zu jenem Komplex gefestigter, normierter Beziehungen führt, welche wir das Volksleben nennen. Diese Geschlossenheit des Verkehrs bewährt sich einerseits nach aussen, allen anderen Nationen gegenüber, von denen sie dieses Volk nachdrücklich abgrenzt, andrerseits nach innen, allen einzelnen in diesem Volkes enthaltenen wirtschaftlichen, sozialen, religiösen Gruppen gegenüber [...] Die spezifische Grundform des Verkehrs aber, die ihm die nationale Geschlossenheit verleiht, ist wieder die Sprache. 224

223 Der Romanist Karl Vossler schreibt 1925 mit dem zeitüblichen Pathos: „Wem die irdische Heimat geraubt wird, der findet in der Muttersprache eine seelische, die jederzeit und überall sinnfällig und darum auch wieder körperhaft und irdisch werden kann. [...] Je stärker z. B. das Judentum verfolgt wurde, desto zäher hing es sich an die Sprache seiner Synagoge und schützte die lyrische Seele und den alten Worüaut des Hebräischen als die Heimat seines Glaubens" (Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, 1925, S. 136). 224 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur").

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Mit anderen Worten: Die nationale Form war bereits in der sprachlichen Form vorgeprägt und konnte nicht ohne sie realisiert werden. Sie barg sowohl das identitätsstiftende Potenzial für das Individuum als auch das gemeinschaftsstiftende Potenzial für das jüdische Volk, indem sie, das so lange getrennte Paar Muttersprache und Vaterland endlich vereinend, den Einzelnen mit dem Ganzen verband. Buber zieht im selben Aufsatz den dafür nötigen Rückschluss: Zu den gleichen Ergebnissen kommen wir, wenn wir die Bedeutung der hebräischen Sprache fur den einzelnen Juden betrachten. — Die Sprache ist von allen Funktionen des Volkslebens diejenige, welche zuerst in das Leben des Individuums eintritt. Ehe das Kind zu sprechen beginnt, gehört es nur der grossen Menschengemeinschaft an; erst mit dem ersten Worte, das seine Lippen formen, wird es in Wahrheit Mitglied seines Volkes und nimmt es an dessen Leben teil.225

Es wird in einem eigenen Buber-Kapitel noch genauer zu klären sein, wie stark sich seine Sprachphilosophie vom Modell der sprachbestimmten Kulturnation beeinflusst zeigt. Aber schon anhand der ausgewählten JRPassagen lässt sich erkennen, dass er die Effizienz dieser Traditionslinie bewusst weiterverfolgt und auf die jüdische Frage angewandt hat. Indem er die daraus folgenden Schlüsse im offiziellen Organ deutscher Zionisten platzierte, zielte er auf einen Leserkreis, der für eine solche Ideologie Verständnis hatte. Es war Buber, der die kulturelle Einheit in der Ursprache Hebräisch imaginiert wissen wollte, solange die territoriale Einheit noch nicht realisiert war. Damit transportierte er das Grimmsche Ideal einer (zunächst) grenzenlosen Sprachnation und die bekannte Surrogatstrategie der deutschen Kulturnationsidee aufs Neue ins Judentum. Bubers folgende mythisch-nostratische Semantik im Anschluss an Fichte — „Ursprache", „Urform" — steigert nur noch die Dringlichkeit des Auftrags, die Sprache als identitäts- und einheitsstiftende Konstante annehmen und wiederbeleben zu müssen: Wir wissen, welches die Tat ist, die wir zu tun haben: dass wir unserem Volk die Einheit wiedergewinnen sollen, und dass für den Teil unseres Volkes, der des eigenen Landes entbehrt, die Einheit am reinsten in der Urform seines Bewusstseins, das ist in seiner Ursprache, besteht. 226

Die wichtigsten, uns vom deutschen Kulturnationsmodell und von Herders wie Humboldts Sprachphilosophien vertrauten Gedankengänge tauchen in den angeführten Artikeln der „Jüdischen Rundschau" wieder auf,

225 Ebd.,S. 13f. 226 JR 3, 21. Januar 1910, S. 25 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur") [Kursive: Α. K.].

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da sind: die entscheidende Rolle der — in der Schrift bewahrten — Form der Sprache als Transporteurin und Mittlerin des geistigen Kulturgutes eines Volkes; die Idee von der Existenz einer bewusstseinsbildenden „Ursprache"; die integrative, national schöpferische Dynamik der Sprache; ihre identitäts stiftende Kraft auf diachroner und synchroner Ebene für das Individuum ebenso wie für die Nation als einer Gemeinschaft kulturell verwandter Individuen; schließlich die Theorie, dass die Sprache einer untergegangenen bzw. verlorenen Nation die nationale (Volks-)Bindung über alle Jahrhunderte der Zerstreuung hinweg zu erhalten imstande ist.227 Angesichts der Spaltung der Judenheit in Ost und West deklamiert Josef Lin im Januar 1919: W o Juden in aller Welt leben, wie verschiedenartig sich ihre Zeitschicksale sich auch gestaltet haben mögen, wie sehr auch ihre geistige Physiognomie in den einzelnen Ländern divergieren mag — sie gehören alle der großen, durch den geschichtlichen Werdegang geformten, seelisch verankerten Judengemeinschaft an. Demnach besteht für uns keine prinzipielle Trennung zwischen Ost- und Westjuden. Wir kennen nur ein Judentum: das Judenvolk in seiner Totalität, eine Nationalsprache: Die Sprache der Hebräer, ein Judenland: Erez Jisrael. 228

Was Jacob Grimm vor der Reichsgründung von 1871 einst allen Deutschen „welchen reichs, welchen glaubens ihr seiet", angeboten hatte — eben einzutreten „in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche" - das fordert Lin nun für die zerstreute Judenheit ein. Zwar akzentuiert er weit stärker als Grimm die Trinität von Sprache, Volk und Land, doch bleibt die erstgenannte Bezugsgröße die unhintergehbare Voraussetzung für jede nationale Einheit. Die grenzjenseitige Kraft seiner unverfälschten Sprache mag das jüdische Volk zusammenführen, um an der Stätte ihres Ursprungs neue Grenzen ziehen zu können: in „Erez Jisrael".

227 Jene bekannten sprachphilosophischen Assoziationsketten hat auf zionistischer Seite natürlich nicht nur die JR inkorporiert. In Bubers Zeitschrift „Der Jude", gleichfalls kulturzionistisch orientiert, wiederholt im September 1916 Jecheskiel Kaufmann genau dieselben Grundvoraussetzungen und Schlussfolgerungen eines nationalen, durch die Sprache errichteten und zusammengehaltenen Kollektivs. Es ist nahe liegend, dass Humboldt, Herder und Fichte seinen Ausführungen Pate gestanden haben: „Infolgedessen besteht ein Volk als geschichtliches Individuum nur dank der Sprache. [...] sobald sich in einer Gruppe von Menschen eine gemeinsame Sprache ausbildet, wird die Nation geboren; es stirbt aber die Nation als solche, sobald ihre Glieder das gemeinsame Band der Sprache verlieren..." Den exiljüdischen „Kulturwesen" jedenfalls wurde das Hebräische als einzig verbliebenes nationales und religiöses Kernelement des Judentums zur geistig-immateriellen Ersatzheimat (Der Jude, Heft 6, September 1916, S. 408ff., J[echeskiel] Kaufmann: „Die hebräische Sprache und unsere nationale Zukunft"). 228 JR 6, 24. Januar 1919, S. 47 (Josef Lin: „Die Ostjuden und der jüdische Kongreß").

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4.9. Fazit Dieses Kapitel konnte und sollte nicht den Anspruch erheben, die Einstellung der deutschen Zionisten zu Sprache und Sprachen lückenlos darzulegen. Es sind ja in unserer Analyse bedeutsame, ursprünglich ostjüdische Bewegungen wie die der „Chowewe Zion", der Revisionisten um Jabotinsky oder der orthodoxen Kräfte im Wirkungskreis des „Middrasch"-Blocks vernachlässigt oder ganz übergangen worden. Sie alle partizipierten auf die eine oder andere Weise an der Politik des deutschen Zionismus und damit der ZVfD. Dennoch blieben sie im Ganzen Randerscheinungen. Unsere Analyse sollte dagegen ins Denkzentrum des deutschen Zionismus treffen. Zwischen zwei Extremdeutungen, die jede für sich nicht erklären können, wie im deutschen Zionismus die Abstoßbewegung von der deutschen Geistes- und Kulturwelt bei gleichzeitiger Akkulturation in ihr zustande kam, waren entsprechende Mittelwege auszuloten. Sie halfen schließlich, die gängigen Interpretationen zu nuancieren.229 Was gemeint ist, lässt sich an einem Zitat aus der neuern Forschung zur jüdischen Geschichte schärfen. In seiner Einführung zu einer Aufsatzsammlung, in der die ursprüngliche Utopie des Zionismus mit der Wirklichkeit des modernen Staates Israel konfrontiert wird, unterstreicht Brenner die historische Inkompatibilität zwischen westeuropäischem und zionistischem Nationalismus: Von Deutschland aus wirkt die israelische Realität vertraut und fremd zugleich. Diese merkwürdige Mischung aus Nähe und Distanz ist nicht zuletzt darin begründet, daß der Zionismus als moderne politische Bewegung zwar ohne seinen mitteleuropäischen Hintergrund nicht denkbar wäre, sich aber von den europäischen Nationalismen in vielerlei Hinsicht grundlegend unterscheidet. Was zunächst als offensichtliche Parallele zu der eigenen Geschichte erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung daher häufig als scharfer Gegensatz.230 Brenners Bestandsaufnahme, für Israel zweifellos zutreffend, lässt sich nicht eins zu eins auf die Geschichte des deutschen Zionismus übertragen. Im Hinblick auf die Bewertung von Sprache und Einzelsprachen offenbart gerade die deutsche Variante der zionistischen Bewegung auffällige Parallelen zur Entwicklung der deutschen Nationswerdung — Parallelen, 229 Piersons verdienstvolle Dissertation von 1970 etwa zieht aus dem richtigen Ansatz m. E. die falschen Schlüsse, wenn sie zwar die starke Anziehungskraft der deutschen Sprache und Kultur auch für die deutschen Zionisten feststellt, dann aber doch wieder allein die Divergenz-These stärkt: „But they postulated the ultimate irreconcilability of Germany and Judaism" (Pierson 1970, S. 345f.). 230 Brenner/Weiss 1999, S. 9.

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auf die in der „Jüdischen Rundschau" immer wieder hingewiesen wird. Aus den historischen Lehren der Entwicklung bis 1871, so der Grundgedanke deutsch-zionistischer Argumente, lassen sich Antworten auf die Frage gewinnen, wie eine nicht existente Nation in ihrer (National-)Sprache überleben und durch sie reanimiert werden könne. Solange nur affirmativ-appellativ sichergestellt werden kann, dass die kulturellen Werte einer Nation in der Lexik synchron konserviert sind, bleibt es letztlich gleichgültig, ob die jeweilige Reichsnation nun 1806 (mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches) oder 63 v. Chr. (mit dem Ende des letzten selbstständigen jüdischen Reiches) untergegangen ist: Sprachideologisch gilt es in beiden Fällen, die eine Nationalsprache gegenüber lingual-dialektalen Alternativen zu behaupten, sie als gleichsam ,wahren' und einzigen Ausdruck des Volkes zu bekräftigen und gegebenenfalls zu revitalisieren. Allerdings musste gerade das Revitalisierungstheorem das kulturzionistische Sprachprojekt vom philosophisch fundierten Konzept einer deutschen Kulturnation als Sprachnation scheiden. Im Gegensatz zu dem zur Leitvarietät erhobenen Neuhochdeutschen war das umgangssprachlich nur noch rudimentär verwendete Althebräische ja zunächst aus der Schrift in die Alltagssprache zu transportieren, was auch bedeutete, es modernen semantisch-pragmatischen Erfordernissen anzupassen. Das ,Fossil' musste gleichsam ausgegraben und einem modernen Erscheinungsbild angepasst werden, ohne dabei die in ihm enthaltenden Kulturwerte (auch im Sinne einer spezifisch jüdischen Religiosität) zu beschädigen. Zwar hatten bereits die aufklärerischen Maskilim den Wert der Traditionssprache erkannt und zu fördern versucht, doch erst die zionistische Ideologie erhob das Hebräische zum Nationalsymbol: zum „Wahrzeichen nationaler Identität"231 und, praktischer, zur „zwingend notwendige[n] Komponente der nationalen Auferstehung".232 Es mochte auf den ersten Blick verwundern, dass die Kontrahenten in C.V. und ZVfD in vielen Punkten auf demselben Sprachkonzept fußten. Allerdings verlieren die ideologischen Differenzen zwischen beiden Lagern tatsächlich an Erheblichkeit, wenn man sich wieder präsent hält, „in welchem Ausmaß liberales Judentum und Zionismus aus denselben Quellen schöpften."233 Letztlich diente diese so deckungsgleiche Quellenfundierung beiden als Mittel zu ähnlichen Zwecken. Mit ihrer Hilfe ließ sich die eigene Nationalität positiv stärken, die deutsche wie auch die jüdische. 231 Rabin 1988, S. 49. 232 Nir 1992, S. 73. 233 Sieg 2001, S. 330.

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Während die liberalen deutschen Juden ihre Bindung an die (nationale) Muttersprache Deutsch als Argument gegen antisemitische Attacken ins Feld führten, verteidigten sich die deutschen Zionisten gegen innerjüdische Angriffe, indem sie die Betonung auf den nationen- und identitätsstiftenden Wert des Hebräischen legten. Doch ob nun Affirmation oder Skepsis die Einstellung zur Emanzipation dominierte: Zumeist hatten die Vertreter beider Lager eine Erziehung in deutsch akkulturierten Elternhäusern genossen, weswegen inhaltliche Parallelen zwischen jüdischem und deutschem bzw. westeuropäischen Nationalismus auch unter dem Aspekt kultureller Sozialisationsprozesse logisch erscheinen. Erst in einem regelrechten Kraftakt musste sich der postassimilatorische Zionismus von den Einflüssen seines Mutterlandes befreien, um den Blick schließlich ganz zum Land der Väter wenden zu können. Die scheinbar unauflösliche Divergenz zwischen Cohen und Klatzkin, deren Kontroverse zum deutsch-jüdischen Verhältnis als Prolog dieses Kapitels gedient hatte, wird von Paul Michaelis und anderen zusammengeführt: Ja, Deutschland war das Mutterland und ja, der Zionist musste es hinter sich lassen, Schritt für Schritt - und Wort für Wort. Erst mittels der Sprache der Urväter, der hebräischen Vatersprache, würde sich diese Bindung allmählich lösen und durch Erez Israel ersetzen lassen. Auf die kulturelle „Selbstentdeckung" musste die nationale „Selbstkonstruktion" folgen. 234 Für beides wähnten sich die deutschen Zionisten vor den Liberalen prädestiniert: Für die ,echte' Durchdringung in deutsche und jüdische Kultur ebenso wie für die Fähigkeit der Abwendung (von Deutschland) und Hinwendung (zu Israel). Argumentativ unterstützt wurde die These von der besseren Durchdringung, indem einige Zionisten völkisches Gedankengut einbezogen. Nur „weil er ganz Rasse, jüdische Rasse darstellt", zitiert Moses Calvary in der zionistischen „Welt" ein Wort Richard Dehmels, konnte der Maler Max Liebermann „für die deutsche Kultur so wichtig werden".235 Auch hier also wieder eine speziell deutschzionistische Synthese antagonistischer Interpretationsansätze: Nicht weil der deutsche Jude der jüdischen „Rasse" angehört, ist ihm sein Deutschtum unmöglich, sondern deutsch kann er vorzüglich deshalb sein, weil er so jüdisch ist. Zwar fehlte dieser zionistischen Deutung die aggressive und abwertende Komponente der völkischen Weltanschauung, doch sahen sich Vertreter beider Bewegungen einig in ihrem selbstbewussten Insistieren auf völki234 Vgl. Theisohn 2002, S. 122. 235 Die Welt, Heft 1, 6. Januar 1 9 1 1 , S. 5—8 (Moses Calvary: „Die erzieherische Aufgabe des deutschen Zionismus").

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sehe Eigenheiten in Abgrenzung zu Liberalismus und Relativismus.236 Keiner anderen jüdischen Richtung fiel es deshalb so einfach, Fichtes Ursprachen-Urvolk-Theorem für ihre Zwecke zu adaptieren. Eine dominant soziologische Interpretation der „Jüdischen Renaissance" als einer „Kultur von Juden für Juden" übersieht den hohen Integrationsgrad der jüdischen Minorität und die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden237, drängt also nicht nur die akkulturierten nichtzionistischen Juden, sondern auch eine Vielzahl von nicht minder akkulturierten Zionisten gerade in Deutschland an den Rand der Analyse. Indem nun jedoch in einem so dezidiert zionistischen Blatt wie der „Jüdischen Rundschau" die Erfahrung einer weit reichenden Teilnahme an der deutschen Geschichte nicht als Hemmschuh, sondern als Sprungbrett für eine jüdischen Zukunft in Erez Israel angesehen wurde, ließ sich die Auseinandersetzung zwischen der ersten Garde deutscher Zionisten um Bodenheimer und der zweiten Generation um Blumenfeld in einem doppelt positiven Lösungskonzept versöhnen. Die (kultur-)zionistische Argumentation für eine zweite und dann endgültige Etablierung des Hebräischen als Nationalsprache war von all dem beeinflusst. Sie musste erstens die zeitlose Vitalität der jüdischen Traditionssprache gegen die Behauptung stärken, hier würde der unmögliche Versuch unternommen, ein „totes", gleichsam fossiles Idiom zum Leben zu erwecken (Pro-Argument 1 vs. Contra-Argument l) 238 ; sie hatte zweitens die unhintergehbare Alltags-Bindung des Hebräischen an die jüdische Religion und Identität gegen die These zu schützen, diese Sprache verliere jenseits der literarisch-rituellen Sphäre jeden Sinn und Zweck (Pro-Argument 2 zu Contra-Argumente 2 und 3): von ihr war drittens der schwer erträgliche Druck zu nehmen, innerhalb Deutschlands als dominante Konkurrentin zur deutschen Muttersprache gelten zu sollen (ProArgument 3 zu Contra-Argument 3): und viertens musste ihre umgangssprachliche Revitalisierung als Projekt gekennzeichnet werden, das nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstände aus den eigenen Reihen zu realisieren war (Pro-Argument 4 zu Contra-Argument 4). Gerade die letzten beiden Argumente bedeuteten Konzessionen nicht nur an die liberalen Gegner, sondern auch an die eigene Anhängerschaft. Zwar hatte sich die Programmatik der ZVfD nach der internen Krise um 1913/14 konsolidiert, indem mehr und mehr die akkulturationsfeindliche,

236 Mosse hat auf ideologische Übereinstimmungen von zionistischer und völkischer Jugendbewegung hingewiesen (Mosse 1970, S. 78). 237 Sieg führt diese Kritik gegen Brenner an (vgl. Sieg 2001, S. 319; vgl. Brenner 1995, S. 197). 238 Vgl. die Überschriften der Kap. VI. 4.3-4.6. und Kap. V. 7.2-7.5.

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palästino-zentrische Fraktion die Oberhand gewann; indes finden sich auch nach 1914 im Vereinsorgan affirmative Bestätigungen deutschjüdischer Kulturnähe. Ihnen lag wohl die Hoffnung zugrunde, auch diejenigen Zionisten für das zionistische Programm zu gewinnen, die allen Versuchen einer Hebraisierung der Diaspora mit beträchtlicher Skepsis begegneten. Wieder gilt es, in einem letzten Schritt das zionistische Argumentationsmuster in einen Syllogismus der Form wenn (a) und wenn (b), dann (c) zu gießen. Er stellt den kleinsten gemeinsamen Nenner des zionistischen Sprachkonzeptes dar: Wenn erstens Sprache und Nation korrelativ aneinander gebunden sind (a) und wenn ^weitem die untergegangene jüdische Nation einst die Nationalsprache Hebräisch hatte (b), dann ist auch die Neubildung der jüdischen Nation an die Wiederbelebung der hebräischen Sprache gebunden (c).

5. Aufgeputzte Vogelscheuche? Die Einstellung zum Jiddischen Die Rolle der hebräischen Sprache als vermeintliches Mittel zur Einigung der zerstreuten Judenheit in einem nationalen Ganzen ist nun deutlich geworden. Ein wichtiger Punkt fehlt jedoch noch. Wenn die Zionisten in Kaiserreich und Weimar tatsächlich streckenweise in deutschen Bahnen gedacht haben, dann müssten sie der positiven, also integrierenden Dynamik der Sprache auch einen negativen, das heißt exkludierenden Effekt beigesellt haben. Mit anderen Worten: Wenn eine Leitvarietät als Nationalsprache etabliert wird, dann scheint dies zumeist über eine Verdrängung oder Abwertung anderer Varietäten vor sich zu gehen. So im Neuhochdeutschen. So auch im Hebräischen? Zu fragen ist also: Wie stand die „Jüdische Rundschau", Förderer und Forderer einer Revitalisierung des Hebräischen, zum Jiddischen als der weltweit am meisten gesprochenen jüdischen Sprache des Alltags?239 Am 22. Dezember 1933 [!] bezieht ein Schreiber dazu Position, indem er den mittelhochdeutschen Charakter der ostjüdischen Umgangssprache unterstreicht: Nirgends aber gibt es ein solches historisches Beispiel der Treue zu einer Sprache, wie sie die Juden durch Jahrhunderte wahrten, indem sie ihre dem mittelalterlichen Deutsch entlehnte jiddische Sprache in slawischer Umgebung bewahrten und verfeinerten, so daß man noch heute in diesem verachteten Jiddisch deutsche Worte

239 Vgl. Maier 1973, S. 782f., der hervorhebt, dass der überwiegende Teil gerade des einfachen Volkes nur Jiddisch verstanden habe.

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von Wohlklang und Gemütstiefe aufbewahrt finden kann, die im Hochdeutsch bereits verloren gegangen sind. 240

Wortwörtlich hätte sich diese Argumentation auch in der „C.V.-Zeitung" finden lassen können, und überhaupt waren sich „Hebraisten" und liberale Juden in ihrer Verdammung des „Jargons" überraschend einig.241 Wenige Einschätzungen waren so eindeutig negativ wie Herzls Wort über die „verkümmerten und verdrückten Jargons", die man sich eben „abgewöhnen" müsse.242 Doch selbst scheinbar gut gemeinte Apologien des Jiddischen in der „Jüdischen Rundschau" erweisen sich auf den zweiten Blick als Entwertungen seines Status. Beinahe ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers solidarisiert sich der Verfasser des vorgängigen Artikels mit einem Idiom, dem die rassischen Antisemiten von .Anfang an mit der stärksten Verachtung begegnet waren. Genötigt dazu fühlt er sich durch eine Note in „Muttersprache", der Zeitschrift des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins", in der im Dezember 1933 ein Heinrich Banniza von Bazan die üblichen Stigmata und Verdächtigungen gegen den jüdischen Umgang mit Sprache geäußert hatte.243 Wiederum geschieht dies nicht etwa, indem der zionistische Apologet die sprachliche Eigenständigkeit des Jiddischen unterstreicht. Stattdessen wird, wie man es aus zahlreichen Publikationen des Centraivereins kennt, die Kontinuität deutschsprachiger Anteile ins Zentrum der Bewertung gerückt — und zwar so, dass diesen Anteilen Kontinuität, Essenzialität, Euphonie und eine Art lexikalische Konservationsleistung zukommt: „so daß man noch heute in diesem verachteten Jiddisch deutsche Worte von Wohlklang und Gemütstiefe aufbewahrt finden kann, die im Hochdeutsch bereits verloren gegangen sind." Dieses Beispiel aus einem Artikel von 1933 zeigt: Die antiantisemitische Argumentation muss nicht zwangsläufig deshalb Wandlun-

240 241 242 243

J R 102, 22. D e z e m b e r 1 9 3 3 , S. 9 9 0 („Die Juden in der deutschen Sprachgemeinschaft"). Brenner 2 0 0 2 b , S. 18. Herzl, Der Judenstaat, 1 8 9 6 , S. 93. Die J R 102, 22. Dezember 1 9 3 3 , S. 9 9 0 zitiert: „ V o m halb-hebräischen Mauscheln sabbatfremder Kaftanträger bis zum anscheinend gepflegtesten Hochdeutsch neuzeitlicher Romanschriftsteller ist der W e g gar nicht so weit. Die Juden haben sich schon seit ältesten Zeiten für den täglichen Umgang unbedenklich der Sprache ihrer andersrassigen Umwelt bedient und das Hebräische dem Ausdruck der heiligsten Gedanken, dem W o r t der Feierstunde vorbehalten. Die Umgangssprache wechselte man, w e n n damit ein besseres Fortkommen, eine günstigere Tarnung erreicht wurde." - Z u m Zuge kommen hier die typischen Diffamierungen, wie wir sie schon aus der Analyse einschlägiger Artikel des „Hammer" kennen gelernt haben: Jüdische Sprachverwendung als Mimikry, als „Mitteilungswerkzeug", hinter d e m der „rassische Ausdruckswillen" des Schreibers und Sprechers steht; die grundsätzlich positive oder zumindest wertneutrale Bewertung des Hebräischen; die Stigmatisierung des jüdischen Umgangs mit Sprache als defizitär („Mauscheln").

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gen unterworfen gewesen sein, weil der Argumentierende nicht zum C.V.Lager zählte und die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse sich grundlegend geändert hatten. Im Gegenteil: Die Verteidigungsstrategie des Jiddischen scheint zumindest in Teilen gekennzeichnet gewesen zu sein von einer auch über verfeindete jüdische Lager hinwegreichenden inhaltlichen und zeitlichen Konstanz. Kann dies schon zu dem Schluss verleiten, dass die JR eine ähnliche Widersprüchlichkeit bei der Bewertung des Jiddischen aufweist wie die Zeitschriften des Centraivereins; dass also im zionistischen Lager Exklusionsmechanismen Anwendung fanden, die aus der Geschichte der Deutschen Bewegung bekannt sind, wo die Sprachdebatten durch Hypostasierung der neuhochdeutschen Leitvarietät einen extremen Grad an Nationalisierung erfahren hatten? — Eine solche Schlussfolgerung wäre wohl verfrüht, denn auch an dieser Stelle soll gleich im Ansatz der Gefahr begegnet werden, einen singulären Quellenbeleg zu generalisieren und dabei konträre Stimmen einfach zu überhören. Zur Prüfung der Leitthese sind demnach unbedingt weitere Nachweise erforderlich. Tatsächlich nämlich spiegelt die „Jüdische Rundschau" wider, wie unterschiedlich sich west- und osteuropäische Zionisten zum Jiddischen positionierten. Es wurde bereits angedeutet, dass der „Sprachenkampf um die zu favorisierende Umgangssprache in Palästina die Zionisten in zwei Lager spaltete. Die Jiddischisten plädierten für das Jiddische als lebendige Sprache der jüdischen Mehrheit, dem gegenüber die Hebraisten den „Jargon" verdammten und die Sakralsprache Hebräisch zu revitalisieren suchten. Dies war die Folge eines langen Prozesses. Säkularisierung und Haskala hatten nicht nur im Westen, sondern auch in Osteuropa zu tief greifenden Veränderungen geführt. Eine sich vergrößernde Schicht jüdischer Intellektueller verlangte nach neuen Definitionen jüdischer Identität und fand im Hebräischen das geeignete Medium zur Wiederbelebung des Judentums. Die Renaissance der jüdischen Traditionssprache schlug sich in der Gründung zahlreicher Zeitungen, Zeitschriften und in literarischen Werken nieder. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das Hebräische mit dem im Osten umgangssprachlich dominanten Jiddischen in Konkurrenz treten würde.244 Schließlich war die teilweise heftig geführte Kontroverse um die Frage „Jüdisch oder Hebräisch?" nur ein Derivat der Frage, wo die zukünftige jüdische Nation entstehen und wie sie sich entwickeln sollte. Neben den Jiddischisten etablierten sich die Bundisten, ein 1897 in Riga gegründete Bund jüdischer Sozialisten, als Förderer und Forderer der jiddischen Sprache und Kultur. Beide Gruppierungen waren an der Konfe244 Vgl. Brenner 2002b, S. 18, der die „politische Dimension" des Sprachenkampfes im Verlauf der „Polarisierung des jüdischen Lebens" in Osteuropa betont.

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renz von Czernowitz 1908 beteiligt, auf der unter Vorsitz Nathan Birnbaums245 eine Resolution zur Anerkennung des Jiddischen als jüdische Nationalsprache verabschiedet wurde.246 Die Territonalisten wiederum, zu denen auch der bei allem Idealismus pragmatische Herzl zu zählen ist, betrachteten die Sprachenfrage als reine Zeitverschwendung. Angesichts des grassierenden Antisemitismus sei statt aufwendiger kultureller Grundsatzdebatten die schnellstmögliche Schaffung einer nationalen Heimstätte vorrangig, ob nun in Palästina oder in Südamerika. Schließlich ist noch die zahlenmäßig kleine Gruppe der Agudisten zu nennen.247 Die 1912 als „Agudat Israel" gegründete anti-zionistische Organisation der religiösen Orthodoxie lehnte eine umgangssprachliche Revitalisierung des Hebräischen als Profanisierung der Sakralsprache ab und sprach sich zumeist gegen die Schaffung eines jüdischen Staates aus, da hierdurch der Messias-Gedanken verweltlicht würde. Zu den exponiertesten Gegnern einer Ausweitung des Jiddischen als Umgangssprache ist der langjährige JR-Chefredakteur Heinrich Loewe zu zählen, während der in Wien geborene Schriftsteller Nathan Birnbaum mit außergewöhnlicher Vehemenz das Wort zugunsten der ostjüdischen Muttersprache ergriff. Natürlich sind mit Loewes und Birnbaums konträren Positionen nicht die alleinigen Leitbilder der Debatte ausgewählt; wohl aber verspricht ihre Gegenüberstellung, die These von der Zwiespältigkeit zionistischer Werturteile über das Jiddische überprüfen zu können. Zu fragen ist, welchem Standpunkt das offizielle Organ der ZVfD die breitere Plattform bot — und damit auch die stärkste programmatische .Sympathie' entgegenbrachte. 5.1. Kontrastierung des Konflikts Hebräisch vs. Jiddisch: Der Sprachenstreit zwischen Jiddischisten und Hebraisten Loewe qualifiziert das Jiddische mit nahezu allen gängigen Varianten. Mal ist die ostjüdische Umgangssprache für ihn ein „Jargon" oder „Dialekt", mal eine „Pseudo-Nationalsprache", mal „das Jüdischdeutsche". Eine Be-

245 Nathan Birnbaum (1864—1891), Pseudonym Matthias Acher, Schriftsteller und Journalist, prägte den Begriff „Zionismus", wandelte sich von politisch-zionistischen über ostjüdischkulturellen bis hin zu orthodox-religiösen Überzeugungen; Gründer der „SelbstEmancipation", der ersten nationaljüdischen Zeitschrift in Westeuropa, gab 1930—33 die Zeitschrift „Der Aufstieg", später in Holland die Zeitung „Der Ruf" heraus. Zu den Wandlungen in Birnbaum Nationalideologie vgl. Doron 1984, S. 199-228. 246 Vgl. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 3 , 1 9 9 5 , S. 24. Vgl. Maier 1973, S. 784. 247 Vgl. Brenner 2002b, S. 20.

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Zeichnung vermeidet er jedoch durchgängig, obwohl gerade diese sich Anfang des 20. Jahrhunderts längst etabliert hatte: Die ostjüdische Sprache ist für ihn an keiner Stelle „das Jiddische" selber. Am 22. Januar 1904 veröffentlicht er einen Aufsatz mit der programmatischen Frage „Wer spricht Jargon?" Auch hier gilt: Nomen est omen. So sei das Jiddische ein „Jargon genannter Dialekt" mit der einzigen Bestimmung, die ostjüdische Gesellschaft von der Assimilation abzuhalten. In dieser Weise erfüllt die „Pseudo-Nationalsprache" der Ostjuden wertvolle Hilfsdienste für die Hebraisierung, nimmt dem Hebräischen gegenüber jedoch eine subalterne Stellung ein: Diese Pseudo-Nationalsprache mag zum Hebräischen in einem Verhältnis stehen, wie eine aufgeputzte Vogelscheuche zu einem munteren Mädchen; aber wenn sie nur den einen Zweck erreicht, lästige und schädliche Vögel zu verscheuchen, soll sie uns schon recht und willkommen sein. Und diesen Zweck einer Vogelscheuche erfüllen die verschiedenen „Jargon" genannten Dialekte vollauf. 248

Es ist davon auszugehen, dass ein derart geschliffener Stilist wie Loewe die negativen Assoziationen, die das Wort „Vogelscheuche" dem Leser aufdrängt, bewusst einkalkuliert hat. Eine „Vogelscheuche" besticht nicht durch Schönheit und kann nach der Ernte schnell überflüssig werden. Die Sprache der Ostjuden bleibt für ihn, analog zu einem Großteil der C.V.Publizisten, ein bloßes Mittel zum Zweck, ohne Zweck an sich zu sein. Am Ende des Weges wartet mit dem Hebräischen die einzig wahre Nationalsprache des Judentums. Die zionistische Bewegung in Deutschland wollte mit ihren Utopien zwar in erster Linie die osteuropäische Judenheit ansprechen,249 hielt jedoch deren lebendige Umgangssprache auf ein Maximum an Distanz. Dabei stießen vor allem Überlegungen zur Nationalisierung des Jiddischen auf harsche Ablehnung.250 Heinrich Loewe erwies sich als scharfzüngiger Kritiker der Politik des Centraivereins, aber seine Argumentation zur Verteidigung des Jiddischen gegen antisemitische Diffamierungen ähnelt in frappierender Weise dem apologetischen Muster seiner liberal-jüdischen Kontrahenten. Loewe, von Herzog eingeschätzt als „einer der ersten Zionisten in Deutschland",251 betont zu diesem Zweck immer wieder die deutschspezifischen Vorzüge des Ostjiddischen. 248 JR 4, 22. Januar 1904, S. 34 (Heinrich Loewe: „Wer spricht Jargon?"). 249 Brenner/Weiss 1999, S. 14. 250 Vgl. einen Artikel in „Der Jude" vom September 1916, in dem es unumwunden heißt: „Die Jargonbewegung [des Jiddischen als einer „Kultursprache zweiten Ranges"] ist eine Missgeburt der nationalen." Seinen positiven, teleologischen Wert findet das Jiddische — in seinem Untergang (Der Jude, Heft 6, September 1916, S. 413, J. Kaufmann: „Die hebräische Sprache und unsere nationale Zukunft"). 251 Herzog 1996, S. 285.

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Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept

„Das Jüdischdeutsche ist ein leicht erkennbarer und leicht verständlicher deutscher Dialekt", schreibt er 1917 in dem Aufsatz „Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden", „und damit Träger und Weiterleiter der Kultur und des Volksgeistes, die in der deutschen Sprache ihren Ausdruck finden"252. Seine ganze Einschätzung des Ostjiddischen liest sich wie ein Konglomerat liberal-jüdischer Sprachbewertungen: Die deutsch-jüdische Synthese mag sich bei den Ostjuden nicht am äußeren Erscheinungsbild offenbaren, in der lingualen Expression tritt sie zu Tage: „Jüdisch-deutsch". Zweitens ergibt sich daraus, dass es sich hier um keine eigene Sprache, sondern allein um eine Sprachvariante handeln kann. Die Quintessenz seiner Ausführungen legt das Jiddische eindeutig als „Mundart der deutschen Sprache"253 bzw. als deutschen Dialekt aus, der sogar „dem Hochdeutschen viel ähnlicher [ist] als irgendein niederdeutscher Dialekt oder eine bayerische oder schwäbische Mundart."254 Drittens sind die hebräischen und slawischen Einflüsse der primären Wirkkraft des Deutschen völlig untergeordnet: „Aber der Charakter der Sprache blieb deutsch."255 Viertens bewirkt die enge etymologische Verwurzelung des Jiddischen im Deutschen eine segensreiche Mission deutscher Kultur im Osten. Fünftens ist die klangliche Fremdheit dieses „Dialekts" für die Ohren vieler Deutschen eine Folge seiner etymologischen Nähe zum Deutschen.256 — Punkt vier und fünf sind natürlich an die Adresse der Antisemiten gerichtet. Gleich einem kostbaren Schmuckstück aus dem Mittelalter wird dieser deutsche „Dialekt" immer wieder denjenigen entgegengehalten, die ihn zu verunglimpfen trachten. Doch blieb der Wert dieses Schmuckstücks eben immer abhängig von den Wertungen anderer. Den Status einer ersten Umgangssprache für die jüdische Mehrheit der Diaspora wird Jiddisch jedenfalls auch nach Loewes Überzeugung bald einbüßen. Nathan Birnbaum war einer der wenigen, der sich früh gegen Versuche gewendet hatte, dem Jiddischen eine eigenständige Valenz abzusprechen. Der ostjüdische Herzl-Zionist Birnbaum kritisiert vehement die Benennung des Jiddischen als „Jüdischdeutsch" und gesteht der ostjüdischen Umgangssprache eine kulturelle Autonomie, eine immanente „geistige Eigenart" zu:

252 253 254 255

Loewe, Diejüdischdeutsche Sprache der Ostjuden, 1915/1916, S. 38f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 33. Vgl. S. 34: „Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden [...] ist in ihrem Grundbestande durchaus deutsch. Aber sie hat Beimischungen erhalten." 256 Ebd., S. 35.

Aufgeputzte Vogelscheuche? Die Einstellung zum Jiddischen

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Man kann oft der Behauptung begegnen, daß Jiddisch keine Sprache, sondern nur ein Jargon oder bestenfalls ein deutscher Dialekt sei. Aber selbst wenn diese Behauptung zuträfe — seine soziologischen Wirkungen blieben jedenfalls die einer Sprache: Nicht unter Deutschen und nicht an deutsches Wesen mehr oder minder angenäherten Juden, sondern unter Slawen, Romanen und Angelsachsen, und von Juden gesprochen, die national mit dem Deutschtum nichts zu schaffen haben — bringt es in der bunten Völkerwelt des Ostens und des transatlantischen Westens sprachlich ein eigenes jüdisches Volkstum zur unzweideutigen Geltung. 257

Diese „Sprache eines Zwölfmillionenvolkes" sei als „einheitliches Gebilde" kein „verdorbenes Deutsch, Kauderwelsch, Jargon" und schöpfe den Grund seiner Existenz auch nicht aus der Aufgabe, als verlängerter Arm der deutschen Kultur im Ausland zu wirken. Den Einwand, die Ostjuden mit dem Hinweis auf die deutschen Ursprünge des Jiddischen effektiver gegen antisemitische Attacken verteidigen zu können, lässt Birnbaum nicht gelten. Das Jiddische könne gut darauf verzichten, als Beweis der Treue gegenüber dem Deutschtum, als eine Art Offenbarung deutscher Kultur, als deutsch „glorifiziert" oder als nützlich für die deutsche Wirtschaft sozusagen entschuldigt zu werden. 2 5 8

Birnbaum argumentiert in seiner Apologie des Jiddischen nicht linguistisch. Die „sprachstammliche Verwandtschaft" zwischen der jiddischen und der deutschen Sprache wird von ihm ohne Zögern eingestanden, auch sei eine „seltsame Anziehungskraft" des deutschen Wesens auf das kulturell eigenständige Judentum im Osten nicht zu leugnen.259 Anziehungskraft bedeutet aber noch nicht Entsprechung. Weil die „sprachgeistige Verwandtschaft" marginal sei, zieht er eine Schlussfolgerung, die an Humboldts Gedankengänge erinnern lässt, jedoch streng nationalistisch separiert: Deutscher „Sprachgeist" entspreche eben deutschem „Volksgeist", ostjüdischer Sprachgeist ostjüdischem Volksgeist. Sein Appell an alle nichtjüdischen Deutschen ist eindeutig: Sie dürften gegenüber den Ostjuden „nicht einfach die Politik kopieren, die sie seit den Tagen der Emanzipation gegenüber der heimischen Judenheit befolgen."260 Nur wenn die „Entwurzelung der Eingewurzelten" ende und die Ostjuden auf

257 Birnbaum, Was sind die Ostjuden1916, S. 18f. Vgl. Herzog 1996, S. 263: „Er [Birnbaum] vertrat die Auffassung, die Ostjuden müßten sich vor den Einflüssen der assimilierten Juden und des politischen Zionismus bewahren. Das Jiddische bettachtete er als ,Ausdrucksmittel eines lebendigen Volksgeistes' und wollte es nicht als .Dialekt' oder Jargon' herabgewürdigt sehen." 258 Birnbaum, Den Ostjuden ihrRecbt, 1915, S. 15f. 259 Ebd., S. 19. 260 Ebd.

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Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept

ihrer sprachlich manifestierten Eigenheit beharrten, könne ihre Kultur ernst genommen werden.261 1890, in der nationaljüdischen Zeitschrift „Selbst-Emancipation" hatten seine Ausführungen zum Jiddischen noch einen ganz anderen Klang. Bevor sich Birnbaum zum Verteidiger der ostjüdischen Sprache berufen fühlte und im Sprachenstreit auf der Konferenz von Czernowitz genauso vehement wie erfolglos für das Jiddische als zukünftiges Leitidiom in Palästina plädierte, hatte er eine radikale Kehrtwende vollzogen, die durchaus charakteristisch für sein bewegtes Leben ist.262 In besagter Zeitschrift, die er redigierte, sprach er sich offen für das Hebräische aus und ließ es nicht an Polemiken gegen den „Jüdischen Jargon" fehlen, dessen corrumpirte hebräische Bestandtheile v o n der v e r d o r b e n e n und entdeutschten deutschen Grundlage grell abstechen. D e m J a r g o n fehlt jeder einheitliche Charakter als Sprache [...] Dieses Sprachenmischmasch ist nicht geeignet, die Sprache eines Culturvolkes zu w e r d e n . 2 0 3

Loewes kontinuierliche und Birnbaums gewandelte Einstellungen zum Ostjiddischen stehen für zwei unterschiedliche Programme, beide entstanden aus der Notwendigkeit, antisemitischen Verunglimpfungen dieser Sprache begegnen zu müssen. Eigenes, das vergessen ist, erzeugt Fremdheit; also muss immer wieder daran erinnert werden, wie sehr dieses vermeintlich Fremde doch das Eigene ist - so mag Loewes Quintessenz lauten. Birnbaums These steht dem diametral entgegen: Anderes, dessen kulturelle Eigenständigkeit verschwiegen wird, um es als geistiges Eigentum veranschlagen zu können, erzeugt erst recht Fremdheit und wird, indem es sich den permanenten Versuchen der Inbesitznahme entzieht, gerade deshalb verunglimpft; folglich müssen eben diese Versuche ein Ende haben. Dass die C.V.-Organe weitaus eher zu Loewes Standpunkt tendierten, kann nicht wirklich überraschen: Zu forciert wird auf das .Deutscheigentümliche' des Ostjiddischen verwiesen, zu oft daran erinnert, dass sich in und mit ihm nur das vergessene Eigene artikuliere.264 Und doch sind Loe-

261 Ebd., S. 23. 262 Vgl. dazu M. Gelber 2002, S. 219: „Birnbaum [...] erlebte einige persönliche Wandlungen. Stationen seines Weges finden sich etwa in der ideologischen Welt des DiasporaNationalismus, im Jiddischismus und später auch in der jüdisch-religiösen Orthodoxie." 263 Selbst-Emancipation, Heft 15, 2. November 1890, S. 1 (Nathan Birnbaum: „Der jüdische Jargon"). 264 Davon einmal abgesehen, empfahl sich Birnbaum mit seiner vehementen Kritik an der „Assimilationssucht" vieler deutscher Juden dem Centraiverein nicht als Vorbild oder Ratgeber. In diesem so betitelten Werk Birnbaums von 1883 findet sich auch die kühne Be-

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wes und Birnbaums Standpunkte zum Jiddischen gekennzeichnet von einer sprachideologischen Programmatik, welcher das liberale deutsche Judentum unterschiedslos fern stand. Birnbaum wollte das Jiddische als Umgangssprache aller Juden in Palästina etablieren. So erscheint es nur konsequent, dass er dieser Sprache eine „eigentümliche [nämlich jüdische] Seele" zuschreibt. Für Loewe andererseits konnte das „Jüdisch-Deutsche" keine Alternative zum Hebräischen als einziger Nationalsprache aller Juden bieten. Undenkbar ist für ihn die Vorstellung, Judentum und jüdische Nation wären an ein seiner Überzeugung nach nichtjüdisches Idiom gebunden: Das Jüdisch-Deutsche ist und bleibt eben doch deutsch. Dagegen ist selbst das schlechteste Hebräisch immer noch hebräisch, d. h. jüdisch. 265

Jeder Versuch, das Jüdisch-Deutsche als erste jüdische Leitvarietät zu etablieren, sei ein „nationaler Denkfehler."266 Betrachten wir nun die einschlägigen Artikel in der „Jüdischen Rundschau", dann zeigt sich ein deutliches Übergewicht an Stimmen, die Loewes Hebraismus teilen. Zwar wird die Notwendigkeit betont, das Jiddische zu hegen und zu pflegen, „um in ständiger Fühlung mit dem [...] Fühlen und Denken der übergrossen Mehrheit unseres Volkes zu bleiben"267; zwar mag im Jiddischen, wie Hugo Bergmann im Februar 1914 bekräftigt, „genau wie im Zionismus der Lebenswille des jüdischen Volkes" zum Ausdruck kommen; doch unter dem Strich stellt der „Jargon" nur eine Zwischenstufe dar. So sehr Jiddisch „Gegenwart" ist, so wenig kann es „Zukunft" sein.268 Zu vermeiden sei in erster Linie der Sprachtod des Jiddischen zugunsten des Deutschen, Polnischen oder Russischen. Mit der hebräischen Nationalsprache kann die ostjüdische Umgangssprache aber unter keinen Umständen konkurrieren:

265 266 267 268

hauptung, der Antisemitismus schade dem Judentum weit weniger als das Assimilantentum (vgl. Doron 1984, S. 204). Loewe, Die Sprachen der Juden, 1 9 1 1 , S. 91. Ebd. JR 49, 8. Dezember 1905, S. 665 (Lazar Felix Pinkus: „Jüdisch oder Hebräisch?"). JR/Beiblatt 5/7, 13. Februar 1914, S. 14f. (Hugo Bergmann: „Alljudentum"). Vgl. auch die Fortsetzung des Themas in: JR/Beiblatt 9/10, 6. März 1914, S. 2 1 - 2 3 (Hugo Bergmann: „Unsere Stellung zum Jiddischen"). Bergmann vergleicht dort die Muttersprachenideologie der Jiddischisten mit dem deutschzentrierten Sprachkonzept auf Seiten der liberaljüdischen „Assimilanten". Beide glichen sich gerade in ihrem Anti-Hebraismus bis aufs Haar und beförderten letztlich die Assimilation: „Wenn gesagt wird, wir könnten unsere Muttersprache nicht gegen die fremde hebräische vertauschen, der Zionismus [...] unterschätze die Geologie unseres Geistes [...] - so sind das fast dieselben Argumente, die wir aus dem Munde der Assimilanten gewohnt sind".

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Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept Unsere Nationalsprache ist zweifelsohne nur das Hebräische oder soll es nur sein. Aber die Angriffe auf das Jüdisch-deutsche verursachen sein Verschwinden nicht zu Gunsten das Hebräischen, sondern des Russischen und Polnischen, befördern also in ausserordentlich wirksamer Weise die Assimilation. Und dieses sollten wir Nationaljuden am allermeisten meiden! 2 6 9

Während der Centraiverein auf die deutsche Gesinnung und urdeutsche Sprache der Ostjuden insistierte, wurden diese von kulturzionistischen Autoren zu Widerstandskämpfern gegen die Assimilation stilisiert. Dort waren sie wandelnde Etymologien der deutschen Sprache, hier gelebte Exempel für unverfälschtes Judentum. Die Paradoxien in den Werturteilen der Liberalen übertrugen sich auf die der Nationaljuden. Jede ungebremste kulturzionistische Idealisierung der ostjüdischen Sprache und Kultur konnte in den Verdacht geraten, das eigentliche Ziel einer Hebraisierung des Ostjudentums aus den Augen zu verlieren. Das aber musste zwangsläufig den Sprachwechsel und damit die Verdrängung der Mameloschn bedeuten. Exemplarisch für die ambivalente Positionierung vieler Kulturzionisten zum Jiddischen ist ein Diskurs in den Nummern 49 und 50 der „Jüdischen Rundschau" vom 8. bzw. 15. Dezember 1905. In seinem Aufsatz „Jargon oder Jüdische Sprache" hatte ein B. Ünhut mehrere Punkte aufgelistet, weswegen das Jiddische nicht nur als jüdische Nationalsprache, sondern als Sprache schlechthin abzulehnen sei. Erstens sei „Jüdisch" eine „deutsche Mundart" mit hebräischen und wenigen slawischen Anteilen und als solche dem Deutschen „leichter verständlich als andere Dialekte, wie Plattdeutsch, Schwäbisch etc." Zweitens würde die Schriftform des Jiddischen sogleich ihre „Existenzberechtigung" verlieren, wenn sie nicht in hebräische Buchstaben, sondern in „deutsche Lettern" eingefasst wäre. Die Quintessenz dieser Argumentation liegt auf der Hand. Weder kommt dem Jiddischen der prestigeträchtigere Status einer Eigensprache noch der einer jüdischen Sprache zu, und auch ihre Schriftlichkeit steht und fallt mit ihrer allzu engen Bindung an das Buchstabengerüst anderer Sprachen.270 Doch reicht Ünhut diese Abqualifizierung noch nicht aus. Derart „grässlich verstümmelt" sei zuweilen das Deutsche im „Jüdischen", dass grammatikalisch defizitäre Wissenschaftsaufsätze in jüdischdeutschen Blättern in den Druck gingen, die Wendungen wie „Ich gehe in der (!) Schul'" ent-

269 JR 42, 16. Oktober 1908, S. 417 („Jüdische Sprachkonferenz"). 270 Vgl. JR 42, 16. Oktober 1908, S. 417 („Jüdische Sprachkonferenz"). Da die sprachpragmatische Funktionalität und literarische Produktivität des Jiddischen in den engen Grenzen einer „jüdisch-deutschen Mundart" und „Dialekt-Literatur" bleiben würden, müsse „die anspruchsvolle Resolution der Czernowitzer Konferenz" geradezu „grotesk" erscheinen.

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hielten. Die für den zionistischen Leser entscheidende Schlussfolgerung steht am Ende des Artikels. „Judendeutsch kann nicht die jüdische Nationalsprache werden", schließlich besitzen die Juden bereits eine Sprache, die überall, wo Juden wohnen, wenn auch nicht immer vollkommen, so doch von einem grossen Teile verstanden wird, es ist dies die hebräische Sprache. 271

Es verwundert nicht, dass ein solcher Aufsatz, dessen harsche Abwertung des Jiddischen stellenweise an Sprachstigmatisierungen in antisemitischen Publikationen erinnern lässt, eine direkte Replik erfuhr. Schon in der nächsten Ausgabe verteidigt Lazar Felix Pinkus das Jiddische gegen Ünhuts ungebremste Angriffe. Doch auch Pinkus will die ostjüdische Sprache weder dezidiert als Eigensprache bezeichnen noch ihr die terminologische Würdigung „Jiddisch" zuerkennen. Eine entscheidende Rolle spiele in erster Linie die Nutzbarkeit des Jiddischen für die zionistische Propaganda, denn Sprachkompetenz im „Jüdisch-deutschen" sei ein vorzügliches Mittel [...], um in [...] Fühlen und Denken der übergrossen Mehrheit unseres Volkes zu bleiben. Wir würden töricht handeln, uns eines so vorzüglichen Agitationsmittels, wie es die Beherrschung des Jüdischen im Osten ist, zu begeben. 272

Bündiger formuliert: „ohne Mameloschen keine Agitation im Osten".273 Wiederum springen die Parallelen zum Sprachkonzept des liberalen Judentums ins Auge. Die Argumentation stand dort unter anderen Vorzeichen, verfolgte andere Intentionen, zielte auf ein anderes Publikum - strukturell war sie dieselbe. Hatte nicht gerade „Im deutschen Reich" bei Kriegsbeginn und auch danach immer wieder eingefordert, das dem Deutschen so nahe Jiddische zur Instrumentalisierung aus Eigeninteressen zu nutzen: für die friedliche ,Mission' deutscher Kultur im Ausland ebenso wie für mögliche Kriegsagitation in Russland? War nicht auch in der „C.V.Zeitung" mehrmals betont worden, dem Jiddischen komme keinesfalls der Status einer Eigensprache zu? Hatte man nicht auch dort insgeheim gehofft, das ungeliebte Idiom der eigenen historischen Vergangenheit nun auch in den ostjüdischen Schtetl-Gesellschaften durch die neuhochdeutsche Leitvarietät ersetzen zu können? Und schließlich: Hatte nicht all dies auch in den C.V.-Organen zu einer ambivalenten, oft paradoxen, regelrecht lavierenden Haltung zum Jiddischen geführt, die sich schon allein an der beständig divergierenden Terminologisierung verriet? 271 JR 49, 8. Dezember 1905, S. 647f. (B. G. R. Ünhut: „Jargon oder Jüdische Sprache"). 272 JR 50, 15. Dezember 1905, S. 664f. (Lazar Felix Pinkus: „Jüdisch oder Hebräisch?"). 273 Ebd.

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5.2. Fazit Das zionistische Sprachprogramm einer Revitalisierung des Hebräischen als nationenkonstituierende Umgangssprache war bestimmt von einem spezifischen Exklusivitätsanspruch, vorgetragen mit exkludierendappellativen Argumenten. So undenkbar vielen Zionisten die Aufgabe der deutschen Muttersprache zugunsten des Hebräischen erschien, so leicht fiel es ihnen, die künftige Priorität einer jüdischen Traditions- und Nationalsprache im Osten festzuschreiben. In einer Vielzahl der untersuchten Argumentationen wird dem Jiddischen bestenfalls ein sekundärer Status zuerkannt. Denn bei aller Idealisierung der ostjüdischen Lebenswelt ist deren Leitidiom doch meist nur Mittel zum Zweck. Zweck und Zielpunkt bleibt das Hebräische. Positive Bewertungen der ostjüdischen Mameloschn sind von der Überzeugung geleitet, eine sprachlich-kulturell autonome Gesellschaft wie das Ostjudentum werde sich einer künftigen Hebraisierung letztlich weniger verschließen als das in der ,Goluskultur' aufgegangene Judentum des Westens. Existenzberechtigung und Wertstellung des Jiddischen bemessen sich demnach in erster Linie nach funktional-instrumentellen Gesichtspunkten, wobei beispielsweise die Lebendigkeit der jiddischsprachigen Erzählkultur (Scholem Alechem, Issak Lejb Peretz etc.) weitgehend ignoriert wird. Konkurrieren mit der Traditionssprache kann das Jiddische nach dieser zionistischen Argumentation ohnehin nicht, weil allein das Hebräische die religiösen und kulturellen Inhalte des jüdischen Volkes zu bewahren und ins Leben zurück zu bringen vermag. Kurz gesagt: Das Jiddische ist eine Sprache ohne Zukunft, dessen einziger Sinn darin liegt, den Siegeszug des Hebräischen vorzubereiten, um dann für immer zu verschwinden. Da die Jiddischisten um Nathan Birnbaum diese Deutung nicht akzeptieren wollten, war mit ihnen keine Verständigung möglich.

6. Zwei kulturzionistische Symbolfiguren: Achad Haam und Martin Buber Das zionistische Sprachprogramm war in den vorhergehenden Kapiteln vor allem anhand von thematisch relevanten Artikeln aus der „Jüdischen Rundschau" beleuchtet worden. Zusammen ergaben die sprachspezifischen Argumente ein recht klares Bild. Im Folgenden soll dieses Bild noch einmal geschärft werden. Die vorgängigen Thesen sind also anhand der sprachphilosophischen Ideen zweier Denker von zweifelsfrei gewichtigem Format zu verifizieren bzw. falsifizieren: Achad Haam und Martin Buber.

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Die Antwort auf die Frage, warum wieder einmal diese beiden als Exempel jüdischer Sprachphilosophie in Ost und West herhalten müssen, braucht nicht weit auszuholen. Beide Denker waren mehr als einzelne, einflussreiche und besonders produktive Persönlichkeiten; sie waren trotz oder wegen ihrer Eigenständigkeit und ihrer Außenseiterstellung Repräsentativ· bzw. Symbolfiguren des Kulturzionismus in Ost und West, so wie er damals im innerjüdischen und außerjüdischen Diskurs verstanden wurde.274 Beide, der fast ausschließlich auf Hebräisch schreibende Achad Haam und der dem Deutschen noch stark verhaftete Buber, spiegeln in ihren Schriften die Fragestellungen, Ziele und Methoden der kulturzionistischen Erneuerungsbewegung exemplarisch wider. In ihren Werken ist zudem das Dilemma thematisiert, mit dem alle Appelle zur Revitalisierung des gerade von westlichen Zionisten nur selten fließend beherrschten Hebräischen konfrontiert waren. Wohl auch deshalb widmet die „Jüdische Rundschau" den beiden Denkern ihre erhöhte Aufmerksamkeit, zumal gerade Buber die Zeitschrift als Plattform für seine Ideale und Ideen zu nutzten verstand. Zu fragen ist letztlich wieder: Lassen sich aus der Frucht ihrer, den jüdischen Nationalismus behandelnden Gedankengänge signifikante Teile herausschälen, welche den Kern anderer, die deutsche Kulturnation qua Sprache betonenden Paradigmen enthalten? 6.1. Renaissance des Geistes·. Achad Haams kritische Erneuerung des Zionismus „Israels Erlösung", schreibt Achad Haam am Ende seines Kommentars zum ersten Zionistenkongress in Basel vom 29. bis 31. August 1897, „wird durch Propheten geschehen, nicht durch Diplomaten."275 Der dies prophezeite, wollte selber nur „Einer aus dem Volke sein" {achad ha' am). In gewisser Weise lässt sich beides — Name und Prophezeiung — zu einem Glaubenssatz vereinen, der die Philosophie des 1856 im russischen Skwira geborenen Gelehrten Ascher Zwi Ginzberg, genannt Achad Haam, in den folgenden Jahren gleich einem Leitfaden durchziehen wird: Nicht in erster Linie durch politisch-ökonomisches Kalkül gewiefter Taktiker und deren Hauptstadt-Diplomatie, sondern mittels einer religiös-kulturellen Rückbesinnung und Erneuerung des jüdischen Volkes kann die Zionsidee zu neuem Leben erwachen. Dem materiellen Wunschdenken einer 274 Neues Jüdisches Lexikon, 1992, S. 276. 275 Achad Haam, Der erste Zionistenkongreß, 1897, S. 6.

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raschen Besiedlung Palästinas, wie sie die „Chibbat Zion" forderte, musste eine essenziell-ethische Fundierung des jüdischen Nationalismus vorangehen. Als unbedingt notwendig sah Achad Haam eine geistige und kulturellen Hebung des Judentums an, verstanden sowohl als sittliche Vervollkommnung des einzelnen Individuums wie des nationalen Ganzen. Von Beginn an positionierte er sich damit diametral zu zwei mächtigen Strömungen, die sich auch untereinander heftig bekämpften. Einerseits plädierte er für eine Überwindung der akkulturationistischen Ideologie des Centraivereins, lehnte aber andererseits einen auf nahe liegende politische Ziele zentrierten, kulturell eher desinteressierten Zionismus ab. Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen seiner unversöhnlichen Haltung, die ihn zum Außenseiter werden ließ, betrachteten weite Kreise im Judentum Achad Haam als Schöpfer und Instanz einer geistigen Renaissance des Judentums. 276 Für Robert Weltsch waren die Kulturzionisten gar die „Enkelkinder Achad Haams". 277 Im Anschluss an Achad Haams Protest-Modell einer kulturell-geistigen Revitalisierung des Judentums 278 entwickelte sich die kulturzionistische Bewegung, die in Deutschland mit der „Demokratischen Fraktion" eine organisatorischpolitische Stimme erhalten sollte. Bei der Auseinandersetzung mit Achad Haam und seiner Kultur- wie Sprachideologie ergeben sich einige methodische Schwierigkeiten. Zum einen lassen sich seine Anschauungen nicht durch ein geschlossenes, theoretisch fundiertes System bestimmen, sondern immer nur aus einzelnen Essays extrahieren. 279 Seine Philosophie ist meist - ganz ähnlich wie bei Nietzsche — das Ergebnis eines Denkprozesses ex negativo, somit entstanden aus einer radikalen Kritik an wechselnden Strömungen und Positionierungen. Ein abgerundetes System hätte keinen derartigen Aktualitätsbezug herstellen können, wie ihn Achad Haam durch seine Aufsätze in der von ihm herausgegebenen und redigierten Zeitschrift „Haschiloach" zu erreichen wusste. Seine Konzentration auf die essayistische Form birgt beides: Die Gefahr einer allzu subjektiven Auswahl ebenso wie die Chan-

276 So schreibt beispielsweise Leo Hirsch 1934 im „Morgen": „Der ,Ismus' Herzls, der nur von politischem Belang war, wurde kulturell durch Herzl fundiert." (Der Morgen, Heft 4, Juli 1934, S. 189 (Leo Hirsch: „Friedrich Nietzsche und der jüdische Geist"). 277 Reinharz 1982, S. 3, Anm. 7. 278 Vgl. Shapira 1992, S. 19: „In Achad Haams conception, prophecy embodied the spirit o f Judaism by virtue o f its ethical and social protest." 279 Elbogen weist auf Probleme hin, die sich aus Achad Haams essayistischem Stil ergeben (Elbogen 1967, S. 261 f.).

Zwei kulturzionistische Symbolfiguren: Achad Haam und Martin Buber

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ce, die zeithistorischen Entwicklungsgänge seiner Ideen in besonders „dichter Beschreibung" (C. Geertz)280 nachzeichnen zu können. Das zweite Problem resultiert aus dem ersten: Analog zu Achad Haams eigener methodischer Präferenz existiert über ihn selbst ebenfalls keine wissenschaftliche Gesamtstudie, obwohl er nahezu in jeder Untersuchung zum Thema Zionismus Erwähnung findet. Der uns hier eigentlich interessierende Aspekt, Achad Haams Einstellung zur Frage der jüdischen Nationalsprache, ist nirgends systematisch erforscht. Das gilt sowohl für seine Bewertung des Hebräischen als auch für die daraus resultierende Wirkung auf die Sprachideologie des deutschen Zionismus. Dabei darf die Bedeutung seiner Einstellung zu Sprache keinesfalls unterschätzt werden. Nicht nur dass Achad Haam wesentlich dazu beitrug, das kulturelle und — wie er glaubte — damit auch nationale Selbstbewusstsein des Judentums zu stärken; er, der konsequent auf Hebräisch publizierte, half außerdem mit, die konservierte Traditions spräche wiederzubeleben. In seinem Nachruf auf den Verstorbenen 1927 nennt Kohn ihn überschwänglich einen „Meister der Sprache und Schöpfer der neuen hebräischen Essayistik, deren größter Klassiker er geblieben ist."281 Achad Haams Leistung, sein ethischer „Wert" für die Zionsidee, wird in der „Jüdischen Rundschau" überaus positiv bewertet. Im August 1926, knapp fünf Monate vor Achad Haams Tod in Tel Aviv, würdigt der Zionist Max Meyer dessen Vorbildfunktion: Er pflanzte in uns den heiligen Eifer für unser wahres Wesen, das nur durch Studium und Kenntnisse unserer Kultur erkannt wird. Er gab uns das Ideal des hebräischen Kulturstrebens. Wir fühlten sofort, daß es gelte, nicht nur Kenner und Verwalter dieser unserer historischen Kultur zu werden, sondern auch ihr Träger. 282

Nach dem Krieg erreichte die aus Achad Haams Kritik gewonnene Idee des Kulturzionismus eine Annäherung bisher unversöhnlicher Richtungen. Politische Nationaljuden, Praktiker um die „Chowewe Zion" und die um die „Demokratische Fraktion" gruppierten Kulturzionisten vereinten sich mehr und mehr zu einem „synthetischen Zionismus". Anlässlich Achad Haams sechzigstem Geburtstag, heißt es in der JR: Achad Haams Geist hat die Arbeit wachsam behütet, reich befruchtet und in Liebe gesegnet. Die große Synthese hat dem Zionismus ihren Stempel aufgedrückt, so daß die Zionistische Organisation, Herzls großes Werk, am Ehrentag Achad Haams ihm heißen Dank sagen darf. Achad Haam ist der Unsere geworden. Sein Mahnen

280 Vgl. Kap. I. 1, S. 8. 281 Kohn, Bleibende Werte in Achad Haams Lehn, 1927, S. 80. 282 JR 60, 3. August 1926, S. 434 (Max Meyer: „Achad Haam und unser hebräisches Kulturstreben").

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Vatersprache, Mutterland: Das kulturzionistische Sprachkonzept und Wegbestimmen hat geschichtsgestaltende Kraft erhalten, weil es auf die Zionistische Organisation gewirkt hat, weil der politische Zionismus das Werk in die Hand genommen hat. 283

Im Folgenden wird in einem ersten Schritt Achad Haams Kritik an Akkulturationismus und Zionismus erläutert. Sie bildete einen wichtigen Ausgangspunkt für seine Sprachideologie und begründete seinen Ruf als eigenständigen (Quer-)Denker. Abschließend steht seine Einstellung zum Jiddischen im Zentrum. Das Hauptaugenmerk wird in allen drei Unterkapiteln auf der Frage liegen, ob die Zionsidee selbst eines ostjüdischen, hebräischsprachigen Denkers wie Achad Haam beeinflusst worden sein könnte von eben jenen Idealen, die zuvor das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation statuiert hatten. Dadurch werden in einem zweiten Schritt auch die grundlegenden Unterschiede schärfere Konturen gewinnen. 6.1.1. Geist vor Nation: Kritik an Assimilation und politischem Zionismus In seinem berühmten Aufsatz „Nicht dies ist der Weg!" von 1889 attackiert Achad Haam eine Ideologie, die den Zusammenhalt des Judentums nur noch über die faktische Bindung an die Religion und den aufgenötigten Widerstand gegen den Antisemitismus definiert. Konsequent müsse jeder einzelne bereits im Galuth darauf hinarbeiten, sich von den Fesseln der Assimilation - der „inneren Knechtschaft", wie es in einem anderen Aufsatz heißt284 — zu lösen. Dieser Abnabelungsprozess von den gewohnten Wertvorstellungen der nichtjüdischen Heimländer darf jedoch nicht zu kurzfristigen egozentristischen Handlungen verleiten. Achad Haam fordert ein „Gefühl der Nationalliebe", das frei ist von der Dominanz des persönlichen Vorteilsstrebens. Er möchte eine „Wiederbelebung des Herzens" verwirklicht wissen, verstanden als Revitalisierung des Judentums in „Geist" und „Gefühl." Die für nationale Affirmation besonders gut einsetzbaren, uns schon von der anti-antisemitischen C.V.-Apologie vertrauten Paradigmen „Wil-

283 JR 33, 18. August 1916, S. 471 („Achad Haams Jubiläum"). 284 Achad Haam, Der erste Zionistenkongreß\ 1897, S. 1. Siehe auch Achad Haam, Außere Freiheit und innere Knechtschaft, 1891, S. 146. Dort spricht er von einer ,,innere[n] Knechtschaft, die sich unter äußerer Freiheit verbirgt." Dieses innere Gefangensein hat zu einer Abhängigkeit gegenüber den Meinungen, Bildern, Klischees und auch Stigmata der anderen geführt (vgl. Achad Haam, Ein halber Trost, 1892, S. 165).

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le" und „Liebe"285 finden sich bei Achad Haam wieder - allerdings ergänzt um ein Bindeglied, dem die C.V.-nahen Juden nur eine untergeordnete Rolle beimaßen: dem „Glauben" bzw. der „Religion".286 Willensimpuls, Glaubensfestigkeit und Nationalliebe als „liebende Fürsorge des einzelnen für das Wohlergehen der Gesamtheit" mögen helfen, eine Entwicklung rückgängig zu machen, die den „persönlichen Vorteil" zur obersten Maxime erhoben hat. Im Verlauf der langen Diaspora-Geschichte des Judentums hatte, so Achad Haam, die Individualsphäre die Dimension der nationalen, schließlich der religiösen Gemeinschaft nach und nach verdrängen können. Obwohl er das Wort „Zionismus" hier noch nicht in den Mund nimmt,287 ist seiner Uberzeugung nach gerade der politische Zionismus Herzischer Prägung ein Kind des von ihm so heftig attackierten Individualegoismus: Doch die Fahnenträger unseres Gedankens verfuhren anders. Da sie selbst Individuen des jüdischen Volkes waren, deren Nationalismus mit egoistischen Elementen durchsetzt war, konnten sie es nicht übers Herz bringen, eine Saat zu säen, deren Früchte andere genießen sollten, die sie selbst aber nicht mehr erleben würden. 288

Achad Haam überzieht damit schon in einem seiner ersten politischen Aufsätze den staatsgründungszentrierten Zionismus mit schärfster Kritik, denn dieser ist für ihn nur ein Produkt einzelner Egoisten, die es nicht erwarten konnten, ihre Eigeninteressen befriedigt zu sehen. Statt des essenziellen und dann auch nationenkonstituierenden Gefühls „zum Leben der Gesamtheit" werden sie angetrieben von selbstsüchtigen Motiven. Ohne geistige Vorbereitung, ohne jede „Wiederbelebung des Herzens" lockt dieser falsch verstandene Zionismus Arbeiter nach Palästina, deren persönliche Qualitäten keinerlei Überprüfung erfahren. Ein derartig unfundierter „nationaler Bau", gegründet allein auf Narzissmus und Wirtschaftsinteressen, muss „in Trümmer zerfallen", wenn die anvisierten Ziele nicht sofort zu erreichen sind. Jenseits eines geistigen 285 Vgl. Achad Haam, Nicht dies ist der Weg!/ Erwiderung auf die Kritik seines Aufsatzes, 1889, S. 45. Er konstatiert, „dass, solange die ,Zionsliebe' kein lebendiges und durchdringendes Gefühl im Herzen des Volkes geworden ist, die Basis mangelt, auf der sich das Land aufbauen kann; dass wir daher mit dem Aufgebot aller Kräfte bemüht sein müssen, die Liebe zu unserem Volke und die Sehnsucht nach unserem Vaterlande soweit wie möglich zu steigern" [Kursive: Α. K.]. 286 Ebd., S. 38. 287 In anderen Aufsätzen wird Achad Haam direkter. In Die Renaissance des Geistes, 1902, S. 106f., unterscheidet er den „politischen Zionismus" von einem vorgängigen Zionismus „ohne jedes unterscheidende Epitheton." Dieser wie jener habe sich — bei vollständigem Desinteresse an Kulturfragen - auf die israelische Staatsgründung konzentriert. 288 Achad Haam, Nicht dies ist der Weg! Erwiderung auf die Kritik seines Aufsatzes, 1889, S. 42.

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Fundaments ist dem Bau einer jüdischen Nation aber keine Stabilität beschieden. Zwar dürfe man die „Trümmer" nicht „im Stiche lassen", doch sei vor jeder weiteren Besiedlung eine geistige Renaissance des Judentums zwingend erforderlich - eine als innere Einkehr zu verstehende Rückkehr auf jenen Weg, „auf dem wir am Anfang, in der Entstehungszeit des Gedankens, standen [...] nicht durch Macht und nicht durch Gewalt, sondern durch den Geist".289 Denn einer Staatsgründung stehen nicht nur äußere Widerstände, sondern insbesondere innere Hemmnisse entgegen. In ihrer Sorge um die äußeren Probleme würden die politischen Zionisten die inhärenten Defizite eines in seiner Identität zutiefst verunsicherten Volkes außer Acht lassen. Achad Haam findet dafür gewohnt harsche Worte: Noch besteht die i n n e r e F ä u l n i s , unsere „Psychose", gegen die bis jetzt alle Mittel vergeblich waren, in ihrer ganzen Widerwärtigkeit weiter. Was soll es uns nützen, wenn wir ein geeignetes Land finden, solange wir ungeeignet sind? „Nationales Selbstgefühl? W o dieses hernehmen? 290

Das war und blieb Achad Haams zentraler Kritikpunkt, aber auch, an Pinskers und Hess' Nationalidee anknüpfend, sein wichtigster positiver Ansatz: Jeder Landnahme und Grenzsicherung müsse die Besserung der zukünftigen Landsleute, jeder Remigration der Judenheit die Revitalisierung des Judentums vorangehen. Erst wenn die Schaffung einer Zufluchtsstätte für den Geist verwirklicht ist, wird Erez Israel eine - wie es im Baseler Programm heißt - „öffentlich rechtlich gesicherte Zufluchtsstätte" für geistig erstarkte Menschen sein können. Achad Haams Projekt ignoriert oder verachtet nicht die Diaspora-Juden, im Gegenteil: es geht von der Diaspora aus. Er konstatiert, daß uns vor allem andern, selbst noch vor dem „nationalen Entschluß", ein fester Ort für ein geistiges nationales Zentrum fehlt, ein Ort, der keine Zufluchtsstätte für die Judenheit, sondern für das Judentum, für unsern Nationalgeist sein soll, an dessen Aufbau und Ausbau sich sämtliche Juden in sämtlichen Ländern der Diaspora beteiligen sollen 2 9 1

Bevor Achad Haams Einstellung zur Sprache ins Zentrum rückt, ist zu klären, welchen Stellenwert die Kategorien „Wille" und „Gefühl" in sei289 Ebd., S. 44. Der letzte Teil spielt an auf eine Stelle im Tanach, Buch Sacharja, wo es heißt: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, allein durch meine Geist! - spricht der Herr der Heerscharen" (Sach 4,6). 290 Achad Haam, Dr. Pinsker und seine Broschüre, 1892, S. 73. 291 Ebd., S. 73f. Vgl. auch Achad Haam, Golusvemeinung, 1909, S. 227: „Es ist unsere Pflicht, unser nationales Leben in der Diaspora auszugestalten, bis zur äußersten Grenze des Möglichen', gleichzeitig aber die .vollkommene Lösung' jenseits der Grenzen der Diaspora zu suchen."

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nen Theorien einnehmen. Das Primat eines geistigen Zentrums in Palästina hatte Achad Haam von Leon Pinsker, dem Schöpfer der „Autoemanzipation", übernommen. Für Pinsker stellte der Antisemitismus ein „angeborenes Gefühl" dar, während die gegen den Antisemitismus gerichtete Emanzipation seiner Überzeugung nach an der Oberfläche des bloß Rationalen verblieben war. Die Autoemanzipation als belebende Neugewinnung der fremdmächtig unterdrückten und eigenmächtig versteckten jüdischen Identität erscheint dann als einzig passende Antwort auf diese Entwicklung. Im Prinzip bejaht Achad Haam diesen Lösungsvorschlag, doch gibt er zu bedenken, dass die akkulturierten Juden des Westens die Auswanderung zwar als ein Postulat des Verstandes erkennen, nicht aber als Notwendigkeit des Herzens empfinden würden. Das humanitäre Menschheitsideal müsse einem nationalen Volksideal Platz schaffen: Diese führenden Männer aber [...] die die Ideen des 18. und 19. Jahrhunderts in sich aufgenommen, und die sich als Menschen fühlen, sind noch sehr weit davon entfernt, sich als Angehörige der jüdischen Nation zu fühlen. Sie sind Menschenkinder, aber nicht Kinder ihres Volkes. Und sollten sie auch die logische Korrektheit der vom Verfasser gezogenen Folgerung, daß wir als Menschen auch eine Nation bilden müssen gleich den anderen, zugestehen, so würden sie ja nur so weit sein, die Notwendigkeit der Sache zu erkennen, aber nicht zu empfinden. 292

Wenn Achad Haam den Willen zur jüdischen Nation an die Empfindung für den nationalen Geist bindet, dann erinnert er an die Argumentationsweise des C.V. - nur ist es hier die Sehnsucht nach einem Land und nicht die Sehnsucht (des Dazugehörens) in einem Land, die den Willen leitet. Die Logik mochte den Willen zur Nation zwingend erfordern, doch was konnte dies nützen, „Wenn wir aber trotzdem nicht wollen, d. h. wenn wir diesen Willen nicht empfinden?"293 Der Wille zur Nation ist seiner Vorstellung nach keine Kraftanstrengung, auch keine Alternativentscheidung im Sinne einer Kantischen metaphysischen Autonomie des Wülens; er ist vielmehr „etwas Natürliches", „das von selbst aus unserer äußeren und inneren Lage hervorgeht"294, solange nur die Nation auf geistigen Humus gebaut ist. Ist der Prozess einer umfassenden Renaissance des Judentums erst einmal in Gang gesetzt, dann vermag sich der innerlich Gefangene Schritt für Schritt aus den Fesseln seiner geistigen „Knechtschaft" zu lösen. Er wird dann aus eigenem Antrieb die ,Sklavenstaaten' verlassen, um seiner inneren Freiheit die äußere Form der jüdischen Nation zu geben.

292 Achad Haam, Dr. Pinsker und seine Bmschiim, 1892, S. 68f. 293 Ebd., S. 69. 294 Achad Haam, Golusvemeinung, 1909, S. 220f.

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Die Heimstätte des Geistes gerät zu dessen „Heilstätte".295 Das wichtigste Mittel dazu ist die hebräische Sprache. 6.1.2. Der Geist der Sprache: Die Rolle des Hebräischen Achad Haams Bestandsaufnahme der Hebräischkenntnisse im Westen ist ernüchternd. Die hebräische Sprache und Literatur sei aus der Judenheit „so gut wie verschwunden" und lediglich auf die wichtigsten Festtage „zusammengeschrumpft". Hierin habe die andauernde Zerstreuung des jüdischen Volkes ihre eigentliche Ursache: So zerfallen die Juden nach ihren Wohnländern und Wirtsvölkern, indem ein jeder Teil von ihnen das Gepräge des betreffenden Nationalgeistes trägt, ohne imstande zu sein, sich als ein Volk durch einen Nationalgeist auszuzeichnen. 296

Doch dann, so Achad Haams Szenario, kommen die Zions freunde der „Chowewe Zion" und die Mitglieder des „Vereins zur Förderung der Zionsliebe" („Chibbath Zion") und wandeln die Unwissenheit des Volkes mit vereinten Kräften zur kraftvollen Revitalisierung jüdischer Kräfte. Der Boden wird besiedelt und bestellt, Schulen entstehen, die Sprache blüht auf: und welch ein Wunder! Gebildete Jünglinge, die weder Germanen noch Franzosen und dergleichen sind, die nur jüdische Jünglinge aus dem Lande der Juden sein wollen - und nichts weiter! Sie sprechen zwar auch einige andere Sprachen, aber ihre eigene Umgangssprache ist die Sprache der alten Hebräer (diese hatte der Bund als Unterrichts- und Umgangssprache eingeführt, um unter seinen Mitgliedern in den verschiedenen Ländern, die selbstverständlich alle heiße Patrioten ihres Vaterlandes sind und sich auch in Palästina mit fanarischer Begeisterung für die Sprache ihrer Heimat einsetzen, keine Eifersucht zu erregen.) 297

Allerdings fehlen zum Idealbild kulturell-nationaljüdischen Lebens noch vereinzelte Mosaiksteine. Achad Haam setzt sie nach und nach ein. Ist der positive Anschubeffekt in Palästina erst einmal erreicht, dann werden sich auch die emanzipierten Juden des Westens — die „deutschen, französischen und sonstigen Studenten ,mosaischer Konfession'" - an Wert und Schönheit der heiligen Sprache mit Stolz erinnern. Ein regelrechtes Unterrichtswesen in hebräischer Sprache entsteht: Und viele machen sogar plötzlich die Entdeckung, daß sie [die hebräische Sprache] hübsch und anmutig klingt, und bekommen Lust, sie zu erlernen. Weil nun die Zahl

295 Achad Haam, Die Biian^ 1912, S. 99f. 296 Achad Haam, Dr. Pinsker und seine Broschüre, 1892, S. 75f. 297 Ebd., S. 79.

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der Lernbegierigen groß wird, finden sich auch Lehrbegierige, „hebräische Lehrer aus Palästina selbst", die den anderen nichtpalästinensischen Lehrern vorgezogen werden. 298

Achad Haams optimistische Einschätzung unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der partiellen Disqualifizierung des Hebräischen durch den Centraiverein, weil er die Revitalisierung der Traditionssprache als Umgangssprache nicht nur fur möglich, sondern für zwingend erforderlich hält. Allerdings lässt sich ein ironischer Unterton in seinen oben zitierten Ausführungen kaum überhören. Wie oftmals bei ihm, so steckt auch in diesem Aufsatz untergründig eine zwiefache Kritik gegen Zionismus und Akkulturationismus. Denn es ist - konträr zu seinem Idealbild - ja gerade die Untätigkeit in kulturellen Belangen, die er den genannten zionistischen Organisationen wieder und wieder vorwirft. Schon in seiner Kritik am ersten Zionistenkongress 1897 hatte er eine Staatsgründungsfixierung der „Zionisten von gestern" als „Übereiltheit" scharf abgelehnt und bemängelt, dass dort nicht „unsere ganze Kraft vorläufig nur in unserem Sprechen und Fühlen liege"299. Noch ungnädiger beurteilt er freilich die Übernahme eines fremden Nationalgeistes durch den Akkulturationismus. Analog zu Buber, der des Öfteren von „Rasse", „Blut" und „Boden" sprach, zeigte Achad Haam wohl auch deshalb keine Scheu vor dem Gebrauch antisemitisch konnotierter und von den Liberalen anti-zionistisch verwendeter Vokabeln wie „Wirtsvölker", weil sie die Gefahr der Auflösung jüdischer Identität im Westen vielleicht am drastischsten vor Augen führten. Indem er beide Seiten der Medaille beleuchtete, konnte er den judenfeindlichen Simplifizierungsexperten die Spitze nehmen. Der Prozess der Nachahmung beispielsweise, von den Antisemiten unter dem uns mittlerweile hinlänglich bekannten Schlagwort der „Mimikry" stigmatisiert, sei prinzipiell eine positive Erscheinung. Wie anders, so fragt er in „Nachahmung und Assimilationssucht", sei in irgendeiner Gesellschaft die Entstehung und Entwicklung der Sprache denkbar, wenn nicht ein jeder dem andern nachahmte, sondern anstatt dessen wartete, bis ihn seine eigenen seelischen Kräfte dazu bringen würden, einen jeden Gegenstand genau mit demselben Namen zu bezeichnen wie sein Nachbar? 300

Die Gefahr gerade im Sprachlichen bestehe allerdings in einer „Nachahmungskunst", besonders dann, wenn diese sich zu einer „Nachahmungssucht" entwickelt habe. Ziel jeder Sprachenliebe müsse deshalb die „Aus-

298 Ebd. 299 Achad Haam, Der erste Zionistenkongreß, 1897, S. 3. 300 Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, 1893, S. 226.

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prägung" der „eigenen Individualität" und die Perfektionierung der „nationalen Eigenart" bleiben. Wenn nun der kulturkritische Denker in dieser Passage die größtmögliche Vielfalt in der größtmöglichen Einheit fordert, dann kann man die Parallelen zu dem sprachphilosophische Gedankengut eines Humboldt und Herder förmlich mit Händen fassen. Für einen seiner Zeitgenossen, Robert Weltsch, waren diese Zusammenhänge zumindest im Hinblick auf Fichte evident, in dessen „Reden an die Nation" auch kritische und nationaler Überhebung fern stehende Zionisten wie Weltsch keine Janusgesichtigkeit erkennen wollten, die mal die einladende, mal die verachtende Seite zeigte. So stellt Weltsch dem „ethischen Pathos" Achad Haams, der ja ins Innere jüdischer Kultur zielte, den „ethischen Nationalismus" Fichtes, der als Fanal nationaler und kultureller Wiedererweckung der Deutschen gedeutet wird, ganz selbstverständlich an die Seite.301 Für den Redakteur der „Jüdischen Rundschau" scheint der im 19. Jahrhundert neugeborene Nationalismus ganz besonders durch Achad Haams Kulturprimat eine Art Humanisierung im jüdischen Sinne erfahren zu haben. Dass Achad Haam in Teilen aus demselben mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Fundus geschöpft haben könnte wie seine zionistischen, vor allem aber C.V.-jüdischen Widerstreiter, mag trotzdem auf den ersten Blick überraschen. Achad Haam, der rebellische Denker aus Russland, der im Unterschied etwa zu Buber konsequent auf Hebräisch publizierte und sich von den Akkulturationisten radikal absetzte, ausgerechnet er soll die so deutsche Konzeption einer sprachbestimmten Kulturnation positiv aufgegriffen haben? Was zunächst wenig nahe liegend erscheint, wird bei genauerem Hinsehen jedoch plausibler. In „Nachahmung und Assimilatio n " bespricht Achad Haam einen Gedankengang des C.V.-nahen Publizisten Ludwig Geiger. Obschon er dessen Aussage in keiner Quelle verorten kann, hatte sie offenbar eine dauerhafte Erinnerungsspur bei ihm hinterlassen. Nach Geigers Überzeugung müsse ein Hebräisch Schreibender notwendig in emotionaler Distanz zur Sprache verbleiben; stattdessen werde er in den Gedankenkreis der Tradition, „in die Welt der Talmudweisen und Rabbinen" förmlich „hineingezwungen". 302 Achad Haam fordert demgegenüber eine Sprachbewegung mit dem Ziel, nicht nur in die Sphäre der Tradition, sondern auch in die des individuellen Geistes- und Gefühlsausdrucks zu gelangen. Zu sehen ist demnach, dass seine Gewichtung der emotionalen Sphäre auch auf seine Sprachbewertung Einfluss nimmt. Hebräisch dürfe nicht nur im Status

301 D i e Welt, H e f t 40, 1. Oktober 1913, S. 1361 (Robert Weltsch: „ E i n interessantes D o k u ment zur Geschichte des Zionismus"). 302 A c h a d H a a m , Nachahmung und Assimilation, 1893, S. 236.

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einer Vermittlerin des kulturell-religiösen Erbes verharren, sondern sie müsse zur Sprache der individuell charakteristischen „Selbstentäußerung" werden. Laut Achad Haam empfindet mancher hebräischsprachige Schriftsteller dies bereits und gestaltet das Hebräische um — ganz so als wäre es ihm schon eine lebendige Umgangssprache: Aber die hebräischen Schriftsteller des Ostens und des Heiligen Landes, die noch jetzt die Sprache ihrer Väter als einen Teil ihres Selbst empfinden, fühlen gerade, wenn sie hebräisch schreiben, das Bedürfnis, aus dem tiefsten Innern ihrer Eigenart heraus zu schaffen, und sie bemühen sich daher, die Sprache umzugestalten und so zu vervollkommnen, daß sie auch ihnen, wie einst ihren Vätern, zum bequemen Ausdruck ihrer eigenen Geisteswelt werden kann. 303

Sprache als Ausdruck der eigenen Geisteswelt1 — eine Wendung, die bekannt vorkommt. Die These von der Sprache als Ausdruck menschlicher Geisteskraft findet sich bei Humboldt wieder.304 Mit ihr und durch sie werde stets eine je „eigentümliche Weltansicht'' geäußert.305 Schriftsteller, „vorzüglich die Dichter und Philosophen", waren der bdruk [sie!] des Geistes" einer Nation,306 „Sprache, in welcher Gestalt man sie aufnehmen möge, immer ein geistiger Aushauch eines nationell individuellen Lebens,"307 So ließe sich beliebig fortfahren, auch bei Herder, doch soll es an dieser Stelle nicht um simple terminologische Parallelisierungen, sondern um Inhalte gehen. Achad Haam hatte mit dem oben zitierten Passus angemahnt, nicht zu vergessen, dass die Verwendung einer Sprache, selbst wenn sie nur in Form der Schrift existiert, stets einen ganz individuellen Prozess in Gang setzt. Wer die Sprache einer Nation spricht oder schreibt, der übernimmt den Geist dieser Nation, indem er ihn nach und nach in die Sphäre der „eigenen Geisteswelt" transformiert. Und er hilft, sie „umzugestalten und zu vervollkommnen", weil er den in einer reinen Schriftsprache gehemmten Veränderungsprozess vorantreibt. Dass auch das Studium der Sprachen untergegangener Nationen der Erweiterung der je eigenen Weltsicht dienen kann, hatte Humboldt am Beispiel des Altgriechischen aufzuzeigen versucht und daran wichtige Forderungen seines Schul- und Bildungskonzepts geknüpft.308 Auf der Basis dieser Sprachphilosophie gehen Achad Haam und mit ihm andere

303 Ebd. 304 Humboldt, 305 Humboldt, A. K ] , 306 Humboldt, 307 Humboldt, 308 Humboldt,

Über die Kam Sprache auf der Inset Java, 1830-1835, S. 41 f. [Kursive: Α. K.] Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—1829, S. 179 [Kursive: Über das Studium des Altertums, 1793, S. 271 [Kursive: Α. K.]. Über die Kawi Sprache auf der Insel ]ava, 1830-1835, S. 48 [Kursive: A. K ] , Über die mit dem Königsbergischen Schulwesen vorzunehmenden Reformen, 1809, S. 266f.

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Kulturzionisten nun lediglich einen Schritt weiter, indem sie die Revitalisierung einer Nationalsprache als Umgangssprache zur ersten und wichtigsten Voraussetzung für die Renationalisierung eines Volkes erklären. Da das Individuum auf das Nationenganze einwirkt und das Nationenganze wiederum auf das Individuum zurückstrahlt, fordert Achad Haam in „Golusverneinung" von 1909 eine Erziehung zu „nationaler Kultur": Einerseits — die volle Entfaltung der schaffenden Kräfte der Nation in eigener und eigenartiger nationaler Kultur, und andererseits die vollkommene Erziehung der Volksindividuen in der Atmosphäre dieser nationalen Kultur. 3 0 9

Geschieht dies nicht, werden die Individuen also nicht von diesem Geist durchdrungen, dann erleidet die gesamte nationale Kultur empfindlichen Schaden: Sind die Individuen des Volkes nicht vom Geiste der nationalen Kultur durchdrungen, so muß diese endlich in ihrer Entwicklung stehen bleiben, die schöpferische Kraft der Nationen verkümmern oder in anderen Kulturen aufgehen. 310

Der Geist als nationenbildende Entität nimmt bei Achad Haam eine ganz zentrale, ja, unvergleichliche Position ein. In „Renaissance des Geistes" spricht er von der „originellen Schöpferkraft", „die in unserem Volksgeist schlummere".311 Die jüdische Renaissancebewegung muss es sich zur Aufgabe machen, eine Art kulturelle Anamnese durchzuführen; es gilt, das Verborgene hervorzuholen, bevor die Assimilation es unauffindbar gemacht haben wird. Seine Überhöhung des Volksgeistes lässt an idealistisch-essenzialistische Denkmodelle erinnern. Der personifizierte Geist des Volkes erscheint als eigener Organismus, der innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit fühlt und denkt, Geltungsansprüche verfolgt und Handlungsmaximen offenbart: Denn das ist eines der wesentlichen Charakteristika unseres Volksgeistes: daß er Kompromisse nicht liebt und nicht auf halbem Wege stehen bleiben will, sondern einen Gedanken, den er einmal für wahr erkannt und zur Grundlage seines Handelns gemacht hat, mit allen Konsequenzen sich zu eigen m a c h t 3 1 2

Analogien zu den Exponenten der Deutschen Bewegung, zu deren philosophischen Pionieren und Nachzüglern, treten nun immer deutlicher zutage, und es wird auch klar, wieso Achad Haam und mit ihm viele Kulturzionisten so argumentieren mussten: Nur indem sie dem jüdischnationalen Volks-

309 310 311 312

Achad Haam, Golusvemeinung, 1909, S. 219 Ebd., S. 219f. Achad Haam, Die Renaissance des Geistes, 1902, S. 113. Ebd., S. 114.

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geist ein Weiterleben im Galuth attestierten und sein Refugium in der geschützten Sphäre hebräischsprachiger Überlieferung ansiedelten, konnten ihre Appelle zur Revitalisierung des Judentums an Glaubwürdigkeit gewinnen. In dem Aufsatz „Ein Sprachenstreit" aus dem Jahre 1910 präzisiert Achad Haam seine Auffassung von Sprache noch einmal. Hauptthema ist die Auseinandersetzung zwischen Jiddischisten und Hebraisten um die zu bevorzugende Unterrichtssprache in Palästina, doch sollen uns hier zunächst nur seine allgemeinen Sprachbetrachtungen interessieren. Das „nationale Band" hält die Juden seit dem Golus durch drei Bestimmungsgrößen zusammen: Literatur, Glaube und eben Sprache. Während die Religion den Tempel und die Literatur eine Poesie verlor, „die den Erdgeruch des Vaterlandes an sich trägt", musste die Sprache auf ihre Rolle als Medium alltäglicher Kommunikation verzichten. Sie „schwand immer mehr vom Markte des Lebens, um nach und nach die Sprache der Bücher allein zu bleiben." Indes, die Juden nahmen diesen Schatz mit in alle Ferne. Das „nationale Kapital" sprachgebundener Tradition blieb lebendig. Mit seiner Hilfe ließ sich der „Volksgeist" wach halten: Und so ward der geborgene Rest des nationalen Kapitals befähigt, mit dem Volke auf die Wanderschaft zu gehen, um seinem nationalen Leben in den finsteren Tagen des langen Golus Unterhalt zu bieten. 313

Die anti-zionistischen Juden versuchten nun, die Trias grenzjenseitiger Verbundenheit zu marginalisieren: Religion sei ein Faktum, nicht aber ein immer neu zu beweisendes Bekenntnis, die hebräische Sprache und Literatur ein lohnendes Studienobjekt für „Altertumsforscher", keinesfalls jedoch relevant für das gegenwärtige, alltägliche Leben. Während der Osten den Forderungen nach Entnationalisierung des Judentums weitgehend widerstand, leistete der Westen ihnen Folge. Die jüdischen Charaktermerkmale der Sprache und Literatur gingen unter, der jüdische Glaube büßte seine Hauptrolle ein. Die betont akkulturierten Juden kamen auf den „absonderliche[n] Einfall, [...] daß man die jüdische Religion von der jüdischen Nationalität trennen könne."314 Achad Haams zentrale These lautet nun: Je mehr das nationale Band einer gemeinsamen Religion, Kultur, Sprache und Religiosität reißt, desto eher schwindet der Nationalgeist als Glaube an die jüdische Nation. Die Sprache nimmt hierin eine hervorragende Stellung ein. So wie die nationale Konstituierung mit der Etablierung einer Nationalsprache verknüpft ist,

313 Achad Haam, Ein Sprachenstreit, 1910, S. 157. 314 Ebd., S. 161.

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so geht der Niedergang der Nation einher mit dem Niedergang der Nationalsprache: Eine nationale Sprache erwirbt diese Würde von selbst durch die Geistesarbeit der Geschlechter, die sie in sich aufgenommen hat, und stirbt sie — so stirbt der Geist der Nation mit ihr und lässt sich nicht ersetzen. Im nationalen Leben gibt es keine zweite Ehe. 3 1 5

Mag die Nation Geschichte sein, in der Nationalsprache bleibt dem Nationalgeist das Refugium schlechthin, um überleben und dann, eines Tages, die Nation reanimieren zu können. Der Grundgedanke des Konzepts einer sprachbestimmten Kulturnation kehrt demnach bei Achad Haam wieder.316 Grimm und mit ihm die Granden der deutschen Bewegung hatten zwar nicht von „Wanderschaft" und „Zerstreuung" gesprochen, aber doch von einer grenzjenseitigen Kultur der deutschen Sprache, die alle Deutschen verbinden solle. Gerade weil Achad Haam sich nicht auf geografische Demarkationslinien fixiert, gerade weil er zuvörderst die Heilung der jüdischen Geisteswelt durch Revitalisierung der Sprache bereits in der Diaspora einklagt, steht er, ob nun gewollt oder nicht, in besagter Traditionslinie. Was schon einmal für alle Deutschen hatte gelten sollen, mochte nun auch für einen Großteil der Juden kraft ihrer eigenen Sprache Wirkung zeigen. Andere Parallelen auf der Kategorientafel — nationaler Wille und nationale Empfindung etwa — kommen hinzu. Ohne den Willen zur Nation, gebunden an das ehrliche Gefühl für den kulturell belebten Volksgeist, bedeutete auch für Achad Haam der Bau eines neuen Staates ein illusorisches Unterfangen. Seine Forderung, ein „intensives Nationalgefühl" im „Herzen eines Volkes" zu entwickeln, statt nur noch in der „Sprache des persönlichen Vorteils" zu reden, hat die Unität des Judentums im Sinn, die es gegen dessen weitere Atomisierung zu schützen gilt. Dass es für diesen Prozess, von einer noch wenig geschlossenen „Stammesliebe" zur festeren „Nationalliebe" und schließlich zur nationalen Einheit zu finden, einige wenige historische Vorbilder gibt, macht Achad Haam sogar explizit. Neben Italien ist es die deutsche Nationswerdung, die ihn interessiert: Im Mittelalter waren die italienischen Städte getrennt und miteinander verfeindet, und doch eigneten sich schließlich die Italiener ein starkes Nationalgefühl an. Und [...] wem ist es unbekannt, was die Deutschen vor wenigen Jahrzehnten waren? „Wir haben die Zeit noch in frischer Erinnerung, - sagt ein berühmter deutscher

315 Ebd., S. 161. 316 Ebd., S. 157: „Und so ward der geborgene Rest des nationalen Kapitals befähigt, mit dem Volke auf die Wanderschaft zu gehen, um seinem nationalen Leben in den finsteren Tagen des langen Golus Unterhalt zu bieten."

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Gelehrter - w o man uns nicht ohne Grund den Vorwurf machen konnte, daß es keinem andern großen Kulturvolke jemals in den Grade, wie dem unsrigen, an einem kräftigen und gesunden Nationalgefuhl gefehlt habe." Und was sehen wir jetzt? 317

Die rhetorische Frage am Ende dieser Passage richtete sich an den zionistisch justierten bzw. interessierten Leser. Wieder wird, ganz wie in den zuvor analysierten Artikeln der „Jüdischen Rundschau", die Analogie zwischen deutscher Vergangenheit und jüdisch-nationaler Zukunft gezogen, um nahe zu legen: Das Ergebnis — die im jüdischen Geist revitalisierte Nation Israel - könnte dasselbe sein. Doch auch die Differenzen dürfen hier nicht unterschlagen werden. Natürlich unterscheidet sich der kritische Denker aus Odessa mit seiner enormen Gewichtung des Glaubens und der Religion, gewiss typisch für die zionistische Nationalbewegung im Ganzen,318 fundamental von den Exponenten der Deutschen Bewegung. Da bis zur deutschen Einheit die protestantische und die katholische Kirche im Bunde mit dem deutschen Adel und seinen Partikularinteressen gestanden hatten und die Glaubensspaltung ein wesentliches Hindernis für eine gesamtdeutsche Einigung gewesen war, hatte der christliche Glaube als einheitsstiftende Kraft in Deutschland weitgehend ausscheiden müssen. Anders bei Achad Haam: Für ihn konnte es keine jüdische Nation ohne jüdische Religiosität geben, weil kein jüdisches Volk ohne ein selbstbewusst religiöses Judentum möglich ist. Jüdische Identität jenseits einer gesetzestreuen jüdischen Religiosität bedeutete für ihn ein Widerspruch in sich. Konsequenterweise verwarf er die Interpretation des Centraivereins, das Judentum sei eine „Glaubensgemeinschaft", als halbseidenen Versuch, an dem längst Aufgegebenen nur noch pro forma festhalten zu wollen. Zieht man jedoch diese nicht unerhebliche Differenz ab, dann zeigt sich, dass Achad Haam in einem bekannten Koordinatensystem lediglich die Variablen austauscht. Die affirmativ akkulturierten Juden waren seiner Meinung nach ja gerade deshalb in die falsche Richtung gegangen, weil sie ihre eigenen Kulturcodes gegen fremde ausgetauscht hatten. Ließ sich dieser Schritt in die falsche Richtung jedoch rückgängig machen, konnten also die Variablen der deutsch-jüdischen Synthese durch die einer genuin jüdischen These ausgetauscht werden, dann schien realisierbar, wovon

317 Achad Haam, Nicht dies ist der Weg!/Erwiderung auf die Kritik seines Aufsatzes, 1889, S. 53. 318 Brenner/Weiss 1999, S. 9: „Zu den auffallenden Besonderheiten in der Entwicklung des Zionismus als nationaler Bewegung [...] gehört die komplexe Rolle, die das religiöse Moment einnimmt."

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nationalbewusste Juden seit Jahrhunderten geträumt hatten: „die zerstreuten Teile des Volkes [...] zu neuem nationalen Leben zu wecken." Ein Gegenargument der C.V.-nahen Juden verwirft Achad Haam gleich im Ansatz: Weil seiner Uberzeugung nach die jüdische Sprachakkulturation die „individuelle Eigenart"319 des Jüdischen eliminiert habe, ist eine jüdische Nationalliteratur ausschließlich in hebräischer Sprache möglich.320 Die Schriften der C.V.-Idole Heine und Börne lassen sich demnach nicht als jüdische Schriften kategorisieren. Eine Revitalisierung des Hebräischen als Sprache des Alltags ist und bleibt das probateste Mittel jüdischer Renaissance. Doch der Weg dazu lag, Achad Haam durchaus bewusst, voller Steine: Wie ließ sich das Hebräische aus dem quasikonservierten Zustand einer reinen Schrift- und Ritussprache in die Sphäre einer lebendigen Umgangssprache und Literatur heben, wenn selbst führende Zionisten bei Kongressen die Muttersprachen ihrer Länder bevorzugten? Gershom Scholems hatte noch 1926 in einem Brief an Franz Rosenzweig zu den zionistischen Revitalisierungsversuchen des Hebräischen kritisch angemerkt: Dies Land ist ein Vulkan: Es beherbergt die Sprache [...] Was [aber] ist mit der „Aktualisierung" des Hebräischen? Muß nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? Freilich, man weiß nicht, was man tut. Man glaubt, die Sprache verweltlicht zu haben. Aber das ist ja nicht wahr [...] Jedes Wort, das nicht neu geschaffen wird, sondern aus dem „guten alten" Schatz entnommen wird, ist zum Bersten voll. 321

Der Schlüssel zur Lösung des Sprachproblems lag für Achad Haam in jener angesprochenen Bündelung und Weiterentwicklung nationaler Kultur in einem geistigen Zentrum, um von dort aus den Funken zur Wiederbelebung des Hebräischen auf die Juden in der Diaspora überspringen zu lassen. Was manchem Vertreter der Deutschen Bewegung Weimar gewesen war, konnte dem Nationaljuden nun Jerusalem oder eine andere heilige jüdische Stätte werden. Die Felder des Geistes waren für Achad Haam damit abgesteckt. Sie mussten bestellt, zuvor aber gegen innerjüdische Gegner verteidigt werden. Schließlich existierte noch ein anderes jüdisches 319 Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, 1893, S. 231. 320 Achad Haam, Die Renaissance des Geistes, 1902, S. 125f: „Die nationale Literatur jedes Volkes ist nur die, welche in seiner nationalen Sprache geschrieben ist." Zwar mag eine Spur des jüdischen Geistes auch in nichthebräischen Werken von Juden enthalten sein, doch „alle gehen auf in der allgemeinen Literatur jenes Volkes, in dessen Sprache ihre Worte geschrieben wurden." Wieder ist das Gefühl die entscheidende Argumentarionskomponente. Keineswegs könne das Volk für nichthebräische Werke „im Herzen jenes lebendige Gefühl [entwickeln], das jedes Volk für alle Ewigkeit an seine Nationalliteratur knüpft". 321 Zit. n. Brenner/Weiss 1999, S. 13.

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Idiom, trotz aller Anfeindungen immerhin die erste Umgangssprache für zwei Drittel der gesamten Judenheit: das Jiddische.

6.1.3. Die „Aphasie" des „Jargons": Der sekundäre Status des Jiddischen Achad Haams Einstellung zum Jiddischen resultiert aus seiner Volksgeistideologie. Die erste Umgangssprache der allermeisten Ostjuden kann seiner Überzeugung nach schon deshalb keine nationalsprachliche Option sein, weil sie zwar über eine gegenwärtige Vitalität verfügt, nicht aber genügend Traditionalität transportiert. Zwar wird die jiddische Mameloschn im Osten als Muttersprache empfunden, doch ist sie letztlich Ausdruck eines sekundären kulturellen Erbes. Mit anderen Worten: Die dreitausendjährige religionsursprüngliche Kraft des Hebräischen wiegt ungleich schwerer als das vergleichsweise junge, vitale Jiddisch. Eine nationale Sprache definiert sich nun aber nicht allein durch die Tatsache, dass sie gesprochen wird, sondern auch und besonders durch den kulturgeschichtlichen Nährboden, dem sie entwachsen ist und dessen Ernte sie in sich trägt. Der verborgene jüdische Volksgeist „schlummert" nicht im „Jargon", sondern in der „Schatzkammer der einzigen Nationalsprache" Hebräisch: Denn damit eine Sprache sich zur Stufe einer nationalen Sprache erhebe, genügt es nicht, daß sie die Muttersprache sei, sie muß vielmehr zugleich auch die Geistesschätze der Nation aus vergangener Zeit in sich fassen. 322

Einen „Jargonnationalismus" lehnt Achad Haam entschieden ab und kommt 1910 zu der recht kühnen Behauptung, der Sprachnationalismus der Jiddischisten werde „erst jetzt entrollt [...], zu einer Zeit, da der Jargon selbst bereits in Vergessenheit zu geraten beginnt". 323 Freilich ein Widerspruch in sich, denn selbstverständlich nahm eine bewusstseinsbildende Umgangssprache wie das Jiddische genauso Anteil am mentalitätsgeschichtlichen Wissensbestand wie eine tradierte Sakralsprache. Doch innerlich wüssten die Ostjuden, so Achad Haam, um den wahren Wert des Jiddischen: Es sei ein vorübergehendes „Hilfsmittel" im täglichen Verkehr, zum Untergang verurteilt, wenn das Hebräische erst wieder in seinen alten Stand eingesetzt sein sollte.

322 Achad Haam, Ein Sprachenstreit, 1910, S. 160. 323 Ebd., S. 161.

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An Achad Haams Ausführungen zeigt sich, dass selbst ostjüdische Kulturzionisten, eigentlich prädestiniert für eine positive Beurteilung der auch sprachlich eigenständigen Lebensstruktur des Ostjudentums, das Jiddische in einer Art zu deklassieren bereit waren, die an die Arroganz mancher C.V.Publizisten erinnern lässt. In „Golusverneinung" versteigt sich der couragierte Querdenker sogar zu dem Schluss, dass jene, deren nationale Kultur die Jargonliteratur ist, deren nationale Erziehung — das Jargonsprechen, deren nationales Ideal — die Stufe des litauischen, slowakischen oder eines anderen Volkes gleichen Ranges ist, die zum Bau der allgemein menschlichen Kultur auch nicht einen Ziegelstein beigetragen haben. 324

Achad Haams beharrliche Verwendung des Begriffs „Jargon" ist ideologisch begründet. Um 1910, das war erwähnt worden, besaß der nicht pejorativ besetzte Terminus „Jiddisch" längst Popularität und hätte sich auch Achad Haam als Alternative angeboten. Wer sich dagegen entschied, wollte jede positive Assoziation zumeist bereits im Ansatz vermeiden.325 Natürlich müssen seine Sprachbewertungen in den zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Wenn er beispielsweise von der „Finsternis" redet, aus der das jiddischsprachige Ostjudentum herauszuholen sei, dann sind dem damaligen Leser die russischen Pogrome von 1881 sofort präsent. Doch auch ein Zeitgenosse Achad Haams wie Nathan Birnbaum empfand es als durchaus unredlich, der lebendigen Sprache und Literatur einer ganzen Region den Stempel der Kulturlosigkeit aufzudrücken. Zudem offenbart sich an diesem Punkt wieder einmal die erwähnte Austauschbarkeit der Variablen: Versprachen die C.V.-nahen Juden den Ostjuden das Heil in der Akkulturierung an das Deutsche, so prophezeite ihnen Achad Haam die kulturelle Erleuchtung durch das Hebräische. Unter diese Prämisse ordnet der kulturzionistische Denker dann auch muttersprachenideologische Denkmodelle ein: Ärzte berichten, daß es in Fällen von Aphasie (Vergessen der Sprache infolge von Krankheit) oft vorkommt, daß der Kranke alle Sprachen vergisst, die er in seinem Leben theoretisch erlernt hat, ja auch die, welche er unmittelbar vor seiner Erkrankung zu sprechen pflegte, dabei aber seine natürliche Sprache, seine Muttersprache, im Gedächtnis behält und ganz beiläufig beherrscht, auch wenn er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gesprochen hat. Das ist die Kraft des natürlichen orga-

324 Achad Haam, Golusverneinung, 1909, S. 221. 325 Dass hier auch kein Transkriptionsproblem vorliegen kann, beweist eine Fußnote, in der Achad Haam seine Begriffswahl thematisiert: Er habe sich deshalb nicht für den Begriff „Jüdisch" zur Klassifizierung des ostjüdischen Idioms entschließen können, um dieses Adjektiv auch fur all jene des „Jargons" unkundigen Juden verwenden zu können - ganz so, als hätte der Terminus „Jiddisch" um 1910 noch gar nicht existiert!

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nischen Zusammenhangs zwischen dem Menschen und seiner eigenen Sprache! Und ein solcher Zusammenhang besteht auch zwischen dem Volke und seiner wahren Nationalsprache. 326

Achad Haam verweist hier, analog zur platonischen „Anamnesis", auf das der Seele ursprünglich innewohnende Wissen und bringt in einem kühnen Vergleich Mikro- und Makroebene zusammen. Ebenso wie der einzelne Mensch im Falle des krankheitsbedingten Verlustes aller angelernten Idiome die Muttersprache seiner Kindheit im Gedächtnis behält, so wird sich auch das jüdische Volk an die Ursprache seiner Vergangenheit erinnern. Der „Jargon" als ein von Anfang an extrinsisch erlerntes Sprachphänomen kann in diesem idealistischen Konzept nur Zwischenstadium sein. Weil der Sprachkörper „Nation" als absolute Metapher der politisch-literarischen Einheitskonstrukte vieler Kulturzionisten sich nur von der Wurzel her reanimieren ließe, musste bei der jüdischen Ursprache angesetzt werden. 6.2. Diese Tragik in ihrerganzen Tragveite ... Martin Bubers Konzept eines kulturellen Nationalismus Martin Buber bleibt ein Phänomen. So vielgestaltig sein Wirken erscheint, seine Wirkung soll nur zwei Gestalten gehabt haben: entweder frappierend unbedeutend oder höchst bedeutsam. Scholem fallt im Jahre 1938 das vielleicht vernichtendste Urteil über ihn, wenn er von der „fast völligen Einflusslosigkeit Bubers in der jüdischen Welt" spricht. Er, der „Erzjude", wie Buber sich in einem Vortrag nach Kriegsende in Deutschland selber nannte, soll mithin gerade seinen Glaubensgenossen gleichgültig gewesen sein. Scholems Extrem steht Robert Weltschs Einschätzung diametral entgegen. Martin Buber sei, so Weltsch, der „Lehrer einer ganzen Generation des europäischen — oder genauer: des mitteleuropäischen Judentums" gewesen.327 Das Jüdische Lexikon seiner Zeit erklärt ihn gar zur „repräsentativen Gestalt des deutschen Judentums" nach dem Tod Hermann Cohens.328 Auch zahlreiche Artikel in der „Jüdischen Rundschau", die sich entweder direkt auf Buber beziehen oder sich von ihm beeinflusst zeigen, verdeutlichen, dass die Redaktion Scholems Meinung zu Buber nicht teilte — und dies zu Recht. Der in Wien geborene Religionsphilosoph war nicht nur einer der bedeutendsten „Vorkämpfer der in Deutschland entstande-

326 Achad Haam, Die Renaissance des Geistes, 1902, S. 130. 327 Weltsch 1963, S. XXIII. 328 Jüdisches Lexikon, Bd. 1,1927, S. 1189.

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nen neuen Richtung des geistigen Zionismus"329; er verlieh, stärker noch, der kulturzionistischen Richtung in Deutschland die entscheidenden Impulse. Dies gilt besonders fur seine Einstellung zur Sprache. Buber wollte mit seiner Bibelübersetzung den eigenwilligen Charakter des Hebräischen berücksichtigt wissen, der in Luthers und auch in Mendelssohns Transkriptionen nicht ausreichend zum Zuge gekommen war. Nicht so deutsch, sondern so hebräisch wie möglich sollte die Übertragung ins Deutsche werden.330 Mit dem, wie Buber es in Erinnerung an seine Kindheit nannte, „Ur-Gold der deutschen Sprache"331 kämpfte er für die „Ursprache" Hebräisch. Fast vierzig Jahre lang, bis zum März 1961, hat er sich, anfangs gemeinsam mit dem schwer kranken Franz Rosenzweig, dieser Monumentalaufgabe gewidmet. Sie war nicht allein religiös begründet. Das kulturzionistische Projekt einer Revitalisierung des Hebräischen fand, und dem ist in der Forschung weniger Beachtung geschenkt worden, Bubers ungeteilte Zustimmung und Unterstützung. Aufs Engste ist sein „hebräischer Humanismus", der die Kluft zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident zu überwinden suchte, an das beharrliche Bemühen um eine Renaissance der Sakralsprache gekoppelt. Dieses Projekt verstand Buber nicht als Beginn, sondern als Überwindung nationaler Egozentrik. 1941 schließlich, in den Zeiten der schlimmsten Barbarei, bezog Buber gegen den nationalsozialistischen Ungeist, aber auch gegen einen jüdischen Nationalegoismus in Palästina mit dem Ideal einer eng an die hebräische Sprache gebundenen biblischen Humanitas Stellung: „Durch die Sprache dringt der Humanismus zu jenem Menschenbild vor, und er faßt es als Vorbild." Das Hebräische sah er dabei als „das Gefäß der Forderung und Träger der Botschaft."332 In diesem Kapitel kann es nicht darum gehen, Bubers umfängliches Oeuvre abermals zu erläutern. Zur Diskussion stehen demnach weder seine Religionsphilosophie (des Chassidismus, der Kabbalistik, des interreligiösen Gesprächs etc.) noch seine Philosophie des Ich-Du-Dialoges, mit der er nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig eine Art Kultstatus in Deutschland errang. Die immense, kaum zu überblickende Literatur zu

329 Dubnow, Die neueste Geschichte desjüdischen Volkes, 1929, S. 447. 330 E. Simon 1963, S. 83. Vgl. Biemann 2003, S. 63: „In der Verdeutschung des Hebräischen [durch Buber] lag zugleich eine Hebraisierung des Deutschen." 331 Zit. n. „Geburtstag des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber". Rundfunkbeitrag von Günter Bernd Ginzel, „Zeitzeichen" vom 8. Februar 2003, WDR. 332 Buber, Hebräischer Humanismus, 1941, S. 720 und 729.

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Buber hat von alledem genug anzubieten.333 Uns interessiert hier wiederum ausschließlich die Rolle, die er der Sprache im Hinblick auf das Judentum zumisst. Es soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob sich in seinen Schriften bis 1918 - von da an konzentrierte sich auch Buber mehr und mehr auf die Palästina-Politik - Anklänge an sprachphilosophische bzw. sprachgeschichtliche Denkmuster der Deutschen Bewegung aufzeigen lassen. Denn wie man Buber letztlich bewerten mag, eines ist sicher unstrittig: ein deutscher Jude war er, und insbesondere auf die deutsche Judenheit wirkte er.334 6.2.1. Von innen, nicht von außen: Kritik an Herzl und Lazarus Buber wird von Ernst Simon zum Paradefall eines ,„Ost-West-1 oder ,West-Ostjudens'" erklärt335 und wirklich: Sein erster Lebensabschnitt scheint die Fundamente für die Kulturbrücken geschaffen zu haben, über die er später, in Deutschland wie auch in Israel, immer wieder gegangen ist. Geboren 1878 in Wien, doch aufgewachsen in Lemberg, der Zentrale der galizischen Provinz, kam er schon früh in Tuchfühlung mit einer eigentümlichen Verbindung von jüdisch-hebräischem Traditionalismus, jiddischer Alltagswelt und deutscher Kultur. Deutsch war die Umgangssprache im großelterlichen Haus, Jiddisch das Alltagsidiom der Lemberger Juden, Hebräisch die Sprache des Ritus und der religiösen Literatur. Das Phänomen der Mehrsprachigkeit gehört zu Bubers Biografie wie zum Werdegang so vieler Juden, insbesondere des Ostens. Er stand anfangs in der Sprachwelt des Jiddischen und beherrschte auch das Polnische genügend, um darin Texte verfassen zu können.336 Bei seinem Großvater, dem Middrasch-Forscher Salomon Buber, lernte er Hebräisch, bei seiner Großmutter die deutsche Klassik kennen. Beide Einflüsse werden entscheidend für Bubers Werdegang, doch scheint „der deutsche Bücherschrank der Großmutter [...] sich schon früh als der stärkere Machtfaktor erwiesen zu haben".337 Tatsächlich hielt Buber in der traditionalistischen Chorschul seine Barmizwah-Rede auf Deutsch, wobei er aus zwei Gedich-

333 Zu Bubers Philosophie des Dialoges grundlegend: Theunissen 1977, S. 2 4 1 - 3 4 6 . Einen guten Einblick in Bubers Sozial- und Religionsphilosophie bietet die Aufsatzsammlung von Bloch 1983. 334 Vgl. Wehr 1977. 335 E. Simon 1963, S. 29. 336 Biemann 2003, S. 18. 337 E. Simon 1963, S. 27.

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ten Schillers zitierte.338 So war sein Umzug in die Geburtsstadt Wien im Jahre 1896, wo er unter anderem Philosophie, Kunstgeschichte und Nationalökonomie studierte, eine konsequente Entscheidung. Ob er sich während seines langen, sechsjährigen Studiums in der Hauptstadt der Donaumonarchie tatsächlich von allem Jüdischen entfremdet und entfernt habe, wie Simon behauptet, muss bezweifelt werden. Denn schon 1898 rief ihn der Zionismus zurück. Freilich ging Buber auch dabei sehr eigene Wege. „Zu einer großen jüdischen Kultur gibt es nur einen Weg: durch Kultur", schreibt Buber im Jahre 1903.339 Der anfängliche Anhänger Herzls setzte sich rasch von der Mehrheitsideologie des politischen Primats ab. Nach dem 4. Zionistenkongress, der vom 13. bis 16. August 1900 in London stattfand, entschied er sich zusammen mit anderen Mitstreitern dafür, eine eigene Fraktion zu gründen, und schon auf dem 5. Zionistenkongress vom 26. bis 30. Dezember 1901 in Basel vertrat er diese „demokratischzionistische Fraktion" in führender Position. Obwohl Buber noch im selben Jahr als Redakteur in Herzls Zeitschrift „Die Welt" arbeitete, zwangen ihn die Differenzen mit seinem Ziehvater und der ZVfD sehr bald zur Aufgabe dieser Stellung. Der Schüler Achad Haams teilte dessen Kritik an einer Ideologie, welche die Stärkung der jüdischen Gemeinschaft vor allem durch „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina" zu erreichen suchte. Nicht in erster Linie von außen, sondern „zuinnerst" müsse die Umwandlung des Judentums geschehen.340 Nicht die von anderen diktierte Judenfrage, sondern die Judentumsfrage als ureigenes Identitätsproblem harrte seiner Uberzeugung nach einer vordringlichen Antwort. Analog zu Achad Haams Einwänden bedeutete das einerseits, das oft recht monokausale und monoperspektivische Nationalprojekt mancher Herzl-Zionisten als „nationale Assimilation" abzulehnen;341 und es hieß auf der anderen Seite, Distanz zum Akkulturationismus und Deutschnationalismus vieler liberaler Juden zu schaffen. Buber war in beidem nicht konsequent, rang lebenslang mit der ambiva-

338 Buber, Rede gehalten von Martin Buber an seiner „Barmi^wah "-Feier, 1891, S. 93—98. 339 Buber, Zionistische Politik, 1901, S. 129. 340 Buber, Kulturarbeit, 1917, S. 671 f. Auch abgedruckt in: Der Jude, Heft 12, März 1917, S. 792f. 341 Vgl. Buber, Rede auf dem XII. Zionistenkongress in Karlsbad, 1921, S. 471. Über Herzl schreibt Buber: „Herzl war ein Westjude ohne jüdische Tradition [...], ohne in der Jugend selbsterworbenes jüdisches Wissen; er war in einem nichtjüdischen Milieu aufgewachsen und mit den jüdischen Massen nie in Berührung gekommen; keine menschliche Kreatur war ihm so fremd gewesen wie ein jüdischer Proletarier. [...] Er war ein ganzer Mann, er war nicht ein ganzer Jude" (Buber, Her^l und die Historie, 1904, S. 163). Diese harsche Kritik an Herzls Biografie macht die enorme Differenz zu Bubers eigener Erziehung deutlich.

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lenten „Größe" des zionistischen „Führers" Herzl342 und verirrte sich im ersten Kriegsjahr in Tonarten religiös-nationaler Verzückung, wenn er von Deutschland als der „Erlösernation" und einem „großen ernsten Gefühl" angesichts der Ereignisse sprach,343 wofür ihm der Freund Gustav Landauer den wenig schmeichelhaften Titel „Kriegsbuber" verlieh.344 Auch Bubers schöngeistig formulierte Kriegsmetaphysik in seiner fünften Prager Rede „Der Geist des Orients und das Judentum" reizte zu Widerspruch. Eine sich unter anderem auf Herder berufende Verschmelzung von religiöser Wahrheit im „orientalischen Menschentypus" mit dem okzidentalen Wissen des „Deutschen unserer Tage" schien kritischen Geistern wie Landauer die falsche Heilsbotschaft für eine Welt zu sein, die vordringlich durch deutschen Militarismus ins Wanken geraten war.345 Von beidem — Herzischem Zionismus und deutschnationaler Erlösungsmystik — also entsprechend versucht und beides schließlich doch verwerfend, näherte sich Buber erneut dem kulturzionistischen Projekt. Bereits 1916 war er mit der Gründung der Monatsschrift „Der Jude" auf die öffentliche Bühne zionistischer Arbeit zurückgekehrt. Die kulturkritische, literarisch-ästhetische Zeitschrift entwickelte sich bald zu einem bedeutenden Sprachrohr der jüdischen Intelligenz,346 die Buber als Medium seiner kulturzionistischen Sichtweise zu nutzen verstand. Der beträchtliche Einfluss der Zeitschrift auf die deutsche und mitteleuropäische Judenheit, laut Simon selbst von der „Jüdischen Rundschau" bis 1933 nicht erreicht, habe den Machtverlust der ZVfD nach 1914 aufgehalten und die Diskussion um den „formalen Zionismus" neu belebt. Letztlich sei dadurch bei den Lesern die Entfremdung von Herzl vergrößert, die Nähe zu Achad Haam verstärkt worden.

342 So in einer Gedächtnisschrift zu Herzls 50. Geburtstag, die den bezeichnenden, weil die Dichotomien schon anzeigenden Titel „Er und Wir" trägt (vgl. Buber, Er und Wir, 1910, S. 200f.). Buber grenzt darin in einer leisen, doch kaum verhüllten Selbstkritik den erkenntnisarmen, aber handelnden „Elementaraktiven" Herzl gegen den von „tausend Verzweiflungen" gehemmten „Problematiker" des Judentums ab. 343 Buber, Martin Buber. Briefwechsel, Bd. 1: 1897-1918, S. 370. In dem Brief an Hans Kohn vom 30. September 1914 schrieb Buber weiter: „nie ist mir der Begriff ,Volk' so zur Realität geworden wie in diesen Wochen." Und, auf den Untauglichkeitsbefund der Musterung anspielend: „Ich selber habe leider gar keine Aussicht verwendet zu werden." 344 Vgl. zu Bubers Überhöhung des Krieges und zur Kontroverse mit Landauer: Sieg 2001, S. 139-149. 345 Buber, Der Geist des Orients und das Judentum, 1916, S. 45-63; Brief Landauers an Buber vom 12. Mai 1916. - In: Buber, Martin Buber. Briefwechsel, Bd. 1: 1897-1913, S. 434f. (vgl. dazu Sieg 2001, S. 148) 346 Mattenklott 1989, S. 149f.

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In seinen berühmten „Drei Reden über das Judentum" von 1911 scheidet Buber zwei Deutungen des Jüdischseins: den jüdisch-liberalen Weg, symbolisiert in der Person Moritz Lazarus', und den kulturzionistisch-nationaljüdischen Weg, repräsentiert durch Achad Haam. Es steht außer Frage, wem seine eigentliche Sympathie gehört. Der Schriftsteller Lazarus, ein „kluger und liebenswürdiger Popularphilosoph", habe in seinen Schriften statt einer „Wiederbelebung" des Judentums nur eine milde, weil nicht einmal reformatorische, sondern nur reformorientierte Variante der lutherischen Erneuerung verfolgt. Letztlich ziele alles bei ihm auf „Negation" hin, auf Verneinung der gesetzlichen Strenge im jüdischen Ritus. Ganz anders stellt sich die Lage bei Achad Haam dar, dem „Lehrer", wie er ihn 1927 im Nachruf nennen sollte.347 An ihm entdeckt Buber „wirklich etwas von dem Geist des prophetischen Judentums." Die individuellen Lebensdeutungen konvergieren oder divergieren mit den nationalen Lebensbedingungen. Buber differenziert zwischen Völkern mit gesicherter Lebensgemeinschaft — mit nationalen Grenzen und einer gemeinsamen Sprache — und Völkern, die genau dies entbehren. Zu Letzteren zählt er das Judentum. Es ist durch den besonderen Umstand der Diaspora-Existenz dazu gezwungen, stets nach der „Berechtigung seines Daseins" und seiner „Bedeutung für die Menschheit" zu fragen.348 Diese herausgehobene Stellung macht den Juden zum Prototyp des dualistischen Prinzips, des Entweder-Oder. Keiner könne so „Hohes" leisten, keiner von so „Niedrigem" versucht werden wie er: In allen Juden lebt beides irgendwie. Keiner kann wie der Jude verstehen, was es heißt, durch sich selbst versucht zu werden; keiner hat solche Fülle der Anlage und solche Fülle der Hemmung wie der Jude. 3 4 9

Die ambivalente Grundhaltung seiner Identität macht den Juden gefährlich vor allem für sich selbst, und aus dieser Gefahr kann ihn allein die Erneuerung seiner Kultur als einer nationalen Idee erretten. Nicht die Außenwirkung ist also entscheidend, sondern wiederum die Stärkung der jüdischen Innenwelt. Die „Erlösung" des Geistes führt zwangsläufig zur Erlösung der Nation: Wenn wir arbeiten, in unserer Seele das Golus abzutragen und Zion aufzubauen, in unserem Geist das negative Judentum auszurotten und das positive fruchtbar zu machen, so tun wir das nicht, um denen zu gefallen, die uns nicht lieben, sondern weil wir unsere nationale Eigenart entwickeln und vollenden wollen, weil wir uns

347 Buber, Achad-Haam-Gedenkrede in Berlin, 1927, S. 743. 348 Buber, Drei Ifoden über das Judentum, 1911, S. 35. 349 Ebd., S. 39.

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nach der Wiedergeburt sehen und uns tätig sehnen. [...] Nicht die Besserung der Lage der Juden, sondern die Erlösung der Nation ist der Inhalt unserer Idee. 3 5 0

Was aber wird die appellativ eingeforderte Positivität des Judentums zurückgewinnen und seine historisch bedingte „Krankheit im Golus"351 heilen helfen? Wodurch ist die Spaltung aufzuheben und zur Einheit zu fuhren? 6.2.2. Die Sprache als „Bewusstseinsform" des Volkes Am 19. Dezember 1909 hielt Buber einen Vortrag auf der „Konferenz für hebräische Sprache und Kultur" in Berlin, den er in der „Jüdischen Rundschau" kaum einen Monat später in einem ersten Auszug veröffentlichte.352 Zunächst konstatiert er mit Bedauern, dass er über die hebräische Sprache auf Deutsch reden müsse. Sein Prolog legt die bereits erwähnte und vom Centraiverein als antizionistisches Argument angeführte Problematik einer Revitalisierung des Hebräischen bloß, die auch von anderen JR-Pubüzisten immer wieder eingestanden wird: Die Revitalisierung einer umgangssprachlich inaktivierten Traditionssprache hat mit dem paradoxen Umstand zu kämpfen, dass selbst ihre Förderer und Forderer das Hebräische meist erst erlernen müssen. Buber geht noch weiter, indem er in einer persönlichen Note die Bindung seines Denkens an die deutsche Muttersprache und die Unübertragbarkeit dieser Konnexion untermauert. Er könne einfach nicht auf Hebräisch denken und habe es auch nicht über sich gebracht, „die Gedanken, die in der fremden Sprache gedacht sind, in die eigene, aber weniger vertraute, zu übersetzen." Natürlich ist mit dieser Wortwahl eine bewusste Aufwertung der jüdischen Traditionssprache beabsichtigt: Hebräisch ist die „eigene", weil jüdische, Deutsch hingegen die „fremde", weil nichtjüdische Sprache. Ein C.V.-naher Jude hätte diese Wertung natürlich umgedreht. Nun sind jedoch die Sprachverwender ausgerechnet im fremden Idiom besser bewandert, und genau darin liegt, wie Buber schreibt, die „Tragik" der deutsch-zionistischen Kulturidentität „in ihrer ganzen Tragweite": Der Redner wünscht die Nähe zum eigenen, adäquaten Idiom und bleibt doch in Ferne von ihm. Anspruch und Wirklichkeit klaffen vollständig ausein-

350 Buber, Was ist ψ tun?, 1904, S. 124f. 351 Der Jude, Heft 2, Mai 1916, S. 71 (Martin Buber: „Das Gestaltende"). 352 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13f. Der zweite Teü folgte in JR 3, 21. Januar.1910, S. 25f. (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"). Auch abgedruckt in: Buber, Die hebräische Sprache, 1909, S. 174-189.

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ander. Das Hebräische, die Sprache der Vorväter, müsste die Muttersprache sein, ist es aber nicht. Da dieses Paradoxon „über den Einzelfall [Buber] hinausgreift", benötigt Buber ein Erklärungsmodell dafür, wieso eine umgangssprachlich inaktivierte Sprache des Ritus und der Tradition dennoch für das Nationalprojekt einer Renaissance des Judentums wichtig bzw. unersetzlich sein soll. Der zionistische Kongress zur Förderung der hebräischen Sprache war schließlich kein Treffen elitär-wissenschaftlicher Sprachpfleger, sondern Ausdruck eines nationalen Spracherneuerungsprogramms: Dieser und keiner anderen Sprache war in der künftigen jüdischen Nation der Vorzug einzuräumen. Buber findet die Antwort auf die tragische Widersinnigkeit des jüdischen Lebens in einer Formel, die von Humboldt hätte stammen können: Die Bewusstseinsinhalte des Volkes umfassen sein ganzes Geistes- und Gemütsleben, insofern es als die Sphäre der nationalen Gemeinsamkeit betrachtet werden kann. Die Bewusstseinsform eines Volkes aber ist seine Sprache: es hat wohl andere Bewusstseinselemente, aber keine andere Bewusstseinsform als diese. 353

Hier wird, „im Anschluss an Herder und Wilhelm von Humboldt",354 die Sprache nicht nur als Trägerin der Bewusstseinsinhalte des jüdischen Volkes begriffen, sondern sie umfasst dessen ganze Intellektuaütät als nationale Gemeinschaft - und zwar von Urbeginn an. Weil die Form der Sprache über weitaus mehr Kontinuität verfügt als alle inhaltlichen Varianzen, vermag sie auch die Zeitspanne zu überdauern, in der die einenden Bewusstseinselemente des Volkes (Land, Lebensform, Leitvarietät) nicht mehr existieren. Was anhand der JR-Publizistik aufgezeigt worden war, verdichtet Buber in diesem Aufsatz zum Programm: Mag eine Nation untergegangen sein, mag ihre Sprache „tot" genannt werden — in ihrer Form können die Inhalte überleben. Die sprachphilosophische Basierung des Kulturnationskonzepts schimmert durch. Hatte sich nicht bei Humboldt der individuelle und nationale „Ausdruck der Gedanken" in die Form der Sprache geradezu „gegossen"?355 Und war sein Bildungskonzept nicht von der Voraussetzung geleitet, „dass die Form einer Sprache, als Form, sichtbar werden muss, und dies besser an einer todten, schon durch ihre Fremdheit frappierenden, als an der lebendigen Muttersprache geschieht"?356 Wenn für Humboldt vor allem das Altgriechische dafür ein 353 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"). 354 E. Simon 1963, S. 31. 355 Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, 1827—1829, S. 244. 356 Humboldt, Über die mit dem Königsbergischen Schulwesen vorzunehmenden Reformen, 1809, S. 266.

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Beispiel lieferte, dann war, so ließ sich aus kulturzionistischer Sicht folgern, erst recht die Prädestination der biblischen Ursprache erwiesen. In der Kommunikation nach außen, das heißt zu nichtjüdischen Nationen, und nach innen, also im innerjüdischen Diskurs, ist für Buber die hebräische Sprache als religionsursprüngliche Sprache des Judentums die „spezifische Grundform des Verkehrs", welche die nationale Gemeinschaft sichert und garantiert. Die Sprachform als Bewusstseinsform des Volkes stellt gleichzeitig eine Chance und eine Gefahr für die Renaissance des Judentums dar. Die Chance liegt, wie gesagt, in ihrer relativen diachronen Stabilität, während umgekehrt gerade ihre geringe Alterabilität zum Problem wird. Oder, mit Humboldts Terminologie: Dem ergon („Gebilde") Hebräisch droht, weil ihm die energeia („Tätigkeit") des täglichen Sprachgebrauchs fehlt, das Schicksal, jeder Dynamik verlustig zu gehen: Aus diesen einfachen und von jedem nachprüfbaren Prämissen ergibt sich, daß von allen Krankheiten unseres Volkslebens diese die schwerste und gefährlichste ist: daß unsere Sprache ihre lebendige Kontinuität eingebüßt hat und daß sie aufgehört hat, alle Elemente des Volkes miteinander zu verbinden. Denn diese Krankheit bedroht nicht ein einzelnes Organ, sondern die Einheit und den Zusammenhang des Organismus.357

Weil die Sprache das wichtigste einigende Band darstellt, nachdem die „Geschlossenheit der Lebensformen gesprengt worden ist",358 muss das Hebräische reaktiviert und revitaüsiert werden, um unitarisch auf den Volks-Organismus wirken zu können. Buber offeriert Ende 1909 seinen Glaubensgenossen nahezu dieselbe Lösung wie Grimm den Deutschen im Jahre 1854. Ob nun der „Fortbestand der Nation" (Buber) oder deren „volkskraft und dauer" (Grimm) gemeint ist - beides „hängt" (Grimm) an der Sprache und wird durch ihre Deplatzierung und Destruierung „in Frage gestellt" (Buber). Mittels Sprachpflege und Sprachachtung (Grimm: „pflegt und heiligt sie"), gewonnen durch Sprachpraxis in Literatur und Pädagogik (Buber: „Produktivität" und „Receptivität"), war die verloren gegangene Einheit der Nation zurück zu gewinnen. Ja, selbst der mythologisierende Duktus scheint sich von Grimm zu Buber kaum verändert zu haben, war doch auch für den jüdisch-deutschen Religionsphilosophen die „Heilung und Erlösung des Volkes" eng an die Vitalität der Volkssprache gebunden.359

357 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"). 358 Ebd. 359 Buber, Die hebräische Sprache, 1909, S. 177-179.

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Wieder also das gleiche Bild, das schon im vorhergehenden Kapitel zur Argumentationsstrategie der „Jüdischen Rundschau" seine Konturen gezeigt hatte: Waren die Variablen auch vertauscht, so schien der Weg nichtsdestotrotz der gleiche geblieben. Ob nun deutsche oder hebräische Kulturnation - beides fand sich wieder in der Sprache. Selbst die muttersprachenideologische These von der unbedingten Bindung an die Erstsprache nutzt Buber fur seine appellative Argumentation. Es sei „von höchster Bedeutung, in welcher Sprache das Individuum zu sprechen beginnt." Denn: „In der Sprache eines Volkes haben sich seine Urkräfte aufgespeichert." Immer wieder knüpft Buber dabei an mythisch-religiöse Konnotate an, indem er die Sprache der „Urzeit" und das Land der „Urzeit" nebeneinander stellt und sakralisiert.360 Die Konsequenz einer Wiederbelebung des Hebräischen lag damit dem Leser vor Augen. Wer das Hebräische mit ganzer Kraft lernte und als Leitvarietät annahm, der half nicht nur, die Nation zu erhalten, er half zuerst sich selbst, weil er den Ursprung des Judentums in sich aufnahm. Der geistige „Standpunkt der Weltansicht" (Humboldt) eines Volkes lag ja eingraviert in der Sprache, Wort für Wort: Wer die hebräische Sprache wahrhaft in sein Leben aufnimmt, der nimmt die bewegende Kraft des Judentums in sein Leben auf: der weiß fortan, wie er dem Genius unserer Art zu dienen hat. Wer die hebräische Sprache in sein Leben aufnimmt, der nimmt die schöpferische Funktion des Volksgeistes in sich auf; der ist nicht länger bloß nach Inhalt des Denkens und Wollens, sondern der innersten Form seines Daseins nach Jude. 361

Die Renaissance des Hebräischen als individuelles und nationales Projekt bedeutete für Buber keineswegs zwingend, es als umgangssprachliches Leitidiom für jeden Juden der Diaspora einführen zu wollen, wie er in einer Replik auf eine antizionistische Kritik Hermann Cohens von 1916362 hervorhebt. Auch darin korrespondierte Bubers Argumentation mit der aufgezeigten Konzession der „Jüdischen Rundschau" an die Ängste vieler liberaler Juden in Deutschland. Es galt jedoch, die Distanz zu dem nur noch in rituellen Residuen gepflegten Hebräischen aufzubrechen und die jüdische Traditionssprache endlich als „Wegbahner zum verschütteten

360 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"): „wir haben nur Einen großen Helfer auf Erden, den wir anrufen können: das ist die Urzeit unseres Volkes. An diese Urzeit knüpfen wir an. Dies und nichts anderes bedeutet die Wiedererweckung Palästinas, des Landes der Urzeit, dies und nichts anderes bedeutet die Wiederbelebung der hebräischen Sprache, der Sprache der Urzeit." 361 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress fur hebräische Kultur"). 362 Cohen, Religion und Zionismus, 1916.

Zwei kulturzionistische Symbolfiguren: Achad Haam und Martin Buber

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Judentum" zu begreifen. Allein das „Schma Jisroel" 363 und andere Ritusformeln auf Hebräisch hersagen zu können, von Cohen immerhin für alle Juden eingefordert, reicht Buber nicht aus. Das Hebräische müsse die von den „europäischen Kultursprachen, unseren ^Muttersprachen'" ins Abseits gedrängten „Denkformen" wieder lebendig machen.364 Die verwickelte Dichotomie und ihre einzig mögliche Auflösung tritt an dieser Stelle besonders offen zu Tage: Weil Denken gleich Sprechen ist, das Judentum aber nur eine einzige Bewusstseinsform besitzt - das Hebräische —, denkt die deutschsprachige Judenheit nicht nur im fremden, sondern, viel schärfer, im falschen Idiom. Erst im Hebräischen - Träger, Scheidewasser und Gradmesser von Bubers kulturellem Nationalismus — wird die jüdische Nation mit all ihren Geistesgütern wahrhaft zur Sprache kommen können. Wie schon angedeutet hat Buber, anders als Achad Haam kein Meister im Hebräischen von Anfang an, lange damit zu kämpfen gehabt, den Sprachanspruch bei sich selber zu realisieren. Gerade deshalb aber vermochte er seinen deutschen Glaubensgenossen die Rückgewinnung der Bewusstseinsform als Rückgewinnung geistiger Inhalte exemplarisch vorzuleben. Erst nach einem langen und mühseligen Weg konnte der existenziellen „Tragik", die er für sich und für andere westeuropäisch akkulturierte Juden empfand, ein gutes Ende beschieden sein.365 Doch obwohl die

363 „Schma Jisroel" („Höre Israel!") ist das wichtigste, von religiösen Juden mehrmals täglich ausgesprochene Glaubensbekenntnis an den einen und einzigen Gott. 364 Buber, Völker, Staaten und Zion, I. Begriffe und Wirklichkeit, 1916, S. 285f. Cohen hatte die Idee des Staates gegen die Idee der jüdischen Nation gesetzt und behauptet: Das Judentum sei eine religiöse Nationalität unter vielen anderen, in verschiedenen Nationen lebenden Nationalitäten. In seinen Ausführungen zu Cohens Erwiderung lehnt Buber dies als ahistorische Terminologie ab, unter anderem mit der ironischen Bemerkung: „Also hat es bis 1870 keine deutsche Nation gegeben!" (vgl. Buber, Völker, Staaten und Zion, II. Der Staat und die Menschheit, 1916, S. 287). 365 Wie mühselig und wie lohnend dieser Prozess ist, demonstriert Buber in dem Aufsatz „Jüdisch leben" vom März 1918. Buber will darin seinem Sohn Rafael die eigentliche Lebensaufgabe eines jüdischen Jungen klarmachen, die eben darin besteht, zum Judentum als einer Volksidee im Sinne der Gebote zurückzufinden und den Wunsch, „deutsch zu werden", als vergebliches Bemühen abzustreifen. Der Lehrer fragt den Knaben, ob ihm die Inhalte des Hebräischunterrichts „ein Drinnen" geworden seien. Das Hebräische, gesteht der Knabe ein, habe ihn nicht so eingenommen wie etwa Goethes „Wanderers Sturmlied". Die Erwiderung des Lehrers ist eine Lektion in kulturzionistischer Sprachideologie par excellence: Aufgabe sei es nun, das Hebräische nicht nur äußerlich-faktisch, sondern gleichsam innerlich zu revitalisieren. Das vordem allzu abstrakt Wirkende wird nun ganz konkret notwendig. Die Anlehnung an die platonisch-sokratische Erinnerungstechnik ist kaum zu übersehen, denn eigentlich soll der Knabe mittels pädagogischer Anreize das Wesen einer Sprache erfassen lernen, das in ihm längst verborgen liegt. Nur so kann der Jude zum wahren Judentum in seiner Seele gelangen. Buber schreibt, sicher auch sich selbst befragend: „Und ginge es nicht an zu versuchen [...] von jetzt an und immer stärker, dich mit der Sprache so abzugeben, als machtest du sie? [...] als bildetest du diese spröden Laute mit

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Sprache als Bewusstseinsform des jüdischen Volkes die nationale Einheit zu sichern imstande war, wirkte Bubers Formel merkwürdig abstrakt und unpersönlich. Es bedurfte mithin einer konkreten Verankerung der geistigen Einheit des Judentums in jedem einzelnen Juden, einer gegenwärtigen Verortung des anvisierten Zukunftsprojekts. Buber entdeckte die erforderliche Konkretisierung in einer heiklen Komponente, welche die liberalen deutschen Juden um Lazarus und Cohen mit ihrem hoch entwickelten Sensus denn auch als antisemitisch besetzte Termini verständlicherweise abgelehnt hatten: Im „Blut" — fand er sie. 6.2.3. Die Gemeinschaft des „Blutes" Bereits in seiner Kongressrede hatte Buber angedeutet, dass das „Blut" die „Disposition" zur Reaktivierung des Volksgeistes durch die Sprache geschaffen habe,366 doch war in der Rede diesem Aspekt dann keine weitere Beachtung geschenkt worden. Das sollte sich nur kurze Zeit später ändern. Am 29. April 1910 erscheint im Zentralorgan der ZVfD ein längerer Artikel Bubers mit der Überschrift „Der Sinn des Judentums", entnommen aus einer Rede vor dem Prager Verein Bar Kochba am 20. Januar 1909. Wie der existenzphilosophische Titel schon andeutet, versucht sich Buber darin in einer Bestimmung der Sinnhorizonte jüdischen Lebens. Er beginnt mit einer Definition ex negativo: Weder die Religiosität noch der politische Nationsbegriff hebe den Juden entscheidend von anderen Glaubensformen und Daseinskonzepten ab. Die mosaische Konfession hat deshalb keine gültige Berechtigung, die Abgrenzung zu ermöglichen, weil sich der monotheistische Glaube genauso wie das jüdische Sittlichkeitsideal auch bei Menschen finden lassen, „die im Grunde außerhalb jeder positiven Religion stehen." Der politische Begriff der Nation sei ebenfalls inakzeptabel für eine Identitätsbestimmung, da dieser nicht das Individuum und sein „eigenes inneres Wesen" berühren könne. Die politische Einheit, ein Ideal ohne jede Grundlage, bleibt dem Abstrakten verhaftet, derweil man der konkretvitalen Elemente nationaler Einheit — Land, Landessprache und Lebensformen - längst verlustig gegangen ist. Dies hat zu einem Zwiespalt jüdischer Existenz geführt, alltäglich erlebt in der Kluft zwischen Innen- und

Kehle und Lippen, weil sie nur an ihnen ihre lautbildende Kraft vollkommen auswirken können" (Buber, Jüdisch leben, 1918, S. 150). 366 JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur").

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Außenwelt, zwischen individuellem Geist und nichtjüdischer Umwelt. Wie schon in seiner Kongressrede begründet Buber die paradoxe „Tragik des jüdischen Lebens" wesentlich mit der Sprachsituation der Judenheit: Im Osten gibt es zwei jüdische Sprachen: die Volkssprache, daß sogenannte Jiddisch, oder wie es manchmal genannt wird, der Jargon, und die Sprache der alten Juden, die freilich in unserer Zeit eine wunderbare Erneuerung und Verjüngung erfahren hat, die hebräische Sprache. Aber neben dieser Zweiheit der Sprache gibt es im Abendlande eine Unzahl anderer Sprachen, die von Juden gesprochen werden, ich kann wohl sagen, die ungeheure Mehrzahl der Juden des Westens spricht nicht die jüdische Sprache, hat nicht eine Sprache, die ihre Gemeinschaft begründet. 367

Bubers Schlussfolgerung ist ernüchternd: Eine Gemeinschaft qua nationaler Elemente existiert nicht mehr. Im Unterschied zu seiner Argumentation in der Kongressrede liegt für Buber die Rettung aus der geschilderten Misere nun jedoch allein in einer Rückbesinnung auf die Abstammung, das „Blut". Bei näherer Analyse wird klar, dass es sich hier nicht um einen vordringlich biologistischen Faktor handeln kann. „Blut" ist Buber vielmehr eine seelisch-geistige Determinante, eine konstante Bezugs- und Bestimmungsgröße jüdischer Innerlichkeit: Ich meine das Innerliche, das Jüdische in uns, die Macht, die unser Denken, Fühlen und Wollen trägt, die Macht, die es bewirkt hat, daß unser Denken mehr abstrakt mathematisch als konkret naturhaft, daß unser Fühlen mehr musikalisch als bildhaft ist, daß unser Wollen mehr auf die Umgestaltung als auf die Ausgestaltung des Lebens geht, mit einem Wort: ich meine unser Blut. 368

Das Volk ist kein rassisch vorgegebenes, womöglich höherwertiges Unikat, sondern vielmehr eine Kulturerscheinung,369 auch genährt von der Einflusssphäre der nichtjüdischen Kulturwelt. Denn während sich die „Stellungnahme des Juden zum Judentum" in der positiven, im „Blut" geborgenen und vermittelten Einstellung jedes Einzelnen zum eigenen Volk erweist, muss die „Stellung zur Umwelt" über eine bloß ablehnende 367 JR 17, 29. Aprü 1910, S. 199 (Martin Buber: „Der Sinn des Judentums"). 368 Ebd. 369 1921 wird dies Buber in dem Aufsatz „Nationalismus" konkretisieren. Nicht allein „aus einer Verschmelzung blutsverwandter Stämme, sondern auch aus einer von blutsverschiedenen" sei der Ursprung des Volkes hervorgegangen. Die Einheit des Volkes sei als „Schkksaheadagtf' zu verstehen, die sich durch die „von nun an herrschende Bluteinheit" am Leben erhält. Dies klingt noch kompatibel mit den Theorien eines Chamberlain, zumal für Buber „Die Leiblichkeit dieser Erhaltung" sich in der „Fortpflanzung der Art in der mehr oder weniger strengen Endogamie" verwirklicht. Die eigentliche Grundlage aber bildet eine Art mentalitätsgeschichtlicher Bezugsrahmen, denn die „Seelenheit" der jüdischen Identitätseinheit „ist ein organisches, potentielles gemeinsames Gedächtnis, das sich in den neugeborenen Geschlechtern immer wieder als Erfahrungsstruktur, Sprache, Lebensgestaltung aktualisiert" (Buber, Nationalismus, 1921, S. 311 f.).

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Haltung hinauslangen. Nicht als Fremdes solle der Westjude die ihn umgebende Kultur empfinden, von deren Herrschaft es sich dann radikal zu lösen gelte, sondern als Teil „unseres Blutes innersten Kräften". Eine eigentümliche Transformation ist da geschehen: Diese Kultur ist uns in Wahrheit keine deutsche Kultur mehr, wenn es sich um Deutschland handelt, sondern sie ist etwas Neues geworden, eine deutsche Kultur, die von Juden umgeschaffen und umgebildet und zu etwas Jüdischem umgeprägt wurde. 3 7 0

Trot2 fehlender Einheit der Judenheit kann sich der deutsche Jude doch nur als Kultureinheit begreifen. Das Paradoxon wird hier von Buber auf die Spitze getrieben: Erst indem der deutsche Jude die Kultureinflüsse seiner Umwelt in seinem Innersten bejaht, setzt er den Prozess in Gang, sich von der jahrhundertealten Allmacht der Außenwirkung frei zu machen. Die Tragik seiner Existenz ist damit nicht aufgehoben. Indem der akkulturierte, aber zionistische Jude all dies annimmt, muss er auch die „ganze Entartung" der Assimilation mit sich führen. Erst die nachfolgenden Generationen werden die Kraft finden, sich davon zu befreien, um endlich ganze Juden sein zu können. Der gegenwärtige Westjude aber bleibt eine „Mischung", doch gilt es, die Autonomie über diese Mischung zurück zu gewinnen, um letztlich „nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung [zu] sein." Blut birgt die Kultureinheit, Sprache bringt sie ins Leben. Gegenüber der Sprache hat die Komponente des Blutes den Vorteil, dass es in jedem einzelnen ,fließt', dass es also nicht erst reanimiert zu werden braucht. 6.2.4. Die jüdische „Rasse" „Es kann kein Zweifel bestehen", folgert Doron in seiner aufschlussreichen Studie über Adaptionen von Rassenkonstrukten im deutschen Zionismus der Wilhelminischen Ära, „daß viele deutschsprachige Zionisten Rassenideologen wie Gobineau, Chamberlain, Schemann, Wilser, Woltmann, Driesmans, Fischer und Günther als ^Autoritäten' schätzen."371 Dennoch, so Doron weiter, habe dies niemals zu einem rassischen Chauvinismus geführt, der den Wert der jüdischen Rasse über eine Devaluation anderer Rassen gewann und verteidigte. Rassenkonstrukte existierten im Zionismus bis 1933 in vielerlei Observanzen. Doch schon dem deutschen

370 JR 17, 29. April 1910, S. 200 (Martin Buber: „Der Sinn des Judentums"). 371 Doron 1980, S. 421.

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Zionismus der Weimarer Republik ein aggressiv-chauvinistisches Rassenbewusstsein nachzuweisen, dürfte schwierig sein;372 nahezu unmöglich zu belegen aber scheint der Versuch, dies anhand der Person Martin Bubers exemplifizieren zu wollen. Bubers verwendet in seiner „celebration of ,blood"',373 ganz ähnlich wie Achad Haam, bewusst zweideutige Termini, ohne sie mit abwertender Semantik aufzuladen. „Blut" ist bei Buber kein genetischer Abdruck des reinen Volkskörpers, sondern Ausdruck des Volksgeistes, keine biologische Determinante, sondern eine mythischgeistige Konstante, gespeist aus einer neoromantischen Vorstellungswelt.374 Weil im Blut die ganze Tradition, „das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen", gespeichert ist, kann aus ihm heraus die Renaissance des Judentums, verstanden als kulturelle Erneuerung, in Gang gesetzt werden. Nicht verschwiegen werden darf: Bis zum Ersten Weltkrieg zeigte der völkische Stil der Zeit seine Wirkung in Bubers Schriften ebenso wie in den Publikationen vieler anderer jüdischer Denker, ob sie nun eher zionistisch oder liberal-jüdisch justiert waren. Buber hat wiederholt von „Rasse" gesprochen,375 und sein Schüler Hans Kohn erinnert daran, dass der Lehrer die zionistische Jugend in Deutschland beeinflusst habe mit Begriffen wie „Blut" und „Volksgemeinschaft", die dem Geist und Stil der Aufklärung „zutiefst widersprachen." Seine „Reden an das Judentum" vor den Bar Kochba-Studenten hätten, so Kohn weiter, Fichtes „Reden an die deutsche Nation" letztlich bestätigt und ergänzt. Der Analogieschluss, den auch Paul Michaelis in dem von uns erläuterten Artikel in der JR zieht,376 wirkte auf viele Juden in Deutschland um 1914 geradezu zwingend: „Die Lage der Juden in unsrer Zeit erschien uns nicht anders als die der Deutschen am Vorabend ihres nationalen Erwachens."377 Indes ist Bubers Haltung zu Fichte

372 Mosse unterstreicht: „The Volkish influence on German Zionism did not, in the end, transform the belief in a Jewish Volk into an aggressive, exclusive ideology" (Mosse 1970, S. 93). Zum zionistischen Selbstverständnis des Judentums als einer Volksgemeinschaft vgl. Pierson 1970, S. 1 4 5 - 2 4 1 . 373 Poppel 1977, S. 129. 374 Vgl. Rosenblüth 1968, S. 24: „Fern von dem Mißbrauch, der später mit diesem Begriff gemacht wurde, bedeutete hier das Blut die gestaltende Macht, das Verbindende der Generationen, die Brücke der Vergangenheit zur Zukunft." Allerdings setzte der Missbrauch nicht erst „später" ein, sondern war zur Zeit von Bubers Rede längst im Gange. Vgl. Strauss, für den Bubers „Mystik von Abstammung und Blut" „in Humanismus getränkt" war (Strauss 1991, S. 382). 375 Beispielsweise in J R 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"). 376 Vgl. Kap. VI. 4.7, S. 343-349. 377 Kohn 1964, S. 93.

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differenzierter, als Kohn uns glauben machen will, zumal Fichtes (sprach-) nationalistischer Klimax ohne rassische Blut-und-Boden-Metaphorik auskommt und sich zumindest in dieser Hinsicht nicht als Vorbild eignete. Zwar erinnert Bubers Gedanke, das erneuerte Judentum müsse sich auch kraft seiner messianischen Religiosität - in den „Dienst [...] menschheitlicher Erlösung"378 stellen, tatsächlich an Fichtes Ideal, erst auf deutschen Pfaden werde die Menschheit sich vervollkommnen und zur sittlichen Freiheit gelangen. Zudem geht Buber in Fichtes Spuren, wenn er den Zionismus als den „bewußten Willen" der Jüdischen Renaissance deutet379 — so wie Fichte den Willen des deutschen Volkes in der Nationalerziehung stärken und verwirklichen wollte. Es liegt demnach nahe, dass Buber Ideen aus Fichtes Reden übernommen und in eine neue Form gebracht hat.380 Jedoch hält gerade Buber als einer der wenigen Kulturzionisten auch Distanz zu Fichte, wenn er dessen „festeste Ideologie des Volkstums" explizit „zur Bestätigung und zur Warnung gleicherweise" empfiehlt.381 6.3. Fazit Der Kulturzionismus, stark beeinflusst durch die Schriften Achad Haams und Martin Bubers, erfand den Zionismus nicht neu, verlieh der Bewegung aber eine andere Blickrichtung, indem er ihr die Bedeutung des kulturellen und sprachlichen Aspekts immer wieder vor Augen führte. Von nun an war die appellative Argumentation, den Geist des Judentums durch Förderung des Hebräischen bereits in der Diaspora stärken zu müssen, kein zeitverschwendendes Ärgernis mehr, das vom praktischpolitischen Kampf um die jüdische Nation ablenkte, sondern Teil desselben. Das Reden über Sinn und Zweck einer spezifisch jüdischen Kultur war wieder salonfähig geworden. Am Ende verbanden sich die feindlichen Flügel zu einem synthetischen Zionismus, der die Programmatiken beider Ideologien - der ethisch-politischen und der kulturell-geistigen - vereinte.382 Nachum Sokolow, einer der wichtigsten Begründer der hebräischen

378 Der Jude, Heft 8, Jg. 2, 1917/18, S. 507 (Martin Buber: „Der Preis"); vgl. auch Der Jude, Heft 8, Jg. 3,1918/19, S. 347 (Martin Buber: „Die Revolution und wir"). 379 Zit. n. Voigts 2003, S. 140. 380 Vgl. dazu ebd., S. 137-147. 381 Buber, Bücher, diejet^t und immer lesen sind, 1914, S. 280. 382 Buber spricht selbst von dieser „Synthese", die in erster Linie auf das Konto der „Demokratische Fraktion" gegangen sei (Der Jude, Heft 1, Jg. 6, 1921/22, S. 4, Martin Buber: „Kongressnoten zur zionistischen Politik").

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Journalistik und von 1931 bis 1933 Präsident der WZO, erläutert in der „Jüdischen Rundschau" Anfang Januar 1923 eben diese Synthetisierung genauer: Wenn man Zionismus in seinem richtigen, namentlich synthetischen Inhalte versteht, so begreift man leicht, daß kein Volkstum ohne Sprache, kein Volkstum auch mit Sprache ohne Zentrum, kein Zentrum ohne Sicherheiten und politische Voraussetzungen bestehen kann, daß all diese Elemente vielmehr Glieder einer Kette sind [...] Denn um den Zionismus tatsächlich zu verwirklichen, ist es notwendig, günstige politische Bedingungen zu schaffen, zu wahren und zu entwickeln, unsere Brüder nach Erez-Israel zu bringen, Land zu kaufen und urbar zu machen, Kapital und Arbeit im Lande zu mehren, Häuser zu bauen und Industrien einzuführen, unsere Organisation zu erhalten und zu stärken und das Nationalgefühl in der Diaspora und die Sehnsucht nach dem Lande der Ahnen durch eine Ausbreitung und Vertiefung jüdischen Fühlens und Wissens zu fördern; es ist ebenso notwendig und es ist ein integraler Teil unseres Gesamtprogramms, unser nationales Sprachgut zu bereichern und zu verlebendigen. 383

Sokolow würdigt in diesem Artikel die Verdienste des berühmten Hebraisten Elieser Ben Jehuda, der das erste Lexikon des Neuhebräischen herausgab. Mag auch die Wandlung vom politischen über den kulturellen bis hin zum synthetischen Zionismus ein vordringlich deutsches Phänomen geblieben sein — ohne den kulturzionistischen Blickwechsel hätte die allmähliche Etablierung des Hebräischen als nationenkonstituierende jüdische Umgangssprache sicherlich unter noch größeren Widerständen zu kämpfen gehabt. Mit ihr fand das Hebräische seine entscheidenden Fürsprecher und die hebräische Sprachbewegung in Deutschland zu einer Dynamik zurück, die sie unempfindlicher machte gegen die ContraArgumente der liberalen Gegner im C. V. Welch maßgebliche Impulse Achad Haam für die Konsolidierung der kulturzionistischen Ideen in Deutschland ausübte, wurde anhand der „Jüdischen Rundschau" aufgezeigt. Die Adaption der Gedankengänge Martin Bubers durch führende Zionisten ist fast noch augenfälliger. Wie eine Quintessenz aus Bubers beiden Reden zu Sprache und Blut im Bar Kochba-Verein wirkt Kurt Blumenfelds Artikel vom September 1910. Ein Passus zeigt besonders deutlich die Vorbildfunktion der Buberschen Idee von der sprachlichen Tragik des westeuropäischen Judentums, die ihre Auflösung findet in der Sicherheit des Blutes: Sie merkten, je schöpferischer sie waren, umso stärker mußten sie es empfinden, daß der Rhythmus ihres Denkens grundsätzlich verschieden war von dem ihrer Umgebung. Sie empfanden die entsetzliche Tragik, gezwungen zu sein, in einer

383 JR 1/2, 5. Januar 1923, S. 1 (Nahum Sokolow. „Elieser Ben-Jehuda").

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S p r a c h e zu d e n k e n , die i h r e n s c h ö p f e r i s c h e n Fähigkeiten nicht adaequat w a r . D i e u n z e r s t ö r b a r e K r a f t u n d Eigenart des jüdischen Blutes setzte sich [...] d u r c h . 3 8 4

Weltsch erinnert sich 1928 in einem Artikel mit der bezeichnenden Überschrift „Was wir Buber danken" an das Initiationserlebnis, das Bubers Verbindungselement des Hlutes in der zionistischen Jugend bewirkt habe.385 Bubers Gedankengänge waren für die zionistisch orientierten deutschen Juden von hohem Identifikationspotenzial, denn sein Appell zur jüdischnationalen Abgrenzung ignorierte nicht die deutschkulturellen Bindungen.386 Indem Bubers der von ihm persönlich empfundenen lingualen „Tragik", die dem biografischen Paradoxon vieler anderer Kulturzionisten in Deutschland eine gewichtige Stimme verlieh, eine handfeste, weil gegenwärtige Lösung bescherte, versperrte Buber dem nationalen Einheitsprozess jede Ausflucht. Mochte man das Hebräische noch nicht vollgültig beherrschen, so lag im „Blut" der Geist des Judentums doch sicher geborgen. Weil er das „Blut" als eine vordringlich mystisch-geistige und nicht biologistische Komponente deutete, konnte er den zunächst gemeinschaftstiftenden Effekt solcher Begrifflichkeiten nutzen und dennoch die gefahrliche Nähe mancher Zionisten zu rassisch-völkischen Ideologien für sich vermeiden. Er übernahm somit spezifische, von den Antisemiten missbrauchte Vokabeln, indem er sie von ihren chauvinistisch-pejorativen Konnotaten befreite. So stand seine Auffassung von Sprache nicht im Gegensatz zur humanistisch-sprachorganistischen Philosophie früherer Tage, sondern mitten in deren Gedankenwelt. Aus der Lektüre Humboldts, Herders und Fichtes gewann Buber, davon kann ausgegangen werden, neue Impulse für seine Einstellung zur Revitalisierung des Hebräischen. Dabei verriet insbesondere seine Deutung der Sprache als Form des Bewusstseins das Vorbild Humboldts. Buber hat zutiefst an die Möglichkeit der Harmonisierung der beiden Pole Europa und Orient, Deutschtum und Judentum im Rahmen des zionistischen Projektes geglaubt, und diese Überzeugung floss in seine Philosophie ein. Noch 1919, im Jahr der allgemeinen Desillusionierung nach Kriegsende, schreibt er den deutschen Juden eine Vorreiterrolle zur Überwindung der Gegensätze zu: W i r , die w i r Orientalen und E u r o p ä e r sind, h a b e n w a h r l i c h E i g n u n g u n d B e r u f , das T o r d e s G e i s t e s u n d des L e b e n s in der v o n d e r G e s c h i c h t e aufgerichteten M a u e r

3 8 4 J R 35, 2. September 1910, S. 414f. (Maarabi: „Deutscher Zionismus"). 385 J R 33, 7. Februar 1928, S. 76 (Robert Weltsch: „Was wir Buber danken"). 386 Vgl. Sieg 2 0 0 1 , S. 47f: „Buber [...] verhieß der heranwachsenden Generation eine Lösung ihrer Identitätsprobleme durch eine ,Renaissance des Judentums', indem er zugleich ihre Identifikation mit der deutschen Kultur intensivierte."

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zwischen dem erhabenen Mutterkontinent und seiner überreichen und zerfahrenen Halbinsel zu werden. 3 8 7

Indes ist diese Synthese bipolarer Einflüsse bei einem Denker, der einerseits qua Erziehung der deutschen Geistes- und Kulturwelt vertraut war und andererseits eine Renaissance des Judentums anstrebte, nicht wirklich verwunderlich. Weit erstaunlicher erscheint auf den ersten Blick schon die Erkenntnis, dass selbst der gerade nicht im westeuropäischen Kulturkreis aufgewachsene Achad Haam in seinem Sprachmodell Anklänge an spezifisch deutsche Sprachkonzepte und -ideale durchscheinen lässt. Bei genauerem Hinsehen wurden die Gründe jedoch auch dafür ersichtlich. Die Surrogatstrategie des deutschen Kulturnationskonzepts — Sprache ist Nation, obwohl die Nation noch nicht ist — musste gerade für die nationaljüdischen Förderer und Forderer der Revitalisierung des Hebräischen attraktiv erscheinen. Achad Haam war ja kein eigentlicher Gegner einer jüdischen Nation in Ere% Israel, sondern nur strikt gegen eine jüdische Nation, die jeder kulturellgeistigen Grundlage entbehrte. Das von ihm eingeforderte Zentrum jüdischer Geisteswelt in Palästina sollte die Nation auf kommende Aufgaben vorbereiten, sie sozusagen vor-bilden, und in diesem Prozess nahm das Hebräische als Trägerin aller jüdischen Geistesinhalte die zentrale Rolle ein. Einmal erneuert und diachron belebt, vermochte allein die hebräische Sprache den Geist ins Zentrum jüdischer Religiosität zu retten und damit der jüdischen Nation ihre neue und vielleicht letzte Chance zu sichern, eines Tages im heiligen Land wiederzuerstehen. Allerdings unterscheidet das Moment der Religiosität die ,hebräische Kulturnation', welche Achad Haam und auch Buber vorschwebt, grundlegend von dem uns bekannten Konzept der deutschen Kulturnation. Ohne eine spezifisch jüdische, vorzüglich in der Sprache bewahrte Religiosität als Achtung der Gesetze vor Gott kann es auch nach kulturzionistischer Perspektive keinen jüdischen Geist und keine jüdische Nation geben. Insofern ist ersichtlich, weshalb das Jiddische für Achad Haam keine Alternative zum Hebräischen darstellen kann: Im Unterschied zu diesem transportierte es in seiner Lexik gerade nicht das Kulturerbe des jüdischen Volkes und der jüdischen Nation. Das Jiddische, ein dialektales Durchgangsstadium, eine, wie es Achad Haam nannte, zeitweilige „Aphasie", mochte vielen Muttersprachlern im Osten lieb und teuer sein — ideellmentale, religiöse und nationenbildende Kräfte aber wohnten nach Achad Haam nicht in ihm.

387 Buber, Vor der Entscheidung, 1919, S. 500.

VIL Resümee: Sprachkonzepte — Sprachkonflikte Mag daher die Haßflut des Judenhasses noch so hohe Wellen treiben, an dem Felsen unseres deutsch-jüdischen Bewusstseins wird sie zerschellen.1

Diese Prophezeiung vom März 1932, dass die patriotisch-kulturelle Standhaftigkeit der deutschen Juden die antisemitische „Hassflut" besiegen werde, hat sich bekanntermaßen nicht erfüllt. Der seelisch-kulturelle .Standort' Deutschland, an dem viele Juden bis zum letzten Moment festhielten, ist nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, spätestens dann ab 1938 zu einem Ort der Standgerichte, der Massenverfolgung und des Massenmords geworden. Hellsichtige Köpfe wie Fabius Schach erkannten schon früh, dass die Schutzmauer humanistischer Toleranz sich als fragil erweisen könnte angesichts eines „blinden Hasses", der in einer Stunde die mühselige Kulturarbeit ganzer Jahrzehnte zertrümmern würde: „Und was dann? Dann erhebt sich das Bestialische zum herrschenden Prinzip."2 Der Kampf gegen diesen ,Prinzipienwechsel' zur Inhumanität, den das sprach(zu)gewandte deutsche Judentum nach Kräften geführt hat, fand auf zahlreichen Gebieten und Ebenen statt, war von unterschiedlicher Urheberschaft, Ausprägung und Virulenz. Es gibt deshalb viele Wege, ihn auszuleuchten. Diese Untersuchung hat sich mit der Einstellung zu Sprache und Sprachen auf einen in der Forschung bisher noch nicht ausreichend berücksichtigten Themenaspekt konzentriert. Als agitatorischapologetischer Konflikt wurde er in den herangezogenen Alltagsquellen mit Argumenten ausgetragen, welche die jeweiligen Behauptungen stützen sollten — wie irrational-polemisch sich diese ,Begründungen' auf Seiten der antisemitischen Akteure und Claqueure auch ausnahmen, wie sehr zudem die gegen Ende der Weimarer Republik anwachsende Gewalt der Straße dem Verständnis von einer Verbalkontroverse mit ihrem typischen Für und Wider Hohn spricht. In einem Konflikt, dessen Argumentationsmuster pro oder contra Sprache in dieser Form nun erstmals aufgezeigt werden konnten, trafen zwei vollständig antagonistische Weltentwürfe aufeinander. Dabei wurde

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CVZ 13, 25. März 1932, S. 1 1 8 (Fritz Friedländer: „Der deutsche Raum als jüdisches Schicksal"). Auch abgedruckt in M C V Z Januar 1932, S. 2. IdR 6, Heft 6/7, Juni/Juli 1900, S. 320 (Fabius Schach: „Zweierlei Maße").

Sprachkonzepte

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deutlich, dass die völkischen Antisemiten ihre Agitationsmuster endang der Linie ihres judenfeindlichen Denkbildes führten und den veränderten Realitäten entsprechend anpassten, mitunter regelrecht umbogen. Felix Goldmanns Analysen, sonst von bestechender Schärfe, gingen in diesem einen Punkt vollkommen fehl: Der Hass traf die jüdische Minderheit nicht „als selbstverständliche Fo/ge ihrer Erkennbarkeif', nicht als Reaktion auf ihre Bewahrung „gewisser sichtbarer" Unterschiede „trot^ ihrer sprachlichen Anpassung", weshalb auch die von Goldmann eingeforderte radikalassimilatorische Aufhebung des „Andersseins"3 nicht die Lösung gewesen wäre.4 Ganz im Gegenteil: Die judenfeindliche Agitation schlug gegen das deutschen Judentum methodisch und intentional in einer Art und Weise zu, von der ein radikaler Außenseiter wie Bernhard Cohn5 bereits 1896 eine erstaunlich konturscharfe Ahnung hatte vermitteln können: Man hat den Antisemitismus zu einer Racenfrage [sie!] gemacht. Wenn das Judentum alles aufgeben, alles ablegen könnte und wollte, so ist die Raceneigentümlichkeit doch etwas, dessen es sich unter keinen Umständen entledigen kann, selbst beim besten Willen nicht. Wenn der Antisemitismus das Judenthum als Race bekämpft, hat er nicht die eventuell nothwendige Besserung und Nutzbarmachung derselben für das Staatsganze, sondern seine Vertreibung, wenn nicht gar seine Vernichtung und Ausrottung im Auge. [...] Denn nicht unsere Inferiorität, sondern unsere vermeintliche Superiorität ist es ja, die ihnen ein Dorn im Auge ist. [...] Man will eben nicht belehrt sein.0

Das „Wundermittel der Assimilierung", wie Herzl den Angleichungsprozess ironisch genannt hatte,7 konnte nicht wirken gegen jene, welche die Einfindung und Eingliederung der deutschen Juden in die Gesellschaft verachteten und bekämpften. In einem zweiten Schritt unserer Analyse wurde der jüdische Binnendiskurs um Sprache untersucht, den Liberale und Zionisten führten: intensiv, leidenschaftlich und kräftezehrend. Er ließ die Kluft zwischen beiden

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Goldmann, Vom Wesen des Antisemitismus, 1924, S. 39. Ebd., S. 80 [Kursive: Α. K.]. Die extreme Variante dieses Appells zur Aufgabe aller jüdischen Eigenarten vertrat der Philosoph und Spinoza-Kenner Constantin Brunner (1862-1937), der den Zionismus mit harscher Rhetorik verurteilte und dem Judentum, dem er angehörte, eine Mitschuld am Antisemitismus gab (vgl. Barkai 2002, S. 238-241). Der Arzt Bernhard Cohn war Zionist und zeitweilig zweiter Vorsitzender der ZVfD. Als er 1901 starb, widmete ihm die „Welt" einen Nachruf, aus dem bei allem Lob für seinen „trotzigen Eigensinn" hindurchscheint, dass er selbst von Gesinnungsgenossen als Sonderling empfunden wurde (Die Welt 39, 27. September 1901, S. 13). Cohn, Vor dem Sturm, 1896, S. 5 und S. 12. Cohn rät zu allgemeiner Bewaffnung [!] (S. 49) oder Auswanderung (S. 38) und gibt zu, „einen ziemlich vereinsamten Standpunkt zu vertreten" (S. 58). Herzl, Der judenstaat, 1896, S. 29.

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Resümee: Sprachkonzepte - Sprachkonflikte

Lagern schließlich unüberwindlich erscheinen — und das, obwohl sich nach unserer Analyse die Brückenschläge über den ideologischen Spalt als zahlreicher und auch potenziell tragfahiger gezeigt haben als allgemein vermutet.

1. Sprachkonzepte Die in der Einleitung aufgestellten Thesen konnten weitgehend verifiziert werden, allerdings mit überraschenden Ergebnissen im Detail. Erstaunlich war erstens die emotionale, anti-voluntaristische, teils auch bewusst antiradonale Apologie in den C.V.-Organen. Unerwartet hoch zeigte sich zweitens der Grad der Übereinstimmung in der ideologischen Grundsteinlegung von liberal-jüdischer und kulturzionistischer Spracheinstellung. Die Sprachkonzepte der Liberalen und der Zionisten übernahmen beide das deutsche Kulturnationenkonzept, während die antisemitische Sprachauffassung es mit allen Mitteln konterkarierte. Dabei mussten sich die Akteure auf zwei Konfliktfeldern behaupten. Begonnen sei hier mit den sprachthematischen Entwürfen: 1. Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation im Sinne einer lingual weiter existierenden und dann politisch neu zu konstituierenden Nation war getragen von diversen bildungsbürgerlichen Denk- und Verhaltensweisen, der Sehnsucht nach einer geeinten Nation und dem festen Glauben an eine in der Literatursprache erprobte neuhochdeutsche Nationalsprache. Das Fundament dieses Konzeptes bildete zudem eine sprachphilosophische Theorie, die sich an zwar nationalen, doch gleichwohl kosmopolitisch-humanistisch ausgerichteten Theoremen (Humboldt, Herder, Grimm) orientierte, dennoch die Potenzialität zu sprachnationalistischer Überhebung (Fichte, Arndt) enthielt und diese schließlich auch entfaltete. 2. Die Dynamik der jüdischen Emanzipation und Sprachakkulturation basierte zu großen Teilen auf der Hoffnung, dass ein rasches und effektives Sicheinfinden der zunächst primär jiddischsprachigen Juden in diesen sprachgeeinten Verbund zu einem Ende der Diskriminierung und Diskreditierung der jüdischen Minderheit und zur Verwirklichung gleicher nationalstaatlicher Rechte führen werde. Sprache sollte hier entsprechend dem deutschen Bildungsbürgerideal über Nationalbegriff und Nationalgefühl und damit über Nationalrecht entscheiden. 3. Der völkische Rassenantisemitismus richtete sich — als „kultureller Code" (S. Volkov) und „nationale Klammer" (L. Heid) in einer disparaten

Sprachkonzepte

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und identitätsunsicheren Gesellschaft — gegen die Erfolge und Ansprüche der jüdischen Emanzipation und musste, da diese an das Konzept einer lingual-nationalen Korrelation geknüpft waren, die Sprache als kulturbestimmende Entität ablehnen und abwerten. 4. Das liberale „deutsch-jüdische Bildungsbürgertum" (G. L. Mosse) identifizierte sich, seine Selbstentwürfe und seinen sozialen Status mit der Emanzipation und Sprachakkulturation verbindend, voll und ganz mit der deutschen Sprach-Nation, dies umso rückhaltloser, je mehr es angegriffen wurde. 5. Die Kulturzionisten wiederum schritten, das Ziel der nationenbildenden Renaissance des Judentums mittels einer umfassenden Revitalisierung und Neuetablierung des Hebräischen vor Augen, in bekannten Bahnen, indem sie spezifische Prämissen, Argumentationsmuster und Schlussfolgerungen des deutschen Kulturnationenmodells übernahmen und für ihre Zwecke zu nutzten verstanden. Alle späteren, seit Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Selbstvergewisserungsweisen der deutschen Juden - die liberal-jüdische Affirmation einer herausgehobenen Partizipation am deutschen Kulturleben ebenso wie die zionistischen Appelle zur inneren Teilnahme an der jüdischen Nations- und Sprach-Tradition - resultieren aus der inhärenten Spannung am Ende der Akkulturation: also einerseits aus der Erkenntnis, die (sprachlich-kulturellen) Standards erfüllt zu haben und andererseits der Erfahrung, trotzdem alltäglich abgelehnt und diffamiert zu werden. Bezogen auf die obigen Resultate von Punkt 1 bis 5, kristallisierten sich im Verlauf der deutsch-jüdischen Geschichte der Moderne drei aus emanzipatorischen Bewegungen erwachsene Sprachkonzepte und ein explizit sprachfeindlicher Gegenentwurf heraus: Ad 1: Im ursprünglich emanzipatorischen Prozess der deutschen Nationsbildung wurde die Sprache auf philosophisch-theoretischer Ebene zum Synonym für Nation und auf sozial-kultureller Ebene zum Surrogatfür Nation stilisiert, bis sie dann im Zuge der politischen Implementierung der deutschen Einheit 1871 zu einer Art,Siegelbewahrerin' der Nation erhoben wurde, die einem Individuum bzw. einer Gruppe den nationalen Prägestempel auch verweigern konnte. Ad 2 u. 4: Die jüdische Emanzipationsbewegung in Deutschland verstand die deutsche Sprache als Bindung an die Nation und als Mittel %ur nationalen Integration. Folgerichtig führte das liberale, akkulturationsbejahende und dem Centraiverein nahe stehende deutsch-jüdische Bildungsbürgertum seine wesentlich auch emotional begründete, historisch gehärtete Bindung

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Resümee: Sprachkonzepte - Sprachkonflikte

an die deutsche Muttersprache als Beweisfür 'Nationalität gegen die antisemitischen Diffamierungen deutsch-jüdischer Identität ins Feld. Diese kulturell-sprachliche Apodiktik nahm eine zentrale Rolle in der antiantisemitischen Apologetik ein. Ad. 5: Innerhalb der emanzipatorischen Bewegung des Zionismus zogen die deutschen Kulturzionisten, größtenteils nicht weniger akkulturiert als die jüdischen Liberalen, aus der deutschen Geschichte die positive Lehre, dass eine Sprache, die historisch-mentalitär als Medium der Nation verstanden wurde und wird, gerade dann zu einem Mittel %ur Nationsbildung werden kann, wenn die Nation als geografisch-politische Tatsache nicht existiert. Weil der Zionismus das Judentum nicht als Glaubens- oder Religionsgemeinschaft definierte, sondern als Volk, kam er in Berührung mit biologisch-völkischem Vokabular, nutzte dieses aber in positiver, nicht chauvinistischer Weise. Zwar verbanden manche Kulturzionisten Begriffe wie Blut und Rasse mit Sprache (Achad Haam, Buber, Calvary), doch bezweckten sie damit keine rassistischen Hierarchisierungen. Ad 3: Das Deutungskonstrukt der rassischen Antisemiten fiel insofern aus dem Rahmen dieser sprachkonzeptionellen Trias, als es nicht nur gegen die jüdische Sprachverwendung agitierte, sondern — als ein AntiSprachkon^ept — gegen die Wirkungskraft der Sprache selbst gerichtet war. Auf das chronologisch erste und thematisch prävalente Sprachkonzept der deutschen Nationsbildung rekurrierten die späteren, die sich dann partiell bekämpften, obwohl sie eine gewisse Deckungsgleichheit in Struktur und Methodik aufwiesen. Vor einer abschließenden Zusammenfassung der aus den unterschiedlichen Sprachkonzepten erwachsenen Sprachkonflikte ist noch einmal zu beleuchten, welche Idiome als Objekte der konzeptionellen Sprachbewertungen dienten und welche Rolle sie in der jeweiligen linguistischen Programmatik einnahmen.

2. Sprachobjekte: Deutsch, Jiddisch, Hebräisch Die aufgezeigten Sprach- bzw. Anti-Sprachkonzepte führten uns im Hinblick auf die diskursrelevanten Einzelsprachen Deutsch, Jiddisch und Hebräisch zu folgenden Ergebnissen: Ad 1: Mit dem offiziellen Ende des römisch-deutschen Kaisertums Anfang des 19. Jahrhunderts wandelte sich der aus dem Reichspatriotismus entstandene Sprachpatriotismus sukzessive zu einem devaluierenden Sprachnationalismus, dem Fichte mit seinen „Reden an die deutsche Na-

Sprachobjekte: Deutsch, Jiddisch, Hebräisch

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tion" eine Art Magna Charta verlieh. Positive Kulturorientiertheit machte mehr und mehr einer Kulturabwertung Platz. In Opposition zum Adel, aber auch zu den unteren Schichten suchte das deutsche Bildungsbürgertum damit die einheitsstaatlichen Defizite auszugleichen und eine Überlegenheit des ,Eigenen' über das ,Fremde' zu bekräftigen. ,Fremd' war alles ,Undeutsche', ,undeutsch' alles Fremdsprachige. Die neuhochdeutsche Sprachnorm sollte nun über Approbation oder Reprobation nationalstaatlicher Rechte entscheiden. Die von Jacob Grimm ausgesprochene (nationale) Einladung an alle Deutschsprachigen wurde zurückgezogen. Nun gerieten potenziell alle idiomatischen Deviationen von der Norm ins Visier der Sprachnationalisten. Während jedoch die deutschen Dialekte noch als ,deutsche' Abweichungen von der Leitvarietät anerkannt wurden, geriet eine Mehrkomponentensprache wie das Jiddische, das im Verlauf seiner langen Geschichte zahlreiche hebräische und slawische Lexeme inkorporiert hatte, unter den Verdacht des feindlichen ,Andersseins'. Ein Jiddischsprechender sah sich nun verstärkt Legitimierungsproblemen gegenüber einer normativ argumentierenden und die normativen Vorgaben einfordernden Gesellschaft ausgesetzt, was dann im Verbund mit sozialen und individuellen Integrationswünschen den Prozess seiner Sprachakkulturation entscheidend beschleunigte. Ad 2: Die Maskilim um Köpfe wie Moses Mendelssohn und David Friedländer lehnten das Jiddische mehr oder minder rigoros ab und forderten Zweisprachigkeit: Deutsch in der gesellschaftlichen, Hebräisch in der religiösen Sphäre. Als Folge absolvierte eine Mehrheit unter den deutschen Juden den Sprachwechsel vom Westjiddischen zum Hochdeutschen rasch und überaus erfolgreich, bis am Ende dieser Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das alltagssprachlich ursprünglich dominante Jiddische in eine residuale Rand-Existenz (in der Händlersprache, auf dem Land etc.) abgedrängt war. Ad 3: Die völkischen Antisemiten verlagerten, nach der überaus erfolgreichen Sprachakkulturation der deutschen Juden in erhebliche Erklärungsnöte geraten, ihre Angriffsstrategien von der kulturellen auf die biologische Ebene, wobei die Inferiorität der jüdischen Sprachverwendung in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Inferiorität der jüdischen Rasse zu stehen hatte. Trotzdem gaben sie das traditionelle Muster expliziter wie impliziter anti-jüdischer Sprachverfemungen nie völlig auf. Sie behielten sich Angriffe auf das Jiddische bzw. auf tatsächliche oder vermeintliche jiddische Residuen im Sprachgebrauch sozusagen in der Hinterhand, um am Beispiel ostjüdischer Karikaturen das durch die Realität ,verwischte' Negativstereotyp des „mauschelnden" Juden immer wie-

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Resümee: Sprachkonzepte — Sprachkonflikte

der .auffrischen' zu können. Am Jiddischen, das durch seine etymologisch erklärbare Nähe zum Deutschen die vorgestellte neuhochdeutsche Sprachnorm beständig streifte und - als Mehrkomponentensprache - verfehlen musste, fanden die antisemitischen Agitatoren ein in ihren Augen geeignetes Angriffsobjekt. Im Unterschied dazu eignete sich das völlig anders gepolte Hebräische nicht, um an ihm die angeblich typisch jüdischen ,Unterwanderungstaktikten' (Mimikry, Lügenhaftigkeit, äußere Sprachanpassung bei innerer Unveränderlichkeit der jüdischen Rasse etc.) zu demonstrieren. Deshalb blieb es von antisemitischen Attacken weitgehend verschont. Ad 4: Die Vereinsorgane des C.V. gewannen ihre Standpunkte zu nicht unwesentlichen Teilen aus ihrer Opposition gegen die nationaljüdische Ideologie und einen entweder primär kulturell oder aber rassistisch operierenden Antisemitismus. Als die beiden wichtigsten und zugleich unterschiedlichsten Gegner der „deutsch-jüdischen Synthese" haben die Antisemiten und die Zionisten Wunden in die „deutsche Haut"8 der liberalen Juden gerissen und die entsprechenden Bewertungen des Deutschen, Jiddischen und Hebräischen entscheidend beeinflusst: Das Deutsche war den liberalen deutschen Juden die ausgezeichnete Sprache der eigenen Geschichte und des Gefühls. Sie bestimmte Nationalbegriff und Nationalgefühl. Weil die Denkfiguren Muttersprache und Vaterland entsprechend der sprachpatriotischen bzw. sprachnationalistischen Tradition als Korrelate verstanden wurden, untermauerten die Muttersprachenkompetenz und das Muttersprachengefühl die vaterländische Gesinnung der akkulturierten Juden als ein unteilbares Nationalrecht auf die deutsche Heimat. Während das Westjiddische für die akkulturierten, C.V.-nahen Juden nicht mehr bedeutete als eine überwundene, ungeliebte und aus der Erinnerungskultur mehr oder minder verbannte ,Sprachentstellung' früherer Zeiten, durfte das Ostjiddische immerhin als Dialekt mittelhochdeutscher Prägung gelten, dessen slawische oder hebräische Etyma allerdings nicht ins Gewicht fielen. Weil die Ostjuden den Ursprung der deutschen Sprache in Polen und Russland lebendig hielten, wurden sie zu Pionieren der deutschen Kulturnation stilisiert. Der Engpass einer solchen Argumentation liegt dabei offen zu Tage: Einerseits sollte die demonstrative Betonung der Deutscheigentümlichkeit des Jiddischen die Ostjuden vor antisemitischen Attacken bewahren; andererseits musste gerade dies die Frage aufwerfen, warum der völlige Un8

IdR 9, Heft 1, Januar 1903, S. 73 (Alphonse Levy: „Umschau").

Sprachobjekte: Deutsch, Jiddisch, Hebräisch

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tergang des Westjiddischen in der Presse des Centraivereins nicht kritisch reflektiert wurde — hatte doch die sprachliche Vergangenheit der akkulturierten Juden durchaus ähnlich ,geklungen' wie die sprachliche Gegenwart der Ostjuden. Zudem gestanden die liberalen „cravat jews" den „caftan jews" (S. Aschheim) im Osten keine wirkliche kulturelle Eigenständigkeit zu. Eine Sprache, die nicht Einzelsprache, sondern nur Erscheinungsform einer Sprache ist, hat keinen Wert an sich. Abgeleitetes bleibt abhängig vom Objekt der Deduktion und von der Haltung des deduzierenden Subjekts. Im Verbund mit der Angst, gemeinsam mit den Ostjuden erneut in die Stigmatisierungsfallen der Antisemiten zu tappen, führte dies zu paradoxen Argumentationsszenarien hinsichtlich des Jiddischen. Indem man den Ostjuden mit gönnerhaftem Gestus die sukzessive Angleichung ihrer Kultur- und Sprachwelt an das vorgeblich höhere Niveau des Westens anempfahl, verteidigten die liberal-jüdische Apologeten das antisemitisch verfemte Jiddische dadurch, dass sie seinen baldigen ,Sprachtod' prophezeiten — und begrüßten. Dem Hebräischen gegenüber verhielten sich die liberalen deutschen Juden distanziert und weitgehend pragmatisch. Die überwiegende Mehrheit der Publizisten erkannte die religionsursprüngliche Bedeutung des Hebräischen als sakrale Sprache des Gebetes und Gesetzes zwar an, sprach ihm aber den Status als jüdisches Nationalidiom ab. Sprachinkompetenz im Hebräischen sei kein Beleg für unvollkommenes Judentum. Als der seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr gesellschaftsfähig gewordene Zionismus das akkulturierte Judentum in eine nun zweite Legitimationskrise stürzte und ihm eine mangelnde Durchdringung und Durchlebung des Jüdischseins vorwarf, waren die C.V.-nahen Juden gezwungen, ihre Einstellung zum Hebräuschen zu präzisieren. Daraus erwuchs die aufgezeigte Contra-Argumentation, die das zionistische Projekt einer Wiederbelebung des Hebräischen als ideell inakzeptabel und reell nicht praktikabel entlarven sollte. Ad 5: Entsprechend ihrer mal revolutionären, mal traditionsorientierten Programmatik räumten die Kulturzionisten dem Hebräischen einen überaus hohen Stellenwert ein: als Medium der religiösen Urtexte, vielmehr aber als zukünftiger jüdischer Umgangssprache, die die jüdische Nation neu konstituieren sollte. Gerade diese eingeforderte Präferenz des Hebräischen im Alltag hob das zionistische Sprachprojekt von den Vorstellungen der Maskilim ab und stellte das kulturelle Selbstverständnis der liberalen deutschen Juden radikal in Frage. Dem zionistischen Nationalsymbol Hebräisch gegenüber konnte das Jiddische nur die Rolle eines zweitrangigen Sprachzustandes einnehmen, der keine Zukunft hatte. Stand der hebräisch

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Resümee: Sprachkonzepte - Sprachkonflikte

sprechende Protagonist erst mitten auf der Bühne, dann hatte der jiddische Nebendarsteller abzugehen.

3. Sprachkonflikte Die liberalen Juden fanden sich, zwischen Antisemiten und Zionisten gestellt und von beiden ungleichen Seiten ob ihrer deutschen und ihrer jüdischen Identitätsauslegung attackiert, einem sprachlichen Kräftefeld von extremer Spannung ausgesetzt. Die Gründe, weshalb das liberal-jüdische Sprachkonzept und das sprachfeindliche Konstrukt der Rasseantisemiten miteinander in Konflikt geraten mussten, liegen auf der Hand - handelte es sich hier doch von Anfang um einen Kampf, in dem nicht nur das nationale Sein oder Nichtsein der deutschen Juden zur Debatte stand, in dem es auch nicht allein um die Berechtigung der deutsch-jüdischen Kultur ging, sondern in dem das deutsche Judentum sein Lebensrecht schlechthin bestritten sah.9 Angesichts eines rücksichtslosen Feindes bewies die apologetische Argumentation der C.V.-Presse eine größere Flexibilität, als man sie der ,aufklärungsgläubigen' Bildungselite des Vereins gewöhnlich zugesteht. So blieb der Irrationalismus antisemitischer Agitationsmuster nicht folgenlos für die liberal-jüdische Verteidigungsstrategie. Besonders in der Endphase der Weimarer Republik tendierte die C.V.-Publizistik mehr und mehr zu einer primär emotiven, anti-voluntaristischen Argumentationsweise. Von dieser lebensbedrohenden Dramatik war das jüdische Binnenverhältnis zwischen Liberalen und Zionisten nicht bestimmt, doch hielten zur fraglichen Zeit nicht wenige liberale Juden den Zionismus für eine zum Antisemitismus mindestens äquivalente, ja sogar für eine diesen ungewollt stützende Gefährdung ihrer deutsch-jüdischen Kultur-Identität.10 Während im Kampf zwischen Antisemiten und liberalen Juden, der sich unter anderem als Konflikt zwischen einem Sprach- und einem AntiSprachkonzept präsentierte, das Hebräische nur eine untergeordnete Rolle spielte, rückte die Sakralsprache im jüdischen Binnendiskurs ins Epizent-

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Vgl. IdR 24, Heft 1, Januar 1920, S. 20 (Κ. Α.: „Zeitschau"): „Sie [die antisemitischen Gegner] kämpfen, um zu siegen, d. h. um auf unseren zertretenen Leibern ihre Triumphfahne zu errichten; wir aber kämpfen, um zu leben, um zu existieren." Vgl. Fuchs, Glaube und Heimat, 1917, S. 257: „Daß der Zionismus den antisemitischen Mühlen Wasser gibt, wenn es uns zu Fremden im deutschen Wirtsvolke stempelt, wird man nicht gut in Abrede stellen können." Vgl. Goldmann, Vom Wesen des Antisemitismus, 1924, S. 82: „Der jüdische Nationalismus [...] ist nicht nur ein Kind des Judenhasses, sondern auch - gewiß wider willen - sein Förderer."

Sprachkonflikte

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rum der Kontroversen. Sie bildete das Streitobjekt, hinter dem 2wei differente Existenzkonzepte standen, die sich, verkürzt, in die Fragen fassen lassen: Innerlicher und äußerlicher Verbleib in der deutschen Nation und Kultur? Oder Abkehr von ihr und schließlich Auswanderung zur Gründung einer eigenen jüdischen Sprach-Nation? Die Antworten darauf vertrugen, so scheint es, keinen Konsens, und doch gab es zwischen den Kontrahenten mehr Übereinsdmmungen, als diese öffentlich zuzugeben bereit waren. Zum einen stellte sich die existenziell-historische Grundlage beider Lager als nahezu identisch dar. Auch ein deutscher Zionist in den 20er Jahren der Weimarer Republik, der unter keinen Umständen in Deutschland bleiben wollte, in der Diaspora das Hebräische auf die Tagesordnung seines Alltags setzte und dann tatsächlich nach Palästina auswanderte - alle drei Haltungen waren bis 1933 die Ausnahme11 —, hatte seine prägende kulturelle Sozialisation in Deutschland erfahren. Sie vollends abzustreifen fiel schwer, Liberalen und Zionisten. Zweitens, und dies scheint mir der wichtigere und insgesamt überraschendere Punkt zu sein, nutzten die deutschen Zionisten die geistigen Kartografien deutscher Kultur-Landschaften auch für ihr eigenes Sprachkonzept, was - einschlägige Artikel der „Jüdischen Rundschau" legten diesen Schluss nahe - ein sehr reflektierter Vorgang war. Zwar wurde nicht entschieden, ob selbst ein so östlich verwurzelter Denker wie Achad Haam, vollkommen anders sozialisiert als der im kulturellen Zwischenraum von Orient und Okzident stehende Martin Buber, in manchen seiner Konzepte bewusst an Humboldts sprachphilosophische Modelle anknüpfte; doch dass er und Buber populäre, bei Humboldt und Herder nachzulesende Evokationen für ihre kulturzionistischen Sprach-Ideale transformierten, wurde am Ende plausibel. Wenn ein Achad Haam, dieser scharfzüngige Kritiker der „Assimilationssucht", von der „[Liebes-]Sehnsucht nach unserem Vaterlande" 12 sprach, um sich vom emotional erkalteten, rein machtpolitischen Kalkül des politischen Zionismus abzusetzen, dann offenbarte er damit gleichzeitig, wie eng das liberal-jüdische und das zionistische Nationsverständnis eigentlich beieinander lagen. Zwar entzündete sich an der altbekannten Dichotomie — liberal-jüdischer Plädoyers zur Bewahrung des Altvertrauten

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Das gilt besonders für die von vielen Zionisten geforderte Auswanderung nach Erez Israel. Bis 1933 machten die Einwanderer aus dem deutschsprachigen Raum gerade einmal 2,5 Prozent aller Einwanderer aus. Aufgrund der Verfolgungen in Europa stieg ihr Anteil dann bis Ende der dreißiger Jahre auf 70 Prozent im Jahr an (vgl. Brenner 2002b, S. 106). Vgl. S. 369, Anm. 285 der vorliegenden Studie..

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Resümee: Sprachkonzepte - Sprachkonflikte

hier und kulturzionistischer Appelle zur Verwirklichung des Neuen dort - die gegenseitige Verletzlichkeit; zwar wurde das Feuer noch geschürt durch beidseitige Vorwürfe des Verrats (an der Heimat, an der Identität). Doch nüchterner betrachtet, unterschied sich die kulturzionistische Sehnsucht nach unserem [jüdischen] Vaterland (in Form des Wunsches nach kultureller, sozialer und staatspolitischer Konkretion) von der liberal-jüdischen Sehnsucht in unserem [deutschen] Vaterland (nämlich nach kultureller, sozialer und nationaler Ästimation durch die anderen) nur teleologisch, aber nicht methodisch: Schließlich sollte beides mittels Kulturbewusstsein und Sprachkompetenz erwiesen bzw. erst errungen werden. Zudem war die zionistische Gedanken- und Schrittrichtung (hin zu Sprache, hin zu Nation) eine aus der deutsch-jüdischen Geschichte durchaus vertraute. Weil viele deutsche Zionisten den Modellfall der sprachbestimmten deutschen Kulturnation im Spannungsfeld der jüdischen Sprachakkulturation historisch vor Augen hatten oder sich und anderen — man denke wieder an Paul Michaelis — wieder vor Augen führten, wussten sie um die Erfolge, Fehler und Schwierigkeiten der Emanzipation und nutzten ihr Wissen, um eben diese Fehler für das zionistische Sprach- und Nationsprojekt zu vermeiden. Diesmal sollte es das Eigene sein, das es wiederzugewinnen galt: die eigene Sprache, die eigene Kultur, die eigene Nation. Das liberal-jüdische und das nationaljüdische Sprachkonzept in Deutschland lagen also, jenseits der Kluft ihrer idiomatischen ,Objekte' Hebräisch oder Deutsch, recht eng beieinander. Die Koordinaten waren andere, das Koordinatensystem dasselbe. Und wie in solchen Systemen üblich, findet man die Koordinaten eines Punktes über die Parallelen zu den Achsen: Beide, Zionisten wie Liberale, maßen der Sprache als einer nationenbedeutsamen Entität ein entscheidendes Gewicht zu, wobei die Zionisten in der hebräischen Vatersprache oder besser noch: Vätersprache die nationenkonstituierende Schubkraft, die Liberalen in ihrer deutschen Muttersprache die nationenerhaltende Anziehungskraft betonten. Beide, Zionisten wie Liberale, stellten sich auf ein Fundament, das kulturell, literarisch und philosophisch von den Exponenten der „Deutschen Bewegung" gefestigt und politisch seit 1871 dennoch sukzessive unterminiert worden war. Und beide übernahmen auch die historischen Anfälligkeiten des Kulturnationenkonzeptes für eine gewisse linguistische Scheuklappenmentalität': Jene vor allem seit Fichte, Arndt und Jahn oft bewiesene Neigung, über der exklusiven Installierung einer bestimmten Nationalsprachennorm die Wertigkeiten anderer Varietäten bzw. Einzelsprachen zu vergessen, zu verweigern, zu verneinen. Die Gering(er)Schätzung, ja Abwertung des Jiddischen durch Liberale und Zionisten lieferte dafür ein deutliches Beispiel.

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Wie sich dann nach Zerstörung aller Grundlagen in Deutschland der Sprachkonflikt zwischen Liberalen und Zionisten nach Palästina verlagerte; ob dort also nach 1933 etwas seine Fortsetzung fand, das im Sprachenstreit am Haifaer Technikum zwanzig Jahre zuvor generalerprobt worden war; ob dabei schließlich die Ideale der sprachbestimmten Kulturnation mit all ihren inhärenten Stärken wie Schwächen abermals zum Tragen kamen - dies alles sind weiterführende Fragen. Dass es lohnend sein könnte, ihnen einmal umfassend nachzugehen, hat der israelische Historiker Joav Gelber in einem Aufsatz angedeutet.13 Die ostjüdisch geprägte Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft (Yischuw) in Palästina sei, so Gelber, aufgebracht gewesen über „die Anhänglichkeit der deutschen Einwanderer an deutsche Sprache und Kultur [...]. Sie verletzten den Nationalstolz und behinderten den Versuch einer Wiederbelebung der hebräischen Sprache." In Palästina begegneten sich mit den (zumeist ostjüdischen und orthodoxen) Immigranten der dritten Altjjah und den neuen (zumeist deutsch-jüdischen und akkulturierten) Auswanderern der fünften Alijjahu zwei Gruppen mit einem völlig anderen Sozialisationshintergrund. Wieder prallten zwei differente Sprach- und Kulturauffassungen aufeinander. Vieles deutet darauf hin, dass die Verhältnisse sich nun umkehrten. Lange hatte der westjüdische „Kulturdeutsche", ob liberal oder zionistisch orientiert, sich befleißigt gefühlt, dem „armen Bruder aus dem Osten" beizubringen, wie man sich als Europäer zu verhalten habe. In Palästina aber lehrte der Ostjude dem Westjuden nun den richtigen, nämlich hebräischen Habitus in der mehr und mehr vorrangig hebräischsprachigen jüdischen Gemeinschaft Palästinas. Jene „Jekkes" also, die vordem den Ostjuden mit einem zuweilen gönnerhaften Impetus von Hoch- und Höhergebildeten begegnet waren, wurden plötzlich zu Schülern, ob sie wollten oder nicht. Ihr „Weimarer Deutsch" war, von Ausnahmen abgesehen, nun nicht mehr gefragt. Dieser Prozess war konfliktträchtig, ging es hier doch abermals um Identitätsbewahrung. Nicht wenige der westjüdischen Exilanten trugen die kulturell-kognitiven ,Landkarten' ihrer Sozialisation — ihre mental maps15 —

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J. Gelber 1987, S. 61. Alijjah ist die hebräische Bezeichnung für Einwanderung in das Land Israel, die sich in verschiedenen Schüben vollzog. 1933 zogen 37 000, 1934 45 000 und 1935 66 000 neue Einwanderer vor allem aus Deutschland und den europäischen Nachbarländern in das unter britischem Protektorat stehende Palästina (Angaben bei: Brenner 2002b, S. 105). Die Theorie eines gedächtniskulturellen Zusammenhangs von Raum und Erinnerung in so genannten „mental maps" wird spezifiziert bei Damir-Geilsdorf/Hartmann/Hendrich 2005. Darin heißt es: „Erinnerung kann in einen Raum hineinprojiziert werden, sie kann aber auch selbst diesen Raum herstellen und strukturieren" (Damir-Geilsdorf/Hendrich

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Resümee: Sprachkonzepte - Sprachkonflikte

in ihrem Geist mit nach Palästina, um in der für sie unbekannten SprachRegion des Hebräischen eine zwar vertraute, dafür aber untaugliche und zudem gesellschaftlich unwillkommene Orientierungshilfe zu haben.16 Wenn er erst genug Hebräisch gelernt habe, so versprach der nach Palästina ausgewanderte Tristan Leander 1939 in der zionistischen „Jüdischen Welt-Rundschau", dann werde er den Homer in die jüdische Ursprache übersetzen — „aus der deutschen Übertragung natürlich."17 Leander, seinem Bericht nach am 12. März 1938 gleichsam „über Nacht" aus Österreich vertrieben, hatte nach den Pogromen beinahe alle Verbindungslinien zu Europa unterbrochen. An einer hielt er fest: „An das deutsche Volk bindet mich heute nichts mehr. An die deutsche Sprache sehr viel". Seine Kinder sollten mit Hebräisch, Englisch oder Französisch aufwachsen, er selbst jedoch werde „ab und zu, wenn sie [die Kinder] nicht zu Hause sind, in der Schule oder beim Rendezvous mit ihren Freundinnen, [...] verstohlen in einen Winkel schleichen und heimlich wieder Goethe oder Karl Kraus lesen."18 Als „Tragik", die es ganz zu erfassen gelte, hatte einst Martin Buber die inneren Sprachkonflikte seiner deutsch-jüdischen Generation bezeichnet19, deren Außenseite(n) bis 1933 meine Untersuchung beleuchtet hat. Dass der kulturelle Grundkonflikt mit der Ubersiedlung in sichereres, heiliges Land nicht enden musste, ja, für manchen deutschen Juden erst begann, zeigt Tristan Leanders Bericht. Und vielleicht liegt gerade darin, in Leanders paradoxem Wunsch, die verlorene Sprach-Heimat trotz allem zu bewahren, jene „Tragik" der deutschen Juden „in ihrer ganzen Tragweite"20 offen vor Augen.

16 17 18 19 20

2005, S. 34). Der Erinnerungsraum der akkulturierten deutschen Juden war angefüllt mit literarischen Klassikern, Sprach- und Kulturzeichen, Gedächtnisfeiern etc. Vgl. J. Gelber 1987, S. 61. Jüdische Welt-Rundschau, Heft 20, Jg. 1, 28. Juli 1939, S. 6 (Tristan Leander: „Bekenntnisse eines Ex-Assimilanten"). Ebd. JR 2, 14. Januar 1910, S. 13 (Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur"). Vgl. S. 389, S. 3 9 7 ^ 0 0 der vorliegenden Untersuchung. Ebd.

VIII. Abkürzungen AZJ

Allgemeine Zeitung des Judentums

C.V.

Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens

cvz

C.V.-Zeitung

CVD

Central-Vereins-Dienst

CZA

Central Zionist Archives

IdR

Im deutschen Reich

JR

Jüdische Rundschau

MCVZ

Monatsausgabe der C.V.-Zeitung

MJRB

Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin

VAA

Verein zur Abwehr des Antisemitismus

ZGJD

Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland

ZVfD

Zionistische Vereinigung für Deutschland

wzo

World Zionist Organization/Zionistische Weltorganisation

IX. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Lexika und Wörterbücher Dorsch. Psychologisches Wörterbuch. Hg. v. Friedrich Dorsch, Hartmut Hacker u. a. Bern 1994. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding (unter Mitwirkung von Walter Jens). Bd. 4. Darmstadt 1998. Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet v. Georg Herlitz und Bruno Kirschner. Berlin 1927. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. München 1992- (Archiv Bibliographia Judaica. Redaktionelle Leitung: Renate Heuer). Lexikon der Psychologie. Drei Bände. Hg. v. Wilhelm Arnold, Jürgen Eysenck und Richard Meili. Freiburg 1988. Lexikon der Psychologie in fünf Bänden. Hg. v. Gerd Wenninger. Heidelberg, Berlin 2001. Philo-Lexikon. Hg. v. Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Berlin 1936. Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. Stuttgart, Weimar 1996. Metzler Lexikon Sprache. Hg. v. Helmut Glück. Weimar 2000. Neues Jüdisches Lexikon. Hg. v.Julius H. Schoeps. München 1992. Erweiterte Neuauflage München 1998.

2. Ungedruckte Quellen 2.1. The Central Zionist Archives Jerusalem (CZA Jerusalem) CZA Jerusalem 2/7/10/2: Resolution. CZA Jerusalem A 1/2/2/6: Statuten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. CZA Jerusalem A 15/1/8/e: Max Bodenheimer: „Zionistische Arbeit und deutsche Volkszugehörigkeit", Brief an Adolf Friedemann vom 29. Mai 1914. CZA Jerusalem A15/VII/34: Statuten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. CZA Jerusalem A 102/H 9: Zionismus und Deutschtum. CZA Jerusalem A 147/23/3: Thesen der national-jüdischen Vereinigung Köln.

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1

Angegeben sind hier nur die verwendeten Nummern, Hefte oder Jahrgänge. Erscheinungsorte stehen jeweils in Klammern. Bei den Zeitschriften „Der Hammer", „Im deutschen Reich", „C.V.-Zeitung"/„Monatsausgabe der C.V.-Zeitung" und „Jüdische Rundschau" wird auf einen abermaligen Einzelnachweis verzichtet. Bei dem „C.V.-Dienst" und den auf ihn folgenden „Führerbriefen" handelt es sich nur mit Einschränkungen um Periodika in dem von mir definierten Sinne. Zwar erschienen beide Blätter periodisch, waren aber vereinsinterne, nicht fiir die Öffentlichkeit bestimmte Informationsschriften für Mitglieder.

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für

Deutsch-

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2

In Klammern hinter dem Namen der Autorin/des Autors angefügt ist das jeweilige Datum der Ersterscheinung eines Aufsatzes, falls es vom Datum des Buches, in dem der Aufsatz ediert wurde, differiert. Publikationen ein- und derselben/desselben Autorin/Autors sind nicht alphabetisch nach Titeln, sondern nach Erscheinungsdatum angeordnet. Kursivierungen, Sperrdrucke und Druckschrift in den Titeln sind nicht übernommen.

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X. Personenverzeichnis

Namen geschichtlich handelnder Personen, die nur in den Anmerkungen stehen, wurden lediglich im Ausnahmefall berücksichtigt; auch Personen aus der Forschungsliteratur wurden nur dann im Personenverzeichnis aufgenommen, wenn sie im Fließtext selbst Erwähnung finden.

Abraham, Fritz 341 Achad Haam (Ascher Ginzberg) 285, 292, 308f., 313, 322, 325, 327f., 343, 364, 364-383, 386-388, 393, 397f., 399, 401, 406,411 Adelung, Johann Christoph 36, 68, 189 Adorno, Theodor W. 149,151 Alechem, Scholem 364 Alexander, Kurt 256 Althaus, Hans Peter 232 Anhalt-Köthen, Fürst Ludwig von 29 Arendt, Hannah 4 Arlasoroff, Chaim 330 Arndt, Ernst Moritz 28, 31, 55, 70, 108, 145, 197,404, 412 Ascher Ginzberg s. Achad Haam Aschheim, Steven E. 258, 409 Avineri, Shlomo 303 Bab, Julius 46,183,231 Baeck, Leo 199 Barkai, Avraham 17,171 Bartels, Adolf 94,109-112,126f., 130, 132, 153,217,224 Bayerdörfer, Hans-Peter 259 Beethoven, Ludwig van 208 Ben Jehuda, Elieser 285, 307, 313, 399 Bergmann, Hugo 276, 339, 342, 361 Bering, Dietz 3,101 Birnbaum, Nathan 2, 356, 358-361, 364, 382 Blüher, Hans 134f. Blumenfeld, Kurt 296, 305, 317f., 328, 335f., 352 Bodenheimer, Max Isidor 296, 317, 352 Börne, Ludwig 31, 112, 133, 221, 380

Brenner, Michael 18f., 349 Brodnitz, Friedrich 210, 232 Brodnitz,Julius 215,222 Brunner, Constantin 403 Buber, Martin 4, 14,185, 284, 297, 333, 342, 344, 346f., 364f., 373f., 388-401, 411, 414 Calvary, Moses 343,351,406 Campe, Joachim Heinrich 68, 189, 203 Chamberlain, Houston Stewart 60-63,91, 106-111, 152, 185f., 218, 395f. Claß, Heinrich 159 Clauß, Ludwig Ferdinand 179 Coblenz, Felix 1,5,200 Cohen, Hermann 288-290, 312, 326, 336, 351, 383, 392-394 Cohn, Bernhard 403 Cohn-Reiß, Ephraim 314 Condillac, Etienne Bonnot de 38f. Craig, Gordon A. 3 DUthey, Wilhelm 34 Dinter, Artur 175,230 DöbUn, Alfred 178f. Dohm, Christian Wilhelm 80, 85 Dohna, Freda Marie Gräfin zu 226f. Doron, Joachim 396 Dreyfuss, Alfred 292 Dühring, Eugen 89 Dunker, Ulrich 17 Einstein, Albert 229 Eloni, Yehuda 302, 31 Of. Engel, Eduard 190,225 Eschenbach, Wolfram von 248

Personenverzeichnis

Felden, Klemens 89 Fichte j o h a n n Gottlieb 22, 38, 40, 54-63, 67, 70£, 74, 93,108, 145, 154,184f., 199, 314, 339-342, 347f., 374, 397f., 404, 407, 412 Foucault, Michel 11 Ford, Henry 93 Frankel, Zacharias 162 Friedemann, Adolf 252, 336 Friedländer, David 82, 407 Friedländer, Fritz 179,221,246 Friedmann, Lazarus 262 Friedrich II. der Große (König von Preußen) 33, 70,134,145 Fritsch, Theodor 21, 90-95,100-102, 109, 113, 117, 120-129, 133, 135-137,141144, 147f., 151f., 156-158, 192, 228, 239, 263 Fuchs, Eugen 165-167, 169,173, 206, 209, 212f., 278, 281, 410 Gardt, Andreas 26, 72 Gay, Peter 185 Geertz, Clifford 8, 16, 367 Geiger, Abraham 163 Geiger, Ludwig 188,374 Gelber, Joav 413 Gilman, Sander L. 19, 76,114 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 91, 106, 108, 396 Goebbels, Joseph 91-95, 106,126, 128, 137, 148,151 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 34, 36, 68, 93,145,183-185,196, 208, 216, 226, 246, 270, 314f., 334, 340, 344, 414 Goldmann, Christina 17 Goldmann, Felix 2,179, 209, 220, 251 f., 255, 315,403 Goldstein, Julius 14,184-186, 194-196, 256, 284-286, 315 Goldstein, Moritz 116,222,284 Gottsched, Johann Christoph 36,68 Gotzmann, Andreas 150 Graetz, Heinrich 160 Graetz, Ludwig 182 Graetzer, Rosi 270

447

Grau, Wilhelm 54 Grimm, Jacob 36f., 66, 68, 74, 86,159, 262, 348, 378, 391, 404, 407 Grözinger, Karl E. 240, 266 Günther, Hans Friedrich Karl 103, 138, 144, 396 Haas, Ludwig 207,285 Haeckel, Ernst 93 Haffner, Sebastian 149 Hambrock, Matthias 17 Hartner, Herwig 226 Heid, Ludger 404 Heine, Heinrich 37, 112, 125, 132£, 185, 220£,380 Herder, Johann Gottfried 2, 22, 35, 38-46, 48, 51, 53, 55f., 60, 63, 66f., 70f., 145,154, 184f., 189, 190£, 198-200, 203, 220, 233f„ 314f., 320, 338, 340-342, 374f., 387, 390, 404,411 Hermann, Georg 257, 279 Her Z l, Theodor 284, 291f., 297, 317, 328, 332, 335, 342, 356, 358, 385-387, 403 Hess, Moses 291,304,370 Hesse, Hermann 105 Hirsch, Felix 183 Hider, Adolf 92f., 95, 99,115-117,119-123, 130, 135, 139, 146, 148£, 152, 158, 185, 217, 239 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 30, 68, 70, 197 Holländer, Friedrich 232 Holländer, Ludwig 6, 170, 173-177, 180, 208f., 229, 232, 278, 282, 284 Horkheimer, Max 149, 151 Horwitz , Maximilian 166, 169, 172 Humboldt, Wilhelm von 2, 22, 36, 38, 40, 46-56, 60, 66£, 71, 74, 85, 98,103,107, 119, 121, 126, 129,134,154, 157, 159, 183, 191 f., 199, 203f., 207, 213, 215,233f., 277, 283, 321, 338, 347, 359, 374f„ 390392,400,404,411 Ibsen, Henrik 339 Irmscher, Hans-Dietrich 46

448

Personenverzeichnis

Jabotinsky, Vladimir 279, 297, 349 Jacob, Ernst 275 Jaeger, S.W. 223, 245f., 251, 261 Jahn, Friedrich Ludwig 70, 412 Jahn, Norbert 100,120f. Jaspers, Karl 4 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 189 Jünger, Ernst 217 Kafka, Franz 272,343 Kahler, Erich von 4 Kampmann, Wanda 331 f. Kant, Immanuel 1, 38, 47, 52, 82,183f., 196, 208, 208f., 227, 314f., 334, 334, 339, 340, 377 Katz, Jacob 21 Kautzky, Karl 254 Keller, Rudi 83 Kellermann, B. 161 Kerr, Alfred 105 Kieseritzky, Ernst 190f. Klatzkin, Jakob 288f., 351 Klein, Ernst Ferdinand 81 Klemperer, Victor 20,126, 248 Klopstock, Friedrich Gottlieb 34f. Kocka, Jürgen 35,87 Kohn, Hans 337-339, 367, 397 Körner, Theodor 70 Kraus, Karl 218,414 Kruse, Walter 179 Kuttner, Erich 223 La Fontaine, Jean de 35 Lagarde, Paul Anton 89, 91, 145,148 Landau, Julius 173 Landauer, Gustav 387 Langbehn, August Julius 123 Lazarus, Moritz 123, 182,196, 262, 385, 388, 394 Leander, Tristan 414 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29,42, 49, 82 Lenz, Fritz 136,138 Lessing, Gotthold Ephraim 1, 34, 80, 82, 183, 208, 216, 314, 332, 340, 343 Lessing, Theodor 105,129,149 Levin, Schmaria 309,311 Levinas, Emanuel 90

Levy, Alphonse 173, 211, 249, 270, 273, 282 Lewkowitz, Julius 163 Liebermann, Max 229, 351 Lin, Josef 348 Linke, Angelika 11 Linke, Rudolf 132f. Loewe, Heinrich 272, 291, 300f., 328, 344, 356-358, 360f. Löwenfeld, Raphael 165 Löwenstein, Rudolph M. 3 Luther, Martin 29, 134, 153, 273, 384, 388 Maimonides, Moses 268 Mann, Heinrich 247£ Mann, Thomas 105 Margulies, Heinrich 326 Mauthner, Fritz 31 f., 215 Mayer, Hans 272 Mendelssohn, Martin 165f. Mendelssohn, Moses 80-82, 84,114,193, 200, 220, 231, 243, 245f., 267f., 275,277, 384, 407 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 114 Menze, Clemens 49 Meyer, Max 367 Meyer, Senta 239 Meyer-Cohn, Heinrich 165 Michaelis, Johann David 80 Michaelis, Paul 316,340,342-345,351, 397, 412 Molo, Walter Reichsritter von 105 Mommsen, Theodor 77f. Moser, Friedrich Karl von 34 Mosse, George L. 50, 96, 115, 405 Mosse, Rudolf 115 Muhr, Abraham 244 Münster, Sebastian 28, 30 Nathan, Paul 262, 306-309, 312-314, 356 Naumann, Hans 121 Naumann, Max 105, 150, 168, 258, 355 Nietzsche, Friedrich 122, 339, 341, 366 Nohl, Hermann 34 Oksaar, Eis 6 Opitz, Martin 29 Oppenheim, Hans 330-332, 335

Personenverzeichnis Oppenheimer, Franz 317, 332-337 Oppermann, Wilhelm 192 Orkin, Georg 324f., 327, 338 Paquet, Alfons 231 Paucker, Arnold 168 Peretz, Isaak Lejb 364 Picard, Jacob 205f. Pinkus, Lazar Felix 363 Pinsker, Leon 291, 370f. Puschner, Uwe 92 Rathenau, Walther 105,116,188,254 Rauschning, Hermann 148 Ree, Anton 86 Reichmann, Eva Gabriele 4, 170, 215f. Reichmann, Hans 278 Reichmann, Oskar 25 Reinhardt, Max 139 Richter, Matthias 19,259 Rieger, Paul 205, 213, 238, 249f„ 276f. Rießer, Gabriel 41, 88, 181, 206, 211f., 214, 289, 344 Rosenbaum, Kurt 345 Rosenberg, Werner 197 Rosenthal, Karl 200 Rosenzweig, Franz 380, 384 Rossig, Alfred 128 Rousseau, Jean-Jacques 39, 63 Saenz-Badillos, Angel 266 Saussure, Ferdinand de 9, 48 Schach, Fabius 298,402 Schlling, Friedrich Wilhelm Joseph 68, 184, 315 Schleierrmacher, Friedrich Daniel Ernst 68 Scherek, Jakob 173 Schiller, Friedrich 1, 36, 38, 61, 68, 183, 185, 208, 216, 226, 282, 314, 340, 386 Schmidt-Rohr, Georg 90 Schneider, Julius 173 Schnitzler, Artur 105 Scholem, Gershom 4, 77, 267, 272, 318, 324, 343, 364, 380, 383 Schönberger, Davin 206 Schopenhauer, Arthur 145,208 Schramm, Gottfried 3 Schrötter, Friedrich Leopold von 85

449

Schwabe, Max 330-332 Schweriner, Artur 176,232 Shakespeare, William 35,80 Sieg, Ulrich 18 Sievers, Eduard 112 Sombart, Werner 94,110,127 Sokolow, Nachum 398f. Spengler, Oswald 105,136 Spinoza, Baruch de 220f., 334 Stapel, Wilhelm 209 Stehr, Hermann 105 Steinthal, Heymann 36, 46, 183, 192f., 211, 215f. Stern, Heinemann 92 Stern, Heinrich 218 Stern, J. 185 Stoecker, Adolf 89 Stöcker, Lydia 222 Strasser, Georg 94 Stukenbrock, Anja 44 Thieß, Frank 223 Thießen, Enno 103, 107 Toury, Jacob 84 Trebitsch, Arthur 129-135, 138, 147, 151,228 Treitschke, Heinrich von 77, 89, 107f., 123, 132,145, 160, 185 Trietsch, Davis 1 Trimberg, Süßkind von 206 Tschlenow, Jechiel 309 Tsur, Jacob 290 Tucholsky, Kurt 111,228 Uhland, Ludwig 70 Ullstein, Leopold 115 Uthmann, Jörg von 3 Urban-Fahr, Sabine 16 Vogelweide, Walther von der 27, 248 Volkov, Shulamit 44, 77, 404 Voltaire 35,62,70,257 Vossler, Karl 104, 193, 346 Wagner, Richard 106-108, 110, 113f„ 123, 145 Wassermann, Jakob 105,227,258 Weisgerber, Leo 191

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Personenverzeichnis

Weizmann, Chaim 284,297 Weltsch, Robert 12, 163, 168, 294f., 297, 299-302, 366, 374, 383, 400 Weininger, Otto 131, 149 Wengeler, Martin lOf. Westheim, Paul 220 Wiener, Alfred 177, 208f., 215, 222, 230, 291,314 Wolzogen, Ernst von 104 Wundt, Max 104,117,161 Zweig, Stefan 219