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German Pages 150 [149] Year 2014
Geschichte kompakt Herausgegeben von Kai Brodersen, Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Uwe Puschner Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Andreas Rose
Deutsche Außenpolitik in der Ära Bismarck (1862 –1890)
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
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Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Frank Schlumm, Berlin Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-15188-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72922-7 eBook (epub): 978-3-534-72923-4
Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik – die deutsche Frage und das Zeitalter der Einigungskriege. . . 1. „Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der preußische Verfassungskonflikt, die Berufung Bismarcks und dessen Anfänge . . . . . . . 3. Drei Kriege bis zur Reichsgründung . . . . . . . . . . . . a) Die schleswig-holsteinische Frage und die Auseinandersetzung mit Dänemark 1863/64 . . . . b) Die Entfesselung des „Bruderkrieges“ um die deutsche Vorherrschaft (1864 – 1866) . . . . . . . . c) „À Berlin“ – Von der Luxemburgkrise zur spanischen Thronfolge und dem Duell mit Frankreich (1866 – 1870/71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Im Spiegelsaal von Versailles – Kaiserproklamation und Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Relative Sicherheit und Überseeabenteuer (1880 – 1884/85) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dreikaiservertrag und Dreibund . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Das neue Reich in der Mitte Europas . . . . . . . . . . . 1. Das Kaiserreich und seine außenpolitischen Akteure . a) Kaiser, Reichskanzler und Militärs . . . . . . . . . b) Der diplomatische Dienst in der Wilhelmstraße . . 2. Die Trieb- und Bewegungskräfte der Staatenwelt . . . a) Gründerboom, Gründerkrach und Schutzzölle. . . b) Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Öffentliche Meinung, Pressepolitik und Diplomatie 3. Das Kaiserreich im System der Großmächte . . . . . a) Die neue Mächtekonstellation . . . . . . . . . . . b) Wahlchancen in der „halb-hegemonialen“ Stellung
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III. „Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“ – von der Reichsgründung bis zum Zweibund (1871 – 1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Drei-Kaiser-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der „Mission Radowitz“ zur „Krieg-in-Sicht“-Krise . . 3. Die orientalische Krise und die „Doktorfrage“ aus Livadia 4. Das „Kissinger Diktat“ als Leitlinie Bismarckscher Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878 . . 6. Vom „Ohrfeigenbrief“ zum Zweibund . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 2. Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode 1880 – 1884/85 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kolonien für Deutschland – bloß ein überflüssiger Luxus? . b) Allianzbildung mit dem Erbfeind? . . . . . . . . . . . . . . c) Die „Kronprinzenthese“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bismarcks „Karte von Afrika“ bleibt in Europa . . . . . . . . . V.
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Außenpolitisches Zauberwerk: Bismarcks System der Aushilfen (1885 – 1890) . . . . . . . . . . 1. Die west-östliche Doppelkrise 1885 – 1887 . . . . . . . . . . 2. Die „Aushilfen“ werden zum „System“ . . . . . . . . . . . . a) Der Rückversicherungsvertrag: „politische Bigamie“ oder „geniale Aushilfe“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außenwirtschaftspolitik: Schutzzölle und Lombardverbot . c) Deutsch-russische Entfremdung und Sondierungen an der Themse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Ende einer Ära – die Außerdienststellung Bismarcks .
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VI. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auswahlbibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichte kompakt In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch) Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt
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I. Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik – die deutsche Frage und das Zeitalter der Einigungskriege 1814/15 1834 1848/49 1853–1856 1858–1862 1859 23.9.1862 30.9.1862 1862–1866 8.2.1863
1.2.–1.8.1864 30.10.1864 14.8.1865 15.6.–26.7.1866 3.7.1866 23.8.1866 3.9.1866 20.9.1866 17.4.1867 13.7.1870 19.7.1870– 26.2.1871 2.9.1870 18.1.1871 28.1.1871 21.2.–26.2.1871 März 1871 16.4.1871 10.5.1871
Wiener Kongress und Gründung des Deutschen Bundes Gründung des Deutschen Zollvereins Revolution Krimkrieg Die „neue Ära“ unter Wilhelm I. Krieg Sardiniens und Frankreichs gegen Österreich Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsident „Eisen-und-Blut“-Rede Bismarcks in der Budgetkommission des preußischen Landtages Preußischer Heeres- und Verfassungskonflikt „Konvention Alvensleben“ zwischen Preußen und Russland zur Unterdrückung und Verfolgung polnischer Aufständische Deutsch-Dänischer Konflikt Friede von Wien Konvention von Bad Gastein „Deutscher Krieg“ zwischen Preußen und Österreich Schlacht bei Königgrätz Friede von Prag Annahme der Indemnitätsvorlage Preußische Annexionen Hannovers, Kurhessens, Nassaus und Frankfurts Gründung des Norddeutschen Bundes „Emser Depesche“ Deutsch-Französischer Krieg Schlacht bei Sedan und Gefangennahme Napoleons III. Kaiserproklamation Wilhelms I. im Spiegelsaal von Versailles Kapitulation von Paris und Waffenstillstand Friedensverhandlungen in Versailles Pontus-Konferenz zur Revision der SchwarzmeerKlausel Verfassung des Deutschen Reiches Friede von Frankfurt a.M.
Wer heute auf die Epoche zwischen dem Krimkrieg und der Reichseinigung zurückblickt, ist leicht versucht, den Aufstieg Preußens zur gleichrangigen Großmacht, die preußische Führungsrolle bei der Einigung Deutschlands und im weiteren Verlauf den Aufstieg und Fall des deutschen Kaiserreiches
Aufstieg Preußens
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Karte: Europäische Staatenwelt zwischen 1815 und 1871 1918 als etwas Zwangsläufiges und Naheliegendes anzunehmen. Doch so selbstverständlich, wie sich der Entwicklungsprozess im Nachhinein darstellt, war er keineswegs. Gewiss, die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 hatten in Mitteleuropa vor allem Preußen begünstigt. Mit seiner Ausdehnung nach Westen wuchs es weiter nach Deutschland hinein. Es gewann vor allem die industriellen Gebiete an Rhein und Ruhr hinzu, während die andere deutsche Großmacht Österreich – überwiegend agrarisch geprägt – mit seinen ita-
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lienischen Besitzungen weiter aus Deutschland herausgerückt war. Dennoch blieb die „deutsche Frage“ untrennbar mit dem europäischen Staatensystem und dessen Kernproblematik zwischen Gleichgewicht und Hegemonie verbunden. Auf dem Wiener Kongress war das Konzert der fünf Großmächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland übereingekommen, in Mitteleuropa ein machtpolitisches Vakuum zu schaffen. Der Deutsche Bund als integraler Bestandteil dieser Ordnung sollte lediglich eine defensive Funktion wahrnehmen und die Großmächte von weiteren Zusammenstößen abhalten. Gleichzeitig sollte die traditionelle Rivalität zwischen Preußen und Österreich Mitteleuropa von einem engeren Zusammenschluss abhalten. Wenngleich der 1834 gegründete Deutsche Zollverein als preußisch dominierter Zusammenschluss Norddeutschlands aus der Rückschau auch wie eine erste Etappe auf dem Weg zu einer kleindeutschen Lösung ohne Österreich wirkt, so bildete Deutschland bis in die 1860er-Jahre hinein keine außenpolitisch handlungsfähige Einheit. Im Vordergrund standen die Deutschlandpolitik zwischen Preußen und Österreich um die Vormacht in Mitteleuropa und der europäische Bezugsrahmen. Die Versuche einer kleindeutschen Lösung ohne Österreich – inklusive der Habsburger Lande – und großdeutsche Vorstellungen hielten sich weitgehend die Waage und kulminierten in den Revolutionsereignissen von 1848/49. So sehr sich die Revolutionäre in den verfassungspolitischen Debatten der Paulskirchenversammlung verzettelten, so sehr übernahmen sie sich auf dem Gebiete der Außenpolitik. Großdeutsche Sehnsüchte und der Wunsch nach einer Einverleibung Schleswigs zerschellten nicht zuletzt auch an der Intervention der Mächte, allen voran Russlands. In den 1850er-Jahren deutete zunächst nicht viel daraufhin, dass Preußen seine Potenziale auszuschöpfen gedachte. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) die Kaiserkrone aus den Händen der Paulskirchenversammlung abgelehnt hatte, musste Preußen auch im Konflikt mit Österreich um die Frage einer zukünftig kleindeutsch geführten Union oder eines großdeutschen 70 Millionen Bürger umfassenden Reiches zurückstecken. In der Punktation von Olmütz (29.11.1850) wich es einem militärischen Konflikt mit Österreich, welches von Russland unterstützt wurde, aus und ordnete sich noch einmal dem Deutschen Bund und der Wiener Führung unter. Begründet wurde das preußische Zurückweichen von Otto von Bismarck (1815–1898), der am 3. Dezember 1850 mit seiner berühmten OlmützRede erstmals deutschlandweit auf sich aufmerksam machte. Indem er in der Rede einen Krieg um Preußens Ehre willen und für eine preußisch geführte Union ablehnte und gleichzeitig den „staatlichen“, zunächst vor allem preußischen „Egoismus“ zum Prinzip erhob, steckte er den Rahmen preußischer Politik ab. Noch ging es dabei nicht um eine nationale Einigung, sondern preußische Selbstbehauptung. Auch während des Krimkrieges machte Berlin keinerlei Anstalten, sich für die Einheit einsetzen zu wollen. Vielmehr gab es sich zaudernd und zögernd, wirkte konzeptionslos und schwankte zwischen Ost und West.
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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1. „Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien
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Krimkrieg
Nachdem bereits die europaweite Revolution von 1848/49 die Solidarität des Mächtekonzerts untergraben hatte, versetzte der Krimkrieg diesem Konzert einen irreparablen Schlag. Die Gewaltpolitik von Zar Nikolaus I. (1796–1855) gegen die Türkei und seine Drohung, sich mit dem Nationalismus auf dem Balkan zu verbünden, sorgte für den ersten Großmächtekonflikt seit 1815. Frankreich und England hatten sich zusammengeschlossen und ihre Flotten zu den Dardanellen entsandt, um das Osmanische Reich gegen den russischen Expansionswillen auf dem Balkan und in Richtung Meerengen zu unterstützen. Nach der Vernichtung des türkischen Schwarzmeergeschwaders durch die russische Flotte griffen die Westmächte ein und erklärten am 27. März 1854 Russland den Krieg. Schon bald mussten sich Paris und London aber eingestehen, dass sie auch der Unterstützung der Mittelmächte bedurften. Die bescheidenen Kräfte Sardinien-Piemonts, dessen Ministerpräsident Graf Camillo Benso di Cavour (1810–1861) sich von der Kriegsteilnahme eine anglo-französische Unterstützung bei der Einigung Italiens erhoffte, reichten gegen Russland längst nicht aus. Während sich Österreich unter Karl-Ferdinand Graf von Buol-Schauenstein (1797–1865) tatsächlich darauf einließ, eine Pressionspolitik gegen den alten russischen Verbündeten zu verfolgen und Truppen an seiner Ostgrenze in Stellung brachte, verhielt sich Preußen lange unentschlossen und schwankend zwischen Ost und West. Sollte man die traditionellen, antirevolutionären, konservativen Bande zum Zarenreich kappen und sich an die Westmächte hängen? Oder sollte Preußen den Bestand der Heiligen Allianz fördern? Würden England und Frankreich Preußen in einem Konflikt gegen Russland beistehen? Der Einzige, der im Für und Wider der Parteien am Berliner Hof einen kühlen Kopf behielt und nüchtern die Interessen Preußens wog, war der erst zwei Jahre zuvor berufene Preußische Gesandte am Bundestag in Frankfurt Otto von Bismarck.
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Otto von Bismarck (1815–1898), Staatsmann, Reichsgründer. In Schönhausen bei Tangermünde geboren, pflegte Bismarck nach dem Jurastudium und einigen Jahren im Staatsdienst einen eher unsteten Lebensstil. Erst die Heirat mit der tief religiösen Johanna von Puttkamer (1824–1894) beendete 1847 die Jahre des „tollen Bismarck“. Nach der Revolution von 1848 trat er als Verfechter einer durch und durch konservativen Politik auf. Als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt am Main (1851–1859) entwickelte er in einem regen Austausch mit den hochkonservativen Gebrüdern Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach seine ersten außenpolitischen Gedanken. Diese zielten auf eine reine Interessenpolitik, ungeachtet traditioneller außenpolitischer Partner. In Frankfurt verfolgte er überdies einen konsequent preußischen und anti-österreichischen Kurs, was zu seiner Versetzung nach St. Petersburg führte (1859–1862), die er als „Kaltstellung“ begriff. Seine abermalige Versetzung nach Paris (1862) deutete aber bereits auf eine Rehabilitierung hin. Im Herbst 1862 wurde er von Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Als solcher vertrat er hartnäckig die Rechte der Krone, bekämpfte die liberale Mehrheit im preußischen Landtag und setzte die Hee-
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resreform gegen die Verfassung durch. Im Frühjahr 1864 führte Preußen unter seiner Führung gemeinsam mit Österreich Krieg gegen Dänemark, bevor die Frage nach der Vorherrschaft im Deutschen Bund 1866 zum Krieg gegen Österreich führte. Mit dem Sieg Preußens im „Bruderkrieg“ gegen Österreich war der Deutsche Bund zerstört. Den Abschluss der maßgeblich von Bismarck initiierten Einigungskriege bildete der Krieg gegen Frankreich von 1870/71. Von 1871 bis 1890 war Bismarck Reichskanzler und Außenminister des Deutschen Reiches sowie preußischer Ministerpräsident. Nach seiner Demission zog er sich auf sein Gut Friedrichsruh bei Hamburg zurück, wo er am 30. Juli 1898 verstarb.
Noch 1848 ein deutlicher Vertreter hochkonservativer Prinzipien, pro-österreichisch, pro-russisch und anti-französisch orientiert, hatte sich seine Sichtweise seit seiner Gesandtentätigkeit (1851–1859) von den Vorgaben seiner Förderer Ernst Ludwig (1795–1877) und Leopold von Gerlach (1790–1862) emanzipiert. Frei von sentimentalen Bindungen, erklärte er den Staatsegoismus und die Interessen zur außenpolitischen Richtschnur. Klarer als jeder andere erkannte er, dass eine Kriegsteilnahme Preußen keinerlei Vorteile einbringen würde. Österreich als Juniorpartner zu folgen, hätte vor allem Frankreich gedient. Es hätte die Heilige Allianz der status quo und monarchisch orientierten Mächte Preußen, Russland und Österreich völlig zerstört und fortan Preußen einem russischen Revanchedruck ausgesetzt. In einem solchen Krieg, so prophezeite Bismarck, lägen zudem alle Vorteile bei Napoleon III. (1808–1873), denn dieser konnte sich angesichts der vorteilhaften geographischen Lage Frankreichs jederzeit mit Russland verständigen. „Wir und Österreich“, so schrieb er Leopold von Gerlach, „sind […] in der Falle, und England zuckt die Achseln“. Aber auch ein Krieg mit St. Petersburg gegen die Westmächte und Österreich stand für ihn außer Frage. Wie sollte der Zar Preußen in einem Krieg, der sich hauptsächlich im Westen abspielen würde, Hilfe leisten? Statt sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, müsse sich Preußen deshalb zurückhalten und neutral bleiben. Dann würde es mittelfristig den größten Nutzen und die größte Bewegungsfreiheit aus einer internationalen Konstellation erzielen, die von der Forschung als „Krimkriegssituation“ beschrieben wird. Die „Krimkriegssituation“ beschreibt nach Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand eine Mächtekonstellation, die Bismarck die Lösung der deutschen Frage ermöglichte bzw. entscheidend erleichterte, und die im Nachgang der Einigungsphase zwischen 1862 und 1871 wiederholt die Geschichte Europas und Deutschlands bis in die jüngste Geschichte beeinflusste: das Verhältnis der jeweiligen Flügelmächte Großbritannien, später der Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und Russlands bzw. der Sowjetunion andererseits zueinander und gegenüber Deutschland. Danach nahm die Bewegungsfreiheit der europäischen Mitte immer dann zu, wenn die rivalisierenden Flügelmächte Europa den Rücken kehrten. Die Isolation und Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg führte einerseits zum Bruch zwischen England und Russland sowie zwischen Russland und Österreich. Während sich der anglo-russische Gegensatz damit außerhalb Europas zementierte, lockerten sich die Rahmenbedingungen für eine Lösung der deutschen Frage in der europäischen Mitte.
In Frankfurt, dem laut Bismarck „augenblicklich wichtigsten Posten unserer Diplomatie“, betrieb er deshalb eine vehemente Obstruktionspolitik gegen alle Versuche Wiens, den Deutschen Bund und Preußen für einen anti-russi-
Preußische Interessenpolitik
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Bismarcks Obstruktion gegen Österreich
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schen Kurs zu gewinnen. Auf sein Betreiben hin blieb Preußen letztlich passiv und der Deutsche Bund erklärte seine Kriegsbereitschaft zu allen Seiten hin. Die Konsequenz aus der preußischen Haltung, der russischen Niederlage und dem Pariser Frieden war zunächst, dass Preußen erst verspätet und unter demütigenden Umständen überhaupt an den Friedensverhandlungen in Paris teilnehmen durfte. Augenscheinlich schienen England und Frankreich die größten Profiteure des Krimkrieges zu sein. Auf den zweiten Blick aber erscheint auch das zögerliche Preußen als heimlicher Sieger. Erstens, weil der Krieg den endgültigen Bruch zwischen Wien und St. Petersburg besiegelt hatte und sich damit der Aktionsradius Preußens beträchtlich erweiterte. Ein erneutes Olmütz, also ein Zurückweichen gegenüber Österreich im Verbund mit Russland in der deutschen Frage, war in Berlin nicht mehr zu fürchten. Obwohl sich das Zarenreich nun zunächst von Europa weg in Richtung Asien orientierte, konnte Preußen zukünftig sogar mit russischem Wohlwollen rechnen. Und zwar immer dann, wenn es gegen Österreich ging. Zweitens wurde der deutschen Öffentlichkeit erstmals offenbar, dass preußische und deutsche Interessen eine größere Kongruenz aufwiesen als die Interessen mit dem Vielvölkerstaat Österreich auf dem Balkan und im Orient. Drittens zahlte sich die prowestliche Orientierung für Wien nicht aus. Im Gegenteil: Österreich geriet sogar in die Isolation, weil sich England von nun an seinen weltpolitischen Abenteuern und Frankreich Italien zuwandte. Bismarck dachte deshalb auch schon weiter. Bereits kurz nach der Pariser Friedenskonferenz (25.2.–30.3.1856) stand für ihn fest, dass Deutschland für zwei Großmächte „zu eng sei“. Preußen werde deshalb früher oder später für seine Existenz „gegen Österreich fechten müssen“.
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Bismarck an Leopold von Gerlach, 28. April 1856 Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 14/1, S. 441. Ich kann mich der mathematischen Logik der Tatsachen nicht erwehren, sie bringt mich zu der Überzeugung, daß Österreich nicht unser Freund sein kann und will. Bei der Bahn, auf welche die österreichische Monarchie gesetzt ist, kann es für Österreich nur eine Frage der Zeit und der Opportunität sein, wann es den entscheidenden Versuch machen will, uns die Sehnen zu durchschneiden, daß es den Willen dazu hat, ist eine politische Naturnotwendigkeit. Solange es die Schiffe seiner jetzigen Politik nicht dezidiert verbrennt, d.h. solange es nicht für eine Abgrenzung seines und unseres Einflusses in Deutschland vermöge einer geographischen und politischen Demarkationslinie sich definitiv verständigt und die Verständigung in Vollzug gesetzt hat, müssen wir dem Kampf mit ihm entgegensehen, mit Diplomatie und Lüge im Frieden, mit Wahrnehmung jeder Gelegenheit, uns im Krieg den coup de grâce [Gnadenschuss, A.R.] zu geben, oder coup de jarnac [eine nicht ganz regelkonforme Überrumpelung des Gegners, A.R.] will ich lieber nicht sagen. Österreich läßt sich dabei durch deutsche Gefühle, durch Bilder von Mann und Frau, die sich zanken, aber nach außen zusammenhalten nicht irre machen. Es nimmt die Hilfe der Franzosen so gut als die der ultramontanen Münsterländer und [August] Reichensperger [1805–1895]. Über unser Gezänk und Intrigen im Frieden geht dabei Deutschland noch sicherer zugrunde, als über einen guten Krieg, wie den siebenjährigen, der uns wenigstens klare Verhältnisse zueinander brächte. Aber wenn wir ihn auch fromm vermeiden wollten, Österreich wird ihn führen, sobald ihm die Gelegenheit günstig ist. Wir, so stark wir jetzt
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„Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien
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sind, bleiben eine Unmöglichkeit in dem System der dermaligen Wiener Politik; ihre Ziele und die Existenz des gegenwärtigen Preußen schließen sich gegenseitig aus. Sie glauben das nicht, und davon unsere Meinungsverschiedenheit. Ich war ziemlich gut österreichisch, als ich hier herkam, und bin auch bereit, es wieder zu sein, wenn wir von dort die Garantie für eine Politik erhalten, bei der auch wir bestehen können. Bei der jetzigen können wir das meines Glaubens nicht.
Einstweilen ging das den tonangebenden Kreisen am Berliner Hof um den Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel (1805–1892) und Leopold von Gerlach jedoch zu weit. Noch konnte Bismarck sich halten und seinen privaten Konfrontationskurs mit Österreich am Bundestag weiter treiben. Als im Sommer 1858 jedoch Prinz Wilhelm (1797–1888) die Regentschaft für seinen inzwischen geistig umnachteten Bruder Friedrich Wilhelm IV. übernahm und sich eine „Neue Ära“ ankündigte, waren die Tage des konfliktfreudigen Gesandten in Frankfurt erst einmal gezählt. Zwar verkündete der einstige Kartätschenprinz der 1848er Revolution, dass Preußen in Deutschland „moralische Eroberung“ betreiben wolle, doch den Worten folgten zunächst kaum Taten. Vor dem Hintergrund innerer Reformen suchte Berlin unter dem neuen Außenminister Alexander Graf von Schleinitz (1807–1885) erneut die Nähe zur Donaumonarchie. Als Zeichen des guten Willens gegenüber Wien wurde Bismarck im Januar 1859 nach St. Petersburg versetzt, was er selbst als eine regelrechte „Kaltstellung“ empfand. Aus der Ferne beobachtete er, wie sich eine neue internationale Krise zusammenbraute, die für die deutsche Frage und die Nationalbewegung zur Initialzündung werden sollte. Mit dem Krieg Frankreichs und Sardinien-Piemonts gegen Österreich zwischen April und Juli 1859 trat das europäische Staatensystem endgültig in eine Phase reiner Machtpolitik ein. Zwar hatte bereits der Krimkrieg die lange Friedens- und Stabilitätsphase zwischen den Großmächten beendet, doch war es auf der Krim erst nach erheblichen Widerständen überhaupt zu einem Großmächtekonflikt gekommen. 1859 jedoch wurde erstmals seit den napoleonischen Kriegen wieder einer von langer Hand geplanter Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen. Was umso schwerer für das Konzert der Mächte wog, war, dass Frankreich und Sardinien-Piemont in diesem Konflikt mit Österreich gezielt gegen eine Macht zu Felde zogen, die sich dem Status quo und der Stabilität der internationalen Beziehungen besonders verpflichtet fühlte. Während es den Westmächten 1854 noch darum gegangen war, Russland für die Störung der Gleichgewichtsordnung im Orient zu sanktionieren, ging es nun um bloße Machterweiterung. Wenngleich sowohl Napoleon III. als auch Camillo Cavour offiziell das Nationalstaatsprinzip für ihre Sache reklamierten, machte das die Sache nicht besser. Im Gegenteil: Die österreichische Stellung in Norditalien beruhte zweifellos auf dem anerkannten Völkerrecht. Das nationale Prinzip galt bis dahin als revolutionäres Prinzip, welches von den Großmächten nicht nur nicht akzeptiert worden war, sondern gegen welches sich auch die Wiener Ordnung explizit gewandt hatte. Weder Napoleon noch Cavour ging es um die Einigung Italiens. Vielmehr stand bei beiden die Machtpolitik im Vordergrund während das nationale Element lediglich als willkommenes Mobilisierungs-
„Neue Ära“ und Versetzung
Oberitalienischer Konflikt
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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instrument diente. In Plombières (20.7.1858) hatten Napoleon und Cavour in einem Geheimvertrag vereinbart, Österreich aus Italien hinauszuwerfen.
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Die Entfesselung des oberitalienischen Krieges. In Plombières sicherte Napoleon III. Cavour die Unterstützung von 200000 Soldaten für einen Angriffskrieg gegen die Habsburgermonarchie zu. Eine fabrizierte Petition der Bürger von Modena an den König von Sardinien sollte den Zündfunken zum Krieg bilden. Ziel war es, einen italienischen Staatenbund nach Vorbild des Deutschen Bundes zu erreichen, in dem der Papst als Trost für den Verlust seiner Besitzungen den Vorsitz übernehmen sollte. Darüber hinaus verlangte Napoleon für seine machiavellistische Komplizenschaft Savoyen und Nizza und die dynastische Verbindung Frankreichs und Italiens. Nachdem die Verständigung von Plombières im Januar 1859 in einem geheimen Angriffspakt besiegelt worden war, ging Cavour dazu über, Österreich zu einem Krieg zu provozieren. Unterdessen bereitete Napoleon den Feldzug diplomatisch vor, indem er die Habsburgermonarchie auf internationalem Parkett zu isolieren suchte. In London und Berlin stieß der französische Kaiser damit jedoch auf taube Ohren. Beide Mächte wollten nichts mit einem derart flagranten Rechtsbruch zu tun haben. Für Preußen kam hinzu, dass die Rechtslage des Deutschen Bundes zumindest die Möglichkeit zur Beistandspflicht beinhaltete: selbst wenn die österreichischen Besitzungen in Oberitalien nicht zum Gebiet des Deutschen Bundes zählten, so war Österreich doch immerhin eine deutsche Macht. Nur in St. Petersburg trat Napoleon mit seinem diplomatischen Ränkespiel offene Türen ein, schließlich versuchte Russland alles, um sich an Österreich zu rächen und seine Niederlage im Krimkrieg, die sich vor allem in der Neutralisierung des Schwarzen Meeres äußerte, zu tilgen. Am 3. März 1859 schlossen Paris und St. Petersburg einen Geheimvertrag, bei dem Russland seine wohlwollende Neutralität in einem künftigen französisch-österreichischen Konflikt zusicherte. Aber selbst die Einigkeit Frankreichs, Sardiniens und Russlands hätten die Wiener Ordnung nicht zu Fall gebracht, hätten die Entscheider am Ballhausplatz nicht ausgerechnet jetzt einen entscheidenden Fehler begangen. Statt auf den anglorussischen Vorschlag eines Kongresses einzugehen, dem sich auch Napoleon nicht hätte entziehen können und dem selbst Cavour zähneknirschend zustimmte, trat Österreich die Flucht nach von an. Trotz eigener chronischer Finanznöte und militärischer Schwächen sowie in völliger Verkennung der politischen Lage überstellte Wien ein Ultimatum nach Turin. Cavour fand sich am Ziel, lehnte das Ultimatum ab und schob so Österreich auch noch den „Schwarzen Peter“ für den Kriegsausbruch zu. Am 26. April erklärte Österreich Sardinien den Krieg. Knappe zwei Monate später war es durch verheerende Niederlagen bei Magenta (4. Juni) und Solferino (24. Juni) geschlagen. Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) blieb nichts Weiteres übrig, als am 11. Juli in Villafranca einen Waffenstillstand mit Napoleon zu unterzeichnen. Österreich verlor die Lombardei und Teile Venetiens.
Deutsche Frage und Dualismus
Hatte der Krimkrieg die Situation zwischen den beiden deutschen Vormächten aufgebrochen, so brachte der oberitalienische Krieg die deutsche Frage endgültig wieder auf die Tagesordnung. Eine Niederlage Wiens konnte das übrige Deutschland nicht unberührt lassen. Überall wurden Stimmen laut, dass Preußen den Po am Rhein verteidigen müsse. Dahinter stand nicht nur die nationale Verbindung zu Österreich, sondern auch das gleichgewichtspolitische Kalkül, dass mit einem Sieg Frankreichs der Druck auf die Westgrenze automatisch steigen würde. Zweifellos stellte der Krieg die deutsche Sicherheit insgesamt infrage. Gleichzeitig berührte der Krieg auch den preußisch-österreichischen Gegensatz. Preußen wollte sich deshalb seine Hilfe zumindest mit der Gleichstellung im Deutschen Bund, dem Oberbefehl am Rhein und dem militärischen Primat in Norddeutschland bezahlen lassen.
„Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien Doch ehe Österreich Zugeständnisse an Preußen zu machen bereit war, zog es den Frieden von Villafranca und den Verlust der Lombardei und Teile Venetiens vor. Das preußische Kalkül, einer kleindeutschen Lösung über die akute österreichische Zwangslage näher zu kommen, war damit gescheitert. Der Dualismus verschärfte sich, denn Österreich drängte nach Villafranca zurück in den Deutschen Bund. Gleichzeitig wurde der Ruf nach Einheit, ob groß- oder kleindeutsch in zahllosen Kundgebungen und Veranstaltungen wie den deutschlandweit beachteten Schiller-Feiern 1859 immer lauter. In dem Maße, in dem die öffentliche Meinung an Bedeutung gewann, rückte auch die Lösung der deutschen Frage verstärkt in den Vordergrund. Wien reaktivierte seine alten Pläne zu einem 70-Millionen-Reich in der Mitte Europas und strebte einen Beitritt zum Zollverein an. Preußen wollte genau dies verhindern und zog einen Handelsvertrag mit dem freihändlerischen Frankreich vor (29.3.1862). Auch wenn die Wiener Ordnung durch die beiden Kriege auf der Krim und in Oberitalien nachhaltig erschüttert worden war, so war sie damit nicht unwiederbringlich zerstört worden. Immerhin wurde zwischen 1853 und 1856 eine Eskalation zum Weltkrieg vermieden und auch in der Folgezeit kam es bis 1912 weiterhin zu einer Fülle von gegenseitigen Konferenzen und Vermittlungstätigkeiten. Gleichwohl ist unverkennbar, dass um die Jahrhundertmitte eine andere Zeit angebrochen war. Eine neue Generation von Politikern hatte das Ruder übernommen und leitete einen Gezeitenwechsel in der internationalen Politik ein. Aufgewachsen mit dem Legitimismus des Zeitalters Metternichs, suchten sie nach den Erfahrungen von 1848/49 den Bund mit den national-revolutionären Kräften, um auf ihre Nachbarn im Konzert zu drücken. Die bekanntesten Vertreter dieses neuen Typs waren Felix Schwarzenberg (1800–1852) in Österreich, Napoleon III. in Frankreich, Alexander Gortschakow (1798–1883) in Russland, Camillo Cavour in Italien und Otto von Bismarck in Preußen. Der Gegensatz zwischen liberalem Westen und konservativem Osten verlor seinen ideologischen Charakterzug. Im Vordergrund, so stellte der Publizist August Ludwig von Rochau (1810–1873) in seiner bekannten Schrift zu den „Grundsätze[n] der Realpolitik“ schon 1853 fest, stand nicht länger das Solidaritäts- und Konsensprinzip, ausgedrückt in der allseitig geachteten Vertragstreue, sondern vielmehr die machiavellistische Machtpolitik und pure Interessenwahrung. Im Staatsleben, so Rochau, gelte nichts anderes als das „Gesetz der Stärke“. So ist Bismarcks bekannter Ausspruch vom September 1863, dass die Geschicke Deutschlands nicht durch „Reden oder Majoritätsbeschlüsse“, sondern „durch Eisen und Blut“ entschieden würden, eine durch und durch typische und logische Schlussfolgerung aus seinen politischen Lehrjahren seit 1848. Auch Schwarzenberg und andere hatten schließlich Anfang der 1850er-Jahre die Zeit der ehernen Prinzipien in der Außenpolitik für beendet erklärt. Für den österreichischen Außenminister Bernhard von Rechberg (1806–1899) war nach den Erfahrungen des italienischen Konflikts die Solidarität der Mächte sogar gänzlich aufgehoben und das europäische Gleichgewicht nichts weiter als ein „toter Buchstabe“. In Preußen machte man sich vor diesem Hintergrund zunehmend Gedanken um die eigene Sicherheit und Schlagkraft.
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Realpolitik
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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2. Der preußische Verfassungskonflikt, die Berufung Bismarcks und dessen Anfänge
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Heeresreform
Der Krieg in Oberitalien hatte noch einmal daran erinnert, dass eine nationale Einigung nicht kampflos zu erreichen sein würde. Aber bereits zuvor hatte König Wilhelm I. eine Reform des preußischen Heeres angekündigt. Tatsächlich lässt sich der Zustand der preußischen Armee Ende der 1850erJahre im internationalen Vergleich als stark verbesserungsfähig beschreiben. Das stehende Heer war von seinem Umfang von 140000 Mann her auf dem Stand der Freiheitskriege stehen geblieben, obwohl die Bevölkerung von elf auf achtzehn Millionen angewachsen war. Großmachtambitionen waren damit nicht zu verfolgen. Allein Frankreich verfügte über mehr als 400000 Mann, Österreich standen über 300000 Soldaten zur Verfügung und der Zar leistete sich ein Millionenheer. Hinzu kam die Diskrepanz bei den Dienstzeiten. Die aktive Grundwehrdienstzeit preußischer Soldaten betrug offiziell drei, faktisch aber eher zwei Jahre. Österreich verlangte drei bis fünf, Frankreich vier bis sieben und Russland sogar zwölf Jahre Dienst an der Waffe. Die profilaktische Mobilmachung 1859, bevor es zum Frieden von Villa-franca gekommen war, hatte überdies gezeigt, dass die Struktur aus Landwehr und stehendem Heer alles andere als effizient war und eher zu chaotischen Zuständen denn zu geordneter Mobilisierung führte. Abgesehen vom geringen Kampfwert der häufig nur in vierwöchigen Kurzlehrgängen ausgebildeten Landwehrrekruten, galt die Landwehr als potenzieller Revolutionsherd und wenig verlässlich. Eine Gesetzesvorlage sah deshalb im Februar 1860 vor, die regulären Streitkräfte zu verdoppeln, die Wehrdienstzeit auf drei Jahre zu verlängern und die Bedeutung der Landwehr zu verringern. Die Mitglieder des mehrheitlich aus Liberalen zusammengesetzten preußischen Abgeordnetenhauses lehnten jedoch jede Bedeutungsminderung der Landwehr, diesem Inbegriff einer bürgerlichen Armee, ab. Zwar wurde eine direkte Konfrontation mit der Krone zunächst noch vermieden, da der Landtag zumindest einer Vermehrung der Truppen zustimmte, aber nachdem eine Verbesserung des Heeresreformprogrammes ausgeblieben war, verweigerten die Abgeordneten 1862 schließlich die Bewilligung weiterer Mittel. Als auch Neuwahlen keine anderen Mehrheitsverhältnisse brachten, schien die Situation derart verfahren, dass Wilhelm sogar eine Abdankung erwog. In dieser Lage schlug Kriegsminister Albrecht von Roon den inzwischen nach Paris versetzten Otto von Bismarck als neuen Ministerpräsidenten vor. Ihm wurde die nötige Härte zugetraut, mit den widerspenstigen Abgeordneten fertig zu werden.
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Albrecht Graf von Roon (1803–1879) fiel nach langer Dienstzeit an verschiedenen Stellen in der preußischen Armee, die ihn bis in den Rang eines Generalmajors gebracht hatten, 1858 durch seine Denkschrift zu Fragen der Modernisierung des preußischen Kriegswesens auf. Mit Beginn der Regentschaft des Prinzen Wilhelm wurde er 1859 zum Reorganisator des Heeres und zum preußischen Kriegsminister (ab 1861 auch Marineminister) berufen. An der Seite König Wilhelms I. und als fraktionsloser Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus
Der preußische Verfassungskonflikt
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focht er ebenso hartnäckig wie rhetorisch brillant für die preußische Heeresreform. Mit seinem denkwürdigen Telegramm vom 18. September 1862 und dem darin enthaltenden Satz „Periculum in mora! DépÞchez-vous!“ („Gefahr im Verzug! Beeilen Sie sich!“), veranlasste er Bismarck von Paris nach Berlin zu eilen, wo ihn der schon zur Abdankung bereite König Wilhelm I. zum Ministerpräsidenten ernannte. Mit seinen Reformen galt er nach den Siegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich gemeinsam mit Bismarck und Moltke als einer der Väter der Reichseinigung. Am 16. Juni 1871 erhob ihn Kaiser Wilhelm I. in den Grafenstand.
Bismarck nahm die Herausforderung an, obwohl die Mehrheit von seinem Scheitern überzeugt war. Bereits wenige Tage nach seiner Ernennung zum Preußischen Ministerpräsidenten hielt er eine programmatische Rede vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses. „Eisen und Blut“ – Auszug aus Bismarcks Programmrede in der Budgetkommission, 30.9.1862 Aus Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 10, S. 139f.
Der Lotse geht an Bord
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Die öffentliche Meinung wechsle, die Presse sei nicht die öffentliche Meinung; man wisse, wie die Presse entstände; die Abgeordneten hätten die höhere Aufgabe, die Stimmung zu leiten, über ihr zu stehen. Wir haben zu heißes Blut, wir haben die Vorliebe, eine zu große Rüstung für unsern schmalen Leib zu tragen; nur sollen wir sie auch utilisieren. Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Württemberg, Baden mögen dem Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.
Der neue Ministerpräsident appellierte an die nationale Stimmung und verwies auf zukünftige Aufgaben. Er dachte gar nicht daran, sich von Verfassungsfragen aufhalten zu lassen. Geradezu unverfroren begründete er sein Vorgehen, einfach ohne parlamentarische Zustimmung weiter zu regieren mit einer Verfassungslücke. So sähe die preußische Verfassung den Fall, dass sich Regierung und Parlament über den Haushalt nicht einigen könnten, schlichtweg nicht vor. Um aber die Handlungsfähigkeit des Staates in einem solchen Fall zu erhalten, sei es deshalb das gute Recht der Regierung, auch ohne genehmigten Haushalt weiter zu regieren. Innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand, suchte Bismarck, das machte seine Rede deutlich, seinen Erfolg in der Außenpolitik. Am 22. Januar 1863 brach ein polnischer Aufstand gegen Russland aus. In Frankreich, England und auch in Deutschland löste das Aufbegehren gegen die russische Knute allgemein große Sympathie aus. Nicht so bei Bismarck. Einmal mehr betrachtete er die polnische Frage ausschließlich aus dem Blickwinkel preußischer Staatsräson. Da Preußen selbst über polnische Provinzen verfügte, fürchtete er ein Überschwappen der Aufstandsbewegung auf preußisches Territorium. Darüber hinaus sah er ein freies Polen als einen potenziellen Bundesgenossen für jeden Gegner Preußens. Um Preu-
Polenaufstand
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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Scheitern der Bundesreform
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ßen gegen nationalpolnische Bestrebungen abzudichten und gleichzeitig eine vom russischen Außenminister Gortschakow betriebene Annäherung Russlands an Frankreich zu torpedieren, bot er St. Petersburg eine Kooperation bei der Niederschlagung des Aufstandes an. Im Auftrag Bismarcks reiste Gustav von Alvensleben (1803–1881), Generaladjutant König Wilhelms I., Anfang Februar nach St. Petersburg, um dort eine Militärkonvention mit dem russischen Vizekanzler, Alexander Gortschakow, zur Niederwerfung des polnischen Januaraufstandes zu unterzeichnen – die sogenannte „Alvenslebensche Konvention“ vom 8. Februar 1863. Darin gestatteten Preußen und Russland sich gegenseitig, die Grenze des jeweils anderen zur Verfolgung der Aufständischen zu überschreiten. Auch wenn die Konvention auf britischen und französischen Druck hin bald wieder gekündigt wurde, so bewirkte sie eine nachhaltige Festigung der preußisch-russischen Beziehungen, die sich unter anderem in der neutralen Haltung Russlands gegenüber Preußen im Krieg gegen Österreich 1866 sowie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 manifestierte. Während sich Preußen und Russland annäherten, intensivierten sich auch die Kontakte zwischen Wien und Paris. Napoleon III., der sich für die Polen stark machte, versuchte Österreich gegen Preußen in Stellung zu bringen. Gleichzeitig nahm die Wiener Politik einen neuen Anlauf in der Bundespolitik zu Lasten Berlins. Dazu suchte Wien die Nähe zur Nationalbewegung und den Mittelstaaten. Ziel war es, ein Fünferdirektorium als Kollektivorgan mit österreichischem Vorsitz zu schaffen. Um eine Wiederholung von 1859 zu verhindern, sollte der Bundestag zukünftig mit einer Zweidrittelmehrheit den Bundeskrieg ausrufen können. Wenn Gebiete außerhalb des Bundes betroffen waren, sollte sogar eine einfache Mehrheit genügen. Das war klar auf die Bedürfnisse Österreichs und eine Ausschaltung Preußens gerichtet. Bismarck reagierte mit einer unverhohlenen Kriegsdrohung, sollte Österreich nicht die Parität im Bund und die preußische Hegemonie in Norddeutschland anerkennen. Wien jedoch hielt unbeirrt an seinem Reformkurs fest. Am 3. August 1863 tauchte Kaiser Franz Joseph plötzlich bei König Wilhelm I. in Bad Gastein auf und lud ihn zu einem Fürstenkongress am 16. August nach Frankfurt ein. Das Ziel war offensichtlich. Wien versuchte es mit einer Überrumpelungstaktik. Aber Wilhelm sagte die Beratung nach Rücksprache mit Bismarck ab. Damit war der Fürstenkongress von vornherein gescheitert. Der preußische Ministerpräsident stellte drei Bedingungen, von denen er wusste, dass Österreich sie keinesfalls akzeptieren konnte. So forderte er ein Vetorecht für die beiden Vormächte, eine paritätische Führung sowie ein nationales Parlament. Vor allem Letzteres wirkte aus dem Munde des Konfliktministers, der mit seiner Lückentheorie die preußische Verfassung mit Füßen trat, alles andere als glaubhaft. Gleichwohl entsprach diese Forderung der öffentlichen Meinung, die Bismarck längst als wichtigen Faktor, sowohl in der Deutschlandals auch der Europapolitik, erkannt hatte. Eine Lösung der deutschen Frage schien ihm nur durch eine Kooperation der preußischen Machtpolitik mit der Nationalbewegung möglich.
Drei Kriege bis zur Reichsgründung
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3. Drei Kriege bis zur Reichsgründung a) Die schleswig-holsteinische Frage und die Auseinandersetzung mit Dänemark 1863/64 Das Scheitern der Bundesreformpläne und Preußens Absage an den Fürstenkongress markierten die erste Phase der neuen preußischen Außenpolitik unter der Führung Bismarcks. Sie stand vornehmlich unter dem Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber Österreich, obgleich die genauen Ziele sowie Motive und der einzuschlagende Weg noch weitgehend im Unklaren blieben. Während in der Deutschlandpolitik die preußisch-österreichischen Beziehungen in einer Sackgasse endeten, deutete sich auf europäischer Ebene unmittelbar nach den polnischen Ereignissen Ende 1863 wiederum eine bilaterale Kooperation an. Den Anlass dazu bildete die komplexe schleswigholsteinische Frage. Die schleswig-holsteinische Frage beschrieb das komplizierte Beziehungsgeflecht der beiden „unteilbaren“ Elbherzogtümer Schleswig und Holstein mitsamt dem Herzogtum Lauenburg, die seit dem 15. Jahrhundert mit dem dänischen Königshaus in Personalunion verbunden waren. Seit 1815 gehörte lediglich das deutsch besiedelte Holstein, nicht aber Schleswig, in dem eine nicht unbeträchtliche dänische Minderheit lebte, zum Deutschen Bund. Im Zuge der Revolution von 1848/ 49 und deutscher Einigungsbestrebungen war die Frage auf die Ebene der europäischen Großmachtpolitik gerückt. König Friedrich VII. (1808–1863) von Dänemark musste den Verzicht auf die Einverleibung der Herzogtümer in den dänischen Staat erklären und damit von der nationalen Bewegung der „Eiderdänen“ abrücken. Das 2. Londoner Protokoll (1852) schrieb diese Regel fest und bestimmte darüber hinaus, dass das dänische Thronfolgerecht nach dem Aussterben der Linie Oldenburg diesen Bestimmungen Folge zu leisten habe. Danach war ausschließlich die Linie Sonderburg-Glücksburg erbberechtigt, Herzog Christian August von Sonderburg-Augustenburg (1798–1869) hatte für sich und sein Haus auf jegliche Ansprüche verzichtet. Dessen Sohn Friedrich (1829–1880) fühlte sich jedoch nicht an den Verzicht seines Vaters gebunden. Er konnte sich dabei auf die Unterstützung der deutschen Nationalbewegung sowie der deutschen Mittelstaaten berufen, die wie der Deutsche Bund nicht zu den Unterzeichnern des Londoner Protokolls gehörten. Österreich und Preußen waren dagegen als Signatarmächte an dessen Bestimmungen gebunden. In einer Zeit aufkommender nationaler Strömungen, denen Friedrich VII. mit einer Dänisierungspolitik in Schleswig zusätzlich Vorschub leistete, beschrieb die schleswig-holsteinische Frage daher eine höchst komplizierte und konfliktreiche Gemengelage. Diese eskalierte im Frühjahr 1863, als Friedrich VII. auf Druck des Kopenhagener Reichstages die Inkorporation Schleswigs in den dänischen Staatsverband verfügte. Es folgte die Bundesexekution, d.h. der Vollzug der Bundesakte nach Artikel 31 der Wiener Schlussakte gegen „pflichtwidrige“ Bundesglieder, und die Truppen Hannovers und Sachsens besetzten Holstein.
Am 18. November 1863 bestätigte der Nachfolger König Friedrich VII. von Dänemark, König Christian IX. (1818–1906) die bereits von seinem Vater erlassene Gesamtverfassung für den dänischen Staat. Ihr Zweck war es, sich national von Deutschland weiter abzusetzen. Die Verfassung sah die endgültige Trennung der beiden, international als „untrennbar“ („up ewig unge-
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Konflikt mit Dänemark
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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Preußischösterreichische Zusammenarbeit
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deelt“) definierten Elbherzogtümer Schleswig und Holstein vor. Künftig sollte Schleswig Dänemark angehören, während Holstein und Lauenburg mit einem Sonderstatus Teil des Deutschen Bundes bleiben sollten. Dieser einseitige Bruch des Londoner Protokolls durch Kopenhagen löste eine Welle des Protestes, insbesondere bei der deutschen Nationalbewegung, aus. Friedrich von Augustenburg (1800–1865) nutzte die Gelegenheit und erklärte sich, ebenfalls gegen das europäische Vertragsrecht, als Friedrich VIII. zum Herzog von Schleswig, Holstein und Lauenburg. In Gotha bildete er fortan unter dem Jubel der Nationalbewegung eine Exilregierung. Die Mittel- und Kleinstaaten unterstützten dieses Vorgehen. Sie warben für eine völlige Loslösung von Dänemark und einen neuen Mittelstaat im deutschen Norden. Überall setzte nun eine nationale Agitation ein. Nationale Feiern und Kundgebungen fanden statt, Schleswig-Holstein-Vereine wurden gegründet und erstmals seit 1848/49 kamen sowohl großdeutsch als kleindeutsch Gesinnte wieder zusammen und forderten gemeinsam die nationale Erhebung. Im Taumel der situativen Begeisterung schienen sie die Rechtslage beiseite wischen und das Staatensystem vor vollendete Tatsachen stellen zu wollen. Die Reaktion der Mächte ließ nicht lange auf sich warten. Zuerst forderte die Londoner Regierung eine Intervention der Protokollmächte. Napoleon III. plädierte für einen europäischen Kongress, während sich Russland, auch in Erinnerung an die preußische Unterstützung im Jahr zuvor, zunächst zurückhielt. Alles schien auf die beiden deutschen Vormächte Preußen und Österreich anzukommen. Als Garantiemacht des Londoner Protokolls war für Berlin die Sachlage klar. Statt sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, nahm die preußische Führung eine streng legitimistische Haltung ein. Sie trat strikt für die Einhaltung des europäischen Vertragsrechts sowie für eine Anerkennung Christians IX. ein, forderte aber im Gegenzug, dass dieser ebenfalls die 1852 unterzeichneten Verpflichtungen einhalte. Preußen, so Bismarck, müsse „zuerst Großmacht, dann Bundesstaat“ sein. Aus dieser Perspektive komme es allein auf die preußische Stellung und Macht in der Pentarchie und nicht auf nationale Wunschträume an. Für den preußischen Ministerpräsidenten war es deshalb auch völlig inakzeptabel, dass der Deutsche Bund als eigenständiger Akteur in der europäischen Großmächtepolitik auftrete. Jeder Versuch, die Frage im deutschen Sinne zu lösen, müsse geradezu demonstrativ vom Ius Europaeum ausgehen. Andernfalls würde man nur Gefahr laufen, wie 1848/49 eine Intervention Englands oder Russlands zu provozieren, womöglich sogar die gerade durch die polnischen Ereignisse entzweiten Mächte Frankreich und Russland wieder zueinanderführen. Gleichzeitig konnte es auch nicht im Berliner Interesse sein, einen neuen Mittelstaat an der Elbe zu schaffen. Somit blieb im Grunde nur die Annexion der Elbherzogtümer für Preußen, was kaum ohne eine kriegerische Auseinandersetzung zu bewerkstelligen war. Es kam also darauf an, für einen solchen Waffengang die Voraussetzungen zu schaffen. Die zur Schau gestellte Vertragstreue diente also zunächst dazu, die Mächte zu beruhigen und Kopenhagen unter Zugzwang setzen. Wenn es gelänge, dass Dänemark, welches selbst von einer nationalen Begeisterungswelle und der Wahrung seiner Souveränität angetrieben werde, sich weigere zum Vertragsrecht zurückzukehren, könnte vielleicht eine Status quo-Änderung ohne europäische Einmischung
Drei Kriege bis zur Reichsgründung erreicht werden. Für dieses Ziel suchte Bismarck Österreich zu gewinnen. Obwohl, oder gerade weil er die Wiener Bundesreformpläne mehrfach zunichte gemacht hatte, wollte der Ballhausplatz unter Außenminister Bernhard Graf von Rechberg wieder ein Einvernehmen mit Preußen erzielen und zur Doppelhegemonie in der Bundespolitik zurückkehren. Ohne die Sachlage fernab der eigenen Interessen und Grenzen selbst jedoch zu durchschauen, entfernte sich die Wiener Führung damit von ihrer traditionellen Klientel der deutschen Mittelstaaten und geriet in der Schleswig-Holstein-Frage in Preußens Schlepptau. Gemeinsam drohten die beiden deutschen Großmächte mit der Auflösung des Bundes und votierten gegen die Bundestagsmehrheit der Mittelstaaten, die den Bundeskrieg gegen Dänemark ausrufen wollten. „Österreich“, so triumphierte Bismarck, habe sein Programm adoptiert. „Noch nie“ sei die Wiener Politik „in diesem Maße en gros und en détail von Berlin aus geleitet“ worden. War die Loslösung vom Bundesrecht für Preußen sinnvoll, ja geradezu ein Befreiungsschlag angesichts des andauernden Verfassungskonflikts, so sollte sie sich für das Habsburgerreich aber als fatal erweisen. Im Dezember 1863 hatten hannoversche und sächsische Truppen noch im Rahmen einer Bundesexekution die Herzogtümer Holstein und Lauenburg besetzt. Planten die deutschen Mittelstaaten eine endgültige Einverleibung Schleswigs, setzten Berlin und Wien im Januar 1864 einen gemeinsamen Aktionsplan eigenmächtig in die Tat um, und nahmen Schleswig als Pfand, sollte Kopenhagen nicht binnen 48 Stunden die neue Verfassung wieder aufheben. Nachdem die dänische Regierung in Erwartung englischer Unterstützung das Ultimatum hatte verstreichen lassen, überschritten preußische und österreichische Truppen unter dem Oberbefehl des betagten preußischen Generalfeldmarschalls Friedrich Graf von Wrangel (1784–1877) am 1. Februar 1864 die Eider. Nach einigen kleineren Rückschlägen und überraschend heftiger dänischer Gegenwehr etwa beim Übergang über die Schlei, gelang es dem ersten preußischen Armeekorps, die Dänen in der Festung von Düppel einzuschließen (12.2.1864). Viel größere Sorge aber als der dänische Widerstand bereitete unterdessen eine mögliche Intervention der Großmächte. Um diese zu verhindern oder wenigstens rechtzeitig Tatsachen zu schaffen, drängten vor allem Kriegsminister Albrecht von Roon und Otto von Bismarck zur Eile. Gegen die örtlichen Kommandeure setzten sie die berühmte Erstürmung der Düppeler Schanzen durch (18.4.1864), nicht zuletzt auch, weil beide vor dem Hintergrund des Heeres- und Verfassungskonfliktes einen möglichst prestigeträchtigen Erfolg wünschten. Dass diese Eroberung 6000 Tote, Verwundete und Gefangene auf deutscher Seite kostete, ging in der allgemeinen Euphorie des Sieges unter. Noch bevor sich am 25. April die Mächte in London zu einer vermittelnden Konferenz zusammenfanden, war Dänemark entscheidend geschlagen. Zwei Monate lang wurde an der Themse versucht, den gordischen Knoten der komplizierten Gemengelage zu zerschlagen. Den Großmächten ging es dabei vornehmlich um die Gewichtsverteilung im Staatensystem und die fortbestehende Sicherung der Durchfahrt zwischen Nord- und Ostsee. Frankreich trat zudem für das als revolutionär eingestufte Recht auf Selbstbestimmung ein, erwartete dafür aber gehörige Kompensationsleistungen. Das Zarenreich
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Krieg gegen Dänemark
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suchte die konservative Solidarität gerade im Hinblick auf Bismarck und Preußen und gegen den Revisionisten Napoleon III. zu wahren. England dagegen war zwiegespalten. Zwar war Premier Lord Palmerston (1784–1865) grundsätzlich prodänisch eingestellt und wollte einen weiteren Machtzuwachs Berlins verhindern, musste aber eingestehen, dass er dazu der Hilfe Frankreichs bedurfte. Dieses wollte er aber wiederum nicht weiter gestärkt sehen. Hinzu kam, dass sowohl Königin Victoria (1819–1901) als auch die Mehrheit seines Kabinetts gegen jegliche Intervention stimmten. Die unterschiedlichen Interessenlagen blockierten sich also gegenseitig. Dänemark weigerte sich in illusionärer Hoffnung auf eine Intervention Englands strikt, seine Gesamtverfassung wieder aufzugeben. Ein Teilungsplan scheiterte ebenso wie der französische Vorschlag einer Volksabstimmung. Dieser fand zwar Bismarcks Unterstützung. Aber nur, weil er mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass ihn die konservativen Mächte Russland und Österreich als revolutionär wieder einkassieren würden. St. Petersburg verzichtete letztlich auf eine strikte Einhaltung des Status quo, weil es sich ähnlich wie London größere Sorgen um einen Machtgewinn Frankreichs als um Preußen machte. Da mit dem Sturm auf die Düppeler Schanzen, der Besetzung Jütlands (30.4.1864) und dem Sieg des österreichischen Kommodore Wilhelm von Tegethoff (1827–1871) im Seegefecht bei Helgoland (9.5.1864) zur Aufbrechung der dänischen Blockade an der Deutschen Bucht vollendete militärische Tatsachen geschaffen worden waren, ließen die Konferenzteilnehmer die Integrität des dänischen Gesamtstaates bald als Verhandlungsziel fallen. Am 25. Juni waren alle diplomatischen Lösungsversuche daher endgültig gescheitert und die Londoner Protokolle damit überholt. Zwei Tage später nahm Preußen die Kampfhandlungen wieder auf. Jetzt mit dem unverhohlenen Ziel, die Elbherzogtümer zu annektieren. Nach weiteren Niederlagen musste Kopenhagen am 1. August einem Vorfrieden zustimmen, der am 30. Oktober schließlich im Wiener Frieden bestätigt wurde. Der dänische König trat daraufhin alle seine Rechte auf die Elbherzogtümer an den Kaiser von Österreich und den König von Preußen ab. Die Kabinettspolitik hatte durch einen typischen Kabinettskrieg erreicht, worum die deutsche Nationalbewegung bis dahin vergeblich gerungen hatte. Die SchleswigHolstein-Frage war von einem europäischen zu einem deutschen Problem geworden. b) Die Entfesselung des „Bruderkrieges“ um die deutsche Vorherrschaft (1864–1866) Zuspitzung des Dualismus
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Das Kondominium Österreichs und Preußens im deutschen Norden barg genügend Konfliktstoff, an dem sich schon bald der nächste Krieg entzünden sollte. Aber das war weder eine von langer Hand geplante noch eine unvermeidbare Entwicklung. Zunächst schien sogar einiges auf eine neue Ära der preußisch-österreichischen Doppelhegemonie über Deutschland hinzudeuten. Bereits kurz nach dem Präliminarfrieden setzten die ersten Beratungen in Schönbrunn ein (22.–24.8.1864), mit dem Ziel eines großen Kompensationsgeschäfts. Rechberg und Bismarck kamen überein, dass Preußen die drei Elbherzogtümer komplett annektieren und im Gegenzug Österreich dafür in einem gemeinsamen Krieg gegen Frankreich zur Wie-
Drei Kriege bis zur Reichsgründung
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dererlangung seiner 1859 verlorenen Stellung in Italien unterstützen solle. Der Konventionsentwurf scheiterte letztlich aber am Widerspruch Wilhelms I., der einen solchen Kuhhandel ablehnte. Da auch der österreichische Beitritt zum Zollverein am preußischen Widerstand im Sommer 1864 gescheitert, musste Rechberg im Oktober 1864 zurücktreten. Unter seinem Nachfolger, Alexander Graf von Mensdorff-Pouilly (1813–1871), wurden die Töne aus Wien rauer. Statt Kooperation und duale Hegemonie suchte man von nun an wieder die Nähe der deutschen Mittelstaaten, um Preußen die Stirn zu bieten. Dazu favorisierte die Habsburgermonarchie nun erneut die Augustenburger Lösung für die Elbherzogtümer. Damit nicht genug, suchte der Ballhausplatz auch die Allianz mit Paris. Und der Generalstab begann auf Veranlassung Franz Josephs I. sogar damit, erste Pläne für einen Aufmarsch gegen Preußen auszuarbeiten. Unterdessen gab man sich auch in Preußen keinerlei Illusionen mehr hin. Auf dem Kronrat im Mai 1865 hielt Bismarck eine militärische Konfrontation mit Wien inzwischen für zunehmend wahrscheinlich (29.5.1865). Noch scheute er aber den offenen Bruch. Zwar votierten Kriegsminister Roon, Generalstabchef Moltke und der Chef des Militärkabinetts und Generaladjutant Wilhelms I., Edwin von Manteuffel (1809–1885), für eine vollständige preußische Annexion der Herzogtümer. Aber sowohl der König als auch der Kronprinz zögerten. Letzterer sprach sich sogar dezidiert gegen einen „Bürgerkrieg“ aus, denn, so viel wusste auch Bismarck, ein deutscher Krieg um Schleswig-Holstein hätte zu diesem Zeitpunkt Preußen in der deutschen Öffentlichkeit völlig diskreditiert. Überdies war die Haltung der europäischen Großmächte, allen voran Italiens und Frankreichs nicht geklärt, und das preußische Heer hatte seine flächendeckende Modernisierung noch nicht abgeschlossen. Bismarck setzte deshalb auf Zeit. In der beruhigenden Atmosphäre des Kurorts Bad Gastein erreichten schließlich beide Seiten noch einmal einen Ausgleich (14.8.1865). Die erzielte Konvention bestimmte, das Holstein künftig der Wiener und Schleswig der Berliner Verwaltung unterstellt werden sollte. Das Herzogtum Lauenburg kaufte Preußen den Österreichern für zweieinhalb Millionen Taler ab. Allein die Einseitigkeit der Vereinbarung – Preußen behielt sich in Holstein zahlreiche Sonderrechte für Militär- und Marinestützpunkte sowie den Bau des Nord-Ostsee-Kanals vor – deutete jedoch an, dass es sich auch hier nur um ein Provisorium handelte. König Wilhelm glaubte zwar, den „Bruderkrieg“ nun verhindert zu haben, aber Bismarck setzte weiterhin auf eine vollständige Annexion für Preußen. Auch am Ballhausplatz machte sich bald die Einsicht breit, dass die Übereinkunft die eigene Deutschlandpolitik konterkariere. Gerade im Dritten Deutschland, also diejenigen mittleren und kleineren deutschen Staaten, die neben Preußen und Österreich bis zur Gründung des deutschen Kaiserreichs mehrfach versuchten, eine gemeinsame Politik zu betreiben, entfesselte das Abkommen nämlich einen Sturm der Entrüstung. Die Mittelstaaten fühlten sich in der Augustenburger Frage abermals von Wien im Stich gelassen. Vor diesem Hintergrund vollzog die Donaumonarchie erneut einen Kurswechsel. Über ihren Statthalter in Holstein, General Ludwig von Gablenz (1814–1874) förderte sie den gesamten Herbst über die antipreußische Agitation der Augustenburger Bewegung. Berlin erkannte darin einen klaren Verstoß gegen die Gasteiner Vereinba-
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Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik
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Internationale Absicherung
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rung und reagierte schließlich mit einer offenen Kriegsandrohung. Sollte Österreich nicht seine vertragswidrigen Umtriebe beenden, so ließ man den Ballhausplatz wissen, zöge der preußische König dieser Art von Kampf einen offenen Bruch vor (26.1.1866). Tatsächlich hatte Bismarck selbst seit Bad Gastein fleißig daran gearbeitet, einer Konfrontation international den Weg zu ebnen. Ein erster wichtiger Schritt war es, im Oktober 1865 Napoleon III. in Biarritz zu treffen. Auch wenn es in dem Atlantikbad zu keiner formalen Verständigung kam, so konnte der preußische Ministerpräsident zumindest „in äußerst fideler Stimmung“ nach Hause fahren. Napoleon hatte erkennen lassen, dass er sich vor allem für Venetien interessiere und er im Falle einer Status-quo-Änderung im Norden oder Süden Europas lediglich eine Kompensation verlange. Paris war also käuflich und Bismarck förderte den französischen Machthunger, indem er als möglichen Preis wiederholt Luxemburg und Belgien ins Spiel brachte. Im Februar 1866 schließlich führten die anhaltenden Reibereien zwischen Wien und Berlin zu der beiderseitigen Gewissheit, dass das Einvernehmen endgültig zu Ende sei. Der Wiener Ministerrat beschloss, einen Krieg zumindest „auf dem Papier“ vorzubereiten (21.2.1864). Frankreich sowie das Dritte Deutschland sollten dafür gewonnen werden. Berlin zog eine Woche später nach. Nachdem Italien, angetrieben von Napoleon, am 24. Februar eine Anfrage startete, ob man in naher Zukunft ein Kriegsbündnis gegen Wien erwarten könne, trat am 28. Februar 1866 der preußische Kronrat zusammen und stimmte mehrheitlich für die Herbeiführung eines Krieges. Nur der Kronprinz blieb skeptisch und äußerte seine Bedenken angesichts eines „Bruderkrieges“. Aus dem amtlichen Protokoll der Kronratssitzung am 28.2.1866 Aus: Otto von Bismarck, Werke in Auswahl, Bd. 3, Nr. 467, S. 650f. Der Ministerpräsident nahm zuerst das Wort […]: Preußen sei die einzige lebensfähige politische Schöpfung, die aus den Ruinen des alten deutschen Reiches hervorgegangen sei und hierauf beruhe sein Beruf, an die Spitze von Deutschland zu treten. […] Es wäre eine Demütigung, wenn Preußen sich jetzt zurückziehen wollte. Eine solche Demütigung muß um jeden Preis vermieden werden. Dann aber sei der Bruch mit Österreich wahrscheinlich. Es gelte also jetzt, die Frage zu beraten und sich darüber zu entschließen, ob Preußen vor diesem Hindernis – Bruch und eventuell Krieg mit Österreich – zurückschrecken solle? Werde die Frage verneint, so komme es darauf an, unverzüglich die nötigen Einleitungen zur Gewinnung auswärtiger Bundesgenossen zu treffen. In dieser Voraussicht seien schon vor der Gasteiner Konvention intimere Beziehungen zu Italien geknüpft worden. Man müsse darauf gefasst sein, daß Österreich – welches vor keinem Bündnis gegen Preußen zurückschreckte und namentlich dasjenige mit Frankreich seit 1851 wiederholt ohne Erfolg gesucht habe – sich gleichfalls auswärtige Allianzen zu verschaffen suchen […] werde. Jetzt habe noch Preußen den Moment zu wählen. Der gegenwärtige Moment sei für Preußen günstig wegen der Stellung von Italien […], wegen des bestehenden freundlichen Verhältnisses zum Kaiser Napoleon, wegen der jetzt noch vorhandenen Überlegenheit unserer Bewaffnung […]. Die ganze historische Entwicklung der deutschen Verhältnisse, die feindselige Haltung Österreichs treibe uns dem Krieg entgegen. Es würde ein Fehler sein, ihm jetzt aus dem Wege zu gehen.
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Drei Kriege bis zur Reichsgründung Die Würfel waren damit so gut wie gefallen. Als größtes Hindernis erwies sich in den Folgewochen ausgerechnet Wilhelm I. Noch Anfang April zauderte er und hielt nichts von einem „unpopulären“ Waffengang. Was nun folgte, ging als „Nervenkrieg“ zwischen der Friedens- und der Kriegspartei in Preußen in die Geschichte ein. Bismarck, unterstützt von Roon und Moltke, setzte sich in wiederholt lautstarken Auseinandersetzungen mit seinem Monarchen am Ende durch. Am 8. April schlossen Preußen und Italien ein geheimes auf drei Monate angelegtes Defensiv- und Offensivbündnis. Die Initiative zum Krieg oblag darin der Berliner Regierung. Wenn sie innerhalb der nächsten drei Monate mit Österreich in Konflikt gerate, war Italien zum Kriegseintritt verpflichtet. Als Preis für die Waffenhilfe sollte Italien Venetien erhalten, während sich Preußen mit Holstein begnügen wolle. Aus militärischer Sicht lag die preußische Motivation für das Bündnis auf der Hand: Italien sollte Österreich in einen Zweifrontenkrieg verwickeln. Auf der Ebene der Diplomatie ging es Bismarck darum, über Italien England, aber vor allem Frankreich zu erreichen. Wenn sich Preußen mit Italien verbündete und somit für die Befreiung Venetiens eintrat, dann, so das Kalkül, sei auch das Wohlwollen der beiden Westmächte wesentlich wahrscheinlicher, als wenn man nur für den eigenen Machtgewinn zu Felde zöge. Schon einen Tag später, am 9. April, ging Bismarck auf antiösterreichischen Konfrontationskurs im Bundestag. Was international vorbereitet wurde, musste auf dem Feld der Deutschlandpolitik zur Eskalation getrieben werden. In Frankfurt beantragte Preußen die Einberufung eines aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Parlamentes zur Reform des Deutschen Bundes – in österreichischen Augen eine revolutionäre Forderung und glatte Provokation. Für Bismarck war es aber mehr als das. Seiner Ansicht nach war ein Krieg längst nicht mehr willkürlich, ohne Unterstützung der öffentlichen Meinung zu beginnen, geschweige denn erfolgreich zu beenden. Das preußische Machtinteresse sollte deshalb mit dem nationalen verschmelzen. Die „Allianz mit dem Volk“ sollte helfen, die österreichische Hegemonie ein für alle Mal zu brechen. Darüber hinaus sollte den Mächten auf subtile Art und Weise signalisiert werden, dass eine Intervention möglicherweise einen unberechenbaren Volkskrieg zur Folge habe würde. Was die Nationalbewegung anbetraf, so scheiterte Bismarck auf ganzer Linie. Sowohl klein- als auch großdeutsch gesinnte Kräfte lehnten jeden „Bruderkrieg“ zwischen deutschen Mächten rundheraus ab und brandmarkten Bismarck als unbelehrbaren Konfliktminister. Entscheidend aber war die internationale Großwetterlage. Während England weiterhin seine Politik der Nichtintervention pflegte, tendierte Russland seit dem Krimkrieg und erst recht seit der Konvention Alvensleben in Richtung Preußen. Napoleon kam es einzig auf französischen Machtzuwachs und die Abrundung der italienischen Einigung durch Venetien an. Ein Krieg der deutschen Vormächte schien nur von Vorteil für etwaige Kompensations- oder Vermittlungsmöglichkeiten, die Frankreich in seinem Selbstverständnis als europäischer Hegemon bestätigen halfen. Unterdessen geriet die österreichische Regierung immer mehr unter Zugzwang. Die preußisch-italienische Allianz, die damit sichere Mehrfronten-
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Rom als Sekundant
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bedrohung war längst ein offenes Geheimnis. Die fortschreitende preußische Mobilisierung, die eigene desolate Finanzsituation, die nur einen kurzen Waffengang gestattete, das alles trug zur Nervosität in der Donaumetropole bei. Andererseits, und das wird nicht selten vergessen, hatte sich die österreichische Politik nach Rechbergs Ausscheiden auch selbst zunehmend auf einem Konfrontationskurs befunden. Auf dem Papier schien die österreichische Armee mit beinahe 850000 Mann der preußischen mit 355000 zumindest quantitativ noch immer turmhoch überlegen. Hinzu kamen noch die Kriegserfahrungen von 1859 und die verbündeten Armeen aus Bayern, Württemberg und Sachsen. In finanzieller Hinsicht schien überdies die Zeit gegen Österreich zu laufen. Alle Daten, ob in der Landwirtschaft, dem Staatshaushalt oder der kaum vorhandenen Industrie wiesen schon seit Jahren kontinuierlich nach unten. In wenigen Jahren würden die Erfolgchancen einer Konfrontation völlig illusorisch sein. Im Sommer 1866 schien Österreich deshalb, wie der Zar treffend formulierte, „zum Krieg resigniert“. Nach dem verlorenen Krieg von 1859 standen das Prestige und die Rolle Österreichs als europäische und deutsche Großmacht mehr denn je in Frage. Seit Jahren drängte Preußen nun schon auf Parität, wenn nicht sogar nach der Vormacht im Bund. Jedes Zugeständnis, so war der Wiener Führung klar, würde die österreichische Position weiter schwächen. Preußen eine gleichberechtigte Stellung zu gestatten, bedeutete de facto, sich über kurz oder lang mit der eigenen Juniorpartnerrolle zufrieden zu geben. Nachdem die letzten Vermittlungsversuche im Mai gescheitert waren, forderte Österreich den Bundestag auf, sich Schleswig-Holsteins anzunehmen (1.6.1866). Das lieferte Bismarck den geeigneten Vorwand, den Bruch der Gasteiner Vereinbarungen zu verkünden und Truppen nach Holstein einmarschieren zu lassen (7.6.1866). Die Kriegsspirale nahm ihren Lauf: Drei Tage später beantragte Preußen eine kleindeutsche Bundesreform unter Ausschluss Österreichs, was dieses wiederum mit der Forderung einer Mobilisierung aller nichtpreußischen Teile des Bundesheeres zur Bundesexekution gegen Preußen beantwortete (14.6.1866). Berlin erklärte daraufhin den Deutschen Bund für erloschen und stellte Sachsen, Hannover und Kurhessen ein Ultimatum. Am 15. Juni marschierte es in diese Staaten ein. Am 16. stimmte die Mehrheit des Bundestages für eine Bundesexekution gegen Preußen. Zwölf Staaten hatten sich in Frankfurt auf die Seite Österreichs gestellt. Nur die kleinen Staaten Nord- und Mitteldeutschlands stimmten dagegen. Der alte preußisch-österreichische Dualismus wurde nun auf dem Schlachtfeld entschieden. Die Bundesexekution ersetzte die förmliche Kriegserklärung. Unmittelbar zuvor hatte sich Österreich noch in einem Geheimabkommen (12./15.6.1866) die Neutralität Frankreichs gesichert, sich dafür aber in eine paradoxe Lage gebracht. Indem es im Erfolgsfall Venetien an Paris abtrat, hatte Wien nun an seiner südlichen Flanke für ein Gebiet zu kämpfen, welches es schon gar nicht mehr besaß. Umgekehrt versprach Napoleon, dass sich Österreich im Falle eines Sieges an preußischem Territorium schadlos halten dürfe, womit vornehmlich Schlesien gemeint war. Trotz aller Probleme glaubte Wien an eine reelle Siegchance und stand mit dieser Meinung keineswegs allein. Nicht nur Napoleon, sondern auch das übrige Europa und sogar die Berliner Börse gingen von einer preußischen
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Niederlage aus. In jedem Fall aber erwartete man einen langen, zermürbenden und blutigen Krieg. Auch Bismarck schien sich seiner Sache keineswegs so sicher, wie es nachträgliche Äußerungen kolportierten. Nicht umsonst hatte er lange gezögert und sorgsam versucht, alle Eventualitäten zu berücksichtigen. So hatte er für alle Fälle sogar Kontakte zu ungarischen und italienischen Freiheitskämpfern geknüpft, die im Notfall eine innere Front gegen Österreich aufbauen sollten. Was sich dann aber auf den Schlachtfeldern Böhmens ereignete, sollte alle, auch die damaligen militärischen Beobachter überraschen. Knapp vier Wochen, nachdem die preußischen Truppen sowohl die kurhessische als auch die hannoversche Armee besiegt hatten (29.6.1866), wurde auch Österreich am 3. Juli 1866 entscheidend geschlagen. Maßgeblich verantwortlich für den preußischen Sieg bei Königgrätz (Sadowa) war nicht nur die Modernität des preußischen Staatswesens und die anachronistische Struktur des Habsburgerreiches inklusive seiner ineffizienten militärischen Struktur, sondern vor allem auch ein individuelles Moment: die überlegene militärische Führungskunst Helmuth von Moltkes. Er setzte auf den systematischen Einsatz von Eisenbahnen für den Truppenaufmarsch und den Telegrafen für die Kommunikation seiner Armeen. Das Zündnadelgewehr, welches den österreichischen Vorderladern in allen Bereichen überlegen war, tat sein Übriges. Helmuth von Moltke (d.Ä.) (1800–1891) diente zunächst in einem dänischen Infanterieregiment, bat aber bald darum, „zum Nutzen Dänemarks“ in die preußische Armee eintreten zu dürfen. Nach der Kriegsakademie und der besonderen Förderung durch Carl von Clausewitz (1780–1831), wurde er Militärberater im Osmanischen Reich (1836–1839) und nahm an einigen Feldzügen des Sultans teil. Als Adjutant des späteren Kaisers Friedrich III. wurde er 1857 mit der zunächst provisorischen, später dann der ordentlichen Leitung des Generalstabes betraut. In dieser Funktion wurde er 1862 damit beauftragt, einen Feldzug gegen Dänemark auszuarbeiten. Kurz vor Beginn des Krieges gegen Österreich ernannte ihn Wilhelm I. zum Oberbefehlshaber über die gesamten preußischen Streitkräfte und als General der Infanterie zum Chef des Generalstabes. Als genialer Stratege, der frühzeitig auf die Eisenbahn als Transportmittel großer Heere setzte, war er maßgeblich an den Erfolgen nicht nur gegen Dänemark, sondern auch gegen Österreich und Frankreich beteiligt. In der Schlacht von Königgrätz, die er persönlich leitete, wurde er zum Helden und galt fortan neben Bismarck als „Reichseiniger“. Nach dem Sieg über Frankreich bei Sedan erhob ihn Wilhelm I. noch vor Kriegsende, am 28. Oktober 1870, in den erblichen Grafenstand und am 16. Juni 1871 erhielt er die Ernennung zum Generalfeldmarschall.
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Die Schlacht bei Königgrätz (Sadowa) (3.7.1866) gehört zu den größten Schlachten der Geschichte. Gemäß der Devise „getrennt marschieren, vereint schlagen“ ließ Moltke drei Armeen konzentrisch nach Böhmen einrücken, um sie erst auf dem Schlachtfeld zu vereinen und so die innere Linie der Österreicher auszumanövrieren. Insgesamt standen 215000 Österreichern 220000 Preußen gegenüber. Trotz des Zündnadelgewehrs konnte die Preußische 1. Armee zunächst keine entscheidenden Erfolge gegen die starke österreichische Defensive erzielen. Als schlachtentscheidend erwies sich schließlich das noch rechtzeitige Eintreffen der 2. Preußischen Armee unter Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich III. Nun konnten die preußischen Armeen, wie von Moltke geplant, die österreichische Armee über die Flügel umfassen. Der österreichische Oberbefehlshaber, Ludwig Ritter von Benedek (1804–1881) entschloss sich daher unter dem Schutz
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der eigenen Artillerie zum Rückzug. Die Umfassung konnte so zwar verhindert werden, aber der Blutzoll war entsetzlich: 25000 Österreicher verloren gegenüber 9000 Preußen ihr Leben. In beeindruckender Weise bildlich zum Ausdruck gebracht wird die Katastrophe der österreichischen Armee in Vaclav Sochors (1855–1935) Gemälde „Die Batterie der Toten“. Es zeigt das blutige Ende einer Kavallerieeinheit des k.u.k. Feldartillerieregiments Nr. 8, welches den Rückzug der geschlagenen Armee über die Elbe deckte und sich dafür komplett aufopferte. Maßhalten im Sieg
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Noch auf dem Schlachtfeld kam es wieder auf die Staatskunst an. Vom Sieg berauscht, wollte der zuvor so zögerliche König Wilhelm bis nach Wien vorrücken, triumphal in die Donaumetropole einmarschieren und Österreich demütigen. Bismarck hielt dies für einen großen Fehler, der alles zunichtemachen konnte und musste alle Register ziehen, um seinen König von der Machtdemonstration abzuhalten. Mäßigung und die Gewissheit, dass Preußen nicht „allein in Europa lebe, sondern mit noch drei Mächten, die uns hassen und neiden“ lautete die Devise, um das Erreichte dauerhaft zu sichern und eine Intervention der Mächte zu verhindern. Diese drohte in erster Linie von Frankreich, denn der schnelle Sieg hatte Napoleons Pläne völlig über den Haufen geworfen. Zwar hatte sich der französische Kaiser im letzten Moment auf die Seite Wiens gestellt. Gleichwohl verlangte er nun von Preußen eine Kompensation. Mehrfach ließ er seinen Botschafter Vincent Benedetti (1817–1900) sowie Außenminister Édouard Drouyn de Lhuys (1805–1881) vorpreschen und mit drohendem Vokabular nicht nur Venetien, sondern auch die Grenzen von 1814, Luxemburg, die bayerische Pfalz und Rheinhessen einschließlich der Festung Mainz und Belgien fordern. Bismarck parierte die französischen Zumutungen auf unterschiedliche Weise. Zum einen beeilte er sich, mit dem Vorfrieden von Nikolsburg Fakten zu schaffen (26.7.1866). Zum anderen hatte er sich nach quälenden Auseinandersetzungen dank der Unterstützung Moltkes und des Kronprinzen gegenüber Wilhelm I. und Roon durchgesetzt und Österreich einen sehr maßvollen Frieden beschert. Dessen territoriale Integrität wurde gewahrt, mit Ausnahme von Venetien. Die dem Land auferlegten Kriegskosten blieben mit 20 Millionen Talern äußerst moderat, der Deutsche Bund wurde aufgelöst, an seine Stelle sollte wenig später der Norddeutsche Bund unter preußischer Führung treten (16.7.1867). Solange der Vorfrieden nicht unterzeichnet war, hatte Bismarck darüber hinaus den französischen Botschafter wiederholt vertröstet, hingehalten und den Eindruck vermittelt, er würde auf die Pariser Forderungen eingehen. Als Benedetti schließlich am 5. August einen Vertragsentwurf vorlegte, fuhr Bismarck alle ihm zur Verfügung stehenden Geschütze auf: einen neuen Vertrag mit Italien, einen vorzeitigen Friedensschluss mit Österreich und die Entfesselung eines deutschen Nationalkrieges gegen Frankreich. Schließlich sorgte er für die Veröffentlichung des französischen Vertragsentwurfs in einer Pariser Zeitung. Die französische Regierung war damit vor der europäischen Öffentlichkeit als gierig und anmaßend diskreditiert und ihr blieb nichts anderes übrig, als zurückzurudern. Peinlich berührt, entließ Napoleon seinen Außenminister und erklärte seine Forderungen zu einem Missverständnis. Gegenüber russischen Einmischungsversuchen reagierte Bismarck ebenfalls mit Zuckerbrot und Peitsche. Als St. Petersburg einen Tag nach Nikols-
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Bismarck im Norddeutschen Reichstag, 11.3.1867 (Auszug) Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 10, S. 327f.
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Preußen ist Vormacht
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Was ferner die Machtfrage betrifft, so halte ich die Vereinigung von Nord- und Süddeutschland jedem Angriff gegenüber […] für definitiv gesichert. Im Süden kann kein Zweifel darüber sein, daß, wenn er in seiner Integrität gefährdet werden sollte, Norddeutschland ihm unbedingt brüderlich beisteht, im Norden ist kein Zweifel darüber, daß wir des Beistandes Süddeutschlands gegen jeden Angriff, der uns treffen könnte, vollständig sicher sind […] meine Herren, arbeiten wir rasch! Setzen wir Deutschland, sozusagen, in den Sattel! Reiten wird es schon können.
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Judemitätsgesetz
Während der Norden und Süden Deutschlands über die Sicherheitspolitik und den neu geordneten Zollverein (6.7.1867) mit einem Zollparlament und einem Zollbundesrat bereits bundesstaatlich auf wirtschaftlicher und finanzpolitischer Ebene immer enger zusammenwuchsen, verschob sich der Horizont des Habsburger Reiches nun geradezu zwangsläufig aus Deutschland heraus in Richtung Südosteuropa. Sichtbarster Ausdruck dessen war der 1867 erfolgende „Ausgleich“ mit Ungarn. An die Stelle des bisherigen Einheitsstaates trat die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn als Personalund Realunion des österreichischen Kaiserreiches (Zisleithanien) und des ungarischen Königreiches (Transleithanien). Beide Reichshälften waren fortan gleichberechtigt und in allen inneren Angelegenheiten selbständig mit eigenen Verfassungen, Parlamenten und Regierungen. Verbunden sind sie durch die Person des Herrschers sowie die gemeinsamen Angelegenheiten, wie die auswärtige Politik, das Heerwesen und die Finanzen. Mittelfristig geriet die neue kaiserliche und königliche Monarchie Österreich-Ungarn so verstärkt in Frontstellung zu Russland auf dem Balkan. Das Zarenreich, auch dies eine indirekte Folge des Krieges, eröffnete mit der von Bismarck unterstützten Aufkündigung der Pontusklauseln von 1856 eine neue Phase in der orientalischen Frage. Mit dem Sieg über Dänemark und vor allem gegen Österreich hatte sich auch Bismarcks eigene Stellung im Reich gefestigt. Mit einem Mal waren alle Kritiker verstummt und auch der Verfassungskonflikt, der seit 1862 die preußische Innenpolitik belastet und das Verhältnis zwischen Krone, Regierung und Parlament getrübt hatte, wurde beigelegt. Einen Monat nach Königgrätz waren alle innenpolitischen Streitigkeiten nur noch Randthemen und König Wilhelm I. rief in seiner Thronrede zur Eröffnung des Landtages (5. August 1866) zur Versöhnung auf. Das Parlament sollte der Regierung die Indemnität, also die Straflosigkeit, zugestehen und die Budgets für die Jahre 1862 bis 1865 nachträglich billigen. Der Monarch gestand dem Parlament das Haushaltsrecht zu und tatsächlich huldigten die vorher so kritischen Abgeordneten nun dem Erfolg Bismarcks und stimmten dem Indemnitätsgesetz am 3. September 1866 mit 230 zu 75 Stimmen zu. c) „À Berlin“ – Von der Luxemburgkrise zur spanischen Thronfolge und dem Duell mit Frankreich (1866–1870/71)
Luxemburg-Frage
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Nirgendwo sonst – von Österreich einmal abgesehen – wurde Königgrätz so sehr als Demütigung empfunden wie in Frankreich. Am Hofe Napoleons III., am Quai d’Orsay und auf den Straßen von Paris war man, wenn schon nicht von einem österreichischen Sieg, so doch zumindest von einem zähen Ringen der beiden deutschen Mächte ausgegangen. Geradezu selbstverständlich schien, dass man als kontinentaler Hegemon schließlich zwischen den Parteien vermitteln und sich diese Leistung gründlich mit territorialem Zugewinn vergüten lassen würde. Kaum sah sich Paris durch die überraschend schnelle Niederlage Österreichs eines besseren belehrt, erwartete es nun, für den preußischen Machtzuwachs entschädigt zu werden. Tatsächlich hatte Bismarck diese Erwartungshaltung bereits vor dem Krieg mit der Aussicht auf Luxemburg und Belgien genährt, um einen französischen Kriegseintritt zu vermeiden. Nachdem sich die Pariser Regierung je-
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doch im letzten Moment für ein Neutralitätsabkommen mit Wien entschieden hatte und der Krieg außergewöhnlich erfolgreich verlaufen war, verspürte Berlin weder großes Interesse noch sah es die Notwendigkeit, Frankreichs Haltung zu honorieren. Trotzdem drängte Paris auf eine Erwerbsgemeinschaft mit Preußen. Bereits im Juli und August 1866 legte Vincent Benedetti einen Vertragsentwurf vor. Frankreich gestand Preußen darin eine Konföderation mit den süddeutschen Staaten zu, wenn Preußen seinerseits Frankreich die „Erwerbung Luxemburgs“ erleichtere und im Fall eines Krieges gegen Belgien „Waffenhilfe“ leiste. So sehr Bismarck die französischen Kompensationsgelüste im Sommer 1866 gefördert hatte, so sehr brachten sie ihn nun mit Blick auf die deutsche Nationalbewegung in Verlegenheit. Denn, obwohl im niederländischen Besitz, war Luxemburg staatsrechtlich Teil des Deutschen Bundes gewesen und Preußen hatte aufgrund von Verträgen das Besatzungsrecht in der luxemburgischen Festung weiterhin inne. Wenngleich der Bund nach dem Krieg aufgelöst worden war, betrachtete die Nationalbewegung Luxemburg noch immer als deutsches Territorium. Um sich nicht dem Zorn der Nationalbewegung auszusetzen, erkannte Bismarck die beste Lösung darin, dass nicht Preußen, sondern Frankreich selbst einen Verkauf Luxemburgs in Den Haag anregte. Die Voraussetzungen dazu schienen durchaus günstig, schließlich wollte sowohl die niederländische Regierung als auch der notorisch in Geldnöten steckende niederländische König Wilhelm III. (1817–1890) das Land verkaufen. Bismarcks Bedingung aber war, dass alles heimlich vonstattengehen müsse. Aber dazu fanden sich weder Napoleon, der aus innenpolitischen Gründen einen äußeren Prestigeerfolg benötigte, noch Wilhelm III. bereit. In dem Moment, in dem dieser nämlich das Geschäft öffentlich machte und den preußischen König um Zustimmung bat, war das Luxemburggeschäft geplatzt. In ganz Deutschland tobte die Empörung: „kein Fußbreit deutschen Landes“ sollte preisgegeben werden. Der Versuch Bismarcks und Napoleons III., im Stile der Kabinetts- und Konvenienzpolitik des 18. Jahrhunderts eine stillschweigende territoriale Übereinkunft zu erzielen, war an den nationalen Strömungen gescheitert. Eine Konferenz in London (7.–11.5.1867) löste schließlich die luxemburgische Frage. Preußen verzichtete auf sein Besatzungsrecht, die Festung wurde geschleift und das Großherzogtum wurde unter Garantie der fünf Großmächte für immer neutral erklärt. Napoleon III. (1808–1873), Neffe Napoleons I., kehrte nach zwei gescheiterten Putschversuchen 1848 nach Frankreich zurück und wurde zum französischen Staatspräsidenten (1848–1852) gewählt. Mit dem einen Staatsstreich errichtete er am 2. Dezember 1851 eine Diktatur und ein Jahr darauf auf der Basis einer Volkszählung und seiner Selbstkrönung das zweite französische Kaiserreich. Seine imperialistische Außenpolitik mobilisierte die französische Bevölkerung und hatte zum Ziel, Frankreich nicht nur aus der Isolation der Wiener Ordnung herauszuführen, sondern auch zur kontinentalen Hegemonialmacht emporzuheben. Seine Unterstützung des Osmanischen Reiches führte Ende März 1854 zur Kriegserklärung an Russland und zur französischen Teilnahme am Krimkrieg. Auf dem Pariser Friedenskongress erreichte er durch diplomatisches Geschick die Rehabilitation Frankreichs als Großmacht in Europa. Im oberitalienischen Krieg gegen Österreich, den er gemeinsam mit Cavour entfesselte, übernahm er selbst den Oberbe-
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fehl über die französischen Truppen, ohne jedoch den Feldzug maßgeblich zu beeinflussen. Nach dem Sieg über Österreich galt Napoleon als Förderer europäischer Einigungsbestrebungen. Nur eine deutsche Einigung bekämpfte er nach Kräften. Wiederholt forderte er das letzte Wort bei einer Umgestaltung Mitteleuropas zu haben bzw. mit territorialen Kompensationen entschädigt zu werden. Wiederholt kam es dabei zum diplomatischen Duell mit Bismarck, wobei er letztlich stets unterlag. So auch im Juli 1870, als er in völliger Verkennung der politisch-militärischen Lage, dem Norddeutschen Bund den Krieg erklärte, der mit der französischen Niederlage und seiner Gefangennahme und erzwungenen Abdankung endete. Nach Ende des Krieges ging er ins britische Exil, wo er am 9. Januar 1873 verstarb.
„Rache für Königgrätz“
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Nachdem Napoleon in der luxemburgischen Krise düpiert worden war, rechnete die europäische Politik bereits mit einem bevorstehenden deutsch-französischen Krieg. Dazu probte Paris einen Kurswechsel und strebte zunächst eine Koalition der Verlierer von 1866 an. Bereits im August 1867 traf Napoleon mit Kaiser Franz Joseph in Salzburg zusammen. Der Plan, zu dem auch Italien hinzugezogen wurde, zielte auf eine Einkreisung Deutschlands, mit deren Hilfe Preußen auf den Status einer Mittelmacht zurückgestutzt werden sollte. Allerdings blieb es letztlich bei einer bloß freundschaftlichen Verständigung ohne Ratifikation, da gerade Italien in der langen Verständigungsphase, die bis 1869 dauern sollte, immer weitere Forderungen nachschob. Auch Preußen blieb nicht untätig und verständigte sich im März 1868 mit dem Zarenreich. Auch hier blieb es aber bei einer Absichtserklärung ohne schriftliche Fixierung. Im Falle eines deutsch-französischen Krieges wollte Russland Österreich in Schach halten und Preußen wollte dieselbe Solidarität im Falle eines russisch-österreichischen Krieges zeigen. Bedeutete der Ausgang der Luxemburgkrise sowie die nachfolgenden Sondierungen Frankreichs und Preußens zweifellos eine wichtige Zäsur im beiderseitigen Verhältnis, so war ein Konflikt doch längst noch nicht vorprogrammiert. Für Bismarck war er bloß Zukunftsmusik. Dass die endgültige Einheit Norddeutschlands mit dem Süden letztlich gewaltsam herbeigeführt werden würde, schien ihm zwar durchaus „wahrscheinlich“. Gleichwohl sei es doch etwas ganz anderes, wie er im Frühjahr 1869 Georg von Werthern (1816–1895), dem Gesandten des Norddeutschen Bundes in München mitteilte, eine solche „gewaltsame Katastrophe herbeizuführen“. Zeitlebens hat Bismarck einen Präventivkrieg abgelehnt. Von seiner Warte aus betrachtet, gab es keinen Handlungszwang und durchaus noch Möglichkeiten zum Einvernehmen mit Paris. Dabei setzte er weiterhin auf die von ihm beobachtete Konfliktscheu Napoleons III. Eine forcierte Vereinigung Süddeutschlands mit dem Norddeutschen Bund, die gerade in dieser Phase „zu versumpfen“ drohte, da Bayern und Württemberg eine Einheit unter alleiniger preußischer Führung ablehnten, entspräche bloß dem „Abschlagen unreifer Früchte“. Man könne die Uhr zwar vorstellen, die Zeit würde damit aber nicht schneller vergehen. „Die Fähigkeit zu warten, während die Verhältnisse sich entwickeln“, so Bismarck, sei eine „Vorbedingung praktischer Politik“. So sehr sich Bismarck in der deutschen Frage nun eher auf längere Fristen einstellte, so sehr überschätzte er die Geduld und die Kompromissfähigkeit
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Napoleons. Dessen Position war durch sein missglücktes Abenteuer in Mexiko, aus dem er sich 1866 auf Druck der USA zurückziehen musste und wiederholten diplomatischen Schlappen in Europa derart geschwächt, das die sogenannte Revanche pour Sadowa, die nun allenthalben in Frankreich gefordert wurde, mehr und mehr zur Schicksalsfrage für den Fortbestand seiner Regentschaft wurde. In dieser Lage entwickelte sich außerhalb des mitteleuropäischen Horizonts ein Problemzusammenhang, der die deutschen Beziehungen zu Frankreich dynamisieren sollte: die Frage der spanischen Thronfolge. Die spanische Thronfolgefrage: Nach dem Militärputsch gegen Königin Isabella II. (1830–1904) und der revolutionären Umgestaltung Spaniens im September 1868 in eine konstitutionelle Monarchie suchte Madrid einen neuen Monarchen. General Juan Prim (1814–1870) begab sich unter größtmöglicher Geheimhaltung, auf die Suche nach einem Kandidaten in den katholischen Adelshäusern Europas. Seine Wahl fiel schließlich auf den katholischen Zweig des Hauses Hohenzollern und zwar auf den mit einer portugiesischen Prinzessin verheirateten Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905). Obwohl weitläufig mit Napoleon III. verwandt, war Leopold als deutscher für diesen jedoch kaum akzeptabel. Bismarck selbst verfolgte die Entwicklungen in Spanien mit Interesse, ohne sich jedoch direkt einzuschalten. Erst im Frühjahr 1870, nachdem Prim dem Erbprinzen Leopold offiziell den Thron angeboten hatte, entschloss er, sich der Sache persönlich anzunehmen und sie zu fördern. Für den Kanzler des Norddeutschen Bundes zählte dabei vornehmlich der machtpolitische Aspekt, denn mit einem Sigmaringer auf dem Madrider Thron würde es sich Napoleon zweimal überlegen, auf einen aggressiven Kurs gegenüber Preußen einzuschwenken. „In unserem Interesse liegt es“, so teilte Bismarck seinen Mitarbeitern am 3. Oktober 1868 in diesem Sinne mit, „daß die spanische Frage als Friedens-Fontanelle offen bleibe“, denn „eine Napoleon angenehme Lösung ist schwerlich die für uns nützliche“ [Bismarck, GW, Bd. 6a, S. 412]. Nachdem Leopold zwischenzeitlich bereits abgelehnt hatte (20.4.1870), erhielt die Frage im Juni neuen Schwung. Obwohl er jeden Anschein einer offiziellen Regierungspolitik vermied, gelang es Bismarck, unterstützt u.a. vom Kronprinzen, Leopold doch noch zur Annahme der Kandidatur zu bewegen (19.6.1870). Als Chef des Hauses Hohenzollern – nicht als preußischer König, gab Wilhelm I. zwei Tage später sein Plazet. Voraussetzung für das Gelingen der Thronkandidatur war aber strikte Geheimhaltung. Paris sollte vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Ausgerechnet Prim, der solange für die Kandidatur geworben hatte, konnte aber das Geheimnis nicht für sich behalten. Bereits am 2. Juli, noch bevor Leopold offiziell zum Thronfolger ernannt werden konnte, unterrichtete er den französischen Gesandten in Madrid. Die „spanische Bombe“, wie sich König Wilhelm ausdrückte, war „geplatzt“. Ein Konflikt mit Paris schien damit immer wahrscheinlicher.
Das „Platzen“ der „spanischen Bombe“ setzte in der Julikrise des Jahres 1870 eine Eskalationsspirale in Gang, an deren Ende Frankreich am 19. Juli dem Norddeutschen Bund den Krieg erklärte. Nach Bekanntwerden der Hohenzollern-Kandidatur beschloss die französische Regierung, einen derartigen Druck aufzubauen, dass Leopold zurückziehen müsse. Das Ziel war aber nicht Madrid oder Sigmaringen, sondern Berlin. Preußen sollte zugeben, dass es hinter der Kandidatur stehe und nun zum demütigenden Rückzug gezwungen werden. Das Gefühl der eigenen Niederlage und der Anspruch auf öffentliche Genugtuung standen für die Franzosen dabei von vornherein im Vordergrund. Verkörpert wurde
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Spanische Thronfolge und französische Streitlust
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Julikrise 1870
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dieses Ziel indes weniger von Napoleon als vielmehr von seinem Außenminister, dem Herzog Agénor Gramont (1819–1880). In der ersten Erregung wurde der Botschafter in Madrid, Henri Graf Mercier de L’Ostende (1816–1886), angewiesen, in der spanischen Hauptstadt aller Welt zu verdeutlichen, dass Frankreich in Spanien nichts anderes als einen Vasallen erblicke, der keine freien Entscheidungen zu fällen habe. Gegenüber Preußen verstieg sich Gramont sogar zu einer offenen Kriegsandrohung. Gleichzeitig informierte er über zahlreiche Telegramme nicht nur alle europäischen Regierungen von einer unmittelbaren Bedrohung Frankreichs, sondern setzte auch eine internationale Pressekampagne in Gang, die Preußen vor aller Welt ins Unrecht setzen und Frankreich als Opfer stilisieren sollte. Mit all diesen gleichzeitig abgefeuerten Geschützen stürzte sich der französische Außenminister blindlings in ein diplomatisches Duell, welches er zu keiner Zeit gewinnen konnte. Gramont grub sich mit seiner gesamten Handlungsweise selbst „eine Grube, in die er freudig selbst hineinsprang, weil er glaubte im Recht zu sein“, wie es der Historiker David Wetzel ausdrückt. Ohne seine Ministerkollegen oder wenigstens seinen Ministerpräsidenten Emile Ollivier (1825–1913) zu konsultieren, setzte er mit der öffentlichen Kampagne Kräfte frei, von denen schon die Zeitgenossen sehr gut wussten, dass sie kaum mehr einzufangen sein würden. Tatsächlich hatte Gramonts Impulsivität die französische Regierung damit in eine unmögliche Lage manövriert, aus der nur ein großer Triumph oder eine verheerende Demütigung resultieren konnten. Die Berliner Regierung, allen voran Bismarck, der in dieser ganzen Phase auf seinem Beobachtungsposten im pommerschen Varzin verharrte, übte sich dagegen in demonstrativer Passivität. Es blieb bei der offiziellen Haltung, dass die Thronkandidatur allein eine Sache zwischen Madrid und dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen sei. Je lauter Paris protestierte, desto mehr würde auch die öffentliche Meinung in Deutschland, insbesondere in Süddeutschland, auf den Plan gerufen. Gleichwohl darf man sich nicht täuschen lassen. Auch nicht von Bismarcks eigenen, nachträglichen Eingebungen, mit denen er sich in seinen Gedanken und Erinnerungen zum vollständigen Herren der Lage stilisierte. Für ihn war die vorzeitige Bekanntgabe der Kandidatur durchaus ein Ärgernis. Zum Krieg bereit war er seit Langem, aber dass bedeutete nicht, dass der Konflikt damit beschlossen war. Noch Ende Februar hatte er seinem Pressereferenten Moritz Busch (1821–1899) in die Feder diktiert, dass jeder Krieg gegen Frankreich eine „Torheit“, wenn nicht gar ein „Verbrechen“ sei, solange eine kleindeutsche Lösung friedlich zu erreichen sei. Bei der Thronfolgefrage war es Bismarck in erster Linie um einen leicht zu erzielenden Erfolg, eine Lektion und eine weitere Schwächung Frankreichs gegangen. Die Eskalationsspirale aber, die Gramont am 3. Juli in Gang gesetzt hatte, inklusive aller nachfolgenden diplomatischen Fehler und politischen Patzer, war in keiner Weise vorherzusehen und somit auch nicht geplant gewesen. Schließlich eröffneten sich Paris Anfang Juli durchaus noch genügend andere Optionen, um die Kandidatur eines Hohenzollern zu verhindern. Niemand zwang den Quai d’Orsay, Berlin zu drängen. Stattdessen hätte man auch auf die spanische Regierung einwirken können. Auch ein Stimmenkauf im spanischen Parlament oder ein Gegenkandidat wären einen Versuch wert gewesen. Überdies war auch der dynas-
Drei Kriege bis zur Reichsgründung tische Weg über den ohnehin zaudernden König Wilhelm nicht verschlossen, zumindest verzichtete Bismarck dieses Mal darauf, von Varzin aus auf seinen Monarchen einzuwirken. Richtig ist aber auch, dass es Bismarck, anders als sein französischer Gegenspieler und womöglich besser als jeder andere seiner Zeit verstand, seine Ziele den sich verändernden Umständen anzupassen und sich bietende Gelegenheiten effektiv auszunutzen. Wie kein Zweiter konzentrierte er sich stets auf die anstehenden Aufgaben, während die Zukunft ihn erst dann interessierte, wenn sie sich unmittelbar andeutete. Am 6. Juli 1870 ließ sich Gramont vor der französischen Kammer unter tosendem Applaus zu der Erklärung hinreißen, dass er mit der „deutschen Weisheit rechne“. Wenn es anders komme, so werde die französische Regierung ihre „Pflicht ohne Zaudern und ohne Schwäche zu erfüllen wissen“. Das klang wie eine Kriegsfanfare und wurde allenthalben auch so verstanden. Die französische Presse schwadronierte von einer vermeintlichen „Schildwache“ der Preußen, die 36 Millionen Franzosen zu Geiseln mache und forderte ein „kaudinisches Joch“ für Preußen. Selbst der eher zögerliche Napoleon und sein ebenso zögerlicher Ministerpräsident Ollivier ließen sich nun von der Welle der geschürten Empörung davon tragen. „In vierzehn Tagen“, so Ollivier, habe man „400000 Mann an der Saar, und wir werden den Krieg machen wie 1793, wir werden das Volk bewaffnen, das zu den Grenzen strömen wird“. Damit nicht genug, wurde dem preußischen Gesandten von Werthern aufgefordert, unverzüglich nach Bad Ems zu fahren, wo Wilhelm I. gerade zu einer Kur weilte, und diesem die französische Kriegsbereitschaft ungeschminkt mitzuteilen. Wenige Tage später verzichtete die spanische Regierung auf die Kandidatur Leopolds (10.7.1870). Weitere zwei Tage später verzichtete auch Leopold auf Wunsch König Wilhelms. Die französischen Drohgebärden schienen also erfolgreich gewesen zu sein und eigentlich wäre die Sache damit erledigt gewesen. Nicht aber für Paris, welches sich von dem Ruf nach „Rache für Sadowa“ nun vorwärts treiben ließ. Ein einfacher Rückzug des Hauses Hohenzollern, ohne dass Berlin öffentlich zugab, überhaupt etwas mit der Sache zu tun gehabt zu haben, genügte der aufgehetzten französischen Ehre bei Weitem nicht. Wiederholt drängte Gramont seinen Botschafter Benedetti zur Eile und zu immer schärferen Tönen, um eine offizielle Verzichtserklärung durch Wilhelm I. zu erreichen. Dass der französische Außenminister sich dabei als Opfer der ihn drängenden französischen Öffentlichkeit stilisierte, setzte seiner kurzsichtigen Politik die Krone auf. Schließlich hatte er mit seiner Krisenpolitik inklusive jener von ihm lancierten Presseartikel selbst einen entscheidenden Anteil an der aufgepeitschten anti-preußischen Stimmung in den Straßen von Paris. Bismarck focht das nicht an. Alarmierende Telegramme aus Berlin kommentierte er mit den Worten: „Inhalt vollkommen gleichgültig. Lassen sie geschehen, was geschieht.“ Erst am 12. Juli traf er am späten Nachmittag aus Varzin kommend in Berlin ein. Am 13. Juli wurde Benedetti erneut ausgesandt, um Wilhelm in Bad Ems zu bedrängen. Ohne die bereits verabredete Audienz abzuwarten und in Rechnung zu stellen, dass Wilhelm ja bereits den Verzicht Leopolds angeregt und für gut befunden hatte, passte der Botschafter Wilhelm im Emser Kurgarten in aller Öffentlichkeit ab. Für alle Zeiten solle der Monarch verbindlich erklären, dass er nie wieder eine Kan-
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Preußischer Rückzug
Emser Depesche
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didatur aus seinem Haus für den spanischen Thron befürworten werde. Damit nicht genug, erreichte Wilhelm am Nachmittag die Aufforderung, sich bei Napoleon und Frankreich öffentlich zu entschuldigen. Damit hatte das Pariser Außenministerium den Bogen endgültig überspannt. Die Depesche über die anhaltenden französischen Provokationen erreichte Bismarck, als er gerade mit Roon und Moltke zu Abend aß.
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Telegramm des Geheimrats Heinrich Abeken an den Bundeskanzler Graf von Bismarck, 13. Juli 1870. Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 6b, S. 369. Ems, den 13. Juli 1870 Seine Majestät der König schreibt mir: Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zudringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisieren, sofort zu telegraphieren, daß ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur zurückkämen. Ich wies ihn, zuletzt etwas ernst, zurück, da man à tout jamais dergleichen Engagement nicht nehmen dürfe, noch könne. – Natürlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte, und da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei. Seine Majestät hat seitdem ein Schreiben des Fürsten bekommen. Da Seine Majestät dem Grafen Benedetti gesagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihn nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: daß Seine Majestät jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. Seine Majestät stellt Eurer Exzellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgeteilt werden sollte?
Die erste Reaktion der Runde war Niedergeschlagenheit ob des erneuten Zurückweichens des Königs. Nach „wiederholter Prüfung“ aber erwachten Bismarcks Lebensgeister. Er erkundigte sich kurz bei Moltke nach dem Stand der Rüstungen – mit der Neutralität Russlands und Englands, da war er sich sicher, war ohnehin zu rechnen – und entsprach dem Wunsch des Königs, den Inhalt des Telegramms zu veröffentlichen. In Gegenwart seiner Gäste reduzierte er allerdings dessen Wortlaut. Moltke und Roon spürten sofort, dass etwas Unerhörtes geschehen war. Es waren nicht die Worte, sondern die Form auf die es ankam.
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Vom Bundeskanzler Graf von Bismarck redigierte Pressefassung des Abekenschen Telegramms aus Ems, 13. Juli 1870 Aus: Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 6b, S. 371. Berlin, den 13. Juli 1870. [zur Station: 11.15 nachm.] Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kaiserlich Französischen Regierung von der Königlich Spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät den
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König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er nach Paris telegraphiere, daß Seine Majestät der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.
Nachdem Bismarck seine Version vorgelesen hatte, bemerkte Moltke: „So hat das einen andern Klang, vorher klang es wie Chamade, jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.“
Bismarck über Zustandekommen der Emser Depesche Aus: Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. II, Stuttgart u.a. 1898, S. 406f.
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Ich erläuterte: „Wenn ich diesen Text, welcher keine Änderungen und keinen Zusatz des Telegramms enthält, in Ausführung des Allerhöchsten Auftrags sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsre Gesandtschaften mittheile, so wird er vor Mitternacht in Paris bekannt sein und dort nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der Art der Verbreitung den Eindruck eines rothen Tuches auf den gallischen Stier machen. Schlagen müssen wir, wenn wir nicht die Rolle des Geschlagenen ohne Kampf auf uns nehmen wollen. Der Erfolg hängt aber doch wesentlich von den Eindrücken bei uns und Andern ab, die der Ursprung des Krieges hervorruft; es ist wichtig, daß wir die Angegriffenen seien, und die gallische Ueberhebung und Reizbarkeit wird uns dazu machen, wenn wir mit europäischer Öffentlichkeit, so weit es uns ohne das Sprachrohr des Reichstages möglich ist, verkünden, daß wir den öffentlichen Drohungen Frankreichs furchtlos entgegentreten“.
Tatsächlich wirkte die im Telegramm enthaltende Wendung, daß Wilhelm dem Botschafter „nichts weiter mitzuteilen“ habe, wie eine Ohrfeige. Sechs Tage später erklärte Paris Berlin den Krieg. Seither hat es immer wieder Versuche gegeben, die Kriegsschuld eindeutig zu bestimmen. Wiederholt wurde dabei vor dem Hintergrund der Emser Depesche und Bismarcks eigenen Auslassungen versucht, ihm eine Art Meisterplan zur Entfesselung des nächsten Einigungskrieges nachzuweisen. Allein, es fehlen die Beweise dafür. Selbst groß angelegte Quellenauswertungen konnten diese bislang nicht stichhaltig genug liefern. Vielmehr haben differenzierte Studien, die sowohl das Berliner als auch das Pariser Krisenmanagement beachten, gezeigt, dass Bismarck zwar spätestens ab dem 12. Juli zum Krieg entschlossen war, die Entscheidung über Krieg und Frieden aber an der Seine getroffen wurde. Bismarck hatte sich wohl bis dahin in der Einschätzung Frankreichs verkalkuliert und lange mit einem Zurückweichen gerechnet, gleichzeitig aber die Tragweite der Emser Depesche erkannt und die Gelegenheit kühl berechnend genutzt. Letztlich war es aber vor allem der Quai d’Orsay, insbesondere unter der Führung seines Außenministers Agénor Gramont, der die Krise entscheidend eskalieren ließ und mit der Mobilmachung und Kriegserklärung den bewaffneten Konflikt eröffnete.
Kriegsschuldfrage
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Mehr noch: die Entscheidung zur Mobilmachung der Reserven am 14. Juli erfolgte unabhängig von der Emser Depesche und war vor allem dem Anschwellen der anti-preußischen Stimmung geschuldet. Denn anders als Bismarck kalkuliert hatte, erreichte die Emser Depesche Paris erst am Morgen des 14. Juli und wurde zunächst sogar als diplomatischer Sieg bewertet. Erst um halb acht Uhr abends empörte sich das Sensationsblatt Soir über die vermeintliche Beleidigung Frankreichs in Person des französischen Botschafters durch Wilhelm I und erst am Mittag des darauffolgenden Tages widmete sich die Deputiertenkammer dem Telegramm. Den 14. Juli über hatte der französische Ministerrat getagt und bereits die Gründe für einen Krieg hin und her gewogen, so dass der englische Botschafter bereits zu dem Schluss kam, dass unabhängig von der Depesche aus Ems der öffentliche Druck, noch dazu am Nationalfeiertag einen Krieg mehr als wahrscheinlich mache. Noch am späten Abend des 14. Juli entschloss sich der Ministerrat nach hitzigen Diskussionen um eine Konferenzlösung nicht zuletzt auf Anraten der Militärs für einen Krieg und bat die Deputiertenkammer, am 15. Juli dafür die nötigen Kredite zu bewilligen. In den Augen der europäischen Öffentlichkeit erschienen Napoleon und seine Regierung als Friedensbrecher. In Deutschland wurde die offizielle Kriegserklärung vom 19. Juli 1870 zum Fanal für die nationale Erhebung sowohl in Süd- als auch in Norddeutschland. Anders als in den beiden vorangegangenen Konflikten kam es nun über den nationalen Hass in beiden Öffentlichkeiten zum Volkskrieg zwischen Deutschland und Frankreich.
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Der Kriegsverlauf: Der Krieg begann auf französischer Seite im Chaos, welches die geplante Vereinigung der beiden Armeen unter den Marschällen Maurice de MacMahon (1808–1893) und François-Achille Bazaine (1811–1888) zu einer großen Rheinarmee zunichtemachte. Generalstabschef Moltke dagegen hatte den früher oder später erwarteten Konflikt bereits seit langem durchdacht und minutiös geplant, von der notwendigen Verpflegung, über einzelne Abfahrtzeiten der Eisenbahntransporte bis hin zu ausführlichem Kartenmaterial für alle Offiziere und Einheiten. Aufgrund der eklatanten operativen und logistischen Schwächen Frankreichs gelang es den drei deutschen Armeen, ihre Gegner einzeln und nacheinander bei Weißenburg (4.8.1870), Wörth (6.8.1870) und Spichern (6.8.1870) zu schlagen und dabei weit nach Frankreich vorzudringen. Sodann wandten sich die deutschen Truppen gegen die im Raum Metz stehende französische Hauptarmee unter Bazaine. Unter anderem bei Mars-la-Tour (16.8.1870) und St. Privat (18.8.1870) errangen die Deutschen mit über 35000 Toten und Verwundeten teuer erkaufte Siege und zwangen ihre Gegner zum Rückzug in die Festung Metz. Alle anderen Wege waren versperrt. Seit Ende August in Metz eingeschlossen, kapitulierte Bazaine schließlich Ende Oktober. 200000 halbverhungerte Soldaten gingen in Gefangenschaft, 1500 Geschütze wurden erbeutet. Unterdessen war es bereits am 1. September zum vorentscheidenden Aufeinandertreffen zwischen der Armee MacMahons und der 3. Deutschen Armee unter Albert von Sachsen (1828–1902) bei Sedan gekommen. Nach heftiger Gegenwehr, insbesondere im Häuserkampf von Bazeilles, ergaben sich schließlich die französischen Streitkräfte am 2. September. Napoleon III. ging mit ca. 100000 Soldaten in Gefangenschaft.
Im Spiegelsaal von Versailles
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4. Im Spiegelsaal von Versailles – Kaiserproklamation und Kriegsende Der entscheidende Sieg bei Sedan, der bis in den Ersten Weltkrieg hinein im Kaiserreich immer wieder Anlass bot, als „Sedantag“ symbolträchtig gefeiert zu werden, bedeutete allerdings noch nicht das Ende des Krieges. Zwar wurde Napoleon III. nach seiner Gefangennahme gestürzt. Aber die ausgerufene Dritte Republik und die provisorische Regierung unter Jules Favre (1809–1880) und Adolph Thiers (1797–1877) weigerten sich zu kapitulieren. In Erinnerung an die Levée en masse, den Volkskrieg von 1792, sollten nun alle Kräfte zur Verteidigung und zum Entsatz der seit Ende September belagerten Hauptstadt Paris mobilisiert werden. Die zunehmend in der Form der Guerilla geführten Auseinandersetzungen ließen in dieser Phase bereits die Entgrenzung der Kriegführung im Übergang vom Kabinetts- zum Volkskrieg erkennbar werden, die zum Wesen der totalen Kriegführung des 20. Jahrhunderts gehören sollten. Je länger und verlustreicher sich die Kampfhandlungen abzeichneten, desto mehr drängte Bismarck auf deren baldige Beendigung. Seite Ende August waren umfangreiche diplomatische Aktivitäten auf Seiten der neutralen Mächte im Gange, um den Krieg zu beenden. Anfänglich noch eher prodeutsch orientiert, fürchteten insbesondere England und Russland nach den ersten Niederlagen Frankreichs einen zu deutlichen Sieg und eine allzu nachhaltige Veränderung des europäischen Gleichgewichts. Wie schon 1864 und 1866 musste Bismarck somit nach Sedan erst recht eine Intervention der anderen Großmächte fürchten; umso mehr, da inzwischen nicht mehr nur die Vereinigung Nord- und Süddeutschlands, sondern auch die Abtretung des Elsass und von Teilen Lothringens von allen politischen Kräften zum Kriegsziel erklärt worden waren. Bismarck beugte sich mit diesem neuen Ziel jedoch nicht dem Druck nationaler Kräfte, wie es von der älteren Forschung lange behauptet worden ist. Vielmehr folgte er seinen eigenen macht- und sicherheitspolitischen Instinkten im Verlauf des Krieges. Die Motive hingegen waren unterschiedlicher Natur. Nationale und militärstrategische Erwägungen spielten dabei ebenso eine Rolle wie das klassische Argument des Territorialgewinns. Für Bismarck scheint maßgeblich gewesen zu sein, dass eine Bevölkerung, die eine „Rache für Sadowa“ gefordert hatte, sich wohl kaum jemals mit einer eigenen Niederlage würde abfinden können. Bliebe Frankreich aber langfristig feindlich gesonnen, schien ein stabilisierendes Gleichgewicht nur über dessen dauerhafte Schwächung möglich. Ein Zirkularerlass vom 16. September 1870 brachte diesen Gedankengang zum Ausdruck: „Indem wir Frankreich, von dessen Initiative allein jede bisherige Beunruhigung Europas ausgegangen ist, das Ergreifen einer Offensive erschweren, handeln wir zugleich im europäischen Interesse, welches das des Friedens ist“. Ein schwerwiegender „Fehler“, wie er kaum ein Jahr später selbst gegenüber dem französischen Geschäftsträger einräumte. Im Zeitalter des Nationalismus, so hatte er inzwischen erkannt, stünde ein deutsches Elsass-Lothringen als Symbol der deutsch-französischen Erbfeindschaft einem „dauerhaften Frieden im Weg“. Andererseits war die territoriale Entschädigung
Annexion Elsass-Lothringens
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Bombardierung von Paris
Kaiserproklamation
Pontus-Konferenz
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nach einem verlorenen Krieg nichts Ungewöhnliches. Zumal auch die prodeutsche Sympathie der anderen Mächte zu Beginn des Krieges deutlich gemacht hatte, wer für den Aggressor gehalten wurde. Aber es war ein Signum der Epoche der Einigungskriege, dass sich traditionelle Mechanismen der Macht- und Realpolitik mit modernen Kräften, allen voran dem Nationalismus, überlagerten. Um nach den militärischen Erfolgen einer internationalen Intervention zu entgehen, setzte Bismarck wie schon 1866 auf ein schnelles Kriegsende. Während Generalstabschef Moltke mit Blick auf die Schonung der eigenen Ressourcen dafür eintrat, Paris wenn nötig monatelang zu belagern und Frankreich durch einen „Exterminationskrieg“ zu vernichten, hielt Bismarck strikt dagegen und plädierte dafür, die Hauptstadt sturmreif zu schießen und so den französischen Widerstand möglichst schnell zu brechen. Nach erbittertem Streit, der zudem eine nachhaltige Wirkung auf die Frage nach dem Primat von Politik oder Kriegführung haben sollte, setzte sich am Ende Bismarck durch. Einen Monat, nachdem mit dem Beschuss von Paris begonnen worden war (31.12.1870), kapitulierte Paris am 28. Januar 1871 und am selben Tag wurde der Waffenstillstand verkündet. Bereits zehn Tage zuvor, am 18. Januar 1871, war im Spiegelsaal von Versailles König Wilhelm I. zum „Kaiser Wilhelm“ proklamiert und das Deutsche Reich symbolisch ausgerufen worden. Der staatsrechtliche Gründungsakt folgte am 16. April mit der neuen Verfassung des Deutschen Reiches. Dass die Kaiserproklamation ausgerechnet auf französischem Boden, noch inmitten des Krieges im Schloss Ludwig XIV. (1638–1715) stattfand, wurde als eine weitere Demütigung Frankreichs empfunden. Am 26. Februar wurde in Versailles der Präliminarfriede unterzeichnet, dem ein knappes Vierteljahr später der Frankfurter Friede folgte. Frankreich musste sich von Elsass-Lothringen, einschließlich der Festung Metz als Kompensation für Belfort, trennen. Darüber hinaus musste es fünf Milliarden Franken Kriegsentschädigung zahlen und blieb bis zur Erfüllung in Teilen besetzt. Damit erreichte Frankreich insgesamt durchaus maßvolle Bedingungen. Gemessen an der üblichen Beendigung zwischenstaatlicher Konflikte im 19. Jahrhundert war es völlig normal, eine Kriegsentschädigung zu leisten, und auch der territoriale Verlust war ganz gleich aus welchen Motiven heraus geradezu selbstverständlich. Gleichwohl sollte Bismarck mit seiner frühen Einschätzung, mit der Annexion einen Fehler begangen zu haben, recht behalten. Zu den international bedeutsamen Nebenergebnissen des Krieges zählte, dass sich Russland mithilfe Bismarcks auf der Londoner Konferenz (17.1.1871–13.3.1871) von den Bestimmungen der Pontus-Konferenz (1856) lossagen konnte. Die Neutralität und Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres wurde aufgehoben und damit die einseitige Kündigung Russlands vom Oktober 1870 bestätigt. Die Durchfahrt durch die Meerengen blieb aber weiterhin von der Zustimmung des Osmanischen Reiches abhängig. War die deutsche Frage geklärt, so trat nun die orientalische Frage in eine neue Phase.
II. Das neue Reich in der Mitte Europas Entstanden „unter dem bedrohenden Gewehranschlag des übrigen Europa“ (Bismarck) war keineswegs klar, wie lange, oder ob überhaupt sich das neue Reich in der europäischen Mitte würde halten können. Würde es wie Napoleon nach der Hegemonie greifen? Oder könne es sich in die bestehende Staatenordnung einfügen? Würden die anderen, etablierten Staaten die neue Macht integrieren? Fest stand, dass es auch trotz der langen Vorgeschichte seiner Einheitsbestrebungen als Emporkömmling betrachtet wurde. Es trat an die Stelle Preußens, des zuvor schwächsten Gliedes der europäischen Pentarchie und stellte mit einem Mal die internationale Ordnung auf den Kopf. Da verwundert es nicht, dass ein interessierter Beobachter wie der britische Oppositionsführer Benjamin Disraeli (1804–1881) die Reichsgründung und Machtverdichtung in der Mitte des Kontinents als „Revolution“ und wichtigste Entwicklung „seit der französischen Revolution“ empfand. Für eine Einschätzung und Analyse der Außenpolitik des neuen Reiches gilt es jedoch zunächst, die grundlegenden Strukturen deutscher Außenpolitik in den Blick zu nehmen.
1. Das Kaiserreich und seine außenpolitischen Akteure a) Kaiser, Reichskanzler und Militärs Verfassungsrechtlich stand der Kaiser an der Spitze der deutschen Außenpolitik. Ihm oblag es nach Artikel 11 der Reichsverfassung, das Reich „völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen“. Zudem führte er das Präsidium des Bundes, ernannte und entließ den Reichskanzler (Art. 18) und hatte den Oberbefehl über alle Streitkräfte (Art. 53, 63). In der politischen Praxis hing der Einfluss des Kaisers allerdings stark von dessen Persönlichkeit und seinem Verhältnis zum Reichskanzler ab, schließlich oblag diesem die „Leitung der Geschäfte“ (Art. 15). In dieser Hinsicht gliedert sich die Geschichte der Außenpolitik des Kaiserreiches in die Herrschaft Wilhelms I. (1797–1888) zwischen 1871 und 1888, ergänzt durch die 99 Tage Herrschaft seines Sohnes Friedrich III. (1831–1888) und die Herrschaft Wilhelms II. (1859–1941) zwischen 1888 bis 1918. Kaiser Wilhelm I. überließ das Regieren weitgehend seinem Kanzler Otto von Bismarck und vertraute dessen außenpolitischen Entscheidungen nahezu blind. Wilhelm I. von Preußen (1797–1888), war König von Preußen und erster Kaiser des neugegründeten Deutschen Reiches. Nach dem siegreichen deutsch-französischen Krieg wird Wilhelm 1871 im Spiegelsaal von Versailles als deutscher Kaiser ausgerufen. Dieser war zehn Jahre zuvor zum König von Preußen gekrönt worden
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und hatte bereits seit 1858 als solcher für seinen kranken Bruder Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) regiert. In den Revolutionsjahren war Wilhelm Akteur der Reaktion gewesen, regte 1848 die Niederschlagung der Märzrevolution in Berlin an und führte im Folgejahr selbst preußische Truppen gegen Aufständische. Er drängte als Regent auf eine Zäsur in der Politik Preußens und kehrte zu einer konservativen und antiliberalen politischen Grundhaltung zurück. Dies wurde personell besonders 1862 in der Berufung Otto von Bismarcks ins Reichkanzleramt deutlich. Auch nach der Reichsgründung unterstützte Wilhelm die Politik des neuen Reichskanzlers. Das Regiment Bismarcks
Gegenüber seinen Mitarbeitern pflegte Bismarck nicht nur einen autoritären Führungsstil, sondern auch eine äußerst zynische Geringschätzung. Persönlich wahrte er stets Distanz und erlaubte keinerlei Eigenmächtigkeiten. Selbst verdiente Botschafter wie Lothar von Schweinitz (1822–1901) hielt er an der kurzen Leine. Diplomaten, so hielt er wiederholt fest, hätten „zu gehorchen“. Ihre Aufgabe sei es ausschließlich Berichte zu verfassen. Eigene Beurteilungen waren nicht gefragt. Als Reichskanzler war er gefürchtet und geachtet zugleich. Hinter seinem Rücken nannten ihn die Diplomaten und Beamten der Wilhelmstrasse den „großen Wauwau“ oder den „großen Onkel“. Erst in den 1880er-Jahren wurden die Diplomaten durch die oft monatelange, zumeist krankheitsbedingte Abwesenheit des Kanzlers etwas selbstbewusster. Dazu trug auch der offenere Führungsstil seines Sohnes, Herbert von Bismarck (1849–1904), bei. Herbert führte das Auswärtige Amt ab 1885 als Staatssekretär. Mit dem Tod Wilhelms I., dem versterben dessen Sohnes Friedrich III. nach nur 99-tägiger Regentschaft und der Übernahme durch den erst 29jährigen Wilhelm II. begann sich die politische Kräftebalance zwischen Kanzler und Monarch zu ändern. Wilhelm II. beanspruchte ein „persönliches Regiment“. So sehr er Bismarck in seiner Jugend bewundert hatte, so sehr wollte er sich als Kaiser von diesem emanzipieren. Es schien daher nur folgerichtig, dass Wilhelm II. bald „seinen eigenen Kanzler“ haben wollte und ein „persönliches“, also ein eigenes „Regiment“ anstrebte.
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Wilhelm II. von Preußen (1859–1941), war von 1888 bis 1918 deutscher Kaiser und König von Preußen. Als Kaiser wandelte sich die anfängliche Bewunderung für Otto von Bismarcks Politik in ein von persönlichen und inhaltlichen Differenzen um den kaiserlichen Führungsstil, die Grundlinien der Sozialpolitik und die Ziele der deutschen Außenpolitik belastetes Verhältnis, das völlig zerrüttet 1890 in der Entlassung des Reichskanzlers endete. Danach versuchte Wilhelm, die Reichspolitik selbst zu führen. Dies gelang ihm jedoch aufgrund persönlicher Defizite nicht: Sein oftmals unbedachtes, impulsives und rhetorisch ungeschicktes Auftreten provozierte im In- und Ausland ein äußerst aggressives Bild des Kaiserreiches. Nach der Daily-Telegraph-Affäre 1908 musste der Kaiser sich schließlich bei öffentlichen Auftritten zurückhalten. Das Kaisertum endete im Deutschen Reich am 28. November 1918 mit der Abdankung Wilhelms II. Zuvor hatte Reichskanzler Max von Baden bereits den Rücktritt „seiner Majestät“ eigenmächtig bekannt gegeben.
Der unfreiwillige Abgang der Bismarcks 1890 markierte daher eine entscheidende Zäsur in der deutschen Außenpolitik. Nachfolger wurde der außenpolitisch völlig unbedarfte General der Infanterie, Leo von Caprivi.
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Das Kaiserreich und seine außenpolitischen Akteure Georg Leo Graf von Caprivi (1831–1899), Graf seit 1891. Nach der Entlassung Bismarcks wurde der hochdekorierte Offizier Caprivi als Vertreter des wilhelminischen „Neuen Kurses“ zum Reichskanzler ernannt. Fortan kam es zu einer neuen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik, die sich vor allem in der Abkehr von Russland und der Hinwendung zu Dreibund und England ausdrückte. In seiner Rolle als preußischer Außenminister und Ministerpräsident strebte er eine Aussöhnung mit der Sozialdemokratie im preußischen Landtag an. Nach Erfolgen bei der Industrialisierung Preußens und in der Heerespolitik stürzte Caprivi 1894 über den Konflikt um die sogenannte „Umsturzvorlage“. Mit Hilfe der Streichung von Grundrechten sollte sie einen angeblich bevorstehenden Staatsstreich der Sozialdemokratie erschweren.
Neben dem in der politischen Praxis entscheidenden Verhältnis zwischen Monarch und Kanzler kennzeichnete die Verfassung des Deutschen Reiches auch noch ein Dualismus zwischen politischer Leitung und militärischer Führung. Auch hier hing die jeweilige Gewichtung in besonderem Maße von den verantwortlichen Persönlichkeiten ab. Solange Bismarck Reichskanzler war, setzte er sich bei allen sachlichen Konfrontationen gegenüber Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke d.Ä. durch. Bereits im Krieg gegen Österreich hatte sich Bismarck in die Kriegführung eingemischt, indem er über Moltkes Kopf hinweg Telegramme an die Mainarmee verschickte und so in militärische Operationen eingriff. Bei Königgrätz war es zur nächsten Auseinandersetzung gekommen: König Wilhelm I. und Moltke wollten beide den Krieg fortsetzen und schließlich in Wien einmarschieren. Sie beugten sich aber letztlich nach handfestem Streit der Argumentation Bismarcks, der eine Demütigung Österreichs und eine Intervention der europäischen Mächte um jeden Preis vermeiden wollte. Auch gegen Frankreich kam es zu Reibereien zwischen Bismarck und den Militärs, als Moltke von seiner Immediatstellung gegenüber dem Monarchen Gebrauch machte und dem König direkt und ohne Bismarcks Anwesenheit berichtete. Zu einem Richtungsentscheid zwischen Politik und Militär kam es wie gesehen in der Frage der Beschießung der Festung Paris. Immediatbericht Bismarcks an König Wilhelm I., 28.11.1870 Aus: E.R. Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 358.
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Politik und/oder Militär
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Der Widerstand Frankreichs beruht wesentlich mit auf der Hoffnung, daß wenn er nur lange genug fortgesetzt werde, das Ausland doch endlich nicht umhin kommen werde, einzuschreiten. […] Um den Eindruck zu erreichen, den ich politisch für wichtig halte, ist ein Bombardement der Stadt Paris selbst nicht erforderlich; es genügt dazu ein Angriff auf die Forts, und schon die Constatirung des Vorhandenseins und der Tragweite unsrer Geschütze würde nicht ohne moralische Wirkung sein. […] Wenn auch die Armee Eurer Majestät in der Lage ist, abzuwarten, bis der Hunger den Parisern jenen Entschluß aufnötigt, so darf ich auf Grund der oben alleruntertänigst dargelegten Erwägungen ehrfurchtsvollst zu behaupten wagen, daß die Politik eine Beschleunigung desselben durch die Beschießung der Forts sehr wünschenswert macht.
Moltke plädierte dagegen für eine Zermürbung und totale militärische Niederringung des Gegners, um Frankreich dauerhaft aus der Reihe der Groß-
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mächte zu entfernen. Zudem lehnte er einen Beschuss auch aus militärpraktischen Erwägungen ab. Zum einen führte er dabei seine Erfahrungen vor Straßburg ins Feld. Die Stadt hatte sich nicht wie erwartet dem heftigen preußischen Artilleriefeuer, sondern erst der mehrwöchigen Belagerung gebeugt. Zum anderen brachte Moltke aber auch technische und logistische Probleme vor, die einen Beschuss im Wege stünden. Im Vordergrund aber stand die Bismarcksche Einmischung in militärische Belange, die sich der Generalstabschef mit aller Entschiedenheit verbat. Wenn Moltke generell auch den Primat der Politik über dem Militär anerkannte, so hatte die Politik seiner Auffassung nach in Zeiten des Krieges zurückzustehen und sich nicht in die operative Führung einzumischen. Bismarck aber, und dies ist kaum zu überschätzen, setzte sich durch, auch und vor allem gegen den ureigenen militärischen Instinkt seines Monarchen. Nach zähen Auseinandersetzungen gab Moltke schließlich Mitte Dezember 1870 klein bei. Allein und gänzlich ohne Militärs handelte Bismarck dann auch mit dem französischen Ministerpräsidenten Jules Ferry (1832–1893), zunächst einen Waffenstillstand aus und verhandelte bald über den endgültigen Frieden von Frankfurt am Main. Bis 1888 sollte sich an dem Kräfteverhältnis zwischen Bismarck, Wilhelm I. und der militärischen Führung nichts Wesentliches mehr ändern. Wiederholt gab der Kaiser zu verstehen: „Bismarck ist notwendiger als ich“ oder: „Es ist schwer unter einem solchen Kanzler Monarch zu sein“. Keine Frage, der „eiserne Kanzler“ war die bestimmende Persönlichkeit in den ersten beiden Dekaden des Reiches. Mit seinem Gewicht sorgte er auch dafür, dass neben ihm kein bedeutender militärischer Machtfaktor, etwa ein Reichskriegsministerium geschaffen wurde. Über seine Funktion als Reichskanzler sicherte er sich den bestimmenden Einfluss nicht nur auf die Innenund Außenpolitik, sondern auch auf das Militärwesen. Nach der Entlassung Bismarcks sollte es zu einer Bündelung der vollziehenden Gewalt unter Wilhelm II. kommen. b) Der diplomatische Dienst in der Wilhelmstraße Auswärtiges Amt
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Politisches Zentrum des Kaiserreiches war die Berliner Wilhelmstraße. Jene Regierungsmeile, die sich von Unter den Linden bis zum Belle Alliance Platz erstreckt und auf der sich unter anderem das Reichskanzlerpalais (Nr. 77), das Auswärtige Amt (Nr. 75/76), der Bundesrat (Nr. 74), das Reichskolonialamt (Nr. 62) sowie die englische Botschaft (Nr. 70) befanden und in deren unmittelbarer Nähe auch weitere Regierungsstellen wie das Kriegsministerium (Leipziger Str. 5) bzw. das Reichsmarineamt (Leipziger Platz 13) ihren Sitz hatten. Hier befand sich der politische Raum, in dem die außenpolitische Entscheidungsfindung stattfand. Zwischen 1867 und 1869 hatte noch das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten des Königreichs Preußen die außenpolitischen Angelegenheiten für den Norddeutschen Bund wahrgenommen. Die mit Preußen in den Bund und in das Reich eingetretenen deutschen Staaten, die bis dahin eigene diplomatische Institutionen unterhalten hatten, gaben ihre auswärtigen Kompetenzen auf. Als Kanzler des Norddeutschen Bundes hatte Bismarck im Januar 1870 die Überleitung des preußischen Außenministeriums in das „Auswärtige Amt“ beim König veranlasst. Das Amt war damit eine
Das Kaiserreich und seine außenpolitischen Akteure
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Behörde innerhalb des Bundeskanzleramtes, ab 1871 der Reichskanzlei, und war von nun an für die Pflege der auswärtigen Beziehungen und als Organ der vollziehenden Gewalt zuständig. Es war damit allerdings keine von einem selbständigen Außenminister geleitete Behörde, sondern dem einzigen Minister im Reich, dem Reichskanzler unterstellt. Wie das preußische Außenministerium hatte das neue Amt seinen Sitz im bescheidenen Palais Wilhelmstraße 76. Die Expansion und allmähliche Professionalisierung des diplomatischen Dienstes wie auch die immer neuen Aufgaben – 1890 wurde eine zusätzliche Kolonialabteilung geschaffen, die sich 1907 als Reichskolonialamt verselbständigte – führten dazu, dass mit der Zeit immer neue Gebäudekomplexe angekauft bzw. angemietet werden mussten – 1875 das Palais Radziwill (Nr. 77), dem neuen Wohnsitz Bismarcks, in dem 1878 auch der Berliner Kongress tagte sowie 1882 das Haus Nr. 75. In der Ära Bismarck war das Auswärtige Amt noch ein vergleichsweise kleiner Apparat, der lediglich über 19 Etatstellen verfügte. Bis zum Ersten Weltkrieg blieben Struktur und Organisation des Auswärtigen Amtes weitgehend so erhalten, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen entstanden waren. So untergliederte sich das Amt in zwei Abteilungen: die erste war die Politische Abteilung, während die zweite für alle nicht-politischen Angelegenheiten, z.B. den Außenhandel und das Konsularwesen zuständig war. Der Zweiteilung entsprachen zwei streng voneinander getrennte Laufbahnen, die diplomatische, die wie in allen europäischen Staaten eine Domäne des Adels war, und die konsularische. Neben diesen beiden klassischen Laufbahnen gab es noch die sogenannten Dragomane, die rechtsgelehrte Dolmetscher für orientalische Sprachen waren. Für die eigentliche politische Lenkung der Außenpolitik war neben dem Reichskanzler der jeweilige Staatssekretär als Chef der zentralen Politischen Abteilung zuständig. Bei der Reichsgründung stand zunächst Staatssekretär Karl Hermann von Thile (1812–1889), zuvor Unterstaatssekretär im preußischen Außenministerium, an der Spitze des Amtes. Ein kluger aber Bismarck offenbar zu selbständiger Beamter, den er bereits 1872 gegen Bernhard Ernst von Bülow (1815–1879) austauschte. Bülow führte ein straffes Regiment, galt weithin als „Gehilfe des Kanzlers“ und schirmte diesen weitgehend von den mittleren Amtsträgern, den Vortragenden Räten, ab. Überhaupt war es bei Geldstrafe verboten, Bismarck zwischen drei und fünf Uhr nachmittags zu stören. Von den stellvertretenden Amtsleitern ragte bis 1890 vor allem der Sohn Bismarcks, Herbert (s.o.), als besonders einflussreich heraus. Zwischen 1885/86 bis 1890 führte er die Amtsgeschäfte z.T. oft in völliger Abwesenheit seines Vaters, der sich in diesen Jahren oftmals krankheitsbedingt auf seinem Gut in Friedrichsruh oder zu verschiedenen Kuren weit außerhalb Berlins befand. Nach 1890 kam es zu verschiedenen Wechseln im Amt des Staatssekretärs, die im unterschiedlichen Maße auf den äußeren Kurs des Reiches wirkten. Unterhalb des Staatssekretärs arbeiteten die sogenannten Vortragenden Räte, denen wiederum Hilfsarbeiter und Anwärter zugeordnet waren. Solange die Bismarcks die Fäden der deutschen Außenpolitik in Händen hielten, war das Eigengewicht des Amtes und seiner Mitarbeiter insgesamt jedoch relativ gering.
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Auslandsvertretungen
Nach der sozialen Herkunft kamen die Beamten des Auswärtigen Amtes überwiegend aus dem bürgerlichen Milieu. Selbst in den oberen Rängen erreichte der Anteil des Adels anders als in anderen Ländern lediglich knapp über 50 Prozent. Die elitären Aufnahmeprüfungen konnten in Einzelfällen umgangen werden, zumal gerade Bismarck die Diplomatie eher als Kunst denn als erlernbares Handwerk begriff. Eine Besonderheit, gerade im diplomatischen Dienst, stellte der hohe Anteil von Diplomaten mit militärischem Hintergrund dar. Vor allem nach dem Krimkrieg, als es zu regelrechten Entwicklungssprüngen in der Militärtechnik kam, wurden Militär- und Marineattachés mehr und mehr zum festen Bestandteil der Botschaften. Ihre Aufgabe war es die militärischen Entwicklungen ihres jeweiligen Gastlandes im Auge zu behalten, weshalb sie im ständigen Ruf der Spionage standen. Im Ausland wurde Deutschland nach der Reichsgründung von einer ständig wachsenden Zahl von Diplomaten vertreten. 1870 bestand das diplomatische Personal aus 60 Etatstellen sowie einer größeren Anzahl von Botschafts- und Legationssekretären. 1874 verfügte das Reich über vier Botschaften in London, Paris, St. Petersburg und Wien sowie über 14 Gesandtschaften (Athen, Bern, Brüssel, Den Haag, Konstantinopel, Kopenhagen, Lissabon, Madrid, Rom, Stockholm, Peking, Rio de Janeiro, Washington, Vatikan). Hinzu kamen acht preußische Gesandtschaften innerhalb des Reiches (Darmstadt, Dresden, Hamburg, Karlsruhe, München, Oldenburg, Stuttgart und Weimar), acht Ministerresidenturen (Bogota, Buenos Aires, Caracas, Lima, Mexiko, Santiago, Tanger, Tokio) sowie sieben Generalkonsulaten mit diplomatischem Status (Alexandria, Belgrad, Bukarest, London, New York, Budapest und Warschau). 1914 verteilten sich die inzwischen 103 etatmäßigen Beamten des Diplomatischen Dienstes auf neun Botschaften (London, Paris, St. Petersburg, Wien, Rom, Konstantinopel, Tokio, Washington und Madrid), 23 Gesandtschaften, 7 Ministerresidenturen, 33 Generalkonsulate und mehr als 100 Berufskonsulate. Vor allem das Anwachsen des konsularischen Dienstes verweist auf die zunehmenden Handelsverbindungen in diesem Zeitraum.
2. Die Trieb- und Bewegungskräfte der Staatenwelt a) Gründerboom, Gründerkrach und Schutzzölle
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Gründerzeit
Die triumphale Reichsgründung setzte einen ungeahnten wirtschaftlichen Gründerboom in Gang. Bereits vor der Reichsgründung waren die Indizes der deutschen Wirtschaft vielversprechend. In den ersten Jahren nach 1870 waren die deutschen Wirtschaftsdaten geradezu atemberaubend.
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Der Gründerboom basierte nicht nur auf der Reichseinigung und den französischen Reparationen in Milliardenhöhe, sondern vor allem auch auf dem „deutschen Manchestertum“ und dem Freihandel seit den 1850er-Jahren. Beides hatte die wirtschaftliche Struktur Deutschlands grundlegend verändert. Ein wesentliches Ergebnis davon war, dass die kapitalintensive und börsennotierte Großindustrie und der Bankensektor gegenüber der Privat- und Landwirtschaft in diesen Jah-
Die Trieb- und Bewegungskräfte der Staatenwelt
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ren massiv an Bedeutung und Einfluss gewannen. Ausdruck dessen war es auch, dass sich gerade der Finanzsektor zunehmend unbeeindruckt von direktem politischen Druck zeigen konnte. Zudem hatte sich gerade der deutsche Export zu immer neueren Höhen aufgeschwungen und das Wachstum hatte ein Ausmaß angenommen, dass vor allem die Industrie immer mehr zum Schlüssel sozialer Stabilität wurde. Es ist daher sicher nicht von der Hand zu weisen, dass ausgerechnet der Erfolg des Freihandels selbst mit dafür sorgte, dass die modernen Industriestaaten ein derart existenzielles Interesse an der Aufrechterhaltung des permanenten Wachstums gewannen, welches dem Staatsinterventionismus letztlich zum Durchbruch verhalf.
In nur vier Jahren wurden auf deutschem Gebiet „ebenso viele Eisenhütten, Hochofenwerke und Maschinenfabriken gegründet wie in den siebzig Jahren seit 1800“. Die Kapitalanlagen an den Börsen überstiegen mit 2,8 Milliarden Reichsmark alle Investitionen der vergangenen Jahrzehnte. Der Anteil der bis dahin dominierenden Montanindustrie sank von 69% auf 38% zugunsten der Metallverarbeitung und der Chemie. In den Industriezentren, vor allem in der Schwerindustrie, quollen die Auftragsbücher förmlich über. Die Firmen kamen trotz massiver Einstellungen von neuen Arbeitskräften kaum nach. Allein bei Krupp in Essen erhöhte sich die Belegschaft von 7000 im Jahre 1870 auf über 12000 1873. Bis 1873 entstanden über 100 Aktiengesellschaften bei denen Dividenden von bis zu 20% keine Seltenheit waren. Aber nicht nur die Schwer- und Finanzindustrie profitierten. Auch der Agrarsektor, insbesondere die Getreide- und Fleischproduktion boomte nahezu wie von selbst. Im Überschwang des Erfolges deutete nichts auf ein rasches Ende des Aufschwungs hin. Anfang Mai 1873 kam es jedoch an der Wiener Börse zum Krach, in dessen Folge sich eine Abwärtsspirale der internationalen Märkte in Gang setzte. Plötzlich waren Kursstürze um mehr als 30%, begleitet von einem allgemeinen und massiven Preisverfall bei gleichzeitigen Absatzschwierigkeiten, zu verzeichnen. In der bis dahin prosperierenden deutschen Stahlindustrie – längst schon eine Schlüsselindustrie – fielen beispielsweise die Preise innerhalb kürzester Zeit um mehr als 20%, ohne dass ein höherer Absatz die Verluste wettmachen konnte. Bis 1879 wurden über 45% der Hochöfen in ganz Deutschland geschlossen. Bei der Kohle, einer nicht minder bedeutsamen Branche, fiel der Preisindex von 116 auf 49 Punkte. Die Eisenpreise sanken sogar von 181 auf 76 Punkte, während die Textilindustrie um ein Viertel schrumpfte. Wer seine Auftragseinbußen nicht über Exporte wettmachen konnte, bemühte sich um Konzentration und Kartellbildung sowie technische Rationalisierung und Entlassungen. Als Resultat wurden kurzzeitig 50–60% der Belegschaft entlassen und die Löhne um bis zu 70% gekürzt. Obwohl Währungstheoretiker und die jüngere Wirtschafts- und Sozialgeschichte heute insgesamt zu dem Urteil kommen, dass es sich bei der sogenannten „Großen Depression“ mehr um eine zyklische Schwankung sowie um eine Deflation und nicht um eine Inflation handelte, bei der starke Rückgänge nur in einzelnen Industriezweigen und Branchen zu verzeichnen waren, so ändert dieses ex post-Wissen nichts daran, dass diese Phase von den euphorisierten Zeitgenossen des Booms als massive Zäsur wahrgenommen wurde.
Börsenkrach
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Zollpolitik
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Als Ausweg kamen nach dem zeitgenössischen Kenntnisstand sowohl eine antizyklische Fiskalpolitik zur Preisstabilisierung als auch die sich widersprechenden Maßnahmen des Protektionismus und der massiven Exportsteigerungen in Betracht. Für den deutschen Fall schied eine fiskalpolitische Lösung aber aufgrund der föderalen Finanzstruktur des Reiches aus. Finanzpolitisch war das Reich in Bismarcks Worten ein „Kostgänger der Einzelstaaten“ und damit nicht in der Lage, über Steuern konjunkturelle Schwankungen aufzufangen oder gegenzusteuern. Es lebte im Wesentlichen von den Matrikularbeiträgen seiner Bundesstaaten. Übrig blieben somit nur Preiskontrolle über Zölle und Exportsteigerung. Die deutsche Außenpolitik konnte davon nicht unberührt bleiben. Mehrheitlich gegen die Einführung von Zöllen waren zunächst große Teile der Bürokratie wie auch des Reichstages, des preußischen Landtages und ausgerechnet die Agrarier, inklusive Bismarcks. Während seine Regierung noch im Dezember 1876 die Meinung vertrat, dass es nicht in der Macht des Staates läge, zyklische Stagnationen zu beheben, formierten sich auf Seiten der konzentrierten Industrie die ersten pressure groups wie der LangnamVerein 1871, der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller 1873 oder Kartelle mit dem Ziel horizontaler, protektionistischer Absprachen. Wirksam gebündelt wurden die Forderungen nach Schutz gegenüber ausländischer Konkurrenz schließlich seit 1876 vom Centralverband deutscher Industrieller als Dachorganisation. Die dabei vorgetragenen Argumente schienen keineswegs abwegig, schließlich führten sie nicht nur die Vereinigten Staaten als Beispiel eines Hochzolllandes an, sondern verwiesen auch auf drohende soziale Unruhen aufgrund von Massenarbeitslosigkeit. Darüber hinaus führten sie die international zu beobachtende Isolierung des Reiches während der „Krieg-in-Sicht“-Krise ins Feld. Vor allem diese Krise, so wurde argumentiert, hätte doch einmal mehr eindrucksvoll vor Augen geführt, wie sehr Deutschland eine funktionierende und unabhängige Schwer- und Rüstungsindustrie benötige. Tatsächlich setzte bei Bismarck, der bis dahin einer strikten Trennung von Außen- und Wirtschaftspolitik das Wort redete, ab Mitte der 1870er-Jahre ein Prozess des Umdenkens ein, der ihn letztlich zu einer bis heute vielfach thematisierten Volte hin zu einer aktiven Schutzzollpolitik bewog. Beide Albträume, sowohl der cauchemar des coalitions als auch der cauchemar des révolutions schienen Mitte der 1870er-Jahre nicht mehr unwahrscheinlich. Die politische Zusammenarbeit der drei Kaiserreiche schien erschüttert, was ihm tatsächlich noch einmal die Bedeutsamkeit innenpolitisch stabiler Verhältnisse und einer schlagkräftigen Rüstungsindustrie vor Augen führte. Aber auch innenpolitisch schien die Unterstützung der Liberalen zunehmend unsicher und die Lage insgesamt eher instabil. Abgesehen von der hausgemachten Anspannung durch den Kulturkampf war Bismarck bislang auch mit seinem großen Anliegen einer Finanzreform nicht zuletzt an den Liberalen gescheitert. Der Kulturkampf bezeichnet die Auseinandersetzung zwischen dem preußischdeutschen Kaiserreich, insbesondere den Liberalen, Bismarck und der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. (1792–1878) und der katholischen Zentrumspartei. Nach der Reichsgründung ging es dabei vornehmlich darum, die Eigenstän-
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digkeit und Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat zu brechen. Vor allem im sogenannten Ultramontanismus, d.h. die von einer besonders konservativen Ausprägung des Katholizismus geforderte Einheit von Kirche und Staat, bei dem der Papst dem Unfehlbarkeitsdogma folgend auch als weltliches Oberhaupt angesehen worden war, sah Bismarck eine Gefahr sowohl im Innern wie auch bei der autonomen, strikt nach Interessen auszurichtenden Außenpolitik. Dies betraf insbesondere die Haltung gegenüber den katholisch geprägten Staaten Frankreich und Österreich. Die strikte Trennung von Kirche und Staat war für Bismarck nicht verhandelbar und er erließ zahlreiche Gesetze gegen die als „Reichsfeinde“ bezeichneten Katholiken. Erst gegen Ende 1878 näherten sich Staat und katholische Kirche wieder einander an und beendeten den Kulturkampf.
Als zum Jahreswechsel 1876/77 die Wirtschaftskrise auch den bis dahin für den Freihandel plädierenden Agrarsektor erreichte, schien die Möglichkeit einer konservativen Wende gegeben. Gleichzeitig hatte neben den bereits bestehenden, aber noch relativ moderaten Zöllen Österreichs, nun auch Russland Anfang Januar 1877 damit begonnen, Prohibitivzölle gezielt gegen die deutschen Industrieexporte zu erheben und damit nochmals deutlich die Lösung über Exportsteigerungen illusorisch werden lassen. Schließlich tendierte auch Frankreich unter Adolphe Thiers im protektionistischen Lager und somit außerhalb des noch unter Napoleon III. geschlossenen Handelsvertragssystems. Zwischen 1877 und 1879 stimmte die französische Legislative für die sukzessiven Übergang zu hohen Schutzzöllen. Die USA verhängten derart hohe Schutzzölle, dass nur noch die überlegene britische Industrie Zugang zum amerikanischen Markt erhielt. Gegenüber dem ihm nahestehenden freikonservativen Industriellen, Wilhelm von Kardorff (1828–1907), erklärte sich der Kanzler nun als vom Freihandel „bekehrt“. Auch die ostelbischen Gutsbesitzer hatten sich inzwischen längst für den Schutz gegen die billigen Agrarimporte begeistern können und selbst 1876 eine Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer gegründet. Mit den Konservativen, dem katholischen Zentrum, den Freikonservativen, den Rechtsliberalen, dem Centralverband deutscher Industrieller, dem Deutschen Handelstag und den Ostelbiern im Rücken hatte der Reichskanzler eine neue Mehrheit gefunden, um die lange angestrebte und zuletzt gescheiterte Finanzreform nochmals anzustreben. Die Steuer- und Zollpolitik blieb für Bismarck jedoch vor allem ein taktisches Instrument. Seine Nachfolger, insbesondere Leo von Caprivi, so wird hier noch zu zeigen sein, gestanden der Wirtschaftsaußenpolitik angesichts einer ersten Globalisierungswelle eine wesentlich wichtigere Rolle zu. b) Nationalismus Zu den wesentlichen Bewegungskräften mit einem direkten außenpolitischen Bezug gehörte im langen 19. Jahrhundert zweifellos der Nationalismus. Seit der Französischen Revolution und den sogenannten Befreiungskriegen war es den europäischen Nationalbewegungen in unterschiedlichen Modellen und Ausprägungen um die jeweilige Identifikation, Zusammenfassung und Abgrenzung der Nationen gegangen. Für Deutschland stellte sich seit dem Wiener Kongress die Frage einer nationalen Einigung im kleindeutschen oder großdeutschen Sinne, als Vorläufer oder Folge
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größerer Freiheitsrechte. Nach dem Höhepunkt der Revolutionen von 1848/ 49, ging der vormals als revolutionär bekämpfte Nationalismus eine Welten bewegende Symbiose mit dem alten Machtstaatsdenken ein. Als ehemalige Repräsentanten der alten Ordnung erkannten Politiker wie Cavour, Napoleon III. oder Bismarck die enorme Mobilisierungsgewalt des Nationalismus. Unter dem Motto „Revolutionen lieber zu machen, als sie zu erleiden“, nutzten sie die neuen Kräfte für ihre Interessen- und Machtpolitik. Während Cavour beispielsweise die italienische Bevölkerung im Namen der nationalen Vereinigung gegen Österreich aufwiegelte, erhob Napoleon III. das Nationalstaatsprinzip zu seinem außenpolitischen Programm. Einmal entfacht, kam es jedoch darauf an, die nationalen Energien und öffentlichen Emotionen zu bändigen und zu kanalisieren. Anders als Cavour oder Bismarck vermochte Napoleon genau dies nicht. Bismarck wiederum verstand es geradezu meisterhaft mit den nationalen Kräften zu spielen, wie vor allem bei der Betrachtung der Epoche der Einigungskriege deutlich wird. 1859 missachtete er geradezu demonstrativ die nationale öffentliche Meinung, als er zunächst die Hilfeleistung für Österreich im Bundestag nicht nur unterließ, sondern sie demonstrativ untergrub. Sieben Jahre später trieb er seinen Konfrontationskurs noch auf die Spitze, indem er gegen die nationale Stimmung einen Bruderkrieg gegen Österreich vom Zaun brach. Gleichzeitig instrumentalisierte er die nationalliberalen Kräfte, wenn er etwa beim Bundestag allgemeine Wahlen forderte (1866), um die österreichischen Bundesreformpläne zu torpedieren. Wie Cavour in Italien, so versuchte er 1866 national-revolutionäre Kräfte in Italien und Ungarn gegen die Habsburgermonarchie in Stellung zu bringen. Nach Königgrätz allerdings schwamm Bismarck auf der nationalen Welle. So etwa in der Luxemburgkrise 1867 oder im Krieg gegen Frankreich 1870/71. Frühzeitig stand für ihn fest, dass Kriege nicht länger als reine Kabinettskriege zu führen seien, sondern nur noch aus Gründen, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung getragen würden. Statt der großdeutschen Lösung, gelang wenigstens die kleindeutsche, statt Freiheit vor Einheit, war es die Lösung „von oben“, ausgedrückt in der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Aber immerhin: die Nationalbewegung fühlte sich im Bündnis mit der preußischen Regierung am Ziel. Erstmals ging es nicht mehr nur um zukünftige Vorstellungen, sondern um das Erreichte und darum, dieses zu bewahren. Gleichwohl mischten sich Bedenken unter die Jubelnden. Statt die Einigung mit dem bescheidenen Blick in die Vergangenheit zu schätzen, so stellte Jacob Burckhardt bereits frühzeitig fest, werde die gesamte Geschichte nun „siegesdeutsch angestrichen“. Auch Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Theodor Mommsen (1817–1903) sorgten sich vor einem nicht „endenwollenden Triumphgeschrei“. Bismarck gelang es, den „furor teutonicus“ nach 1871 mit der Losung der Saturiertheit wieder einzufangen, nur um Mitte der 1880er eine neue Triebkraft zunächst abzulehnen, dann zu fördern und wenig später wieder abzulehnen: den Kolonialismus und das frühe Weltmachtstreben. Wieder versuchte der Reichskanzler den Zeitgeist für seine Zwecke zu nutzen und zu kanalisieren. Die einmal geschürten Bewegungskräfte ließen sich jedoch immer weniger beherrschen. Längst hatte sich das Gefühl verstetigt, dass die kleindeutsche Lösung bei allem Jubel nur eine unvollendete Nation erbracht hatte, mit Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen und mit nicht-
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deutschen Minderheiten innerhalb. Zudem schien die Einigung zu spät gekommen zu sein. Um in der Welt Schritt zu halten, so schien es, musste man auch außerhalb Europas aktiv werden. Der Nationalismus der Reichseinigung verband sich schließlich gegen Ende des Jahrhunderts mit dem evolutionsbiologischen Denken des Sozialdarwinismus zur Weltreichslehre. c) Öffentliche Meinung, Pressepolitik und Diplomatie Mit dem Nationalismus, der mit der fortschreitenden Alphabetisierung und Demokratisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einem Massenphänomen wurde, geht auch die Bedeutungszunahme der öffentlichen Meinung insgesamt einher. So sehr sich Bismarck darüber bewusst zeigte, dass die öffentliche Meinung nicht mehr aus der Politik wegzudenken war und eine Rückkehr zur klassischen Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts illusorisch war, so wenig war er bereit, seinen Kurs nach den allgemeinen Stimmungslagen in der Bevölkerung auszurichten. Von „dreihundert Schafsköpfen“, wie er die zahlreichen Berliner Pressevertreter in einer Reichstagsrede zur orientalischen Frage wenig respektvoll titulierte, wolle er seine Politik nicht bestimmen lassen [8.2.1878]. Das Verhältnis Öffentlichkeit und Außenpolitik in der Ära Bismarck beschreibt daher einen wichtigen, bis heute noch nicht ausreichend erforschten, Spannungsbogen. Bismarck selbst suchte und adressierte die Öffentlichkeit in seinen Bundestagsreden in Frankfurt oder später im Reichstag. Stets galt es jedoch, sich sorgsam über die Ziele und Wirkungen im Vorhinein im Klaren zu sein. Von Beginn an wirkte die öffentliche Meinung nicht nur regional, sondern auch über Grenzen hinweg. Sie stand bereits im Wechselverhältnis zu den öffentlichen Meinungen anderer Länder, wie gerade auch das Beispiel sich gegenseitig aufschaukelnder Nationalismen etwa zwischen Italien und Österreich oder zwischen Deutschland und Frankreich in den 1860er- und 1870er-Jahren belegen. Ausdruck fand die öffentliche Meinung dieser Jahre insbesondere in Druckerzeugnissen jeder Art. Gerade das Zeitungswesen machte in diesen Jahren eine rasante Entwicklung durch. Spätestens seit der Jahrhundertmitte waren die Deutschen zu einem „Volk von Zeitungslesern“ geworden. Ermöglicht wurde diese Leserevolution nicht nur durch die allgemeine Alphabetisierung seit Jahrhundertbeginn, sondern zudem durch eine Revolution der Kommunikationswege, die das Verhältnis von Presse und Politik gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einschneidend veränderte. Zunächst die Eisenbahn, dann die Telegrafie, später das Telefon und der Funkverkehr verkürzten den Zeitraum zwischen einem Ereignis und seiner Berichterstattung, zunächst von Wochen auf wenige Tage, später auf Stunden oder gar Minuten. Gleichzeitig erlaubte die Verbesserung der Drucktechnik die raschere und zugleich massenhafte Publikation von Zeitungen und Flugschriften, die über stetig weiter perfektionierte Vertriebswege immer schneller in die Hände der Leser gelangten. Meinungen bildeten sich immer schneller und ließen sich immer weniger steuern. Von Otto von Bismarck ist nicht nur bekannt, dass er selbst für die 1848 gegründete Neue Preußische Zeitung, die sogenannte Kreuzzeitung journalistisch tätig war, sondern dass er zeitlebens auch ein leidenschaftlicher Zeitungsleser war, den Besucher mitunter in einem Meer von Zeitungen antrafen.
Öffentlichkeit und Außenpolitik
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II. Offiziöse Pressepolitik
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Es wäre aber verfehlt, daraus zu schließen, dass Zeitungen den außenpolitischen Kurs in der Bismarckära beeinflussten oder einzelne Journalisten gar in den Arkanbereich der politischen Entscheidungsprozesse vordrangen. Im Unterschied zu England und Frankreich sind diese Tendenzen für Deutschland erst ab Ende der 1890er-Jahre allmählich zu beobachten. Im Zeitalter Bismarcks verlief die Beeinflussung noch eher umgekehrt in Form einer gezielten Pressepolitik. Die Presse diente Bismarck dabei im Wesentlichen als Medium seiner außenpolitischen Zielsetzung, sowohl in Richtung der eigenen Bevölkerung als auch gegenüber dem Ausland. Hatte sich der Kanzler entschlossen, einen Artikel über ein außenpolitisches Thema zu veröffentlichen, so kontaktierte entweder er selbst seinen Presseagenten Moritz Busch (1821–1899), der gleichzeitig redaktioneller Leiter der Leipziger Wochenschrift Die Grenzboten war, vertraute Journalisten wie Constantin Rößler (1820–1896), oder er befahl seinen Mitarbeitern in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, den Kontakt zu diversen Blättern, namentlich der sogenannten Regierungspresse, der Norddeutsche[n] Allgemeine[n] Zeitung, der Kölnischen Zeitung, oder der Post herzustellen. Seit 1871 oblag diese Aufgabe einem eigens dafür bestellten Pressedezernenten im Auswärtigen Amt. Bis 1877 hatte diese Funktion Ludwig Aegidi (1825–1901) inne, danach folgte der ehemalige Kriegsberichterstatter der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Rudolph Lindau (1829–1910) als Pressereferent der Reichskanzlei. Für die Lancierung bestimmter Artikel, insbesondere nach dem Debakel um die „Krieg-in-Sicht“-Krise (1875) griff Bismarck jedoch in der Regel auf engste Vertraute, wie die Diplomaten Joseph Maria von Radowitz (1839–1912) oder seinen Schwiegersohn Kuno Graf zu Rantzau (1843–1917) zurück. Unzweifelhaft gab er jedoch bei allen Pressemanövern die Richtung vor. Prominenteste Beispiele sind dabei sicher die bereits behandelte Emser Depesche (1870) oder die noch zu thematisierende Krieg-in-Sicht-Krise (1875). Aber auch Ende der 1870er- und zu Beginn der 1880er-Jahre nutzte der Reichskanzler immer wieder die offiziöse Presse, um bestimmte Nachrichten und Meinungen zu lancieren und außenpolitische Wirkungen und Reaktionen zu provozieren. Besonders offensichtlich wird dies am Beispiel seiner Russlandpolitik nach dem Berliner Kongress (1878). Hatte Radowitz die Presse schon während des Kongresses als „siebente Großmacht“ empfunden, so nutzte der Kanzler nun die Printmedien als zusätzliches Kommunikationsinstrument, um seinen außenpolitischen Kurs zu flankieren und zu unterstützen. Bestellte Artikel sollten dabei zunächst die russische Enttäuschung über den Kongressausgang beschwichtigen. Später, nachdem sich die russische Haltung gegenüber Deutschland verhärtet hatte, schwenkte er auf einen Konfrontationskurs ein, der auch anhand seiner Pressepolitik gut nachzuvollziehen ist. Bismarcksche Pressepolitik (Auszug) Aus: Moritz Busch, 27.2.1879, Tagebuchblätter, Bd. 2, Leipzig 1899, S. 552ff. Sie wissen, wie der Golos [russische Zeitung, A.R.] fortwährend gegen unsre Politik und meine Person losgeht, und wie er behauptet wir wären undankbar gewesen bei dem Berliner Kongresse, und wie er ein Zusammengehen Rußlands mit Frank-
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reich empfiehlt. Das ist aber Gortschakow und Jomini, und das muß in unsre Presse gebracht werden, und es muß Gortschakow charakterisiert und nachgewiesen werden, was wir Rußland in den letzten fünfzig oder sechzig Jahren zu danken oder nicht zu danken hatten, und was wir für Rußland gethan haben in dieser Zeit. […] Und wenn wir ihnen dennoch dank schuldeten, so haben wir ihn 1870 abgetragen in London. Wir haben ihnen die Freiheit des Schwarzen Meeres verschafft. […] Er hielt einen Augenblick inne, […], während ich mit einem seiner großen Bleistifte auf dem Tische nachschrieb: Gortschakow treibt nicht russische Politik, die auf uns als Freunde hinweist, sondern persönliche. Er will immer glänzen und gelobt werden, von der fremden Presse […]. Dabei kann eingeflochten werden, daß er eigentlich ein dummer Politiker gewesen ist. Selbstthätig war er nur in den letzten vier Jahren. Die sind Vorbereitungen auf den türkischen Krieg gewesen, und da kann man nicht sagen, daß er den besonders geschickt eingeleitet hat. […] Was hat er das halbe Jahr […] gethan? – Weiber, Harfenmädchen haben ihn mehr in Anspruch genommen – den alten Gecken – als die Geschäfte. […] Die Unterredung hatte über eine halbe Stunde gewährt. […] Ich ging danach ins Auswärtige Amt, wo mir Bucher [Lothar Bucher, A.R.] die Akten mit dem Blowitzschen Timesartikel zur Abschrift gab. Drei Tage darauf war der vom Chef gewünschte Aufsatz, dem ich den Titel „Gortschakowsche Politik“ gab fertig, und am 6. März sandte ich ihn dem Fürsten [Bismarck, A.R.] in einer Korrekturfahne zu und hatte die Freude, zu finden, daß von seinen neun Seiten nur etwa siebzehn Zeilen gestrichen worden waren. Er erschien dann in Nummer 11 der Grenzboten und ging aus diesen auszugsweise in die gesamte europäische Presse über. Besonders lebhaft diskutierten ihn die englischen und die russischen Journalisten, […], so daß anzunehmen ist, daß der Chef seinen Zweck damit in befriedigender Weise erreichte.
Mit allen Mitteln und eben auch der Pressepolitik sollte St. Petersburg zur Rückkehr zur Dreikaiserpolitik bewogen werden. „Für jede Regierung“, erklärte er in dieser Zeit, sei „die Vertretung ihrer Interessen in der Presse auf dem Gebiete der auswärtigen Beziehungen wünschenswert“. Gegenüber seinem St. Petersburger Botschafter, Lothar von Schweinitz, bezeichnete er die Öffentlichkeit gar als die „beste Waffe“ im Umgang mit dem Zarenreich. Auch wenn die Presse in der Ära Bismarck noch keinen direkten Zugang zu den politischen Entscheidungsprozessen im Kaiserreich hatte und deshalb auch noch nicht als eigenständiger politischer Akteur auftrat, so war sich der Kanzler des stetig wachsenden Einflusses der öffentlichen und veröffentlichten Meinung durchaus bewusst und bezog sie in sein politisches Kalkül mit ein. Geschickt operierte er über öffentlichkeitswirksame Auftritte und Reden im Reichstag bzw. gezielte Indiskretionen. Wiederholt instrumentalisierte er die Presse über vertraute Journalisten und Pressereferenten, lancierte Nachrichten oder setzte Gerüchte in die Welt. Bedeutete die öffentliche Meinung und ihre Lenkung über die Presse noch eines von mehreren politischen Instrumenten, so sahen sich seine Nachfolger einer immer selbstbewussteren Presse und Öffentlichkeit gegenüber, die sich nicht selten sogar als Mitspieler im internationalen Spiel der Kräfte verstand. Ob Bismarck diese Entwicklung bedachte, als er in der Morgenausgabe der Hamburger Nachrichten am 24. Oktober 1896 den bis dahin geheimen Rückver-
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sicherungsvertrag veröffentlichte und der deutschen Außenpolitik damit einen irreparablen Schaden zufügte, ist allerdings bis heute strittig.
3. Das Kaiserreich im System der Großmächte a) Die neue Mächtekonstellation Die „deutsche Revolution“ des Staatensystems
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Zwischen dem Oberitalienischen Krieg 1859 und der Einigung Deutschlands 1871 hatten sich die Grundlagen der Wiener Staatenordnung revolutioniert. An die Stelle des bis dahin schwächsten Gliedes der europäischen Pentarchie, Preußen, trat nun das Deutsche Reich als neues Gravitationsfeld in der Mitte des Kontinents. Demografisch, ökonomisch und militärisch hatte es das Potenzial, die bis dahin etablierten Großmächte in den Schatten zu stellen. Systemisch beeinflusste allein seine Existenz das freie Spiel der Kräfte entscheidend, insbesondere der beiden bis dahin dominierenden Flügelmächte England und Russland. Damit waren automatisch aber auch die außereuropäischen Beziehungen betroffen. Genau diesen Weltzusammenhang meinte Benjamin Disraeli, wenn er als konservativer Oppositionsführer im englischen Parlament die liberale Regierung William Gladstones (1809–1898) kritisierte, die „deutsche Revolution“ durch Naivität sowie falsch verstandener Neutralität und Passivität während der Einigungskriege gefördert und dabei die europäischen wie globalen Auswirkungen übersehen zu haben. Die revolutionäre Umgestaltung der Mächtebalance, die er in ihren Konsequenzen für weitreichender hielt als die Französische Revolution, bedeutete nämlich für England nicht nur eine zeitweilige Entlastung vom Erzrivalen Frankreich und die Beseitigung Napoleons III. Disraeli blickte bereits weiter in die Zukunft. Die Machtverdichtung in Zentraleuropa unter dem Slogan des legitimen Nationalstaatsprinzips sei dabei nur eine Seite einer gänzlich neuen Medaille. Auf deren anderen Seite fände sich eine für das neue Kaiserreich naheliegende, ja geradezu zwingende deutsch-russische Kooperation. Damit wiederum verband er nicht nur die Sorge vor einer dual gegliederten Hegemonie in Europa, sondern vor allem die Gefahr eines erhöhten russischen Drucks auf das britische Weltreich. Ein solcher drohe insbesondere im Nahen und Mittleren, langfristig aber auch im Fernen Osten, wenn sich das Zarenreich von nun an verstärkt auf einen Zugang zum Mittelmeer und auf Zentralasien konzentrierte und dafür weniger auf die europäische Mitte. Tatsächlich schien bereits einiges auf eine künftige Zusammenarbeit Berlins mit St. Petersburg hinzudeuten. Nachdem Preußen dem Zaren bei der Bekämpfung der polnischen Aufstände 1863 zu Hilfe gekommen war und sich der Zar dafür mit seiner „bewaffneten Neutralität“ vor allem im Deutschen Krieg revanchiert und mit dafür gesorgt hatte, dass es zu keiner internationalen Einmischung gekommen war, unterstützte Bismarck Russland wiederum bei dessen einseitiger Aufkündigung der Schwarzmeerklausel von 1856, die das Schwarze Meer neutralisiert eine Durchfahrt russischer Kriegsschiffe durch die Meerengen ins Mittelmeer verboten hatte. Hinzu kam, dass Russland
Das Kaiserreich im System der Großmächte mit Deutschland einen wichtigen Handelspartner gewann, der mit seinen industriellen Erzeugnissen dem vorwiegend agrarisch orientierten Zarenreich bei der dringend nötigen Modernisierung half. Russland wiederum konnte Deutschland mit ländlichen Erzeugnissen und Rohstoffen versorgen. Wenn sich beide Mächte einig waren und Russland in dem neuen Deutschland nicht länger den alten preußischen Juniorpartner und Erfüllungsgehilfen erblickte, schien also ihre Doppelhegemonie über Europa durchaus im Bereich des Möglichen. Für Disraeli konnte sich dies nur zu Lasten Großbritanniens auswirken. Vieles hing dabei aber auch davon ab, wie schnell sich die beiden Verlierer von 1866 und 1871, Österreich und Frankreich, neu orientierten. Frankreich erholte sich erstaunlich schnell von seiner Niederlage gegen Deutschland. Vor allem die finanziellen Lasten der Reparation wurden schneller als erwartet beglichen. Schwerer wog dagegen der Verlust ElsassLothringens. Als Symbol des verlorenen Krieges und nachhaltiger Stachel im Fleisch einer Nation, sollte es die deutsch-französischen Beziehungen dauerhaft vergiften. „Wir sind“, so brachte es Friedrich von Holstein (1837–1909) Mitte der 1880er-Jahre auf den Punkt, „tatsächlich durch Frankreich immobilisiert“. Neben dem traditionellen anglo-russischen Gegensatz in der Welt trat nun der deutsch-französische Gegensatz als neue Konstante des Staatensystems hinzu. Österreich wiederum hatte bereits mit dem „Ausgleich“ von 1867 zwischen seinen deutschen und magyarischen Reichsteilen und der Gründung einer österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie neue Weichen gestellt. Statt sich, wie von einigen Militärs gefordert, auf eine Revanche und Rückkehr nach Mitteleuropa zu versteifen, fand sich Wien relativ schnell mit den neuen Gegebenheiten ab und konzentrierte sich fortan auf die Absicherung seines Bestandes in Südosteuropa. Beinahe zwangsläufig geriet die Doppelmonarchie damit auf Konfrontationskurs zu dem von Russland gedeckten panslawistisch-nationalistischen Strömungen der kleineren Balkanstaaten. Es suchte Rückhalt im neuen Deutschen Kaiserreich und stand einer Aussöhnung positiv gegenüber. Neben das nun grundsätzlich vorherrschende Nationalstaatsprinzip gesellten sich also weitere Gegensätze, mit denen die Mächte fortan als feste Konstanten im internationalen Gefüge rechnen mussten. Deutschland, das war ein unabänderlicher Hauptbelastungsfaktor, lag geografisch in der Mitte all dieser Spannungen. Auf der Basis der Bedrohungsszenarien und Gegensätze war eine Koalition der anderen Mächte gegen das Zentrum nicht unwahrscheinlich. Das provozierte in den Berliner Entscheidungszirkeln das Trauma einer ständigen Einkreisungsgefahr. In der Mitte des Kontinents gelegen, war das Kaiserreich überdies stets in Gefahr, in allzu große Abhängigkeiten zu geraten, um einkreisende Verbindungen gegen sich zu verhindern. Andererseits, das hatten die Einigungskriege den anderen Mächten gelehrt, war Preußen-Deutschland aufgrund seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl, seiner offensichtlichen militärischen und wirtschaftlichen Potenz ein neues Gravitationszentrum. Stärker als jede einzelne der vier Großmächte, zumindest im kontinentalen Maßstab, aber doch nicht stark genug, um sich im Alleingang zu behaupten, hatte das Reich von nun an die sogenannte „halbhegemoniale Stellung“ inne.
II.
„Halbe Hegemonie“
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Das neue Reich in der Mitte Europas
II.
Für Bismarck kam es darauf an, die Gegensätze der Mächte möglichst unter Kontrolle zu halten und Optionen für die eine oder andere Seite zu vermeiden. Erschwerend kam hinzu, wie Graf Gyula Andrássy (1823–1890) als Konsequenz aus den nationalen Einigungskriegen Italiens und Deutschlands geschlossen hatte, dass das Legitimitätsprinzip der Wiener Ordnung der Vergangenheit angehörte. In den Staatenbeziehungen, so Andrássy, regiere fortan das Faustrecht. Innerhalb dieses schwierigen Umfeldes musste sich das neue Reich einordnen und seinen Platz finden. b) Wahlchancen in der „halb-hegemonialen“ Stellung
Konvenienzpolitik
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Welche außenpolitischen Wahlmöglichkeiten ergaben sich aus den Gegebenheiten für das neue Reich und dessen „ungeschickte Größe“ (S. Haffner) in der Mitte Europas? Obgleich Bismarck das geeinte Deutschland schnell und vorsorglich mit Blick auf eine mögliche internationale Intervention als „saturiert“ bezeichnet hatte, war es durchaus offen, mit welchen Mitteln und Methoden das Ziel einer langfristigen Sicherung der 1871 gewonnenen Position am besten zu gewährleisten sei. Vor dem Hintergrund des geschilderten Grundgerüsts der Staatenbeziehungen ergaben sich dabei im Wesentlichen vier verschiedene, aber in sich immer wieder überlappende Wege, das Reich als festen Bestandteil des Großmächtesystems zu etablieren und eine deutschfeindliche Allianz der Rivalen, insbesondere um Frankreich zu verhindern. Denkbar war erstens das Mittel der groß angelegten Kompensationen. Dabei konnten im Stile einer klassischen Konvenienzpolitik, die als Regulativ des Gleichgewichts bereits seit dem 18. Jahrhundert stabilisierend zur Anwendung gekommen waren, die Einflusssphären der Großmächte auf Kosten der Klein- und Mittelstaaten ausgeglichen werden, um den großen Krieg zwischen den Pentarchiemächten zu vermeiden. Das Problem bei dieser vor allem gegenüber Frankreich und Russland naheliegenden Lösung, war zum einen, dass schon die Reichsgründung selbst die in der Wiener Ordnung vorgesehene Pufferzone des Deutschen Bundes hatte wegfallen lassen und weitere Manövriergebiete nur noch begrenzt vorhanden waren, zumal Elsass-Lothringen nicht zur Disposition stand. Die Möglichkeit, Frankreich mit Belgien oder Luxemburg zu entschädigen, war bereits im Vorfeld des Krieges ergebnislos ausgereizt worden und wäre mit Sicherheit am Widerstand Englands gescheitert. Zum anderen hätte eine Entschädigung Russlands in Südosteuropa, Deutschland leicht wieder in die alte Rolle Preußens als abhängigen Juniorpartner des Zarenreiches gebracht. Eine solche aber widersprach sowohl dem neuen Selbstverständnis und Selbstvertrauen einer souveränen Großmacht, als auch dem neuen Potenzial des Deutschen Reiches. Darüber hinaus deuteten sich bereits frühzeitig panslawistisch-nationalistische Tendenzen im zaristischen Russland an, die dessen weiteren Expansionsdrang wahrscheinlich machten. Derlei Entwicklungen galt es jedoch sowohl im Sinne der europäischen Stabilität als auch für die deutsche Sicherheit entgegenzuwirken. Einen daraus resultierenden Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Russland musste vermieden werden, hätte er doch den Zwang bedeutet, sich für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen. Mit Blick auf das Zarenreich blieben daher als Kompensa-
Das Kaiserreich im System der Großmächte tionsmittel lediglich die Meerengen und der lang ersehnte Zugang zum Mittelmeer. Bismarck hatte diese Karte bereits bei der Londoner Pontus-Konferenz gespielt. Allerdings waren auch hier die Möglichkeiten einer Kompensation beschränkt. Sie hätte unweigerlich die Gegnerschaft Englands auf den Plan gerufen, denn eine russische Mittelmeerflotte bedrohte mit Blick auf den anglo-russischen Weltgegensatz nicht nur die maritime Suprematie der Royal Navy im Mittelmeer, sondern auch den Seeweg nach Indien durch den Suezkanal. Was blieb und was zumeist als gesonderte Option beschrieben wird, war die Ablenkung von Spannungen an die europäische Peripherie bzw. die außereuropäische Kompensation: die Förderung der französischen Kolonialpolitik, wie es Bismarck etwa in den 1880er-Jahren versuchte, oder die Interessenförderung der anderen Mächte im Vorderen Orient. Dort sollten sich vor allem Österreich-Ungarn, England und Russland mit der Konkursmasse des Osmanischen Reiches befassen und so Deutschland einerseits vom Zweifrontendruck entlasten und ihm andererseits die Rolle eines anerkannten Vermittlers einbringen. Der fortwährende Spagat bedeutete jedoch ein ständiges auf der Hut sein, sich nicht von den Interessen der anderen vereinnahmen und womöglich zwischen den Parteien zerrieben zu werden. Die zweite Handlungsoption deutscher Außenpolitik nach 1871 war die „Flucht nach vorn“: die Aufsprengung der prekären Mittellage durch eine präventive und auf Dauer angelegte Ausschaltung des Erzfeindes Frankreich bzw. partikulare Schläge gegen einzelne isolierte Gegner wie es vor allem die militärische Elite um Feldmarschall Helmuth von Moltke d.Ä. und Alfred Graf von Waldersee gerade in den 1880er-Jahren immer wieder vorschlagen sollte. Ein solcher Griff nach der kontinentalen Hegemonie nahm die Politik aus der Epoche der Reichsgründung wieder auf, bedeutete aber gleichzeitig das Risiko von Gegenbündnissen, namentlich der Flügelmächte. Bismarck schloss diese Option nicht aus, wie er überhaupt keine Option je gänzlich ausschloss, aber er erkannte schnell die etwaigen existentiellen Gefahren, die sich aus einem erneuten Krieg und einer erneuten Änderung des Status quo ergeben konnten. Keine Frage, eine friedliche, wenn auch komplizierte Außenpolitik war stets dem Vabanquespiel des Krieges vorzuziehen, der nur ihr allerletztes Mittel darstellen konnte. Man darf sich jedoch nicht täuschen: Kriegsbereitschaft zu signalisieren, gehörte stets zu einem probaten Mittel, einen Waffengang abzuwenden. Eine weitere denkbare Strategie war drittens die Idee einer Einbindung Deutschlands in eine Mächtekonstellation, im Idealfall zu dritt. Diese Idee folgte weder dem klassischen Gleichgewichtsmodell noch zielte sie auf die Errichtung eines monolithischen Sicherheitsblocks. Vielmehr ging es um eine geteilte Hegemonialordnung zur Steuerung der Mächtebeziehungen. Denkbar war vor allem das Bündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland. Im Notfall war aber auch bloß eine feste Vereinbarung mit Russland in Form eines gegenseitigen Garantie- und Schutzbündnisses vorstellbar. Sie hätte Deutschland mit einem Schlag von seinem Zweifrontendilemma und dem französischen Revanchedruck befreit. Auf sich alleine gestellt, darüber war man sich in Berlin sicher, würde Paris keinen Krieg riskieren. Allerdings
II.
Ablenkung an die Peripherie
Flucht nach vorn
Geteilte Hegemonie
Zweifrontendilemma
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Das neue Reich in der Mitte Europas
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Mitteleuropäischer Block
Österreichischrussischer Gegensatz
„Spiel mit dem fünf Kugeln“
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musste man dazu Russland nicht nur von den Vorteilen einer Zweierhegemonie über den Kontinent überzeugen, sondern gleichzeitig auch davon, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Das Risiko, wie die Geschichte Preußens lehrte, als Sekundant des Zarenreiches zu enden, war durchaus real. Umso mehr, da sich das Zarenreich auch nach 1871 noch immer und selbstverständlich als die kontinentale Vormacht schlechthin begriff und die für alle sichtbare politische Trumpfkarte in den Händen hielt: den deutschfranzösische Gegensatz. Eine Minimalvariante innerhalb der Blockoption war es, sich mit dem Verlierer von 1866, dem Habsburgerreich, zu einem Sicherheitsblock in der Mitte des Kontinents zu verbrüdern. Diese Option hatte den Charme, an den Deutschen Bund zu erinnern und „daß das Volk dafür war“, wie sich Bismarck einmal ausdrückte. Gleichzeitig bestand jedoch wie im Falle Russlands die Gefahr, entweder in allzu große Abhängigkeit zu geraten oder in die inneren wie äußeren Spannungen des Vielvölkerreiches hineingezogen zu werden. Ein unüberbrückbares Hindernis zu einer deutsch-russischen Kombination „durch dick und dünn“ und anhaltendes Problem zu dritt, blieb der kaum zu überwindende Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Russland. Sowohl der Habsburger Vielvölkerstaat als Regionalmacht auf dem Balkan als auch das nach Südosteuropa drängende, und sich als Schutzmacht der Slawen begreifende Zarenreich standen sich in dieser Region diametral gegenüber. Hinzu traten die traditionellen englischen Interessen zum Status quo an den Meerengen, die ebenfalls in Konflikt zur russischen Expansion nach Südosten standen. Für Deutschland bedeutete eine solche Konstellation, sich womöglich irgendwann zwischen den südosteuropäischen Interessen Österreich-Ungarns und den englischen Interessen an den Meerengen einerseits und den russischen Interessen andererseits entscheiden zu müssen. Würde man seine Rolle zwischen diesen Mächten geschickt ausspielen, so konnte das Reich tatsächlich der lachende Vierte sein. Aber es konnte genauso leicht zwischen den Großmachtinteressen zerrieben werden. In jedem Fall bedeutete ein solcher Kurs eine enorme Energieleistung und ein ständiges Lavieren und Changieren. Demgegenüber schien eine Minimalvariante gemeinsam mit ÖsterreichUngarn zwar weniger wertvoll, aber auch weniger kompliziert, boten sich ihr doch zweifellos historische wie nationalpolitische Anknüpfungspunkte. Bismarck schien diese Variante jedoch stets zu meiden und hielt sich die Option offen, im Extremfall eines drohenden Krieges mit dem Riesenreich Russland, k.u.k.-Interessen auf dem Balkan für einen Frieden zu opfern. Ganz anders dachten dagegen seine Nachfolger. Sie betonten zwischen 1890 und 1914 immer wieder die unverbrüchliche Treue zum Zweibund und entwickelten ihn so vom Bündnis allmählich zum Block. Zu guter Letzt blieb die vierte und letzte Variante: das zumeist verlegen wirkende, aber kunstvoll und raffiniert geführte diplomatische „Spiel mit den fünf Kugeln“, also den fünf Großmächten. Eine enorme Energieleistung war dabei vonnöten, um ein Mächtesystem dauerhaft auszutarieren und unter Kontrolle zu halten, welches sich durch verschiedene innere, wirtschaftliche und globale Entwicklungen immer dynamischer entwickeln sollte. Bismarck betrachtete die Staatenbeziehungen stets als einen „flüssigen Aggre-
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gatzustand“. Es war sein Rezept zur Kontrolle der Staatenordnung, die vorhandenen Spannungen unterhalb der Kriegsschwelle offen zu halten, um die Mächte zu beschäftigen, von der europäischen Mitte abzulenken und gleichzeitig aber des Deutschen Reiches zu bedürfen. Ausdruck fand diese Variante im Bündnissystem der späten 1880er-Jahre.
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III. „Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“ – von der Reichsgründung bis zum Zweibund (1871–1879) 18.1.1871 15.3.–28.4.1871 10.5.1871 September 1872 6.5.1873 6.6.1873 September/ Oktober 1873 22.10.1873 Februar 1875 13.3.1875
9.4.1875 1.10.1876 1875/1876 24.4.1877 15.6.1877 3.3.1878 13.6.–13.7.1878 15.8.1879 7. und 16.10.1879 Maßhalten als Maxime
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Kaiserproklamation in Versailles Aufstand der Pariser Kommune Friede von Frankfurt Ergebnislose Drei-Kaiser-Verhandlungen in Berlin Deutsch-russische Militärkonvention (nicht ratifiziert) Schönbrunner Abkommen zwischen Österreich-Ungarn und Russland Frankreich zahlt vorzeitig seine Reparationen; Abzug der deutschen Besatzungstruppen Beitritt des Deutschen Reiches zum Schönbrunner Abkommen (jetzt: Dreikaiserabkommen) „Mission Radowitz“ Französisches Kadergesetz soll ein qualitatives und numerisches Übergewicht gegen Deutschland sicherstellen Zeitungsartikel „Ist der Krieg in Sicht?“ in der Berliner Post löst eine europaweite Krise aus „Livadia-Affäre“ Orientalische Krise Kriegserklärung Russlands an die Türkei „Kissinger Diktat“ Türkische Niederlage und Diktatfriede von San Stefano Berliner Kongress zur Lösung der Orientkrise „Ohrfeigenbrief“ Zar Alexanders II. Defensiver Zweibund Deutschlands mit ÖsterreichUngarn
Nach der umjubelten Rückkehr aus dem Spiegelsaal von Versailles und der Beendigung des deutsch-französischen Krieges galt es für die deutsche Außenpolitik zunächst, das Erreichte zu festigen, das Reich als neues Mitglied im Großmächtekonzert zu etablieren und die neuen Möglichkeiten als Großmacht im Herzen Europas auszuloten. Otto von Bismarck war sich nur zu gut der kritischen Vorbehalte Englands, Österreich-Ungarns und Russlands bewusst. Er kalkulierte mit einem kaum zu vermeidenden neuen Waffengang gegen Frankreich, dem internationalen Misstrauen gegenüber dem neuen Deutschland und rechnete überdies mit permanenten Versuchen der anderen Mächte, das junge Kaiserreich in ihre bestehenden Konflikte hineinzuziehen und für sich zu instrumentalisieren. Nicht nur an die europäische, sondern auch an die Adresse der siegtrunkenen eigenen Bevölkerung gerichtet, erklärte er daher das Kaiserreich vorsorglich für außenpolitisch „saturiert“. Keine weitere Machtentfaltung, gar ein Griff nach der Hegemonie, sondern demonstratives Maßhalten hieß die Maxime. Niemand wusste besser als er, wie viel Mühe es gekostet hatte, während der Einigungszeit
Die Drei-Kaiser-Politik
III.
eine Intervention von außen zu vermeiden. Dreh- und Angelpunkt war es nun, den sicher erwarteten französischen Revanchedruck zu entschärfen bzw. mit diplomatischen Mitteln auszutarieren. Der Frankfurter Friede wie auch die innere Lähmung Frankreichs bedeuteten zunächst noch eine Phase des Auslotens verschiedener Wege. Bismarck versuchte dabei möglichst, die innere konservative Ausrichtung des Reiches mit dessen äußerem Kurs abzugleichen. Da England weiter eine Politik der Nichteinmischung verfolgte, schien die natürlichste und sicherste Verbindung eine Neuauflage der vormärzlichen Heiligen Allianz, also eine Kooperation mit den beiden anderen konservativen Monarchien, Russland und Österreich-Ungarn, zu sein. In einem System von fünf Großmächten, erklärte er dem russischen Botschafter Peter Saburow (1835–1918), müsse man stets versuchen, auf der Seite von Dreien zu stehen.
1. Die Drei-Kaiser-Politik Das Zarenreich stand von Beginn an im Hauptfokus deutscher Außenpolitik, galt doch der östliche Nachbar als „unbezwingbarer Riese“ und „elementare Kraft“. Nur dank seiner wohlwollenden Haltung, die auch die anderen Mächte zur Passivität gezwungen hatte, war die Reichsgründung überhaupt möglich gewesen. Gemeinsam mit der gedemütigten Grande Nation im Westen hätte es zu einer tödlichen Bedrohung werden können, weshalb es unbedingt von Paris getrennt gehalten werden musste. Das implizierte andererseits aber eine strukturelle deutsche Abhängigkeit. Gleich nach Kriegsende hatte die russische Regierung zu verstehen gegeben, dass sie nun mit deutschen Gegenleistungen, wenn nicht gar mit derselben Unterordnung rechnete, die die preußisch-russischen Beziehungen vor dem Krimkrieg gekennzeichnet hatte. Anlass zu dieser Annahme hatte ausgerechnet der frisch gekürte deutsche Kaiser Wilhelm I. selbst geliefert. In einem Vorgang, der seinesgleichen sucht, hatte er im Frühjahr 1871, kurz nach dem Präliminarfrieden von Versailles, seinem Neffen Zar Alexander II. (1818–1881) per Telegramm versichert: „Nie wird Preußen vergessen, dass es Ihnen verdankt, dass der Krieg nicht äußerste Dimensionen angenommen hat.“ Nicht genug, dass Wilhelm I. damit die Neutralität Russlands als Folge der Alvenslebenschen Konvention von 1863 sowie die entscheidende Unterstützung Bismarcks bei der Londoner Pontus-Konferenz zur Revision des Pariser Friedens von 1856 vergessen machte, der Kaiser unterschrieb „Fürs Leben dankbar“ einen Wechsel für die Zukunft. Der deutschen Diplomatie und namentlich Bismarck hatte er damit einen Bärendienst erwiesen und eine nachhaltige Hypothek aufgebürdet. Denn wie zu erwarten, ließ der russische Kanzler Gortschakow fortan keine Gelegenheit aus, die Berliner Politik an das kaiserliche Telegramm zu erinnern. Fürst Alexander Michail Gortschakow (1798–1883) war ein russischer Diplomat, Außenminister und Kanzler. Als Teilnehmer an den Kongressen von Laibach (1821) und Verona (1822) sowie den Pariser Friedensschlüssen von 1856 war er ohne Zweifel der erfahrenste Außenminister der damaligen Großmächte. Seit
Dreiecksdiplomatie
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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1856 war Gortschakow russischer Außenminister und unterzeichnete am 8.2.1863 die Alvenslebensche Konvention. Als russischer Staatskanzler sorgte er maßgeblich dafür, dass sich Russland während der Einigungskriege wohlwollend neutral verhielt. Als Dank erwartete er eine deutsche Unterordnung. Als diese jedoch ausblieb, wandelte sich das Verhältnis der beiden Kanzler zunehmend in offene Feindschaft, die ihren Höhepunkt in Folge des Berliner Kongresses erfuhr. Letzteren bezeichnete Gortschakow als die „größte Niederlage seiner Laufbahn“ und versuchte sie vor allem seinem Londoner Botschafter, Graf Peter Schuwalow, anzulasten. 1882 wurde Gortschakow von Nikolai von Giers abgelöst.
Um das Reich nicht wieder in die alte Sekundantenrolle Preußens rücken zu lassen, kam es folglich darauf an, dem Zarenreich nicht alleine gegenüberzutreten. Neben Russland wurde deshalb Österreich-Ungarn zur zweiten wichtigen Säule in der deutschen Außenpolitik. Tatsächlich schienen die Chancen zu einer Übereinkunft mit Wien gar nicht so schlecht, hatte sich doch Österreich-Ungarn unter seinem neuen Außenminister Graf Gyula Andrássy erstaunlich schnell mit seinem Ausscheiden aus Deutschland abgefunden. Das bedeutete jedoch auch eine Schwerpunktverlagerung der Wiener Außenpolitik in Richtung Balkan, was zwangsläufig zu einem erhöhten Konfliktpotenzial mit St. Petersburg führen musste. Hier galt es zu vermitteln, denn die Verbindung mit der Habsburgermonarchie diente sowohl der eigenen unabhängigen Existenzsicherung wie auch dem Gleichgewicht im Staatensystem insgesamt. „Nur beritten“, so beschrieb Lothar von Schweinitz später einmal die deutsche Lage als russischer Nachbar, „waren wir ebenso groß wie der russische Riese, und Österreich war als unser Pferd gedacht“. Zu dritt sollte sowohl Frankreich isoliert, die Gefahr eines russisch-französischen Zweifrontendrucks oder die Gefahr einer Koalition der Verlierer von 1866 und 1871 gebannt, als auch die Abhängigkeit von Russland so gering wie möglich gehalten werden. Eine besonders günstige Gelegenheit, die Interessengemeinschaft der drei Monarchien herauszustreichen, hatte sich noch während des Krieges durch den Aufstand der Pariser Kommune im März 1871 ergeben. Für eine kurze, aber entscheidende Phase rückte die allgemeine Revolutions- und Sozialistenfurcht die Sorge vor der neuen deutschen Großmacht in den Hintergrund. Vor allem gegenüber den konservativ-monarchischen Regierungen in Wien und St. Petersburg wollte und konnte Bismarck die französische Republik mit gesellschaftspolitischen Argumenten ins Abseits stellen und so einen ersten gemeinsamen Gesprächsfaden knüpfen. Im Sommer 1872 zeigte sich Bismarck bereits derart zuversichtlich, dass er gegenüber seiner Tochter Marie (1847–1926) tönte, die europäischen Beziehungen „stets in zehn bis fünfzehn Minuten beim Frühstück abgemacht, gekämmt und gebürstet“ zu haben. Tatsächlich schien er die Konstellationen im Griff zu haben. Andrássy hatte sogar bereits im Mai 1871 ein Bündnis offeriert und der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph I. hatte sich gerade erst zu einem Staatsbesuch an der Spree angemeldet. Noch wichtiger aber schien, dass auch Alexander II. den Wunsch äußerte, an der Monarchenbegegnung im Herbst teilzunehmen. Die Gelegenheit zu vermitteln und eine Verbindung zwischen den Monarchien zu erreichen, schien zum Greifen nahe. In Frankreich und Großbritannien spekulierte die Presse bereits, dass sich die drei Kaiser wohl einzig und alleine „mit dem Ziel trä-
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Die Drei-Kaiser-Politik
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fen, neue Kriege vorzubereiten“ [The Times, 6.9.1872]. Tatsächlich brachte die Entrevue aber nichts dergleichen, weder ein Bündnis, geschweige denn eine Blockbildung. Vielmehr wurde bei der Dreikaiserbegegnung Anfang September 1872 offenbar, wie wenig Österreich-Ungarn und Russland bereit waren, die politischen Kriegsschulden Deutschlands mitzutragen und das Kaiserreich zu entlasten. Andrássy und Gortschakow dachten gar nicht daran, enger zusammenzuarbeiten. Vielmehr beschäftigte sie eine gegenseitige, eifersüchtige Kontrolle ihrer Beziehungen zu Berlin. Für die Diplomatie der Donaumonarchie, so hatte der k.u.k.-Außenminister bereits bei einem geheimen Treffen in der Wiener Hofburg Mitte Februar 1872 erläutert, käme es zukünftig darauf an, dafür Sorge zu tragen, dass Österreich nie mehr wie 1859 oder 1866 ganz auf sich alleine gestellt zu kämpfen habe. Da Russland in absehbarer Zeit „seine ganze Macht“ auf dem Balkan gegen die Grenzen Habsburgs aufstellen werde, sei es für Österreich-Ungarn geradezu eine Frage auf Leben und Tod, Preußen von Russland zu trennen. Um Deutschland für eine „Mitaktion“ gegen das Zarenreich zu gewinnen, sei es daher unbedingt nötig, von einer Revanche für Königgrätz abzusehen, den Status quo Mitteleuropas zu akzeptieren und Berlin gegenüber zu garantieren. Da Bismarck aber eine anti-russische Zweierkoalition im Sommer 1871 abgelehnt hatte, schwenkte Andrássy zunächst auf den Kurs einer Dreierverbindung ein. Er selbst gab sich dabei allerdings nicht mit der Rolle eines Juniorpartners zwischen Deutschland und Russland zufrieden. Vielmehr wollte er „die Mitte des Dreiecks“ bilden, um bestehende Differenzen zu nutzen und Bismarck letztlich an die Seite Wiens zu lotsen. Auch Gortschakow versuchte Deutschland in russisches Fahrwasser zu bringen und so war es vor allem der Argwohn, was sich Hohenzollern und Habsburger zu sagen hätten, der ihn zur Reise gemeinsam mit Alexander II. (1818–1881) nach Berlin veranlasste. Der k.u.k.-Außenminister Graf Gyula (Julius) Andrássy (1823–1890) begann seine politische Karriere als ungarischer Revolutionär gegen die Habsburger Vorherrschaft. 1850 wurde er in Abwesenheit zum Tode durch den Strang verurteilt und floh nach Paris. Ohne dass dieses Urteil formal je aufgehoben wurde, durfte er erst 1857 wieder nach Ungarn zurückkehren. Im Exil änderte Andrássy seine Haltung zur ungarischen Frage insbesondere vor dem Hintergrund des immer stärker aufkommenden russischen Panslawismus. Nun setzte er sich für einen österreichisch-ungarischen Ausgleich ein und wurde nach dessen Zustandekommen 1867 zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannt. Am 14. November 1871 wurde er Außenminister der Doppelmonarchie. Unter ihm orientierte sich die Wiener Außenpolitik zunehmend in Richtung Balkan. Nachdem er sich bereits im deutsch-französischen Krieg für eine strikte Neutralität Österreich-Ungarns eingesetzt hatte, plädierte er für eine Allianz mit Deutschland und England gegen Russland. Auf seine Initiative hin kam es 1878 zum Kongress in Berlin. Schon vorher hatte er in geheimen Verhandlungen (6. Juni 1878) mit Lord Salisbury für Österreich-Ungarn das Besetzungsrecht in Bosnien und der Herzegowina erreicht. Am 8. Oktober 1879 trat er für viele überraschend zurück, nachdem er mit dem Zweibundvertrag eines seiner wesentlichen Ziele erreicht hatte.
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In Berlin zeigten sich Gortschakow und Andrássy deshalb trotz ihrer konkurrierenden Interessen auf dem Balkan überraschend einig. Bismarck sollte
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Erholung Frankreichs
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auf keinen Fall die Führungsrolle zukommen. Dazu räumten sie sogar ihre potentiellen Konfliktherde zeitweilig beiseite und vereinbarten untereinander, den Status quo auf dem Balkan nicht anzutasten. Auch in die verworrenen Angelegenheiten des Osmanischen Reiches wollten sie sich nicht einmischen. Wichtiger aber als diese eher losen, und letztlich kaum zu kontrollierenden Vereinbarungen wog die demonstrative Liebenswürdigkeit, mit der sich Österreicher und Russen in Berlin bedachten. Ohne Frage, Bismarck sollte, wie es Rainer Schmidt treffend formuliert hat, „wie beim Billard über die Bande getroffen werden“. Beide Mächte dachten überhaupt nicht daran, sich von dem deutschen Reichskanzler dominieren zu lassen. Über die Symbolpolitik hinaus ging unterdessen die wohlkalkulierte und gezielt an die Presse lancierte Versicherung Gortschakows gegenüber dem französischen Botschafter Élie Gontaut-Biron (1817–1890). Am 11. September 1872 garantierte er diesem bereits, die Integrität Frankreichs als Großmacht. Der russische Staatskanzler forderte damit Bismarck offen heraus. Vor aller Welt machte er deutlich, dass er offenbar längst Gefallen an der politischen Greifzange eines Zweifrontendrucks gegen Deutschland gefunden hatte. Das Signal war unmissverständlich: Statt bismarckscher Führung im Dreimächteverhältnis erwartete Gortschakow dessen Unterordnung. Im gleichen Sinne versuchte der russische Staatskanzler Österreich-Ungarn als Hebel gegen Deutschland zu nutzen. Gezielt brachte er dazu die Nordschleswig-Klausel des Prager Friedens von 1867 bei den Unterredungen in Berlin ins Spiel. Nach Artikel V des Vertrages stand nämlich Wien noch immer das Recht zu, eine Volksabstimmung im nördlichen Schleswig über die Zugehörigkeit zu Preußen oder Dänemark vorzuschlagen. Schon im Herbst 1872 deutete sich also an, dass eine Verbindung mit Österreich-Ungarn und Russland Bismarck kaum den gewünschten Schutz vor Frankreich bieten würde. Dabei schien dieser dringender denn je: Die Bedingungen für die deutsche Diplomatie verschlechterten sich zunehmend. Bereits im März 1873 deutete sich an, dass Frankreich seine Reparationen wesentlich früher als gedacht abzahlen werde und dass Deutschland im Herbst seine Truppen aus Frankreich würde abziehen müssen. Alarmierend wirkte zudem, dass in der Pariser Nationalversammlung klerikale wie royalistische Kräfte offen über eine Restauration der Monarchie diskutierten. Damit, so fürchtete der Reichskanzler, würde Frankreich auch seine Anschluss- und Bündnisfähigkeit insbesondere gegenüber den östlichen Nachbarn Deutschlands zurückerlangen. Im Juni wurde dann tatsächlich der bisher als verlässlicher Partner bekannte Adolphe Thiers von einer monarchisch-klerikalen Mehrheit in der französischen Nationalversammlung gestürzt und durch den revanchistischen Marschall MacMahon (1808–1893) ersetzt. Erste Präventivkriegsgedanken wurden bei deutschen Militärs laut. Der Druck auf Deutschland, eine Absicherung finden zu müssen, stieg. Bereits Anfang Mai reiste Bismarck deshalb gemeinsam mit Generalfeldmarschall von Moltke und dem Kaiser überraschend nach St. Petersburg. Ihr Ziel war es, eine deutsch-russische Militärkonvention zu erreichen. Bei einem Angriff auf eine der beiden Mächte sollte die jeweils andere mit mindestens 200000 Soldaten zu Hilfe eilen. Formal in Kraft treten sollte die Konvention aber erst, wenn auch Österreich-Ungarn ihr beitrete. Über diesen bilateralen Umweg wollte der
Von der „Mission Radowitz“ zur „Krieg-in-Sicht“-Krise
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Reichskanzler doch noch ein wirkungsvolles Drei-Kaiser-Verhältnis erreichen. Die Übereinkunft kam aber nie zustande. Sowohl Andrássy als auch Gortschakow sprachen sich Anfang Juni dagegen aus. Stattdessen trafen sie am 6. Juni 1873 in Schönbrunn eine möglichst unverbindlich gehaltene Vereinbarung, derzufolge sie sich bloß dazu verpflichteten, den Frieden zu wahren und sich im Kriegsfall zu beraten. Deutschland trat dieser Konvention am 22. Oktober 1873 durch Akzession bei, wodurch sie zum Drei-Kaiser-Abkommen wurde. Wenn damit auch letztlich ein gemeinsamer Draht zwischen den drei Mächten geknüpft worden war, war dieser doch kein wirkungsvoller Schutz gegen eine mögliche Revanche Frankreichs. Das Drei-Kaiser-Abkommen repräsentierte letztlich ganz sicher keinen monolithischen Staatenblock, wie Benjamin Disraeli zunächst befürchtet hatte. Allgemeine Konsultationen waren zwar vorgesehen, aber gemeinsame Militäraktionen bedurften einer gesonderten Regelung. Mehr war für die deutsche Diplomatie nicht zu erreichen. Gortschakow wollte die deutsche Gründungsdynamik bremsen und Russland an die Spitze des Mächtesystems stellen. Andrássy wiederum zielte darauf ab, Österreich-Ungarns Unabhängigkeit zu wahren und sich zwischen Deutschland und Russland zu schieben, um diese mittelfristig auseinander manövrieren zu können und das Abkommen bei der erstbesten Gelegenheit durch eine Konstellation mit Deutschland und England zu ersetzen. Beiden gemeinsam war, dass ihnen ein Deutschland mit Frankreich im Rücken lieber war, als ein vom französischen Revanchedruck befreites Reich. Bismarck wiederum ging es in erster Linie um eine Isolierung Frankreichs und die Überbrückung des österreichisch-russischen Gegensatzes. Die gegenseitige Solidarität basierte letztlich also nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner konträrer Interessenlagen. Bismarck schien gegenüber den Wiener und den St. Petersburger Interessen an seine Grenzen gestoßen zu sein. Immerhin, ein erster Gesprächsfaden war geknüpft. Ohnehin scheint fraglich, ob Bismarck bereits einen festen Dreierverband im Sinn hatte. Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich wie eh und je nicht mit Maximalgedanken herumplagte, sondern wie auch in der Reichsgründungsphase die Kunst des jeweils Möglichen probte. Wichtig war, dass er beide Mächte schon einmal dem deutschen Einfluss näher gebracht und von Frankreich getrennt hatte.
2. Von der „Mission Radowitz“ zur „Krieg-in-Sicht“-Krise Auch wenn der rasche Übergang zu einem Drei-Kaiser-Kurs anzudeuten schien, dass mit ihm bereits die Elemente einer idealen Staatenordnung gefunden worden seien, erwies sich die Dreiecksverbindung schon bald als brüchig. Dies lag zum einen an dem ambivalenten Konkurrenzverhältnis zwischen Wien und St. Petersburg, welches die beiden Nachbarn aus Sicht Bismarcks unberechenbar erscheinen ließ. Zum anderen kam es seit Ende 1873 zu vereinzelten Spannungen, sowohl mit dem wiedererstarkten Frankreich als auch mit Russland. Eine Reihe alltäglicher diplomatischer Scharmützel führte im Laufe des Jahres 1874 zu einer schleichenden deutsch-rus-
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sischen Entfremdung. Russland, das sich seiner Schlüsselstellung für Deutschland nur allzu bewusst war, erwartete immer unverhohlener Gefolgschaft, während sich Berlin zumindest als Partner unter Gleichen verstanden wissen wollte. „Ohne Erlaubnis Russlands“, so spiegelte der Russki Mir das Selbstverständnis der St. Petersburger Führung wider, dürfe weder Deutschland „noch ein anderer Staat von seiner Macht Gebrauch machen. Das letzte Wort bleibt bei allen irgend wichtigen Fragen dem Kaiser von Russland“. Vieles spricht dafür, dass das Zarenreich gerade in dieser Phase eines außenpolitischen Ventils für seine zahlreichen innenpolitischen Probleme bedurfte. Für die deutsch-russischen Beziehungen kam erschwerend hinzu, dass neben der wirtschaftlichen und politischen Krise des Zarenreiches die anti-deutsch und pro-französisch ausgerichtete panslawistische Opposition wachsenden Zulauf erfuhr. Wiederholt kokettierte die russische Diplomatie nicht nur mit einer offen zur Schau getragenen Annäherung an die k.u.k.-Monarchie, sondern auch an Frankreich. Fast schien es, als befände sich Bismarck trotz des Drei-Kaiser-Abkommens vom Oktober 1873 wieder am Anfang seiner Bemühungen um eine Isolierung Frankreichs und die Sicherung seiner eigenen, unabhängigen Stellung. Wie wenig Bismarck dem Binnenverhältnis der drei Kaiserreiche traute und für wie verletzlich er die deutsche Position in diesem Konstrukt hielt, zeigte sich bereits wenige Monate nach dem deutschen Beitritt zur Schönbrunner Konvention. Als sich Kaiser Franz Joseph I. im Frühjahr 1874 zu einem Freundschaftsbesuch beim Zaren aufmachte, fürchtete der Reichskanzler eine Isolation innerhalb des Dreierverbandes und agierte überscharf. Via Presse drohte er sogar mit einem Präventivkrieg und der Aufteilung des Vielvölkerstaates, sollte Wien sich zu nah an Russland anlehnen und Deutschland hintergehen. Bevor sich neue Wahlchancen in der Außenpolitik ergaben, reagierte Deutschland im Mai 1874 zunächst mit einem Wehrgesetz. Zukünftig sollten dem Reich 400000 Soldaten mehr zur Verfügung stehen. Das Reich in der europäischen Mitte, so erfasste der englische Botschafter Odo Russel (1829–1884) die Situation, fürchte seine Isolierung und die alte Kaunitzsche Koalition seiner alten Feinde Österreich und Frankreich im Verbund mit dem Zarenreich.
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Kaunitzsche Koalition Benannt nach Wenzel Anton Graf Kaunitz (1711–1794), von 1751 bis 1792 österreichischer Staatskanzler unter Maria Theresia (1717–1780), Joseph II. (1741–1790) und Leopold II. (1747–1792) Sein Bündnis mit Frankreich trug im Vorfeld des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) zu einer Umgruppierung der Allianzen bei. 1756 schloss er ein Defensivbündnis zwischen Frankreich und Österreich, für das er auch Russland gewinnen konnte. Als Friedrich II. (1712–1786) zu Beginn des Siebenjährigen Krieges Sachsen überfiel, schmiedete Kaunitz 1757 ein kaum erwartetes anti-preußisches Offensivbündnis mit Frankreich, Russland und Schweden, welches bis 1762 Bestand hatte und im langen 19. Jahrhundert als Inbegriff der politischen Einkreisung Deutschlands galt.
Tatsächlich bereitete Bismarck nichts mehr Sorgen als eine einkreisende Allianz. Seine Gegenmaßnahmen bewegten sich auf mehreren Ebenen und testeten verschiedene Mittel und Wege aus, um die Isolationsgefahr zu bannen. Im Zentrum all seiner Überlegungen stand dabei das Zarenreich. Dessen Ausnahmestellung zeigte sich besonders in der bis heute von Geheim-
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nissen umwitterten „Mission Radowitz“. Hatte Bismarck Russland bereits im Februar 1874 versichert, nicht auf Macht-, sondern auf eine reine Sicherheitspolitik abzuzielen, so entsandte er am 4. Februar 1875 den von ihm besonders geschätzten Diplomaten Joseph Maria von Radowitz unter dem Vorwand normaler diplomatischer Tätigkeiten zu einer „mission extraordinaire“ an die Newa. Joseph Maria von Radowitz (1839–1912), Sohn des preußischen Generals und Politikers Joseph Maria von Radowitz (1797–1853), trat 1860 in den preußischen Staatsdienst und kam bereits ein Jahr später an die Gesandtschaft in Konstantinopel, sodann nach China und Japan (1862). Obwohl sich Bismarck und sein Vater in herzlicher Konkurrenz gegenübergestanden hatten, erwarb der junge Radowitz bereits frühzeitig Bismarcks Vertrauen als Balkanexperte. 1872 ernannte ihn der Reichskanzler zunächst zum Geschäftsträger in Konstantinopel und rief ihn bald darauf als Vortragenden Rat in die orientalische Abteilung des Auswärtigen Amtes zurück. Nach seiner heiklen Mission nach St. Petersburg beriet er Bismarck auf dem Berliner Kongress. Es folgten weitere Posten im Ausland, und 1906 vertrat er Deutschland bei der Konferenz von Algeciras.
Bis heute fehlt die letzte Klarheit über Sinn und Inhalt der heiklen Mission. Wollte Bismarck tatsächlich einen Griff zur Hegemonie vorbereiten und ausloten, ob sich Russland im Falle eines deutsch-französischen Krieges abermals neutral verhalten würde? Ging es ihm bloß um Vergewisserung der seit dem Drei-Kaiser-Abkommen changierenden Position Russlands oder wollte er das Zarenreich von Österreich-Ungarn abziehen? Fest steht: Bismarck bestand auf Gegenseitigkeit und „Augenhöhe“ gegenüber St. Petersburg. Radowitz sollte sondieren, ob die zaristische Regierung zu einem politischen Kuhhandel zwischen West und Ost bereit sei. Bereits wenige Wochen zuvor hatte der Fürst seinem guten Bekannten, dem russischen Botschafter in London, Graf Peter Schuwalow, zu verstehen gegeben, dass Deutschland seinerseits durchaus bereit sei, der „russischen Politik im Orient zu folgen“, wenn Russland im Westen Deutschland gegen Frankreich unterstütze. Nun sollte sein Emissär noch einmal das gleiche Angebot einer „Reziprozität“ im Orient und in Westeuropa unterbreiten. Auf ein Neutralitätsverlangen in einem neuerlichen Krieg gegen Frankreich, wie gelegentlich zu lesen ist, lässt sich daraus indes noch nicht automatisch schließen. Aber darauf kam es der deutschen Führung auch gar nicht an. Vielmehr wollte sie sichergestellt wissen, dass nicht von zwei Seiten Gefahr drohe. Allein würde Frankreich keine Revanche wagen und selbst wenn, so traute man sich durchaus zu, mit der Grande Nation ein zweites Mal fertig zu werden. Alles andere, zumal Österreich-Ungarn und Südosteuropa betreffend, wo sich Russland frühzeitig gegenüber Wien zum Status quo bekannt hatte, blieb offenbar Verhandlungssache. Bismarck, der ohnehin auf Schuwalow als nächsten russischen Kanzler hoffte, wollte damit den frankreichfreundlichen Gortschakow ausmanövrieren und einen dauerhaften Keil zwischen Paris und St. Petersburg treiben. Doch Gortschakow durchschaute das Manöver. Er ließ die allzu durchsichtige Offerte gar nicht erst bis zum Zaren vordringen. Nicht genug damit, informierte er umgehend den französischen und den österreichischen Botschafter, um Bismarck in ein zusätzlich schlechtes Licht zu rücken und dem Reichskanzler eine Lektion zu erteilen. Zur Preisgabe des französischen oder des österreichischen
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„Reziprozität“ in Ost und West
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Hebels gegen Deutschland war Gortschakow nicht bereit. Somit war die Option einer geteilten Hegemonie gescheitert. Der Reichskanzler war außer sich über die Art und Weise, wie Gortschakow sein Angebot nutzte, um ihn international zu desavouieren. Nun ging er erst recht in die Offensive, einen Präventivschlag gegen die seiner Ansicht nach drohende Umzingelung zu tätigen. Als er die Nachricht erhielt, französische Händler beabsichtigten Pferde in Deutschland anzukaufen – ein übliches Verfahren im Vorfeld einer Mobilisierung – verfügte Bismarck ein entsprechendes Ausfuhrverbot. Sichtbar wurde nun va banque gespielt. Am 12. März kam es zu einer weiteren Krisenverschärfung, als die Pariser Nationalversammlung für ein neues Militärgesetz votierte, welches die Kriegsstärke der französischen Infanterie um 144000 Mann erhöhte. Im Mobilisierungsfall sollte damit ein numerisches Übergewicht über Deutschland erreicht werden. Parallel dazu hatte sich auch Wien wieder umorientiert, indem es an seiner Südflanke mit Italien übereinkam, den Status quo der gemeinsamen Grenzen und damit den Verlust der Lombardei 1859 und Venetiens 1860 formal zu akzeptieren. Bestand nun etwa die Gefahr einer Koalition der Verlierer von 1866 und 1870/71? Vor dem Hintergrund des andauernden Kulturkampfes in Deutschland erkannten jedenfalls einige europäische Zeitungen hinter dieser Gesamtentwicklung einen konzentrischen Druck auf die europäische Mitte durch eine Front katholischer Staaten gegen das überwiegend protestantische Deutschland. Was Bismarck betraf, so war es weniger das französische Kadergesetz als solches, das ihn zu Gegenmaßnahmen veranlasste, denn schließlich hatte ja auch Deutschland sein Heer seit dem Krieg vergrößert. Entscheidend war vielmehr, dass es eine monarchisch gesinnte Regierung war, die in Paris die Aufrüstung beschloss. Im Zusammenhang mit den allgemeinen internationalen Entwicklungen, der schleichenden Entfremdung der Monarchien voneinander und in der festen Überzeugung, dass die französischen Monarchisten wesentlich bündnisfähiger seien als die Republikaner, hielt er es offenbar für geboten, ein deutliches Signal der Selbstbehauptung zu setzen. Anfang April warnte erstmals die Kölnische Zeitung, vermutlich im Auftrag der Wilhelmstraße, vor einer deutschfeindlichen „katholischen Liga“. Wenige Tage später, am 8. April 1875, folgte die freikonservative Berliner Post, die allgemein längst als Sprachrohr Bismarcks bekannt war, mit dem folgenschweren Artikel, „Ist der Krieg in Sicht?“. Der Text schlug ein wie eine Bombe und gab der nun folgenden Krise ihren Namen. Ist der Krieg in Sicht?, Die Post, 8.4.1874 (Auszug) Aus: Udo Sautter: Deutsche Gesichte seit 1815. Daten, Fakten, Dokumente. Bd. 3, S. 62–63. Seit einigen Wochen hat sich der politische Horizont mit dunklem Gewölk bezogen. Zuerst kamen die starken Pferdeankäufe für französische Rechnung, […]. Dann wurde man aufmerksam auf die starke Vermehrung der Cadres des französischen Heeres, […]. Endlich kamen die französischen Kommentare zu der Reise des Kaisers von Österreich nach Venedig, der unverhohlene Jubel, dem sich die französische Presse bei diesem Anlaß hingab. Alle diese Momente hat nun ein Brief aus Wien, welchen die Kölnische Zeitung am 5. April an der Spitze ihres
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Blattes veröffentlichte, zu einem Gesamtbild der jetzigen Sachlage zusammengefasst und ergänzt, das in sehr ernsten Farben gehalten ist. Danach unterliegt es keinem Zweifel, daß die französische Heeresorganisation ein Werk ad hoc, das heißt für einen baldigen Krieg ist […]. Was Österreich betrifft, so steht Graf Andrássy zwar unerschütterlich auf Seiten der deutschen Allianz; aber eine mächtige Partei im Heere und am Hofe, vor allem in der hohen Geistlichkeit, arbeitet gleichzeitig an einem Revanchebündnis mit Frankreich. […]. So scheint denn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß wenigstens von den Mitgliedern dieser Partei die Kaiserreise nach Venedig zur Sondierung der italienischen Regierung benutzt wird, inwieweit dort der Boden vorhanden [sic] zu einer unter päpstlicher Ägide gegen Deutschland gerichteten Tripelallianz […]. Wenn wir demnach unsere an die Spitze gestellte Frage: Ist der Krieg in Sicht? beantworten sollen, so müssen wir sagen: der Krieg ist allerdings in Sicht, was aber nicht ausschließt, daß die Wolke sich zerstreut. Ob es den ultramontanen Intrigen in Österreich gelingt, Andrássy zu stürzen, ist nur an sich fraglich, es ist auch fraglich, welche Wirkung dieser Sturz auf die Bevölkerung in Ungarn wie in Österreich haben würde. Dennoch kann man die Möglichkeit nicht ableugnen, daß die Heereskreise, deren Stimmung der kürzlich veröffentliche Brief des Erzherzogs Salvator abspiegelte, im Stand sein könnten, den Staat zu einer Aktion in ihrem Sinne fortzureißen. […] Ob Frankreich, ohne die österreichisch-italienische Bundesgenossenschaft sicher zu haben, den Krieg beginnen würde, läßt sich nicht sagen. […] Vielleicht legt man uns die Frage vor, warum wir weitläufig eine Möglichkeit erörtern, die sich vielleicht nicht erfüllt und deren Nichterfüllung wir wünschen. Es gibt Leute mit der Ansicht, daß, wenn das Dach eines Hauses brennt und eine gute Feuerwehr in Sicht ist, kein Grund sei, die Schlafenden in den unteren Stockwerken zu wecken. Unsererseits sind wir nicht der Meinung, diesen Rat auf das deutsche Volk anwenden zu sollen. Wir halten es nicht für wünschenswert, die Gemüter zu beunruhigen und unter die Waffen zu rufen. Aber wir halten es auch nicht für angebracht, der deutschen Nation zu verschweigen, welches ihre Situation ist und welchen Gefahren ihre Staatsleitung zu begegnen hat.
Ist die genaue Urheberschaft des „Krieg-in-Sicht“-Artikels auch bis heute unklar, so war das Ziel doch eindeutig: die deutsche Bevölkerung sollte alarmiert, Frankreich eingeschüchtert und isoliert, und die Mächte insgesamt gewarnt werden. Damit entsprach der Pressetenor dem bismarckschen Kurs und es wäre schließlich auch nicht das erste Mal gewesen, dass Bismarck seine „Tintenkulis“ in die politische Arena schickte. Was die zuletzt in der Forschung vermutete Eigeninitiative Ludwig Aegidis, des Pressechefs im Auswärtigen Amt, hinter dem Aufsatz anbetrifft, so erscheint ein Alleingang gerade für die 1870er-Jahre, in denen Bismarck die Wilhelmstraße dominierte und seine Mitarbeiter nach den Worten Paul von Hatzfeldts (1831–1901) regelrecht vor seiner Präsenz „erzitterten“, eher unwahrscheinlich. Viel wichtiger aber als die Frage der Urheberschaft sind indes die Folgen und Einsichten, die die Krise selbst lieferte. Wie würden sich die Mächte angesichts der offensichtlichen deutschen Drohungen verhalten? Würden sie eine weitere Schwächung Frankreichs dulden? Selbstverständlich dachte die Pariser Regierung nicht daran, sich von der deutschen Presse einschüchtern zu lassen, zumal man bereits den Abzug der deutschen Truppen erreicht und von Gortschakow ja längst eine Be-
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Bismarcks erste Lektion
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standsgarantie erhalten hatte. Während Kaiser Wilhelm I. zur Mäßigung riet, sah Bismarck zunächst keinen Grund zurückzuziehen. Er ließ der Wirkung der Presseartikel ihren Lauf. Schließlich galt es herauszufinden, wie weit man als neues Gravitationszentrum des Kontinents gehen konnte. Der mögliche Preis eines französischen Rückzugs oder einer dauerhaften Eindämmung Frankreichs durch die Distanzierung der übrigen Mächte schien nur allzu verlockend. Um die Situation auf die Spitze zu treiben, schickte er ein weiteres Mal Radowitz vor. Gegenüber dem französischen Botschafter brachte dieser offen einen deutschen Präventivschlag gegen Frankreich ins Spiel. Auch Generalstabschef Helmuth von Moltke drohte im Gespräch mit dem belgischen Gesandten unverhohlen mit Krieg, sollten sich die Mächte nicht auf die deutsche Seite stellen und Frankreich eine Revanche ausreden. In London sah man sich daraufhin bestätigt: Deutschland wolle kurz nach dem Einigungs-Coup nun offensichtlich auch noch nach der kontinentalen Vormacht greifen. Unterdessen brachte der französische Außenminister Louis Décazes (1819–1886) die Presse in Stellung. Am 6. Mai 1875 ersuchte er über die Londoner Times die europäischen Mächte um Hilfe gegen das aggressive Deutschland. Nur drei Tage später wurde Odo Russel (1829–1884) in der Wilhelmstraße vorstellig und ermahnte Bismarck zum Frieden. Erst jetzt sah Bismarck ein, dass er sich mit seiner forschen Offensive verrannt hatte. Eilig ruderte er zurück und veranlasste die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, eine Mitteilung zu veröffentlichen, nach der die Beziehungen zu Frankreich und Russland ungestört seien. Schuld an der Krise sei einzig und allein die Presse. Gleichzeitig gab er jedoch auch bekannt, dass Deutschland darauf verzichte, von Paris die Rücknahme des Kadergesetzes zu verlangen. Offenbar schien also doch mehr als eine bloße Pressekampagne hinter den internationalen Spannungen zu stecken, an denen sich von den Großmächten nur Österreich-Ungarn nicht beteiligt hatte. Die Kehrtwende, ohnehin unglaubwürdig, kam zu spät. Die gleichgewichtswie machtpolitischen Mechanismen waren bereits in Gang. Am 6. Mai 1875 trafen der russische Zar und sein Kanzler in Berlin ein. Fürst Gortschakow ließ es sich nicht nehmen, sich als Friedensstifter Europas zu stilisieren und Bismarck öffentlich eine Lehrstunde zu erteilen. In einem Zirkulartelegramm an die europäischen Mächte ließ er vollmundig verlauten: „Jetzt“, gemeint war sein Eintreffen in Deutschland, „ist der Frieden gesichert.“ Bismarck schäumte vor Wut über diesen „Theater-Coup“. Graf Andrássy, der Bismarcks Naturell nur zu gut kannte, frohlockte. Er war sich sicher, dass das Verhältnis der beiden Kanzler damit irreparabel ruiniert sei. Der Reichskanzler, so Andrássy, werde Gortschakow niemals verzeihen. „Wir haben den Frieden, die Deutschen eine Lektion erhalten.“ Die „Gefahr einer deutsch-russischen Allianz“ zum Schaden Wiens sei jedenfalls „entfernter als je“. Für Bismarck wurde die „Krieg-in-Sicht“-Krise zum ersten „Lehrstück für die Zukunft“ [L. Gall]. Sein Kurs der partikularen Schläge gegen die Nachbarn lag in Trümmern und ihm wurden schlagartig die Grenzen deutscher Außenpolitik vor Augen geführt. Ungeachtet ihrer globalen Rivalitäten hatten Großbritannien und Russland Frankreich eine Bestandsgarantie gegeben. Das Kaiserreich wurde vor einer erneuten Herausforderung der euro-
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päischen Stabilität in die Schranken gewiesen. Dass dahinter auch der Wunsch nach einer grundsätzlichen Kriegsvermeidung und Status-quoWahrung stand, der neben Frankreich nicht nur Österreich-Ungarn, sondern auch Deutschland zugutekam, wurde in Berlin kaum wahrgenommen. Schließlich schwiegen sich die Mächte bis 1914 darüber aus, ob der Bestandsschutz und die unbedingte Kriegsvermeidung auch für Elsass-Lothringen gelten sollten. Allzu verlockend hatte sich somit unübersehbar ein Hebel gegen Berlin angeboten. In internationaler Perspektive stand die deutsche Außenpolitik im Sommer 1875 jedenfalls vor einem Scherbenhaufen. Das Drei-Kaiser-Abkommen hatte sich als kaum verlässliche Größe erwiesen. Russland hatte das Angebot einer geteilten Hegemonie auf dem Kontinent ausgeschlagen. Damit nicht genug, hatte sich das Zarenreich selbst als Gleichgewichtsgarant wirkungsvoll in Szene gesetzt und mit seinem Erzrivalen England sogar gegen Deutschland kooperiert. Der Pariser Politik war es damit dank tatkräftiger Unterstützung Bismarcks im Endeffekt gelungen, sich nach der Niederlage und der vorzeitigen Tilgung der Reparationen wieder als Großmacht im europäischen Konzert zu etablieren, ja sogar die partielle Unterstützung der Flügelmächte zu erreichen. Deutschland drohte dagegen die Isolation. Bismarck hatte zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kriegsoption, mochte sie auch begrenzt sein, den Zweifrontenkrieg heraufbeschwören konnte. Fortan galt es, jede Präventivkriegsdrohung zu unterlassen. Angezeigt war nun vielmehr ein Kurs der Friedenswahrung mit dem Mittel der Gleichgewichtspolitik, freilich mit dem gleichen Ziel: die Sicherheit und den Bestand des Kaiserreiches zu bewahren. Konrad Canis hat deshalb ganz zu Recht festgestellt, dass es fehl geht, den Reichskanzler als Kriegs-, Friedens- oder Gleichgewichtspolitiker sui generis zu bewerten. In erster Linie war er Sicherheitspolitiker. Auch wenn für ihn weiterhin feststand, dass sich das Kaiserreich jederzeit entschlossen und kampfbereit geben müsse, um den Frieden zu wahren, so sollten von nun an die betonte Friedfertigkeit, Saturiertheit und Defensive Vorrang erhalten. Ermutigend wirkte in diesem Sinne zumindest der Eindruck, den er von Andrássy gewonnen hatte. Der k.u.k.Außenminister hatte nicht nur tunlichst vermieden, sich in die Front gegen Deutschland einzureihen, er hatte dem isolierten Bismarck sogar einen „Freundschaftsbund“ vorgeschlagen, was diesen wiederum zu dem Gedanken eines „natürlichen, auf völkerrechtlicher Grundlage beruhenden Verhältnisses einer gegenseitigen Assekuranz“ bringen sollte. Noch blieb aber das Dreikaiserverhältnis zur Isolierung Frankreichs Dreh- und Angelpunkt deutscher Diplomatie.
3. Die orientalische Krise und die „Doktorfrage“ aus Livadia Nur wenige Wochen nach der „Krieg-in-Sicht“-Krise kam der angeschlagenen Position Deutschlands ein europäisches Dauerthema zu Hilfe, welches von den Spannungen mit Paris und den übrigen Mächten ablenkte: die orientalische Frage. Sie gab Bismarck über die nächsten drei Jahre eine
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zweite Chance, das europäische Misstrauen gegenüber Deutschland abzubauen und sein eigenes Ansehen zu verbessern. Im Juli 1875 erhoben sich slawische Freischärler in Bosnien und der Herzegowina gegen die osmanische Herrschaft. Die Konflikte griffen bald auch auf Bulgarien über. Das Osmanische Reich zeigte sich entschlossen und versuchte, die lokalen Aufstände mit grausamen Mitteln niederzuschlagen. Die „bulgarischen Gräuel“ empörten ganz Europa. Um ein Übergreifen der türkischen Gegenoffensive auf eigenes Territorium zu verhindern, eröffneten die Serben und Montenegriner, die zwar nominell noch zum Osmanischen Reich gehörten, längst aber nach Unabhängigkeit strebten, einen Präventivkrieg gegen die Hohe Pforte. Durch die Vorgänge wurden die europäischen Großmächte in Bewegung gebracht. Unmittelbar betroffen waren die Habsburgermonarchie und das Zarenreich. Während Wien eine Ansteckung seiner eigenen slawischen Minoritäten fürchtete, und die Militärs, Bosnien und die Herzegowina bei Fortbestand der Türkei vorsorglich annektieren wollten, ging es der aufstrebenden panslawistisch-nationalistischen Bewegung Russlands um die Vereinigung aller Slawen unter russischer Oberhoheit. St. Petersburg zielte dabei auf die Eroberung der strategisch wichtigen Meerengen am Bosporus und den Dardanellen, also die Revision des Pariser Friedens von 1856. Für die britische Regierung bildete genau dieses russische Ansinnen die Hauptgefahr, weil sie damit um ihre eigenen Interessen im östlichen Mittelmeer, insbesondere den Schutz der erst 1875 erworbenen Mehrheitsanteile am Suezkanal als kürzester Route zu ihren indischen Besitzungen und damit langfristig auch um die maritime Suprematie im Mittelmeer fürchtete. Premierminister Benjamin Disraeli war die Verbindung der drei Kaiser ein Dorn im Auge und er tat im Verlauf der Orientkrise alles, um die drei Mächte auseinanderzudividieren. Die Balance auf dem Kontinent zu wahren, hieß für Großbritannien, stets ein Mindestmaß an Spannungen zwischen den Kontinentalmächten aufrechtzuerhalten, um selbst aus dieser Uneinigkeit die größten Vorteile für das Empire zu erreichen. Nur für Frankreich spielte das Schicksal des „kranken Mannes“ am Bosporus, wie die Türkei seit Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund ihrer vielfältigen inneren Probleme genannt wurde, eine eher untergeordnete Rolle. Ein neues und überaus unberechenbares Moment in der Orientkrise von 1875 war der aggressive Nationalismus der Balkanvölker. Dieser richtete sich nicht nur gegen die osmanische Herrschaft, sondern brachte auch die einzelnen Volksgruppen gegeneinander auf. Insbesondere der serbische Nationalismus, mit dem Ziel eines Großserbien als regionale Vormacht in Südosteuropa, sollte sich bis zum Ersten Weltkrieg in Verbindung mit dem russischen Panslawismus zu einem immer gefährlicher und explosiver werdenden Gemisch entwickeln.
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Der Panslawismus versteht sich als allslawische Bewegung. Begonnen als eine literarisch-kulturelle Bewegung zur Förderung des slawischen Gemeinschaftsbewusstseins entwickelt sich daraus seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine politische Strömung mit dem Ziel eines Zusammenschlusses aller Slawen unter russischer Führung. Als „Panrussismus“ nahm die Bewegung auch die Züge eines verhüllten aggressiven russischen Imperialismus vornehmlich auf dem Balkan an, der sich dezidiert gegen das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn ausrichtete. Ange-
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sichts mannigfaltiger innenpolitischer Schwierigkeiten im Zuge der schleppenden Bauernbefreiung wurde der Panslawismus wiederholt von der zaristischen Führung als Mittel zur Ablenkung politischer Aktivitäten instrumentalisiert. Daneben gab es aber auch die Strömung des Austro-Slawismus, die vor allem die Zusammenfassung aller Slawen der k.u.k.-Monarchie anstrebte.
Gemeinsam mit der ebenfalls dem Panslawismus nahestehenden bulgarischen Nationalbewegung sorgten diese Bewegungen dafür, dass der Balkan bis 1914 und darüber hinaus nicht zur Ruhe kommen sollte und zu einem wahren Pulverfass für die labile Staatenwelt wurde. Deutschland kamen die Spannungen an der südosteuropäischen Peripherie Mitte der 1870er-Jahre im Zuge der offenen orientalischen Frage zweifellos gelegen. Endlich, so bekannte Herbert von Bismarck freimütig, drehe sich die europäische Politik nicht mehr bloß um Frankreich und Deutschland, und auch im Rahmen des Dreikaiserverhältnisses sei es von Vorteil, dass zur Abwechslung auch einmal Österreich-Ungarn und Russland der deutschen Hilfe bedürften. Die orientalische Frage bezeichnete zwischen 1774 und 1923 neben der Deutschen Frage eines der wichtigsten und zugleich kompliziertesten Probleme der neueren Staatengeschichte. Sie beschreibt zum einen die Nachlassverwaltung des allmählich zerfallenden Osmanischen Reiches, des „kranken Mannes am Bosporus“, als Vielvölkerstaat vor dem Hintergrund aufkommender Unabhängigkeitsbestrebungen und Nationalismen insbesondere auf dem Balkan. Zum anderen wirkte die orientalische Frage auch über das geostrategische Element der Meerengenfrage am Bosporus und den Dardanellen mitten in die Großmächtebeziehungen des europäischen Konzerts hinein. Hier prallten vornehmlich die Interessen der ohnehin rivalisierenden Flügelmächte Großbritannien und Russland direkt aufeinander. Während Russland in den Meerengen einen „Schlüssel“ seines Reiches und den Zugang zum Mittelmeer sah, wollte England dem Zarenreich genau diesen Zugang mit Blick auf seine eigenen Seemachtinteressen und insbesondere den verkürzten Seeweg durch den Suezkanal nicht gewähren. Aus den einzelnen Nationalbewegungen auf dem Balkan, die zudem noch die Interessen ÖsterreichUngarns betrafen, und dem geostrategischen Element der Meerengen ergaben sich anhaltende Brandherde, die es bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder notdürftig zu löschen galt.
Auf den ersten Blick boten die neuen Spannungen also durchaus neue Möglichkeiten für die angeschlagene deutsche Außenpolitik. Zumal gerade der wachsende anglo-russische Gegensatz um die Meerengen einen geweiteten Spielraum versprach. Da Deutschland selbst keine unmittelbaren Interessen in der Region belasteten, bot sich die Chance uneigennütziger Vermittlungsdienste, um auf diese Weise auch die zuletzt so unangenehm aufgefallene halbhegemoniale Stellung des Reiches für die Rivalen wieder erträglich werden zu lassen. Aus dieser, im Grunde bis 1914 in unterschiedlichen Ausprägungsgraden anhaltenden Krisenkonstellation im Vorderen Orient gewann die Berliner Außenpolitik die Möglichkeit, machtpolitische Rivalitäten zu nutzen und mithilfe offengehaltener Spannungen ihre Rolle als Friedensstifter im Staatensystem zu unterstreichen. Gleichzeitig bestand aber auch die Gefahr, zwischen die diametral entgegengesetzten Interessen zu geraten, woraus sich das sogenannte Optionsproblem der deutschen Diplomatie ergab. Wenn sich der Interessenantagonismus zwischen den Ost-
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Optionsproblem
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mächten durchsetzte, beide eine deutsche Stellungnahme verlangten und der Dreikaiserbund damit völlig auseinanderbrach, schien die Gefahr einer deutschen Isolierung durchaus real. Die Gemengelage zwischen den Mächten konnte kaum komplizierter sein. Bismarcks oberster Satz hieß, mit beiden Mächten zu gehen, soweit sie sich einig seien und jegliche eigenen Interessen hintanzustellen. Eine Option für die eine oder andere Seite oder auf einen der beiden Bundesgenossen in irgendeiner Form zu drücken, galt es unbedingt zu vermeiden. Gleichzeitig wollte Bismarck insbesondere Österreich-Ungarn vorsichtig schonen, da jeder überzogene Druck hier den Sturz Andrássys und das Abdriften der Donaumonarchie in klerikale, eventuell französische Bahnen bedeuten konnte. Wieder stand die Bismarcksche Politik vor einem Spagat. Bis zum Herbst 1876 gelang es Bismarck, diesen durchzuhalten. Immer wieder hatte er dabei die Äquidistanz zu beiden Partnern betont und damit ein Zusammenwirken Wiens und St. Petersburgs gefördert. Noch im Juli 1876 hatten sich beide im nordböhmischen Reichstadt verständigt, im Falle einer serbischen Niederlage den Bestand Serbiens und Montenegros gemeinsam zu erhalten. Sollte aber die Türkei gegen Serbien verlieren – wovon man insgeheim ausgegangen war –, sollte Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina in Besitz nehmen, Russland Bessarabien und die Donaumündung. Die Türkei erteilte Serbien jedoch eine überraschend deutliche Lektion und brachte diesem eine vernichtende Niederlage bei. Ungeachtet der Übereinkunft von Reichstadt traten nun die Interessengegensätze zwischen Wien und St. Petersburg offen zu Tage. Angetrieben von der panslawistischen Propaganda, erwog die russische Regierung sogar einen Vergeltungsschlag gegen Konstantinopel, bei dem sie auch einen Zusammenstoß mit Wien ins Auge fasste. Um sich dafür der deutschen Rückendeckung zu versichern, sollte Deutschland aus der Reserve gelockt und zur Option genötigt werden. Es sollte endlich den offenen Wechsel einlösen, den Wilhelm I. 1871 gezeichnet hatte. Im internen Schriftverkehr scheint Bismarck tatsächlich eine Option zugunsten Russlands auf Kosten Österreich-Ungarns zumindest kurzzeitig im Auge gehabt zu haben. Schließlich bemerkte er am 13. September 1876, dass er eine Garantieerklärung Elsass-Lothringens für eine „Bürgschaft für die Zukunft“ halte und dafür bei „Gegenkonzessionen“ an die Adresse Russlands „sehr weit gehen“ könne. Sogar von einem Bündnis „durch dick und dünn“ war die Rede. Aber konnte das wirklich heißen, Österreich-Ungarn fallen und womöglich in Richtung Paris abdriften zu lassen? Warum sollte Gortschakow anders als noch im Vorjahr nun bereit sein, den französischen Hebel aufzugeben und Elsass-Lothringen für Deutschland zu garantieren? Es spricht einiges dafür, dass Bismarck hier mit einer Neuauflage der „Reziprozität“ zwischen Deutschland und Russland provozierte und mit einer erneuten Absage des Zarenreiches rechnete. Wie im Jahr zuvor ging es vielmehr darum, den russischen Erwartungen einer deutschen Dankesschuld aus der Reichsgründungszeit den Garaus zu machen und zu verdeutlichen, dass sich beide Mächte auf gleicher Augenhöhe begegnen sollten. St. Petersburg aber forderte weiterhin unbeeindruckt eine bedingungslose Gefolgschaft. Am 1. Oktober 1876 erreichte Bismarck ein Telegramm aus der Sommerresidenz des Zaren in Livadia auf der Krim. Über den Militärbevollmächtig-
Die orientalische Krise und die „Doktorfrage“ aus Livadia ten Bernhard von Werder und damit an den offiziellen diplomatischen Kanälen vorbei, wollte der Zar klipp und klar wissen, wie sich Berlin bei einem Konflikt Russlands mit Österreich-Ungarn verhalten werde. Geradezu ungeschminkt machte er dabei klar, eine „dringende Bestätigung“ zu erwarten, dass „Seine Majestät der Kaiser [Wilhelm I.,] geradeso handeln würde, wie er [Alexander I.] es 1870 getan“ habe. Diese – nach Bismarck – „Doktorfrage“ aus Livadia, sollte Deutschland zu einer Option für Russland und gegen Österreich-Ungarn und indirekt auch gegen England nötigen, falls sich London wie erwartet auf die Seite Wiens stellen würde. Wie sollte Bismarck reagieren? Jede Option konnte ein Gegenbündnis mit Frankreich nach sich ziehen und ihn zudem wieder international als Intriganten in Misskredit bringen. Gortschakow hatte geschickt jeden offiziellen Charakter vermieden und konnte jederzeit alles leugnen. Andererseits wollte Bismarck auch die so wertvolle Dreikaiserverbindung nicht gänzlich kappen. Der Reichskanzler spielte, was blieb ihm anderes übrig, auf Zeit. Er beriet sich am 3. Oktober noch einmal mit Andrássy und vergewisserte sich dabei der Haltung des Wiener Außenministers. Spätestens jetzt war er sich darüber im Klaren, dass eine Option für Russland, erst recht ein russisch-österreichischer Konflikt, unter allen Umständen zu vermeiden sei. Allzu leicht konnte daraus ein Flächenbrand entstehen, wenn Frankreich die Chance zur Revanche nutzen und England auf der Seite Wiens die Meerengen gegen Russland verteidigen sollte. In einem persönlichen Gespräch mit Lothar von Schweinitz wurde Bismarck konkreter: „Unseren Interessen kann es nicht entsprechen, durch eine Koalition des gesamten übrigen Europa, wenn das Glück den russischen Waffen ungünstig wäre, die Machtstellung Russlands wesentlich und dauerhaft geschädigt zu sehen; ebenso tief aber würde es die Interessen Deutschlands berühren, wenn die österreichische Monarchie in ihren Bestand als europäische Macht oder in ihrer Unabhängigkeit derart gefährdet würde, dass einer der Faktoren, mit denen wir im europäischen Gleichgewicht zu rechnen haben, für die Zukunft auszufallen drohte.“ Botschafter Hohenlohe pflichtete dem bei. Russland sei bei Weitem zu gefährlich, wenn „Österreich zugrunde gehe“. Die Sachlage war klar: Nur gemeinsam mit Wien war St. Petersburg in Schach zu halten. Nur mit einem intakten Zarenreich ließen sich die Stabilität des internationalen Systems und die Bewegungsspielräume für Deutschland erhalten. Wollte Bismarck mit seinen wohlwollenden Äußerungen die Schuldverschreibung Wilhelms I. aus dem Spiel nehmen und ein quid pro quo erreichen, so wollte Gortschakow über die inoffizielle Form der Anfrage aus Livadia genau das Gegenteil erreichen und an Deutschlands Bringschuld festhalten. Der Reichskanzler erkannte darin eine offensichtliche Falle: „Antworten wir mit nein, so hetzt er bei Kaiser Alexander, antworten wir mit ja, so benutzt er es in Wien.“ Bismarck reagierte schließlich, indem er selbst St. Petersburg sowohl eine offizielle und eine mündliche, inoffizielle Nachricht zukommen ließ. Offiziell hielt er sich an einen Kurs der Äquidistanz zu beiden Partnern im Dreikaiserbund. Den Erhalt der Habsburger Monarchie nannte er ein vitales deutsches Interesse. Gleichzeitig sicherte er Russland seine wohlwollende Neutralität zu, sollte es einen begrenzten Krieg gegen die Türkei führen.
III.
Politik der Äquidistanz
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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Großbulgarien als Anathema
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Gortschakow sollte auf keinen Fall die Möglichkeit erhalten, Wien und Berlin durch gezielte Indiskretionen auseinanderzudividieren und sich wie zuvor auf Kosten Deutschlands zu profilieren. Parallel dazu verwies Bismarck Russland auf die Politik von Reichstadt zurück. Es sollte sich mit ÖsterreichUngarn verständigen. Auf inoffiziellem Wege drehte er so den Spieß um und machte Lothar von Schweinitz, eine mündliche Offerte zu einem Bündnis „durch dick und dünn“. Bismarck agierte damit wohlkalkuliert und in der sicheren Erwartung, dass Gortschakow eine deutsche Unterstützung zum Nulltarif fordern und der Garantie Elsass-Lothringens eine Absage erteilen werde. Seine mehrdeutige Antwort half ihm letztlich aus der tückischen Falle der „Doktorfrage“ heraus. Um der zaristischen Regierung deutlich zu machen, dass Deutschland im Falle eines russisch-österreichischen Krieges vor allem die Integrität der Doppelmonarchie im Auge habe und sich für orientalische Fragen auch nicht gegen England in Stellung bringen lasse, wählte Bismarck zusätzlich noch den Weg einer weiteren indirekten, aber öffentlichen Antwort. Am 1. und 5. Dezember betonte er vor dem Reichstag, dass Deutschland eine lebensgefährliche Verwundung Österreich-Ungarns nicht dulden könne und dass die Orientfrage dem Kaiserreich „nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert[h]“ sei. Spätestens jetzt kannte Gortschakow die Grenze deutschen Wohlwollens. Der Ausgang der „Livadia-Affäre“ deutete auf zwei wesentliche Weichenstellungen für die zukünftigen internationalen Beziehungen. Erstens zeigte die beharrliche Weigerung Russlands, Deutschland auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und wiederholt Gefolgschaft zu fordern, dass das Kaiserreich allein nicht in der Lage sein würde, die russisch-französische Annäherung dauerhaft zu verhindern. Seit dem Spätherbst 1876 war damit klar, dass Deutschland mindestens den Flankenschutz Österreich-Ungarns dringend benötigte, um sich gegenüber Russland dauerhaft zu behaupten. Die Habsburgermonarchie war damit trotz ihrer strukturellen Schwäche als Vielvölkerstaat zu einem unverzichtbaren Gegengewicht zum Zarenreich geworden, ebenso wie dies Frankreich für Gortschakow mit Blick auf Deutschland war. Damit war Bismarck zweitens wieder auf die alte Dreikaiserpolitik angewiesen, bei der es ihm um die Stützung Österreich-Ungarns, die Glättung der russisch-österreichischen Spannungen und die unbedingte Vermeidung einer Option gehen musste. Besonders kompliziert wurde die Situation dadurch, dass Berlin einerseits zwischen den beiden Ostmächten vermitteln musste, andererseits aber auch darauf zu achten hatte, dass sich die beiden Mächte über ihre jeweiligen Gegensätze und Einigungen letztendlich womöglich auf Kosten Deutschlands nicht zu nahe kämen. Nach der Absage eines Freibriefes gegen Österreich-Ungarn verständigten sich Wien und St. Petersburg abermals in der Konvention von Budapest (15.1.1877). Sollte Russland gegen die Pforte vorgehen, so sollte Bessarabien russisch werden, Rumänien die Dobrudscha erhalten und ÖsterreichUngarn als Ausgleich Bosnien und die Herzegowina. Die Bildung eines großen slawischen Staates, der auch auf die südslawischen Gebiete der Donaumonarchie anziehend wirken konnte, sollte aber in jedem Fall ausgeschlossen sein. Nachdem die türkische Regierung abermals ein Reformprogramm der Londoner Botschafterkonferenz vom Frühjahr 1877 zugunsten der
Die orientalische Krise und die „Doktorfrage“ aus Livadia
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Christen in ihrem Reich abgelehnt hatte, zog Russland im Sommer gegen die Türkei in den Krieg. Der russisch-türkische Krieg 1877/78 Am 24. April 1877 erklärte Russland im Vertrauen auf die österreichische Neutralität und die englische Passivität dem Osmanischen Reich den Krieg. Die Türken zogen es dabei von Anfang an vor, sich in ihren Festungen zu verschanzen und auf die russischen Truppen zu warten. Erste Erfolge auf dem Balkan ließen nicht lange auf sich warten. Im Kaukasus konnte nach langwierigen Belagerungsschlachten, bei denen die Russen erstmals Telegrafen einsetzten, die Festung Kars im November 1877 eingenommen werden. Bei Plewna allerdings mussten die Russen unter General Michail Skobelew enorme Verluste hinnehmen, ehe sie die Stadt einnehmen konnten. Zu weiteren kriegsentscheidenden, aber sehr verlustreichen Schlachten kam es am strategisch wichtigen Schipkapass im Balkangebirge. Der Pass war der größte und wichtigste Zugang nach Südbulgarien und weiter zum Bosporus sowie nach Konstantinopel. Nachdem die Russen den Pass eingenommen und befestigt hatten, gelang es den Türken nicht mehr, diese Schlüsselstellung zurückzuerobern. An der türkischen Festung Plewna, etwa 40 km südlich der Donau, bissen sich die Russen allerdings unerwartet fest. Erst nach 143-tägiger Belagerung, was die öffentliche Meinung Europas wieder zugunsten der Türkei beeinflusste, mussten die türkischen Verteidiger kapitulieren. Nun war der Krieg entschieden. Die Türken konnten die russisch-bulgarischen Truppen nicht mehr aufhalten. Ende Januar 1878 kapitulierte die Pforte und bat um einen Friedensschluss. Im Diktatfrieden von San Stefano am 3. März 1878 bekam Bulgarien alle Gebiete zugesprochen, in denen Bulgaren lebten. Das Osmanische Reich musste die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens, Montenegros und Bulgariens anerkennen und die Provinz Kars an Russland abtreten. Mit der Gründung eines Großbulgarien und den übrigen massiven Änderungen auf dem Balkan war Russland deutlich über die Vorkriegsvereinbarungen mit Österreich-Ungarn und den übrigen Mächten hinausgegangen. Alarmiert forderten diese nun eine Revision des Friedens von San Stefano.
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Mit der Schaffung eines großslawischen Staates beiderseits des Bosporus und der Dardanellen hatte sich St. Petersburg aber offensichtlich über die Vorkriegsabsprachen von Budapest hinweggesetzt. Nicht nur ÖsterreichUngarn protestierte lauthals. Auch London sah seine strategischen Interessen an den Meerengen gefährdet und entsandte seine Flotte ins Marmarameer. Graf Andrássy war drauf und dran, die Armee zu mobilisieren. Er verlangte von Bismarck grünes Licht für einen Waffengang gegen das Zarenreich. Wieder startete der Wiener Außenminister einen Versuch, Berlin von einer gemeinsamen Allianz mit Wien und London zu überzeugen. Aber diese Option ging Bismarck zu weit, hätte sie doch einen irreversiblen Seitenwechsel gegen den Dreikaiserkurs bedeutet, zumal er für den Ernstfall ohnehin nicht an ein substanzielles englisches Engagement auf dem Kontinent glauben mochte. Um der Bündnisofferte aus dem Weg zu gehen und einem Großkrieg mit unabsehbaren Konsequenzen für Deutschland zu verhüten, sah sich Bismarck gezwungen, nun doch nach langem Zögern aus der Deckung zu kommen und international Stellung zu beziehen. Noch am 19. Februar 1878, dem Tag also, an dem ihn das Wiener Bündnisangebot erreichte, bot er sich „als ehrlicher Makler“ an, „der das Geschäft“ einer internationalen Vermittlung „wirklich zustande bringen will“. Tatsächlich beschrieb die in den Zitatenschatz der Geschichtsbücher eingegangene For-
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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Rückwirkungen auf das Zentrum
mel zunächst nichts anderes als einen weiteren Versuch, eine Option – diesmal zugunsten der Doppelmonarchie – zu vermeiden. Andrássy quittierte Bismarcks Reichstagsrede als eine „Ablehnung der Parteinahme für uns“. Bismarck sah jedenfalls im Frühjahr 1878 in einer deutschen Vermittlung zudem die Chance, die noch immer kritische internationale Gemeinschaft von der Unentbehrlichkeit eines geeinten Deutschlands „als ehrlichem Makler“ zu überzeugen. Eines hatte die Orientkrise überdeutlich werden lassen. Obwohl nur an der Peripherie des Kontinents, wirkten die Konfliktzonen unmittelbar auf das europäische Zentrum und die Außenbeziehungen Deutschlands zurück. Umfang und Art der peripheren Rivalität zwischen Großbritannien und Österreich-Ungarn auf der einen und Russland auf der anderen Seite entschieden in hohem Maße über Sein und Nichtsein der übrigen europäischen Staaten, namentlich über Deutschland in der Mitte. Diese „latente Gegnerschaft war gleichsam das Gewölbe, unter dem sich Europa geborgen fühlte und zu einer relativen Ruhe kam“ (R. Stadelmann). Bismarck nahm die Lehren aus der „Krieg-in-Sicht“-Krise, der „Livadia-Affäre“ und der orientalischen Frage zum Anlass, die deutsche Position im Staatensystem neu zu bestimmen. Die nötige Ruhe dazu fand er in Bad Kissingen. Die Ergebnisse seines „kontrollierten Nachdenkens“ flossen skizzenhaft in das berühmte „Kissinger Diktat“ vom 15. Juni 1877.
4. Das „Kissinger Diktat“ als Leitlinie Bismarckscher Außenpolitik Im Sommer 1877, inmitten der orientalischen Krise und des russisch-türkischen Krieges, reflektierte Otto von Bismarck bei einem Kuraufenthalt in Bad Kissingen die außenpolitischen Lehren seit der Reichseinigung. Die besonderen Umstände, in denen das „Kissinger Diktat“ entstand, zeigen bereits, dass es sich dabei nicht um ein abgeschlossenes außenpolitisches Manifest oder gar politisches Vermächtnis handelte. Bismarck selbst räumte ein, dass seine Gedanken durchaus noch der Verfeinerung bedürften. Gleichwohl ist es zu Recht eine der am meisten zitierten Reflexionen Bismarcks überhaupt. Auch wenn sie kein „vollständiges Bild“ liefern, so geben doch gerade die spontanen Gedanken und Eindrücke einen unverfälschten Einblick in die Bismarcksche Außenpolitik.
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Bismarcks Kissinger Diktat, 15. Juni 1877 Aus: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914, Bd. 2, Nr. 294, S.153f. Ich wünsche, daß wir, ohne es zu auffällig zu machen, doch die Engländer ermutigen, wenn sie Absichten auf Ägypten haben: ich halte es in unserem Interesse und für unsere Zukunft (für(eine nützliche Gestaltung, einen Ausgleich zwischen England und Rußland zu fördern, der ähnliche gute Beziehungen zwischen beiden, wie im Beginn dieses Jahrhunderts, und demnächst Freundschaft beider mit uns in Aussicht stellt. Ein solches Ziel bleibt vielleicht unerreicht, aber wissen kann man das auch nicht. Wenn England und Rußland auf der Basis, daß ersteres Ägypten,
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Das „Kissinger Diktat“ als Leitlinie Bismarckscher Außenpolitik
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letzteres das schwarze Meer hat, einig würden, so wären beide in der Lage, auf lange Zeit mit Erhaltung des Status quo zufrieden zu sein, und doch wieder in ihren größten Interessen auf eine Rivalität angewiesen, die sie zur Teilnahme an Koalitionen gegen uns, abgesehn von den inneren Schwierigkeiten Englands für dergleichen, kaum fähig macht. Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte „le cauchemar des coalitions“; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Laufe der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehn: 1. Gravitierung der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2. der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3. für England und Rußland ein befriedigender Status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben, 4. Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers, 5. Beziehungen zwischen Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten. Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt: nicht das irgend eines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden. Die Okkupation Ägyptens würde nach Englands Ansicht nicht hinreichen, um die Schwierigkeit wegen der Dardanellen zu heben: das System des Doppelverschlusses mit den Dardanellen für England und den Bosporus für Rußland hat für England die Gefahr, daß seine Dardanellenbefestigungen unter Umständen durch Landtruppen leichter genommen als verteidigt werden können; das wird auch wohl die die russische Mentalreservation dabei sein, und für ein Menschenalter sind sie vielleicht mit dem Schluß des Schwarzen Meeres zufrieden. Diese Frage bleibt Sache der Verhandlungen, und das Gesamtergebnis, wie es mir vorschwebt, könnte sich ebenso gut nach, wie vor den entscheidenden Schlachten dieses Krieges ausbilden. Ich würde es für uns als ein wertvolles ansehn, daß es die damit wahrscheinlich verbundene Schädigung unserer Pontusinteressen überwiegen würde, abgesehn von der möglichen Sicherung der letzteren durch die Verträge. Auch wenn ein englisch-russischer Krieg sich nicht sollte verhüten lassen, würde meiner Meinung nach unser Ziel dasselbe bleiben, d. h. die Vermittlung eines beide auf Kosten der Türkei befriedigenden Friedens. v. Bismarck
Bismarck hielt die aktuelle Situation Deutschlands im Sommer 1877 offenbar für eine ideale Ausgangslage, die internationalen Beziehungen im deutschen Sinne zu formen. Unumwunden gab er zu, dass die Furcht vor feindlichen Koalitionen die „Urquelle“ jeder Diplomatie sein müsse, wenn man sich wie Deutschland in der Mitte rivalisierender Großmächte befinde. Im orientalischen Gegensatz erkannte er die Möglichkeit, beide Flügelmächte
Furcht als „Urquelle der Diplomatie“
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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vom europäischen Zentrum an die Peripherie abzulenken und die Gefahr einer deutschfeindlichen Koalition, wie sie sich noch 1875 angedeutet hatte, zurückzudrängen. Es komme also darauf an, das „orientalische Geschwür offenzuhalten und dadurch die Einigkeit der andern Großmächte zu vereiteln und unser[e]n eigenen Frieden zu sichern“. Bismarck visierte somit eine Art dauerhaften Schwelbrand an, dessen Glimmen die Aufmerksamkeit einerseits von Deutschland abzöge, die Mächte aber andererseits jeweils um die deutsche Gunst buhlen ließe. Auch Russland und ÖsterreichUngarn sollten sich misstrauisch, aber keineswegs feindlich und bereit zum Krieg auf dem Balkan gegenüberstehen. Die alte Kaunitzsche Konstellation sollte auf diese Weise verhindert und eine internationale „Gesamtsituation“ erreicht werden, in der „alle Mächte außer Frankreich Deutschlands bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre spannungsreichen Beziehungen untereinander abgehalten werden“. Um Reibungsflächen aufrechtzuerhalten, empfahl Bismarck mehrmals während der Krise eine radikale Lösung in Form einer Aufteilung des Osmanischen Reiches. Je nach Gesprächspartner und Situation kamen dafür verschiedene Varianten in Betracht. So konnte der Balkan in eine österreichische und eine russische Interessenzone aufgeteilt werden, England mit Ägypten, Kreta, Zypern, Syrien, Frankreich mit Tunesien und Italien mit Tripolis zufriedengestellt werden. Die Rivalitäten würden damit weiter bestehen bleiben, nur der große Krieg musste vermieden werden. Kleine, lokal begrenzte Kriege wie etwa der russisch-türkische Krieg dagegen schienen ihm von Zeit zu Zeit als Spannungsventil durchaus akzeptabel, wenn nicht gar erwünscht. So durchdacht, kalkuliert und vollständig die Kissinger Gedanken Bismarcks auf den ersten Blick auch erscheinen, so fällt auf den zweiten doch ein wesentlicher Mangel seiner Berechnungen ins Auge. Mit keinem Wort erwähnte er in seinen Ausführungen das Nationalstaatsprinzip, welches sich gerade in der orientalischen Krise auch auf dem Balkan Bahn brach und hier namentlich die Ambitionen Russlands und der kleinen Balkanstaaten, aber auch die Sorgen Österreich-Ungarns dynamisierte. Obwohl er selbst immer wieder die wachsende Unberechenbarkeit des Zarenreiches aufgrund von dessen innenpolitischer Lage und nationalistischer Strömungen beim Namen nannte, verharrte Bismarck bei der reinen, mechanischen Interessenpolitik. Sie behandelte, wie noch zu zeigen sein wird, die beteiligten Staaten als geschlossene Einheiten und stellte ein wesentliches Handicap seines Kurses dar. Bismarcks Ausführungen aus Bad Kissingen belegen, dass er nach der Reichsgründung und der „Krieg-in-Sicht“-Krise von der Politik der partikulären Schläge auf den Kurs der Saturiertheit eingeschwenkt war. So militärisch entschlossen und expansiv er bis 1871 bzw. bis 1875 vorgegangen war, so vorsichtig und Status quo orientiert gab er sich inmitten der Orientkrise. Ihm ging es nicht um Weltpolitik oder weitere Eroberungen, sondern primär um die Sicherung des Bestehenden. Auch wenn er die Peripherie im Auge behielt, so geschah dies mit dem Ziel die mitteleuropäische Großmächtestabilität zu sichern, indem die im Übermaß vorhandenen Energien nach außen abgelenkt werden sollten und sich nicht auf das europäische Zentrum konzentrierten. Den Geburtsfehler Elsass-Lothringen, der das Reich
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Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878
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nach außen „immobilisierte“, hatte er inzwischen längst erkannt. Nun galt es, unter Aufbietung aller Energie und höchster Aufmerksamkeit, die wenigen Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen, die Deutschland im Kreis des Staatensystems hielten und vor der französischen Revanche schützten. Die Mittel dazu blieben breit gefächert. Die langfristige Friedenssicherung, so vertraute Bismarck kurz vor dem Berliner Kongress seinem Sohn Herbert an, sei für Deutschland wesentlich wichtiger als die kurzfristige Kriegsverhinderung. Mit anderen Worten auch ein begrenzter Krieg, ob mit oder ohne deutsche Beteiligung, war, sofern er die deutsche Existenz sicherte, weiterhin eine Option. Dagegen galt es aber den letztlich unkontrollierbaren großen Krieg zwischen den bestimmenden Flügelmächten, der Anfang 1878 durch die Entsendung der Royal Navy zu drohen schien, unbedingt zu vermeiden. Auf die Steuerung und Kontrolle des anglo-russischen Weltgegensatzes und die Verhinderung eines Flächenbrandes käme für die europäische Mitte alles an. Von der Mitte sollten beide Mächte über eine Konvenienzstrategie nach außen in Richtung Ägypten und vom Balkan in Richtung Schwarzes Meer abgelenkt werden. An den Meerengen als der neuralgischen Bruchzone des Mächtesystems sollten sie Gefallen am Status quo finden und sich gegenseitig belauern, ohne tatsächlich einen Krieg zu riskieren oder eine antideutsche Koalition in Erwägung zu ziehen. Wie aber sollte die Berliner Außenpolitik die Interessen der beiden Flügelmächte an den Meerengen binden? Hier war gleichsam die Grenze deutscher Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit beschrieben. Das wesentliche Dilemma der geopolitischen Lage Deutschlands wie seiner halbhegemonialen Stellung im Mächtesystem war, dass Deutschland letztlich immer mehr von der Politik der Flügelmächte abhing als diese vom deutschen Kurs. Deutschland musste versuchen, die Interessen der Mächte künstlich zu lenken und dabei gleichzeitig jede Option vermeiden. Eine Option für die eine oder andere Seite bedeutete automatisch die Gefahr der Juniorpartnerschaft, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere existenzielle Verwicklungen nach sich ziehen würde. Nicht nur gegenüber Österreich-Ungarn und Russland, sondern auch zwischen Walfisch und Bär, wie die Flügelmächte im Sprachgebrauch der Zeit genannt wurden, galt es also für Berlin jede Präferenz zu vermeiden.
5. Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878 Bevor der Kongress zur Beilegung der Orientkrise im neuen Reichskanzlerpalais in der Berliner Wilhelmstrasse am 13. Juni 1878 zusammentrat, verlangte Bismarck als Gastgeber und Vorsitzender eine grundsätzliche Einigung in den wesentlichsten Streitpunkten. Es sollte zumindest eine erfolgversprechende Grundlage zum Gelingen geschaffen werden. So sehr Bismarck die Chance einer gelungenen Vermittlung für die internationale Akzeptanz Deutschlands erkannte, viel präsenter waren ihm die Risiken eines Scheiterns. Nicht umsonst hatte er sich lange gegen eine Vermittlung gesperrt. Nicht nur Gerson Bleichröder (1822–1893), sein Bankier und Be-
Deutsche Vermittlung
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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rater, bezweifelte, ob eine „ehrliche Maklerrolle“ in der verzwickten orientalischen Problematik überhaupt möglich sein würde. Auch der Reichskanzler selbst fürchtete am Ende mehr als „Schulmeister“ denn als „Schiedsrichter“ in Erinnerung zu bleiben. Letztlich schien ihm aber der Kongress die einzige Möglichkeit, einen Großkrieg und damit die leidige Option zwischen Wien und London auf der einen und St. Petersburg auf der anderen Seite zu verhindern. Anfang Juni war es schließlich bei geheimen bilateralen Verhandlungen zwischen den drei Hauptinteressenten zu einer grundsätzlichen Einigung über die Kernfrage Bulgariens und den Abzug russischer Truppen gekommen. England hatte dabei, sozusagen als Vorauszahlung für weitere Hilfen gegen Russland von der Türkei Zypern zugesprochen bekommen. Es hatte sich damit im Vorbeigehen mit dem Besitz von Gibraltar und Malta nun die uneingeschränkte Vormacht im Mittelmeer gesichert. Österreich-Ungarn bekam als Kompensation das Besatzungsrecht in Bosnien-Herzegowina zugesprochen und Russland schien überraschend bereit, für den Friedenserhalt auf ein Großbulgarien verzichten zu wollen. Die Chancen für einen erfolgreichen Kongress schienen damit wider Erwarten gut, sodass sich Bismarck weder von den innenpolitischen Spannungen als Folge zweier Attentate auf den Kaiser, noch von den Folgen einer schmerzhaften Gürtelrose daran hindern ließ, die Vertreter der Großmächte in Berlin willkommen zu heißen. Zu den Teilnehmern zählten die Vertreter der sechs Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland und Italien), die schon zwei Jahrzehnte zuvor den Pariser Frieden (1856) unterzeichnet hatten. Als bloße Beobachter ohne Stimmrecht wurden überdies Delegierte des Osmanischen Reiches, Griechenlands, Rumäniens und Persiens zugelassen. Als herausragende Persönlichkeiten sind ohne Frage Benjamin Disraeli und Lord Robert Salisbury (1830–1903) für England, Graf Gyula Andrássy für Österreich-Ungarn, Fürst Gortschakow sowie Graf Peter Schuwalow für Russland zu nennen. Aber vor allem Bismarck avancierte auf dem Kongress zur bestimmenden politischen Persönlichkeit in den internationalen Beziehungen. Vom ehemaligen Störenfried mutierte er zum Stabilisierer und beendete damit die Phase der kontinentalen Hochspannung nach der Reichsgründung. Dies zeigte sich insbesondere während der äußerst kritischen Momente gleich zu Beginn des Kongresses.
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Graf Peter Schuwalow (1827–1889) war ein russischer Staatsmann, Soldat und Diplomat. Nach dem Studium machte er schnell in der russischen Armee Karriere und wurde zum Generalmajor und Adjutanten des Zaren befördert. Er galt als liberal und anglophil und war ein ausgesprochener Gegner des Panslawismus. 1874 wurde er zum Botschafter des Zaren in London ernannt. Nach dem Frieden von San Stefano verhinderte er durch geschickte Verhandlungen mit dem englischen Außenminister Lord Salisbury einen englisch-russischen Großmächtekonflikt und erreichte einen Kompromiss, der zum Berliner Kongress führte. Als zweiter russischer Bevollmächtigter in Berlin stand er in der Hierarchie hinter Gortschakow, verhandelte faktisch aber alle Ergebnisse, da sich der betagte Gortschakow frühzeitig aus der Verantwortung zog. Schuwalow musste daraufhin auch die Hauptverantwortung für die Kongressergebnisse übernehmen, die die russische Öffentlichkeit als diplomatische Niederlage empfand. Nur wenige Monate später wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Er starb 1889 in St. Petersburg.
Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878
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Schon die ersten Sitzungen verdeutlichten, worum es Bismarck ging. Sein Ziel war es, zwischen den Hauptkontrahenten England und Russland sowie Österreich-Ungarn und Russland in Einzelverhandlungen zu allgemein anerkannten Kompromissen zu kommen. Eine Option für die eine oder andere Seite abzugeben oder gar selbst in das Minenfeld des Balkans hineingezogen zu werden musste verhindert werden. Die Spannungen zwischen den genannten Mächten sollte unterhalb des Kriegsniveaus latent offengehalten werden. Deutschland konnte so die neu gewonnene Position des Vermittlers aus der Hinterhand halten und wurde endlich in als Großmacht von den anderen akzeptiert. Die allgemein wahrgenommene Dominanz Bismarcks auf dem Kongress stützte sich seiner imposanten Erscheinung, den beinahe freundschaftlich zu nennenden Beziehungen zu Andrássy und Schuwalow sowie seinem politischen Draht zu Salisbury vor allem auf seinen Verhandlungsstil. Von Anfang an ließ er keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um einen Arbeitskongress und nicht wie in Wien (1814/15) oder Paris (1856) primär um ein gesellschaftliches Ereignis handelte. Bismarck wollte nachhaltige Ergebnisse sehen und dies möglichst schnell. Niemand beherrschte überdies den subtilen Gebrauch jeglicher Form differenzierter diplomatischer Gesten so perfekt wie er. Selbst die Begrüßung in Uniform, die er bei den Plenarsitzungen zuweilen trug, war alles andere als zufällig. Sollte sie doch allen Teilnehmern seine Ausnahmestellung und Entschlossenheit vor Augen führen. Das Mittel der gezielten Vertagung bei strittigen Fragen gehörte ebenso zu seinem Repertoire, wie das sorgsam eingesetzte Prinzip der Einstimmigkeit. Letzteres sollte davor schützen, dass Russland sich allzu sehr majorisiert fühlte, denn schließlich war es vor allem St. Petersburg, welches Verzicht üben musste. Detailfragen verbannte er rigoros aus dem Plenum. Auf Verzögerungen reagierte er ungeduldig, gereizt und zuweilen sogar äußerst unfreundlich bis hin zur gezielten Einschüchterung. Besonders gegenüber der Türkei machte er dabei immer wieder in Uniform, ja sogar behelmt deutlich, dass er keinerlei Verzögerungen für türkische Interessen oder nichtige Grenzfragen dulden würde. Sein Verhandlungstempo führte aber andererseits nicht nur dazu, dass bei diesem letzten großen Friedenskongress des 19. Jahrhunderts eine Kongressatmosphäre wie etwa beim Wiener Kongress nicht recht aufkommen wollte, sondern auch zu allerlei Kompromisslösungen. Waren im Plenum keine Übereinstimmungen zu erreichen, sollten ad-hoc gebildete Unterkommissionen bzw. bi- und trilaterale Besprechungen unter vier bzw. sechs Augen die Probleme lösen. Wenn von anderer Seite nicht entschieden protestiert wurde, ließ er kurzerhand einfach seine persönliche Meinung als Beschluss zu Protokoll geben. Sein Streben nach dem maximalen Erfolg bei geringstem Aufwand ließ den Kanzler auch die Reihenfolge der Verhandlungspunkte nach abnehmender Brisanz anordnen. Denn falls der Kongress gleich am ersten, vermeintlich größten Problem der Bulgarienfrage scheiterte, wären nur wenig Zeit und Kraft verschwendet worden. Auch hätte ein rasches Scheitern nicht so stark dem Vermittler zur Last gelegt werden können. Wenn aber das heikelste Problem überstanden und gelöst würde, so bestanden auch die größten Chancen für einen Gesamterfolg. Tatsächlich brachte die erste Frage um die zukünftige Beschaffenheit Bulgariens – dem Dreh- und Angelpunkt der orientalischen Krise – trotz aller
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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Vorabvereinbarungen den Kongress gleich zu Beginn an den Rand des Scheiterns. Disraeli und Salisbury, sekundiert von Andrássy wollten um jeden Preis einen großbulgarischen Vasallen Russlands verhindern. Unisono forderten sie die Aufteilung Bulgariens in ein nördliches und ein, formell noch dem Sultan unterstehendes, südliches Bulgarien. Das Zarenreich sollte zum einen keine Möglichkeit erhalten, mithilfe Großbulgariens die Meerengen zu umgehen. Zum anderen sollte Österreich-Ungarn keine Angst vor einem großslawischen Gravitationszentrum vor der eigenen Haustür haben. Dramatisch wurde die Situation um die Bulgarienfrage schließlich durch die von Salisbury an die Presse lancierte Abreiseandrohung der englischen Delegation. Dies hätte zweifellos Krieg bedeutet. Großbritannien hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass es vor einem Waffengang mit dem angeschlagenen Zarenreich nicht zurückschrecken werde.
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Robert Arthur Talbot Gascoigne Cecil, 4th Marquess of Salisbury (1830–1903), prägte seit dem Berliner Kongress die britische Außenpolitik und gilt als kongenialer außenpolitischer Partner Bismarcks. Mit diesem verband ihn nicht nur eine durch und durch pragmatische Realpolitik, sondern auch die innige Ablehnung der idealistischen Politik Herbert Gladstones. 1885 wurde Salisbury erstmals Premierminister einer Minderheitenregierung, die aber schon ein Jahr später, nach Spaltung der Liberalen in der Irlandfrage eine stabile Mehrheit erhielt und erst 1892 abgelöst werden sollte. Von 1895 bis 1902 führte Salisbury sein zweites Kabinett an und übernahm darin bis 1900 auch die Verantwortung als Außenminister. In seiner zweiten Amtszeit kam es sowohl zur allmählichen Entfremdung gegenüber der wilhelminischen Außenpolitik, ausgedrückt im Krüger-Telegramm (1896), als auch zu den von ihm selbst missbilligten bilateralen Sondierungen zwischen 1899 und 1902.
Bismarck als Friedenswahrer
Bismarck entschärfte die Krise in drei langen Privatgesprächen mit Disraeli, Salisbury und Schuwalow. Ihm gelang es, den Krieg zu vermeiden und den Kongress zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Die Ergebnisse wurden am 13. Juli 1878 im Berliner Vertrag festgeschrieben.
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Hauptbestimmungen der Berliner Kongressakte: Rumänien, Serbien und Montenegro wurden souverän; Österreich-Ungarn erhielt mit dem Besatzungsrecht in Bosnien, der Herzegowina und dem Sandschak von Novipazar, der Serbien von Montenegro trennte, mehr als im Vertrag von Budapest vereinbart; Russland erhielt mit Kars, Batum, Ardahan und Bessarabien von Rumänien, das als Kompensation dafür die Dobrudscha erhielt, ebenfalls mehr als in Budapest. Jedoch wurde das Hauptergebnis des russischen Sieges über die Türken, ein geeinigtes Großbulgarien, revidiert. Es wurde dreigeteilt und territorial beschnitten. Der Norden erhielt die Stellung eines autonomen, der Pforte tributpflichtigen Fürstentums unter einem christlichen Fürsten, der nicht Mitglied des regierenden Hauses einer der europäischen Mächte sein durfte. Er wurde auf das Gebiet zwischen Donau und Balkan beschränkt. Der Süden wurde Ostrumelien getauft und türkische Provinz mit voller Selbstverwaltung. Rumelien (Mazedonien und Thrakien) hingegen gelangte wieder uneingeschränkt unter die osmanische Oberhoheit. England sicherte sich seinen Gewinn noch vor dem Kongress am 4. Juni 1878. In einem Vertrag mit der Türkei erhielt es das Besatzungsrecht auf Zypern, einem für die Zukunft noch sehr wichtigen Stützpunkt im östlichen Mittelmeer. Italien ging leer aus.
Bei aller Staatskunst jedoch konnte Bismarck es nicht allen Hauptbeteiligten recht machen. Es lag in der Natur der Ausgangssituation von San Stefano,
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Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878 dass Russland zumeist Verzicht üben musste. Seine Gewinne waren schlichtweg zu üppig ausgefallen. Kaum nötig zu erwähnen, dass der Reichkanzler dafür in London, Wien und selbst Paris viel Lob erfuhr, während sich Russland von ihm im Stich gelassen fühlte. Bismarck stand auf dem Zenit seines Einflusses. Vor allem Disraeli, Salisbury und Andrássy zeigten sich besonders beeindruckt von seiner Präsenz und seinem diplomatischen Repertoire. Aber auch Graf Peter Schuwalow räumte letztlich ein, dass „ohne den Fürsten“ die Ergebnisse für Russland wohl noch verheerender ausgefallen wären. Der Botschafter hielt neben dem Frieden von San Stefano, den er ungeschminkt „als größte Dummheit“ der russischen Diplomatie überhaupt bezeichnete, vor allem die schlechte russische Vorbereitung und das unmögliche Auftreten seines ebenso greisen wie eitlen Vorgesetzten Gortschakow für die Ergebnisse verantwortlich. Tatsächlich hatte sich der russische Kanzler und Außenminister bei allen kritischen Fragen zurückgezogen und immer wieder Schuwalow vorgeschickt, um später ja keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Obwohl sich die anderen Kongresteilnehmer, namentlich Disraeli und Andrássy, wegen der deutlich zutage tretenden Uneinigkeiten in der russischen Delegation schon beinahe mitleidig über die Position Schuwalows zeigten, nahmen sie dies natürlich nicht zum Anlass, den russischen Interessen von sich aus entgegenzukommen. Bismarck hatte sich in der heiklen Frage territorialer Kompensation stets als der „ehrliche Makler“ erwiesen, so wie es der Reichskanzler in seiner Reichstagsrede angekündigt hatte. Während des Kongresses hatte er fast jede Stellungnahme mit den Worten eingeleitet, dass Deutschland „bezüglich der Ostfrage keinerlei Interessen verfolge“. Seine Strategie der zurückhaltenden Vermittlung ohne Provision entsprach seiner Konzeption, weder „Schiedsrichter noch Lehrmeister Europas“, sondern jene „Bleigarnierung“ zu sein, durch welche das „Stehaufmännchen Europa“ immer wieder zum Stehen gebracht werden könne. Dementsprechend gelang es, den großen Krieg zu vermeiden und gleichzeitig das „orientalische Geschwür“ offenzuhalten. Auf der Habenseite konnte das junge Reich unmittelbar nach dem Kongress seine Akzeptanz als halbhegemoniale Großmacht, insbesondere durch England und ÖsterreichUngarn, aber z.T. sogar auch durch Frankreich verbuchen. In Berlin hatte es Bismarck vermocht, mit den Mitteln der alten Kabinettsdiplomatie die Bewegung der Balkanvölker und das Nationalstaatsprinzip für das Gleichgewicht der europäischen Pentarchie an den Rand zu drücken. Dafür erntete er im Westen Beifall und endlich Akzeptanz unter den Mächten. Beeindruckt von seiner ausschlaggebenden aber bescheidenen Rolle auf dem Kongress, revidierte die englische Regierung ihre ursprünglich misstrauische Haltung. Bismarck war es gelungen, die Saturiertheit Deutschlands glaubhaft darzutun, weshalb Salisbury schlussfolgerte, dass es keine zwei Staaten gebe, die so wenig Rivalitäten und so viele Gemeinsamkeiten hätten, wie England und Deutschland. Dennoch war Bismarck außerstande, den Spagat zwischen dem abseits wartenden „Walfisch“ und dem sich immer mehr entfernenden „russischen Bären“ zu vollenden. Die freundlichen Worte Salisburys sollten sich im diplomatischen Tagesgeschäft sogar bald als bedeutungslos herausstellen. Die britische Seemacht hatte nach dem Kongress zweifellos allen Grund zum
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Spagat zwischen „Walfisch“ und „Bär“
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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Deutsch-russische Entfremdung
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Jubeln. Mit der friedlichen Verhinderung eines Großbulgarien, mit dem bereits vor dem Kongress erzielten „Pfand“ Zypern, dass im späteren „Scramble for Africa“ noch eine bedeutende Rolle spielen sollte und mit der Zerstörung des Dreikaiserabkommens war Großbritannien als großer Sieger aus den Verhandlungen hervorgegangen. Das Abkommen war für Disraeli, wie er Königin Victoria mitteilte, schon beim Ausbruch der Krise faktisch „erloschen wie das römische Triumvirat“. So sah London keine Veranlassung, den Schmeicheleien Salisburys handfeste Taten folgen zu lassen und verharrte immer noch in seiner bequemen „splendid isolation“. Es stellte sich bald heraus, und damit wurde der Berliner Kongress nach der 1875er Krise zum zweiten Lehrstück, dass Deutschland in seinem Dilemma, in der Mitte Europas saturiert sein zu müssen, gefangen war. Es hatte eben nur eine halbhegemoniale Stellung inne, die es einerseits für das Gleichgewicht auf dem Kontinent zu stark, aber andererseits von der Politik der Flügelmächte abhängig machte. Es konnte einfach nicht – wie im Kissinger Diktat beschrieben – für England und Russland zugleich einen befriedigenden Status quo erreichen und sich der Freundschaft beider erfreuen. Da Russland das Kongressergebnis diametral entgegengesetzt zu England bewertete, war ein diplomatischer Sieg letztlich für Deutschland außer Reichweite. Trotz des größten Landgewinns, den das Zarenreich je nach einem Krieg mit der Türkei erzielt hatte, betrachtete es die deutsche Vermittlung als bittere Niederlage. Bismarck habe es, so die einhellige Meinung der russischen Öffentlichkeit und bald auch der Regierung, im Stich gelassen, weshalb er in der Folgezeit zum Kristallisationspunkt antideutscher Agitationen aus dem enttäuschten panslawistischen Lager wurde. Und obwohl der auf dem Kongress letztlich maßgebliche russische Bevollmächtigte Schuwalow Bismarcks Kongressführung sogar als insgesamt „russophil“ bezeichnet hatte, suchte die russische Regierung, die übrigens über alle Schritte Schuwalows jederzeit unterrichtet gewesen war und auch alle Zugeständnisse durchweg begrüßt hatte, nach dessen Ende plötzlich die Ursache für ihre angebliche Niederlage nicht in der unüberlegt vorpreschenden eigenen Heißspornpolitik à la San Stefano, sondern in der deutschen Illoyalität. Das Kaiserreich habe letztlich die „europäische Koalition gegen Russland“ angeführt. Plötzlich hatte auch Zar Alexander II. seine ursprüngliche Auffassung revidiert, wonach ihm eine Teilung Bulgariens kein Problem bereiten würde, wenn doch nur die Gräueltaten an der christlichen Bevölkerung aufhörten. Von einem „Frieden um jeden Preis“, wie vor dem Kongress, wollte die St. Petersburger Kamarilla plötzlich ebenfalls nichts mehr wissen. Andererseits verwies der Zar nun vor allem wieder an das Versprechen Wilhelms I., „sich immer an 70/71 erinnern“ zu wollen. Obwohl Bismarck von Anfang an die Sorge hatte, Russland könne ihm die Kongressergebnisse negativ anlasten, so hatte er nicht mit dieser Vehemenz der russischen Vorhaltungen gerechnet. Auf dem Kongress zählten ausschließlich Großmachtinteressen. Nationale Interessen der Balkanvölker spielten keine Rolle. Die Folge waren anhaltende Irredentagefühle, die die Staatenbeziehungen nachhaltig vergiften sollten. Das enttäuschte Serbien tendierte bis zur Jahrhundertwende nach Wien. Die Expansion Österreich-Ungarns war alles andere als ein Gewinn, denn Bosnien und die Herzegowina erwiesen sich letztlich als Achillesferse
Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878
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des Vielvölkerstaates, wie sich 1908/09 und 1914 zeigen sollte. Das geteilte Bulgarien blieb unberechenbar und für Russland hatte sich der Triumph von San Stefano in sein Gegenteil verkehrt. Nun geriet es erst recht unter panslawistischen Druck. Bereits frühzeitig hatte Bismarck diese neue Kraft, anders als etwa Kaiser Wilhelm I., erkannt. Seine Kabinettsdiplomatie auf dem Kongress, die den Frieden sichern half, zwang aber gleichzeitig dazu, die Explosionskraft des Nationalismus auf dem Balkan und die panslawistisch begründete Solidarität in Russland beiseite zu drängen. Ebenso hatte er dem Einfluss Gortschakows am Petersburger Hof nicht genügend Beachtung geschenkt. Selbst hoffte er offenbar zu sehr auf Schuwalow als künftigen russischen Außenminister. Erst später, in seinen Gedanken und Erinnerungen, hat er die Tragweite seiner Fehleinschätzung erfasst und den Kongress als seine „größte Torheit“ bezeichnet. Statt sich als Vermittler anzubieten, so meinte er aus der Rückschau, hätte man lieber „England und Russland sich raufen und gegenseitig auffressen lassen sollen, wie zwei Löwen im Walde von denen nur die Wedel übrig blieben“. Dann hätte das Reich „mehr Einfluß, Ruhe und weniger Gefahr“ gehabt. Wahrscheinlich wäre eine strikte deutsche Neutralität in einer neuerlichen Krimkriegskonstellation Ende der 1870er-Jahre wirklich eine gangbare Möglichkeit gewesen. Ein neutrales Deutschland brauchte 1878 noch überhaupt keine Furcht vor dem schwachen und isolierten Frankreich zu haben und der für das Reich so existenzielle Großmachtstatus der Donaumonarchie wäre angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und militärischen Lage des Zarenreiches auch bei einem Konflikt mit diesem wohl nicht in Gefahr gewesen. Allerdings konnte und wollte Bismarck auch keine dauerhafte Schwächung Russlands in Kauf nehmen, da er in dem autokratischen Zarenreich einen natürlicheren Partner erkannte als in dem konstitutionellen Großbritannien. Von der Vorstellung geprägt, in der Mitte Europas agieren und das „orientalische Geschwür“ zum Wohle des neuen Reiches in der Mitte Europas „offenhalten zu müssen“, hatte sich der deutsche Reichskanzler schließlich doch für das Wagnis der Vermittlung entschieden. Ihn leiteten im Frühjahr 1878 neben ständigen Bündnisalpträumen zum einen die Furcht vor einem eskalierenden europäischen Konflikt, in dessen Verlauf das junge Reich in der Mitte zerrieben werden konnte. Zum anderen lockte die Aussicht auf eine friedliche Vermittlung, die das Reich als unentbehrlichen Faktor im neuen Konzert der Mächte etablieren sollte. Die Belastung des deutsch-russischen Verhältnisses konnte nur mit Mühe wieder behoben werden, von Grund auf beseitigt wurde sie bis 1914 nicht. So hoch Bismarcks Leistung auf dem Kongress durch seine überlegene Verhandlungsführung zu bewerten ist, so lebenswichtig und substanziell wurde für das Reich in Zukunft die Frage nach den Beziehungen zu Russland. Selbst unter günstigsten Bedingungen, das hatte der Kongress gezeigt, war das Kissinger Ideal nicht zu verwirklichen. Der Kongress von Berlin wurde so Lehrstück und Wendepunkt zugleich, indem er nun eine neue Etappe in der permanenten Suche nach mehr Stabilität für das halbhegemoniale Deutschland einleitete. Damit ging die Epoche der Bündnislosigkeit zu Ende und Bismarck suchte fortan, die deutsche Sicherheit in einem Netz von Verträgen zu wahren. Der Kongress markierte aber nicht nur den Beginn der „Ära Bismarck“. Rückblickend wirkt er mit
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seinen territorialen Bestimmungen als eine Zäsur zwischen dem Zeitalter des europäischen Gleichgewichts und dem nun aufkommenden Zeitalter des Imperialismus.
6. Vom „Ohrfeigenbrief“ zum Zweibund
Disziplinierung Russlands
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Russland, das hatte Schuwalow unumwunden eingeräumt, hatte sich die Ergebnisse des Berliner Kongresses weitgehend selbst eingebrockt. Die russische Führung um den betagten Gortschakow und Zar Alexander II. wie auch die Panslawisten fochten das nicht an. Schuld an dem negativen Konferenzergebnis hatte für sie allein das Deutsche Kaiserreich, namentlich Otto von Bismarck. Kaum war die russische Delegation aus Berlin zurückgekehrt, entfachte die panslawistische Presse im Zarenreich eine Kampagne gegen Deutschland im Allgemeinen und den Reichskanzler im Besonderen. Gortschakow hatte zudem jegliche Verantwortung von sich auf Peter Schuwalow abgeschoben, weshalb dieser wenig später seinen Abschied nehmen musste. Statt aber einzulenken und wie ihm Joseph von Radowitz riet, die zaristische Regierung durch eine verstärkte internationale Unterstützung zu beschwichtigen, setzte Bismarck demonstrativ darauf, das Zarenreich zu disziplinieren. Russland sollte zusätzlich zu seinen inneren Problemen einen äußeren Isolationsdruck verspüren, um ja nicht auf den Gedanken einer antideutschen Koalition zu kommen. Es sollte Deutschland endlich als ebenbürtig und als einzigen verbliebenen Kooperationspartner anerkennen. Eine durchaus komplizierte, wenn nicht gar verquere Rechnung, das Riesenreich zunächst wiederholt vor den Kopf zu stoßen, um es damit wieder an sich heranzuziehen. Aber vor dem zeitgenössischen Erfahrungshintergrund, den Bismarck mit anderen Größen wie etwa Disraeli, Salisbury oder Andrássy teilte, durchaus nachvollziehbar. Sie alle vereinte die Erfahrung, dass Russland dazu neigte, diplomatisches Wohlwollen stets als Schwäche auszulegen und in erster Linie die Sprache der Gewalt verstehe. Bismarck reizte in den folgenden Monaten seine Vorteile bis zum Letzten aus. Er suchte das Zarenreich förmlich an die Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns „zurückzuprügeln“. Als erstes wies er dazu seine Vertreter bei der internationalen Kommission zur Umsetzung des Berliner Vertrages an, jede russische Unterstützung demonstrativ zu vermeiden und damit das günstige Verhältnis zu ÖsterreichUngarn und den Westmächten zu stabilisieren. Anfang 1879 folgte ein regelrechter, bis heute als diplomatisches Instrument noch nicht ausreichend erforschter Pressefeldzug gegen Russland. Begleitet wurde diese Kampagne von einem Annäherungskurs an Frankreich, dem er seine Unterstützung beim Erwerb Tunesiens und eine Vermittlung mit England zusagte. Auch hierbei sollten die westlichen Beziehungen gestärkt, Frankreich auf andere Gedanken als die Revanche gebracht und gegenüber Russland Stärke bewiesen werden. Etwa zur gleichen Zeit, Ende Januar 1879, holte Bismarck zu einem weiteren Schlag gegen Russland aus.
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Während seiner Reichstagsansprache vom 5. Dezember 1876 hatte er es noch mit Blick auf die „Livadia-Affäre“ und die orientalische Krise abgelehnt, einen Zollkrieg mit Russland wegen dessen neu eingeführter Zollbarrieren gegen deutsche Produkte zu riskieren. Wiederholt hatte er dabei vor einer Verquickung wirtschaftlicher und außenpolitischer Fragen gewarnt und für sich ausgeschlossen. Jetzt aber sah er dazu offenbar keinen Grund mehr. Seit Monaten monierten deutsche Industrie- und Handelsfirmen bereits die Benachteiligung des deutschen Exports von Industrie- und Fertigwaren in das Zarenreich. Der Ausbruch einer Rinderpest bot nun den geeigneten Vorwand, Russland auch wirtschaftlich zu treffen. Berlin erließ eine „Pestsperre“ (30. Januar 1879) und brachte damit den russischen Viehimport zum Erliegen. Der deutsche Botschafter am Zarenhof, Lothar von Schweinitz, nahm darin entsetzt einen aus dieser Maßnahme herrührenden „anti-deutschen Wendepunkt“ in allen russischen Gesellschaftskreisen wahr. Die offizielle russische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Anfang Februar 1879 verkündete der als Sprachrohr Gortschakows bekannte „Golos“ das Ende des Dreikaiserverhältnisses und verlangte zudem noch eine Annäherung an Frankreich um das Kaiserreich „in die Zange“ zu nehmen. Drohte Bismarck den Bogen zu überspannen? Konfrontiert mit dem cauchemar des coalitions schlug er zurück. Sein schärfstes Schwert war einmal mehr die lancierte Presseattacke. Die Zeitschrift Die Grenzboten griff für ihn die Politik Russlands wiederholt scharf an. Sie warnte eindringlich vor einem deutschfeindlichen Kurs. Mehr und mehr hatte es den Anschein, als führe der Reichskanzler einen erbitterten Privatfeldzug gegen seinen einstigen Freund Gortschakow. Dem Zaren ließ er nun über den Militärbevollmächtigten, Bernhard von Werder (1823–1907), mitteilen, dass er erst nach dessen Entlassung wieder zu verbesserten deutsch-russischen Beziehungen bereit sei. Tatsächlich schien ihm in dieser Phase „kein Verlaß mehr auf Russland“. Gegenüber von Schweinitz fasste er sogar einen kompletten Kurswechsel in Richtung England und insbesondere Österreich-Ungarn ins Auge, sollte das Zarenreich dem Kaiserreich nicht endlich von gleich zu gleich begegnen. Ausdruck dieser neuen Perspektivlage war auch die Änderung des deutschen Operationsplanes für den Ernstfall des Zweifrontenkriegs. Bis zum Kongress sollte noch zuerst die Entscheidung im Westen gesucht werden, bevor man sich gegen den Osten wenden würde. Jetzt, nach den deutlich gewachsenen Spannungen, sollte sich das Gros der deutschen Armee nach den Vorstellungen von Moltkes zuerst in die Offensive gegen Russland werfen. Aber auch Russland nahm zunehmend eine drohende Haltung ein. Noch brach sich die russische Verstimmung insbesondere in Pressepolemiken und einzelnen symbolischen Signalen wie einer sukzessiven Verstärkung russischer Garnisonen an der deutschen Grenze Bahn. Am 15. August 1879 beschritt der Zar eine neue Eskalationsstufe. In einem gezielt an den bekanntermaßen russlandfreundlichen Kaiser Wilhelm I. gerichteten persönlichen Handschreiben, dem Ohrfeigenbrief, beklagte sich Alexander II. vehement und ohne Umschweife über die deutsche Illoyalität gegenüber Russland und schloss mit einer drohenden Warnung.
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„Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“
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Sogenannter Ohrfeigenbrief des Zaren Alexander II. an Wilhelm I., 15. August 1879 (Auszug) Aus: Bernhard Schwertfeger, Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871–1914. Ein Wegweiser durch das große Aktenwerk der Deutschen Regierung, Berlin 1923–1927, Teil I, S. 250f. Ermutigt durch die Freundschaft, die Sie nie aufgehört haben, mir zu bezeugen, bitte ich Sie um Erlaubnis, mit Ihnen in aller Offenheit über einen empfindlichen Gegenstand sprechen zu dürfen, der mich unaufhörlich beschäftigt. Es handelt sich um die Haltung der verschiedenen deutschen politischen Vertreter in der Türkei, in der sich seit einiger Zeit leider eine Feindseligkeit gegenüber Rußland offenbart, die in völligem Widerspruch zu den Überlieferungen freundschaftlicher Beziehungen steht, die seit mehr als einem Jahrhundert die Politik unserer beiden Regierungen geleitet hatten und die durchaus ihren gemeinsamen Interessen entsprachen. Diese Überzeugung hat sich bei mir nicht geändert, und ich halte sie voll aufrecht, indem ich mir schmeichle, daß sie auch die Ihrige ist. Aber die Welt urteilt nach den Tatsachen. Wie soll man […] die uns immer feindlicher werdende Haltung der deutschen Vertreter im Orient erklären, wo, nach Bismarcks eigenen Worten, Deutschland keine eigenen Interessen zu wahren hat, wir aber sehr ernste. Wir haben soeben den ruhmvollen Krieg beendet, der keine Eroberung bezweckte, sondern allein die Besserung des Loses der Christen in der Türkei. […] Die Bevollmächtigten Frankreichs und Italiens treten in allen Fragen den unsrigen bei, wogegen diejenigen Deutschlands das Losungswort erhalten zu haben scheinen, stets die Ansicht der Österreicher, die unplanmäßig feindlich ist, zu unterstützen, und das bei Fragen, die Deutschland in keiner Weise angehen, für uns aber von sehr großer Bedeutung sind. Verzeihen Sie mir, mein lieber Onkel, […] ich würde mir nicht erlaubt haben, Sie daran zu erinnern, aber die Dinge nehmen eine zu ernste Wendung, als daß ich Ihnen die Befürchtung verhehlen dürfte, die mich erfüllen, und deren Folgen für unsere beiden Länder unheilvoll werden könnten. Möge Gott uns davor bewahren und Sie erleuchten!
Zweibundpolitik
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Unter anderen Umständen und ohne die Überzeugung, dass Russland letztlich einlenken werde hätte dieser Brief Bismarck durchaus schlaflose Nächte bereiten können. Aber Bismarck spielte nun seine Trumpfkarte. Keine zwei Wochen nach Alexanders „Briefohrfeige“ war der Kanzler mit dem schon längst auf ihn wartenden Grafen Andrássy übereingekommen, eine Defensivallianz zu schließen. Einziges Hindernis zwischen Wien und Berlin blieb Kaiser Wilhelm I. Nicht umsonst hatte der Zar seine Beschwerden persönlich gegenüber seinem Hohenzollernonkel vorgebracht. Durch und durch Preuße, erkannte der Kaiser das Zarenreich noch immer als unentbehrlichen Verbündeten gegenüber dem traditionellen österreichischen Rivalen an. Mit Sorge betrachtete Bismarck deshalb auch die für den 4. September 1879 beabsichtigte und von Wilhelm I. auf eigene Faust betriebene versöhnliche Entrevue mit dem Zaren in Alexandrowo. Ganz offensichtlich hatte Alexander II. von den Verhandlungen zwischen Bismarck und Andrássy erfahren und wollte nun eine deutsch-österreichische Verbindung noch im letzten Moment torpedieren. Auch Bismarck favorisierte ja eigentlich einen deutsch-russischen Ausgleich. Anders als der Kaiser aber, wollte er, dass Deutschland dabei die Kontrolle übernehme und gleichzeitig zum Kräfteausgleich mit Österreich-Ungarn verbunden sei. Die Defensivallianz mit Wien, so gab er sich von seinem Kurs am 1. September 1879 überzeugt,
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werde Russland einlenken lassen und dies ohne deutsche Unterordnung. Erst dann könne die Idealvorstellung eines Drei-Kaiser-Bündnisses wieder in Angriff genommen werden. Alles andere bedeute eine deutsche Juniorpartnerschaft. Bismarck hielt die zaristische Regierung mit Blick auf die vehementen Reaktionen nach dem Kongress wegen des zunehmenden Panslawismus für nahezu unberechenbar. Wilhelm I. dagegen durchschaute den Druck, unter dem sein Neffe Zar Alexander II. stand, nicht. Für Bismarck bedeutete das Treffen vielmehr ein „embryonisches Olmütz“ – also ein Zurückweichen und Zurückstecken nationaler Interessen gegenüber Russland wie Preußen es im November 1850 gegenüber Österreich bei der nationalen Frage und der Restaurierung des Deutschen Bundes erlebt hatte. Es bedeutete damit genau das Gegenteil dessen, was er seit Monaten mit seiner Politik der Stärke betrieben hatte. „Österreich“ dagegen hielt er als Bundesgenossen für berechenbarer. Für den russophilen Wilhelm I. signalisierte die Begegnung mit dem Zaren hingegen eine Wiederannäherung. Eine Vereinbarung mit Wien war in seinen Augen überflüssig. Darüber hinaus erschien ihm eine solche als „partie inégale“. Faktisch gesehen hatte er damit nicht einmal unrecht. Schließlich schützte der Zweibund in erster Linie die Habsburgermonarchie. Die Bündnisverpflichtung mit voller Heeresstärke galt nämlich nur im Falle eines Angriffs Russlands oder mit russischer Beteiligung. Während also Deutschland Wien in jedem Fall gegen Russland beizustehen hatte, war Österreich-Ungarn bei einem alleinigen Angriff Frankreichs auf Deutschland nicht zum Beistand verpflichtet. Hier war die Doppelmonarchie nur zu einer wohlwollenden Neutralität bereit. Aber so wenig wie Wilhelm I. den zunehmenden panslawistischen Einfluss auf die zaristische Regierung erkannte, so wenig überblickte er die komplizierte Bismarcksche Bündnisdialektik. Diesem ging es in erster Linie um die Vermeidung des Zweifrontendrucks und er rechnete durchaus in internationalen Wahrscheinlichkeiten. An einen alleinigen Angriff Frankreichs glaubte er dabei ebenso wenig wie an einen russischen Alleingang gegen Österreich-Ungarn, wenn St. Petersburg von einer Vereinbarung Berlins und Wiens ausgehen musste. Mit anderen Worten galt bereits für den Zweibund, dass es sich hier in erster Linie um eine militärische Rückversicherung für den Ernstfall handelte, dessen Inkrafttreten aber durch flankierende politisch-präventive Maßnahmen, wie die Lancierung seines Bestehens oder subtile internationale Signale, unwahrscheinlich gemacht werden sollte. Sinn und Zweck des Bündnisses war es also, wie es auch für die späteren Allianzen Bismarcks der Fall sein sollte, den vereinbarten casus foederis gar nicht erst eintreten zu lassen. Aber auch mit Blick auf die eigene Innenpolitik hielt Bismarck eine Verbindung mit der Donaumonarchie für „sicherer, weil das Volk dafür ist, dabei ungefährlich für uns, bringt England mit und verfällt feindlichen Einflüssen, wenn es den Halt an uns nicht findet“. Für einen Moment lang, so scheint es, schwebte dem Kanzler sogar eine Art großdeutsche Lösung vor. So visierte er ein „engeres“, „organischeres“ und parlamentarisch abgesichertes Verhältnis an – eine „gegenseitige Assekuranz-Gesellschaft für den Frieden“. Als einen „nationalen Gedanken“ erinnerte Bismarck dabei bewusst an die großdeutsche Idee eines engeren und weiteren Bundes in der Mitte des Kontinents aus den 1840er- und 1850er-Jahren. Ging es ihm dabei
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um eine neue deutsche Sendung angesichts des Mangels einer ostensiblen Missionsidee [L. Dehio] nach 1871? Wieder schien es, Bismarck wolle Innen- und Außenpolitik miteinander in Einklang bringen. Gerade das Zentrum und die Liberalen hatten einem mitteleuropäischen Block schon länger das Wort geredet. Wahrscheinlicher aber erkannte er in einer auch verfassungspolitisch verankerten Verbindung eine indirekte Lösung für das schier unauflösbare Dilemma des deutschen Nationalstaates, im Zeitalter der expansiven Machtpolitik dauerhaft auf jegliche Expansion verzichten zu müssen, ohne aber an politischer Kraft zu verlieren [K. Hildebrand]. Dem 82-jährigen Kaiser konnte er mit derart komplizierten Gedankengängen und Vorausberechnungen nicht beikommen. Hier waren Überredung und sanfter Druck aus dem engsten kaiserlichen Umfeld gefragt. Bismarck gelang es, dafür neben dem preußischen Staatsministerium vor allem Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke und den Kronprinzen zu gewinnen. Sie alle drängten Wilhelm I. zur Zustimmung und versuchten, ihn im Sinne Bismarcks davon zu überzeugen, dass der Zweibund nicht notwendigerweise einen Bruch mit dem Zarenreich bedeuten müsse, sondern durchaus ein erneuter Anlauf zu einer Dreikaiserverbindung sein konnte. Den Ausschlag für das kaiserliche Einlenken gab aber schließlich die Rücktrittsandrohung Bismarcks. Dieser, so gestand der Monarch resignierend und ohne Umschweife, „ist notwendiger als ich“. Am 7. Oktober 1879 wurde schließlich der Zweibund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn als Defensivallianz gegen Russland ratifiziert. Unmittelbar zuvor (29. September 1879) signalisierte der russische Botschafter Saburow die grundsätzliche Bereitschaft seines Landes, wieder auf die Ebene der Drei-Kaiser-Politik zurückzukehren. Bismarck hatte also Recht behalten: Russland lenkte ein.
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Der Zweibund, 7. Oktober 1879 (Aus: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914, Bd. 5, Nr. 1116, S. 288–290). Artikel I. Sollte wider Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch der beiden Hohen Kontrahenten Eines der beiden Reiche von Seiten Russlands angegriffen werden, so sind die Hohen Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht Ihrer Reiche beizustehen und demgemäß den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen. Artikel II. Würde Eines der Hohen kontrahierenden Teile von einer anderen Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich hiermit der andere Hohe Kontrahent, dem Angreifer gegen Seinen Hohen Verbündeten nicht nur nicht beizustehen, sondern mindestens eine wohlwollende neutrale Haltung gegen den Hohen Mitkontrahenten zu beobachten. Wenn jedoch in diesem Falle die angreifende Macht von Seiten Russlands, sei es in Form einer aktiven Kooperation, sei es durch militärische Maßnahmen, welche den Angegriffenen bedrohten, unterstützt werden sollte, so tritt die im Artikel I dieses Vertrages stipulierte Verpflichtung des gegenseitigen Beistandes mit voller Heeresmacht auch in diesem Falle sofort in Kraft und die Kriegführung der beiden Hohen Kontrahenten wird auch dann eine gemeinsame bis zum gemeinsamen Friedensschluß.
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Artikel III. Dieser Vertrag soll in Gemäß seines friedlichen Charakters und um jede Missdeutung auszuschließen, von beiden Hohen Kontrahenten geheim gehalten und einer dritten Macht nur im Einverständnis beider Teile und nach Maßgabe spezieller Einigung mitgeteilt werden. Beide Hohen Kontrahenten geben Sich nach den bei der Begegnung in Alexandrowo ausgesprochenen Gesinnung des Kaisers Alexanders der Hoffnung hin, daß die Rüstungen Russlands sich als bedrohlich für Sie in Wirklichkeit nicht erweisen werden, und haben aus diesem Grunde zu einer Mitteilung für jetzt keinen Anlaß – sollte sich aber diese Hoffnung wider Erwarten als eine irrtümliches erweisen, so würden die beiden Hohen Kontrahenten es als eine Pflicht der Loyalität erkennen, den Kaiser Alexander mindestens vertraulich darüber zu verständigen, daß Sie einen Angriff auf Einen von Ihnen als gegen Beide gerichtet betrachten müßten.
Das konnte durchaus darüber hinwegtrösten, dass von ihm mit dem zunächst auf fünf Jahre abgeschlossenen Bündnis nur ein Minimalergebnis erzielt worden war. Gegenüber Andrássy gelang es ihm weder, Russland als direkt angesprochenen Gegner aus dem Vertragstext zu streichen, noch eine vollumfängliche „Assekuranz-Gesellschaft“ zu erzielen. Von einem mitteleuropäischen Block nach dem Vorbild des Deutschen Bundes, parlamentarisch abgesichert und unter preußischer Führung, der vielleicht auch das Manko einer Missionsidee nach der Reichsgründung ausgleichen sollte, wollte der Habsburger Außenminister schlichtweg nichts wissen. So gesehen blieb der Zweibund tatsächlich eine „unvollendete Aushilfe“ [L. Gall]. Richtig ist auch, dass Deutschland damit seine im Kissinger Diktat angemahnte „freie Hand“ streng genommen einbüßte und es die lange vermiedene Option zwischen Russland und Österreich-Ungarn, wenn auch „begrenzt“, vollzog. Das Fernziel einer Dreikaiserverbindung blieb zwar bestehen, aber der Abschluss bedeutete zweifellos zunächst einmal eine Richtungsentscheidung. Die Frage aber bleibt: Welche Alternativen bestanden? Konnte Deutschland in der europäischen Mitte mit der Vorgabe der Saturiertheit und ohne massive eigene Rüstungen überhaupt eine Politik der „freien Hand“ dauerhaft betreiben? Bei genauerer Betrachtung und vor dem Hintergrund vorwaltender realpolitischer Prinzipien scheint die völlige Ungebundenheit schon geopolitisch von vornherein illusorisch. Der Zweibund half letztlich dabei, diese Realität zu erkennen. Aus der diplomatischen Perspektive, die stets mehrere Optionen auslotet, um schließlich das Mögliche umzusetzen und darauf die nächsten Schritte aufbaut, bedeutete der Zweibund weit mehr als eine bloße „Aushilfe“, denn er sicherte mehrere Ziele auf einmal. Wollte Berlin eine Juniorpartnerschaft vermeiden, so musste es sich einen eigenen Partner suchen. Der Charakter der alles andere als fest gefügten „Aushilfe“ beinhaltete im Gegensatz zu einer avisierten Blockbildung zudem ein bewegliches Moment, welches sich gerade in der zunehmenden Dynamik der Großmächtebeziehungen auszahlen konnte. In jedem Fall lieferte die Allianz den Ausgang für ein neues Bündnissystem und die „Entlastungsphase“ der 1880er-Jahre. Bismarcks maßgebliche Denkschriften vom Herbst 1879 kreisten denn auch um drei Argumente, an die er einen diplomatischen Erfolg knüpfte: Erstens um die Entschärfung des panslawistischen Drucks durch eine Demonstra-
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Option England?
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tion der Entschlossenheit und Wehrhaftigkeit; zweitens um die Gunst des Augenblicks für eine „Versicherungsgesellschaft“ zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland, die den Frieden mit Russland und Frankreich befestigter und die gefährliche Kaunitzsche Koalition zu verhindern half; und drittens, um die Zähmung und Disziplinierung Russlands als Vorstufe zu einer Restaurierung des Dreikaiserverhältnisses. Alle drei Ziele wurden, wenn auch mit Abstrichen, aber letzten Endes im Wesentlichen erreicht. Unverrückbar wie für seine Nachfolger war der Zweibund für Bismarck gleichwohl nie. Er bedeutete eine Mindestsicherung für Deutschland und wirkte gleichzeitig als Anlegestelle für Großbritannien, sollte Russland unversöhnlich bleiben. Parallel spann der harte Disziplinierungskurs gegenüber Russland einen Gesprächsfaden zu einer Neuauflage des bereits als tot empfunden Drahtes zwischen Berlin, Wien und St. Petersburg. „Mit der österreichischen Assekuranz versehen“, so betonte Bismarck gegenüber dem außerordentlich skeptischen Kaiser Wilhelm I., könne die deutsch-russische Freundschaft erneut und diesmal gleichberechtigt angepeilt werden. International verhinderte er den Albdruck einer Kaunitzschen Koalition und sicherte überdies die Existenz Österreich-Ungarns als traditionellen Baustein des Großmächtesystems, mochte dieser aufgrund seiner Vielvölkerprobleme auf einem unsicheren Fundament stehen oder nicht. Dem diente auch, dass der genaue Wortlaut des Vertrages selbst zwar geheim blieb, sein Bestehen in Europa aber bekannt gemacht wurde. Kurz vor der Unterzeichnung wandte sich Bismarck noch einmal an London. Botschafter Georg Graf Münster (1820–1902) sollte an der Themse die englische Bereitschaft ermitteln, Deutschland im Falle eines Bruchs mit Russland zu unterstützen. Es handelte sich dabei wie so oft in erster Linie um einen Testballon. Erneut ging es darum, möglichst viele Eisen im Feuer zu halten und die deutschen Wahlchancen im internationalen Gefüge auszuloten bzw. nach außen zu kommunizieren. Die englische Antwort fiel allerdings eher nüchtern aus. Die Londoner Regierung blieb vor allem nach dem Erfolg des Berliner Kongresses ihren Traditionen treu und sah keine Veranlassung, sich jenseits ihrer ureigenen Interessen auf dem Kontinent zu engagieren. Salisbury erklärte sich lediglich vage dazu bereit, Frankreich im Falle eines deutsch-russischen Konfliktes neutral halten zu wollen. Für den Reichkanzler war das zu wenig und die Signalwirkung nach außen, was die deutschen Wahlmöglichkeiten anging, blieb damit ebenfalls gering. Aber für Bismarck war England ohnehin nicht entscheidend. Selbst als der englische Außenminister Salisbury im Oktober 1879, angesichts erhöhter Spannungen zu Russland in Zentralasien, noch einmal nachbesserte und eine mögliche Allianz mit den Zweibundmächten andeutete, ließ Bismarck dieses Angebot unbeantwortet. Als Empire und Inselmacht, absorbiert von den Belangen seines Weltreiches, schien Otto von Bismarck England stets nur die letzte Option zu sein, da er London nicht zu Unrecht unterstellte, Deutschland lediglich als Festlandsdegen gegen Russland und Frankreich nutzen zu wollen. Zum anderen traute er dem parlamentarischen System Londons nicht über den Weg. Mit Disraeli und Salisbury, so hatte der Kongress gezeigt, konnte er sich durchaus eine vertrauensvolle Zusammenarbeit vorstellen. Was aber würde wohl geschehen, wenn die nächsten Wahlen wieder die Liberalen unter dem ihm verhassten William Gladstone
Vom „Ohrfeigenbrief“ zum Zweibund (1809–1898) in die Downing Street spülen würden? Dann, so war sich Bismarck sicher, wären alle zuvor getroffenen Vereinbarungen null und nichtig. Wenige Tage später schon erwiderte Bismarck deshalb die russische Gesprächsbereitschaft und traf mit dem russischen Botschafter zusammen, um eine Neuauflage der alten Dreikaiserverbindung zu verhandeln. Gegenüber Saburow erklärte er den Zweibund nicht als anti-russische Allianz, sondern als Instrument, Österreich von einer engeren Anlehnung an die Westmächte abzuhalten, um mittelfristig wieder zu einem Dreikaiserkurs zurückzukehren. Für ihn, so gab der Reichskanzler unumwunden zu, sei nur dieses Dreiecksverhältnis in der Lage, den europäischen Frieden dauerhaft zu garantieren. Nach einem Sommer voller Spannungen und Irritationen zwischen Berlin und St. Petersburg zeichnete sich Anfang 1880 tatsächlich eine Wende zum Positiven ab. Auch die russische Regierung war offenbar die anhaltende Dauerfehde, die nicht wenige auf das persönlich zerrüttete Verhältnis Bismarcks und Gortschakows zurückführten, leid.
III.
Russisches Einlenken
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IV. Relative Sicherheit und Überseeabenteuer (1880–1884/85) 18.6.1881 20.5.1882 1882 Oktober 1883 1883
28.3.1884 März 1884 24.4.1884 August 1884 Juli 1884 September 1884 November 1884 und Mai 1885 15.12.1884– 26.2.1885 Februar 1885
30.3.1885
Dreikaiservertrag Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland Gründung des „Deutschen Kolonialvereins“ Anschluss Rumäniens an den Zweibund Verträge über die Abtretung Angra Pequeñas (LüderitzBucht) zwischen dem Bremer Handelshaus Lüderitz und Namakapitän Joseph Fredericks Gründung der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ durch Carl Peters Afrikaforscher Nachtigal wird Reichskommissar für Afrika Reichschutz für Angra Pequeña Errichtung der Kolonie Deutsch-Südwestafrika Errichtung der Kolonien Togo und Kamerun Das „Geschwader für die Westküste Afrikas“ wird entsandt Errichtung der Kolonie Deutsch-Neuguinea (mitsamt Kaiser-Wilhelm-Land, Bismarck-Archipel, MarschallInseln) Berliner Kongo-Konferenz Aus der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ geht die „Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft“ und Errichtung der Kolonie Deutsch-Ostafrika hervor Sturz des französischen Ministerpräsidenten Jules Ferry
Mit dem Zweibund waren die Beziehungen zur Donaumonarchie stabilisiert. Sie boten dem Kaiserreich einen Ausgangspunkt für einen neuen sicherheitspolitischen Anlauf. Fortan galt es darauf zu achten, dass der Ballhausplatz die Allianz nicht zu selbstverständlich als eine Art Freifahrtschein in Richtung Balkan nutzte. Die Beziehungen zum französischen Nachbarn blieben bis auf Weiteres durch den bestehenden Gegensatz geprägt. Kernproblem für Bismarck und die Wilhelmstraße war zum einen die Überbrückung der österreichisch-russischen Gegensätze für das weiterhin bestehende Ziel einer Dreikaiserverbindung, sowie die Positionierung zwischen den nun zu Beginn der 1880er-Jahre wieder stärker rivalisierenden Flügelmächten. Hinzu trat aber noch ein gänzlich neues Moment: der Wettlauf um überseeische Besitzungen. Zweifellos konnte ein solcher die Mitte des Kontinents in den Hintergrund rücken lassen und entlasten. Auf der anderen Seite bestand aber stets auch die Gefahr der Rückwirkungen kolonialpolitischer Rivalitäten auf das europäische Zentrum. Wie sollte sich Deutschland also verhalten? Sollte es sich enthalten und einen Sonderweg einschlagen,
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oder sollte es dem Beispiel der anderen Großmächte, allen voran Großbritannien, Frankreich und Russland, folgen? Im ersten Abschnitt geht es zunächst um die Erneuerung der Dreikaiserpolitik und den virtuosen Aufbau des ersten Bismarckschen Bündnissystems. Vor dem Hintergrund der damit erzielten günstigen außenpolitischen Konstellationen zu Beginn der 1880erJahre wird sodann die bis heute intensiv diskutierte koloniale Episode Mitte dieses Jahrzehnts behandelt.
1. Dreikaiservertrag und Dreibund Im März 1880 gab Russland endlich sein Einverständnis, ein neues Dreikaiserverhältnis zu verhandeln. Einfacher wurde die Lage dadurch zunächst aber nicht. Wieder stand die Donaumonarchie quer zu dieser Verbindung. Vor allem der neue Außenminister Heinrich von Haymerle (1828–1881) gab sich besonders erpicht darauf, die Politik seines Vorgängers Andrássy weiterzuführen und statt mit St. Petersburg eine Einigung mit London herbeizuführen. „Mit Russland“, so Haymerle, „haben wir uns über nichts zu verständigen.“ Zu Hilfe kam Bismarck der Wahlsieg der englischen Liberalen im April 1880. Dieser stellte insofern einen Einschnitt in die europäischen Beziehungsmuster dar, als er Wien die bündnispolitische Alternative in Richtung England verbaute. Die neue Londoner Regierung unter Gladstone wollte von der Realpolitik Disraelis und Salisburys nichts mehr wissen und stellte plötzlich vornehmlich moralische Beweggründe in den Vordergrund, indem sie für die Selbstbestimmung der Balkanvölker Partei ergriff. Damit schien sich eine prorussische Kehrtwende in Richtung Panslawismus und gegen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich anzudeuten, schließlich hatte Gladstone die Donaumonarchie bereits im Wahlkampf als „Feind der Freiheit“ bezeichnet. Gleichzeitig kündigte Whitehall mit einem Truppenabzug in Afghanistan seine Verständigungsbereitschaft gegenüber Russland an. Eine fundamentalere Neuordnung als die Versöhnung der Flügelmächte war kaum denkbar. Sie stellte die gesamte Struktur des Großmächtekonzerts infrage. Auf Bismarck wirkte der Regierungswechsel wie eine Bestätigung seiner Vorbehalte gegenüber England. Der stets moralisierende Gladstone wiederum wirkte auf ihn wie ein rotes Tuch doktrinärer Prinzipienreiterei. Und hatte der Kanzler erst einmal ein persönliches Feindbild ausgemacht, wie schon seine Attacken gegen Gortschakow gezeigt hatten, so kannte er kein Maßhalten mehr. Hinter Gladstone vermutete er denn auch gleich eine drohende Revolution der internationalen Beziehungen sowie eine transnationale Kooperation mit der linksliberalen Opposition in Deutschland bis hin zu einem deutschen „Kabinett Gladstone“. Bismarck übertrieb dabei bewusst, denn außenpolitisch bedeutete die neue britische Führung nicht nur Gefahren, sondern auch neue Chancen. Während er gegenüber Russland tatsächlich die Gefahr einer liberal-panslawistischen Kooperation gegen die Dreikaiserverbindung erkannte, so bot sich gleichzeitig die Chance, Wien von der fixen Idee einer Verbindung zu London abzubringen und Österreich-Ungarn wieder die Vorzüge des Dreikaisertrios zu verdeutlichen.
Wettlauf um Russland
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William Ewart Gladstone (1809–1898) führte seit Ende 1867 die Liberale Partei an und wurde zum wichtigsten Gegenspieler Benjamin Disraelis. Seine erste Amtszeit als Premier (1868–1874) stand vornehmlich unter dem Zeichen innenpolitischer Reformen. Nach dem Ausscheiden aus der Downing Street widmete er sich zunächst theologischen Studien, bevor ihn die orientalische Krise und das überharte Vorgehen des Osmanischen Reiches gegen die bulgarische Nationalbewegung und die passive Haltung der Regierung Disraeli abermals in die Politik trieben. Seine zweite Amtszeit (1880–1886) stand unter dem Zeichen der Außenpolitik, wobei er zum großen Feindbild Bismarcks avancierte. Anders als der deutsche Reichskanzler verfolgte Gladstone einen moralisch-dogmatischen Politikansatz, der die Nationalbewegungen in Südosteuropa förderte, unabhängig von den Konsequenzen für das Staatensystem. Indem Gladstone gleichzeitig England aus der Verantwortung hielt, wurde er für Bismarck zu einem regelrechten Hassobjekt.
Fortan kam es darauf an, den Wettlauf um Russland zu gewinnen und einer anglo-russischen Annäherung zuvorzukommen. Bismarck baute dazu vornehmlich auf die Chimäre der Revolution. Wieder war es diese alte anti-revolutionäre Basis, die er gegenüber der russischen Autokratie wirkungsvoll in Szene zu setzten verstand. Viel mehr stand ihm aber an Argumenten auch nicht zur Verfügung. Die deutsch-russischen Zollstreitigkeiten, die Russland 1877 mit seinen massiven Zollerhöhungen auf deutsche Industrieerzeugnisse begonnen hatte und zu deutschen Retorsionszöllen auf russische Agrarprodukte und einem regelrechten Zollkrieg geführt hatten, hielten unvermindert an. Zum Glück zeigte sich auch der Zar bald äußerst misstrauisch gegenüber dem neuen englischen Kurs. Alexander II. vermutete dahinter einen neuen Vorstoß in Richtung Meerengen und bot überraschend einen Interessenausgleich mit der Habsburgermonarchie auf dem Balkan an. Geschickt fädelte Bismarck nun die Annäherung Wiens und St. Petersburgs über getrennte Einzelverhandlung ein, in denen er nicht müde wurde, Gladstone als gemeinsamen Feind zu stilisieren. Ohne eigene Zusagen machen zu müssen, erhielt der Reichskanzler so über seine Vermittlungstätigkeit die Funktion einer Vormacht im Verhältnis der drei Monarchien zueinander. Nach zähen Verhandlungsrunden, die aber nicht einmal mehr die Ermordung Zar Alexanders II. zum Halten bringen konnte, wurde am 18. Juni 1881 schließlich der Dreikaiservertrag geschlossen. Das Ergebnis las sich wesentlich konkreter als die Vereinbarungen von 1873. Die drei Unterzeichnerstaaten kamen überein, im Falle eines Konfliktes mit einer vierten Macht, sich gegenseitige wohlwollende Neutralität zuzusichern. Dies galt für Deutschland gegen Frankreich und Russland gegen England gleichermaßen, ohne dass hier ein besonderer Passus über vermeintliche Konfliktursachen eingefügt wurde. Für den kritischen Fall eines erneuten Krieges gegen die Türkei wurde das Hindernis einer zuvor erzielten Verständigung über die Kriegsergebnisse gesetzt. Dieses hatte zwar auch 1878 Russland nicht daran gehindert, deutlich über die Absprachen von Reichstadt hinauszugehen. Aber diesmal war auch Deutschland mit von der Partie. Es konnte notfalls bereits im Vorfeld vermittelnd eingreifen, ohne das es hinterher zu einer Neuauflage des Berliner Kongresses kommen musste. Als großes Zugeständnis wurde dem Zarenreich dabei die Unter-
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Dreikaiservertrag und Dreibund stützung in der strittigen Meerengenfrage zugesichert. Mittels eines Zusatzprotokolls bestätigten sich überdies Österreich-Ungarn und Russland gegenseitige Interessensphären auf dem Balkan. Danach wurde der Doppelmonarchie etwas zugestanden, was später noch im Zuge der Annexionskrise 1908/9 Bedeutung erlangen sollte. Wien sollte nämlich die bereits besetzten Gebiete Bosnien und Herzegowina zu einem frei zu wählenden, „opportunen“ Zeitpunkt formal annektieren dürfen. Umgekehrt wurde Bulgarien als russische Interessenzone anerkannt. Eine spätere Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien, also die auf dem Berliner Kongress verhinderte großbulgarische Lösung, sollte nun ausdrücklich erlaubt sein, wenn die „Macht der Umstände“ dies ergäben. Für die deutsche Diplomatie hatte das Dreikaiserbündnis vor allem zwei Vorteile: Zum einen schien damit der Friede zwischen den beiden wichtigsten Nachbarn zunächst einmal auf „Jahre hinaus gesichert“. Zum anderen, und dies war das eigentlich angestrebte Ziel, stand das Kaiserreich nun wieder im System der fünf Großmächte auf der Seite der Mehrheit. Die Gefahr einer einkreisenden Koalition zwischen Frankreich und Russland, so wurde Bismarck nicht müde zu betonen, hätte er damit „vollständig beseitigt“. Das war reichlich optimistisch und scheint vor allem an die Adresse des zweifelnden Kaisers gerichtet zu sein. Auch dem Reichskanzler blieb schließlich nicht verborgen, wie viel Mühe ihn das Zustandekommen der Allianz gekostet hatte. Darüber hinaus war es ein typisches Resultat seiner geheimen Kabinettsdiplomatie. So kam es nicht nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zustande, sondern war zudem noch gegen die seit Längerem sichtbaren panslawistisch-nationalistischen Tendenzen im Zarenreich gerichtet. Längst hatten diese nämlich lautstark einer russisch-französischen Verbindung den Vorzug gegeben und den Balkan insgesamt als russische Zone betrachtet. Des Weiteren ignorierte Bismarck bewusst auch die handels- und zollpolitischen Spannungen mit dem Zarenreich. Sie hatten für ihn lediglich instrumentalen, aber keineswegs bestimmenden Charakter. Besonders ins Auge fällt dabei, dass er einerseits wiederholt Wirtschaft und Außenpolitik als zwei voneinander getrennte Bereiche beschrieb, er andererseits aber immer wieder wirtschafts- und zollpolitische Fragen als Zwangs- und Druckmittel gegenüber Russland verwendete, positive Effekte einer Außenhandelspolitik aber so gut wie überhaupt nicht erprobte. In Beidem, sowohl den nationalen Strömungen als auch den ökonomischen Einflüssen hinkte er damit seiner Zeit hinterher. Dadurch ergaben sich Risiken wie verpasste Chancen und Spielräume gleichermaßen. Mit dem Zweibund und dem zwei Jahre später unterzeichneten Dreikaiservertrag, beide wurden 1884 verlängert, war somit die Grundlage für das erste komplizierte Bündnisgeflecht Bismarcks geschaffen. Die internationalen Beziehungen und insbesondere an dessen neuralgischen Punkten zwischen Russland und Österreich-Ungarn, zwischen Deutschland und Frankreich sowie zwischen Russland und England sollten dabei über eine Art von checks and balances unter Kontrolle gehalten werden. Die Verträge zielten, dies ist kaum zu überschätzen, nicht auf den Erfolg im Falle des Bündnisfalles ab, sondern sollten diesen verhindern helfen. Jeder Bruch zwischen der Doppelmonarchie und dem Zarenreich drohte Deutschland erneut vor das Optionsproblem zu stellen. Frankreich sollte isoliert und damit von der Re-
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Rückkehr zur Dreikaiserpolitik
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vanche abgehalten werden. Und was England und Russland anbetraf, so ermutigte der Dreikaiservertrag Russland zu einer selbstbewussten Meerengenpolitik während die konträren englischen Interessen in der Region hier das Gleichgewicht und die Stabilität in der Waage halten sollten. Geschickt kalkulierte Bismarck stets die jeweiligen Interessen der anderen Mächte mit ein, weshalb auch die bestehenden vertraglichen Vereinbarungen selbst für eine vollständige Interpretation seiner Politik nicht genügen. Hinzu kommen müssen auch die jeweils untereinander bestehenden Beziehungen und Interessenlagen der anderen Mächte sowie nicht vertraglich geregelte, freundschaftliche Kontakte zu anderen Regierungen, subtile Formen außenpolitischer Ermutigungen bzw. Warnungen. Aber auch plötzlich auftretende Entwicklungen und Krisenerscheinungen, wie etwa die Skobelew-Episode vom Frühjahr 1882, konnten die Konstellation nach wie vor auf die Probe stellen.
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Die „Skobelew-Episode“ im Frühjahr 1882 zeigte, wie unsicher die internationale Situation für Deutschland trotz des gerade erst abgeschlossenen Dreikaiservertrages blieb. General Michail Skobelew (1843–1882), ein in Russland beliebter und gerade gegenüber dem Zaren einflussreicher Panslawist, Offizier und Kriegsheld von Plewna im russisch-türkischen Krieg von 1877/78, besuchte im Februar 1882 Paris. Vor Studenten der Pariser Sorbonne-Universität attackierte er das deutsche Kaiserreich und bezeichnete es als den „natürlichen Feind“ aller Slawen und plädierte deshalb für ein russisch-französisches Angriffsbündnis gegen die Mittelmächte. Die Rede gewann internationale Beachtung und verschaffte den Panslawisten um Michail Katkow (1818–1887) sowie den französischen Revanchisten um Paul Déroulède (1846–1914) neuen Auftrieb. Erst der frühe und unerwartete Tod Skobelews im Juni 1882 beendete einstweilen das namentlich von der russischen Presse aufgegriffene Thema einer russisch-französischen Allianz.
Dreibund
Ergänzt wurde das Bündnisnetz Anfang 1882 durch ein weiteres Vertragswerk, das Bismarck noch während der Skobelew-Episode mit Rom und Wien verhandelte: den Dreibund. Dieser war keine Erweiterung des Zweibundes, sondern stellte ein eigenständiges Defensivbündnis gegen Frankreich dar. Er verstärkte so die im Dreikaiservertrag angelegte Sicherheitsgarantie gegen Westen. Gleichzeitig bot er eine zusätzliche Aussicht in Richtung London. Berlin vermittelte dabei zwischen den Rivalen ÖsterreichUngarn und Italien. Rom versprach sich von dem Bündnis eine indirekte Unterstützung seiner Expansionsabsichten in Nordafrika. Hier hatte Frankreich kurz zuvor im Mai 1881 nach deutscher Ermutigung ein Protektorat über Tunesien errichtet und war in Konkurrenz zu Italien getreten. Die antifranzösische Spitze des Dreibundes bot Bismarck eine weitere Möglichkeit, die Mächte unter Spannung zu halten und von einer antideutschen Ausrichtung abzuhalten. Während Italien bei einem unprovozierten Angriff Frankreichs auf die Zweibundpartner zählen konnte, verpflichtete es sich zum Beistand bei einem französischen Angriff auf Deutschland.
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Der Dreibund vom 20.5.1882 verpflichtete die Unterzeichner zu gegenseitiger Unterstützung im Falle eines gleichzeitigen Angriffs zweier anderer Mächte oder eines unprovozierten französischen Angriffs auf Deutschland oder Italien. England war mit Blick auf die Küstenlinie Italiens ausdrücklich als Gegner ausgenommen. Rom erhoffte sich eine Rückendeckung gegenüber Frankreich und England bei seinen kolonialen Abenteuern in Nordafrika. In der Folge konzentrierte sich Italien auf Ostafrika, wo es mit Eritrea und Italienisch-Somaliland in den 1880er-
Dreikaiservertrag und Dreibund
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Jahren versuchte, ein Imperium aufzubauen. Es blieb dabei aber von der freien Durchfahrt durch den Suezkanal abhängig, der seit 1881/82 von Großbritannien kontrolliert wurde. Ohne förmlichen Beitritt erfolgte 1883 die Angliederung Rumäniens an den Dreibund aufgrund von Sonderverträgen Bukarests mit Berlin und Wien. Nach der Verlängerung 1887 waren territoriale Kompensationen zwischen Österreich-Ungarn und Italien vorgesehen, sollte sich der Status quo auf dem Balkan verändern. Deutschland verpflichtete sich zum Beistand Italiens gegen Frankreich im westlichen Mittelmeer. Als Italien 1902 ein Geheimabkommen mit Frankreich schloss, wurde der Dreibund entwertet. 1911 erfuhr er eine weitere Aushöhlung durch die wachsenden österreichisch-italienischen Spannungen und brach schließlich mit dem italienischen Kriegseintritt auf Seiten der EntenteMächte 1915 auseinander.
Bismarck hielt recht wenig von den militärischen Fähigkeiten Italiens. Wichtig war ihm jedoch das politische Zeichen, das von der weiteren Vernetzung Berlins ausging. Es genügte ihm nach eigenen Worten, wenn im Kriegsfall ein „italienischer Korporal mit der italienischen Flagge“ Position gegen Frankreich und nicht gegen Österreich-Ungarn beziehe. In Erinnerung an 1866, als Italien den deutschen Krieg zur Eroberung Venetiens ausnutzte, sollte die Doppelmonarchie nun zusätzlich mithilfe des Dreibundes an seiner südlichen Flanke sicher sein. Jetzt überwanden beide Staaten nicht nur ihre Rivalität in Südtirol und Triest, sondern beschlossen längerfristig sogar
Abb. 1: Bismarcks erstes Bündnissystem (1879/82–1887)
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Bismarcks Bündnisgeflecht
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einen gemeinsamen Kurs auf dem Balkan. Obwohl der Dreibund im Kern defensiv ausgerichtet war, enthielt er doch auch eine offensive Tendenz, wenn im Artikel IV die Bereitschaft verankert war, selbst dann eine wohlwollende Neutralität zu wahren, wenn sich Österreich-Ungarn und Deutschland genötigt sähen präventiv gegen eine dritte Macht vorzugehen. Damit konnten nur Frankreich oder Russland gemeint sein, denn sollte man mit Großbritannien in Konflikt geraten, verwahrte sich Italien mit Blick auf seine verwundbare Küstenlinie vor jeglicher Unterstützung der Mittelmächte. So widersprüchlich die einzelnen Vereinbarungen für sich genommen erscheinen, so sehr kam Bismarck mit dem Gesamtkonstrukt aus Zweibund, Dreikaiservertrag und Dreibund seiner Idealvorstellung aus Bad Kissingen schon recht nah. Nicht ohne Stolz und auch nicht zu Unrecht verkündete der Reichskanzler im Sommer 1882, dass es ihm mithilfe seiner komplizierten und nicht immer eindeutigen und von Widersprüchen freien Außenpolitik gelungen sei, Deutschland seit 1871 vor einer „übermächtigen Coalition“ zu bewahren. Er hatte zu Beginn der 1880er-Jahre das Kunststück fertiggebracht, mit den Großmächten zu „jonglieren“ und zu allen Mächten, außer mit Frankreich direkte oder indirekte Bindungen einzugehen, ohne die Rolle eines Juniorpartners auszufüllen. Bismarck befand sich auf dem Zenit seines außenpolitischen Einflusses und die Satirezeitschrift Kladderadatsch erkannte in ihm den „Central-Weichensteller“ Europas. Deutschland befand sich damit im Zentrum zweier ineinandergreifender Bündnisstrukturen. Während die Kooperation mit Wien und St. Petersburg eine eher antibritische Tendenz aufwies, gingen der Zwei- und der Dreibund von einer stillschweigenden Zusammenarbeit mit London aus. Ebenso hielt der Zweibund Russland in Schach, der Dreibund Frankreich und das Dreikaiserbündnis sowohl Österreich-Ungarn als auch England. Zu Letzterem blieben die Beziehungen schwankend. Das hatte natürlich mit dem wiederholten Werben um Russland zu tun; aber auch mit der steten Distanzwahrung Großbritanniens zum Kontinent und der tiefen Abneigung Bismarcks gegenüber Gladstone und seinen Sorgen vor einer liberalen Ansteckung Deutschlands. Was er 1878 angestrebt hatte, ein „Bleigewicht am Stehaufmännchen“ Europa zu sein, also die Dynamik der internationalen Großmächtebeziehungen einzuhegen, den Status quo wie den Frieden zu sichern und Deutschland ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit und Sicherheit zu gewähren, hatte er Anfang der 1880er-Jahre weitgehend erreicht. Jede Macht, außer Frankreich, war über Querverbindungen in das Staatensystem eingebunden und Bindungen zwischen den Partnern, z.T. von Berlin auf den Weg gebracht oder forciert, sorgten dafür, dass Deutschland als austarierendes Element nicht wegzudenken war. Bismarck hatte seine Lektionen aus den 1870er-Jahren gelernt. Auch wenn die deutschen Militärs nach dem Berliner Kongress immer wieder einen deutsch-österreichischen Block zur Vorbereitung eines für unvermeidbar gehaltenen Zweifrontenkrieges forderten, so kam ein gewagtes kokettieren mit dem Präventivkrieg jetzt nicht mehr in Frage. Unter den gegebenen und nun bekannten Interessenlagen der verschiedenen Großmächte sowie den nationalen Empfindungen bedeutete ein Krieg zu viele Unwägbarkeiten. Seine Begrenzung schien immer unwahrscheinlicher und ein Flächenbrand konnte die deutsche Existenz schnell wieder infrage stellen. Der über-
Dreikaiservertrag und Dreibund
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geordnete Zweck aller Bündnisvereinbarungen und Berechnungen war es daher, den casus foederis gar nicht erst eintreten zu lassen. Sie dienten, dies kann nicht oft genug betont werden, nicht zur Machtprojektion, sondern dazu, das System der Großmächte insgesamt zu gestalten. Hierin bestand der wesentliche Unterschied zu den Bündniskonstruktionen im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. So sehr der innere Freiheitsgrad oftmals ein Ausdruck äußerer Sicherheit ist, so sehr konnte sich der Reichskanzler nun auf der Höhe seines internationalen Ansehens auch der Konsolidierung der inneren Verhältnisse Deutschlands widmen. Etwa zeitgleich mit der Überwindung des äußeren Albdrucks dank eines bis dahin beispiellosen Bündnis- und Freundschaftsnetzes, dem bald über einen formalen Beitritt zum Dreibund Rumänien (1883) und durch politische Anlehnung auch Serbien, Spanien, Schweden und Norwegen sowie die Türkei angehörten, ging Bismarck dazu über, auch den „cauchemar des révolutions“, also die innere Spaltung vornehmlich aufgrund der Sozialistengesetzgebung zu überwinden. Als Entgegenkommen an die Arbeiterschaft wurden dazu in relativ kurzer Abfolge 1883 und 1884 die Kranken- und Unfallversicherung sowie 1889 die Invalidenversicherung eingeführt. Dem Reichskanzler ging es dabei im Wesentlichen darum, die unaufhaltsame Modernisierung der deutschen Gesellschaft zu verlangsamen und die Autonomie des Politischen so lange wie möglich zu bewahren. An seine Erfolge in der Außenpolitik konnte er in der Innenpolitik aber nie anknüpfen. Auf die Außenpolitik konzentrierte er den Hauptteil seiner Energie und dies schien, angesichts anhaltender Rivalitäten auch unbedingt nötig. Dass ihm das trotz aller Spannungen immer wieder mit Bravour gelang, lag nicht zuletzt an den kongenialen Partnern, die zeitgleich an der Spitze der anderen Großmächte standen, allen voran Graf Gyula Andrássy, Lord Robert Salisbury und Nikolai von Giers, der dem verhassten Fürsten Gortschakow 1882 als Außenminister nachfolgte und diese Position bis 1895 innehielt. Nikolai Karlowitsch von Giers (1820–1895), folgte Fürst Alexander von Gortschakow auf dem Posten des russischen Außenministers nach und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod. Anders als Gortschakow verfolgte von Giers einen Ausgleich mit dem Deutschen Kaiserreich. Dabei übte er vor allem in Europa eher Zurückhaltung, während die russische Expansion in Zentralasien unvermindert fortgeführt wurde. Nachdem eine abermalige Verlängerung des Dreikaiserbundes aufgrund wachsender Differenzen zwischen Wien und St. Petersburg außer Reichweite war, schloss von Giers mit Bismarck den Rückversicherungsvertrag und trat sogar für dessen Verlängerung 1890 ein. Als Folge der Nichtverlängerung wandte sich Giers wie zuvor Gortschakow Frankreich zu und schloss mit diesem 1892 eine Militärkonvention, die 1894 in ein Bündnis mündete.
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Gemeinsam war ihnen das Prinzip, eine Politik ausgleichender Balancen zu verfolgen und fest gefügte Blockbildungen in der Staatenwelt zu vermeiden. Auch wenn Bismarck sicher erleichtert gewesen sein dürfte, dass Russland letztlich wieder zu einer Dreierkonstellation zurückgekehrt war, so machte er sich über die Natur eines solchen Zweckbündnisses keinerlei Illusionen. Gegenüber seinem Botschafter in Wien, Heinrich VII. Prinz Reuß (1825–1906) wie auch gegenüber Kaiser Wilhelm I., erklärte er sich unum-
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Relative Sicherheit und Überseeabenteuer
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wunden froh, wenn es nur gelänge, „den Frieden zwischen den beiden befreundeten großen Monarchien zu erhalten“. Dies würde die Gefahr einer französisch-russischen Koalition ebenso beseitigen, wie das feindliche Verhalten Frankreichs und die deutschkritischen Kreise in Russland eindämmen. Bewusst sah er davon ab, die Gunst der nun erreichten Sicherheit und Verflechtung zu einer erneuten Demütigung Frankreichs zu nutzen. Vielmehr kamen ihm die zu Beginn der 1880er-Jahre einsetzenden außereuropäischen Ambitionen der europäischen Nachbarn entgegen, das Gesamtgefüge weiter nach außen hin zu entlasten. Fest gefügte Axiome wie der deutsch-französische Antagonismus oder die territoriale Saturiertheit gerieten plötzlich wieder in Fluss und sollten neu ausgetestet werden.
2. Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode 1880–1884/85 a) Kolonien für Deutschland – bloß ein überflüssiger Luxus? Kolonialpolitik
Anfang der 1880er-Jahre trat die im 15. Jahrhundert begonnene europäische Kolonialpolitik in eine neue, imperialistische Phase. Frankreich und England läuteten den sogenannten „Scramble for Africa“ ein. Zunächst besetzte Frankreich 1881 Tunesien, und England antwortete ein Jahr später mit der Inbesitznahme Ägyptens. Deutliches Ziel war es, den strategisch wichtigen Suezkanal langfristig zu kontrollieren.
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Scramble for Afrika: Zum bevorzugten Austragungsort des mächtepolitischen Wettstreits um die vermeintlich „herrschaftsfreien“ Räume der Erde wurde zuerst der afrikanische Kontinent. 1876 erst zu etwa 10% von europäischen Mächten besetzt, gab die Besetzung Tunesiens das Startsignal zu neuen Eroberungszügen. In dessen Folge trafen britische, französische und deutsche, aber auch italienische, belgische, portugiesische und spanische Interessen aufeinander und gerieten mehrfach an die Schwelle von Konflikten (Kongo-Krise 1884, Faschoda-Krise 1898, Burenkrieg 1899–1902). Ausgreifende Raumkonzeptionen wie Cecil Rhodes’ Vorstellung eines britisch beherrschten Afrikas vom südafrikanischen Kap bis nach Kairo (Kap-Kairo-Linie), die französische West-Ost Expansion oder die privaten Pläne deutscher Kolonialenthusiasten wie Carl Peters zur Schaffung eines deutschen Mittelafrikas von Kamerun bis Deutsch-Ostafrika stimulierten die öffentlichen Diskussionen und fanden mitunter Eingang in das jeweilige Regierungshandeln. Bis 1902 waren 90% Afrikas in europäischen Händen. Neben Afrika waren auch der Nahe, der Mittlere und der Ferne Osten im Visier des imperialen Strebens. In den 1890er-Jahren traten die Mächte zudem noch in Konkurrenz mit den USA in Südamerika. Insgesamt kam es dabei wiederholt zu internationale Spannungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auf das europäische Kräftefeld zurückwirkten.
Von Ägypten aus stieß Großbritannien weiter den Nil aufwärts in Richtung Sudan vor; von Lagos aus setzten die Briten sich am unteren Nigerbecken fest (1884), versuchten ihr Glück in Südafrika, wo sie von den Buren zunächst zurückgeschlagen wurden (1881). In Zentralasien errichteten sie ein
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Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode
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Protektorat über Afghanistan (1879–1883). Parallel dazu setzte sich Frankreich am oberen Nigerbogen fest (1880–1883), rückte bis nach ÄquatorialAfrika vor (1882–1884), besetzte Obok (1882) und Djibuti am Roten Meer (1884) und Madagaskar im Indischen Ozean (1885). Das Zarenreich wandte seine Aufmerksamkeit in Konkurrenz zu Großbritannien dem transkaspischen Becken zu, und drang über Merv bis zur afghanischen Nordgrenze vor (1881–1884). Fortan bedrohte es von dort aus Britisch-Indien. Während sich die alten Kolonialmächte Spanien, Portugal und die Niederlande nicht so ohne Weiteres verdrängen lassen wollten, strebten auch Italien und Belgien nach einem Stück vom afrikanischen Kuchen. Rom konzentrierte sich dabei auf das Rote Meer und das südliche Somalia, während Leopold II. von Belgien (1835–1909) die Kongo-Gesellschaft gründete.
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Karte: Europäische Besitzungen in Afrika am Vorabend des I. Weltkriegs
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Relative Sicherheit und Überseeabenteuer
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Vor dem Hintergrund der allmählich um sich greifenden Weltreichslehre wurde die Expansion zum Gradmesser für den Großmachtstatus. Auch das deutsche Kaiserreich konnte sich der „nackten Raumgier“ letztlich nicht entziehen. Insbesondere die Wirtschaftskrise Ende der 1870er-Jahre begünstigte den Ruf nach neuen Absatzmärkten, ausländischen Kapitalanlagen und der Sicherung von Rohstoffen. Hinzu kamen demografische, sozialpolitische und kulturzivilisatorische Argumente. Auf eigene Kolonien zu verzichten bedeutete für viele einen relativen Machtverlust und letztlich einen nationalen Untergang im sozialdarwinistischen Wettstreit der Nationen. Ungeachtet einer Welle von Verbandsgründungen zur Förderung deutschen Besitzes in Übersee, wie etwa dem bereits erwähnten Deutschen Kolonialverein oder der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, und der Unterstützung zahlreicher bekannter Persönlichkeiten wie Johannes von Miquel (1828–1901) oder Rudolf von Bennigsen (1824–1902), war die Mehrheit im Reichstag von den Linksliberalen über die Sozialisten bis hin zum Zentrum und den Konservativen jedoch kolonialkritisch eingestellt. Im Vergleich zu den führenden Imperialmächten blieb die deutsche Kolonialbewegung daher insgesamt eine Minderheitenbewegung. Selbst Kaufleute und Bankhäuser gaben sich überwiegend skeptisch. Von einem massiven öffentlichen Druck auf die Regierung, den der Reichskanzler in seinen Nachbetrachtungen verspürt haben wollte, kann daher kaum die Rede sein. Weder gehörte Bismarck zu jenem modernen Politikertypus, der seine Fahne in den Wind der wechselnden öffentlichen Meinung hängte, noch war die Kolonialbewegung mit der Nationalbewegung seit den „Befreiungskriegen" zu vergleichen. Sie war weit davon entfernt, den ostentativen Mangel einer neuen nationalen Mission nach der vollendeten Reichsgründung auszugleichen, geschweige denn ein ähnliches imperiales Sendungsbewusstsein zu entwickeln, wie dies in Großbritannien, Frankreich oder auch Russland und den Vereinigten Staaten der Fall war. Andererseits war die Kolonialbewegung aber auch nicht so unbedeutend, dass Bismarck sie nicht – wenn er denn wollte – für sein gesamtpolitisches Konzept hätte benutzen können. Wenn also ein gewisser allgemeiner gesellschaftlicher, zivilisatorischer und wirtschaftlicher Impuls nicht zu leugnen ist, so bleibt zunächst festzuhalten, dass letztlich Otto von Bismarck weitgehend allein entschied, ob sich Deutschland an dem kolonialen Wettlauf beteiligte oder nicht. Persönlich hatte der Reichskanzler bereits Anfang 1871 gegenüber seinem Vertrauten und Presseagenten Moritz Busch erklärt, dass er überhaupt nicht an Kolonien denke. Diese seien nichts als „Versorgungsposten“. Auch für ein vereinigtes Deutschland, so bemerkte der Kanzler, wären sie sinnloser Luxus und schlichtweg eine Nummer zu groß – „genauso wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben“. Nichtsdestotrotz startete Bismarck am 1. Januar einen Testballon und legte dem Staatssekretär des Reichsschatzamtes Adolf Scholz (1833–1924) nahe, dem finanziell zusammengebrochenen Handelshaus Godeffroy in Samoa unter die Arme zu greifen. Der Reichstag lehnte jedoch die sogenannte Samoa-Vorlage mit deutlicher Mehrheit ab. Für Bismarck schien dies eine Lehre: Solange er Reichskanzler sei, würde Deutschland keine Kolonialpolitik treiben. „Wir haben eine Flotte, die nicht fahren kann […], und wir dür-
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Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode
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fen keine verwundbaren Punkte in fernen Erdteilen haben, die den Franzosen als Beute zufallen, sobald es losgeht“. Bismarck, so wird schon aus diesen wenigen bekannten Zitaten deutlich, hielt es scheinbar bereits für schwer genug, das Reich in der Mitte Europas zu erhalten. Darum bemüht, internationale Spannungen offenzuhalten, gleichzeitig aber auch von der europäischen Mitte nach Möglichkeit abzulenken, hatte Bismarck die kolonialen Ambitionen anderer Mächte, insbesondere Frankreichs und Englands, befürwortet. Beide Länder sollten sich außerhalb Europas engagieren. Frankreich, damit es weniger an Elsass-Lothringen dachte und England, damit die Weltgegensätze zu Frankreich und Russland bestehen blieben. Aber Deutschland sollte sich heraushalten. Noch 1883 wiederholte er gegenüber Leo von Caprivi seine grundsätzliche Ablehnung einer deutschen Kolonialpolitik. Kein Jahr später aber schienen alle Vorbehalte vergessen. Plötzlich ging es Schlag auf Schlag: Im April 1884 gewährte Bismarck dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz (1834–1886) für die Bucht Angra Pequeña in Südwestafrika (Namibia) den „Reichsschutz“. Drei Monate später errichtete der Generalkonsul von Tunis, Gustav Nachtigal (1834–1885), im Auftrag Bismarcks die „Schutzherrschaft“ über Togo und Kamerun. Weitere acht Monate später, im Februar 1885, erhielt der Abenteurer Carl Peters (1856–1918), zugleich Vorsitzender der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ einen „Schutzbrief“ für Ostafrika. Im Mai 1885 übernahm Deutschland auf gleiche Weise die Herrschaft über die vom Direktor der DiscontoGesellschaft, Adolph von Hansemann (1826–1903), erworbenen Gebiete Kaiser-Wilhelm-Land (Nord Neuguinea) und die vorgelagerte Inselgruppe, den sogenannten Bismarck-Archipel. In kürzester Zeit hatte das Deutsche Reich somit ein Gebiet unter seinen „Schutz“ gestellt, welches fünfmal größer war als das Reich selbst. Im Vergleich zu den Anstrengungen Englands, Frankreichs und Russlands nahmen sich diese Bemühungen zwar noch immer äußerst bescheiden aus. Für eine angeblich „saturierte“ Macht aber erscheinen sie gleichwohl beachtlich. Was Bismarck im Frühjahr 1884 zu einem Kurswechsel in Richtung Kolonialerwerb bewog, beschäftigt die Geschichtswissenschaft bis heute. Anfängliche Vermutungen, Bismarck wäre seit jeher aus Prestige- und ideologischen Gründen auf Weltpolitik aus gewesen, er sei dem Druck der Kolonialenthusiasten wie der Öffentlichkeit gefolgt oder er hätte mithilfe einer groß angelegten Strategie des „Sozialimperialismus“ versucht, gesellschaftlichen Druck nach außen abzulenken, um eine drohende Revolution durch imperialistisches Engagement in der Welt abzuwenden, haben sich dabei längst als falsch oder irreführend erwiesen. Selbst auf den ersten Blick überzeugende wirtschaftliche Argumente, die er als neuer preußischer Handelsminister seit 1880, noch dazu in wirtschaftlich angespannten Zeiten, sicher nicht einfach ignorieren konnte, halten einer genaueren Überprüfung kaum stand, wenn es um das bestimmende Motiv für den plötzlichen Übergang zum Kolonialabenteuer geht. Zweifellos verwies er selbst wiederholt bei öffentlichen Auftritten auf die Chance neuer Absatzgebiete, zumal wenn sich diese auf informelle Weise ohne großen Verwaltungsaufbau oder politisch-militärischen und nicht zuletzt finanziellen Aufwand sichern ließen. Allein die wirtschaftliche Depression war nicht
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derart systemgefährdend, wie dies immer wieder behauptet worden ist, und Bismarck selbst fehlte letztlich der Glaube, dass die indigenen Völker auf der Südhalbkugel zu bedeutenden Konsumenten deutscher Güter werden würden und für einen reißenden Export sorgen könnten. Bereits im Dezember 1884 bestätigte ihn noch einmal ein internes Memorandum Gustav Nachtigals, dass sich aller Voraussicht nach das südwestafrikanische Schutzgebiet wirtschaftlich überhaupt nicht lohnen werde. Und tatsächlich erwiesen sich die deutschen Schutzgebiete insgesamt als Millionengrab. Der Anteil des Kolonialhandels am Gesamthandelsvolumen des Reiches betrug niemals mehr als 0,5%, während das in den Schutzgebieten investierte Kapital weniger als 2% aller Auslandsinvestitionen ausmachte. Wenn Bismarck wirtschaftliche Argumente vorbrachte, so geschah dies vornehmlich aus instrumentellen und taktisch-manipulativen Beweggründen. Wenn überhaupt, so liefern sie daher lediglich eine komplementäre Erklärung. Wie so viele andere Interpretationsmuster scheitern sie nämlich vor allem an dem fraglos episodischen Charakter des Kolonialabenteuers, welches Bismarck bereits im Sommer 1885 wieder zu den Akten legte. So ist es vor allem das Vorübergehende, woran sich die verschiedenen Erklärungsversuche messen lassen müssen. Fest steht: Bismarck hatte keinen Gesinnungswandel vollzogen. Auch die sozialdarwinistisch-rassistische Ideologie der Imperialisten und Kolonialenthusiasten fochten ihn nicht an. Seine Motive sind auf der rein pragmatisch-situativen Ebene zu suchen und lassen sich auf bestimmte außen- wie innenpolitische Rahmenbedingungen bzw. Erwartungen zurückführen. b) Allianzbildung mit dem Erbfeind? Schwächung Englands
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Zunächst zur Außenpolitik: Bismarck ging es nicht um außereuropäische Machterweiterung, – die Kosten einer funktionierenden Kolonialverwaltung waren ihm längst bekannt. Vielmehr handelte es sich offensichtlich um die Nutzung eines günstigen weltpolitischen Augenblicks und die Fortsetzung des bisherigen Kurses unter veränderten Mächtekonstellationen. In Europa herrschte relative Ruhe, während sich in Afghanistan die anglo-russische Rivalität gefährlich zuspitzte und auch in Ägypten brach nach dem Zerfall des Kondominats 1882 ein offener Streit zwischen London und Paris aus. Die Risiken kolonialen Besitz zu erwerben, hatten sich also minimiert. Bismarck erkannte zudem die Möglichkeit, die weltpolitischen Spannungen zwischen England und Frankreich sowie England und Russland für eine weitere Absicherung des Reiches im Sinne des Kissinger Diktats zu nutzen. Zunächst hatte er im September 1883 noch vorsichtig und höflich bei der Regierung in Whitehall angefragt, ob London das Küstengebiet von Angra Pequeña für sich beanspruche. Anders als die kooperationswillige Pariser Regierung unter Jules Ferry, hielt es die Regierung Gladstones jedoch nicht einmal für nötig, auf die Anfrage entsprechend zu reagieren. Lapidar erklärte London Ende November lediglich die gesamte Zone Südwestafrikas zur englischen Interessensphäre und ignorierte weitere Anfragen aus Berlin. Ähnliches ereignete sich in Bezug auf die Fidschi-Inseln im Januar 1884. Wieder ignorierte London in geradezu „kolonialmonopolistischer Manier“ [K. Canis] jede Anfrage aus Berlin. Ungeachtet der Tatsache, dass sich das Reich zu-
Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode letzt immer wieder kooperativ und wohlwollend gegenüber englischen Interessen im Orient oder in Ägypten gezeigt hatte, verweigerte London Berlin demonstrativ jede Reziprozität auf kolonialpolitischem Gebiet. Fortan experimentierte der Reichskanzler, der das englische Verhalten als Zumutung empfand und der eine Art „afrikanischer Monroedoktrin“, also eines Ausschluss aller anderen Mächte aus Afrika durch England, empört ablehnte, offen mit einer Politik des Ausgleichs gegenüber Frankreich und der gezielten Provokationen gegenüber England. Absichtsvoll zeigte er nun in den folgenden Monaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Pazifik bis Ostund Südwestafrika Flagge, wo englische Interessen auf dem Spiel standen. Dahinter stand zum einen natürlich die Absicht, England eine Lektion zu erteilen. Allerdings scheint doch eher zweifelhaft, ob er wirklich daran glaubte, seinen Intimfeind Gladstone mit einem antienglischen Kurs zu Fall bringen zu können. Schließlich hielt er Gladstone doch eher für eine „Schwächung Englands“ [U. Lappenküper]. Viel wichtiger dagegen war, dass er über den Kolonialflirt mit Jules Ferry versuchte, die „Immobilisierung“ durch den deutsch-französischen Gegensatz zumindest temporär zu durchbrechen und den anderen Mächten, namentlich Russland, mit dem sich Berlin seit Anfang 1884 in zähen Verhandlungen um die Verlängerung des Dreikaiservertrages befand, zu signalisieren, dass es durchaus mit Frankreich kooperieren könne. Dem Zarenreich sollte so das immer wieder bei Verhandlungen genutzte Druckmittel der Zweifrontenbedrohung gegen Deutschland aus der Hand geschlagen werden. Ob Bismarck allerdings darüber hinausgehend eine grundsätzliche Annäherung an Frankreich anvisierte, ja einen langfristigen antienglischen Kontinentalblock beabsichtigte und wirklich der Meinung war, über eine weltpolitische Zusammenarbeit die Feindschaft über Elsass-Lothringen vergessen machen zu können, darf wohl bezweifelt werden. Für Frankreich galt letztlich das Gleiche, was auch für England galt. Von dem tief zerrütteten Verhältnis seit 1871 einmal abgesehen, konnte jede noch so enge Zusammenarbeit durch einen plötzlichen Regierungswechsel wieder infrage gestellt werden. Auf mehr als eine zeitlich begrenzte Kooperation hoffte der Reichskanzler dabei nicht. Wie Sohn Herbert war er überzeugt, dass Frankreich „nie und nimmer unser Freund“ werde und „über uns herfalle, sobald es starke Allianzen finde“. Ihren Höhepunkt erreichte die Zusammenarbeit mit Paris auf der Berliner Kongokonferenz, auf der Bismarck vor allem der englischen Regierung geradezu demonstrativ die deutsch-französische Zusammenarbeit und die internationale Bedeutung Deutschlands vor Augen führte. Berliner Kongokonferenz (15.12.1884–26.2.1885). Anfang der 1870er-Jahre weckte das bis dahin unerforschte Kongogebiet das Interesse der Weltöffentlichkeit. Henry Morton Stanley (1841–1904), britisch-amerikanischer Journalist und Abenteurer, erkundete zwischen 1874 und 1877 in einer aufsehenerregenden und medial begleiteten Expedition den Verlauf des Kongoflusses. Im Auftrag des belgischen Königs Leopolds II. erwarb er zwischen 1879 und 1884 für die belgische Kongo-Gesellschaft Gebietsansprüche, stieß dabei aber bald auf französischen und portugiesischen Widerstand. Auch Britannien sah seine Ambitionen in Zentralafrika in Gefahr und erhob Einspruch. Durch den britischen Widerstand wurden Deutschland und Frankreich aufgeschreckt, vereinbarten eine engere Zusammenarbeit in Kolonialfragen und initiierten die Berliner Afrikakonferenz, be-
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Annäherung an Frankreich
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Relative Sicherheit und Überseeabenteuer
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kannt auch als „Kongokonferenz“. Zum Abschluss der zweimonatigen Konferenz unterzeichneten die 14 Teilnehmerstaaten die Kongoakte. Sie beendete die Krise um das Kongobecken und legte dessen Zustand fest. Ihre allgemeinen Richtlinien für territoriale Erwerbungen besagten, dass Mächte nur dann einen territorialen Anspruch anmelden können, wenn sie tatsächlich zum Erwerb übergingen. Allgemeine und präventiv geäußerte Interessenzonen, wie Großbritannien sie anvisierte, wurden damit eine Absage erteilt, der internationale Wettlauf um die noch verbliebenen Landstriche Afrikas aber umso mehr angeheizt.
Schon einen Monat nach der Konferenz, im März 1885, wurde die Regierung Jules Ferrys gestürzt und die erneut aufflammende Revanchestimmung gegen Deutschland entlarvte die deutsch-französische Kooperation als „vorübergehende Affäre“. Im Juni musste Gladstone dem Bismarck wesentlich angenehmeren Lord Salisbury weichen. Die deutsch-englischen Beziehungen begannen sich wieder zu normalisieren, nicht zuletzt deshalb, weil Salisbury sogleich signalisierte, die konservative Tradition des guten Einvernehmens zwischen Berlin und London wieder aufleben zu lassen. In etwa zur gleichen Zeit erübrigte sich auch der Anlass für die anglo-französischen Spannungen durch die Vertreibung Englands aus dem Sudan. London gelang es, sich mit St. Petersburg über die afghanische Grenze zu verständigen. Die Isolierung Englands als Voraussetzung für Bismarcks kolonialpolitisches Abenteuer war damit vorüber. Sein überseeisches Engagement endete abrupt. Erst jetzt ging der Reichskanzler wieder auf London zu. c) Die „Kronprinzenthese“ Thronfolgefrage
Es waren aber nicht außenpolitische Gründe und Voraussetzungen allein, die das kolonialpolitische Intermezzo gegen London erklären. Dahinter stand auch ein komplexes, mit der Außenpolitik eng verwobenes innenpolitisches Motiv, welches in der Forschung durch Erich Eyck und Axel T. Riehl als sogenannte Kronprinzenthese bekannt geworden ist. Gemeint ist damit Bismarcks Sorge vor einem in nicht allzu ferner Zukunft erwarteten Thronwechsel und ein dann folgendes deutsches „Kabinett Gladstone“. Gerade zu Beginn der 1880er-Jahre wurde mit dem baldigen Tod des greisen Kaiser Wilhelm I. und der Übernahme der Regentschaft durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seine Gemahlin Victoria, der Tochter der englischen Königin gerechnet. Bismarck erwartete in diesem Fall seine Entlassung, eine Annäherung an England als dessen Juniorpartner, einen Systemwechsel nach englischem Vorbild und im schlimmsten Fall sogar eine liberale Prinzipienpolitik à la Gladstone.
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Friedrich Wilhelm von Preußen (1831–1888) war 99 Tage deutscher Kaiser und König von Preußen. Als Kronprinz (seit 1861) schlug Friedrich Wilhelm zunächst eine militärische Laufbahn ein. Er befehligte im Krieg gegen Österreich das 2. Preußische Armeekorps und wurde dabei zum Helden bei der Entscheidungsschlacht von Königgrätz. Auch im Krieg gegen Frankreich, in dem er die 3. Armee befehligte, gelang seinen Truppen die entscheidenden Siege in der Schlacht von Sedan. Als deutscher Kronprinz und Kronprinz von Preußen befand er sich aufgrund seiner liberalen Einstellung und den wiederholten Versuchen politischer Einflussnahme seiner Frau Victoria, der britischen Princess Royal, in einen latenten Dauerzwist mit Otto von Bismarck. 1887 wurde bei Friedrich Wilhelm Kehlkopfkrebs diagnostiziert, und er zog sich mit seiner Frau zur Behandlung nach
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Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode
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England zurück. Beim Tod seines Vaters, Kaiser Wilhelm I., am 9. März 1888 war seine Krankheit bereits so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr sprechen konnte. Nach nur 99-tägiger Regentschaft verstarb er als Friedrich III. am 15. Juni 1888. Friedrich Wilhelm galt lange als „liberale Hoffnung“ des Kaiserreiches, dessen Geschichte und insbesondere die Beziehungen zu England mit ihm als Kaiser möglicherweise eine andere Entwicklung genommen hätte. Jüngste Forschungen aus der Feder Frank L. Müllers äußern sich dazu jedoch eher skeptisch.
In der deutschen Parteienlandschaft formierte sich im Frühjahr 1884 aus den ehemaligen linken, bismarckkritischen Nationalliberalen und der Fortschrittspartei die Freisinnige Partei, die sich dezidiert als Partei des Kronprinzen verstand und auf eben dessen Thronbesteigung und einen innenpolitischen Umbruch spekulierte. Bismarck antwortete auf die Herausforderung mit einer Intensivierung der Beziehung zu den Nationalliberalen und visierte eine konservativ-nationalliberale Allianz für die nächsten Reichstagswahlen im Herbst 1884 an. Sein Ziel war es die Linksliberalen als vaterlandslose Gesellen zu desavouieren und dem Kronprinzen somit eine Parlamentsmehrheit zu verbauen. Mehr noch als diese partei- und wahltaktischen Manöver erkannte Bismarck in dieser Phase das Instrument der Kolonialpolitik, um den Kronprinzen und die Linksliberalen politisch zu überspielen. Die primär antienglische Kolonialpolitik, so erklärte Bismarck selbst im September 1884 in Skierniewice dem russischen Zaren, der mit Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen ebenfalls ein Ableben Wilhelms I. fürchtete, diene vor allem dazu „einen Keil zwischen England und den Kronprinzen zu treiben“. Schon die Umstände des ersten Schutzbriefes im April 1884 deuten auf diesen engen außen- wie innenpolitischen Zusammenhang hin. Nicht nur, dass die äußere Lage als besonders günstig für ein Exempel gegenüber London erschien. Es waren dieselben Wochen, in denen Bismarck im Innern aktiv gegen den Kronprinzen und die Linksliberalen zu Felde zog. Er bewies Standfestigkeit, wo Kronprinz Friedrich Wilhelm und vor allem seine Gemahlin Victoria (1840–1901), im Berliner Volksmund wenig respektvoll nur „die Engländerin“ genannt, im Ruf standen, jederzeit den Kotau vor der britischen Weltmacht zu machen. Auch Herbert von Bismarck bestätigte nachträglich: „Als wir in die Kolonialpolitik hineingingen, mußten wir auf eine lange Regierungszeit des Kronprinzen gefaßt sein, während welcher der englische Einfluß dominieren würde. Um diesem vorzubeugen, mußte die Kolonialpolitik eingeleitet werden, welche volkstümlich ist und in jedem Augenblick Konflikte mit England herbeiführen kann.“
Tagebucheintrag Friedrich von Holsteins, 6.6.1884 (Auszug) Aus: Norman Rich/M.H. Fisher (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 2, S. 165ff.
„Kronprinzenpartei“
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Vielleicht werden durch die Kolonialfrage, welche heute in ihren ersten Anfängen ist, unserer Beziehungen zu England auf längere Zeit getrübt, wenn auch ein offener Konflikt ausgeschlossen ist. Die Frage wird voraussichtlich noch unerledigt in die nächste Regierung mit hinüber genommen werden. Keine Frage ist aber so wie diese geeignet, im Falle eines Konflikts, die dermalige Kaiserin mit ihren eng-
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Relative Sicherheit und Überseeabenteuer
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lischen Tendenzen vor dem deutschen Volke ins Unrecht zu setzen. Denn gerade die liberalen und demokratischen Gruppen verlangen Kolonien. Das der Kanzler die Kolonialfrage, welcher er so lange entgegen war, gerade aus diesem Grunde plötzlich aufs Programm gesetzt hat, bin ich weit entfernt zu vermuten. Daß er dieselbe aber erforderlichenfalls als Kampfmittel gegen fremdländische Einflüsse benutzen wird, davon bin ich fest überzeugt, sowie auch davon, daß letztere Einflüsse dann den kürzeren ziehen werden. „Kolonialschwindel“
Für Bismarck war die Kolonialpolitik damit vornehmlich ein taktisches Instrument sowohl im Innern wie nach außen. In vertrauter Runde nannte er sie offen einen „Kolonialschwindel“, den er nur für die Wahlen im Herbst benötige, um seine Machtbasis im Reichstag zu Lasten der „Kronprinzenpartei“ auszubauen und ein „Kabinett Gladstone“ unwahrscheinlich zu machen. Wie weit er dabei der Ansicht war, Deutschland dauerhaft auf einen englandfeindlichen Kurs einnorden zu können bleibt indes umstritten, denn auch ihm musste klar sein, dass selbst außenpolitische Spannungen bei einem Thronwechsel kein großes Hindernis für einen probritischen Kurswechsel bedeutet hätten. Im Gegenteil, Spannungen konnten auch die Grundlage für eine gemeinsame Gesprächs- und Verhandlungsebene bilden, wie nicht zuletzt die spätere Fashodakrise zwischen Frankreich und Großbritannien 1898 beweisen sollte. Ohne Frage hat die „Kronprinzenthese“ viel zum Verständnis und zur Erklärung der vielfältigen Motive Bismarcks beim Übergang zur Kolonialpolitik beigesteuert. Fest steht, dass die gesamte Frage des Thronwechsels in der ersten Hälfte der 1880er-Jahre ein beherrschendes Thema für den Reichskanzler und für Deutschland insgesamt war und diese Frage auch bei der Kolonialpolitik eine herausgehobene Rolle spielte. Darüber hinaus kann sie überzeugen, weil sie sich, anders als lange angenommen, auch mit dem plötzlichen Ende der Kolonialpolitik 1885 vereinbaren lässt. Jüngere Forschungen konnten nämlich zuletzt nochmals zeigen, dass Bismarck im Frühjahr und Sommer 1885 das Kronprinzenpaar schließlich „weichgeklopft“ habe und sich mit Friedrich Wilhelm insofern arrangierte, als dieser ihm zusicherte, auch bei einem Thronwechsel Kanzler bleiben zu dürfen und keinen politischen Kurswechsel, weder innen- noch außenpolitisch anzustreben. Wie dominant letztlich das Motiv des Thronwechsels insgesamt bei dem Entschluss kolonialen Mitwirkens war, ist kaum abschließend zu klären. Mit Blick auf die stets komplexen und dialektischen Gedankengänge des Reichskanzlers, der zudem wiederholt versuchte, die Innen- und Außenpolitik möglichst im Einklang zu halten, ist daher von einem ganzen Ursachenbündel bei phasenweise unterschiedlichen Gewichtungen auszugehen.
3. Bismarcks „Karte von Afrika“ bleibt in Europa Abbruch der Kolonialpolitik
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Mitte 1885 hatte die Kolonialpolitik ihren Zweck erfüllt: Die Wahlen vom Oktober 1884 hatten zwar keine stabile regierungsfreundliche Mehrheit er-
Bismarcks „Karte von Afrika“ bleibt in Europa
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geben, aber die Linksliberalen hatten erhebliche Verluste erlitten. Die Konservativen und Nationalliberalen hatten dagegen in der Wählergunst etwas zugelegt. Innenpolitisch hatte Bismarck seine Position gefestigt. Nach außen hatte er den anderen Mächten, insbesondere England, signalisiert, dass mit Deutschland zu rechnen sei. Überdies hatten sich auf außenpolitischem Feld die Grundvoraussetzungen für eine deutsche Kolonialpolitik erledigt: Die Verlängerung des Dreikaiservertrages war unter Dach und Fach, der kooperative französische Ministerpräsident Jules Ferry musste den französischen Revanchisten Platz machen. Auch Bismarcks Erzfeind Gladstone hatte die Downing Street nach dem Sieg der Tories im Juni wieder zu verlassen. Wirtschaftlich und finanziell hatte sich selbst in dieser kurzen Zeit bereits gezeigt, dass die Indigenen der deutschen Schutzgebiete kaum zu Konsumenten deutscher Fertigwaren taugten. Bismarck kehrte zu seiner ursprünglichen Ablehnung deutscher Kolonien ebenso schnell zurück, wie er sich im Frühjahr zuvor plötzlich und zur Überraschung aller für deutsche Schutzgebiete ausgesprochen hatte. Allein dies ist ein sicheres Zeichen dafür, wie situationsbezogen und fern jeglicher größerer imperialistischer oder sozialimperialistischer Motivlagen er die Kolonialepisode betrachtete. Zweifellos konnte sie eine neue Mission, eine neue Idee nach der erfolgreichen Reichsgründung bedeuten. Wichtiger aber war es, Deutschland nicht in der Welt, sondern in Europa abzusichern. So sehr auch innenpolitische Motive für die Bismarcksche Kolonialpolitik eine Rolle spielten und diese maßgeblich begünstigten, so eindeutig war es, dass die Außenpolitik die conditio sine qua non jeglichen außereuropäischen Engagements gewesen war. Ohne eine günstige äußere Konstellation, etwa im Schatten anglo-französischer und anglo-russischer Spannungen, so war stets klar, hätte Bismarck trotz aller innenpolitischer Motive keine Kolonialpolitik gewagt. Nach 1885 wollte Bismarck dann auch nichts mehr mit dem „Kolonialschwindel“ zu tun haben. Drei Jahre später verwünschte er diesen Schritt sogar und wollte die Besitzungen nur noch loswerden. Zuerst wollte er sie der Admiralität übergeben, dann bot er sie vergeblich Italien zum Kauf an, und schließlich sollten sie dem Hamburger Senat überschrieben werden. Deutlicher konnte seine Ablehnung kaum noch ausfallen. Seine Aufgabe, so betonte er in dieser Zeit immer wieder, sei es den europäischen Frieden zu sichern. Mit anderen nebensächlichen Kleinigkeiten könne er sich nicht mehr abgeben. Wenn der Handel kein Interesse an den Kolonien zeige, sollte man sie am besten aufgeben. „Kurz, das Auswärtige Amt wird die Kolonialsachen los, oder es wird mich los.“ Als ihn der deutsche Afrikaforscher Eugen Wolf (1854–1892) um eine Expedition zur Befreiung des deutsche Abenteurers, Emin Pascha, eigentlich Eduard Schnitzet (1840–1892), bat und damit warb, neue deutsche Interessensphären abzustecken, brachte Bismarck seine Abkehr von der Kolonialpolitik und den Horizont deutscher Außenpolitik auf den Punkt: „Schicke ich einen preußischen Leutnant […]., so muß ich unter Umständen ihm noch mehrere nachschicken, um ihn herauszuholen. Das führt uns zu weit. Die englische Interessensphäre geht bis zu den Quellen des Nils, und das Risiko ist mir zu groß. Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt hier in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.“
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Kolonialbewegung
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Nun kam es wiederum darauf an, mit den Großmächten vor der eigenen Haustür umzugehen und zu versuchen Frankreich nach Möglichkeit zu isolieren oder wenigstens von Russland getrennt zu halten. Die Freundschaft zum neuen englischen Premierminister Lord Salisbury und dessen Verbleiben im Amt war ihm deshalb „hundertmal mehr wert […] als das gesamte Ostafrika“. Mit dieser Haltung setzte sich Bismarck dem Unmut der Kolonialbewegung, allen voran Carl Peters, aus.
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Carl Peters (1856–1918) war ein deutscher Politiker, Publizist, Kolonialaktivist und Afrikaforscher mit stark rassistischer Einstellung. Er gilt als Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika. In den frühen 1880er-Jahren lebte Peters in London und schwärmte für den angelsächsischen Imperialismus. Als überzeugter Sozialdarwinist wollte er die „nicht weißen Rassen“ auch von Deutschland beherrscht wissen. Aus London zurückgekehrt, begründete er 1884 die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ und 1891 den „Allgemeinen Deutschen Verband“ (ab 1894 „Alldeutscher Verband“) mit. Seinem ursprünglichen Plan, Südwestafrika für Deutschland zu erwerben, kam Adolf Lüderitz zuvor. Die Reichregierung hatte es zudem abgelehnt, seine Expedition nach Sansibar unter den Schutz des Reiches zu stellen. Auf eigene Faust begann er mit den Indigenen auf höchst zweifelhafte Weise „Schutzverträge“ abzuschließen, für die Bismarck nur widerwillig Schutzbriefe ausstellte. 1891 wurde er zum Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet ernannt, wo er durch ein besonders brutales Auftreten schnell einen Aufstand provozierte, der ihm letztlich das Amt kostete. Die anschließenden Ermittlungen gegen „Hänge-Peters“, wie er von den Eigeborenen und der deutschen Presse aufgrund seines brutalen Regimentes genannt wurde, endeten 1897 mit der unehrenhaften Entlassung aus dem Reichsdienst. Er ging wieder nach London und 1914 erfolgte die Rehabilitierung und Rückkehr nach Deutschland.
Besitzungen
Bereits im Herbst 1886 versuchte Peters die nationalistischen Kräfte über einen Allgemeinen Deutschen Kongress zur Förderung überseeischer Interessen als Lobby zu bündeln. Noch waren aber die einzelnen, zumeist großbürgerlichen und Bismarck ergebenen Vereine und Verbände zu heterogen, als dass sie sich dem umstrittenen Peters anschlossen. Erst der HelgolandSansibar Vertrag sorgte 1891 dafür, dass sich die deutschnationalen Kräfte unter dem Dach des Alldeutschen Verbandes sammelten. Fortan übten sie weiteren Druck auf die Reichsregierung aus. Sie erreichten schließlich, dass sich Bismarcks Nachfolger Leo von Caprivi im Reichstag offiziell auf den „Besitz“ Südwestafrikas festlegte. Die weiteren Erwerbungen in den 1890erJahren nahmen sich ausnahmslos bescheiden aus, und so gehört es zur Ironie der deutschen Kolonialgeschichte, dass die wesentlichen Besitzungen aus der kurzen Bismarckschen Verirrung nach Übersee resultierten. Unter Wilhelm II. kamen lediglich Kiautschou (1897/98), die Karolinen, Palau und Marianeninseln (1899) und Samoa (1899) hinzu. Bismarck war sicher kein Imperialist, dazu mangelte es ihm an der dafür typisch sozialdarwinistisch-rassistischen und kulturzivilisatorischen Ideologie. Und doch begründete er das deutsche Kolonialreich und unternahm den wesentlichen ersten Schritt hin zum deutschen Imperialismus. Doch sollte man dies nicht überbewerten, denn es ist mehr als unwahrscheinlich, dass das Deutsche Reich als prosperierende Großmacht, und die selbstbe-
Bismarcks „Karte von Afrika“ bleibt in Europa
IV.
Deutscher Kolonialbesitz (1884–1919) Fläche (qkm)
Bevölkerung (Stand 1912/14)
Kosten (Stand 1911/12)
Deutsch-Südwestafrika (1884–1919)
835100
81000 Investitionen: 34810000 Mark (12292 Deutsche) Einnahmen: 24180000 Mark
Deutsch-Ostafrika (1885–1919)
995000
7700000 (4107 Deutsche)
Investitionen: 18970000 Mark Einnahmen: 15580000 Mark
Kamerun (1884–1919)
790000
2600000 (1600 Deutsche)
Investitionen: 10950000 Mark Einnahmen: 10330000 Mark
Togo (1884–1919)
87200
1000000 (320 Deutsche)
Investitionen: 3310000 Mark Einnahmen: 3510000 Mark
249500
600000 (1005 Deutsche)
Investitionen: 2180000 Mark Einnahmen: 1380000 Mark
40000 (544 Deutsche)
Investitionen: 1000000 Mark Einnahmen: 1180000 Mark
200000 (4256 Deutsche)
Investitionen: 15830000 Mark Einnahmen: 7750000 Mark
Deutsch-Neuguinea (1884/99–1919) Samoa (1899–1919)
2570
Kiautschou (1897/98–1919)
552
Karolinen, Palau und Marianeninseln (1899–1919)
2376
Gesamt
2959952
Investitionen: 700000 Mark Einnahmen: 510000 Mark 12221000 Investitionen: 87050000 Mark (24214 Deutsche) Einnahmen: 63910000 Mark
wusste deutsche Nation sich dem allgemeinen Kolonialfieber entzogen hätte, wenn selbst kleinere Mächte wie Belgien oder weit weniger erfolgreiche Mächte wie Italien wie selbstverständlich Kolonien für sich beanspruchten. Zum Problem für Deutschland und letztlich auch das internationale System vor 1914 wurde die deutsche Weltpolitik nicht etwa durch ein spezifisches Vorgehen, sondern weil das Kaiserreich aufgrund seiner geopolitisch anfälligen Mittellage, die späteren Rückwirkungen weltpolitischer Konfrontationen am wenigsten von allen auszuhalten in der Lage war. Die territoriale Entwicklung der Kolonialreiche 1881–1912 1. Großbritannien Besitzungen In Amerika
1881 qkm
1895
Bevölkerung
qkm
1912
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
9267707
5278366
9491401
6790070
10335558
9534141
Afrika
670953
2141645
5965519
27161174
6209602
35833501
Asien
4400768
24369700
5324379
296749727
5281000
324628804
Australien/Ozeanien
8055489
2616131
8240059
4773707
8261341
6452978
22394917
253733142
29021358
335474678
30087501
376449424
Gesamt
109
Relative Sicherheit und Überseeabenteuer
IV. 2. Frankreich Besitzungen
1881
1895
In
qkm
Amerika
124504
257548
81993
377341
82000
452005
Afrika
320972
3288756
2381476
14894783
6480200
27292626
Asien
60007
1836000
490009
19132263
720759
17294392
Australien/Ozeanien
21103
61000
623599
3845728
623770
3458107
526586
5470304
3577077
38850115
7906729
48497130
Gesamt
Bevölkerung
qkm
1912
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
3. Russland Besitzungen In Gesamt
1881
1895
1912
qkm
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
16604396
15 439 170
16 760951
24647469
16 654 283
26665 800
4. Deutschland Besitzungen In
1881
1895 qkm
1912
qkm
Bevölkerung
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
Neuguinea
–
–
255900
387000
242000
602478
Afrika
–
–
2385100
6950000
2657300
11163539
China
–
–
–
–
552
173225
Südsee-Inseln
–
–
400
12824
2600
37985
Gesamt
–
–
2641400
7349824
2907452
11977277
5. USA Besitzungen In
1881
1895
1912
qkm
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
qkm
Bevölkerung
Mittelamerika
–
–
–
–
10567
1272267
Pazifik
–
–
–
–
297027
8387918
Gesamt
–
–
–
–
307594
9660185
Aus: Wolfgang J. Mommsen, Imperialismus. Seine geistigen und wirtschaftlichen Grundlagen, Hamburg 1977, S. 37f.; Ulrich Janiesch, Imperiale Zeitalter, Imperium Romanum – Moderner Imperialismus, Stuttgart 1998, S. 29; für Russland vgl.: L. Zimmermann. Der Imperialismus, Stuttgart o.J., S. 3.
110
V. Außenpolitisches Zauberwerk: Bismarcks System der Aushilfen (1885–1890) November 1885 Herbst 1886 11.1.1887 12. 2. und 24. 3. 1887 20.2.1887 18.6.1887 Dezember 1887 5.3.1888 9.3.1888 15.6.1888 15. 6.1888 20.3.1890
Bulgarienkrise und Ende des Dreikaiservertrages Frankophile und antideutsche Töne in Russland Bismarckrede im Reichstag: Deutschland ist „saturiert“ Unterzeichnung Mittelmeerentente: England, Italien und Österreich Fünfjährige Verlängerung des Dreibundvertrags Geheimer Rückversicherungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Russland Orientdreibund zwischen Großbritannien, Österreich und Italien Friedensrede Bismarcks im Reichstag Tod Kaiser Wilhelms I. Tod Kaiser Friedrichs III. nach nur 99-tägiger Regentschaft Wilhelm II. wird deutscher Kaiser Entlassung Bismarcks
Bismarck hatte mit seiner Kolonialskepsis Recht. Von Bedeutung waren nicht die „Sumpfkolonien Afrikas“, sondern die kontinentalen Beziehungen, wenngleich Letztere sicher temporäre Entlastungen versprachen. Kaum hatte er sich von der Episode in Übersee verabschiedet, wurde sein mühsam errichtetes Sicherungsnetz aus Zweibund, Dreikaiservertrag und dem Dreibund in seinen Grundfesten erschüttert. Wieder einmal war es die orientalische Frage, die das Staatensystem belastete, und wieder waren es die Beziehungen zwischen der Doppelmonarchie und dem Zarenreich, die diesen Belastungen nicht standhielten. Aber auch im Westen drohte der deutschen Außenpolitik durch einen französischen Regierungswechsel Gefahr. Die revanchistische Patriotenliga um Paul Déroulède (1846–1914) forderte nach dem zeitweisen kolonialpolitischen détente wieder lautstärker eine antideutsche Allianz mit Russland. Bismarck ging es in der sich nun zusammenbrauenden schwersten internationalen Krise seit der Reichsgründung vor allem darum, so viel wie möglich von seinem Bündnissystem zu retten. Wenn auch die Drähte zwischen den drei Kaiserreichen immer dünner wurden, so sollte doch wenigstens der Kontakt namentlich mit Russland nicht gänzlich abreißen. Als Richtschnur galt es eine offene Option für die eine oder andere Seite zu verhindern.
1. Die west-östliche Doppelkrise 1885–1887 Als Bulgarien im September 1885 Ostrumelien besetzte, sah Serbien seinen Traum von der Vormachtstellung auf dem Balkan derart gefährdet, dass es
Bulgarienkrise
111
Außenpolitisches Zauberwerk
V.
zu den Waffen griff und einen Krieg gegen Sofia vom Zaun brach. Wider Erwarten setzten sich dabei aber die Bulgaren durch. Wie schon Mitte der 1870er-Jahre wurde das angriffslustige Serbien nur dank äußerer Intervention vor der Zerschlagung bewahrt. Diesmal schützte es aber nicht Russland, sondern Österreich-Ungarn, welches seit 1881 über einen geheimen Schutzvertrag mit Serbien verbunden war. Da das Wiener Eingreifen aber ohne vorherige Abstimmung mit St. Petersburg erfolgte, erkannte die zaristische Regierung darin einen Bruch des Dreikaiservertrages. Krisenverschärfend kam hinzu, dass sich auch Russland mit der Thronbesetzung Bulgariens verkalkuliert hatte. Das Zarenreich verfolgte bereits seit Jahrzehnten das Ziel einer Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien zu einem Großbulgarien als russischen Vasallen. Aber Alexander von Battenberg (1857–1893), der mit russischer Hilfe 1879 zum Fürsten von Bulgarien gewählt worden war, dachte schon wenig später nicht mehr daran, sich von St. Petersburg bevormunden zu lassen. 1886 brachte ihn deshalb die russische Partei in Bulgarien zu Fall. Nun entbrannte zwischen den Habsburgern und der zaristischen Familie der Romanows der Streit um seine Nachfolge. Als Wien gemeinsam mit London den Coburger Prinzen Ferdinand (1861–1948) in Sofia installierte, schäumten russische Führung und Öffentlichkeit vor Wut. Die Beziehungen innerhalb des Dreikaisertrios waren inzwischen derart belastet, dass bereits Ende des Jahres die für 1887 vorgesehene Verlängerung des Dreikaiservertrages illusorisch geworden war. Für Bismarck ging es wie eh und je allein darum, einen Konflikt und einen vollständigen Bruch zwischen den beiden östlichen Monarchien zu vermeiden. „Jedes andere Resultat“ hielt er deshalb für „akzeptabel“. Mit massivem politischem Druck versuchte er zunächst den Ballhausplatz zur Mäßigung zu bewegen. Gleichzeitig sondierte er beim russischen Außenminister Giers dessen Entschlossenheit. Wie so oft übte er den Spagat zwischen den Mächten. Giers gegenüber plädierte er dafür, es den Serben zu überlassen, den unliebsamen Battenberg zu vertreiben. Die Wiener Regierung wiederum wollte er mit angeblichen russischen Zugeständnissen ködern. Unmissverständlich machte er jedoch dem Ballhausplatz gleichzeitig klar, dass er jede Ermunterung Serbiens missbilligen würde und ÖsterreichUngarn jegliche Konsequenzen eines auf diese Weise provozierten Krieges allein zu tragen habe. Bismarck zog damit eine klare Grenze ein, bot der Wiener Führung aber zugleich eine Lösung an. Wenn es gelänge, dass Serbien ohne österreichische Ermunterung losschlage und die Habsburgermonarchie in der Folge aktiv dafür sorge, den Konflikt zu lokalisieren und schließlich als Friedensstifter auftrete, könne alles gewonnen werden. Eine wie auch immer geartete Beteiligung Deutschlands kam indessen nicht infrage. Zu sehr drohte dann ein Flächenbrand mit Beteiligung Frankreichs. Bismarck schlug somit sowohl Wien als auch St. Petersburg die gleiche Lösung vor: einen begrenzten Krieg zwischen Serbien und Bulgarien. Dieser sollte ein Ventil für den südosteuropäischen Nationalismus und dessen Großmachtträume bieten, den Großmächten die Möglichkeit liefern, die Region neu zu ordnen und einen Interessenausgleich zu erzielen. Mit dem Kalkül eines serbisches Sieges, der ein Großbulgarien verhinderte, befand sich die Berliner Politik zudem auf einer Linie mit der englischen Diploma-
112
Die west-östliche Doppelkrise tie unter Lord Salisbury. Wenn sich auch Großbritannien für die Lage in Südosteuropa interessiere, so die Rechnung, könne es als weiteres Gegengewicht dabei helfen, Österreich-Ungarn und Russland getrennt zu halten. Bismarck wollte damit das Konzert als Ganzes an die komplizierten Balkanangelegenheiten binden, um Deutschland von diesem Pulverfass ein Stückweit wegzuziehen und zu entlasten. Bei dem serbisch-bulgarischen Krieg hätte es sich also gewissermaßen um einen Stellvertreterkrieg gehandelt. Die zaristische Regierung lehnte das Vabanquespiel des lokalisierten Krieges ab. Zu unsicher schien die Eigendynamik des immer stärker werdenden Panslawismus. Ende 1886 war das österreichisch-russische Verhältnis damit vollends zerrüttet. Für Russland kam, wenn überhaupt, nur noch eine Verbindung mit Berlin, auf gar keinen Fall aber mehr mit Wien infrage. Erneut drohte Deutschland damit die Optionsproblematik. Geradezu prekär wurde die internationale Lage dadurch, dass sich gleichzeitig auch im Westen die Szenerie rapide verdunkelte. Die Kolonialentente mit Paris war mit dem Sturz des Ministeriums Ferry im Frühjahr 1885 jäh zu Ende gegangen. Seither gewannen unter der neuen Regierung mit Außenminister Charles de Freycinet (1828–1923) die Revanchisten unter Paul Déroulède großen Einfluss, zumal, weil der ebenfalls auf „Rache für Sedan“ sinnende, überaus populäre General Boulanger (1837–1891) neuer Kriegsminister wurde. Es war aber nicht nur die neue Regierung, die der Wilhelmstraße Kopfzerbrechen bereitete. Vielmehr vernahm man an der Spree immer deutlicher die Stimmen, die eine französisch-russische Allianz gegen Deutschland thematisierten. Auch in Russland warben die Panslawisten unter Michail Katkow (1817–1887) seit Längerem für eine solche „Zange“ gegen Berlin. Im ganzen Jahr 1886 schien daher der Ausbruch des Großen Krieges an beiden Fronten, in Ost und West, bloß noch eine Frage der Zeit. Erste Generalstabsbesprechungen zwischen Russen und Franzosen über einen konzentrischen Angriff auf die Mitte Europas kamen in Gang. Unterdessen lieferte die Pariser Regierung Waffen an die russische Armee. Deutsche Offiziere, die von russischen Manöverbeobachtungen zurückkehrten, berichteten nicht nur von offenen Feindseligkeiten ihnen gegenüber. Vielmehr wussten sich auch von gewaltigen Truppenverlegungen an die deutsche Ostgrenze. Der Zweifrontendruck ließ sich nicht mehr leugnen. Bismarck zog in dieser Phase alle politischen Register und verstärkte seine Bemühungen um die ihm noch verbliebenen Partner. Als erstes setzte er dabei auf eigene Rüstungsanstrengungen. Die Heeresvermehrung war direkt gegen Frankreich gerichtet. In seiner großen Septennatsrede am 11. Januar 1887 ließ der Reichskanzler keinen Zweifel daran, dass er den Revanchekrieg ernsthaft befürchtete, wenngleich er mit keinem Wort die Gefahr eines Zweifrontenkrieges erwähnte, um sie nicht auch noch herbeizureden. Wie so oft arbeitete Bismarck auch hier wieder mit deutlichen Signalen an die übrigen Mächte, wenn er die deutsch-russischen Beziehungen als besser darstellte, als sie in Wirklichkeit waren; wenn er die Verheiratung Viktorias von Hohenzollern (1866–1929) mit Alexander von Battenberg mit Rücksicht auf Russland hintertrieb; oder wenn er ÖsterreichUngarn deutlich zu verstehen gab, dass Deutschland keinerlei Interessen an Bulgarien habe. Immer wieder ließ er in dieser Phase dem Ballhausplatz
V.
Frankreichkrise
Präventivkriegsdrohungen
113
Außenpolitisches Zauberwerk
V.
Mittelmeerabkommen und Orientdreibund
114
über seine Diplomaten mitteilen, dass Deutschland nur Serbien sowie Bosnien und die Herzegowina, nicht aber Bulgarien zur Interessensphäre Habsburgs zähle. Dabei pfiff er mehrfach den übereifrigen deutschen Militärattaché Adolph von Deines (1845–1911) zurück, der allzu vorschnell und großzügig eine deutsche Unterstützung in Aussicht stellte. Genau hierin, so wird noch zu zeigen sein, bestand einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Bismarck’schen Zweibundpolitik und dem wilhelminischen Kurs gegenüber der Doppelmonarchie. Mit Blick auf Paris verfolgte der Reichskanzler den bereits seit 1875 bewährten Kurs. So wies er eigene Präventivkriegsabsichten zwar strikt von sich, machte gleichzeitig aber deutlich, dass Deutschland ohne Weiteres jedoch dazu in der Lage wäre. Nur so konnte und sollte das groß angelegte Manöver mit 72000 Reservisten im Elsass im Februar 1887 interpretiert werden. Politische Beruhigung auf der einen, militärische Entschlossenheitsbekundungen und Abschreckung auf der anderen Seite, gehörten zum Standardrepertoire. Gegenüber Frankreich sollte sich die Lage im Frühjahr 1887 noch weiter verschärfen, nachdem deutsche Beamte einen französischen Zollkommissar unter einem Vorwand auf deutschen Boden gelockt und als Spion verhaftet hatten. Zwar war dieser Mann tatsächlich ein Spion, aber die Art und Weise seiner Festnahme stellte ohne Frage einen Rechtsbruch dar. Bismarck nahm sich höchstpersönlich der Sache an und ordnete die Freilassung an. Eine deutliche Entspannung der bilateralen Beziehungen war die Folge. Kurze Zeit später löste sich auch die Krise um General Boulanger glücklicherweise von selbst. Im Mai 1887 wurde er gestürzt. Im Osten hatte sich bis dahin die Lage allerdings weiter zugespitzt. Als die Wahrscheinlichkeit einer russischen Besetzung Bulgariens in immer greifbarere Nähe rückte, verständigten sich die Regierungen Londons und Wiens und verlangten von Berlin die Zusage, sich einem bewaffneten Vorrücken des Zarenreiches in den Weg zu stellen. Wieder, wie schon 1876, ging es für die Wilhelmstraße darum, eine Option zu vermeiden, da man zu Recht vermutete, im Ernstfall von Großbritannien im Stich gelassen zu werden. Womit sollte die Inselmacht Deutschland auch gegen Russland beistehen? Längst hatte Bismarck sich in seiner Überzeugung bestätigt gefühlt, dass das Vereinigte Königreich die Mittelmächte lediglich als kontinentales Bollwerk gegen Russland in Stellung bringen wollte, um sich selbst zurückhalten zu können und Russlands Energie von Zentralasien zurück auf Südosteuropa zu lenken. Ein Bruch mit dem „Koloß“ im Osten und eine daraus folgende Allianz zwischen Frankreich und Russland musste daher um jeden Preis vermieden werden. „Wir werden uns von niemand [sic] das Leitseil um den Hals werfen lassen, um uns mit Russland zu brouillieren“, hatte er im Januar 1887 im Reichstag betont. Würde es aber möglich sein, so lautete für das Deutsche Reich die entscheidende Frage in der akuten Notlage der Doppelkrise, England stärker als bisher in Europa zu verpflichten? Wenn dies gelänge, so sei es auf die Zweibundmächte angewiesen. Im umgekehrten Fall konnte sich London wie gewohnt zurücklehnen und zusehen, wie Berlin und Wien der englischen Regierung die Kastanien aus dem Feuer holten. Einen Ausweg bot die Initiative des italienischen Außenministers Carlo Robilant (1826–1888). Anfang 1887 schlug dieser eine Orientvereinbarung zwischen England, Italien und Österreich-Ungarn vor. Bismarck unterstützte
Die west-östliche Doppelkrise
V.
dieses Vorhaben mit Nachdruck. Am 12. Februar 1887 vereinbarten England und Italien zunächst die Mittelmeerentente, der sich einen Monat später, am 24. März, Österreich-Ungarn anschloss, und die am 12. und 16. Dezember 1887 zum Orientdreibund erweitert wurde. Dabei handelte es sich nicht um einen förmlichen Bündnisvertrag, sondern um einen Austausch gleichlautender Noten zwischen den Regierungen. Hintergrund dafür war, dass ein förmlicher Allianzvertrag in England der Zustimmung des Parlamentes bedurft hätte, die Vereinbarungen aber streng geheim gehalten werden sollten. Allein die deutsche Regierung wurde als eine Art stiller Teilhaber über Existenz und Inhalt der Abmachungen in Kenntnis gesetzt. Rom, London und Wien hatten verabredet, den Status quo im östlichen Mittelmeer, in der Adria, in der Ägäis und im Schwarzen Meer gegen den russischen Expansionsdurst zu wahren. Soweit wie möglich sollte in der Region jede Annexion, Okkupation und jedes Protektorat seitens St. Petersburgs verhindert werden. Falls jedoch eine Status quo-Wahrung nicht möglich sein würde, so bedürfe jede Veränderung der Zustimmung aller Partner. Italien und Österreich-Ungarn versprachen, die englischen Interessen in Ägypten zu fördern, während Großbritannien und Österreich-Ungarn zusagten, Italien in Tripolis nicht im Stich zu lassen. Frankreich blieb einmal mehr von den Übereinkünften ausgeschlossen. Das Hauptziel Bismarcks, der die Vereinbarungen in einem flankierenden Briefwechsel mit Salisbury massiv gefördert hatte, selbst aber im Hintergrund geblieben war, bestand darin, dass sich England für den Kontinent interessierte. Mehr noch: Indem er Salisbury den Inhalt des Zweibundes offenbarte, bewies er diesem nicht nur sein Vertrauen, sondern versicherte dem englischen Außenminister gleichsam auch die Kontinuität deutscher Interessen. Der Tonfall zwischen Berlin und London hatte sich nach den Kolonialstreitigkeiten wieder einmal gedreht. Unmissverständlich blieb allerdings, dass Bismarck darüber hinaus signalisierte, dass er gleichsam die anhaltende britische Passivität in Fragen des Staatensystems nicht länger akzeptieren wolle. Sollte Großbritannien weiterhin versuchen, andere, und insbesondere Deutschland ohne Gegenleistung für seine Interessen in die Pflicht zu nehmen, würde sich Berlin notfalls mit Frankreich über Ägypten und mit Russland über Konstantinopel einigen können. Salisbury hatte offenbar verstanden. Bismarck gelang es, London über den Orientdreibund an den ebenfalls im Februar 1887 verlängerten Dreibund heranzuziehen. Die neue britisch-österreichische Verbindung bedeutete dabei eine zusätzliche, wenn auch indirekte Sicherung Wiens gegenüber St. Petersburg. England hatte sich erstmals, wenn auch nur über den Notenaustausch, bindend zu einer Gegenleistung für die Wahrung des Status quo erklärt und Deutschland damit gleichzeitig bei seinen Zweibundverpflichtungen im Falle erneuter Balkanwirren entlastet. Insgesamt bot der Orientdreibund eine bis heute in der Forschung zumeist vernachlässigte Sicherheitsoption und gleichsam eine Alternative zur späteren Blockstruktur zwischen den Zweibundmächten und der Tripelentente. Der besondere Charme dieses Konstrukts lag mit der aktiven und sogar präventiven Beteiligung Großbritanniens an der Stabilisierung des europäischen Großmächtesystems auf der Hand. Es musste nicht länger erst eine veritable Kriegsgefahr am Horizont auftauchen, bis London aufwachte und sich nachträglich einmischte. Selbst als sich später Anfang der 1890er-Jahre
115
Außenpolitisches Zauberwerk
V.
Verwirrung der Bündnisse
Frankreich und Russland zu einer Allianz zusammenfanden, war es letztlich der Orientdreibund, der eine Blockkonfrontation wie im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg zunächst wenigstens verhinderte. Mit England sorgte er für die nötige Querverbindung im Staatensystem jenseits der Blöcke. Wieder war es Bismarck darum gegangen, den Ernstfall eines Krieges über komplexe Verflechtungen zu verhindern. Der Preis dafür war allerdings ein zunehmend verwirrend wirkendes „System von Aushilfen“, welches immer künstlicher erschien. Unbestreitbarer Höhepunkt der komplexen Vertragskonstruktionen war aber der Rückversicherungsvertrag. Mit seiner Hilfe wollte Bismarck trotz der russisch-österreichischen Spannungen den „Draht“ zwischen Berlin nach St. Petersburg erhalten und gleichsam die für Deutschland so günstige „Krimkriegskonstellation“ am Leben erhalten. Der Vertrag war der Kern seines zweiten, noch weitaus komplizierteren Bündnissystems nach 1887.
2. Die „Aushilfen“ werden zum „System“ a) Der Rückversicherungsvertrag: „politische Bigamie“ oder „geniale Aushilfe“?
Das „ganz geheime“ Zusatzprotokoll
116
Auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Abschluss des Dreikaiservertrages, wurde am 18. Juni 1887 nach langen, zwischenzeitlich unterbrochenen Verhandlungen der Rückversicherungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Russland geschlossen. Gemäß der Präambel sollte dieser auf drei Jahre gültige Geheimvertrag das „bestehende Einvernehmen“ der beiden Kaiserreiche sichern und so gemeinsam mit dem Zweibund an die Stelle des ausgelaufenen Dreikaiservertrages treten. Das Vertragswerk bestand genaugenommen aus zwei Verträgen: dem eher defensiven Hauptvertrag und dem „ganz geheimen Zusatzprotokoll“. Der Hauptvertrag erneuerte, in zum Teil wörtlicher Übernahme, den Inhalt des Dreikaiservertrages, natürlich nun begrenzt auf Deutschland und Russland. So sicherten sich die beiden Höfe jeweils wohlwollende Neutralität bei einem Krieg mit einer anderen Großmacht zu (Art. 1). Die zur Neutralität verpflichtete Partei sollte dabei ihr Augenmerk auf eine örtliche Begrenzung des potentiellen Konflikts richten. Ausnahmen bildeten aber ein deutsch-französischer oder der russisch-österreichischer Konflikt. Dann trat der casus foederis nur ein, wenn Frankreich respektive Österreich „unprovoziert“ angriffen. Mit dieser Einschränkung musste und konnte Bismarck zufrieden sein. Deutschland stand ja zudem noch mit dem Zweibund in vertraglicher Bindung zur Habsburgermonarchie, welche zur Hilfe gegen einen russischen Angriff verpflichtete. Der Reichskanzler ließ darüber den russischen Unterhändler, Graf Paul Schuwalow (1830–1908), auch nicht im Unklaren. Bismarck hatte also sein Ziel, die „Schutzimpfung für den Zaren gegen französische Ansteckung“ erreicht. Bei einem Krieg mit einer anderen Großmacht war der Partner zur Neutralität verpflichtet, sodass der Vertrag zudem auch eine bedingt offensive Tendenz beinhaltete.
Die „Aushilfen“ werden zum „System“
V.
Im zweiten Artikel erkannte Deutschland die „geschichtlich erworbenen Rechte Russlands auf der Balkanhalbinsel und insbesondere die Rechtmäßigkeit seines vorwiegenden und entscheidenden Einflusses in Bulgarien und Ostrumelien“ an. Eine Demarkation zwischen den österreichischen Interessen in Serbien und den russischen in Bulgarien sollte den Status quo auf der Balkanhalbinsel sichern. Das schon zeitgenössische Hauptproblem und von der Forschung vielfach diskutierter Kern des Vertrages war indes Artikel III in Verbindung mit dem zweiten Artikel des von Herbert von Bismarck und Paul Schuwalow unterzeichneten „ganz geheimen“ Zusatzprotokolls. Beide betrafen Bismarcks „Lieblingsthema“, die Meerengenfrage. In nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Dreikaiservertrages bestätigte Deutschland darin die russische Auffassung über die Schließung der Meerengen, die Graf Peter Schuwalow am 12. Juli 1878 auf dem Berliner Kongress als Gegenposition zur englischen Auffassung zu Protokoll gegeben hatte. Der Berliner Vertrag bestätigte mit Artikel 63 die Entscheidung der Pontus-Konferenz vom März 1871, auf der die Türkei das Recht erhalten hatte, in Friedenszeiten Kriegsschiffen befreundeter Mächte die Durchfahrt zu erlauben. Darauf stützte sich auch die englische Lesart, die eine souveräne Entscheidung des Sultans in dieser Angelegenheit akzeptierte. Peter Schuwalow befand jedoch, dass das Prinzip der Meerengenverschluss nicht alleinige Sache des Sultans, sondern eine europäische sei. Der russische Standpunkt fand seine Begründung darin, dass bis dahin alle Verträge zur Meerengenfrage (1841, 1856, 1871), ebenso wie der Berliner Vertrag, alle Mächte als Kollektivverträge banden. Russland sah also einen Bruch des Berliner Vertrages dann gegeben, wenn die Türkei einer Macht die Durchfahrt gestattete, ohne dass vorher alle Signatarstaaten zugestimmt hatten. Die Berliner Kongressakte hatte letztlich eine Entscheidung vermieden und beide Interpretationen parallel ins Protokoll aufgenommen. Ganz geheimes Zusatzprotokoll des Rückversicherungsvertrages mit Russland, 18. Juni 1887 Aus: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914, Bd. 5, Nr. 1092, S. 253ff. Übersetzung nach: Bernhard Schwertfeger, Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871–1914, Berlin 1923–1927, Teil I, S. 315ff.
Q
Um die Bestimmungen der Artikel II und III des Geheimvertrages vom heutigen Tage zu vervollständigen, sind die beiden Höfe über folgende Punkte übereingekommen: 1. Deutschland wird wie bisher Russland beistehen, in Bulgarien eine geordnete und gesetzmäßige Regierung wiederherzustellen. Es verspricht, in keinem Falle seine Zustimmung zur Wiedereinsetzung des Prinzen von Battenberg zu geben. 2. In dem Falle, daß Seine Majestät der Kaiser von Russland sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, zur Wahrung der Rechte Russlands selbst die Aufgabe der Verteidigung des Zuganges zum Schwarzen Meere zu übernehmen, verpflichtet sich Deutschland, seine wohlwollende Neutralität zu gewähren und die Maßnahmen, die Seine Majestät für notwendig halten sollte, um den Schlüssel seines Reiches in der Hand zu behalten, moralisch und diplomatisch zu unterstützen.
117
Außenpolitisches Zauberwerk
V.
3. Das gegenwärtige Protokoll bildet einen untrennbaren Bestandteil des am heutigen Tage in Berlin unterzeichneten Geheimvertrages und soll dieselbe Kraft und Geltung haben. Zu Urkund dessen haben die wechselseitigen Bevollmächtigten es unterzeichnet und mit ihrem Siegel versehen. Geschehen zu Berlin, am 18. Juni 1887. (Siegel) Graf Herbert von Bismarck (Siegel) Graf Paul Schuwalow
„Bigamie“?
Nach dem Zusatzprotokoll genügte nun schon eine „drohende Verletzung“ der russischen Lesart, um sich mit der Türkei „im Kriegszustand“ zu befinden, was eindeutig gegen England zielte. Während der Hauptvertrag lediglich defensiv von einer „moralischen und diplomatischen Unterstützung“ der russischen Maßnahmen sprach, falls der Zar sich genötigt sähe, selber die Aufgabe der Verteidigung des Zuganges zum Schwarzen Meer zu übernehmen, so handelte es sich bei dem Zusatz um eine bewusst offensive Vervollständigung auf Anregung Otto von Bismarcks. Was aber bezweckte er mit dieser Zusage, die sowohl dem Mittelmeerabkommen vom März 1887, als auch dem späteren Orientdreibund vom Dezember 1887 und dem so wichtigen Zweibund zu widersprechen schien? Während die ersten beiden Abkommen den Status quo im östlichen Mittelmeer sichern sollten und der Zweibund Österreich-Ungarn gegen Russland unterstützte, ermutigte der Rückversicherungsvertrag gerade die russische Expansion in Richtung Meerengen und Südosteuropa. Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, Friedrich von Holstein, lehnte den Rückversicherungsvertrag nicht von ungefähr als „politische Bigamie“ ab. Aber genau hierin findet sich der grundsätzliche Unterschied im außenpolitischen Ansatz und Grundverständnis zwischen Bismarck und seinen Nachfolgern. Bismarck kam es nicht so sehr auf den Wortlaut einzelner Verträge, sondern auf den Sinn und den Zweck seines gesamten Bündnisgeflechts an.
E
Friedrich von Holstein (1837–1909) war ein preußisch-deutscher Diplomat und Politiker. Holstein stand ab 1860 im diplomatischen Dienst (als Attaché unter Bismarck in St. Petersburg, später u.a. in England und den USA; ab 1872 Sekretär in Paris). Die familiär-freundschaftlichen Beziehungen zu den Bismarcks bedeuteten für ihn gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg. Mit der Regentschaft Wilhelms II. entwickelte er sich jedoch zunehmend zu einem Kritiker Bismarcks und war 1890 an dessen Sturz beteiligt. Holstein beeinflusste maßgeblich die Politik des „Neuen Kurses“ und die neue strategische Ausrichtung gegen eine Verlängerung des Rückversicherungsvertrages und für eine Anlehnung an England. Nach seiner Entlassung 1906 galt er als „graue Eminenz“ und wirkte weiterhin im Hintergrund der deutschen Außenpolitik mit.
Aushilfe par excellence und das zweite Bündnissystem
Fraglos lieferte der Rückversicherungsvertrag keine Garantie für gute Beziehungen zum Zarenreich, geschweige denn eine abschließende Lösung des deutschen Sicherheitsproblems oder eine Erfolgsgarantie für den Kriegsfall. Bismarck selbst betonte ausdrücklich, dass er nicht der „Schlußstein eines geschlossenen Systems“ sei. Auch er erkannte in diesem Vertrag eine Aushilfe – eine vorläufige Verlegenheitslösung. Bis der Fluss der Ereignisse an-
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Die „Aushilfen“ werden zum „System“
V.
dere Möglichkeiten zuließ, sollte Russland an Deutschland gebunden bleiben. Selbst sein Sohn Herbert brachte Bedenken vor. Für den Kriegsfall hielt es das Bündnis für ziemlich „anodyn“. Aber immerhin, werde es „uns im Ernstfall die Russen doch wohl sechs bis acht Wochen länger vom Halse halten als ohne dem“. Anders als Friedrich von Holstein hatte er offenbar verstanden, worauf es seinem Vater ankam. Das Gesamtbild vor Augen, sollte dafür gesorgt werden, dass Bündnisfall gar nicht erst eintrete. Die unleugbaren Widersprüche waren deshalb wohl einkalkuliert und dienten diesem Zweck. Immerhin schützte allein die Existenz des Rückversicherungsvertrages durch die russische Energieumleitung auf die Meerengen auch Österreich-Ungarn vor einem direkten russischen Angriff. Er musste daher auch im Wiener Interesse sein. Gleichzeitig bewahrten Mittelmeerentente und Orientdreibund die Staatenwelt vor einer Eskalation im östlichen Mittelmeer und dämmten die expansiven Ambitionen Russlands an diesem neuralgischen Punkt des internationalen Systems ein.
Abb. 2: Bismarcks zweites Bündnissystem (1887–1890) Wieder sollte ein kompliziertes, dialektisches Ineinandergreifen verschiedener Kontrollen und Gleichgewichte eine kriegerische Entwicklung vermei-
119
Außenpolitisches Zauberwerk
V.
Zweckgebundene Ambivalenz
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den helfen, gleichzeitig aber auch ein Mindestmaß an Spannungen offenhalten. Paradoxerweise sollten nämlich gerade diese Spannungen an der Peripherie eine Eskalation bis zum Krieg von der europäischen Mitte fernhalten. Russland sollte sich im Orient engagieren und sich so weiter in den Gegensatz zu England manövrieren, um seinen Druck von den Mittelmächten zu nehmen. Großbritannien wiederum sollte sich auf den traditionellen Gegensatz zum Zarenreich in Asien und im Nahen Osten konzentrieren müssen und gleichzeitig aus eigenem Antrieb die Mittelmächte auf dem Kontinent in Südosteuropa unterstützen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die englisch-russischen Spannungen sich womöglich lösten und für Russland der Weg zu einem Bündnis mit Frankreich frei würde. Solange nämlich die Spannungen zwischen den Flügelmächten existierten, hatte Frankreich stets England im Rücken und blieb auch die von Bismarck gefürchtete Annäherung zwischen Paris und St. Petersburg eher unwahrscheinlich. Seine Ermunterung Russlands zu einer aktiveren Meerengenpolitik konterkarierte Bismarck, indem er die anderen Mächte wiederum zum Orientdreibund ermutigte. Konstantinopel, so erklärte er seinem Botschafter, dem Prinzen Reuß (1825–1906), wollte er damit zur russischen „Sackgasse“ ausbauen. Der Rückversicherungsvertrag wirkte mithin nur im Zusammenhang mit dem Orientdreibund. Die Charakterisierung des Vertrages durch Friedrich von Holstein als „politische Bigamie“ führt, weil sie den übergeordneten Zweck des Friedenserhalts übersieht, daher ins Leere. Zutreffender ist angesichts der direkten wie indirekten Verpflichtungen Deutschlands von einer zweckgebundenen, ja notwendigen Mehrgleisigkeit bzw. Ambivalenz zu sprechen. Genial war diese Aushilfe des Rückversicherungsvertrages sicherlich in ihrer komplizierten Struktur, den dabei zutage tretenden komplexen und stets flexiblen Gedankengängen, mit denen Bismarck nun nach der Zerschlagung des „alten“ Systems mit Dreikaiser- und Zweibundvertrag dieses Ersatzgebilde errichtete. Mit Blick aber auf eine Lösung des deutschen Sicherheitsdilemmas zwischen den Flügelmächten erscheint der Rückversicherungsvertrag viel eher als Krönung der verlegenen Aushilfen. Mehr und mehr verstrickte sich der Reichskanzler in ein „Sisyphuswerk der Bündnisse“ [K. Hildebrand] und musste zunehmend nicht nur Spannungen offenhalten, sondern sie auch gezielt schüren. Immer wieder mussten weggebrochene Absicherungen durch neue Konstrukte notdürftig ersetzt werden. Entsprechend wurde hierfür auch von der „Zukunftslosigkeit“ der deutschen Außenpolitik gesprochen. Das neue „System“ kümmerte sich mehr um Krisenvertagung und Improvisation, denn um deren Lösung. Der Rückversicherungsvertrag offenbart daher insgesamt vor allem die schwindenden außenpolitischen Alternativen. Was die Kritik der Widersprüchlichkeit bzw. der „politischen Bigamie“ anbetrifft, so bleibt festzuhalten, dass sich der Vertrag in das Konzept von 1877 einfügte. Schließlich sollte er das Deutsche Reich vom Zweifrontendruck und die Mittelmächte insgesamt vom russischen Druck befreien. Sowohl gegenüber Schuwalow als auch gegenüber Salisbury hatte der Reichskanzler die Karten über den geheimen Zweibundvertrag offen auf den Tisch gelegt. Von einer Unvereinbarkeit mit der Rückversicherung konnte also keine Rede sein. Auf dem Balkan war nur von Bulgarien und Ostrumelien die Rede. Gebiete, die nicht nur Berlin, sondern auch Wien
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längst als russisches Einflussgebiet akzeptiert hatten. Problematisch blieben lediglich die Bestimmungen hinsichtlich der Meerengen und des Mittelmeers, an denen Bismarck vertraglich aber nicht direkt beteiligt war. Mit deren Hilfe sollte die englische Präsenz im neuen System entlastend wirken. b) Außenwirtschaftspolitik: Schutzzölle und Lombardverbot Die Beziehungen zum Zarenreich blieben trotz der letztlich erfolgreichen Vertragsverhandlungen angespannt. Im Ernstfall, so war sich Herbert von Bismarck sicher, würde der Rückversicherungsvertrag Zeit verschaffen. So gering war inzwischen das Vertrauen in das väterliche Vertragswerk. Tatsächlich widersprach der Vertrag vor allem der allgemeinen Stimmungslage im Deutschen wie im Russischen Reich. Teile des deutschen Militärs und nun auch des Auswärtigen Amts forderten vermehrt einen Präventivschlag gegen St. Petersburg. In Russland war die Sachlage kaum anders. Nur noch eine zunehmend isolierte Minderheit um Giers und Schuwalow unterstützte die traditionelle deutsch-russische Verbindung. Zar Alexander III. (1845–1894) näherte sich dagegen mehr und mehr den Befürwortern einer französisch-russischen an, um Deutschland in die Zange zu nehmen. Schon seit Jahren erhitzten anhaltende Wirtschafts- und Zollstreitigkeiten die öffentlichen Gemüter und gaben wiederholt Anlass zu gegenseitigen Pressefehden. Ursache waren die asymmetrischen Handelsbeziehungen. Beide Märkte befanden sich auf unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstufen, waren aber gleichzeitig vom Zugang zum jeweiligen Nachbarmarkt abhängig. Russland wollte zwar mit Agrarexporten nach Deutschland seine heimische Industrie finanzieren, sich aber zugleich vor der deutschen Konkurrenz bewahren, während Deutschland mithilfe seiner Industrieexporte den Anschluss an die westlichen Industriestaaten halten, die wirtschaftliche Depression lösen und gleichzeitig seine heimischen Agrarier gegen den russischen Weizen und Roggen schützen wollte. Die russische Seite eröffnete schließlich 1877 den Zollkampf. Erklärtes Ziel war es, vornehmlich die deutsche industrielle Konkurrenz aus Russland fernzuhalten. Tatsächlich fiel der Anteil des Russlandexports am deutschen Außenhandel in der Folgezeit von 24% im Jahre 1875 auf 5% in 1885. Im Juli 1885 verschlechterte ein weiterer extrem hoher Steuerzuschlag von 20% die Exportbedingungen für die deutsche Industrie und erreichte ein weltweit beispielloses, geradezu ultraprotektionistisches Niveau. Zwischen 1882 und 1891 erhöhten sich die russischen Tarife auf deutsche Industrieerzeugnisse um sage und schreibe 500%. Während die deutschen Zölle relativ wenig Einfluss auf den russischen Export nahmen, sank das deutsche Exportvolumen nach Russland von 300 Millionen Reichsmark 1880 auf 206 Millionen 1886. Da der Zugang zum russischen Markt, anders als im Falle der Kolonien oder Chinas nicht zu erzwingen war, hatte Bismarck bereits frühzeitig, Anfang der 1880er-Jahre, die Notwendigkeit erkannt, sich mit St. Petersburg zu einigen. Aber erst 1886 willigte die russische Seite ein, brach die Gespräche jedoch wenig später schon wieder ab. Der deutschfreundliche Finanzminister Nikolai Bunge (1823–1895) war im Januar 1887 durch den eher frankophilen Iwan Wischnegradski (1832–1895) ersetzt worden. Offenbar befanden sich Deutschland und Russland in einer handelspolitisch
Zollkrieg oder Präventivschlag?
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verfahrenen Pattsituation. Beide Seiten befanden sich in einer Pattsituation und belauerten sich diplomatisch wie. Begleitet wurde dieses Spiel von einer lebhaften Presseagitation auf beiden Seiten. Wischnegradski verordnete für Januar 1887 neue Kampfzölle. Bismarck wartete mit einer Reaktion nur so lange, bis der Rückversicherungsvertrag samt Zusatzprotokoll im Juni unter Dach und Fach war. Kaum eine Woche später leitete er wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen ein. Er wollte, so sein Sohn Herbert, wenigstens den Versuch wagen, dem Zaren durch „Keulenschläge“ die Vorteile einer Kooperation vor Augen zu führen. Nichts hatte nämlich in den vergangenen Wochen und Monaten in der Presse oder den Handelsbeziehungen darauf hingedeutet, dass sich beide Länder durch die Vertragsverhandlungen politisch nähergekommen seien. Ganz im Gegenteil: Während die panslawistische Presse in Russland immer heftiger gegen das Deutsche Reich schrieb und für eine Annäherung an Paris warb, brach der Führer der französischen Patriotenliga, Paul Déroulède, zu einer Agitationsreise quer durch das Zarenreich auf, bei der er im August 1887 viel Zuspruch erntete. Schon erhob der russische Großfürst Nikolai (1831–1891) gegenüber französischen Offizieren an Bord des französischen Dampfers „Uruguay“ sein Glas auf einen baldigen gemeinsamen Krieg gegen Deutschland, als die russische Regierung zudem einen Ukas erließ, der es Ausländern – vornehmlich Deutschen – verbot, in den russischen Westprovinzen Grundstücke zu erwerben. Zu allem Überfluss berichtete der deutsche Militärattaché in Paris auch noch von regelmäßigen Kontakten zwischen französischen und russischen Generalstäblern. Bismarck reagierte, indem er den Druck auf den östlichen Nachbarn erhöhte. Er lancierte nun eine öffentliche Kampagne gegen russische Wertpapiere, die zur Deckung der gewaltigen russischen Staatsschulden bei deutschen Banken gezeichnet worden waren. Gleichzeitig wies er die Reichsbank an, keine russischen Anleihen mehr zu akzeptieren. Dieses Lombardverbot bedeutete das Aus russischer Anleihen auf dem deutschen Finanzmarkt. Während die Finanzmärkte einen solchen Schritt bereits erwartet hatten und international schon länger kein Vertrauen mehr in russische Wertpapiere bestand, wurde das Lombardverbot gerade mit Blick auf die sensiblen deutsch-russischen Beziehungen zu einer nachhaltigen politischen Demonstration. Verschärfend wirkte diese nach den erfolgreichen Vertragsverhandlungen insbesondere angesichts eines bevorstehenden Zarenbesuchs. Das Verbot sollte klarstellen, dass Deutschland sich nicht alle Zumutungen und weitere Zollsteigerungen gefallen ließ. „Je mehr wir voraussehen müssen, dass wir auf handelspolitischem Gebiete immer wieder zu Kampfzöllen kommen, umso mehr ist es notwendig, dass wir kein Geheimnis daraus machen, was wir auf politischem Gebiet an sehr viel Wichtigerem konzedieren können.“ „Wir können“, so der Reichskanzler, „wegen Zollfragen keinen Krieg mit Russland beginnen und die politischen Gegensätze ihretwegen nicht verschärfen, wohl aber können wir durch Erschwerung der russischen Einfuhr nach Deutschland Russland nötigen, seinerseits auf unsere Interessen mehr Rücksicht zu nehmen.“ Hinzu gesellten sich eine ganze Reihe vielschichtiger und zum Teil widersprechender Motive. So sollte einerseits die deutschfreundliche Gruppierung um Außenminister Giers gegenüber Wischnegradski gestärkt werden, andererseits sollten aber Russland weitere finan-
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zielle Mittel zum strategischen Eisenbahnbau im Westen versagt bleiben. Parallel zum wirtschaftlichen Druck sollte dahingegen der Nutzen der deutschen Freundschaft mithilfe der Zähmung der österreichischen Expansionsbestrebungen auf dem Balkan vor Augen geführt werden. Den Reichskanzler motivierten jedoch auch erneut innenpolitische Gründe. Das Lombardverbot bedeutete nämlich fraglos eine Konzession an die lautstarken Befürworter eines Präventivkrieges um die Generäle Helmuth von Moltke und Alfred von Waldersee. Letzterer kommentierte die „Maßregeln der Reichsbank gegen russische Werthe“ zufrieden damit, dass „wir nun endlich soweit sind, gegen Russland die große Aengstlichkeit abzulegen“. Alfred Graf von Waldersee Alfred von Waldersee (1832–1904), Artillerieoffizier und preußischer Generalfeldmarschall, diente unmittelbar vor dem deutsch-französischen Krieg 1870 als Militärattaché in Paris und trug mit seinen genauen Kenntnissen über die französische Armee zum Kriegserfolg bei. Als Flügeladjutant Wilhelms I. hatte er engen Zugang zur königlichen Familie. 1882 wurde er als Generalquartiermeister zum Stellvertreter Helmuth von Moltkes im Großen Generalstab, den er von 1888 bis 1891 als Chef führte. Seit Mitte der 1880er-Jahre beschäftigte er sich zunehmend mit der Idee eines Präventivkrieges gegen Russland und Frankreich und geriet mit seinen wiederholt vorgetragenen Präventivkriegsforderungen in Widerspruch zu Bismarck. Als Chef des Generalstabes unter Wilhelm II. ging es ihm unablässig um die Stärkung des Militärs gegenüber dem Kriegsministerium und der Reichsleitung. Am Sturz Bismarcks 1890 wirkte er aktiv mit. Nur ein Jahr später musste aber auch er sich dem neuen Kaiser beugen und seinen Posten räumen. Sein Nachfolger, Alfred Graf von Schlieffen (1833–1913), führte Waldersees Gedanken zum Zweifrontenkrieg weiter. 1900/1 wurde Waldersee nochmals als „Weltmarschall“ mit dem Oberbefehl über ein internationales Truppenkontingent zur Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes betraut.
Bismarck hatte bei seinen wirtschafts- bzw. finanzpolitischen Zwangsmaßnahmen darauf gehofft, dass die russische Seite diesen Wink verstehen und letztlich einlenken werde. Damit unterschätzte er aber die russischen Wahlchancen. Bis 1894 war das gesamte russische Kapital nach Frankreich abgeflossen. Obwohl Bismarck bei verschiedenen Gelegenheiten die grundsätzliche Trennung von Wirtschaft und Politik bzw. den Vorrang des Politischen betonte, so versuchte er sich wiederholt gegenüber Österreich-Ungarn und Russland daran, den ökonomischen Prügel für politische Signalgebungen zu nutzen. Die Schutzzollpolitik wie auch das Lombardverbot erwiesen sich aber insgesamt gerade mit Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen als klassischer Fehlschlag. Der Versuch, Russland an die Seite Deutschlands zwingen, brachte das Zarenreich letztlich dazu, sich an Frankreich anzunähern. Allerdings sollte Bismarcks Entscheidung nicht allzu sehr aus der Rückschau und dem Wissen um das russisch-französische Rapprochement betrachtet werden. Obwohl die Sperrung des deutschen Kapitalmarktes für russische Anleihen wenig hilfreich, ja geradezu kontraproduktiv war, „unvermeidbar“ (H.-U. Wehler) wurde ein deutsch-russischer Krieg dadurch nicht. Entscheidend blieben die bilateralen politischen Verhältnisse. Zar
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Wirtschaftspolitik als Instrument
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Alexander erwähnte bei seinem Besuch in Berlin und bei seinem über einstündigem Gespräch mit Bismarck am 18. November 1887 weder das Lombardverbot noch die Schutzzollproblematik nicht einmal. Viel wichtiger erschienen ihm französische Fälschungen zur Battenbergkrise, die versuchten, Bismarck die gesamte Affäre in die Schuhe zu schieben und beide Staaten in einen Krieg zu verwickeln. Auch sein unmittelbarer Nachfolger, Leo von Caprivi, und Wilhelm II. haben den Abfluss des russischen Kapitals in Richtung Frankreich 1894 nochmals zu korrigieren versucht. Nicht zu leugnen aber ist, dass Bismarcks Außenpolitik Ende der 1880er-Jahre gerade im Bereich der Außenwirtschaftspolitik gegenüber Russland zu eindimensional wirkte. Immer wieder hatte er wirtschaftliche Maßnahmen vornehmlich als Druckmittel, Demonstration oder disziplinarisches Instrument genutzt. Den Freihandel, zu dem er sich noch zu Beginn der 1860er-Jahre bekannt hatte, beschimpfte er inzwischen längst als „Freihandelskrankheit“. Ein wirtschaftliches Entgegenkommen hätte womöglich im Osten helfen können, wo seine Bündnispolitik zunehmend zur bloßen Aushilfe degenerierte. Statt den Kurswechsel einer aktiven Handelsvertragspolitik unter Caprivi zumindest passiv zu beobachten, grollte er nach seiner Entlassung wiederholt aus dem Sachsenwald, dass Wirtschaftspolitik und Außenpolitik zwei verschiedene Paar Schuhe seien. Dass es sich dabei inzwischen um den verletzten Stolz eines Staatsmannes und eine gehörige Portion Starrsinn handelte, bewies er auch damit, dass er Ende 1896 den Rückversicherungsvertrag publik machte, womit er der deutschen Außenpolitik einen dauerhaft irreparablen Schaden zufügte. Fortan wurde der Vertrag nicht nur in britischen, sondern auch österreichischen Dokumenten wiederholt als Inbegriff für die perfide deutsche Diplomatie des „Bismarckianismus“ herangezogen, die Mächte gegeneinander auszuspielen. Für Bismarck waren wirtschaftliche Aspekte zuletzt sowohl in der Innenwie auch in der Außenpolitik lediglich taktische Instrumente, zumeist um Druck zu erzeugen. Zehn Jahre zuvor hatte er im Vorfeld des Zweibundabschlusses noch vermehrt mit Konzessionen gearbeitet. Kaum waren jedoch gute Beziehungen zur Donaumonarchie erreicht, sollte der „verwöhnte“ Zweibundpartner wie später Russland mithilfe der Handelspolitik an der langen Leine gehalten werden. Außenwirtschaftspolitik diente Bismarck dabei offenbar als „pädagogische Disziplinierungsmaßnahme“. Hinter der von ihm selbst und seinem Sohn wiederholt ins Feld geführten „Trennung“ von Wirtschaft und Außenpolitik verbarg sich somit ein überaus dialektisches Verständnis beider Felder im Dienste der Großen Politik. Als flankierendes Instrument für höhere außenpolitische Ziele diente sie ihm etwa im Frühjahr 1883, als er wiederholt und hartnäckig versuchte, Spanien in ein Netz der Meistbegünstigungsverträge einzubeziehen. Dafür schien er sogar bereit, den dagegen opponierenden Reichstag aufzulösen. Madrid sollte als Bündnispartner gegen Frankreich gewonnen werden, um den französischen Chauvinismus, so wörtlich, „abzukühlen“. Auch gegenüber Großbritannien und in der Kolonialpolitik nutzte Bismarck wiederholt die Handelspolitik, um politische Signale auszusenden, die die Spannungen in der europäischen Staatenwelt anfachen bzw. lockern sollten. In der Frage Ägyptens etwa wollte er seine Missbilligung der englischen Politik auch dadurch zeigen, dass er jegliche finanzielle Unterstützung Großbritanniens auf Eis legte.
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Insgesamt kam es Bismarck darauf an, die klassischen Bereiche der Großen Politik zu kontrollieren, um das „Staatsschiff durch die Strömungen der Coalitionen zu steuern“. Dazu zählte er neben den „kriegerischen Rüstungen“ den „richtigen politischen Blick“ sowie die „geographische Lage und Vorgeschichte Deutschlands“. Durch „Liebenswürdigkeiten und wirthschaftliche Trinkgelder für befreundete Mächte“, so schrieb er in seinen Erinnerungen, „werden wir den Gefahren, die im Schoße der Zukunft liegen, nicht vorbeugen, sondern die Begehrlichkeiten unsrer [sic] einstweiligen Freunde und ihre Rechnung auf unser Gefühl sorgenvoller Bedürftigkeit steigern“.
c) Deutsch-russische Entfremdung und Sondierungen an der Themse Im Herbst 1887 war das Verhältnis zwischen St. Petersburg und Berlin an einem derartigen Tiefpunkt angelangt, dass der Reichskanzler sich ernsthaft fragte, ob die vertraglichen Vereinbarungen überhaupt noch Gültigkeit besäßen. Tatsächlich blieb die Kriegsgefahr gerade im Oktober und November 1887 akut. Die Rufe nach einem Präventivschlag, solange Russland noch auf sich allein gestellt sei und seine Rüstungen noch nicht abgeschlossen habe, waren unüberhörbar geworden. „Hier ist eigentlich alle Welt für den Krieg, mit fast alleiniger Ausnahme von s. D.“ [seiner Durchlaucht, Bismarck] wusste die „graue Eminenz“ des Auswärtigen Amtes, von Holstein, Mitte Januar 1888 gegenüber dem Londoner Botschafter von Hatzfeldt zu berichten. So sehr Bismarck selber vor den Wahlen von 1887 noch das Bedrohungsgefühl geschürt hatte, so vehement trat er nun intern, später auch öffentlich für den Frieden ein. Sei der Krieg nicht zu verhüten, sollt er doch zumindest aufgeschoben werden, ließ er General von Albedyll (1824–1897), den Chef des kaiserlichen Militärkabinetts, Ende 1887 wiederholt noch einmal wissen. Das galt insbesondere für den Krieg im Osten. Wenig später, am 6. Februar 1888, trat er mit seiner berühmten „Friedensrede“ vor den Reichstag und beschwor die Nation, wahre Stärke und politische Überlegenheit lägen in der Beherrschung der Situation.
Bismarck im Reichstag, 6.2.1888 (Auszug) Aus: Kohl, Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 12, S. 447, S. 477.
„Gottesfurcht“ und „Friedensliebe“
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Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphären auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin. Wir werden das nicht tun; wir werden, wenn orientalische Krisen eintreten, bevor wir Stellung dazu nehmen, die Stellung abwarten, welche die mehr interessierten Mächte dazu nehmen. […] Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.
Noch war der Reichkanzler mit seinem Latein also nicht am Ende. Dem Parlament riet er zur Heeresvorlage. Die eigene militärische Stärke sollte abschrecken und ein Signal für das Zarenreich wie für alle anderen Groß-
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Die englische Option
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mächte sein. Gleichzeitig stand für ihn keineswegs fest, wie er seinem neuen Kaiser, Friedrich III., im Mai 1888 mitteilte, dass sich der Zar bei einem deutsch-französischen Konflikt beteiligen werde. Der bestehende Draht nach St. Petersburg war vielleicht nicht mehr so stark wie zu Beginn der 1880er-Jahre. Aber immerhin, er hatte noch Bestand. Selbst eine bloß sechs- oder achtwöchige Verzögerung bei der Mobilisierung konnte entscheidend sein. Im Westen erschien ihm die Situation dahingegen eher verfahren. Bismarck rechnete früher oder später mit einem erneuten Waffengang gegen Frankreich. Der Sturz Ferrys und der revanchistische Boulangismus hatten ihn darin nur noch einmal bestätigt. Zwar wollte er den großen Krieg verhindern, doch lag es in seiner Verantwortung, für den casus belli geeignete Vorkehrungen zu treffen. Seine Allianzen sind in diesem Sinne zu verstehen. Indem er Russland in die „orientalische Sackgasse“ und in Frontstellung zur Mittelmeerentente drängte, sollte das Zarenreich von einer Unterstützung Frankreichs gegen Deutschland abgezogen werden. Bismarcks zweites, erneuertes Bündnissystem ab 1887 sollte somit entweder den prekären Frieden wahren und den Bündnisfall verhindern oder im Kriegsfall für möglichst gute Bedingungen sorgen. Diese schienen ihm bei einem Krieg Österreichs, Englands und der Türkei gegen das Zarenreich gegeben, bei dem Deutschland im Hintergrund bleiben konnte und die Wahl hatte, „stille [zu] halten, oder den Franzosen entre nous die Hosen stramm [zu] ziehen“, wie er seinem Schwiegersohn Kuno Graf Rantzau (1843–1917) diktierte. Nur Frankreich „könnte ihn dazu bewegen, zu den Waffen zu greifen“. Darüber hinaus versuchte Bismarck in dieser Situation wieder die englische Karte zu spielen. Anfang 1889 beauftragte er Hatzfeldt, Salisbury ein öffentliches, d.h. parlamentarisch ratifiziertes Defensivbündnis gegen Frankreich vorzuschlagen. Die Öffentlichkeit sollte eine abschreckende Signalwirkung sowohl auf St. Petersburg als auch auf Paris haben. Geheimverträge, so Bismarck, dienten lediglich dem positiven Ausgang eines Konfliktes, nicht aber dessen Verhinderung. Schon im November 1887 hatte Bismarck versucht, England für die europäische Stabilität in die Pflicht zu nehmen. Um Salisbury aber die Beteiligung an der Mittelmeerentente bzw. dem Orientdreibund schmackhaft zu machen, hatte er ihm einen allzu großen Einblick in seine Gedanken zur internationalen Lage offenbart: Für Bismarck bestand kein Zweifel mehr, dass sich die internationale Politik inzwischen stark gewandelt hatte und dass es immer mehr darauf ankomme, die Bevölkerung zu erreichen und zu begeistern, und dass ein Krieg der hochgerüsteten und emotionalisierten Großmächte einer verheerenden Katastrophe gleichkäme. Offenherzig teilte er Salisbury mit, dass Deutschland immer dann zur Waffe greifen müsse, „wenn die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns durch einen russischen Angriff bedroht wäre, oder England und Italien Gefahr liefen, durch französische Heere überflutet zu werden“. Daher würde er England schon aus eigenen existenziellen Interessen stets gegen Frankreich beistehen. Folgerichtig sah London zwei Jahre später keinerlei Veranlassung, sich mehr als nötig zu engagieren. Salisbury lehnte die Offerte am 22. März 1889 mit dem Verweis auf das englische Parlament ab.
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Die Entwicklung der deutsch-englischen Beziehungen Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Graf Herbert von Bismarck an den Reichskanzler Fürsten von Bismarck (Auszug)
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Aus: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914, Bd. 4, Nr. 945, S. 404ff. Geheim
London, den 22.3.1889
pp. Mit Salisbury habe ich 5/4 Stunden gesprochen in dem hergebrachten vertraulichen Tone: […] Von der joint naval demonstration kamen wir auf deren Rückwirkung auf Amerika und Frankreich, auf unsere gegenseitigen Beziehungen zu letzterem und schließlich auf die Möglichkeit einer geheimen oder öffentlichen deutsch-englischen Allianz zu sprechen. Lord Salisbury stimmte mit mir durchaus überein, daß eine solche das Heilsamste für beide Länder und für den europäischen Frieden sein würde. […] Der Lord setzte hinzu: „Leider leben wir nicht mehr in den Zeiten Pitts, damals regierte hier die Aristokratie, und wir konnten eine aktive Politik treiben, welche England nach dem Wiener Kongress zur reichsten und angesehensten europäischen Macht gemacht hatte. Jetzt herrscht die Demokratie, und mit ihr ist persönliches und Parteiregiment eingezogen, welches jede englische Regierung in unbedingte Abhängigkeit von der aura popularis gebracht hat. This generation can only be taught by events.“ Ich mußte dem Lord leider recht geben und erwiderte: „Wir waren darauf gefaßt, daß Sie uns keine definitive Antwort würden geben können, und Sie wissen, daß das unsere guten Beziehungen nicht im geringsten beeinflußt. Da ein englisch-deutsches Bündnis an sich aber vernünftig wäre, und da Sie hier niemals initiativ ein solches anbieten können, so sehr Sie es auch wünschen mögen, so hat der Reichskanzler es für seine Pflicht gehalten, die allerhöchste Genehmigung zu erbitten, um die Sache wenigstens anzuregen.“ Lord Salisbury erklärte hierzu, er sei sehr dankbar für diese Anregung und er hoffe, daß er noch Zeitumstände erleben würde, welche ihm gestatteten, darauf praktisch einzugehen. „Meanwhile we leave it on the table, without saying yes or no: that is unfortunately all I can do at present.“
Großbritannien hatte es trotz aller Hinweise auf seine kritische Öffentlichkeit schlichtweg nicht nötig, sich für den europäischen Status quo vertraglich ins Zeug zu legen, hatte doch die deutsche Führung deutlich gemacht, selbst alles dafür in die Waagschale werfen zu wollen. Überdies befand sich London gerade selbst mit dem Zarenreich in vielversprechenden Verhandlungen über Zentralasien. Für alle wurde damit der beständige Spagat des Empire zwischen seinen europäischen und weltpolitischen Interessen sichtbar. Solange der Kontinent unter Spannung stand, konnte Großbritannien Letzteren getrost den Vorrang einräumen. Die Absage an Berlin entsprang der bis 1914 gültigen Asymmetrie zwischen London und Berlin – das Reich war besonders, die Inselmacht dagegen wenig auf äußeren Beistand angewiesen. So sehr das revanchebereite Frankreich ein steter Unruheherd für Deutschland und Europa war, so bedeutete es eine Garantie für die britischen Wahlchancen. Das Optionsgefälle zwischen London und Berlin drückte daher die tatsächliche Stärke und Relevanz beider im Großmächtekonzert aus. Auch Bismarcks Kritikern in der Wilhelmstrasse und bei den Militärs führte die englische Absage die Grenzen des bismarckschen Kurses vor Augen. Ohnehin erschien die Offerte an England als Notnagel,
Deutsch-englische Asymmetrie
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hatte Bismarck doch stets bekannt, ihm sei das „russische Hemd lieber […] als der englische Rock“. Dem Reichkanzler blieb letztlich doch nichts anderes übrig, als weiterhin Paris und St. Petersburg voneinander zu trennen, die eigene Stärke zu fördern und den Zweifrontendruck zu entschärfen. An der unwahrscheinlichen englischen Option hielt er dennoch fest und versuchte, die Verbindung nach London durch bereits begonnene Verhandlungen über eine mögliche Abtretung Helgolands zu erhalten. Man müsse „die englische Initiative abwarten“, erklärte er im Sommer 1889, und auf den Moment warten, „wo England uns braucht“. Dies entsprach nicht mehr dem Ideal des Kissinger Diktats, d.h. dem Ziel der Isolation Frankreichs und der Abhängigkeit aller anderen Mächte vom Deutschen Reich. Weiterhin durch die geopolitische Mittellage und die Dauerfehde mit Frankreich „immobilisiert“, schienen die außenpolitischen Alternativen mehr und mehr aufgebraucht. Auch die beiden Alternativen zum ständigen Lavieren zwischen den Flügelmächten hatten sich inzwischen als höchst problematisch erwiesen: die Flucht nach vorn in Form eines Präventivschlages war zwar bei vielen Militärs, einigen Diplomaten und in der Öffentlichkeit zeitweise populär, doch Bismarck erkannte darin keinen Gewinn, zumal sich die Mächte bereits in den 1870er-Jahren schützend vor Frankreich gestellt hatten. Die zweite Möglichkeit, Juniorpartner einer der beiden Flügelmächte zu sein, stand nicht nur konträr zum deutschen Selbstbewusstsein und Potenzial, sondern schien nach der Absage Londons und dem anhaltenden Optionsproblem zwischen Wien und Petersburg ebenfalls ausgeschlossen. Schließlich kam auch eine Option für Russland für die überwiegende Mehrheit in Politik, Militär, Gesellschaft und Wirtschaft beider Länder nicht infrage. Gänzlich alternativlos und „ohne Zukunft“ erschien Bismarck die Lage Ende der 1880er-Jahre jedoch trotzdem nicht. Über Jahrzehnte hatte er inzwischen die internationalen Beziehungen beobachtet und maßgeblich gestaltet. Auch wenn er sich in manchem geirrt hatte, etwa in der „Krieg-inSicht“-Krise, beim Berliner Kongress oder in der Kolonialpolitik, es hatten sich immer wieder Möglichkeiten außerhalb seines unmittelbaren Einflusses ergeben, die eine neue Situation schufen und neue Möglichkeiten eröffneten. Es bestand also kein Grund, nicht wieder die Entwicklungen abzuwarten. Die größte Gefahr für diesen Kurs des Stillhaltens und Abwartens war dessen anachronistischer Charakterzug. Was er gegenüber Salisbury mit Blick auf die Öffentlichkeit und den schwer zu kontrollierenden Zeitgeist befürchtet hatte, schien sich immer mehr zu bewahrheiten: die traditionelle Gleichgewichts- und Bündnisdiplomatie war kaum noch mit dem Selbstverständnis der jungen, aufstrebenden deutschen Nation zu vereinbaren. Außenpolitischer Verzicht und Mäßigung genügten immer weniger, sowohl der eigenen Bevölkerung als auch im imperialistischen Wettlauf der Großmächte. In dem Vorwurf der „Zukunftslosigkeit“ seiner Außenpolitik spiegelte sich das Dilemma des Kaiserreiches und zugleich das Paradoxe an der Einschätzung der bismarckschen Außenpolitik wider. Natürlich handelte es sich bei seinem Kurs um temporäre „Aushilfen“, hatte er doch nie den „Schlußstein“, sondern stets den „flüssigen Aggregatzustand“ der internationalen Beziehungen im Blick. Auch unabhängig von der deutsch-französischen Feindschaft verlangte allein dieser Kurs Flexibilität. Es war genau diese Flexibilität, die eine wiederholte Krisenbewältigung ermöglichte und
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die Existenz des Reiches sichern half. Somit hatte die „Zukunftslosigkeit“ seiner Diplomatie letztlich dem Kaiserreich überhaupt erst eine Zukunft ermöglicht. Selbst für den äußersten Notfall, der Existenzbedrohung durch den „russischen Koloß“, kannte er kein Tabu und bekannte dem sich 1895 daran erinnernden Grafen Hatzfeldt gegenüber, er hätte „die russische Neutralität […] im letzten Augenblick erkauft, indem er Österreich fallen gelassen und den Russen damit den Orient überliefert“ hätte. Was blieb, war auf offene Entwicklungen zu setzen und Deutschland weiterhin „Saturiertheit“ aufzuerlegen, während für alle anderen Mächte Expansion als normal galt. Für seine Altersgenossen war dies gerade genug. Für die jüngere Generation, für die die Existenz des Deutschen Reiches schon zur Selbstverständlichkeit geworden war, nicht. Somit bestanden damals auch im Innern des Reiches mehr Grenzen denn Möglichkeiten. Denn ob ein demokratischer Verfassungsstaat das nationalistische Expansionsverlangen der Epoche besser hätte kontrollieren und eine maßvolle Außenpolitik hätte gewährleisten können, bleibt nach wie vor fraglich. d) Das Ende einer Ära – die Außerdienststellung Bismarcks Am 9. März 1888 verstarb Kaiser Wilhelm I., nur 99 Tage später, am 15. Juni, endete auch die Regentschaft seines todkranken Sohnes Friedrich III. auf tragische Weise. Es folgte dessen Sohn Wilhelm II. Angesichts des erneuten Thronwechsels hatte sich Bismarck zunächst durchaus zuversichtlich gegeben. Der erst 29-jährige Kaiser würde schon auf ihn hören, ja auf seine Weisheit und Erfahrung angewiesen sein. Auch Herbert von Bismarck zeigte sich sicher, dass mit Wilhelm II. die Zeit der Bismarcks wieder aufs Neue beginnen werde. Beide aber irrten: Knapp zehn Jahre später, Bismarck war 1898 verstorben, beschrieb Wilhelm II. seiner Mutter die Umstände seiner Thronbesteigung: „Für den Augenblick war Bismarck Herr […] des Reiches. […] Die Lage war unmöglich. Von diesem Augenblick an verstand ich die furchtbare Aufgabe […], die Krone zu retten vor dem überwältigenden Schatten ihres Ministers.“ Der neue Kaiser, über den es bald hieß, er sei „der Plötzliche“, war voller Tatendurst, wollte sich beweisen und möglichst rasch eigenes Profil gewinnen. Sechs Monate sollte „der Alte“ verschnaufen, dann regiere er selbst, hatte er vollmundig angekündigt. Dabei hatte Bismarck ihn frühzeitig gefördert. Bereits Anfang der 1880er-Jahre hatte er den Prinzen bei einigen diplomatischen Missionen getestet und ihm aus Sorge vor der vermeintlichen Liberalität seiner Eltern Friedrich Wilhelm und der englischen Prinzessin Victoria eingeimpft, als Kaiser später seine Souveränitätsrechte zu behaupten. Nun sollte sich gerade dieses monarchische Prinzip gegen den Reichskanzler selbst richten, denn auch die Umgebung des jungen Kaisers stärkte dessen Geltungsdrang und rächte sich damit an der jahrelangen, mitunter verletzenden und nicht selten vernichtenden Dominanz des „eisernen Kanzlers“. Wieder hatte Bismarck also einen Geist gerufen, den er nicht mehr loswurde – viel schlimmer noch, der ihn selbst nun loswerden wollte. Allen voran hatte Bismarcks Intimfeind, Graf von Waldersee, inzwischen Chef des Generalstabes, gegenüber Wilhelm II. betont, dass selbst Friedrich der Große niemals „der Große“ genannt worden wäre, hätte er einen Kanzler
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„Dropping the Pilot“
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wie Bismarck an seiner Seite gehabt. Waldersee riet deshalb unverhohlen, den Reichsgründer vor die Tür zu setzen. Nichtsdestotrotz sollten diese bismarckfeindlichen Kräfte nicht überschätzt werden, schließlich lieferte der Reichskanzler selbst genügend Anlass für seine Entlassung. „Es gelingt nichts mehr!“ titelte die zentrumsnahe Zeitung „Germania“ bereits im April 1889. Gemeint waren damit insbesondere die inneren Verhältnisse des Kaiserreiches. Außenpolitisch betrachtet blieb die Lage des Reiches nach Salisburys Absage einer Zusammenarbeit zunächst relativ offen. Obwohl der neue Kaiser dem russlandfeindlichen Lager um Waldersee und Holstein im Auswärtigen Amt nahestand, konnte Bismarck ihn insgesamt noch weitgehend auf Kurs halten. Entscheidend bei der Entlassung Bismarcks war die Innenpolitik: Neben der sogenannten Affäre Heinrich Geffken (1830–1896), ein Bonner Studienfreund Friedrichs III., der Auszüge aus dessen Tagebuch von der Kampagne gegen Frankreich 1870/71 ungebeten veröffentlichte, war es die soziale Frage und deren Beantwortung, die zur Entfremdung zwischen Kaiser und Kanzler führte. Während der junge Wilhelm von seinen Untertanen geliebt werden wollte, probte sein Kanzler einmal mehr die Konfrontation. Augenscheinlich wurde diese im Bergarbeiterstreik Mitte 1889, der sich bald vom Ruhrgebiet aus über Aachen, die Saarregion, Sachsen und Schlesien ausbreitete und sich zu einer regelrechten Kanzlerkrise ausweitete. Obwohl das Bürgertum inzwischen vermehrt an der Sinnhaftigkeit der Sozialistengesetze zweifelte und sich mehr von sozialen Reformen versprach, setzte Bismarck nicht auf ein Entgegenkommen in Richtung Arbeiterschaft, sondern auf eine Verschärfung der Gesetze. Mit dem Ergebnis, dass sich der Kaiser dank seiner Berater auf die Seite der Arbeiter stellte und sich auf Kosten Bismarcks als „König der Bettler“ stilisierte. Der Kanzler seinerseits setzte alles auf eine Karte und damit auf ein Duell, das er nicht gewinnen konnte. Er pochte auf eine weitere Verschärfung der Sozialistengesetze und suchte diese wie auch die umstrittene Militärvorlage im Reichstag als „Sprengmittel“ [K. Canis] zu nutzen und eine allgemeine Krise auszulösen, die dem Kaiser seine Unentbehrlichkeit vor Augen führen sollte. Offenbar blendete ihn die Erinnerung an den Heeres- und Verfassungskonflikt von 1862. Doch der Unterschied konnte kaum größer sein. Nicht nur, dass Bismarck damals eine zukunftsträchtige Politik anzubieten hatte. Für den abdankungsbereiten Wilhelm I. schien Bismarck der letzte Ausweg zu sein, weshalb er sich bereitwillig in dessen Abhängigkeit begeben hatte. Nun aber waren die Verhältnisse umgekehrt. Die Konfrontation spitzte sich zu, das Bismarck stützende Kartell aus konservativer und liberaler Mehrheit zerbrach und die Reichstagswahlen im Februar 1890 endeten mit einer krachenden Niederlage für den Kanzler. Was jetzt folgte, war vor allem für die Nachwelt bestimmt. Aber es war nicht der Lotse, der von Bord ging. Zweimal mahnte Kaiser Wilhelm II. an, dass er Bismarcks Abschied erwarte. Neben allen Unstimmigkeiten kritisierte der Kaiser nun auch noch, in der Außenpolitik nicht ausreichend informiert worden zu sein. In seinem Rücktrittsgesuch griff Bismarck gerade diesen Punkt geschickt auf und hinterließ der Nachwelt den Eindruck, letztlich Opfer eines neuen außenpolitischen Kurses wilhelminischer Abenteuer geworden zu sein, gegen den er sich bis zuletzt gestemmt hätte. Bei genauerer Betrachtung war Wilhelm II. sogar bereit, den
Die „Aushilfen“ werden zum „System“
V.
umstrittenen Rückversicherungsvertrag zu verlängern und die Bismarcksche Russlandpolitik zunächst weiterzuführen. Tatsächlich wurde der Reichkanzler Opfer innenpolitischer und insbesondere persönlicher Differenzen mit dem über 40 Jahre jüngeren Kaiser, der ihn mit einem Kaiserportrait als Geschenk und dem Titel eines Herzogs von Lauenburg aufs Altenteil in den Sachsenwald abschob. Im Ausland schlug dieser Schritt hohe Wellen. Nicht zuletzt das Londoner Satireblatt Punch hatte den Vorgang mit der Bildunterschrift „Dropping the Pilot“ korrekt wiedergegeben und ging damit in die Geschichte ein. Während aber die englische Regierung, allen voran Lord Salisbury, die Entlassung Bismarcks ernsthaft bedauerte, weil man in ihm trotz aller Differenzen eine verlässliche Konstante erblickte, weinte man Bismarck in Wien keine Träne nach. „Danken wir Gott, dass wir die ganze Familie los sind“, tönte Erzherzog Albrecht von Österreich (1817–1895) am 20. März 1890. Zu oft hatte der Kanzler offenbar die Habsburgermonarchie in Südosteuropa an die Kette gelegt. Im Kaiserreich selbst wurde der Abgang Bismarcks zunächst mehrheitlich erleichtert zur Kenntnis genommen. Gerade den jüngeren Zeitgenossen erschien er mehr als ein „Erfüller“, denn als „Verkünder“. Am 29. März 1890 verließ Bismarck Berlin in Richtung Friedrichsruh und verbrachte seine letzten Lebensjahre damit, die Politik seiner Nachfolger publikumswirksam zu kommentieren.
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VI. Schlussbetrachtung Bismarcks Entlassung war ohne Zweifel der größte Einschnitt in der Geschichte des Kaiserreiches. Sowohl für die deutsche als auch die internationale Politik insgesamt galt es, sich nun neu zu sortieren. Obgleich seine Außenpolitik zum Ende hin zweifellos Züge des Überanstrengten aufwies, mitunter wechselhaft in der Orientierung wirkte und nicht mehr die Souveränität wie noch zu Beginn der 1870er-Jahre ausstrahlte, so setzte er nach 30 Jahren Erfahrung in der großen Politik des europäischen Staatensystems weiterhin auf neue Möglichkeitsräume. Seinen Nachfolgern mangelte es nicht nur an Erfahrung und Geduld, sondern auch an der nötigen Phantasie und dem Blick für sich ergebende Wahlchancen. An Stelle von ad-hoc gebildeten Aushilfen strebten sie nach dauerhafteren Lösungen, Berechenbarkeit und Orientierungen in der Außenpolitik. Kaum war der „eiserne Kanzler“ mit dem Sonderzug nach Friedrichsruh abgedampft, traute sich der neue Reichskanzler, Leo von Caprivi, schon nicht mehr zu, das Werk seines Vorgängers fortzuführen. Da er nicht in der Lage sei, wie Bismarck mit „fünf Glaskugeln“ in der internationalen Politik zu jonglieren, so das kryptische Eingeständnis eigener Unzulänglichkeiten, sollte der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert werden. Diese Nichtverlängerung, einhergehend mit der Hinwendung zu England, hat seit jeher die Forschung als vermeintlich erste Stufe in den Abgrund beschäftigt. Sie markierte augenscheinlich die Zäsur zwischen bismarckscher Staatskunst und dem Versagen seiner Nachfolger. Die Politik Bismarcks wurde dabei lange entweder als friedlicher Gegenpol zum Säbelgerassel seiner Epigonen gedeutet, oder auch als zwangsläufige Überforderung der Nachfolger bewertet, die bereits den Keim des Unheils in sich gehabt hätte. In beiden Fällen handelte es sich um stark teleologisch akzentuierte Ansätze mit dem Fluchtpunkt 1914. In den letzten Jahren ist jedoch das einhellige Bild der wilhelminischen Außenpolitik als Inbegriff permanenten Versagens deutlich relativiert worden. Damit einher ging auch ein Perspektivwechsel auf die Ära Bismarcks. So rücken inzwischen verstärkt die Zwänge der deutschen Außenpolitik in den Fokus der Betrachtungen, nicht, um das verantwortliche Handeln abstrakten Kräften zuzuschreiben, sondern vielmehr um eine nüchterne Betrachtung von Grundbedingungen, Intentionen, Alternativen, Wahlchancen und Folgen in ihrer Wechselwirkung zu gewährleisten. Bereits in der Gründungsphase des Kaiserreiches, so ein wesentlicher Befund heutiger Forschung, spiegelte sich dessen Gefährdung. So hatte es einer Reihe einmaliger historischer Konstellationen von der Krimkriegssituation, über die Berufung Bismarcks bis hin zum Kriegsglück bedurft, damit die deutsche Frage überhaupt noch in Form der kleindeutschen Lösung 1871 beantwortet wurde. Als Kind dreier Kriege, deren Ausgang kaum jemand in Europa erwartet hatte, sorgte das neue Reich zwangsläufig für Beunruhigung und erhöhte die Alarmbereitschaft unter den traditionell führenden Großmächten. Die Realpolitik der 1860er-Jahre hatte letztlich dazu geführt, dass aus Preußen, dem schwächsten Glied der Pentarchie, über Nacht ein potenziell neuer Hegemon emporgestiegen schien. Die prekäre geopoli-
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Schlussbetrachtung
VI.
tische Mittellage wie auch die anhaltende und für alle offensichtliche deutsch-französische Feindschaft verengten die Möglichkeitsräume deutscher Diplomatie aber derart, dass es nur zu einer „halb-hegemonialen“ Stellung im Staatensystem genügte. Fortan war das Reich zu stark und mächtig, um weiterhin als Juniorpartner der Flügelmächte zu dienen, gleichzeitig aber zu schwach, um das Großmächtesystem auf eigene Faust zu dominieren. Das erste Erfolgsrezept hieß deshalb „Saturiertheit“, sodann Isolierung des französischen Erbfeindes, und die Verlagerung potenzieller Spannungsherde an die europäische Peripherie. Darüber hinaus wollte Bismarck sich stets auf der Seite von Dreien wiederfinden, zumindest aber jede Option zwischen Österreich-Ungarn und Russland vermeiden, schließlich konnten beide im Ernstfall eine einkreisende Verbindung mit dem revanchelustigen Frankreich eingehen. Bismarck gelang es aus dem geopolitischen Nachteil einen Vorteil zu ziehen, indem er das Reich zur Schaltzentrale des europäischen Mächtesystems machte, von der jede Macht, selbst Frankreich, seinen Nutzen hatte. Die „ungeschickte Größe“ des Reiches konnte so in das Staatensystem eingebunden und über ein kompliziertes Bündnissystem austariert werden. Immer auf der Hut vor dem Albtraum einkreisender Koalitionen erwies sich dieser Kurs als selbstbewusst und flexibel genug, um keiner absoluten Sicherheitslösung zu bedürfen. Gleichwohl gilt zu beachten, dass auch die anderen Mächte und ihre jeweiligen Interessenlagen maßgeblich zum Gelingen der bismarckschen Außenpolitik beitrugen. Grundvoraussetzung war vor allem, dass sich nach der „Krieg-in-Sicht“-Krise die Krimkriegskonstellation verstetigt hatte. Bei allen Schwierigkeiten, etwa der orientalischen Frage, der Kolonialpolitik oder der west-östlichen Doppelkrise konnte der Reichskanzler mit festen Konstanten rechnen: dem anglo-russischen Antagonismus ebenso, wie der russisch-österreichischen Rivalität auf dem Balkan oder den traditionellen anglo-französischen Spannungen und kolonialen Konflikten. Die Politik der „offenen Geschwüre“ unterhalb der Eskalationsstufe wurde nur so möglich und lenkte von der europäischen Mitte und dem Kaiserreich ab. Zentral blieb das Verhältnis zum Zarenreich. Mit dem endgültigen Ende der Dreikaiserpolitik im Zuge der Doppelkrise drohte erneut der Zweifrontendruck durch eine russisch-französische Annäherung. Hinzu regte sich erster Widerstand in Deutschland gegen das komplizierte und kaum noch zu durchschauende außenpolitische Lavieren des Kanzlers. In der Öffentlichkeit wie bei den Militärs zeigten sich unübersehbare Präventivkriegsabsichten, um den gordischen Knoten anhaltender Bedrohungen ein für alle Mal zu durchtrennen. Für den Reichskanzler war ein Präventivschlag, noch dazu gegen Russland keine Option. Nicht zuletzt, weil das russische Riesenreich einfach nicht „klein zu kriegen“ sei, zumal von englischer Seite keine Hilfe zu erwarten war. Ein kompliziertes System aus checks und balances sollte nun dafür Sorge tragen, dass der casus foederis der einzeln geschlossenen und sich zum Teil widersprechenden Verträge aus Zweibund, Dreibund, Rückversicherungsvertrag und Mittelmeerentente gar nicht erst eintrete. Die Dreikaiserpolitik wurde damit zwar nicht ersetzt. Aber im Verein mit dem Dreibund und der Mittelmeerentente schien mit der Rückversicherung die Situation wieder
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Schlussbetrachtung
VI.
hergestellt, die Frankreich isolierte und den Draht nach St. Petersburg aufrechterhielt. Als Alternative blieb nur die Juniorpartnerschaft mit einer der Flügelmächte, auf die Gefahr hin, zwischen beiden in einem Krieg um deren weltpolitische Rivalitäten zerrieben zu werden. Auch Bismarck war bewusst, dass der Rückversicherungsvertrag nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern lediglich ein weiterer Zeitgewinn war, um eine neue Konstellation abzuwarten. Insofern war seine Bewertung von der seiner Nachfolger gar nicht so weit entfernt. Vor dem Hintergrund der prekären Ausgangslage, dem Albdruck der feindlichen Koalitionen und den Erfahrungen der 1870er-Jahre, in denen die wenigen Optionen deutscher Außenpolitik, die Dreikaiserpolitik, eine geteilte Hegemonie mit Russland, ein Präventivschlag gegen Frankreich, Kompensationen an der Peripherie sich allesamt erübrigt hatten, blieb nur der ständige Notbehelf der Allianzen. Aus der Ablehnung Caprivis, den Rückversicherungsvertrag zu erneuern, sprach sowohl Hochachtung für das bisher von seinem Vorgänger geleistete, aber gleichzeitig auch die Gewissheit, dass eine neue Zeit neue Antworten verlangte. Selbst Bismarck hatte ja schon in Richtung England sondiert, dabei aber feststellen müssen, dass London lediglich einen Festlandsdegen gegen Russland suchte. Zudem war es ihm zunehmend schwer gefallen, die Mächte als geschlossene Systeme ohne deren gesellschaftliche Entwicklungen zu behandeln. Wiederholt hatte er die großen Bewegungen der Zeit für seine Politik in Anspruch genommen: den Nationalismus in der Reichsgründungsphase, die Wirtschaft im Streit mit Russland, den Kolonialismus und Sozialdarwinismus während der Episode des Kolonialerwerbs Mitte der 1880er-Jahre. Wiederholt hatte er sich auch wieder von diesen Strömungen losgesagt. Doch eine Eindämmung der neuen Kräfte lag immer weniger in seiner Hand. Immer mehr musste er auch bei der Autokratie Russlands mit deren panslawistischer Öffentlichkeit rechnen und immer mehr wurde auch die eigene Bevölkerung zum außenpolitischen Faktor. Selbstbeschränkung, eine Grundvoraussetzung bismarckscher Außenpolitik, waren angesichts des beginnenden imperialistischen Ringens der Mächte schon Ende der 1880er-Jahre immer weniger vermittelbar. Alles hat seine Zeit, im Leben wie in der Politik. Über zwei Jahrzehnte hatte Otto von Bismarck das Deutsche Reich durch die unruhigen Gewässer der europäischen Großmächtepolitik gesteuert und den internationalen Beziehungen seinen Stempel aufgedrückt. Als er 1890 schließlich von seinem neuen Kaiser gezwungen wurde, die Brücke zu verlassen und das Ruder anderen zu überlassen, war sein Kurs bereits kaum noch zu halten. Die Verhälnisse waren bereits im Begriff, sich grundlegend zu ändern und eine neue Generation musste neue Antworten auf neue Herausforderungen finden. So erfolgreich Bismarck die deutsche Frage 1871 beantwortet hatte, wo wenig hatte er vermocht, das Reich außenpolitisch abzusichern, seine Methoden und Instrumente dauerhaft zu implementieren und den Kurs auch für seine Nachfolger zu verstetigen. Dass der neue Kurs das Reich geradewegs in noch rauere Gewässer und anhaltende Spannungen führen sollte, war jedoch keineswegs ausgemacht, geschweige denn vorhersehbar oder allein dem Kaiserreich anzulasen. Dazu war die Macht in der Mitte Europas von Anfang an viel zu sehr von den Bewegungen der anderen Großmächte abhängig.
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Personen- und Sachregister Die hervorgehobenen Seitenzahlen verweisen auf ein Insert zum Registerwort Abeken, Heinrich von 30 Aegidi, Ludwig 46, 63 Albedyll, General 125 Albrecht, Erzherzog 131 Alexander II., Zar von Russland 55, 56, 57, 68, 81, 84, 85, 91 Alexander III., Zar von Russland 120 Alvensleben, Gustav von 12 Alvensleben, Konvention 1, 12 Andrássy, Graf Gyula 50, 56, 57, 59, 64, 68, 69, 71, 78, 79, 82, 84, 87, 97 Äquidistanz, Politik der 69 Aufstand, polnischer 10 Augustenburg, Friedrich von 14 Bad Gastein, Konvention von 1, 17, 18 Battenberg, Alexander Fürst von 112, 113 Bazaine Francois-Achille 32 Benedek, Ludwig Ritter von 21 Benedetti, Vincent 22, 29, 30, 76 Bennigsen, Rudolf von 100 Berliner Kongo-Konferenz 90, 103 Berliner Kongress 46, 75, 78, 81, 88, 92, 96, 117 Beust, Ferdinand Graf von Bismarck, Herbert Graf (ab 1898 Fürst) von 36, 39, 75, 103, 118, 119, 120, 121, 134 Bismarck, Marie 56 Bismarck, Otto Fürst von 3, 4, 5–7, 9–39, 42–52, 55–65, 68, 70–98, 100–134 Bleichröder, Gerson 75 Bosnische Annexionskrise 93 Boulanger, General 113 Bucher, Lothar 47 Bulgarienkrise 111, 112 Bülow, Ernst von 39 Bundesexekution 13, 20 Bunderesform 12 Bunge, Nikolai 121 Buol Schauenstein, Graf von 4 Busch, Moritz 28, 46, 100 Caprivi, Leopold Graf von 36, 37, 101, 107, 123, 124, 134 cauchemar des coalitions 42, 59, 83 cauchemar des révolutions 42 Cavour, Camillo Benso di 4, 7, 8, 9, 44 Christian IX., König von Dänemark 13, 14
Decazes, Louis 64 Deines, Adolph 114 Déroulède, Paul 94, 111 Deutsch-Dänischer Krieg 1, 15, 16 Deutsch-Französischer Krieg 12 Deutsch-russische Militärkonvention (1873) Deutscher Bund 1, 13, 14, 19, 22, 35 deutsche Frage 3 Deutscher Krieg, Bruderkrieg 16, 17, 18 Deutscher Zollverein 1, 3 Disraeli, Benjamin 35, 48, 65, 76, 78, 79, 82, 88, 91 „Doktorfrage“ aus Livadia, 54 70, 72 Doppelkrise, west-östliche 111–116, 133 Dreibund 37, 89, 94–95, 96 Dreikaiserabkommen/-vertrag/ Dreikaiserpolitik 55, 57, 59, 60, 61, 65, 67, 83, 85, 86, 87, 89, 90, 93, 112, 133 Dreikaiserjahr 129 Drouyn de Lhuys, Édouard 22 Dualismus, preußisch-österreichischer 8, 9, 16, 20 Eisen und Blut Rede 11, 9 Elsass-Lothringen, Annexion von 32, 49, 74, 133 Emser Depesche 29, 30, 31, 46 Ferdinand, Prinz von Sofia 112 Ferry, Jules 38, 103, 106, 113, 125 Frankfurter Friede 1, 54, 55 Frankreichkrise, Boulanger-Krise 113, 114 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn 8, 12, 26, 56, 60 Freycinet, Charles de 113 Friedrich II., preußischer König 60 Friedrich Wilhelm, Friedrich III., deutscher Kaiser und König von Preußen 35, 104, 111, 125, 129, 130 Friedrich VII., König von Dänemark 13 Friedrich Wilhelm IV., preußischer König 3, 7, 35 Gablenz, Ludwig von 17 Geffken, Heinrich 129 Gerlach, Ernst Ludwig von 5 Gerlach, Leopold von 5, 6, 7, 22 Gesellschaft für deutsche Kolonisation 90 Giers, Nikolai von 97, 112, 120, 122 Gladstone, William Ewart 48, 88, 91,92, 96, 104, 106 Gleichgewicht 3, 33, 50, 65, 79
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Personen- und Sachregister Gontaut-Biron, Élie 58 Gortschakow, Alexander Fürst von 9, 12, 47, 55, 57, 59, 61, 62, 63, 64, 68, 70, 76, 81, 83, 89, 97 Gramont, Hzg. Agénor 27, 31 Gründerboom 40, 41 Gründerkrach 40 , 41 Hansemann, Adolph von 101 Hatzfeldt, Paul Graf von 63, 125, 128 Haymerle, Heinrich von 91 Heeresreform 10, 11 Hegemonie (halbe) 3, 48, 49, 50, 54, 133 Hegemonie (geteilte), 51, 54 Heilige Allianz 4, 5 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 69 Hohenzollern, Victoria 113 Hohenzollern-Sigmaringen, Leopold von 27, 29 Holstein, Friedrich von 49, 105, 118, 119, 125 Indemnitätsvorlage 1 Kaiserproklamation 1, 33, 54 Kardorff, Wilhelm von 43 Katkow, Michail 94, 113 Kaunitz, Anton Graf 60 Kaunitzsche Koalition 60, 88 Kissinger Diktat (1877) 54, 72–73, 102, 127 kleindeutsche Lösung 3 Königgrätz, (Sadowa), Schlacht 1, 21, 22 Kolonialpolitik 98, 106–110, 123, 133 Kongo-Konferenz in Berlin (1884/85) Konvenienzpolitik 50 Konzert der Mächte 3, 4 „Krieg-in-Sicht“-Krise (1875) 46, 54, 59, 64, 65, 72, 74, 133 Krimkrieg 1, 3, 4, 5, 6, 8, 9 Krimkriegssituation 5–6, 133 Kronprinzenthese 104–106 Kulturkampf 42 Londoner Botschafterkonferenz 70 Leopold II., Kaiser Leopold II., König 99 Londoner Konferenz 25, 34 Londoner Protokoll 13, 14, 15 Ludwig XIV. 34 Lüderitz, Adolf 101 Luxemburgfrage/-krise 24, 25, 26, 44 MacMahon, Maurice de 32, 58 Manteuffel, Otto von 7, 17 Maria Theresia, Kaiserin 60 Mensdorff Pouilly, Alexander Graf von 17 Mercier de L’Ostende, Graf Henri 27
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„Mission Radowitz“ 54, 59, 61 Miquel, Johannes von 100 Mittelmeerentente/Orientdreibund 111, 114, 115, 126, 134 Moltke d.Ä., Helmuth Graf von 17, 19, 21, 29, 30, 33, 38, 51, 58, 64, 83, 86 Mommsen, Theodor 44 Münster, Graf 88 Nachtigal, Gustav 101 Napoleon III. 5, 7, 9, 12, 18, 20, 22, 24, 25, 26, 31, 32, 35, 44, 48 „Neue Ära“ 1, 6 Nietzsche, Friedrich 44 Nikolai, Großfürst 122 Nikolaus I., Zar 4 Norddeutscher Bund 26, 38 Oberitalienischer Konflikt 6, 7, 10, 48 Öffentlichkeit/Öffentliche Meinung 45, 46 Ohrfeigenbrief (1879) 54, 82, 83, 84 Olmütz, Punktation von 3, 6, 85 Ollivier, Emile 28, 29 Optionsproblem der deutschen Außenpolitik 68 Orientalische Frage/Krise 54, 65, 67, 72, 79 Orientdreibund, siehe Mittelmeerentente Palmerston, Lord 16 Panslawismus 66–67 Paris, Bombardierung 33, 37 Pariser Friede (1856) 6, 55, 76 Pariser Kommun 56 Paulskirchenversammlung 3 Pentarchie 48 Persönliches Regiment Peters, Carl 101, 107 Pius, Papst IX. 42 Pontus-Konferenz 1, 34, 51, 55 Prag, Friedensvertrag von 23, 58 Pressepolitik 45, 46 Prim, Juan 27 Radowitz, Joseph Maria von 46, 61, 64, 82 Rantzau, Kuno Graf von 46, 126 Realpolitik 9 Rechberg, Bernhard von 9, 15, 16, 20 Reuß, Heinrich Prinz 97, 120 Robilant, Carlo 114 Rochau, August Ludwig von 9 Rößler, Constantin 46 Roon, Albrecht von 10, 15, 22, 29, 30 Rückversicherungsvertrag 47, 48, 111, 116, 117–120, 123, 133, 134 Russel, Odo 60, 64 Russisch-türkischer Krieg (1877/78) 71
Personen- und Sachregister Saburow, Peter 55 Salisbury, Lord Robert 76, 78, 79, 80, 82, 88, 91, 97, 107, 115, 126, 129, 131 San Stefano, Diktatfriede 71, 78, 80 Saturiertheit, Politik der 79, 133 Schleinitz, Alexander Graf von 7 Schleswig-holsteinische Frage 13, 14 Schlieffen, Alfred Graf von Schnitzet, Eduard alias Emin Pascha 107 Schönbrunn, Abkommen 54, 59 Scholz, Adolf 100 Schutzzollpolitik 120–123 Schuwalow, Peter Graf 76, 77, 78, 79, 80, 116, 117, 121 Schweinitz, Lothar von 36, 47, 56, 70, 83 Scramble for Africa 80, 98 Sedan, Schlacht 1 Skobelew-Episode 71, 94 Sonderburg-Glücksburg, August von 13 Spanische Thronfolgefrage 26, 27 Spitzemberg, H. Baronin von System der Aushilfen Tegethoff, Wilhelm von 16 Thiers, Adolph 32 Thile, Karl Hermann von 39
Verfassungskonflikt 1 Vertrag von Budapest (1877) Vertrag von Reichstadt (1876) Victoria, Königin 16, 80 Villafranca, Friede von 8 Waldersee, Alfred von 122, 123, 129 Werder, Bernhard von 83 Werthern, Georg von 26 Wiener Kongress 1, 2, 3, 50 Wiener Ordnung 9 Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen 7, 10, 12, 17, 19, 22, 27, 29, 33, 35, 36, 38, 55, 64, 81, 83, 84, 85, 86, 97, 104, 105, 111, 129 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen 35, 36, 111, 129 Wischnegradski, Iwan 121 Wolf, Eugen 107 Wrangel, Friedrich Graf von 15 Zollverein 24 Zollvertragspolitik 42, 43, 120–123 Zweibund/-politik 54, 84, 86 Zweifrontendruck/Zweifrontendilemma 51, 56, 113
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