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German Pages [312]
ETHNOGRAPHIE DES ALLTAGS, BAND 2
DER WIENER SCHLACHTHOF ST. MARX TRANSFORMATION EINER ARBEITSWELT ZWISCHEN 1851 UND 1914
Lukas Nieradzik
2017 BÖHL AU VERL AG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
der Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung
des Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : Rudolf Spannagel, Der Centralviehmarkt und das Schlachthaus in St. Marx; aus: Wiener Schriftsteller, Wienerstadt. Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag/Wien/Leipzig 1895, S. 63
© 2017 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Herbert Nikitsch, Wien Druck und Bindung : Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-205-20326-1
DANKSAGUNG In welchem Umfang und in welcher Vielschichtigkeit Bücher etwas sichtbar machen, wie facettenreich sie sich eines Untersuchungsgegenstandes annehmen, soziale Phänomene in ihrer Komplexität ergründen, so bleibt die Geschichte einer jeden Publikation doch immer auch ein Stück weit eine Geschichte des Verstummten. Hinter jedem Buch schlummert eine Vielzahl von Stimmen, die für sein Zustandekommen elementar sind und die von der Leserin und dem Leser ungehört bleiben. Es sind all die Gespräche mit Freundinnen und Freunden und Kolleginnen und Kollegen, die Ideen zutage fördern, selbstverständlich geglaubte Aussagen infrage stellen und helfen, heuristische Blickwinkel zu erweitern und anders zu justieren. Diesen Stimmen kann ich hier zwar kein Gehör verschaffen, aber zumindest deren Urheberinnen und Urhebern sowie Unterstützerinnen und Unterstützern dieses Buches danken. Auch ohne finanzielle Unterstützung wäre diese Publikation nicht zustande gekommen. Danken möchte ich dem Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und dem Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien sowie der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) für deren finanziellen Förderungen. Mein Dank gilt insbesondere denjenigen, die mich in den vergangenen fünf Jahren auf der Reise, deren Ziel das vorliegende Buch darstellt, inhaltlich und perspektivisch begleitet haben, sowie all denen, die, ohne es zu wissen, mich motivierten, diese Reise überhaupt anzutreten: meinen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien sowie Freundinnen und Freunden, deren Ratschläge und Kommentare mir neue Perspektiven eröffnet haben. Nina Szogs und Christian Dölker danke ich für ihre offenen Ohren und konstruktiven Kritiken, Michael Wengraf für seine historiografischen Anregungen und die inspirierenden Diskussionen, Magdalena Puchberger für ihre Gedanken, die mein Interesse auf Schlachthöfe als kulturwissenschaftlich lohnendes Forschungsfeld gelenkt haben, Herbert Nikitsch, dessen Kollegialität und fachliche Scharfsinnigkeit mich immer angespornt haben, für das Lektorat und den Satz dieses Buches. Besonderen Dank möchte ich meinen Eltern aussprechen, die meine frühen Bedürfnisse strukturiert und ersten Perspektiven geprägt haben, Brigitta Schmidt-Lauber, die mir mit ihren Erfahrungen, ihrem Wissen, ihrer Motivation und ihrem Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, als Betreuerin stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist, und vor allem Anke Gutmann, meiner Freundin, Partnerin und Gefährtin, die mich mit ihren originellen Ideen und Anregungen vor kulturwissenschaftlichem Übermut warnte, sowie unserem gemeinsamen Sohn Leo Stanislaus, der mich Gelassenheit und Ausdauer lehrte und mir ein fortwährendes Gefühl himmelhoch jauchzender Glückseligkeit schenkt.
ZEITSTRAHL I – Wiener Fleischversorgung 1846–1914
ZEITSTRAHL II – Wiener Fleischversorgung 1846–1914
Für Anke, Stani und den Tiger
INHALT
11
PROLOG
15
1. EINLEITUNG
15
1.1 Der Schlachthof als urbanes Phänomen der Moderne
25
1.2 Fragestellung und Auf bau der Arbeit
30 2. SCHLACHTHOFFORSCHUNG IN DEN KULTUR-, SOZIAL- UND GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN 30
2.1 „Eine verdrängte Geschichte“?
34
2.2.1 Körpervergessenheit: Mensch-Tier-Beziehungen
33 38
2.2 Verdichtungen und Desiderata
2.2.2 Akteursvergessenheit I: Umwelt- und Versorgungsgeschichte
44
2.2.3 Akteursvergessenheit II: Technik und Rationalisierung
51
3. QUELLEN
51
3.1 Gattung und Umfang
59
4. KULTURANALYSE DER RELATIONEN
59
4.1 Theoretische Annahmen und methodisches Vorgehen
47 2.2.4 Statik und Verlust: Beruflicher und sozialer Status von Fleischern
57
63
3.2 Auf bereitung
4.2 Begriffsklärungen
67 5. WIENER FLEISCHERGEWERBE 1851–1914: KONTEXTE DES SCHLACHTHOFES ST. MARX 68
5.1 Beruflicher Kontext
70
5.1.1 Zentralisierung und Professionalisierung
87
5.1.3 Handwerksinterne Hierarchien
78
5.1.2 Konflikte und Gruppenbildung
9
90
5.2 Ökonomischer Kontext
97
5.2.2 Preise und Löhne
91
105
112
112 117
5.2.3 Kreditieren und Schuldenmachen 5.3 Gesellschaftlicher Kontext 5.3.1 Internationalisierung
5.3.2 Streben nach Hygiene
124
6. DIMENSIONEN DER TRANSFORMATION
124
6.1 Räume und Normen
141
6.1.2 Kontrolle und Disziplinierung
125 153
153
6.1.1 Raumordnung und Arbeitsorganisation 6.2 Technik und Handwerk
6.2.1 Narrative handwerklicher Persistenz
169
6.2.2 Mechanismen wirtschaftlicher Modernisierung
189
EXKURS: TIERQUÄLEREI IM ÖSTERREICHISCHEN RECHT 1811–1925
200
6.3 Körper, Bilder und Erfahrung
207
6.3.2 Praktiken der Nutzbarmachung
184
201
10
5.2.1 Fleischkonsum
6.2.3 Anpassung beruflicher Ethik an Technik
6.3.1 Verhandlungen von Gesundheit und Krankheit
218
EXKURS: ANIMALISCHE BÄDER ALS MARKER DES MEDIZINISCHEN PARADIGMENWANDELS
225
6.3.3 Körperbilder und Körpererfahrungen
250
7. DER SCHLACHTHOF ALS PARADIGMA
26 3
EPILOG – EINE KRITIK DER MODERNE
274
QUELLEN
294
LITERATUR
Prolog Den Anstoß für das Vorwort dieser Arbeit gab ein kurzer Auszug aus Kurt Schwitters Gedicht „Die Zwiebel“, den ich hier wiedergeben und der vorliegenden Arbeit voranstellen möchte. Ein Vorwort kann das Folgende einführen, erklären und erläutern. Es kann aber zugleich, ganz im Sinne Bertolt Brechts, das Gesagte und Geschriebene relativieren, einschränken und infrage stellen. Wir können hierbei auch in anderen Worten von einer Spannung zwischen der analytischen und lebensweltlichen Aussage der Autorin bzw. des Autors sprechen, von dem produzierten wissenschaftlichen Faktum, dem Ergebnis und der Antwort auf die vorangestellten Fragen einerseits und der Botschaft, der Moral, der – für die Forscherin oder den Forscher relevanten – gesellschaftlichen Schlagkraft der eigenen wissenschaftlichen Arbeit (was im Übrigen den Vorteil hat, außer des akademischen auch das emotionale Bedürfnis zu befriedigen). Grundlegend ist meines Erachtens die Offenlegung des eigenen, nicht nur wissenschaftlichen, sondern immer auch lebensweltlichen Standpunktes, die Aufdeckung des eigenen Standortes in der Welt, soweit man überhaupt dazu imstande ist, diesen genau zu bestimmen. Nicht mehr und nicht weniger möchte ich mit diesem Vorwort leisten, und es ist jener Kurt Schwitters, dessen Worte mir die Möglichkeit bieten, mein Anliegen und meine Motivation für diese Arbeit offenzulegen. Mir ist kein anderer Autor bekannt, der in einer solch eindringlichen und zugleich abstrusen Art, die sich wohl am treffendsten der literarischen Gattung des magischen Realismus zuordnen lässt, uns einen Einblick in einen Vorgang gewährt, der mittlerweile aus den Augen der Öffentlichkeit verschwunden ist: die Schlachtung. Schwitters Gedicht verstört aus drei Gründen. Er macht zunächst auf eine Arbeit aufmerksam, die zwar einen ökonomisch und gesellschaftlich existenziellen, zugleich aber auch mutwillig übergangenen Bereich unserer gegenwärtigen sozialen Welt darstellt (I.). Und mit dieser visuellen Gedankenübung vor unserem inneren Auge kitzelt Schwitters ein unbestimmtes und unausweichliches Gefühl für den Anderen aus uns heraus. Schwitters fordert regelrecht eine Empfindsamkeit außerhalb unserer eigenen lebensweltlichen Existenz, er fordert von uns ein Mitgefühl für den Anderen. Das sei die anthropologische Pflicht, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen und dieses Bedürfnis im Anderen zu erkennen – die Annahme und Umsetzung einer Verantwortung für den Anderen, eine sehr vergängliche und daher immer wieder zu wiederholende Praxis, der Kern der eigentlichen Menschwerdung, von welcher der französische Philosoph Emmanuel Levinas so eindringlich geschrieben hat, und deren Möglichkeit und Scheitern in uns allen nah beieinander liegen.
Prolog
11
Aber Schwitters verstört seine Leserinnen und Leser nicht allein mit einem detaillierten Blick auf eine Schlachtszene. Worum es ihm vielmehr geht, ist der Akt der Schlachtung, einer Reise gleich, auf die er uns mitnimmt, ohne uns gefragt zu haben, ein Vorgang, der Artefakte, Techniken, Wissen und Lebewesen miteinander zu einem Geflecht vernetzt, in dem jeder und alles zur Bedingung einer Möglichkeit werden herzustellen, Macht auszuüben und immer auch ausgeliefert zu sein. Und Schwitters potenziert diese Irritation, indem es nicht ein Tier ist, das geschlachtet wird, sondern ein Mensch (II.), der Erzähler, ein Augenzeuge, der minutiös, detail- und kenntnisreich, scheinbar ohne Emotion, ganz bei der Sache, beobachtet und zu Protokoll gibt, wie sein eigener Körper zerlegt und allmählich aufgelöst wird. Die dritte Irritation ist, dass Schwitters Gedicht an einem Punkt umschlägt, indem der Autor die Schlachtung und die Zerlegung des Menschenkörpers rückgängig macht, sie rückwärts erzählt (III.). [Ich habe diese Stelle des Gedichts ans Ende meiner Arbeit gesetzt, in den Epilog, weil sie die Prozessualität der Schlachtung und Zerlegung von Körpern auf eine eigentümliche Weise hervorhebt, die die Willkür dieser Praxis ebenso beschreibt wie deren Wirklichkeit als eine Art geronnenes Substrat vergangener und verpasster Alternativen. Sie zeigt letztlich anhand eines bestimmten Ausschnittes unserer sozialen Welt die Bedingungen an, seien sie ökonomisch, politisch, gesellschaftlich oder intellektuell, die uns begrenzen und die wir zugleich immer mitgestalten. Und darum geht es in dieser Arbeit.] Man schlachtet den Menschen und setzt ihn anschließend wieder zusammen. Schwitters macht hier eine Wende. Sein Ausgangspunkt ist der geschlachtete, der tote Körper. Ihn interessiert, was davor war, wie es zum endgültigen Schluss kam und warum es dazu kommen konnte. Und Schwitters macht das, weil er uns damit die Möglichkeit einer Umkehr anbietet, die eine Abkehr zu sein scheint von einem produktiven System, dessen emotionale Unerträglichkeit und moralische Unverträglichkeit im gesellschaftlichen Hinterhof liegen, im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit, von dem ich eingangs geschrieben habe, und im Dunkeln unserer Vorstellungsund Gefühlswelt. Das Unbehagen, das einen beim Lesen von Schwitters Zeilen überkommt, verweist auf das in einer konkreten und elementaren Handlung wahr gewordene Odium der Fleischproduktion. Das historische Geworden-Sein der Tierschlachtungen, um mit Norbert Elias zu sprechen, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, ein Geworden-Sein, dessen Omnipräsenz ihren Erfolg der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit und einer rationalen ökonomischen Logik der Produktivität verdankt, die das Unerträgliche mit Verweis auf historische Zwangsläufigkeit und fehlende Alternativen rechtfertigt; ein Geworden-Sein, für das Schwitters zugleich die Möglichkeit einer anderen Geschichte liefert, die uns, wenn wir die Vergangenheit in ihrer Prozessualität begreifen und
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uns unserer Handlungsmöglichkeiten, unserer sozialen Dispositionen bewusst werden, unsere lebensweltliche und gesellschaftliche Verantwortung anerkennen, den millionen-, und in Anbetracht gegenwärtiger Zahlen, milliardenfachen Tod und das Sterben von Tieren als eine und keineswegs ausschließliche, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten erkennen lässt. Wie Friedrich Nietzsche in „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ schreibt, ist Geschichte im Sinne einer interpretierenden Erzählung immer ein Stück weit eine Vergegenwärtigungsarbeit aktueller und lebensweltlicher Bedürfnisse und Bedarfe. So legt uns der Autor der „Zwiebel“ einen motivationalen und programmatischen Impuls an die Hand, der die Logiken und Ordnungen der Versorgung im Allgemeinen und der Fleischproduktion im Besonderen offenlegen kann, in der Hoffnung die Funktionsweisen und Wirkungsprinzipien einer Versorgung sichtbar zu machen, von der wir heute sehr distanziert sprechen, weil wir das Tier nicht mehr als Ganzes sehen und uns scheuen, dieses in seiner Würde als Lebewesen zu erfassen. Der beschnittene Blick lässt uns verstummen, und wir verlieren den Gedanken daran, dass die Grundfeste der Fleischversorgung historisch geworden und damit immer auch wandelbar und daher nie endgültig sind. Durch ein Bewusstsein für die historische Prozessualität der Fleischversorgung, ihren gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen und Faktoren wird es möglich, auch die Verfasstheit unserer gegenwärtigen sozialen Welt zu reflektieren. Die Geschichte der Versorgung kann so zu einer Gesellschaftskritik werden. In dieser Arbeit befasse ich mich mit einem Wiener Schlachthof aus einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive, und ich verstehe diesen als Inbegriff für ein spezifisches Arbeitsregime, das Körper, Praktiken, Wissen gleichermaßen umfasste, neue Anforderungen an Mensch und Tier stellte, Pluralitäten beruflichen Daseins schuf und akkumulierte, das Tier in das Synonym einer Existenz verwandelte, die einer erbarmungslosen, auf Effizienz und Rationalität ausgerichteten Logik ausgeliefert war, einem organischen Objekt gleich, dessen existenzielle Teleologie der menschliche Nutzen sein soll. Die Mechanismen und Logiken der Produktion und des Konsums entspringen einer historischen Phase wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Rationalisierung, einer neuen Ordnung der Welt, und dabei sind sie im Kern Produkt urbaner Räume. Alles in allem lässt sich „Die Zwiebel“ auf den historischen, den zeitlichen Rahmen ihrer Entstehung verorten, ein Kind ihrer Zeit. Das zumindest mögen die Gedankenlosen und Mürrischen, die Verdrossenen und Verantwortungslosen unter uns behaupten. Betrachten Sie die folgenden Zeilen als Prolog für meine Arbeit, die, ohne es auf den Punkt zu bringen, das Gefühl, meine intrinsische Motivation zum Ausdruck bringt, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt, und die wie eine alles vereinnahmende Vibration
Prolog
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um mich herumschwirrte, ohne sie greifen zu können, mich nach vorne und immer tiefer in die Materie trieb. Es war ein sehr begebenwürdiger Tag, an dem ich geschlachtet werden sollte. (Fürchte dich nicht, glaube nur!) Der König war bereit, die beiden Sekundanten warteten. Der Schlächter war auf halb sieben Uhr bestellt; es war ein viertel sieben Uhr, und ich selbst ordnete die nötigen Vorbereitungen an. Wir hatten eine geräumige Diele ausgewählt, so daß viele Zuschauer bequem teilnehmen konnten. Telephon war in der Nähe. Der Arzt wohnte im Nachbarhause […]. Zwei gewaltige Flaschenzüge hingen unter der Decke, um mich nachher hochzuwinden, falls ich ausgenommen werden sollte. Vier starke Knechte standen für Handreichungen zur Verfügung […]. Zwei saubere Mägde waren auch zur Stelle, blitzsaubere Dirnen. Es war mir ein angenehmer Gedanke, daß diese beiden hübschen Mädchen mein Blut quirlen und meine inneren Teile waschen und zubereiten sollten. / Die Diele war sauber gefegt und gewaschen. […] Ich war bislang in meinem ganzen Leben noch nicht geschlachtet worden. Dazu muß man reif sein. / […] Nun schlachtet mich! / Der König winkt wieder, der Schlächter fährt vor. […] Ein Knecht bringt eine Keule, groß Ballon zitronenbleich. […] Der Schlächter hat einen blaugestreiften Kittel wehen Tuch. […] Der Schlächter lehnt zurück, schräg Kopf, die Keule hinten oben. […] Der Schlächter springt vor (Das ist die Liebe!), schwingt Keule senken senken schwer schwer schwer schwer, innig peitscht senken schwer schwer sehr sehr sehr sehr. – / Mein Schädel brach ein. / Nun mußte ich zusammenbrechen; also brach ich zusammen zusammen zusammen, flach. Aaaaa aaaaa aaaaa aaaaa b. (Beifall auf allen Bänken.) / Was sollte nun werden? Man band meine Arme und meine Füße an Winden, Winden winden empor. Senken schlingt flach zusammen schief ausgebreitet. (Aufruf an alle Hand- und Kopfarbeiter.) Man stach mich in die Seite. Blut rinste Eimer blau Strahl rot dick Peitsche. Dreht Mägde Quirl zusammen rädern Eisenbahn Maschinen quirlen Emma Anna. […] / Man wollte mich ausnehmen. […] Umsteiger fahren Messer schlitzen zittern Eingeweide. […] Es war ein sehr begebenwürdiges Gartenrestaurant.1 [Es folgt die Zusammensetzung des Geschlachteten und Zerlegten, siehe Epilog.]
1
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Schwitters, Kurt: Die Zwiebel. Merzgedicht 8. In: Ders.: Das literarische Werk, Bd. 2: Prosa 1918–1930, hrsg. von Friedrich Lach. Köln 1974 [erstmals erschienen in: Der Sturm 10, 1919, 7, S. 99-103], S. 22-27, hier S. 22-24.
1. Einleitung 1.1 Der Schlachthof als urbanes Phänomen der Moderne 1896 klagte der Nationalökonom und stellvertretende Sekretär in der Wiener Handels- und Gewerbekammer Eugen Schwiedland über die Verhältnisse im Wiener Fleischergewerbe. In seinem „Vorbericht über die Frage der Einführung der Großschlächtereien in Oesterreich“ geißelte er die Zustände als „mittelalterlich“ und „osteuropäisch“2. Schwiedland versuchte mit diesen pejorativen Zuschreibungen, die mit der Vorstellung an ein „finsteres Mittelalter“ Kritikerinnen und Kritiker seiner Reformpläne abschrecken sollten und sich zugleich des gängigen Stereotyps der „polnischen Wirtschaft“3 bedienten, die Unzulänglichkeit der städtischen Versorgungsstrukturen zu verdeutlichen. Diese entsprächen in keinen Belangen den Erfordernissen einer modernen Großstadt, urteilte der Beamte. Die Fleischproduktion halte mit dem städtischen Bedarf nicht Schritt, und sämtliche Reformen der Kommune auf diesem Gebiet seien mehr oder weniger wirkungslos verpufft. Dem horrenden Anstieg der Fleischpreise könne die Stadt Wien nicht entschieden entgegenwirken, der durchschnittliche Fleischverbrauch pro Kopf stagniere und die Organisation der städtischen Fleischversorgung sei verglichen mit anderen europäischen Großstädten rückschrittlich, unzeitgemäß, unmodern.4 Zu dem Zeitpunkt, als Schwiedland seinen Bericht im Auftrag des Kammerpräsidiums der Handels- und Gewerbekammer verfasste, war bereits ein halbes Jahrhundert vergangen, in dem die Wiener Behörden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen hatten, um die städtische Fleischversorgung zu reformieren. Günstiges Fleisch sollte für eine wachsende städtische Bevölkerung, die sich im 19. Jahrhundert von etwa 230.000 Einwohnerinnen und Einwohnern auf knapp zwei Millionen beinahe verzehnfachte,5 verfügbar gemacht werden. Hinzu kam, dass die Behörden aus Gründen der sogenannten Stadthygiene Privatschlächtereien, die sich in Hinterhöfen und Kellern befanden, ebenso ein Ende setzen wollten wie dem Viehtrieb durch die Stadt. Denn „der lästige Transport des Schlachtviehes innerhalb der Stadt“6, betonte der Architekt und Schlachthof2 3 4 5 6
Schwiedland, Eugen: Vorbericht über die Frage der Einführung der Großschlächtereien in Oesterreich. Im Auftrage des Kammer-Präsidiums. Handels- und Gewerbekammer in Wien. Wien 1896, S. 17. Vgl. Orłowski, Hubert: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996. Vgl. Schwiedland, Vorbericht, S. 17. Vgl. Steidl, Annemarie: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt. München 2003, S. 76, Tabelle 4 (2. Teil). Osthoff, Georg: Schlachthöfe und Viehmärkte. Leipzig 1903, S. 5.
1 Einleitung
15
bauexperte Georg Osthoff, erwies sich immer wieder als Gefahr für Passantinnen und Passanten, die in einem unachtsamen Augenblick von den Tieren verletzt wurden. Für die städtischen Behörden war die sogenannte Assanierung der Stadt ausschlaggebend dafür, das Schlachten aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, an der städtischen Peripherie zu konzentrieren und damit „hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens“7 zu verlagern. Assanierung meint sämtliche Maßnahmen zum Ausbau und zur Modernisierung der technischen Infrastruktur (unter anderem die Wasser- und Fleischversorgung, Kanalisation, Abfallwirtschaft, Leichenbestattung).8 Der Begriff zielte nicht nur auf eine gesundheitliche Prophylaxe der Fleischproduktion, die verstärkte Kontrollen ermöglichen und zugleich eine höhere Produktivität der Arbeit sicherstellen sollten. Er umfasste auch einen sozialdisziplinatorischen und volkspädagogischen Ansatz, die Städterinnen und Städter moralisch zu erziehen.9 Dem Kantschen Argument folgend, wonach Grausamkeit gegenüber Tieren die Hemmschwelle zur Grausamkeit gegenüber Menschen senke,10 befürchteten Kommunalbeamte und Ärzte, dass allein der Anblick von Viehtreibern, die Rinder durch die Straßen prügelten, demoralisierend wirke und eine Gefahr für den sozialen Frieden darstelle. Johann Heinrich Zedlers „UniversalLexikon“ bemerkte bereits 1745: Der Mensch ist von dem allgewaltigen Schöpfer aller Dinge mit einem weit vortrefflichern Wesen, als die Bestien begabet, und zu einem weit edlern Endzweck erschaffen worden. Durch den Mißbrauch aber der natürlichen Kräffte, daran er sonst die unvernünfftigen Thiere übertrifft, kommt es dahin, daß er schlimmer und elender wird, als die Bestien selber.11
7
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, 22. Aufl. Frankfurt/M. 1999, S. 324. 8 Vgl. Rella, Attilio: Die Assanierung der Städte in Oesterreich-Ungarn 1848–1898. In: Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 51, 1899, 17, S. 273-282. 9 Vgl. Poser, Stefan: Museum der Gefahren. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik. Das Beispiel der Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die Jahrhundertwende. Münster [u.a.] 1998, S. 40-41 und 225-228. 10 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, I. Ethische Elementarlehre, I. Teil, Erstes Buch, Zweites Hauptstück, 2, Abschnitt: Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst, § 17. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 8. Frankfurt/M. 1977, S. 578-579. 11 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 43. Leipzig/Halle 1745, Sp. 1333-1382, s.v. Thier, hier Sp. 1340.
16
Bezug nehmend auf diese Argumentation forderte daher zum Beispiel der Veterinärmediziner Anton Barański, „[d]as Unästhetische einer Schlachtung, besonders vor den Augen der Kinder und Frauen“12 aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Beschreibungen wie diejenige des seinerzeit bekannten Lemberger Arztes verweisen auf die Angst vor einer moralischen und sozialen Verrohung infolge der Misshandlung von Tieren, die in der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Erziehungsbücher adressierten Eltern darauf zu achten, dass ihre Kinder sich um Tiere kümmerten und diese nicht quälten.13 Und auch heute folgen manche Forscherinnen und Forscher dieser Argumentation und verweisen auf den Zusammenhang zwischen Gewalt gegenüber Tieren und moralischer sowie emotionaler Apathie.14 Diese und ähnliche Sorgen teilten die historischen Akteure auch im Untersuchungszeitraum. Auch aus Gründen einer moralischen Prophylaxe griff die Stadt Wien, die durch § 64 der ersten provisorischen Gemeindeordnung vom März 1850 für die Lebensmittelversorgung der städtischen Bevölkerung zuständig war,15 gezielt in die großstädtische Infrastruktur ein, um den sich in der zweiten Jahrhunderthälfte rapide verändernden Bedarfslagen effektiv zu begegnen. Eine der ersten Maßnahmen der kommunalen Verwaltung auf dem Gebiet der Fleischversorgung war die Errichtung eines Schlachthofes in St. Marx im dritten Wiener Gemeindebezirk Landstraße zwischen 1846 und 1848.16 Aufgrund der Revolutionsjahre wurde dieser Schlachthof jedoch erst 1851 in 12 Barański, Anton: Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau für Stadt- und Bezirksärzte, Thierärzte, Sanitätsbeamte, sowie besonders zum Gebrauche für PhysikatsCandidaten mit gleichmässiger Berücksichtigung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung. 4., umgearb. Aufl. Wien/Leipzig 1897, S. 49. Vgl. Kathan, Bernhard: Zum Fressen gern. Zwischen Haustier und Schlachtvieh. Berlin 2004, S. 161; Nieradzik, Lukasz: Die Ausgrenzung der Grausamkeit: Wiener Tierschlachtung im 19. Jahrhundert. In: Seifert, Manfred (Hg.): Die mentale Seite der Ökonomie. Gefühl und Empathie im Arbeitsleben. Dresden 2014, S. 197-208, hier S. 201203. 13 Vgl. Grier, Katherine C.: Pets in America. A History. Orlando [u.a.] 2007, S. 161-168 und 177-181. 14 Vgl. zum Beispiel: Ascione, Frank/Arkow Phil (Hg.): Child Abuse, Domestic Violence, and Animal Abuse: Linking the Circles of Compassion for Prevention and Intervention. West Lafayette 1999; DeMello, Margo: Animals and Society. An Introduction to Human-Animal Studies. New York 2012, S. 245-250; Lockwood, Randy/Ascione Frank: Cruelty to Animals and Interpersonal Violence: Readings in Research and Application. West Lafayette 1998. 15 Vgl. Provisorische Gemeindeordnung für die Stadt Wien, § 64: Verwaltung der Localpolizei. Wien 1850, S. 35. 16 Vgl. Wehdorn, Manfred/Georgeacopol-Winischhofer, Ute: Baudenkmäler der Technik und Industrie in Österreich. Wien, Niederösterreich, Burgenland, Bd. 1. Wien/Köln/Graz 1984, S. 94.
1 Einleitung
17
Betrieb genommen. In diesem Jahr verpflichtete das Handelsministerium jeden innerhalb des sogenannten Linienwalls17 ansässigen Fleischer fortan im Schlacht hof St. Marx oder in dem im selben Jahr eröffneten Schlachthof im Stadtteil Gumpendorf im sechsten Gemeindebezirk zu schlachten (siehe Abb. 1).18 Wie zum Beispiel der Bürgermeister der westfälischen Stadt Hörde Heinrich Anton Mascher auf dem 13. Westfälischen Städtetag in Witten am 8. Juni 1888 bemerkte, wurden [u]nter Schlachthauszwang […] alle im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege (Hygiene) und Gesundheitspolizei (Sanitas) getroffenen gesetzlichen Einrichtungen und Maßnahmen verstanden, welche die makroskopische und mikroskopische, obligatorische Vieh- und Fleischschau in einem öffentlichen, von den Metzgern und Privaten ausschließlich zu benutzenden Schlachthause durch das hierzu befähigte Personal bezwecken.19
Dieser sogenannte Schlachthauszwang, der für die österreichischen Kronländer durch eine Verordnung des Handelsministeriums am 25. Juni 1850 in Kraft trat20 und in Wien zunächst nur für das sogenannte Großhornvieh eingeführt wurde,21 war eine richtungsweisende Reform, mit der die Behörden 17 Der Linienwall war eine Befestigungsanlage, die die Wiener Vorstädte (heute Bezirke II–IX) von den erst Anfang der 1890er Jahre eingemeindeten Vororten trennte und zugleich als Steuerlinie fungierte. Vgl. Hauer, Friedrich: Die Verzehrungssteuer 1829–1913 als Grundlage einer umwelthistorischen Untersuchung des Metabolismus der Stadt Wien. Wien 2010, S. 6-59. 18 Vgl. Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Juni 1850, womit in Folge Allerhöchster Entschließung Seiner Majestät vom 22. Juni ein provisorisches Gesetz über die Regelung des Fleischergewerbes in Wien und die Errichtung einer Fleischcasse, und für die letztere ein Reglement erlassen, und von der Staatsverwaltung der Commune Wien ein Darleihen von 250.000 Gulden zur ersten Dotirung dieser Fleischcasse zugesichert wird. In: Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Oesterreich, LXXXI. Stück, ausgegeben und versendet am 28. Juni 1850, Nr. 248, I. 2 und 6, S. 1025. 19 Mascher, Heinrich Anton: Wesen und Wirkungen des Schlachthauszwanges. Vortrag gehalten auf dem 13. Westfälischen Städtetage zu Witten am 8. Juni 1888. Dortmund 1888, S. 10. 20 Vgl. Weißenberger, Karl: Die Fleischversorgung Wiens mit Rücksicht auf die Einbeziehung der Vororte und die Regelung der Verzehrungssteuer. Nach den Ergebnissen einer sechzigjährigen praktischen Erfahrung beleuchtet. Wien 1891, S. 35. 21 Schweine und Kälber unterstanden nicht dem Schlachthauszwang. Sie konnten nach wie vor in privaten Schlächtereien, die sich in Hinterhöfen und Kellern befanden, geschlachtet werden. Vgl. Wenzel, Franz: Die Einrichtungen der Viehmärkte und Schlachthäuser in den Hauptstädten Europas. Nach einer commissionellen Bereisung. Wien 1874, S. 208.
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nachhaltig in das Wiener Fleischergewerbe eingriffen und dessen Arbeitsorganisation grundlegend veränderten.22 Neben dem St. Marxer und Gumpendorfer Schlachthof, der 1907 geschlossen wurde, existierten noch drei weitere Schlachthöfe in den Wiener Vororten Meidling (XII. Bezirk, 1888 erbaut), Hernals (XVII. Bezirk, 1887 erbaut) und Döbling (XIX. Bezirk, 1886 erbaut).23 St. Marx nahm jedoch die herausragende Stellung in der Fleischversorgung Wiens ein. Dieser Schlachthof war in Bezug auf seine Grundfläche mit Abstand der größte in Wien, nach dem Umbau des Areals zwischen 1879 und 1883 mit circa 314.000 Quadratmetern zudem der größte in Europa. Zwei Drittel aller in Wiener Schlachthäusern geschlachteten Tiere wurden in St. Marx getötet, beinahe der gesamte städtische Bedarf wurde vom angrenzenden Zen tralviehmarkt gedeckt24, und es ließ sich zudem in der zweiten Jahrhunderthälfte beobachten, dass „die Fleischhauer immer mehr nach diesem Schlachthause gravitieren“25. Auch die Fleischer aus den Vororten und aus Niederösterreich kauften dort ihr Vieh.26 „Der Wiener Viehmarkt in St. Marx rangirt aber nicht nur nach der Größe des Verkehrs zu den ersten Weltmärkten, sondern er ist auch vermöge seiner Lage in der Verbindung mit den Hauptrouten der Eisen-
22 Schlachthallen, die von städtischen Fleischern genutzt wurden, existierten in Europa bereits seit dem Mittelalter. Im Unterschied zu den öffentlichen Schlachthäusern des 19. Jahrhunderts waren sie jedoch kein Eigentum der Gemeinde, sondern gehörten den städtischen Zünften. Infolge von Auseinandersetzungen mit städtischen Behörden über den Bau bzw. die Instandhaltung dieser Anlagen „entstanden viele Privatschlachthäuser, worauf dann in manchen Städten die alten gemeinsamen Schlachthallen abgebrochen oder zu anderen Zwecken benutzt wurden.“ Klasen, Ludwig (Hg.): Viehmärkte, Schlachthöfe und Markthallen. Handbuch für Baubehörden, Bauherren, Architekten, Ingenieure, Baumeister, Bauunternehmer, Bauhandwerker und technische Lehranstalten. Leipzig 1896, S. 412. Vgl. Hennicke, Julius: Bericht über Schlachthäuser und Viehmärkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz. Berlin 1866, S. 3; Osthoff, Schlachthöfe und Viehmärkte, S. 1. 23 Vgl. Dadletz, Leopold/Schedl, Heinrich: Das Fleischhauergewerbe und die Genossenschaft nach Einführung der Gewerbeordnung. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft zur Dreihundertjahrfeier der kaiserlichen Wiederbestätigung der alten Wiener Fleischhauer-Privilegien. Wien 1912, S. 87-124, hier S. 104; Horáček, C./Schwarz, Karl/Wächter, R. T./Bernard, L./Sylvester, Julius: Die Gemeindebetriebe in Österreich, Bd. 3, Teil 1. Leipzig 1909, S. 32. 24 Vgl. Kardosi, Friedrich: Wirtschaftspolitische Kritik der Wiener Fleisch-Versorgung. Diss. Zürich 1913, S. 32. 25 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 33. 26 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 177; Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 36.
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bahnen zu einem Hauptstapelplatze für den Viehhandel bestimmt“27, urteilte der Wiener Magistratsrat Franz Wenzel im Jahr 1874. St. Marx nahm die gesamte Monarchie als Zulieferer in Anspruch und versorgte auch niederösterreichische Städte mit Fleisch.28
Abb. 1 : Stadtplan Wien, 1883 Quelle: Loos, Carl: Neuester Plan der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, der Vororte und Umgebung. Wien 1883.
Zeitgenössische Autoren waren sich dieser Bedeutung von St. Marx bewusst und beschrieben den Schlachthof und angrenzenden Viehmarkt als einen Ort, auf den die Versorgungsstrukturen der ganzen Monarchie ausgerichtet seien:
27 Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 178. 28 Wiener Stadt- und Landesarchiv [im Folgenden: WStLA], Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser an der Grenze [Magistratsrat Wenzel, Prot. Nr. 290041, Ref. Nr. 12591, Die Richtung einer Petition an das Herrenhaus wegen Errichtung von Schlachthäusern an der russischrumänischen Grenze betreffend, 6.12.1879, S. 4, unpag.]. Die Angaben in „[]“ dienen zur näheren Beschreibung der einzelnen Quelle.
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Wenn man also den Zentralviehmarkt St. Marx und seine Verhältnisse eingehend untersucht, so ist damit gleichzeitig auch ein Bild der Viehversorgung Wiens und der allgemeinen Viehhandelsverhältnisse unserer Monarchie gegeben.29
Diesen Gedanken an eine paradigmatische Funktion von Schlachthöfen, wie sie das vorangegangene Zitat andeutet, möchte ich im Folgenden weiter ausführen und in den Mittelpunkt dieser Arbeit stellen. Denn es ist nicht nur die Verfügbarmachung von Tieren, die den zentralen Stellenwert des Schlachthofes für die Versorgung von Städten im 19. und frühen 20. Jahrhundert hervorhebt. Meine übergeordnete These ist, das Schlachthöfe immer auch paradigmatische Orte waren, an denen sich gesellschaftlicher Wandel en miniature zeigte. Den Schlachthof verstehe ich als ein spezifisch urbanes Phänomen der Moderne, die hier als ein begriffliches Konglomerat übergeordneter Prozesse verstanden wird, die Arbeit und Leben in einem radikalen Ausmaß veränderten. Modernisierung in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn meint einen ökonomischen, politischen und kulturellen Wandel, der berufliche Differenzierungen und Professionalisierungen ebenso umfasste wie eine zunehmende Bürokratisierung und Institutionalisierung des Alltags. Modernisierung brachte neue Wissensordnungen hervor und veränderte die Erfahrungshorizonte der Menschen. Sie kennzeichnete ein allgemeines Bestreben, Wirtschaft und Gesellschaft sowie das Leben überhaupt nach wissenschaftlichen und vernunftorientierten Maßstäben bemessen, bewerten und vor dem Hintergrund eines szientistischen Glaubens zukünftige Entwicklungen vorhersagen zu können. Diese Entwicklungen sollten die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundfeste der Gesellschaft beispiellos dynamisieren. Die Moderne kennzeichnete eine radikale Ausrichtung des Lebens auf die Gegenwart, die ein optimistisches Credo des Fortschritts mit tradierten Wissensbeständen und bewährten Handlungsmustern unvereinbar werden ließ und die Menschen in ihren metaphysischen und transzendentalen Orientierungen erschütterte.30 Das Streben nach einer grundlegenden Reform des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Hier und Jetzt erforderte neue Formen und Perspektiven gesellschaftlicher und ökonomischer Ordnung und Regulierung. Dies betraf auch die Erschließung, Nutzung und Verfügbarmachung von Ressourcen, die insbesondere im städtischen Kontext zur zentralen Verwaltungsaufgabe kommunalpolitischer Daseinsvorsorge wurden. Dieser Begriff – historischer Vorläufer und Pendant zum gegenwärtigen Terminus der 29 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 27. 30 Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Schriften 1894–1922, hrsg. von Kaesler, Dirk. Stuttgart 2002 [Original: München 1919], S. 474-511, hier S. 488.
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städtischen Infrastruktur – beschreibt die „Ausweitung gesellschaftlicher Basiseinrichtungen sowie all d[er]jenigen Einrichtungen, die eine Voraussetzung für Verkehr und Kommunikation, für Ver- und Entsorgung darstellten“31, so der Historiker Dirk van Laak. Der steigende Fleischbedarf im Zuge eines rasanten Anstiegs der Wiener Bevölkerung im 19. Jahrhundert machte den Schlachthof zu einem der vordringlichen Projekte der kommunalen Verwaltung. Die historische Bedeutung von Schlachthöfen für das Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert erschließt sich nur über ein Bewusstsein für die ökonomische, arbeitsorganisatorische, politische und gesellschaftliche Tragweite dieser Versorgungsreform in ihren vielfältigen Ausprägungen. Schlachthöfe bildeten in der Kartografie kommunaler Wirtschaftspolitik einen infrastrukturellen Knotenpunkt der großstädtischen Versorgung. Mit einem Blick auf öffentliche Schlachthöfe werden die Funktionsweisen, Wirkungsprinzipien und Muster lokaler Versorgungspraktiken und -politiken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts greifbar.32 Schlachthöfe waren zudem Orte, an denen sich Urbanisierungs- und Rationalisierungsprozesse verdichteten, an denen neue Wissensordnungen entstanden und neue Techniken miteinander vernetzt wurden. Der Schlachthof war ein Ort, an dem Menschen ein neues Wissen generierten, das Konflikte schuf und verstärkte, weil es mit tradierten Wissensbeständen kollidierte, Arbeitsweisen und Berufsbilder veränderte und radikal infrage stellte. Hinzu kam, dass die räumliche Konzentration von Tierschlachtungen an einem Ort ein europaweites Phänomen des 19. Jahrhunderts darstellte. Diese Internationalität versorgungsökonomischer Reformen war lokal greifbar. Nicht von ungefähr waren Schlachthöfe für die kommunalen Verwaltungen städtische Prestigeobjekte, die den Fortschritt und die Modernität kommunaler Versorgungspolitiken auswiesen. So bemerkte zum Beispiel der Präfekt des Seine-Departements Georges-Eugène Haussmann, der über 23 Millionen Francs in den Bau des Schlachthofes von La Villette bei Paris investiert hatte, dass diese Anlage eine der „bedeutendsten von meiner Verwaltung durchgeführten Arbeiten, von gleichem Range wie die großen Straßenbauten“33 seien. Auch die Stellungnahmen 31 Laak, Dirk van: „Just in Time“. Zur Theorie von Infrastruktur und Logistik. In: Porombka, Wiebke/Reif, Heinz/Schütz, Erhard (Hg.): Versorgung und Entsorgung der Moderne. Logistiken und Infrastrukturen der 1920er und 1930er Jahre. Frankfurt/M. [u.a.] 2011, S. 13-23, hier S. 14. 32 Bernhard Kathan bezeichnet Schlachthöfe als Orte der Kompression, weil diese für die städtische Versorgung zentral waren und in ihnen Tiere räumlich gebündelt wurden. Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 75. 33 Zit. nach: Macho, Thomas: Der Aufstand der Haustiere. In: Fischer-Kowalski [u.a.] (Hg.): Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonialisierung von Natur. Ein Versuch in Sozialer Ökologie. Amsterdam 1997, S. 177-200, S. 195.
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von Architekten, Beamten und Veterinären, die den Wiener Schlachthof und Viehmarkt St. Marx besucht und sich über deren bauliche Gestaltung sowie über die Arbeitsorganisation wohlwollend geäußert hatten, sind zahlreich.34 Stolz waren die Verantwortlichen vor allem darauf, dass es ihnen gelungen war, eine Arbeitsorganisation zu schaffen, die die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren, die im Schlachthof zusammentrafen, neu ordnete und hierarchisierte. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho entwarf in einem Vortrag über die Genese von zoologischen Gärten, Zirkussen und den sogenannten Freakshows den Begriff der „Zoologiken“35. Damit bezeichnete er die „Wissensordnungen und Typologien, mit deren Hilfe die ‚Lebewesen‘ – Menschen und Tiere – kategorial systematisiert werden.“36 Auch der Schlachthof stellte eine solche zoologische Ordnung her, weil die unterschiedlichen Akteure ihre Beziehungen untereinander ebenso auf eine spezifische Weise verhandelten wie ihr Verhältnis zu den für die Schlachtung bestimmten Tieren. So wie die fürstliche Menagerie im 16. und 17. Jahrhundert für den Adel und zoologische Gärten im 18. und 19. Jahrhundert für das Bürgertum Orte der Präsentation, Beobachtung und nicht zuletzt auch der standesgemäßen Repräsentation waren, so stellten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die kommunalen Verwaltungen Schlachthöfe vergleichbare Prestigegeneratoren dar. In Schlachthöfen stellte und stellt das Verhältnis von Menschen und Tieren eine besonders augenfällige Herrschafts- und Gewaltbeziehung dar.37 Schlachthöfe waren auch soziale Orte, an denen unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessenlagen zusammentrafen: Viehhändler, die Tiere aus der gesamten Monarchie nach Wien brachten, Handwerker, die diese kauften, schlachteten und verarbeiteten, Gesellen, die ihre Meister unterstützten und dabei das Fleischerhandwerk erlernten, Tagelöhner, die vor den Toren des Schlachthofes in der Hoffnung warteten, eine Anstellung als Hilfsarbeiter zu finden, Aufseher, die darüber wachten, dass Fleischer, Marktdiener und andere Schlachthof- und Viehmarktangestellte gemäß der Hausordnung und den Dienstvorschriften arbeiteten, kommunale Beamte, die Besucherinnen und 34 Vgl. zum Beispiel: WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 87 [23.6.1906], S. 97 [21.8.1906], S. 133 [12.3.1907], S. 141-142 [27.5.1907], S. 149 und 151 [7.7.1907]; Preußische Ministerialbeamte auf dem Centralviehmarkte. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.11.1898, Nr. 91, S. 2-3. 35 Vgl. Macho, Thomas: Zoologiken. Tierpark, Zirkus und Freakshow. In: Fischer, Hartmut (Hg.): TheaterPeripherien. Konkursbuch 35. Tübingen 2001, S. 13-33. 36 Ebd., S. 13. 37 Vgl. Nieradzik, Lukasz: Körperregime Schlachthof – Tierschlachtung und Tierbäder im Wien des 19. Jahrhundert. In: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2, 2014, 4, S. 301-327. URL: http://bodypolitics.de/de/wp-content/uploads/2015/09/ Heft_4_04_Nieradzik_Schlachthof_End.pdf [Stand: 15.9.2015].
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Besucher aus Studienzwecken über das Gelände führten, oder Veterinärmediziner, die den Gesundheitszustand der Tiere kontrollierten, kurzum: Hier verschärften sich soziale Spannungen, hier konkretisierten sich soziale Konflikte, und hier verhandelten die historischen Akteure ihre Beziehungen und sozialen Hierarchien. In toto stellt der Schlachthof ein urbanes Phänomen dar, weil es das Stadtwachstum und ein radikaler Wandel der städtischen Bedarfslagen waren, die die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung vor Probleme stellten, die in ihrem Ausmaß bis dahin unbekannt waren. Infolge der Errichtung des Schlachthofes St. Marx und insbesondere dessen Umbaus Anfang der 1880er Jahre entstand eine neue Produktionsgeografie, die sich netzwerkartig über fast die gesamte Monarchie erstreckte. Wien, „der größte Konsument des Reiches“38, wie der Magistratsoberkommissär Karl Schwarz urteilte, saß wie eine Spinne inmitten eines Netzes, deren Hunger scheinbar nie gestillt werden konnte. Der Schlachthof war ein Ort, an dem die Problematik urbaner Versorgungsanforderungen ebenso sichtbar und greifbar wird wie das Fortschrittscredo der Moderne. Die radikale Beschleunigung, die nicht nur die Arbeitstechniken und Arbeitsorganisation veränderte, sondern das lebensweltliche Gefühl der historischen Akteure charakterisierte, zeigte sich in konzentrierter Form im Schlachthof, weil sich hier die großstädtischen Modernisierungsprozesse verdichteten. Der Schlachthof wird damit zum paradigmatischen Untersuchungsfeld für Verstädterung und Urbanisierung, weil hier die Vernetzungen von Menschen, Produktionsgütern, organischen Rohstoffen, Techniken und Arbeitsordnungen en miniature greifbar werden.39 Gleiches gilt für die damit unauflöslich verbundenen normativen Orientierungen und Wertvorstellungen, die alltägliche Arbeitspraktiken reproduzierten und verstetigten. Hinzu kommt, dass sich im Schlachthof der Umgang mit Leben und Tod radikal veränderte. Bezug nehmend auf Chicago bezeichneten der Historiker Heinz Reif, die Literaturwissenschaftlerin Wiebke Porompka und der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz Schlachthöfe als „Sinnbild der kreaturfeindlichen Massentechnik des 20. Jahrhunderts“40, und der Historiker Dirk van Laak benannte den „Schrei der Kreatur“41 als „[d]as einzige, was in den Schlachthöfen nicht verwertet werde“42. Zugleich lassen sich vielfältige Prak38 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 42. 39 Vgl. Porombka, Wiebke/Reif, Heinz/Schütz, Erhard: Vorwort. In: Porombka/Reif/ Schütz, Versorgung und Entsorgung a.a.O., S. 7-9, hier S. 7. 40 Ebd., S. 8. 41 Laak, „Just in Time“, S. 13. 42 Ebd.
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tiken der Fürsorge und Schonung im Umgang des Menschen mit Tieren beobachten, die alle auf eine Fähigkeit und Bereitschaft zur Empathie verweisen. Diese Spannungen und Widersprüche zwischen einer radikalen, Körper und Leben verwaltenden und verwertenden Logik einerseits und einer Sorge um das einzelne Tier sowie einem gefühlvollen Umgang mit diesem andererseits kennzeichnen den Schlachthof in seiner ambivalenten Wirklichkeit. Ich behaupte zudem, dass das Arbeiten im Schlachthof den historischen Akteuren ihr eigenes Wirken und ihre gesellschaftliche Verflechtung vor Augen führte. Ihr Umgang mit anderen Menschen und Tieren im Konkreten sowie mit Leben und Tod im Allgemeinen bot den in St. Marx arbeitenden Fleischern eine Projektionsfläche für ihr eigenes Wirken und Gestalten und ermöglichte ihnen dadurch, über ihre eigene Lebenswirklichkeit zu reflektieren und zu urteilen (siehe Kap. 6.3.1 und 6.3.2). Das Arbeiten im Schlachthof umfasste daher immer auch ein Sich-bewusst-Werden über die eigene Verstrickung in gesellschaftliche Prozesse, die sich den Menschen am eindringlichsten und mitunter radikalsten im bedeutungsschwangeren Fin de Siècle in Gestalt einer geradezu fatalistischen Ausweglosigkeit zeigten und die zugleich aber auch Chancen für eigenständiges Handeln eröffneten, so dass die Ambivalenzen der Moderne verhandelbar wurden – ganz im Unterschied zu der Forderung, die Mechanisierung des Lebens zu begrenzen, wie sie Sigfried Giedion vor mehr als 60 Jahren gestellt hat.43
1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit Die Themenwahl und die Struktur der vorliegenden Untersuchung sind außer meinem Forschungsinteresse, das auf den Wandel von Arbeit im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen über mehrdekadige Zeiträume zielt, stark durch die Quellenlage motiviert. Eine besondere Dichte findet sich bei Quellen, die die baulichen Veränderungen des Schlachthofes und angrenzenden Viehmarktes zum Gegenstand haben, neue Formen der Arbeitsorgani sation und deren normative Aufladung sowie wachsende Kontrollen der dort arbeitenden Fleischer thematisieren. Hinzu kommen Quellen, die die zunehmende Technisierung der Arbeit zum Gegenstand haben und die körperliche (haptische, olfaktorische und visuelle) Dimension der handwerklichen Arbeit herausstellen. Folgt man diesen Verdichtungen ergeben sich „Räume“, „Technik“ und „Körper“ als die in den Quellen am häufigsten verhandelten Felder. 43 Vgl. Giedion, Sigfried: Mechanisierung und Tod: Fleisch. In: Ders.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt/M. 1982 [Original: Mechanization Takes Command. New York 1948], S. 238-277, hier S. 277 und 778.
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Sie stellen die drei zentralen Dimensionen fleischhandwerklicher Arbeit dar: Es bedurfte bestimmter Räume, in denen Menschen Tiere schlachteten, spezifischer Techniken, derer sie sich dabei bedienten und eines inkorporierten handwerklichen Fachwissens sowie schließlich auch der Körper, die Fleischer zerlegten, verarbeiteten und verwerteten. Diese schlachtspezifischen Dimensionen (Räume, Technik, Körper) fleischhandwerklicher Arbeit gliedern die Untersuchung. Zunächst beschreibe ich den Forschungsstand (Kap. 2) und die Quellenlage (Kap. 3). Die einzelnen Quellen, die ich für die jeweiligen Untersuchungsschritte heranziehe, werden zu Beginn jedes Analysekapitels (5–6) genannt. Quellen (vor allem archivalischer Provenienz), die sehr umfangreich sind, führe ich in den Fußnoten an gegebener Stelle an. Das Auswertungsverfahren, das auf eine multiperspektivische Deutung der Quellen unter Einbeziehung ihrer sozialen und historischen Kontextualisierung zielt und dabei Fragestellung und Material reziprok zueinander in Beziehung setzt, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit in Kapitel 3.2 en detail vorgestellt. Der Umgang mit Quellen unterstreicht zugleich die Textgestaltung der vorliegenden Arbeit, die aus zwei Ebenen besteht. Der Fließtext stellt die thematische Essenz der Quellenanalyse dar, deren historische Grundierung findet sich in den Fußnoten. Das methodische Vorgehen stellt eine historische Kulturanalyse dar, die die Genese und den Wandel von Arbeitsbeziehungen im Wiener Fleischergewerbe auf unterschiedlichen Ebenen zum Gegenstand hat (Kap. 4). Diese umfasst eine raum-, technik- und körperhistorisch orientierte Perspektivierung und zielt auf eine Verschränkung von politischen, wirtschaftlichen, soziokulturellen Prozessen und der Aushandlung sozialer Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteuren im Wiener Fleischergewerbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert. Der Blick auf das Arbeiten und der Versuch, sich der Lebenswirklichkeit der Arbeitenden anzunähern, wird mit einer mikroskopischen Perspektive erarbeitet, deren kontextuelle Bezüge (verändernde Bedarfslagen, gewerbepolitische Maßnahmen, arbeitsorganisatorische Entwicklungen) in die Analyse einbezogen werden. Um beides zu verbinden, rückt der analytische Blick von Außen ins Innere des Schlachthofes. Dieser perspektivischen Bewegung folgt der Aufbau der vorliegenden Studie. Untersucht werden zunächst die beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontexte des Schlachthofes St. Marx (Kap. 5), anschließend rückt der Blick in den Schlachthof (Kap. 6). Im beruflichen Kontext (Kap. 5.1) beschreibe ich den Wandel des Fleischerhandwerks als einen Prozess der beruflichen Ausdifferenzierung und Professionalisierung, untersuche die Konflikte zwischen Fleischern und städtischen Behörden und frage, welche sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede im Wiener Fleischergewerbe bestanden. Die beruflichen Veränderungen in der
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden in Bezug zum Wandel der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Wiener Fleischversorgung und der fleischhandwerklichen Arbeit gesetzt (Kap. 5.2). Hierbei frage ich, inwiefern sich die städtischen Bedarfslagen (Fleischkonsum, Schlachtzahlen, Fleischpreise und Lohnverhältnisse im Gewerbe) veränderten und wie Wiener Fleischer ihr Geschäftsgebaren und ihren Lebensunterhalt finanzierten. Um die Entwicklungen der Wiener Fleischversorgung in ihrer Spezifik zu erfassen, verorte ich die Errichtung des Wiener Schlachthofes St. Marx innerhalb eines internationalen und kommunalpolitischen Rahmens. In dieser Analyse des gesellschaftlichen Kontextes (Kap. 5.3) frage ich nach der internationalen Dimension der Entwicklung auf dem Gebiet der Wiener Fleischversorgung und setze diese in Bezug zu einem kommunalpolitischen Regierungsverständnis, das Versorgungsinteresse und sozialpolitische Ziele im Rahmen der sogenannten Stadtassanierung miteinander verband. Nach Analyse des hier genannten beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmens untersuche ich die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt am Beispiel des Schlachthofes St. Marx anhand der drei oben genannten schlachtspezifischen Dimensionen „Räume“, „Technik“ und „Körper“ (Kap. 6). Weil sich der Wandel der fleischhandwerklichen Arbeitswelt auf unterschiedlichen Ebenen vollzog, erfordert dessen Untersuchung einen Ansatz, der diese Dimensionen der Transformation im Einzelnen berücksichtigt, zueinander in Beziehung setzt und zugleich auf der gesamtstädtischen und gesellschaftlichen Ebene verortet, kurzum: Multidimensionalität erfordert Multiperspektivität. Meine Analyse zielt auf die Interessen und Motivationen der historischen Akteure, die ich innerhalb von Strukturen und Ordnungen verorte und deren lebensweltliche Anforderungen und soziale Relationen mich interessieren. Die Untersuchung umfasst raumanalytische, technik- und körperhistorische Fragestellungen und Perspektivierungen, die zu Beginn der empirischen Kapitel 6.1, 6.2 und 6.3 vorgestellt werden. Die Raumanalyse zielt auf die Genese und Normierung verräumlichter Arbeitsordnungen in Zusammenhang mit Disziplinierungsprozessen. Die Untersuchung von Technisierungsprozessen hat den Zusammenhang von Arbeitsrationalisierung und Arbeitsethiken zum Gegenstand. Im Mittelpunkt der körpergeschichtlichen Analyse stehen Fragen nach Körperbildern von, Körpernutzungen durch und Körpergefahren für die historischen Akteure. Im Kapitel „Räume und Normen“ (6.1) frage ich nach dem Zusammenhang von räumlichen Ordnungen, der Organisation von Arbeit und den Beziehungen zwischen den im Schlachthof und auf dem angrenzenden Viehmarkt arbeitenden Fleischern. Dabei untersuche ich zunächst, wie Kommunalbeamte und Architekten, die mit dem Bau und Umbau des Schlachthofes St. Marx betraut
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waren, den Zusammenhang von einer bestimmten Raumordnung und rationalisierten Arbeitsorganisation dachten und welche normativen Vorstellungen sie hierüber hatten (Kap. 6.1.1: Raumordnung und Arbeitsorganisation). Daran anknüpfend untersuche ich den Zusammenhang von baulichen Veränderungen des Schlachthofes, Arbeitskontrollen und Disziplinierungsprozessen (Kap. 6.1.2: Kontrolle und Disziplinierung). Meine These ist, dass sich das Arbeiten maßgeblich durch Umbauten der Schlachthofanlagen veränderte, die zu neuen Formen sozialer Kontrolle führten und vielschichtige Disziplinierungsprozesse verstärkten. Anschließend rückt die zunehmende Technisierung der fleischhandwerklichen Arbeit in den Mittelpunkt (Kap. 6.2: Technik und Handwerk). Ich frage, inwiefern neue Werkzeuge und Maschinen das Arbeiten veränderten und wie Fleischer sich den Gebrauch dieser Techniken aneigneten. Weil Fleischer in vielen Fällen kommunalpolitischen Reformen mit Misstrauen begegneten und auf die historische Beständigkeit handwerklicher Arbeitsformen verwiesen, untersuche ich deren Narrationen, in denen sie die Unverzichtbarkeit ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten für die Tierschlachtung und Fleischverarbeitung hervorhoben (Kap. 6.2.1: Narrative handwerklicher Persistenz). Reformer aus Politik und Verwaltung hingegen sahen in einer Technisierung der fleischverarbeitenden Arbeit und Kadaververwertung einen zentralen Mechanismus wirtschaftlicher Modernisierung (Kap. 6.2.2: Mechanismen wirtschaftlicher Modernisierung). Schließlich frage ich, inwiefern die Technisierung von Arbeitsprozessen mit einem Wandel beruflicher Selbstbilder und der Arbeitsethik von Fleischern einherging (Kap. 6.2.3: Anpassung beruflicher Ethik an Technik). Das konkrete körperliche Arbeiten eines Fleischers umfasste immer auch den Aspekt des sinnlichen Umgangs mit dem Tier und dem tierischen Körper. Wenn angenommen werden kann, dass ein Wandel der Produktionsverhältnisse und ein veränderter Umgang mit Körpern sich wechselseitig bedingen,44 dann umfasste die Transformation des Fleischhandwerks auch einen Wandel der körperlichen Dimension der Arbeit. Ich frage, wie Fleischer über ihren Körper Arbeitserlebnisse artikulierten, welche Körperbilder sie verinnerlichten und verstetigten und inwiefern sie den Körper zur zentralen Bezugs- und Orientierungsebene ihrer Arbeitserfahrungen machten (Kap. 6.3: Körper, Bilder und Erfahrung). Die Analyse der körperhistorischen Dimension der Transformation umfasst die Untersuchung des fleischhandwerklichen Körperwissens und der unterschiedlichen Praktiken der Körpernutzung. Ausgehend von 44 Vgl. Becker, Sigfried: Körper und Arbeit. Zur normativen Wertung physischer Anstrengung. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 31: Körper. Verständnis. Erfahrung, 1996, S. 55-71, hier S. 57.
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der Annahme, dass in kleinen gesellschaftlichen Ausschnitten übergeordnete Prozesse greifbar werden, frage ich, wie Fleischer ihre Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit verhandelten und narrativ verstetigten. Diese verorte ich innerhalb des medizinischen Paradigmenwechsels in den 1850er und 1860er Jahren (Kap. 6.3.1: Verhandlungen von Gesundheit und Krankheit). Daran anknüpfend untersuche ich, inwiefern ein Wandel des Wissens über tierische Körper mit veränderten Praktiken der Tiernutzung einherging (Kap. 6.3.2: Praktiken der Nutzbarmachung). Anschließend rückt das berufliche Körperideal von Wiener Fleischern in den Blickpunkt. Ich frage, wie sie dieses narrativ und fotografisch konstruierten und zeige, dass Fleischer, indem sie auf ihren Körper Bezug nahmen, Arbeitserfahrungen artikulierten, diese ihren Kollegen mitteilten und dadurch Belastungen bewältigten (Kap. 6.3.3: Körperbilder und Körpererfahrungen). Den perspektivischen Faden, der die Untersuchung durchzieht, zeichnet das Bestreben aus, den Schlachthof als paradigmatisches urbanes Phänomen der Moderne erkenntnistheoretisch in Stellung zu bringen. Die Fragestellung zielt auf eine historisch argumentierende Kulturanalyse, die den kontextuellen Bezügen sozialer Phänomene gerecht wird. Die Studie zeigt, dass sich eine Untersuchung vordergründig versorgungsökonomischer Themenfelder nicht an wirtschaftlichen Kategorien erschöpft, sondern vielmehr die kulturelle und gesellschaftliche Tragweite sozialer Phänomene in den Blick zu nehmen hat.
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2. Schlachthofforschung in den Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften In diesem Kapitel beschreibe ich den Stand der Forschung zu Schlachthöfen im 19. und 20. Jahrhundert in den Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Ethnologie (Kap. 2.1) gebe ich einen Überblick über die Themen und Zielsetzungen, die sich in unterschiedlichen Disziplinen auf dem Gebiet der Schlachthofforschung herausgebildet haben (Kap. 2.2). Anhand der thematischen Verdichtungen fasse ich die zentralen Aussagen der jeweiligen Untersuchungen zusammen und lege die Forschungsdesiderata offen, die die vorliegende Studie schließen soll (Kap. 2.2.1–2.2.4).
2.1 „Eine verdrängte Geschichte“45? Es liegen nur wenige Arbeiten vor, die sich mit Schlachthöfen aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive befassen. Diese untersuchen vor allem MenschTier-Beziehungen in zentralisierten und industrialisierten Arbeitskontexten, beschreiben das Schlachten als einen transformativen Akt, der Tiere in Fleischprodukte verwandelt, und historisieren Fleischkonsum als soziale und symbolische Praxis. So behandelt die Europäische Ethnologin Ruth-E. Mohrmann in einem Aufsatz am Beispiel der nordwestdeutschen Stadt Osnabrück die Geschichte öffentlicher Schlachthäuser und Formen gegenwärtiger Fließbandschlachtung.46 Eine historische Untersuchung von Schlachthöfen liefert auch die Kultur- und Sozialanthropologin Noëlie Vialles. In Verbindung mit einer Feldforschung in 32 Schlachthöfen im Südwesten Frankreichs befasst sie sich mit der industrialisierten Tierschlachtung als einer kulturellen und symbolischen Handlung.47 Vialles verweist insbesondere auf zwei grundlegende Praktiken, 45 Lackner, Helmut: Ein „blutiges Geschäft“. Kommunale Vieh- und Schlachthöfe im Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der städtischen Infrastruktur. In: Technikgeschichte 71, 2004, 2, S. 89-138, hier S. 90. Vgl. Lee, Paula Young: Introduction: Housing Slaughter. In: Dies. (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse. Hanover/London 2008, S. 1-9, hier S. 2. 46 Vgl. Mohrmann, Ruth-E.: „Blutig wol ist Dein Amt, o Schlachter …“. Zur Errichtung öffentlicher Schlachthäuser im 19. Jahrhundert. In: Hessische Blätter für Volksund Kulturforschung, Mensch und Tier a.a.O., S. 101-118. 47 Vgl. Vialles, Noëlie: Animal to Edible. Cambridge 1994.
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die „de-animation“ („removing the anima or vital principle“48) und die „de-animalization“ („stripping the body of its animality“49), durch deren Zusammenspiel ein Objekt entstünde, das seiner tierischen Existenz und Identität beraubt sei.50 Diese ineinander verschränkten Prozesse seien neben den geografischen und historischen Distanzierungen der zum Verzehr bestimmten Tiere von den sie konsumierenden Menschen für die anthropologische Stabilität des Fleischessens verantwortlich. Die soziokulturellen Aspekte des Fleischverzehrs sowie das Verhältnis von Macht und Konsum stehen im Mittelpunkt einer Monographie von Nan Mellinger.51 Sie kritisiert darin die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion mit ihrem Drang nach einer grenzenlosen Verfügbarkeit und sieht darin ein exemplarisches Phänomen der Überflussgesellschaft. Aus genderorientierter Perspektive untersucht Mellinger Fleischkonsum als symbolische Praxis zur alltagspraktischen Konstituierung von Geschlecht52 und verortet die menschliche Lust, Fleisch zu essen, innerhalb einer historisch gewordenen semantischen Matrix sozialer Beziehungsgeflechte. Mellingers Untersuchung aus dem Jahr 2000 ist die aktuellste (!) Arbeit über Fleischkonsum und Fleischproduktion aus der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie. „[D]as Töten von Großtieren in eigens dafür gebauten Einrichtungen“ stellt, wie die Europäischen Ethnologen Siegfried Becker und Andreas C. Bimmer vor nunmehr 21 Jahren konstatierten, auch heute noch „ein in der Sozial- und Kulturwissenschaft gern ausgelassenes Thema [dar].“53 In anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind in den letzten zehn Jahren zahlreiche Studien erschienen, die sich mit technikhistorischen, arbeitsorganisatorischen und -rechtlichen, ökologischen sowie versorgungsgeschichtlichen Fragestellungen befassen und das Mensch-Tier-Verhältnis im Kontext rationalisierter und industrialisierter Produktionsregimes akzentuie48 Ebd., S. 127. 49 Ebd. 50 Vgl. auch: DeMello, Animals and Society, S. 129-131. 51 Vgl. Mellinger, Nan: Fleisch: Ursprung und Wandel einer Lust. Eine kulturanthropologische Studie. Frankfurt/M. [u.a.] 2000. 52 Vgl. auch: Dies.: Lecker, gefährlich, eklig und tot. Das Verhältnis des Menschen zum Fleisch. In: Herzog, Hal: Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren. München 2012, S. 191-222; Adams, Carol: The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory. Cambridge 1990; Wilkie, Rhoda M.: Livestock/Deadstock: Working with Farm Animals from Birth to Slaughter. Philadelphia 2010, S. 43-64. 53 Becker, Sigfried/Bimmer, Andreas C.: Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Mensch und Tier a.a.O., S. 7-10, hier S. 8-9.
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ren. Konstatierte der Grazer Technikhistoriker Helmut Lackner noch 2004,54 dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schlachthöfen „eine verdrängte Geschichte“55 sei, sind seitdem Schlachthöfe zunehmend in den Blickpunkt des wissenschaftlichen (allen voran sozialgeschichtlichen) Forschungsinteresses gerückt. Die Gründe dafür sehe ich in einer wachsenden Sensibilität gegenüber der Nahrungsmittelindustrie, die seit den vergangenen zwei Jahrzehnten neben Umwelt- und Tierschutzverbänden auch Verbraucherinnen und Verbraucher verstärkt in Verantwortung nehmen. Seuchen wie die Bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE), die hochpathogene Influenza-Virus-Infektion (Vogelgrippe) oder die Schweinepest sind akute Bedrohungen nicht nur für die tierische, sondern auch menschliche Gesundheit, deren ökologische Folgen vielfältig, drastisch und zudem nicht immer abschätzbar sind. Sie stellen die gesellschaftlich unsichtbaren Hochleistungsproduktionssysteme der Fleisch industrie ebenso infrage wie unsere tradierten Konsumgewohnheiten und fordern tierethische Fragestellungen und Anliegen heraus.56 Als Alternative zur anonymisierten Fleischproduktion versuchen im deutschsprachigen Raum seit den letzten 15 Jahren mehrere Schlachthöfe Außenstehenden Einblicke in betriebsinterne Arbeitsabläufe zu ermöglichen. Ob damit ein flächendeckender Umschwung der Fleischindustrie eingeläutet wird, ist allerdings zu bezweifeln. Weder können diese Angebote die Monopolstellung der herkömmlichen Fleischunternehmen durchbrechen noch bedienen sie die Bedürfnisse der meisten Konsumentinnen und Konsumenten. In marktstrategischer Hinsicht versuchen diese Betriebe sich als ökologische Alternative im monopolisierten Fleischmarkt zu etablieren. Aus einer konsumorientierten Perspektive bedient das nachhaltige, ökologische, „gesündere“ Fleisch die Bedürfnisse von Angehörigen der wohlsituierten Mittelschicht, sich sowohl über den Verzehr dieses „besseren“ Fleisches vom Gros der Konsumentinnen und Konsumenten zu unterscheiden als auch das schlechte Gewissen eines verant-
54 Bis heute hat Lackner die bislang einzige Studie vorgelegt, die der architektonischen, organisatorischen und technischen Entwicklung von Schlachthöfen in Österreich nachgeht. Vgl. Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Technikgeschichte, S. 89138. 55 Ebd., S. 90. Vgl. Lee, Paula Young: Introduction: Housing Slaughter. In: Dies. (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse. Hanover/London 2008, S. 1-9, hier S. 2. 56 Vgl. Kaplan, Helmut F.: Notwendigkeit, Wahnsinn oder Verbrechen? Fakten und Fiktionen über das Fleischessen. In: ZDF-Nachtstudio (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung. Frankfurt/M. 2001, S. 113-131, hier S. 115-122; Herzog, Hal: Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren. München 2012, S. 197.
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wortungsbewussteren Lebensstils zu beruhigen.57 Dem Trend hin zum sogenannten „gläsernen Schlachthof“ folgen mittlerweile auch die großen Schlachtbetriebe. Ein markantes Beispiel ist die dänische Schlachtfirma Danish Crown, „zweitgrößter Schweineschlachter und drittgrößter Fleischexporteur der Welt“, die seit 2005 für Außenstehende Schlachthofbesichtigungen anbietet.58 Diese Entwicklungen erachte ich für ausschlaggebend für ein wachsendes wissenschaftliches Bestreben nach Historisierung unserer gegenwärtigen Fleischindustrie. Zugleich verschieben sich im Zuge postmoderner Theorieangebote und des seit einigen Jahren florierenden Forschungsbereichs der Human-Nonhuman-Animal Studies die wissenschaftlichen Untersuchungs- und Erkenntnisprämissen. Auch die Wirkmächtigkeit von Tieren in historischen und sozialen Prozessen rückt verstärkt in den Blickpunkt von Forscherinnen und Forschern.59
2.2 Verdichtungen und Desiderata Die vier zentralen Themenverdichtungen auf dem Gebiet der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Schlachthofforschung, die ich im Folgenden en detail vorstelle, sind keineswegs strikt voneinander abgegrenzt. Inhaltliche und forschungskonzeptionelle Überschneidungen sind vielfach gegeben. Die Einteilung, die ich hier vorgenommen habe, dient einem Überblick über die Forschungsaktivitäten verschiedener Disziplinen auf diesem Gebiet. 57 Vgl. zum Beispiel: URL: http://www.fleischzentrum-rettstadt.de/entwicklung.html [Stand: 15.9.2015]. 58 Vgl. Kwasniewski, Nicolai: Gläserner Schlachthof in Dänemark. In: Spiegel Online, 25.4.2014. URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/schweine-schlachtenzum-zuschauen-fleischproduktion-in-daenemark-a-965922.html [Stand: 15.9.2014]. Vgl. auch: URL: http://www.thoenes-natur-verbund.de/index.php?page=betriebwachtendonk [Stand: 15.9.2014]. 59 Vgl. zum Beispiel: Anderson, Virginia DeJohn: Creatures of Empire: How Domestic Animals Transformed Early America. Oxford 2004; Callon, Michel: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 135-174; Fudge, Erica: A Left-Handed Blow: Writing the History of Animals. In: Rothfels, Nigel (Hg.): Representing Animals. Bloomington/ Indianapolis 2002, S. 3-18; Haraway, Donna Jeanne: When Species Meet. Minneapolis 2008; dies.: The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness. 3. Aufl. Chicago 2005; Hribal, Jason C.: Animals, Agency, and Class: Writing the History of Animals from Below. In: Human Ecology Review 14, 2007, 1, S. 101-112.
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Zunächst fasse ich die zentralen Aussagen der einschlägigen Studien in den vier genannten Themenschwerpunkten zusammen. Zu Ende jedes Unterkapitels formuliere ich das Desiderat des jeweiligen Forschungsfeldes. Abschließend argumentiere ich für eine historische Kulturanalyse der Transformation fleischhandwerklicher Arbeitswelten.
2.2.1 Körpervergessenheit: Mensch-Tier-Beziehungen Mensch-Tier-Beziehungen in Schlachthöfen sind Gegenstand von Untersuchungen verschiedener Disziplinen. Themen, die hierbei am häufigsten verhandelt werden, betreffen die Praxis der Schlachtung im historischen Wandel, Aushandlungen über das „humane Töten“60 von Tieren im Kontext rationalisierter und industrialisierter Arbeit sowie den gesellschaftlichen Stellen- und Symbol wert von sogenannten Nutztieren.61 Im Mittelpunkt von einigen Arbeiten stehen zudem Fragen nach dem gegenwärtigen sozialen und beruflichen Status sowie nach der lebensweltlichen Situation von Schlachthofarbeitern und ihren Wegen und Möglichkeiten, das tägliche Schlachten am Fließband zu bewältigen. Bereits Sigfried Giedion hat in seinem 1948 erschienenen Monumental werk „Die Herrschaft der Mechanisierung“62 am Beispiel der Schlachthöfe in Chicago die Mechanisierung des Schlachtens als ein Ringen der Maschine mit 60 Mit dem sogenannten „humanen Töten“ bzw. der „Humane Cattle Slaughter“ propagierten Veterinärmediziner, Kommunalbeamte und Tierschutzvereine im 19. Jahrhundert eine fortschreitende Technisierung des Schlachtens, die das Ineinanderfallen von Betäubung und Tötung eines Tieres kennzeichnete. Vgl. MacLachlan, Ian: Coup de Grâce: Humane Cattle Slaughter in Nineteenth Century Britain. In: Food & History, 3, 2006, 2, S. 145-171, hier S. 149. 61 Als Nutztiere definiere ich „Tiere, die Menschen zur Erfüllung bestimmter Zwecke räumlich isoliert halten, ernähren, deren Fortpflanzung sie kontrollieren und durch gezielte Eingriffe deren Morphologie, Anatomie und Sozialverhalten verändern.“ Nieradzik, Lukasz: Geschichte der Nutztiere. In: Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart, S. 121-129, hier S. 122. Ziel der Haltung von Nutztieren ist deren Umwandlung in ökonomische Wertstoffe: „Die wirtschaftliche Produktion und die organische Reproduktion bedingen einander. Der Begriff des Nutztieres ist v.a. ein ökonomischer.“ Ebd. Im Unterschied zu sogenannten Heimtieren gelten Nutztiere im Kontext landwirtschaftlicher Produktion als handlungsunfähige erwerbbare Wertgegenstände. Vgl. DeMello, Animals and Society, S. 159; Ingold, Tim: From Trust to Domination. An Alternative History of Human-Animal Relations. In: Manning, Aubrey/Serpell, James (Hg.): Animals and Human Society. Changing Perspectives. London/New York 1994, S. 1-22, hier S. 6. 62 Vgl. Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 238-277.
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der Widerständigkeit „hochentwickelter organischer Substanz“63 beschrieben. Damit rückt er neben Mensch und Maschine auch das Tier als den zu bearbeitenden Rohstoff sowie das Fleisch als herzustellendes Produkt in den wissenschaftlichen Blickpunkt. Die meisten Arbeiten im Bereich der Schlachthofforschung, die MenschTier-Beziehungen als zentrales Thema verhandeln, befassen sich mit der Tierschlachtung und den zeitgenössischen Narrativen über das sogenannte „humane Töten“64. Der Geograf Ian MacLachlan zeigt, dass die Brutalität des Schlachtens einen zentralen Topos in den Erzählungen von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern einnahm, nachdem das Tieretöten aus dem öffentlichen Raum verschwunden war.65 Veterinäre, Kommunalbeamte und Tierschutzvereine bedienten sich dieser Narrative, um eine Reform der Schlachtmethoden zu bewerben. MacLachlan beschreibt, wie in Großbritannien die Einführung neuer Schlachtwerkzeuge, die schneller und „sauberer“ töteten, den Forderungen derjenigen nachkam, die für einen möglichst schmerzfreien Tod der Tiere plädierten und deren Einsatz den Schlachtprozess zugleich grundlegend veränderte. Die kommunale Verwaltung verfolgte dabei das Ziel, die Fleischproduktion zu beschleunigen und die Arbeit immer lückenloser zu überwachen. Auch der Wirtschaftshistoriker Richard Perren beschreibt das Bestreben der städtischen Behörden, den Schlachtprozess zu überwachen, und verweist auf die Herausforderungen, mit denen die Verantwortlichen dabei konfrontiert waren.66 Finanzielle Engpässe, die Schwierigkeiten, Fleischimporte zu kon trollieren, ebenso wie das Misstrauen, das Fleischer den Schlachthofinspektoren entgegenbrachten, stellten die Behörden vor Herausforderungen, die eine abwägende Kommunalpolitik erforderte, welche die städtischen Versorgungszwänge ebenso berücksichtigen musste wie die Befindlichkeiten der Fleischer. Mit der emotionalen Dimension der Tierschlachtung befasst sich der Sozio loge Rainer E. Wiedenmann. Er fragt, wie Menschen das Töten von Tieren bewältigen. In Anlehnung an Zygmunt Baumans Begriff der „Sozialtechnik“ beschreibt Wiedenmann diesen Terminus als einen Komplex spezifischer Bewältigungspraktiken belastender Situationen. Bauman unterscheidet dabei zwischen zwei Sozialtechniken, der „Anonymisierung“ und „Adiaphorisierung“. Letztere beschreibt das Einordnen eigenen Handelns in größere Kausalzu sammenhänge, um dadurch die Verantwortung dafür zu relativieren. Mit „Ano 63 Ebd., S. 262. 64 Vgl. MacLachlan, Coup de Grâce, S. 145.171. 65 Vgl. ders.: Humanitarian Reform, Slaughter Technology, and Butcher Resistance in Nineteenth-Century Britain. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 107-126. 66 Vgl. Perren, Richard: Filth and Profit, Disease and Health: Public and Private Impediments to Slaughterhouse Reform in Victorian Britain. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 127-151.
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nymisierung“ bezeichnet Bauman eine Entlastung durch Versachlichung und Unsichtbarmachung.67 Mit dem Töten von Tieren im Kontext der industrialisierten Fleischproduktion beschäftigt sich auch der Archäologe und Mitbegründer der Animal Studies Group am New Zealand Centre for Human-Animals Studies Jonathan Burt.68 Das Schlachten, so Burt, beurteilten die meisten Menschen als eine notwendige und unumgängliche Handlung, um Fleisch zu produzieren. Burt kritisiert, dass das Töten von Tieren, das er als die vermeintlich ultimative Offenbarung menschlicher Allmacht über nicht-humane Lebewesen bezeichnet, bislang fast ausschließlich von Tierschutz- und Tierrechtsaktivistinnen und -aktivisten thematisiert worden sei. Burt fordert, das Schlachten aus wissenschaftlicher Perspektive als ein Bündel unterschiedlicher Praktiken stärker in den Blick zu nehmen. Das Töten von Tieren stelle nicht nur eine Handlung dar. Der Begriff vereinnahme und homogenisiere vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Tötungspraktiken mit ihren jeweils unterschiedlichen kulturellen Kodierungen und Deutungsangeboten. Dass und insbesondere wie Menschen Tiere töten, sage zudem Vieles über die Beziehung zwischen beiden und ihre ge sellschaftlichen Positionen und Rollen aus. Burt schlussfolgert, dass das Schlachten ein Konglomerat vielschichtiger Tötungspraktiken sei, das über die Konstruktion menschlicher Sinn- und Alltagshorizonte Aufschluss geben könne. Mit der Frage nach sinnstiftenden Verortungpraktiken und -strategien des Eigenen und Fremden befasst sich die Soziologin Rhoda M. Wilkie in ihrer ethnografischen Studie über unterschiedliche Formen der Mensch-Tier-Beziehung in Schlachthäusern, landwirtschaftlichen Betrieben und auf Viehauktionsmärkten.69 Sie untersucht den Umgang von Schlachthofarbeitern und Viehhändlern mit Tieren und fragt, „how different groups of agricultural workers think, feel, and relate to food animals“70. Für Wilkie ist der spezifische Arbeitskontext ausschlaggebend für eine emotionale und emphatische Distanzierung von Tieren. Sie beschreibt Mensch-Nutztier-Beziehungen als fragile Konstellationen, die Menschen durch Arbeitsroutinen stabilisierten.
67 Vgl. Wiedenmann, Rainer E.: Tierbilder im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung. Überlegungen zu Struktur und Wandel soziokultureller Ambivalenzkonstruktion. In: Luthe, Heinz Otto/Wiedenmann, Rainer E. (Hg.): Ambivalenz. Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten. Opladen 1997, S. 185-221, hier S. 212-213. 68 Vgl. Burt, Jonathan: Conflicts around Slaughter in Modernity. In: The Animal Studies Group: Killing Animals. Urbana [u.a.] 2006, S. 120-144. 69 Vgl. Wilkie, Livestock/Deadstock. 70 Ebd., S. 3.
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Ähnlich argumentiert auch der Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler Bernhard Kathan.71 In seiner Untersuchung über die Zwiespältigkeit von Mensch-Tier-Beziehungen widmet Kathan zwei Kapitel der industrialisierten Fleischproduktion und befasst sich darin unter anderem mit einer Ethik des Schlachtens. Wie Jonathan Burt beschreibt auch Kathan das Schlachten als ein Bündel von routinisierten Praktiken, die der Begriff des Tötens nur unzureichend erfasse. Denn im Schlachthof würden keine Tiere getötet, sondern für den Konsum bestimmte Fleischwaren produziert.72 Im Schlachthof erführen Menschen Tiere nicht als Lebewesen, sondern „als geschichtsloses Material“73, schlussfolgert Kathan. Mit Mensch-Tier-Beziehungen im Schlachthof befasst sich auch der Philosoph und Umwelttheoretiker Mick Smith. Er sieht in Schlachthöfen Orte, die eine Trennung von „Menschsein“ und „Tiersein“ etablierten. Das Streben nach dieser Differenz beschreibt Smith als typisches Phänomen der Moderne.74 Für ihn stellen Schlachthöfe epistemologische Katalysatoren dar, die Grenzen zwischen dem Mensch- und Nicht-Mensch-Sein festschrieben.75 Wie Rhoda M. Wilkie betont auch Smith, dass das Töten von Tieren eine emotionale und emphatische Distanzierung erfordere. Smith fragt nach den Folgen dieser Arbeit für die Schlächter und sieht im Schlachthof a site of potential moral danger and conflict for contemporary cultural logic. In the abattoir we risk coming face to face with the animals themselves as self-expressive entities and sometimes, in their final moments, their voices can awaken us from our ethical apathy.76
Die ethische Apathie, auf die Mick Smith verweist, ist für die Soziologin Amy J. Fitzgerald eine Folge der gesellschaftlichen Unsichtbarmachung des Schlachtens. Fitzgerald fragt nach „[e]ffects on the physical environment and human health“77 für die Schlachthofarbeiter und nach ihren gesamtgesellschaftlichen 71 72 73 74
Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 58-94. Vgl. auch: DeMello, Animals and Society, S. 130-131. Kathan, Zum Fressen gern, S. 64. Smith schreibt vom „modern humanity‘s attempt to distance itself from its own animality“. Smith, Mick: The ‚Ethical‘ Space of the Abattoir: On the (In)human(e) Slaughter of Other Animals. In: Human Ecology Forum 9, 2002, 2, S. 49-58, hier S. 50. 75 Vgl. Carlson, Laurie Winn: Cattle. An Informal Social History. Chicago 2001, S. 118. 76 Smith, The ‚Ethical‘ Space, S. 49. 77 Fitzgerald, Amy J.: A Social History of the Slaughterhouse: From Inception to Contemporary Implications. In: Human Ecology Review 17, 2010, 1, S. 58-69, hier S. 63-66.
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Auswirkungen. Dabei beschreibt sie ein wachsendes Spannungsverhältnis zwischen dem industrialisierten Töten von Tieren in Schlachthäusern und einem gesellschaftlich bewussteren Konsumverhalten, das mit dem zunehmenden Bedürfnis für „artgerechte“ Haltung und ein „humanes“ Töten der Tiere einhergehe. Fitzgerald spricht hierbei von einer Spannung „between the modern slaughterhouse and postdomestic cultures“78. Auffallend ist, dass den hier genannten Studien, die Mensch-Tier-Beziehungen akzentuieren, eine körperhistorische Kontextualisierung und Perspektivierung dieses Untersuchungsgegenstandes fehlt. Die Körpervergessenheit hat zur Folge, dass Fragen nach der Wissensaneignung durch konkrete Arbeitspraktiken und den Umgang mit dem tierischen Körper nicht gestellt werden. Unbeantwortet bleibt, in welchem Zusammenhang das Arbeiten und Verarbeiten des Tierkörpers mit dem körperlichen Selbstbild von Fleischern stand und inwiefern sich dieses aufgrund arbeitsorganisatorischen Wandels veränderte. Gerade ein Blick auf die sinnliche Dimension fleischhandwerklicher Arbeit kann Aufschluss darüber geben, wie Fleischer physische Anstrengungen im Schlachthof bewältigten und welche beruflichen Ideale und Vorstellungen von Tieren, die sie schlachteten, sie aushandelten. Zudem kommt in diesen Arbeiten der Bezug zu übergeordneten Prozessen auf städtischer sowie gesamtgesellschaftlicher Ebene abhanden. Eine Einbettung des Mensch-TierVerhältnisses in stadtpolitische Kontexte, zum Beispiel Fragen nach der Herausbildung einer neuen Form von Kommunalpolitik und infrastrukturellen Versorgungsherausforderungen der wachsenden Großstadt, bleibt aus. Gerade die Dimension urbaner Modernisierung bietet die Möglichkeit einer sozialhistorischen und stadtgeschichtlichen Grundierung, die einen vielversprechenden Zugang zur Erforschung gesellschaftlicher Vorstellungen auf Tiere eröffnet. Im emiprischen Teil der vorliegenden Untersuchung werde ich daher den epistemischen Wandel des Blickhorizontes auf Nutztiere in Bezug zu den kommunalpolitischen Agenden und Modernisierungen der Versorgungsinfrastrukturen im 19. Jahrhundert setzen.
2.2.2 Akteursvergessenheit I: Umwelt- und Versorgungsgeschichte Untersuchungen zur Umwelt- und Versorgungsgeschichte stellen eine weitere thematische Verdichtung in der Schlachthofforschung dar. Sie verorten die Errichtung von öffentlichen Schlachthäusern im 19. Jahrhundert im Kontext von städtischen Versorgungspolitiken und des damaligen Diskurses um Stadthygie78 Ebd., S. 66.
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ne, befassen sich mit infrastrukturellen Reformen der Kommunen auf dem Gebiet der sogenannten Assanierung79 und fragen nach den ökologischen Folgen der industrialisierten Fleischproduktion und intensiven Viehhaltung. Schließlich stellt die Verfügbarmachung von Tieren und deren Konzeption als organische Ressourcen für den städtischen Bedarf einen weiteren Schwerpunkt von Forschungen zur Umwelt- und Versorgungsgeschichte dar. Dabei beschreiben die Autorinnen und Autoren, wie die kommunalen Verwaltungen der Städte Tiere als naturgegebene Rohstoffe imaginierten und in ökonomisches Kapital verwandelten. Erwähnung finden Schlachthöfe in einigen Arbeiten zum städtischen Marktwesen, Fleischkonsum und zur städtischen Fleischversorgung80 sowie in stadthistorischen Studien, die das Fleischerhandwerk im Kontext der Nahrungsmittelindustrie untersuchen.81 Für Österreich weist die wissenschaftliche Erforschung des Fleischerhandwerks erhebliche Desiderata auf. Die wenigen Untersuchungen sind Regionalstudien und behandeln vorwiegend organisationspolitische Entwicklungen der jeweiligen Metzgerzünfte einer Stadt.82 79 Vgl. Rella, Die Assanierung der Städte, S. 273-282. 80 Eine Zusammenstellung von Untersuchungen für den deutschsprachigen Raum gibt: Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Technikgeschichte, S. 91, Fußnote 6, 7 und 8: Burgholz, Dieter: Die wirtschaftliche Entwicklung von Märkten, Messen und Schlachthöfen. In: Pohl, Hans (Hg.): Kommunale Unternehmen. Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden 1987, S. 88-124; Nonn, Christoph: Fleischvermarktung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996, S. 53-75; Teuteberg, Hans Jürgen: Studien zur Volksernährung unter sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten. In: Ders./Wiegelmann, Günter: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung. Göttingen 1972, S. 13-221, hier S. 94-132. 81 Vgl. Aybar, Canan: Geschichte des Schlacht- und Viehhofes München. München 2005; Bieringer, Liane: Die Geschichte des Schlacht- und Viehhofes der Stadt Karlsruhe von 1928 bis in das Jahr 1988. Hannover 1991; Haenger, Peter: Das Fleisch und die Metzger. Fleischkonsum und Metzgerhandwerk in Basel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zürich 2001; Hämmerle, Miriam Alexa: Geschichtliche Entwicklung des Pforzheimer Schlachthofwesens (1870–1980). Hannover 2009; Hofschulte, Bernhard: Die Geschichte des Schlacht- und Viehhofes der Stadt Karlsruhe bis zum Jahre 1927. Hannover 1983; Keller, Barbara: Von Speziererinnen, Wegglibuben und Metzgern: Lebensmittelhandwerk und -handel in Basel 1850–1914. Zürich 2001; Martin, Max: Die Geschichte des Schlacht- und Viehhofes der Stadt Pforzheim. Pforzheim 1950; Schindler-Reinisch, Susanne (Hg.): Berlin Central-Viehhof. Eine Stadt in der Stadt. Berlin 1996; Suchfort, Klaus: Der Schlachthof in Gießen. Ein Beitrag zur Geschichte der Veterinärmedizin. Gießen 1997. 82 Vgl. Buchner, Thomas: Möglichkeiten von Zunft. Wiener und Amsterdamer Zünfte im Vergleich (17.–18. Jahrhundert) Wien 2004; Grass, Nikolaus/Holzmann, Hermann: Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks. Innsbruck 1982; Reschauer,
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Zudem scheint das Interesse an Handwerksgeschichte mit dem Jahr der Einführung des Gewerbegesetzes in Österreich (1859) zu enden und generell eine starke Fokussierung auf handwerkliche Zunftgeschichte zu bestehen.83 Wirtschaftspolitische Aspekte der Wiener Fleischversorgung und Preisentwicklung für Fleischprodukte sind insbesondere Gegenstand der älteren wirtschaftshistorischen Forschungsliteratur um die Wende zum 20. Jahrhundert. Hervorheben möchte ich die Arbeiten von Wilhelm Felling, Friedrich Kardosi und Ludwig Messing.84 Diese drei Autoren untersuchen das wirtschaftspolitische Engagement Wiener Behörden auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung, beklagen deren infrastrukturelle Mängel und fordern grundlegende Reformen. Sie plädieren für eine intervenierende Rolle des Staates und der kommunalen Behörden und fordern eine Erweiterung ihrer Kompetenzen. Zwar zeigen sie Verständnis für die Klagen Wiener Fleischer, lehnen jedoch deren Kritik an Reformbemühungen grundsätzlich ab. In ihrer Argumentation folgen Felling, Kardosi und Messing den Begründungen und Stellungnahmen der Wiener Behörden. Wie diese beharren auch sie auf einer Senkung der Fleischpreise, einer effizienteren Verwertung der sogenannten tierischen Abfallprodukte sowie einer intensiveren Zusammenarbeit des Fleischergewerbes mit Landwirtschaft und Industrie, deren Produktion auf tierische Fette (zur Seifen- und Margarinherstellung) und Häute (zur Lederverarbeitung) angewiesen war. Bei ihrer Lektüre erwecken diese Studien den Eindruck, ein akademischer Stoßtrupp kommunalpolitischer Reformer zu sein, deren Eifer sie mit wissenschaftlichen Argumenten zu stützen versuchen. Trotz ihrer reformapologetischen Ausrichtung geben Felling, Kardosi und Messing einen komprimierten historischen Überblick über die Probleme, die sich der Heinrich: Geschichte des Kampfes der Handwerkerzünfte und der Kaufmannsgremien mit der österreichischen Bürokratie. Vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 1860. Wien 1882. 83 So auch das FWF-Forschungsprojekt (1995–1998) zur Geschichte des Wiener Handwerks „Stabilität und Mobilität im Wiener Zunfthandwerk, 1740–1860“. Vgl. Steidl, Annemarie: Mobilität und Stabilität im Wiener Zunfthandwerk (1740–1860). Ein Projektentwurf. In: IV. Internationales Handwerksgeschichtliches Symposium, Veszprém 9.–11.11.1994. Budapest/Veszprém, S. 201-208. 84 Vgl. Felling, Wilhelm: Die Fleischversorgung der Stadt Wien. Unter besonderer Berücksichtigung der ersten Wiener Grosschlächterei-Aktien-Gesellschaft und des städtischen Übernahmsamtes. Aschaffenburg 1909; Kardosi, Friedrich: Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen im Wiener Fleischergewerbe. Wien 1913; ders., Wirtschaftspolitische Kritik; Messing, Ludwig: Die Wiener Fleischfrage mit Ausblicken auf Production, Gewerbe und Consumverhältnisse. Wien 1899. Siehe auch: Opll, Ferdinand: Studien zur Versorgung Wiens mit Gütern des täglichen Bedarfs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 37, 1981, S. 50-87.
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Stadt Wien auf dem Gebiet der Fleischversorgung stellten. Sie vermitteln einen zeitgenössischen Eindruck, welchen Stellenwert in der großstädtischen Versorgung Lebensmittelhandwerk und Nahrungsmittelindustrie einnahmen und mit welchen institutionellen, arbeitsorganisatorischen und infrastrukturellen Herausforderungen Behörden und Fleischer konfrontiert waren. Mit der aktiven, intervenierenden Rolle kommunaler Behörden, die für die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser ausschlaggebend war, befasst sich der Historiker Chris Otter.85 Er sieht darin eine von Delegation, Pragmatismus und Aushandlung getragene Politik, die eine neue Produktionsgeografie hervorbrachte und die für die „vitality of the city“86 von zentraler Bedeutung war. Maßgeblich für die Zentralisierung des Schlachtens und dessen Auslagerung aus dem öffentlichen Raum seien vor allem stadthygienische Motive gewesen.87 Zu diesem Ergebnis kommt auch die Historikerin Dorothee Brantz. Sie beschreibt am Beispiel von Schlachthofreformen im Berlin des 19. Jahrhunderts, wie sich Hygienepraktiken und die Angst vor Ansteckung wechselseitig bedingten.88 Das Risiko einer Übertragung von Krankheiten durch den Konsum von Fleisch führte zu einer Professionalisierung und immer lückenloseren Überwachung der Vieh- und Fleischbeschau. Wie auch in Wien verstärkte insbesondere die Entdeckung der Trichinellose89 bei den Verantwortlichen das Bedürfnis nach einer umfassenden und detaillierten Kontrolle der Fleischproduktion. Brantz verweist zudem darauf, dass auch Frauen als Inspektorinnen in den Schlachthäusern arbeiteten, was sie dazu ermächtigte, in einer ansonsten von Männern besetzten und maskulin kodierten Arbeit Fuß zu fassen. Die Historikerin Sydney Watts beschreibt am Beispiel der Grand Boucherie im Paris des 18. Jahrhunderts, wie hygieneorientierte Fragen zunehmend hinter kommunalpolitische Handlungsprämissen rückten, in deren Mittelpunkt die angenommenen Bedürfnisse der konsumierenden Bevölkerung standen.90 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Historikerin Kyri Watson Claflin 85 Vgl. Otter, Chris: The Vital City: Public Analysis, Dairies and Slaughterhouses in Nineteenth-Century Britain. In: Cultural Geographies 13, 2006, S. 517-537. 86 Ebd., S. 517. 87 Bereits die ältere Forschungsliteratur zur städtischen Versorgungsgeschichte verortet die Anfänge kommunalpolitischer Reformen und die Errichtung von öffentlichen Schlachthöfen im 19. Jahrhundert im Rahmen der sogenannten Stadthygiene und Assanierung des städtischen Raums. Vgl. Rella, Die Assanierung der Städte , S. 273-282; Weyl, Theodor (Hg.): Die Assanierung der Städte in Einzeldarstellungen, Bd. 1, H. 1. Paris/Leipzig 1900 und Bd. 1, H. 2. Wien/Leipzig 1902. 88 Vgl. Brantz, Dorothee: Animal Bodies, Human Health, and the Reform of Slaughterhouses in Nineteenth-Century Berlin. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 71-86. 89 Vgl. ebd., S. 74-75. 90 Vgl. Watts, Sydney: The Grande Boucherie, the „Right“ to Meat, and the Growth of Paris. In: Lee, Meat Modernity a.a.O., S. 13-26.
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in ihrer Untersuchung über die Schlachthöfe im Pariser Stadtviertel La Villette.91 Sie zeigt, wie im Rahmen der Modernisierung von Versorgungsstrukturen Fragen der öffentlichen Gesundheit allmählich hinter politische Regulierungsbestrebungen rückten. Zugleich schwächten die Zentralisierung und Kommunalisierung des Schlachtens die Fleischerzunft als politischen Akteur. Den strukturellen Wandel der Fleischproduktion untersucht auch die bereits zuvor genannte Soziologin Amy J. Fitzgerald. Am Beispiel der Schlachthöfe in Chicago beschreibt sie die Geschichte der nordamerikanischen Fleischindu strie als einen Wandel von einer räumlich zentralisierten hin zu einer zunehmend dezentralisierten Produktion und Versorgung.92 Während Ende des 18. Jahrhunderts die Behörden aus veterinär- und stadthygienischen Motiven Tierschlachtungen in öffentlichen Schlachthäusern am Rande der Stadt gebündelt hätten und im 19. Jahrhundert die Schlachtungen und Fleischproduktion immer mehr rationalisiert und industrialisiert worden seien, zeichnete die Fleischversorgung im 20. Jahrhundert eine Tendenz zur geografischen De zentralisierung der Schlacht- und Produktionsstätten aus. Mit der gegenwärtigen Fleischversorgung befasst sich der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin. Er kritisiert die heutige Fleischindustrie, die Tiere in einem ökonomischen Kalkül unterworfene Berechnungseinheiten verwandelt habe.93 Diese „Cattle Culture“ (Rifkin) sei beispielhaft für die Widersprüche der heutigen Fleischindustrie mit ihren globalisierten Produktions- und Versorgungsstrukturen. Während multinationale Unternehmen die Fleischproduktion monopolisiert und für einen kleinen Teil der Welt zugänglich gemacht hätten, seien die Kehrseite der Medaille Millionen vom Hungertod betroffene Menschen. In Industrienationen hingegen litten viele nicht mehr unter Fleischmangel, sondern am Überfluss des Fleisches, dessen übermäßiger Konsum schwerwiegende gesundheitliche Folgen habe.94 Eine Kritik an der gegenwärtigen Fleischindustrie übt auch die Literaturwissenschaftlerin Nicole Shukin. Wie Jeremy Rifkin vertritt sie die These, dass das arbeitsgliedrige und auf finanziellen Gewinn ausgerichtete Produktionssystem in der Fleischindustrie Tiere in akkumulierbare und erneuerbare Werkstoffe verwandelt habe. Zugleich sei die Arbeitsorganisation vorbildhaft für die 91 Vgl. Claflin, Kyri Watson: La Villette: City of Blood (1867–1914). In: Lee, Meat Modernity a.a.O., S. 27-45. 92 Vgl. Fitzgerald, A Social History, S. 58-69. 93 Vgl. Rifkin, Jeremy, Beyond Beef: The Rise and Fall of the Cattle Culture. New York 1992. 94 Vgl. auch: Schlatzer, Martin: Tierproduktion und Klimawandel. Ein wissenschaftlicher Diskurs zum Einfluss der Ernährung auf Umwelt und Klima. Wien 2010, S. 45-48 und 131-142.
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fordistische Fließbandproduktion gewesen.95 Shukin beschreibt eine Durchdringung des Lebens mit kapitalistischen Ordnungs- und Verwertungslogiken. Diese bestimmten dabei nicht nur menschliches Leben, sie etablierten zudem Grenzen zwischen vermeintlichen Spezies. Im Zentrum von Shukins Untersuchung steht der Begriff „rendering“. Aus post-marxistischer und -strukturalistischer Perspektive bezeichnet sie damit „both the mimetic act of making a copy […] and the industrial boiling down and recycling of animal remains.“96 Nach Shukin verknüpft die kapitalistische Verwertungslogik zwei scheinbar paradoxe Prozesse: Während Tiere in konsumfertige Fleischwaren zerlegt und transformiert würden, bediente sich die Werbung zugleich naturästhetischer Inszenierungen.97 Diese Verschränkung von Natur und (tierischem) Kapital, das heißt die Gleichzeitigkeit von industrieller Tötung, Zerlegung und Verarbeitung von Tieren einerseits und dem Bewerben der Fleischwaren mit einer naturromantischen Ästhetik andererseits, stelle einen zentralen Aspekt der kapitalistischen Produktion dar, so Shukin. Nicht von ungefähr verweist die Etymologie des Kapitalbegriffes auf dessen tierische Provenienz, zum Beispiel: „Pecunia“ (Vermögen, Geld, Eigentum) und „Pecus“ (Vieh) im Latei nischen, „Stock“ (Kapital, Aktien, Viehbestand) im Englischen oder „Fehu“ bzw. „Fihu“ (Vieh, Vermögen) im Althochdeutschen.98 Die Vereinnahmung von Natur ist auch Untersuchungsgegenstand des Stadthistorikers Simon Gunn und des Geografen Alastair Owens. Beide beschreiben den Transport von Tieren in die Stadt als einen Transformationsprozess. Tiere, die städtische Behörden als natürliche Ressourcen und als etwas Außerhalb-der-Stadt-Gelegenes imaginierten, würden „de-vitalisiert“ und
95 Vgl. Shukin, Nicole: Animal Capital: Rendering Life in Biopolitical Times. Minneapolis 2009, S. 87-131. 96 Ebd., S. 20. 97 Vgl. zum Beispiel: L. & C, Hardtmuth: Wandverkleidungen [Werbung]. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 6.5.1910, Nr. 18, S. 8; Gross-Viehmarkt in Wiener Neustadt [Werbung für Rinderund Pferdemarkt]. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 27.5.1910, Nr. 21, S. 8. Vgl. auch: Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 271, Abb. 124. 98 Vgl. Carlson, Cattle, S. 32; Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Abt. 2. Leipzig 1951, Sp. 50-67, s.v. Vieh; Hribal, Jason: Animals are Part of the Working Class Reviewed. In: Borderlands 11, 2012, 2, S. 1-37, hier S. 4-5; Pfeifer, Wolfgang [u.a.]: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Q–Z. Berlin 1989, S. 1910-1911, s.v. Vieh; Salisbury, Joyce E.: The Beast Within. Animals in the Middle Ages, 2. Aufl. New York 2011 [Original: 1994], S. 10-33; Wilkie, Livestock/Deadstock, S. 25-26 und 115-116.
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„de-naturalisiert“99, wenn sie der Schlachthof für die Bedarfe der städtischen Bevölkerung vereinnahme. Damit ordneten die Behörden Tiere „der Natur“ zu und verorteten diese zugleich außerhalb der Stadt. Anhand dieses doppelseitigen Prozesses der semantischen Exklusion von „Natur“ aus der und ihrer praktischen Inklusion in die Stadt zeigen Gunn und Owens, wie die für die Lebensmittelversorgung zuständigen Behörden Tiere in „verstädterte“ und „sozialisierte“ ökonomische Werkstoffe verwandelten.100 Wiewohl die hier genannten Untersuchungen zur Umwelt- und Versorgungsgeschichte kommunalpolitischen Bemühungen um infrastrukturelle Reformen der Ver- und Entsorgung ihre Aufmerksamkeit schenken, die Studien zur Mensch-Tier-Beziehungen weitestgehend abhanden kommt, umgehen sie in vielen Fällen die spezifische Situation von Fleischern. Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der Modernisierung von städtischen Versorgungsstrukturen und dem Wandel handwerklicher Arbeitsformen bleiben aus. Der Fokus auf die Makroebene infrastruktureller Reformen führt zu einer Akteursvergessenheit, die die Wirkmächtigkeit übergeordneter Transformationen für die historischen Akteure aus dem Blick verliert.
2.2.3 Akteursvergessenheit II: Technik und Rationalisierung Akteursvergessen sind auch Untersuchungen zur Organisation und Technisierung der schlachtenden und fleischproduzierenden Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Sie befassen sich mit der Beschleunigung des Tötens im Zuge einer immer umfassenderen Technisierung und beschreiben diese als zentrale Bedingung und Komponente einer Rationalisierung von Arbeit, die Kraft-, Zeitund Kostenersparnis kennzeichneten. Die Autorinnen und Autoren verorten die Rationalisierung in der Tierschlachtung und Fleischindustrie im Kontext kapitalistischer Verwertungslogiken und sehen in der Arbeitsorganisation in Schlachthöfen des 19. Jahrhunderts den historischen Vorläufer fordistischer Produktionsweisen. Der Historiker und Soziologe Peter Wilding erwähnt Grazer und Wiener Schlachthöfe im Kontext eines Forschungsschwerpunktes zur Moderne.101 99 Gunn, Simon/Owens, Alastair: Nature, Technology and the Modern City: An Introduction. In: Cultural Geographies 13, 2006, S. 491-496, hier S. 493. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Wilding, Peter: Technik in der modernen Großstadt. Die Modernisierung der städtischen Infrastruktur in Wien und die Anfänge einer modernen urbanen Identität. In: Plitzner, Klaus (Hg.): Technik, Politik, Identität. Funktionalisierung von Technik für die Ausbildung regionaler, sozialer und nationaler Selbstbilder in Ös-
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Auch der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Gerhard Melinz, die Historikerin Susan Zimmermann sowie der Historiker Peter Csendes beschreiben im Rahmen von Städtevergleichen die Errichtung von kommunalen Schlachthöfen als bezeichnendes Beispiel für die „Technisierung der Stadt“102 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.103 Die Rationalisierung des Schlachtens steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung von William Cronon über die Entwicklung der Fleischproduktion in Chicago.104 Er zeigt, wie sich in den Schlachthäusern im 19. Jahrhundert allmählich eine Arbeitsorganisation herausbildete, die einzelne Arbeitsschritte auf mehrere Arbeiter verteilte und die den historischen Vorläufer der fordistischen Produktionsweise darstellt. Cronon spricht in diesem Zusammenhang von einer „disassembly line“ und nimmt dabei Bezug auf die Fließbandfertigung in der Automobilindustrie – mit dem Unterschied, dass in den Schlachthöfen Arbeiter nichts zusammenfügten, sondern Tiere in konsumfertige Fleischwaren zerlegten.105 Eine grundlegende Untersuchung über die Technisierung von Arbeitsprozessen, die Maschinisierung und Beschleunigung des Schlachtens ist nach wie vor Sigfried Giedions bereits weiter oben genannte „Herrschaft der Mechanisierung“106. Am Beispiel der Schlachthöfe in Chicago zeigt Giedion, wie die Aufteilung und Koordinierung einzelner Arbeitsschritte das Töten von Tieren in eine Fließbandproduktion verwandelten und menschliche Arbeit mechanisierten. Der Schweizer Architektur- und Technikhistoriker akzentuiert mit seiner „anonymen Geschichte“ (Giedion) die materielle Seite von terreich. Stuttgart 1995, S. 125-136; ders.: Technik und Urbanität. Der Ausbau der technischen Infrastruktur als Leitmotiv städtischer Modernisierung in Wien und Graz um 1900. In: Uhl, Heidemarie (Hg.): Kultur – Urbanität – Moderne. Differen zierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. Wien 1999, S. 243-286. 102 Lackner, Helmut: Ein „blutiges Geschäft“ – Zur Geschichte kommunaler Viehund Schlachthöfe. Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich. In: Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. Festschrift für Fritz Mayrhofer zur Vollendung seines 60. Lebensjahres, hrsg. von Schuster, Walter/Schimböck, Maximilian/Schweiger, Anneliese. Linz 2004, S. 805828, hier S. 806. 103 Vgl. Csendes, Peter/András, Sipos (Red.): Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert. Budapest/Wien 2003; Melinz, Gerhard/Zimmermann, Susan: Wien, Prag, Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867– 1918). Wien 1996. 104 Vgl. Cronon, William: Nature‘s Metropolis: Chicago and the Great West. New York/London 1992, S. 207-259. 105 Vgl. auch: Carlson, Cattle, S. 116. 106 Vgl. Giedion, Sigfried: Mechanisierung und Tod, S. 238-277.
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Arbeit, die geleitet von Prinzipien der Produktivitätssteigerung und Effizienz auch das Bild vom arbeitenden Menschen grundlegend verändert habe. Die Mechanisierung der Arbeit etablierte das Prinzip Maschine als wesentlichen Maßstab für menschliche Produktivität. Ein wachsendes Verfügbarmachen des Menschen in zunehmend rationalisiert gestalteten Arbeitsprozessen verstrickte diesen in ein Geflecht aus Werkzeugen, Maschinen und Arbeitsroutinen. Getrieben von dem Zwang der impliziten Logik mechanisierter Arbeitsanforderungen lernte der Mensch dem stummen Kommandieren der Maschine allmählich zu gehorchen.107 Giedion beabsichtigt mit seiner Untersuchung eine Kultur- und Gesellschaftskritik, wenn er das industrialisierte Morden in deutschen Vernichtungsund Konzentrationslagern mit dem Töten am Fließband in nordamerikanischen Schlachthöfen vergleicht108 und am Schluss seiner Studie appelliert, „daß wir wieder menschlich werden und alle unsere Unternehmungen von einem menschlichen Maßstab leiten lassen.“109 Wie im Feld der umwelt- und versorgungshistorischen Untersuchungen bleibt auch im Bereich der technik- und rationalisierungsorientierten Schlachthofforschung der Fokus stark auf arbeitsorganisatorischen Veränderungen verhaftet. Annäherungen an die Perspektive von Fleischern oder Schlacht hofarbeitern, Folgen von Technisierungs- und Rationalisierungspro zessen für das berufliche Selbstverständnis der Handwerker bleiben ebenso unhinterfragt wie ihre Strategien, neue Arbeitsbelastungen zu bewältigen. Überhaupt scheinen Fleischer und Schlachthofangestellte strukturellen 107 Insofern ist die deutsche Übersetzung von „Mechanization Takes Command“ mit „Herrschaft der Mechanisierung“ unglücklich, weil der statisch anmutende Begriff Herrschaft das prozessuale Verfügbarmachen menschlicher Wertschöpfung im mechanisierten Arbeitsprozess untergräbt. 108 Giedion sieht in der Rationalisierung und „Neutralität des Tötens“ einen Zusammenhang zwischen dem mechanisierten und industrialisierten Schlachten und der Shoa, wenn er fragt: „Hat diese Neutralität des Tötens eine weitere Wirkung auf uns gehabt? Dieser weitere Einfluß braucht durchaus nicht in dem Lande aufzutreten, das dieses mechanisierte Töten hervorgebracht hat, und durchaus nicht unmittelbar in der Zeit, in der es entstand. Diese Neutralität des Tötens kann tief in unserer Zeit verankert sein. Sie hat sich in großem Maßstab erst im Zweiten Weltkrieg gezeigt, als ganze Bevölkerungsschichten, wehrlos gemacht wie das Schlachtvieh, das kopfabwärts am Fließband hängt, mit durchtrainierter Neutralität ausgetilgt wurden.“ Ebd., S. 277. Auch der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho verortet unter Bezugnahme auf Giedion die historische Genese der Tötungslogiken von Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten in den Schlachthöfen Chicagos. Vgl. Macho, Aufstand der Haustiere, S. 195. 109 Giedion, Sigfried: Der Mensch im Gleichgewicht. In: Ders., Die Herrschaft der Mechanisierung a.a.O., S. 769-778, hier S. 778.
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Settings hilflos, machtlos und ratlos ausgeliefert zu sein und prozessorientierte Perspektiven statischeren Momentaufnahmen hintenanzustehen.
2.2.4 Statik und Verlust: Beruflicher und sozialer Status von Fleischern Die letztgenannte Kritik an der fehlenden Prozessualität historischen Wandels trifft auch auf Arbeiten aus dem hier abschließend zu beschreibenden Schwerpunkt der Schlachthofforschung zu. Es handelt sich um sozial- und wirtschafts historische Untersuchungen, die die gesellschaftliche Dimension des Wandels fleischhandwerklicher Arbeitswelten in den Blick nehmen. Es liegen Studien vor, die den Schlachthof als einen Ort sozialer Konflikte beschreiben, und die Kommunalisierung und Rationalisierung fleischhandwerklicher Arbeit als verantwortlich für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und des beruflichen und sozialen Status von Schlachthofarbeitern zeichnen. Studien, die sich mit dem gesellschaftlichen Ansehen von Schlachthofarbeitern befassen, untersuchen die öffentliche Wahrnehmung von Schlachthöfen, die von der Stadtbevölkerung häufig als zwielichtige, gewalttätige und verruchte Orte in der städtischen Topografie, die es zu meiden galt, wahrgenommen wurden und werden. Dieser Frage geht der Sammelband „Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse“110 nach. Die von der Kunst- und Architekturhistorikerin Paula Young Lee herausgegebene Anthologie vereint zwölf Aufsätze von Forscherinnen und Forschern aus den Cultural Studies, der Sozialgeschichte, den Urban Studies, der Anthropologie und Architekturgeschichte. Die Autorinnen und Autoren befassen sich mit der Genese der industrialisierten Fleischproduktion am Beispiel von verschiedenen Schlachthäusern in Europa, Mexiko und den USA im 19. Jahrhundert. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie den Schlachthof als einen „distinctive institutional space“111 beschreiben. Für die Autorinnen und Autoren stellt der Schlachthof einen sozialen Ort dar, an dem unterschiedliche Akteure aufeinandertrafen. Auf der Makroebene war dieser für sie zugleich als Bestandteil der städtischen Daseinsvorsorge untrennbar mit Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen verflochten. Dabei beschreiben die einzelnen Beiträge die Industrialisierung der Fleischproduktion und -verarbeitung als einen Prozess gesellschaftlicher Degradierung: Je größer die Städte wurden, je schneller deren Bevölkerung wuchs und je mehr die kommunalen Verwaltungen in die Organisation der Fleischversorgung eingriffen und Kompetenzen auf diesem 110 Vgl. Lee, Meat, Modernity. 111 Lee, Introduction, S. 8.
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Gebiet auf Kosten der Genossenschaften beanspruchten, desto mehr verwandelte sich in den Augen der Behörden und Einwohnerinnen und Einwohnern der Fleischerberuf von einem anerkannten Gewerbe in eine entwertete Arbeit. So beschreibt die Anglistin Lindgren Johnson am Beispiel New Orleans das Verschwinden des Schlachtens aus dem öffentlichen Raum und die Widerstände der Fleischer gegenüber den Zentralisierungs- und Regulierungsbestrebungen der städtischen Behörden. Fleischer lehnten diese als illegitime Eingriffe in tradierte Kompetenzen ab und erfuhren sie als einen Verlust ihrer politischen Mündigkeit.112 Auch der Historiker Roger Horowitz befasst sich mit Widerständen gegenüber Bestrebungen, die Fleischproduktion zu rationalisieren.113 Horowitz beschreibt am Beispiel New York Citys die Spannungen zwischen städtischen Behörden und Zuwanderinnen und Zuwandern. Stein des Anstoßes stellten vor allem deren Konsum- und Schlachtpraktiken dar, die sich Kontrollen durch die Behörden entzogen und mit dem Selbstverständnis vieler Beamten unvereinbar waren. Letztere nahmen für sich in Anspruch, die einzigen zu sein, die über die rechtmäßige Weise zu schlachten bestimmen durften. Mit den Arbeitsbedingungen von Schlachthofarbeitern im 19. und 20. Jahrhundert befassen sich die Historiker Dominic A. Pacyga und Jeffrey M. Pilcher.114 Am Beispiel Chicagos und Mexiko Citys zeigen beide, dass in der industrialisierten Fleischproduktion vor allem gering ausgebildete Arbeiter und Migranten beschäftigt waren, die unter körperlich und psychisch belastenden Bedingungen und unter einem rigiden Arbeitsregime schufteten. Pacyga verweist darauf, dass der Schlachthof als Arbeitgeber die Arbeiter auch nach Arbeitsschluss kaum aus seiner Einflusssphäre entließ. Die meisten von ihnen wohnten in dessen unmittelbarer Nähe. Weitere Arbeiten befassen sich mit der Frage, wie im 19. Jahrhundert Menschen Schlachthöfe in Städten, in denen sie lebten, wahrnahmen und untersuchen Fleischkonsum als distinktive Praxis. So verweist der Historiker Chris Otter in seiner Untersuchung über Schlachthöfe in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine widersprüchliche Bewertung von Produkt, Produktion und Produzenten in der öffentlichen Wahrnehmung. Während der 112 Vgl. Johnson, Lindgren: To „Admit All Cattle without Distinction“: Reconstructing Slaughter in the Slaughterhouse Cases and the New Orleans Crescent City Slaughterhouse. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 198-215. 113 Horowitz, Roger: The Politics of Meat Shopping in Antebellum New York City. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 167-177. 114 Vgl. Pacyga, Dominic A.: Chicago: Slaughterhouse to the World. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 153-166; Pilcher, Jeffrey M.: Abattoir or Packinghouse? A Bloody Industrial Dilemma in Mexico City, c. 1890. In: Lee, Meat, Modernity, a.a.O., S. 216-236.
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Verzehr von Fleisch häufig als distinktives Zeichen eines gutsituierten sozialen Status galt, beschrieben Einwohnerinnen und Einwohner hingegen den Ort der Fleischproduktion, den Schlachthof, und dessen Umgebung als schmutzig und bezeichneten Fleischer, die Produzenten der Fleischwaren, als dumpf, gefühlskalt, brutal und trunksüchtig.115 Hingegen stellten für die kommunalen Verwaltungen Schlachthöfe Prestigeobjekte dar. Der Historiker Marcus Gräser zeigt, wie die Chicagoer Union Stock Yards zum Sinnbild für eine rationalisierte und arbeitsteilige Produktion wurden. Sie machten die Stadt am Michigansee zum Inbegriff für die Herrschaft des Menschen über Tiere und Natur „und boten ein ‚image‘ an, das zusehends […] zu einem Synonym für das allgemeine Erscheinungsbild der Stadt wurde“116. Anzumerken ist, dass beim Gros der zuletzt vorgestellten Arbeiten über den beruflichen und sozialen Status von Fleischern die Geschichte des Handwerks als Degradierungs- und Verlustgeschichte erzählt wird. Wirtschaftliche und soziale Differenzen innerhalb der Fleischerkorporationen werden kaum expliziert. Im Hinblick auf Analysen sozialer Konflikte und des sozialen Status von Handwerkern dominieren wie in den anderen Themenfeldern der Schlachthofforschung auch hier Momentaufnahmen gegenüber zeitlich langfristigeren Untersuchungen. Resümierend ist das Forschungsdesiderat der kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Schlachthofforschung in der perspektivischen Zusammen hangslosigkeit der hier vorgestellten thematischen Verdichtungen auszumachen. Obwohl Schlachthöfe in den letzten zehn Jahren zum Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Forschungsdisziplinen geworden sind, fehlen dennoch Ansätze, welche die oben genannten Schwerpunkte zusammenführen. Hinzu kommt, dass keine Studien existieren, die am Beispiel eines Schlachthofes die Transformation fleischhandwerklicher Arbeitswelten unter Berücksichtigung ihrer ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Dimensionen in einer längerfristigen Perspektive untersuchen. Ebenso fehlen Ansätze zur Erforschung historischer Gefühlswelten von Fleischern im Kontext einer Techni sierung und Rationalisierung von Arbeitsprozessen. Auch die Frage, welcher 115 Vgl. Otter, Chris: Civilizing Slaughter: The Development of the British Public Abattoir, 1850–1910. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 89-106. Vgl. in demselben Band den Aufsatz von Day, Jared N.: Butchers, Tanners, and Tallow Chandlers: The Geography of Slaughtering in Early-Nineteenth-Century New York City. In: Lee, Meat, Modernity a.a.O., S. 178-197; Fitzgerald, Amy J./Kalof, Linda/Dietz, Thomas: Slaughterhouses and Increased Crime Rates: An Empirical Analysis of the Spillover from ‚the Jungle‘ into the Surrounding Community. In: Organization & Environment 22, 2009, 2, S. 158-184. 116 Gräser, Marcus: Chicagos „Eingeweide“. Schlachthöfe als Image. In: Porombka/ Reif/Schütz, Versorgung und Entsorgung a.a.O., S. 105-122, hier S. 105.
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Zusammenhang zwischen baulichen Veränderungen von Schlachträumen und Arbeitspraktiken besteht, ist bislang nicht gestellt worden. Hinzu kommt, dass körperhistorische Ansätze sowie Versuche, die ethische Dimension fleischhandwerklicher Arbeit aus historischer Perspektive zu untersuchen, nicht vorhanden sind. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen, indem ich die unterschiedlichen Perspektiven, Fragen und Dimensionen zueinander in Beziehung setze.
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3. Quellen In diesem Kapitel stelle ich die Quellenlage meiner Arbeit vor. Zunächst werden die verschiedenen Quellengattungen und deren Umfang aus einer quellenkritischen Perspektive beschrieben. Aus Gründen der Übersichtlichkeit untergliedere ich hier den Korpus in die jeweiligen Gattungen und stelle zu Beginn jedes Analyse-Kapitels (Kap. 5 und 6) diejenigen Quellen vor, die für diesen Teil der Untersuchung herangezogen wurden. Anschließend beschreibe ich, wie ich den Quellenkorpus für die Analyse aufbereitet und ausgewertet habe. In diesem Arbeitsschritt habe ich die Quellen exzerpiert, verschlagwortet und systematisch geordnet. Ziel dabei war, Material und Fragestellung derart zuein ander in Beziehung zu setzen, dass weder das Aussagepotential der Quellen durch eine zu enge Fragestellung eingeschränkt worden wäre noch dass wiede rum eine zu offene Fragestellung eine strukturierte Auswertung der Quellen erschwert hätte.
3.1 Gat tung und Umfang Der Materialkorpus besteht aus edierten und an ein öffentliches Publikum adressierten Quellen, Schriftzeugnissen behördlicher Provenienz, die für eine öffentliche Leserschaft nicht bestimmt waren, handschriftlichen, nicht-edierten archivalischen Dokumenten sowie Bildquellen. Letztere werden als visuelle Verdichtungen und Ästhetisierungen historischer Narrative gelesen und als dem Text nachgeordnet behandelt. Dies ist der fehlenden Rezeptions- und Verwendungsgeschichte sowie in den meisten Fällen anonymen Urheberschaft geschuldet.117 Zu den edierten öffentlichen Quellen zählen Zeitungen, die an Wiener Fleischer adressiert waren, Berichte des Wiener Tierschutzvereins, das Statistische Jahrbuch der Stadt Wien und die Branchenverzeichnisse des Wiener Adressbuchs „Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungsanzeiger“. Die beiden letztgenannten Quellen sowie historisch-archivalische Dokumente und Angaben, die ich
117 Das bildanalytische Verfahren erfolgt in Anlehnung an Kress, Gunther/Leeuwen, Theo van: Reading Images. The Grammar of Visual Design, 2. Aufl. London/New York 2006 und Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Berlin/New York Berlin 2004, S. 87-149. Untersucht werden die gestalterischen und kompositorischen Bildelemente und, soweit dies die Quellenlage zulässt, die Nutzungskontexte der Bilder. Diese werden als visuelle Narrationen und als semiotische Materialisierungen spezifischer kultureller Codes verstanden, die jeder sozialen Beziehung und sozialen Praxis inhärent sind.
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der älteren wirtschaftshistorischen Forschungsliteratur entnehme,118 ziehe ich für die Kontextanalyse heran (Kap. 5). Das seit 1883 jährlich erschienene Jahrbuch119, dessen erklärtes Ziel es war, „ein Gesammtbild des öffentlichen Lebens zu bieten“120, umfasst statistische Angaben zur städtischen Demografie, zu den wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnissen der Kommune, zu Reichsrats-, Landtags- und Gemeinderatswahlen sowie zur technischen Infrastruktur (das betrifft Erhebungen unter anderem zum Verkehrswesen, zur Wasserversorgung, Gasbeleuchtung sowie Lebensmittelversorgung). Für die Untersuchung des beruflichen und ökonomischen Kontextes (Kap. 5.1 und 5.2) sind insbesondere die darin aufgeführten Angaben zur Bevölkerungsentwicklung und zum städtischen Fleischkonsum relevant. Das Adressbuch „Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungsanzeiger“121 erschien seit 1859 im Abstand von ein bis zwei Jahren und seit 1870 einmal jährlich. Die darin nach Aufhebung der Zunftordnung (1859) seit dem dritten Jahrgang (1861) veröffentlichten Branchenverzeichnisse enthalten einen alphabetisch geordneten „Nachweis der Geschäfts- und Gewerbetreibenden nach Geschäften und Gewerben“.122 Unter Zuhilfenahme der Branchenverzeichnisse frage ich, wie sich die Zahl der im Wiener Fleischergewerbe Berufstätigen im Untersuchungszeitraum verändert hat und untersuche Prozesse einer beruflichen Ausdifferenzierung unter den Fleischern.
118 Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien; Kainz, Karl: Die Fleischversorgung großer Städte, insbesondere der Stadt Wien. In: Monatsschrift für Christliche Social-Reform, Gesellschafts-Wissenschaft, volkswirthschaftliche und verwandte Fragen, XI. Jg. Wien 1889, S. 97-104, 120-136 und 188-202; Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen; Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik; Messing, Die Wiener Fleischfrage; Schwiedland, Vorbericht; Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens. 119 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1, 1883 (1885)–32, 1914 (1918). Die Angabe in „()“ bezieht sich auf das Erscheinungsjahr der jeweiligen Ausgabe. Die davorstehende Zahl bezeichnet den Erhebungszeitraum der Daten. 120 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2, 1884 (1885), S. III. 121 Vgl. Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichshaupt und Residenzstadt Wien und Umgebung. Wien 1859–1942. Der „Lehmann“ erschien zwischen 1859 und 1942 in verschiedenen Verlagen. Ab 1948 wurde er von dem Wiener Adressenverlag „Herold“ als „Herold Adressbuch von Wien, früher Lehmann“ fortgeführt. Vgl. Mattl-Wurm, Sylvia/ Pfoser, Alfred: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859–1942. Wien 2011, S. 6-8, hier S. 6. 122 Vgl. Lehmanns‘ Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 3, 1861, III., S. 1-239.
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Die editorische Kontinuität des „Lehmann“ erlaubt es, statistische Angaben zu machen und in Kombination mit archivalischen Quellen eine „Stadtgeschichte im Mikro- und Makrokosmos zum Vorschein [zu] bringen.“123 Als günstig erweist sich der Umstand, dass das im „Lehmann“ 1859 registrierte Territorium, der Polizeirayon Wien, den späteren Gemeindegrenzen der Stadt entsprach. Hinzu kommt, dass die Lehmann-Redaktion mit der Wiener Polizeidirektion zusammenarbeitete, wovon beide Seiten profitierten. Die Wiener Polizeidirektion verfügte über die Ergebnisse der etwa alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen und Einwohner-Meldedaten.124 Für Polizeibehörden wiederum diente der „Lehmann“ als „ein ideales, unkompliziert zu nutzendes Instrument zur Identifizierung der Bürger“125. Die Datenerhebung über die Polizeibehörden führten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des „Lehmann“ auch auf den Umstand zurück, „weil das Publikum zu wenig mitarbeitete.“126 So stieß beispielsweise der Appell der Redaktion, dieser Adressenänderungen mitzuteilen, bei Wienerinnen und Wienern nur auf geringe Resonanz. Vor diesem Hintergrund wird die „Zuverlässigkeit grundsätzlich [als] sehr hoch“127 bewertet, lückenlos sind die Angaben im „Lehmann“ jedoch nicht. Denn nicht sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner Wiens wurden erfasst, allen voran „Gewerbegehülfen, Tagelöhner und Dienstboten“128, worin das bürgerliche Selbstverständnis des Herausgebers Adolph Lehmann zum Ausdruck kommt.129 Ausgeschlossen wurden zudem im Haushalt mitwohnende Familienmitglieder, da die „Lehmann“-Redaktion nur den Hausvorstand erfasste.130 Daher beziehen sich meine Angaben zur Zahl Wiener Fleischer auf selbständige Gewerbetreibende. Zu berücksichtigen ist zudem, dass einige Berufssparten im „Lehmann“ mit der Zeit zusammengefasst wurden. Ab 1887 wurden zum Beispiel zu den „Fleischhauern“ auch „Fleischverschleißer“ gerechnet und die „Fleischwaren-Verschleißer“ wurden ab 1901 zu „FleischselchwarenVerschleißern“.131 123 Pfoser, Alfred: Wien im Register. Eine Einführung. In: Mattl/Pfoser, Die Vermessung Wiens a.a.O., S. 13-41, hier S. 15. 124 Vgl. ebd., S. 20, 27 und 30. 125 Ebd., S. 20. 126 Ebd., S. 28. 127 Handbuch zur Benützung des „Lehmann Online“, S. 3. URL: http://www.wienbibliothek.at/dokumente/lehmann-handbuch.pdf [Stand: 15.9.2015]. 128 Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, A. Nachweis sämmtlicher Einwohner von Wien nebst Umgegend, mit Ausschluß der Gewerbegehülfen, Tagelöhner und Dienstboten. Wien 1859, S. 1. 129 „Wer keine eigene Wohnung hatte, den gab es im Wiener Adressbuch auch nicht“, urteilt der Bibliothekar Alfred Pfoser. Pfoser, Wien im Register, S. 32. 130 Vgl. ebd., S. 33 131 Als Verschleißer wurden Fleischhändler bezeichnet, die selbst weder schlachteten
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Zu diesen beiden Quellengattungen ( Jahrbuch der Stadt Wien, Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungsanzeiger) ziehe ich für die Analyse des beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontextes historisch-archivalische Quellen aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv hinzu, die nicht an eine öffentliche Leserschaft adressiert waren. Quellen dieser Provenienz bilden den größten Teil des Materialkorpus, der insgesamt circa 3.000 Schriftstücke umfasst. Relevant sind vor allem Archivbestände des Wiener Marktamtes,132 bestehend aus mehreren Serien und Einzelstücken, die in den empirischen Kapiteln (5 und 6) an gegebener Stelle vorgestellt werden und den größten Quellenkorpus für die Untersuchung der drei Transformationsdimensionen (Kap. 6) bilden. Dieser umfasst Briefe zwischen Fleischern, behördliche Korrespondenzen, Berichte des Wiener Marktamtes, des Magistrats sowie der niederösterreichischen Statthalterei. Hinzu kommen schriftliche Stellungnahmen des Wiener Tierschutzvereins, Stellengesuche von Fleischern an die Direktion des Schlachthofes St. Marx, Kundmachungen, Hausordnungen und Dienstvorschriften, mit denen die Schlachthofdirektion versuchte, die Arbeit zu normieren, des Weiteren Baupläne des Schlachthofes und angrenzenden Viehmarktes, anhand derer es möglich ist, bauliche Veränderungen nachzuvollziehen. Diese unterschiedlichen Quellentypen geben Einblicke in den geschäftigen Schlachthofbetrieb, behandeln die Rechte und Pflichten der Schlachthof- und Viehmarktangestellten und beschreiben Konflikte zwischen Fleischern, Aufsehern, Markthelfern und Viehhändlern. Sie dokumentieren Ordnungswidrigkeiten sowie verhängte arbeitsrechtliche Sanktionen und nehmen Bezug auf unterschiedliche Bereiche der Arbeit (Kontrollen, Viehverkauf, Reinigung der Schlachträume und Stallungen, Tierquälerei, Schlachtung, Enthäutung und Zerlegung von Tieren). Eine Quelle von besonderem Erkenntniswert stellen in diesem Zusammenhang die sogenannten Vorfallenheiten-Protokolle dar.133 Es handelt sich hierbei um insgesamt vier gebundene Bücher mit einem Umfang von jeweils circa 400 Seiten in einem DIN A3-Format, die für den Zeitraum von 1888 bis 1909 vorliegen. In diesen Büchern, deren Einführung das Wiener Marktamt initiiert noch Fleisch verarbeiteten, sondern dieses an andere Fleischer verkauften. 132 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4.Teil), Großschlächterei; ebd., A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3); ebd., A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6); ebd., Schlachtbrücken-Aufseher; ebd., Schlachtungsvorschriften (Mappe 9); ebd., A 2/1, 58, V (3.Teil), Vieh- und Fleischbeschau; ebd., Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917; ebd., 2.8.15. A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3. 133 WStLA, Marktamt, B54, Zentralviehmarkt, Rapportbücher, Vorfallenheitenprotokoll.
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hatte, beschreiben Aufseher sowie Nachtwächter handschriftlich Ereignisse und Vorfälle im Schlachthof und auf dem Viehmarkt in St. Marx, die für sie dokumentationswürdig waren. Die Vorfallenheiten-Protokolle ordne ich der Quellengattung der Merk- bzw. Anschreibebücher zu.134 Wie diese kennzeichnet jene ein geringer zeitlicher Abstand zwischen einem Ereignis und dessen schriftlicher Dokumentation – ein Aufseher oder Nachtwächter schrieb die Einträge während seiner Dienstschicht nieder. Die Vorfallenheiten-Protokolle sind wertvolle Quellen, um die historische Arbeitswelt von Wiener Fleischern in ihren zahlreichen Facetten zu untersuchen; vor allem im Hinblick darauf, dass Quellen mit selbstreferentiellen Bezügen für das Wiener Fleischerhandwerk im 19. und frühen 20. Jahrhundert weitestgehend fehlen.135 Weil Aufseher und Nachtwächter in diesen Quellen außer dem Außergewöhnlichen und Spektakulären vor allem das für sie Banale und Selbstverständliche festgehalten haben, machen sie den Schlachthof als sozialen Ort für eine historische Kulturanalyse zugänglich. Ertragreich ist auch eine Auswertung von Fleischerzeitungen. Diese beinhalten Abbildungen und ausführliche Beschreibungen von neuen Arbeitswerkzeugen und deren Anwendung, schildern Konflikte im Fleischergewerbe, verhandeln berufliche Vorstellungen und Ideale von fleischhandwerklicher Arbeit und geben Einblicke in die allgemeine Stimmungslage im Gewerbe. Für die Analyse habe ich die seit 1874 wöchentlich erschienene „Allgemeine FleischerZeitung“136, die seit 1894 viertägig herausgegebene „Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung“137 sowie die seit 1910 publizierte „Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung“138 herangezogen. Eine einzelne Ausgabe dieser Zeitungen umfasst circa drei bis vier Textseiten im 134 Anschreibebücher sind „alle buchführungsmäßigen, mehr oder weniger regelmäßigen privaten Aufzeichnungen über einen längeren Zeitraum“. Hopf-Droste, MarieLuise: Bäuerliche Anschreibe- und Tagebücher. Strukturentwicklung und Aussage. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Freiburg 1982, S. 131-144, hier S. 143, Fußnote 2. 135 Zur Unterscheidung von Autobiografien, Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten vgl. Schmolinsky, Sabine: Selbstzeugnisse im Mittelalter. In: Arnold, Klaus/Schmolinsky, Sabine/Zahnd, Urs Martin (Hg.): Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bochum 1999, S. 19-28. 136 Vgl. Allgemeine Fleischer-Zeitung, hrsg. von Dr. J. H. Hirschfeld (später Otto Maß), verantwortlicher Redakteur A. Münzer (später L. C. Heß). Wien 1874 ff. 137 Vgl. Wiener Fleischhauer- u(nd) Fleischselcher-Zeitung. Fach-Organ des Vereines der Fleischhauer- und Fleischselchermeister von Wien und Umgebung, hrsg. und redigiert von Georg Hütter. Wien 1893–1938. 138 Vgl. Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. Zentralorgan für Wahrung der Gesamtinteressen der Fleischhauer und Fleischselcher Österreichs, hrsg. von Georg Hütter. Wien 1910–1938.
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DIN A2-Format. Eingesehen habe ich jeweils eine Zeitungsausgabe pro Monat sowie zu bestimmten Feiertagen und besonderen Anlässen erschienene Exemplare. Aus quellenkritischer Perspektive war im Hinblick auf die Narrative und Argumentationen sowie die in den Zeitungen verhandelten Themen zu berücksichtigen, dass deren Herausgeber und Autoren diese als publizistische Vermittlerorgane zwischen Reformern, die technische und organisatorische Veränderungen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung begrüßten, und Fleischern, die an der vorhandenen kleinbetrieblichen Organisation des Handwerks festhielten, inszenierten.139 Die Herausgeber und Redakteure der Zeitungen waren selbst Fleischer. Sie befürworteten die Einführung neuer Schlachtinstrumente, Maschinen und Arbeitswerkzeuge, rechtfertigten Umbauten in den Schlachthallen oder auf dem Viehmarkt und zeigten Verständnis für Reformen. Zugleich entwarfen sie idealisierte Vorstellungen vom Fleischerhandwerk, das sie an eine berufsständische und an eine an der Zunftordnung orientierte Gewerbeverfassung anlehnten. Zudem war es wichtig, die Zeitungen im medialen Feld zu verorten und die Anforderungen an eine spezifische Publikationskultur zu berücksichtigen. Zwar erheben die Zeitungen den Anspruch, ein Stimmungsbild im handwerklichen Fleischergewerbe zu geben und die Meinung aller Wiener Fleischer zu vertreten. Sie stellen jedoch keine repräsentativen Organe des städtischen Fleischerhandwerks dar. Vielmehr verallgemeinern sie partikulare Interessen.140 Die Tragweite feldspezifischer Anforderungen auf Inhalt und Auswahl der Themen wird daran deutlich, dass diese in vielen Fällen in den Zeitungen einander gleichen. Sie orientierten sich mehr aneinander als an den vermeintlichen Bedürfnissen ihrer adressierten Leserschaft.141 Diese Tendenz zur Vereinheitlichung verstärkte das medienfeldimmanente Streben nach der aktuellsten Informati139 Vgl. Beim Beginn des neuen Jahrganges. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.1.1875, Nr. 1, S. 1; Correspondenzen. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, IV. Jg, 14.12.1874, Nr. 151, S. 1; Der Pariser Fastnachts-Ochse. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 10.2.1875, Nr. 3, S. 9; Ueber Selcherei. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 18.2.1875, Nr. 4, S. 14. 140 Vgl. Bauer, Wilhelm: Die Zeitung als Ausdrucksmittel der öffentlichen Meinung. In: Silbermann, Alphons (Hg.): Reader Massenkommunikation, Bd. 1. Bielefeld 1969, S. 42-67, hier S. 51. Zu einer solchen „strategie d‘universalisation“ im Allgemeinen vgl. Reckwitz, Andreas: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Hörning, Karl H. (Hg.): Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Bielefeld 2004, S. 40-52, hier S. 41. Zum Begriff der öffentlichen Meinung vgl. Bourdieu, Pierre: Die öffentliche Meinung gibt es nicht. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt/M. 1993, S. 212-223. 141 Vgl. Bauer, Die Zeitung, S. 55.
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on, der neuesten Nachricht und mitunter auch der größten Sensation. Berichte über die Einführung von neuen Schlachtwerkzeugen und Arbeitsmaschinen, die Gründung neuer Institutionen zur Verwertung von tierischen Nebenprodukten oder Reformen der städtischen Fleischversorgung sind im Kontext einer solchen „Jagd nach dem Scoop“142 zu verorten.
3.2 Aufbereitung Die Quellen wurden in einer achtmonatigen Recherchephase erhoben und fortlaufend in einer Tabelle dokumentiert. Das Korpus war dann „gesättigt“, wenn sich aus weiteren recherchierten Quellen keine neuen Themen, Aussagen oder Aspekte ergaben. Mein „Kriterium für die Korpusbildung und Befüllung des eigenen ‚Archivs‘ […] ist demzufolge Redundanz.“143 Wie nachstehende Abbildung 2 beispielhaft zeigt, enthält die Tabelle für die Quellendokumentation Angaben über den Aufbewahrungsort der jeweiligen Quelle sowie den Zeitpunkt und Ort ihrer Produktion, bestimmt den Quellentyp und benennt die/den Quellenproduzentin/-produzenten. Sie umfasst zudem ein Exzerpt bzw. Transkript der Quelle und einen Verweis auf ihre digitale Kopie. Diese Quellendokumentation ermöglicht einen umfassenden Überblick über den forschungsrelevanten archivalischen Quellenbestand und erleichtert einen systematischen Zugriff auf das Datenmaterial. Dieses habe ich nach dem zentralen Aussagegehalt der jeweiligen Quelle verschlagwortet und den Ebenen der Untersuchung „Räume und Normen“, „Technik und Handwerk“ sowie „Körper, Bilder und Erfahrung“ zugeordnet. Ausgehend von den Schlagwörtern habe ich in einem weiteren Schritt die Quellen thematisch geclustert und die in ihnen verhandelten Themen ausgelotet. Die thematischen Verdichtungen, die sich hier ergaben, dienten mir dazu, die drei Transformationsdimensionen in einzelne Themenfelder zu gliedern, die ich als Unterkapitel der jeweiligen Analyseebene zusammengefasst habe. Dieses Vorgehen schränkte das Aussagepotential der Quellen nicht ein, weil die mithilfe der strukturierten Dokumentation des Materials herausgearbeiteten Themenfelder ihrerseits auf die Fragestellung und damit die Auswertung zurückwirkten. Durch die wechselseitige Rückkoppelung von Quellenmaterial und Fragestellung habe ich versucht, 142 Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Frankfurt/M. 1998, S. 26. 143 Nieradzik, Lukasz: „Die Reise in den Schlachthof“ – Zum Umgang mit Quellen und Methoden am Beispiel eines Dissertationsprojektes zum Wiener Fleischhauerhandwerk im 19. Jahrhundert. In: Bürkert, Karin [u.a.] (Hg.): Nachwuchsforschung – Forschungsnachwuchs? Ein Lesebuch zur Promotion als Prozess. Göttingen 2012, S. 59-71, hier S. 69.
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eine mögliche Diskrepanz zwischen theoriegeleitetem Erkenntnisinteresse und Datenkorpus zugunsten einer quellengestützten inhaltlichen Strukturierung der Untersuchung zu überwinden und so das Material für eine historische Kulturanalyse aufzubereiten.144
Abb. 2 : Auszug aus Tabelle für die Quellendokumentation Übernommen und überarb. aus: Nieradzik, „Die Reise in den Schlachthof“, S. 65. In dieser Abb. verweist „Dateiname“ auf die Herkunft (in diesem Fall das Wiener Stadt- und Landesarchiv [WStLA]), das Schlagwort (in diesem Fall Tierquälerei [TQ]) und das Entstehungsdatum der Quelle (hier der 13. Oktober 1874 [13101874]).
144 Ein Auswertungsverfahren, wie ich es an anderer Stelle entworfen habe, ist im Laufe des Forschungsprozesses, wie hier dargelegt, modifiziert worden. Vgl. ebd., S. 66-68.
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4. Kulturanalyse der Relationen 4.1 Theoretische Annahmen und methodisches Vorgehen Das methodische Vorgehen stellt eine Kulturanalyse der Relationen in Anlehnung an Rolf Lindner145 dar, mit der die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt auf mehreren Ebenen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht wird. Den hier entworfenen multiperspektivischen Ansatz sehe ich in Tradition der historisch-archivalischen Methode der Münchner Schule,146 mikrohistorischer Zugänge147 und historisch-kulturanthropologischer Perspektivierungen.148 Die Kulturanalyse der Relationen zielt auf die Verschränkung von Mikrostrukturen einer Arbeitswelt zwischen Anforderungen und handwerklichen Traditionen mit den Politiken kommunaler Raumplanung und städtischer Versorgungsökonomien sowie mit translokalen Entwicklungen. Eine Untersuchung der sich verändernden Arbeitswelt von Wiener Fleischern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert ist untrennbar mit stadthistorischen Entwicklungen verbunden. Anders ausgedrückt: Historische Schlachthofforschung ist nur als Stadtforschung denkbar. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die unterschiedlichen Perspektivierungen und thematischen Schwerpunkte in einer historischen Kulturanalyse der Transformation fleischhandwerklicher Arbeitswelt zusammenzuführen. 145 Vgl. Lindner, Rolf: Vom Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde 99, 2003, S. 177-188. 146 Vgl. Kramer, Karl-Sigismund: Beschreibung des Volkslebens. Zur Entwicklung der „Münchener Schule“. München 1989, S. 6-33; Ders.: Zur Erforschung der historischen Volkskultur. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 19, 1968, S. 7-41; Moser, Hans: Gedanken zur heutigen Volkskunde. Ihre Situation, ihre Problematik, ihre Aufgaben. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1954, S. 208-234. 147 Vgl. Ginzburg, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Historische Anthropologie 1, 1993, 2, S. 169-192; Levi, Giovanni: On Microhistory. In: Burke, Peter (Hg.): New Perspectives on Historical Writing. Cambridge 1991, S. 93-113; Revel, Jacques: Microanalysis and the Construction of the Social. In: Revel, Jacques/Hunt, Lynn (Hg.): Histories. French Constructions of the Past. New York 1995, S. 492-502; Schulze, Winfried: Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema. In: Meier, Christian/Rüsen, Jörn (Hg.): Historische Methode. München 1988, S. 319-341. 148 Vgl. Göttsch, Silke: Archivalische Quellen und die Möglichkeiten ihrer Auswertung. In: Dies./Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde, 2. Aufl. Berlin 2007, S. 15-32; Lipp, Carola: Perspektiven der historischen Forschung und Probleme der kulturhistorischen Hermeneutik. In: Hess, Sabine/Moser, Johannes/ Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin 2013, S. 205-246; Wietschorke, Jens: Historische Kulturanalyse. In: Bischoff, Christine/Oehme-Jüngling, Karoline/Leimgruber, Walter (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Bern 2014, S. 160-176.
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Die Kulturanalyse zielt auf den Wandel konkreter Arbeitsformen, Praktiken der Generierung und Aneignung handwerklichen Wissens und deren Bedeutung für die historischen Akteure im Kontext übergeordneter wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Wie eingangs erwähnt, wird dabei der Schlachthof als paradigmatischer Ort konzipiert, an dem sich gesellschaftlicher Wandel en miniature zeigte. Weil nur wenige Fleischer Quellen mit selbstreferentiellen Bezügen hinterlassen haben und ich mich der emischen Perspektive der Akteure annähern möchte, werden die Quellen „gegen den Strich“149 gelesen. Je nach Erkenntnisinteresse kann an ein und dieselbe Quelle jeweils eine andere Fragestellung herangetragen werden, das heißt: Um einen Gegenstand in seiner Multidimensionalität zu erfassen, können und – angesichts der Komplexität sozialer Wirklichkeit(en) – sollten Quellen immer aus unterschiedlichen Perspektiven gelesen werden. Ein Dokument über unterschiedliche Methoden der Rinderschlachtung kann zum Beispiel unter dem Aspekt der Technisierung von Arbeit ausgewertet werden. Betrachte ich dieselbe Quelle aus einem körperhistorischen Blickwinkel, rückt jenes Ringen der Maschine mit der organischen Substanz, auf die Sigfried Giedion verwiesen hat,150 in den Mittelpunkt und damit auch die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die Menschen im Umgang mit Tieren und mit der Verarbeitung tierischer Körper hatten. Folglich kann ich eine solche Quelle auch auf die Wirkmächtigkeit von Tieren in Arbeitsprozessen hin untersuchen. Hinzu kommt, dass eine Quelle über Tierschlachtung im 19. Jahrhundert Aufschluss darüber geben kann, wie Fleischer, Veterinärmediziner, Kommunalbeamte oder Markthelfer sich Tiere vorstellten, welche Rollen und Funktionen sie ihnen zuwiesen und welchen ökonomischen und gesellschaftlichen Stellenwert sie ihnen zuschrieben. Daran anschließend lassen sich Fragen nach der ethischen und emotionalen Dimension der Arbeit stellen, ebenso wie danach, welche Idealvorstellungen Fleischer von handwerklicher Arbeit und vom Fleischerberuf hatten und inwiefern sie bestimmte Schlachttechniken als anstrengend erlebten. Und schließlich verweist eine solche Quelle immer auch auf die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kontexte ihrer Genese. Dass die Behörden Tierschlachtungen in kommunalen Schlachthöfen konzentrierten, wäre ohne den radikalen Wandel städtischer Bedarfslagen nicht denkbar. Indem sie diese räumlich bündelten, 149 Vgl. „Zwischen den Zeilen, gegen den Strich“. Interview mit Carlo Ginzburg (Gudrun Gersmann). In: zeitenblicke 1, 2002, 1 (8.7.2002). URL: http://www.zeitenblicke.de/2002/01/ginzburg/ginzburg.pdf [Stand: 15.9.2015]; Mohrmann, RuthE.: Zwischen den Zeilen und gegen den Strich – Alltagskultur im Spiegel archivalischer Quellen. In: Der Archivar 44, 1991, 2, S. 233-246. 150 Vgl. Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 261.
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entstanden neue arbeitsorganisatorische, technische und veterinärmedizinische Herausforderungen, die Menschen nur mit einem neuen Wissen und neuen Arbeitsweisen bewältigen konnten. Der Multidimensionalität des Untersuchungsgegenstandes versuche ich analytisch gerecht zu werden, indem ich die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt aus unterschiedlichen Perspektiven untersuche. Zunächst erarbeite ich die beruflichen, ökonomischen und sozialen Kontexte des Schlachthofes St. Marx mit einer historisch-archivalischen und statistischen Methode, um den Wandel der fleischhandwerklichen Arbeitswelt wirtschaftsund sozialhistorisch zu verorten (Kap. 5). Zur Veranschaulichung und aus Gründen einer besseren Lesbarkeit werden die statistischen Erhebungen in Grafiken übersetzt und die erhobenen Daten im Einzelnen an gegebener Stelle in den Fußnoten genannt. Sofern es die Quellenlage zulässt, werden die Daten im Längsschnitt erhoben. Ich setze die jeweiligen Erhebungen zueinander in Beziehung und kombiniere sie mit archivalischen Quellen, um Aussagen über den beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext des Schlachthofes St. Marx zu treffen. Anschließend untersuche ich die Transformationsdimensionen mit einem raum- und machtanalytischen (Kap. 6.1), technikorientierten (Kap. 6.2) sowie körperhistorischen Verfahren (Kap. 6.3). Die Raumanalyse umfasst mehrere Schritte. Zunächst beschreibe ich die bauliche Gestaltung des Schlachthofes und angrenzenden Viehmarktes sowie den Zusammenhang von Raum- und Arbeitsordnungen. Dabei setzte ich einen wechselseitigen Zusammenhang von Raum und Handeln voraus und verstehe Räume als materielle, soziale, durch Handeln hervorgebrachte und verstetigte Gebilde. Raum wird im Handeln strukturiert und strukturiert zugleich das Handeln.151 Daran anschließend untersuche ich in Anlehnung an Michel Foucaults Machtanalysen152 und Erving Goffmans Arbeit über soziale Institutionen153, wie Fleischer und Aufseher über Raumordnungen ihre Beziehungen untereinander verhandelten und inwieweit auch die Genese und Etablierung von Macht, Wissen und sozialen Hierarchien eine räumliche Dimension hatte.
151 Die Soziologen Bernd Hamm und Ingo Neumann definieren Raum als ein „Strukturierungsmoment sozialer Interaktionen“. Hamm, Bernd/Neumann, Ingo: Ökologische Soziologie, Bd. 2: Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie. Opladen 1996, S. 52. 152 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1977; ders.: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M. 1977. 153 Vgl. Goffmann, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. 1973.
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An die Raumanalyse schließt eine technikorientierte Untersuchung an. Technik verstehe ich als ein dreidimensionales Phänomen – als Artefakt, Wissen und Hinterlegung von Arbeitspraktiken.154 Als Artefakt war Technik zunächst ein Gebrauchsgegenstand, mit dem Fleischer Herausforderungen der Arbeit bewältigten. Ihr Gebrauch von Werkzeugen und Maschinen verringerte körperliche Anstrengungen und beschleunigte das Arbeiten. Technik war damit immer auch eine Hinterlegung von Arbeitspraktiken. Der Gebrauch von Techniken umfasste zudem ein implizites Wissen, ein neues Werkzeug oder eine neue Maschine zu bedienen. Ich untersuche die Narrative von Wiener Fleischern über handwerkliche Arbeitsformen im Kontext einer zunehmend technisierten Arbeit (Kap. 6.2.1), beschreibe Technisierung als Modernisierung der Fleischproduktion (Kap. 6.2.2) und frage, inwiefern sich infolge der Einführung neuer Techniken die fleischhandwerkliche Arbeitsethik veränderte (Kap. 6.2.3). Schließlich wird die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt mit einem körperhistorischen Ansatz untersucht. Ich gehe davon aus, dass „jede Veränderung im Umgang mit dem Körper […], die durch den Wandel der Produktionsverhältnisse bedingt ist, […] selbst auch den Wandel der Produktionsverhältnisse konstituiert“155. Das bedeutet, dass ein Wandel der Arbeitsorganisation und Arbeitspraktiken immer auch einen Wandel der körperlichen Dimension von Arbeit umfasst. Ich frage nach dem medizinischen Körperwissen von Wiener Fleischern und Ärzten am Beispiel ihrer Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit (Kap. 6.3.1) und beschreibe die vielfältigen Praktiken, mit denen sie tierische Körper für einen ökonomischen und medizinischen Nutzen verfügbar machten (Kap. 6.3.2). Ich zeige, wie Fleischer Erzählungen verkörperlichter Arbeitserfahrungen dazu nutzten, ein bestimmtes berufliches Körperideal narrativ zu verstetigen und frage nach dem Zusammenhang zwischen der eigenen Körpererfahrung und dem beruflichen Körperideal (Kap. 6.3.3). Das einander bedingende Wechselspiel von Körperbildern und Körpererfahrungen ermöglicht einen Zugang zur Erforschung einer historischen Arbeitswelt.156 Dabei untersuche ich, wie Fleischer männliche, weibliche und tierische Körperbilder dachten und inwiefern anhand des Verhältnisses dieser drei narrativ verstetigten Konstrukte übergeordnete Prozesse der Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt greifbar werden. Die thematische 154 Vgl. Rammert, Werner: Technik. Stichwort für eine Enzyklopädie [Technische Universität Berlin, Institut für Soziologie, Techniksoziologie, Working Papers 1, 1999]. Berlin 1999. URL: http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/881/ ssoar-1999-rammert-technik_stichwort_fur_eine_enzyklopadie.pdf ?sequence=1 [Stand: 15.9.2015]. 155 Becker, Körper und Arbeit, S. 57. 156 Vgl. Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin 1995, S. 21 und 33.
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Klammer dieses körperhistorischen Dreischritts bildet die Frage, wie Fleischer, Aufseher, Ärzte und Markthelfer vermittels ihres Wissens über Körper, Praktiken, die auf Körper zielten, und durch Narrationen verkörperlichter Erfahrungen ihre sozialen Beziehungen untereinander aushandelten.
4.2 Begriffsklärungen Einer näheren Erklärung bedürfen an dieser Stelle noch einzelne Begriffe, derer ich mich in der Untersuchung bediene. Mein Verständnis dieser Termini möchte ich offenlegen, um der Leserin und dem Leser nicht den Blick auf meine impliziten erkenntnistheoretischen Annahmen und Weichenstellungen zu verstellen, die sich in den jeweiligen Begriffen verdichten. Des Weiteren, auch das sei noch kurz erwähnt, ermöglicht eine Begriffsbestimmung sich innerhalb des wissenschaftlichen Diskussionsfeldes zu positionieren. Es sind im Einzelnen: Akteur, Erfahrung, Bild, Erzählung und Diskurs. So liegt dieser Arbeit ein ganz bestimmtes Akteursverständnis zugrunde. Ich richte meinen Blick nicht auf den Einzelnen. Akteure stehen hier nicht als Individuen im Vordergrund. Ich verstehe den Akteur als ein strukturiertes soziales Wesen und als einen Handlungsträger, dessen Handlungsdispositionen und -bedürfnisse sich aus der Spezifik sozialer Geflechte ergeben. Nicht der einzelne Akteur und eine diesem zugeschriebene Handlungsmächtigkeit stehen im Vordergrund meiner Analyse, sondern die Handlungsspielräume, die immer kollektive, vernetzte, sozial geronnene Aktivierungszusammenhänge darstellen.157 Damit möchte ich für eine Perspektive plädieren, die Akteure innerhalb ihrer historischen und soziokulturellen Umwelt verortet und die Genese menschlicher Handlungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Ebenso bedarf der Erfahrungsbegriff, der insbesondere in Kapitel 6.3.3 für die Analyse zentral ist, einer näheren Erläuterung. Erfahrung meint hier zunächst ein Erfahrungswissen. Handwerkliches Know-how eigneten sich Lehrlinge und Gesellen an, indem sie ihren Meister beim Arbeiten beobachteten und nachahmten. Zudem ist es möglich – wenn auch aufgrund der Quellenlage nur vereinzelt (siehe Kap. 3.1) –, Erfahrung als eine subjektive Interpretation von Arbeitserlebnissen zu fassen und Antworten auf die Frage zu formulieren, wie Fleischer das konkrete Arbeiten und ihre Arbeitssituation erfahren haben. Die Quellenlage macht es häufig schwierig zwischen konkreten körperlichen
157 Vgl. Philo, Chris/Wilbert, Chris: Animal Spaces, Beastly Places. An Introduction. In: Dies. (Hg.): New Geographies of Human-Animal Relations. London 2000, S. 1-34, hier S. 17.
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Arbeitserfahrungen aus emischer Perspektive einerseits und der narrativen sowie verbildlichten Darstellung von Erfahrung andererseits zu unterscheiden. Die Indifferenz zwischen Erfahrungsdarstellung und Erfahrungshandlung begrenzt die Reichweite und Aussagekraft der in der Untersuchung kombinierten Quellen. Denn von Fleischern vorhandene Erzählungen über körperliche Erfahrungen beim Arbeiten sind untrennbar verbunden mit spezifischen Körperbildern, die in unterschiedlichen medialen Formaten und Kommunikationsformen in das Bild des Fleischerhandwerks als einer Solidargemeinschaft eingebaut wurden.158 In praxi ist folglich die Trennung zwischen Erfahrung und Erzählung kaum aufrechtzuerhalten. In ihrem Arbeitsleben verinnerlichten Fleischer spezifische Körperbilder, die sie zum Ideal ihres eigenen körperlichen Selbstverständnisses und beruflichen Selbstbildes verstetigten. Idealisierte Körperbilder schufen einen Rahmen159, der die Möglichkeiten des Erfahrens und dessen Erzählens strukturierte. Hinzu kommt, dass das Erzählen von Erfahrungen nicht zwangsläufig aus einem der Erfahrung inhärenten Erzählwert hervorging, sondern durch das Erzählen selbst motiviert war. So berichteten Fleischer über Arbeitserlebnisse, weil ihnen allein dieses Erzählen erzählenswert erschien. Weiter lässt sich annehmen, dass erst das Erzählen Erlebnisse erfahrenswert machte. Trotz der genannten Schwierigkeiten, zwischen Erfahrungen und Erzählungen zu differenzieren, habe ich nicht auf den Erfahrungsbegriff verzichten wollen, betont dieser ein spezifisches, an ein persönliches Erleben gekoppeltes Wissensformat. Der Versuch, die Erfahrungsdimension der fleischhandwerklichen Arbeitswelt in den Blick zu nehmen, erlaubt es mitunter, Atmosphären am Arbeitsplatz nachzuspüren und dabei immer das diskursive Setting des Erfahrungs- und Erzählhorizontes mitzuberücksichtigen. Diskurse, um auch diesen Begriff einzuführen, werden in Anlehnung an Andreas Reckwitz als diskursive Praktiken verstanden.160 Diskurse sind sprachliche geordnete Aussagesysteme, die nur im sozialen Gebrauch, in ihrer Produktion, Rezeption und Reproduktion, eine Wirkmächtigkeit entfalten. Auch die vorliegende Arbeit ist keine neutrale Erzählung, sondern entwirft die Geschichte des Wandels der Arbeitswelt von Wiener Fleischern unter bestimmten Vorzeichen. Mein Narrativ folgt unter anderem der diskursiv bedingten Annahme, das Fleischerhandwerk lasse sich nur im Kontext gesamtstädtischer 158 Diesen Hinweis verdanke ich Klara Löffler. 159 Der Sozialwissenschaftler Michael Kauppert spricht vom Erfahrungsraum. Vgl. Kauppert, Michael: Erfahrung und Erzählung. Zur Topologie des Wissens. Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Giegel, 2. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 189-212. 160 Vgl. Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Frankfurt/M. 2008, S. 188-209.
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Entwicklungen begreifen, und auch ich erhebe mit dem multiperspektivischen und multidimensionalen Vorgehen Anspruch auf eine fundierte Analyse des Untersuchungsgegenstandes, die meinem wissenschaftlichen sowie auch ethischen Bedürfnis gerecht wird. Die diskursiven Implikationen dieser Untersuchung möchte ich daher offenlegen. So bin ich fest davon überzeugt, dass eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung eine historische Gegenwartsanalyse bieten kann. Mein zentrales Anliegen ist es, eine Geschichte urbaner Versorgung nachzuzeichnen, die die Genese unserer gegenwärtigen Fleischindustrie nachvollziehbar macht. Es geht mir darum, deren historische Prozessualität offenzulegen, um die Selbstverständlichkeiten unserer Denk- und Wahrnehmungshorizonte zu hinterfragen und die blinden Flecken unseres lebensweltlichen Blickes zu beleuchten; es geht darum, den Blickrahmen zu verschieben – den „gaze“, von dem Jacques Derrida gesprochen hat161 –, um die motivationale, emotionale und intellektuelle Distanz gegenüber den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Grundfesten der gegenwärtigen Fleischversorgung zu verringern. Es geht darum, einen Blick auf die Stellung des Fleischhandwerkers, als die sich Wiener Fleischer stets sahen, in der Moderne zu werfen und zugleich den Blick der jeweiligen Akteure auf die Moderne in Augenschein zu nehmen, soweit das möglich ist. Kurzum: Es geht um den modernen Menschen in der Moderne und dessen Blick auf die Moderne. Eine historisch orientierte kulturwissenschaftliche Analyse des Arbeitens in einem Schlachthof erlaubt Fragestellungen, die die Schnittstellen unterschiedlicher Forschungsperspektiven und methodischer Ansätze markieren. Die Multidimensionalität des Wandels erfordert eine multiperspektivische Herangehensweise, die die einzelnen Untersuchungsebenen zusammenführt. Eine raumsoziologische Untersuchung des Schlachthofes steht zum Beispiel ebenso noch aus wie eine historische Kulturanalyse von Mensch-Tier-Beziehungen in solchen Anlagen. Eine kulturanthropologische Untersuchung des Schlachthofes, die hier entworfen wird, umfasst machtanalytische, techniksoziologische, raumtheoretische und körperhistorische Ansätze. Sie setzt einen umfangreichen und vielfältigen Quellenkorpus voraus, um den Mikrokosmos Schlachthof in seinen komplexen Funktionsweisen und Wirkungsprinzipien erfassen zu können und erfordert eine Lesart der Quellen, die aufgrund ihrer vorwiegend behördlichen Provenienz nicht die repräsentierte Wirklichkeit mit der lebensweltlichen der Fleischer oder der Schlachthofangestellten gleichsetzt. Eine so verstandene historische Kulturanalyse, die den Wandel der fleischhandwerklichen Arbeitswelt in übergeordneten gesellschaftlichen Prozessen
161 Vgl. Derrida, Jacques: The Beast & the Sovereign, Bd. 1, Eleventh Session, March 13, 2002. Chicago 2009, S. 276-304, hier S. 292-293.
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verortet, macht es möglich, das historische „Gewordensein“162 kommunaler Versorgungspolitiken und handwerklicher Arbeitswelten im urbanen Raum über sechs Dekaden in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und legt zudem ein Mittel an die Hand, eine wissenschaftlich begründete, gesellschaftliche und politische Kritik an unserer Gegenwart zu leisten. Letzterer Gedanke verweist zugleich auf die wissenschaftsperspektivischen, erkenntnistheoretischen und moralischen Implikationen meiner Autorenschaft, die in besonderem Maß die historische Perspektivierung des Mensch-TierVerhältnisses berühren. Hier folge ich einem in Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Human-Animal Studies häufig kritisierten Blickwinkel, indem ich für Menschen die Handlungsträgerschaft in sozialen Prozessen reserviert und Tiere hingegen als Opfer anthropozentrischer Objektivierungen beschrieben habe. Diese Entscheidung ist zum einen den Quellen geschuldet, in denen Tiere als Werkstoffe menschlicher Verfügbarkeit und Formbarkeit verhandelt werden. Selbst Annäherungen an eine emische Perspektive der humanen Akteurinnen und Akteure bleibt in vielen Fällen aufgrund der behördlichen Provenienz zahlreicher Quellen verwehrt. Zum anderen habe ich die von mir erzählte Schlachthofgeschichte als an thropozentrische Narration entworfen, die den Vorwurf eines epistemologischen Speziezismus provoziert. Ich bin gegenüber der Apotheose tierischer Agency und den Proklamationen eines „animal turn“ im Kontext der rationalisierten Schlachtung misstrauisch. Gerade in diesem Fall birgt die Adressierung von Tieren als handlungsmächtige Akteurinnen und Akteure die Gefahr einer unbeabsichtigten Rechtfertigung historischer Gewalt- und Ausbeutungsstrukturen, wenn in diesen tierische Handlungsträgerschaften entdeckt werden, die eine Kreativität der Not und des Mangels idealisieren. Zugleich ist es ein wissensperspektivischer und erkenntnistheoretischer Irrtum zu glauben, der an thropozentrischen Falle entgehen zu können. Denn nur innerhalb der dominanten Episteme kann der bzw. dem Anderen Gehör verschafft werden.163
162 Vgl. Treibel, Annette: Die Soziologie von Norbert Elias. Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven. Wiesbaden 2008, S. 20-21; Elias, Norbert: Gesammelte Schriften, Bd. 5: Was ist Soziologie? Berlin 2006, S. 193-204. 163 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? In: Nelson, Cary/ Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. London 1988, S. 271-315, hier S. 275, 280 und 285-287.
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5. Wiener Fleischergewerbe 1851–1914 Kontexte des Schlachthofes St. Marx In diesem Kapitel untersuche ich den beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext des Schlachthofes St. Marx. Ich beschreibe die beruflichen Veränderungen im Wiener Fleischergewerbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und untersuche in diesem Zusammenhang die Konflikte zwischen Fleischern und städtischen Behörden (Kap. 5.1). Daran schließt eine Analyse des ökonomischen Rahmens an. Ich untersuche den Wandel der städtischen Bedarfslagen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, setze diesen in Bezug zu den beruflichen Veränderungen im Wiener Fleischergewerbe und frage, wie Fleischer ihren Geschäftsbetrieb finanzierten (Kap. 5.2). Anschließend verorte ich die Reformen auf dem Gebiet der Wiener Fleischversorgung im Kontext einer neuen Kommunalpolitik, die gesellschaftlichen Bedürfnissen hinsichtlich einer „sauberen Stadt“ ebenso entsprochen hatte wie europaweiten Entwicklungen im Bereich von Versorgungspolitiken (Kap. 5.3). Als Quellen zur Analyse des beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontextes ziehe ich das Statistische Jahrbuch der Stadt Wien, die Branchenverzeichnisse des Wiener Adressbuchs Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger und die vom Österreichischen Statistischen Zentralamt herausgegebenen Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert heran.164 Zudem verwende ich Artikel aus den Fleischerzeitungen,165 die wirtschaftshistorische und -politische Forschungsliteratur um die Jahrhundertwende, die an gegebener Stelle in den Fußnoten genannt werden, sowie archivalische Quellen aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv. Dazu gehören Quellen, die am Beispiel der Debatten um die Errichtung einer Großschlächterei Konflikte zwischen Fleischern und städtischen Behörden thematisieren, Angaben des Wiener Marktamtes zu Lohnverhältnissen im städtischen Fleischergewerbe und Akten der sogenann-
164 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1, 1883 (1885)–32, 1914 (1918); Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichshaupt und Residenzstadt Wien und Umgebung. Wien 1859–1942 [Branchenverzeichnis], hier 1861–1915; Österreichisches Statistisches Zentralamt: Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829– 1979. Tabellenanhang. Wien 1979. 165 Vgl. Allgemeine Fleischer-Zeitung; Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung; Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung.
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ten Fleischkasse (siehe Kap. 5.2.3), anhand derer ich das Kreditgebaren Wiener Fleischer untersuche.166
5.1 Beruflicher Kontext Die Analyse des beruflichen Kontextes zielt auf die Folgen kommunalpolitischer Reformen auf dem Gebiet der Wiener Fleischversorgung für das städtische Fleischergewerbe. Gefragt wird, inwiefern sich der Fleischerberuf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte und mit welchen Konflikten (zwischen Fleischern und Behörden sowie innerhalb des Handwerks) dieser Wandel einherging. Die folgenden Berechnungen beruhen auf den Branchenverzeichnissen des Adressbuchs „Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger“, einer für statistische Erhebungen für das Wiener Fleischergewerbe bislang unbeachteten Quelle (siehe Kap. 3.1). Statistische Erhebungen für die im Wiener Fleischergewerbe im 19. Jahrhundert berufstätigen Personen sind in mehrerer Hinsicht problematisch. Zum einen erschienen amtliche Quellen in zeitlich relativ großen Abständen (wie Berufsstatistiken im Rahmen von Volkszählungen zwischen 1869 und 1910 nur alle zehn Jahre). Zum anderen veränderten sich in den Quellen die berufsbezeichnenden Kategorien, die im diachronen Vergleich unterschiedliche Berufe zusammenfassten.167 Zudem ist nicht immer deutlich, ob die Zahlen die Wiener Vororte einschließen oder sich ausschließlich auf die Vorstädte beziehen. Infolgedessen sind Vergleiche und quantitative Veränderungen schwer nachvollziehbar und bisweilen spekulativ. Andere Quellen 166 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei; ebd., 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3. 167 So geben zum Beispiel die „Tafeln zur Statistik der Österreichischen Monarchie“ für das Jahr 1851 231 erwerbssteuerpflichtige „Fleischhauer und Stechviehhändler“ für Wien an (hier zit. nach: Steidl, Auf nach Wien, S. 150, Fußnote 347), 318 „Fleischhauer, Fleischselcher, Wurstmacher etc.“ für das Jahr 1853 und 223 „Fleischhauer“ für das Jahr 1862. Vgl. Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie für die Jahre 1852–1854. IX. Heft, B. Provinzial-Übersichten, Tafel 21 b): Statistische Uebersicht der Haupt- und Residenzstadt Wien für die Jahre 1852, 1853 und 1854. In: Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie, zusammengestellt von der Direction der administrativen Statistik im k. k. Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten. Neue Folge. II. Band. Die Jahre 1852, 1853 und 1854 umfassend. Wien 1859, S. 5; Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie, hrsg. von der k. k. statistischen Central-Commission. Neue Folge. V. Band. Die Jahre 1860 bis 1865 umfassend. Zweiter Theil. Cultur. 4. Heft: Gewerbliche Industrie. Wien 1871, S. 112.
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differenzieren wiederum nicht zwischen den unterschiedlichen Positionen der im Fleischergewerbe berufstätigen Personen.168 Die Bezeichnung „Fleischer“ verwende ich als übergeordneten Begriff für sämtliche im Fleischergewerbe berufstätigen Personen. Ich folge einer zeitgenössischen Definition, die Fleischer definiert als diejenigen Personen, die selbständig oder abhängig den gesamten Produktionsprozeß vom Einkauf des Viehs bis zur Verwägung und zum Verkauf der gewonnenen Ware gewerbsmäßig durchführen, sowie auf der anderen Seite solche Gewerbetreibende, die sich gewerbsmäßig lediglich mit der Schlachtung oder ausschließlich mit der Herstellung und dem Verkauf von Fleisch- und Wurstwaren beschäftigen.169
Bezeichnungen wie Fleischhauer, Fleischselcher, Fleischverschleißer oder Fleischselchwarenverschleißer gebrauche ich dann, wenn diese sich explizit auf die jeweilige Berufsgruppe beziehen. Der berufliche Wandel im Gewerbe wird als ein Prozess der Zentralisierung, Ausdifferenzierung und Professionalisierung beschrieben (Kap. 5.1.1). Anschließend untersuche ich die Konflikte zwischen städtischen Behörden, die einschneidende Reformen auf dem Gebiet der Fleischversorgung forderten, und den genossenschaftlich organisierten Wiener Fleischern, die auf einer kleinbetrieblichen Organisation des Gewerbes beharrten, das Ideal einer berufsständischen Wirtschaftsordnung begrüßten und Veränderungen grundsätzlich misstrauten (Kap. 5.1.2). Daran anknüpfend frage ich nach den Hierarchien innerhalb des städtischen Fleischergewerbes. Es soll gezeigt werden, dass für den beruflichen Erfolg der Geschäftsumfang einer 168 Die Berufsstatistik der Volkszählung vom Dezember 1890 führt zum Beispiel für die Wiener Innenstadt, Vorstädte und Vororte 7.190 „Berufstätige im Fleischergewerbe“ (Meister, Gesellen, Lehrlinge) auf, und die „Österreichische Statistik“ subsumiert für Wien für das Jahr 1910 21.054 Personen unter der Kategorie „Fleischerei, Selch- und Pökelwaren, Fleischkonserven“, worunter neben Selbständigen, Arbeitern, Lehrlingen und mithelfenden Familienmitgliedern auch Hausdiener und Tagelöhner fallen. Vgl. Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890 in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. 1. Heft: Analytische Bearbeitung und Reichsübersicht. Bearbeitet von dem Bureau der k. k. statistischen Central-Commission. II. Besondere Übersichten über die Berufsverhältnisse in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Tabelle II: Die Bevölkerung nach Hauptberufs- und Nebenerwerbsarten. Wien 1894, S. 42; Österreichische Statistik. Neue Folge, hrsg. von der k. k. statistischen Zentralkommission. 3. Band: Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, 1. Heft: Hauptübersicht und Besprechung der Ergebnisse. Wien 1916, Tabelle XII, S. 102-117, hier S. 110 sowie 2. Heft, Tabelle II: Berufsart und Stellung im Berufe, S. 38-45, hier S. 42 169 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 3-4.
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Fleischerei, die familiäre Herkunft des Fleischers und seine sozialen Beziehungen ausschlaggebend waren (Kap. 5.1.3).
5.1.1 Zentralisierung und Professionalisierung Den Wandel des Fleischerberufs zwischen 1850 und 1914 kennzeichnete ein Prozess der beruflichen Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Dieser war von der räumlichen Bündelung der Tierschlachtungen in kommunalen Schlachthäusern ebenso abhängig wie von der Zentralisierung des Fleischhandels in Markthallen. Auch die Gründung von Institutionen zur Verwertung von Tierhäuten und tierischem Körperfett, dem sogenannten Rohtalg, verstärkte den Prozess einer beruflichen Professionalisierung unter Wiener Fleischern. Die Errichtung der beiden öffentlichen Schlachthäuser in St. Marx und Gumpendorf (beide 1851 eröffnet) in Kombination mit dem Schlachthauszwang verstärkte die Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung.170 Auf diese Unterscheidung der fleischhandwerklichen Arbeit verweist unter anderem die Differenzierung von Berufsbezeichnungen im Wiener Fleischergewerbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Abbildung 3 zeigt. Zwischen 1860 und 1914 versechsfachte sich die Zahl der Fleischhauer und Fleischselcher von 479 auf 2.637 Personen.171 Dieser Anstieg war vorwiegend auf die Bevölkerungsentwicklung zurückzuführen; das Versorgungsgewerbe profitierte vom Bevölkerungswachstum.172 Zugleich verweist die wachsende Zahl der sogenannten Fleisch-, Fleischwaren- und Fleischselchwaren-Verschleißer auf einen beruflichen Ausdifferenzierungsprozess im Ge werbe. Verschleißer waren diejenigen Fleischer, die selbst nicht mehr schlachteten, sondern Fleischstücke auf dem Fleischmarkt kauften, diese entweder in verkaufsfertige Waren weiterverarbeiteten oder wiederum an andere Fleischer
170 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht des Markt-Dir Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, S. 1-3, 5 und 11-12, unpag.]. 171 Zwischen 1873 und 1905 verdreifachte sich die Zahl der Fleischhauer von 720 auf 2.077 (inklusive Fleischverschleißer) und bewegte sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums mit kleineren Schwankungen bei circa 1.900 Personen. Die Zahl der Fleischselcher/Fleischselchwaren-Verschleißer verdoppelte sich zwischen 1867 und 1914 von 390 auf 752 Personen. 172 Vgl. Feltl, Günter: 150 Jahre österreichische Gewerbepolitik unter dem Aspekt der Zugangsvoraussetzungen zur Gewerbeausübung. Wien 2011, S. 89. URL: http:// othes.univie.ac.at/14296/1/2011-04-02_6000041.pdf [Stand: 15.9.2015].
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absetzten.173 Die Fleischwaren-Verschleißer werden im „Lehmann“ seit 1883 als eigenständige Berufsgruppe geführt. Seit diesem Jahr unterschied der Gesetzgeber zwischen der Fleischhauerei und Fleischselcherei als zwei voneinander getrennten Gewerben.
Abb. 3 : Selbständig Beschäftigte im Wiener Fleischergewerbe 1860–1914 (eigene Berechnungen Quelle: Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichshaupt und Residenzstadt Wien und Umgebung. Wien 1859–1942 [Branchenverzeichnis], hier 1861–1915.
Mit einer Verordnung des Handelsministeriums vom 17. September 1883174 wurde die Fleischselcherei als ein „handwerksmäßiges Gewerbe“ anerkannt, dessen Ausübung an einen Gewerbeschein gebunden war. Nur selbständige Fleischhauer, die bereits vor 1883 gewerbsmäßig als Fleischselcher gearbeitet hatten, 173 So stieg allein die Zahl der Fleisch(selch)waren-Verschleißer zwischen 1883 und 1914 von 109 auf 648 Personen. 174 Vgl. Verordnung des Handelsministers im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern vom 17. September 1883, betreffend die Bezeichnung der handwerksmäßigen Gewerbe. In: Reichsgesetzblatt (im Folgenden: RGBl.), Jg. 1883, XLVI. Stück, ausgegeben und versendet am 28. September 1883, Nr. 148, S. 465-466.
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durften diesen Beruf auch nach diesem Jahr weiterhin ausüben. Andernfalls war es ausschließlich Fleischhauern vorbehalten, Rind-, Kalb-, Schaf- und Lammfleisch zu verkaufen, wohingegen Fleischselcher nur Würste und geräuchertes (geselchtes) Fleisch anbieten durften.175 Diesen beruflichen Ausdifferenzierungsprozess zeigen zudem die sinkenden Schlachtzahlen und steigenden Fleischimporte an. Zwischen 1857 und 1888 fiel die Anzahl der jährlichen Rinderschlachtungen mit Ausnahme der Jahre 1872–1873 und 1878–1881176 kontinuierlich von 97.974 auf 78.991.177 Während die Rinderschlachtungen somit innerhalb von circa 30 Jahren (1857–1888) um mehr als 20 Prozent sanken, stieg der Import von Fleisch nach Wien in demselben Zeitraum von 402.360 auf 12.883.473 Kilogramm.178 Die gleichzeitige Zunahme der Fleischimporte und die Abnahme der Rinderschlachtungen verstärkten die Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung, die einen zentralen Wandel im Wiener Fleischergewerbe darstellte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spezialisierten sich immer mehr Fleischer auf die Fleischverarbeitung oder den Fleischhandel. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz urteilte 1889: „Viele von den Wiener Fleischhauern haben das Schlachten von Vieh ganz aufgegeben und schroten blos Fleisch aus.“179 Vor allem in den Vor175 Vgl. o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft, S. 98-100; Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 7-10. 176 Zwischen 1872 und 1873 stieg die Anzahl der jährlichen Rinderschlachtungen auf 100.929, weil Besucherinnen und Besucher der Weltausstellung in Wien den städtischen Fleischkonsum erhöhten. Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 12; Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 18. Zwischen 1878 und 1881 erhöhten sich die Rinderschlachtungen, „weil wegen Herrschens der Rinderpest alle auf dem Viehmarkte angekauften seuchenverdächtigen Rinder im St. Marxer Schlachthause geschlachtet werden mußten“, bemerkte der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 133, Fußnote *. 177 Vgl. ebd., S. 133; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 8, 1890 (1892), S. 348. Die Angaben beziehen sich auf die beiden Schlachthäuser in den Wiener Vorstädten: das Schlachthaus in St. Marx (III. Bezirk) und Gumpendorf (VI. Bezirk). Die Schlachtungen in den bis 1890 selbständigen Vororten konnten aufgrund fehlender Quellen nicht erhoben werden. 178 Vgl. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 133; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 8, 1890 (1892), S. 352-353. Vor allem ab 1870 stieg die Fleischzufuhr enorm, was auf die Gründung des österreichischen Handels- und Approvisio nierungsvereins im Jahr 1873 zurückzuführen ist, der importiertes Fleisch an die Wiener Bevölkerung an insgesamt 14 Ständen in allen Vorstadtbezirken verkaufte. Wie der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz bemerkte, fand dieses Fleisch „wegen seiner Billigkeit nicht nur bei dem Publicum, sondern auch bei Fleischverschleißern, Wirthen und Auskochern sehr guten Absatz“. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 195. 179 Ebd., S. 132-133. Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 23.
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städten (heute die Wiener Gemeindebezirke II–IX) eröffneten in der zweiten Jahrhunderthälfte zahlreiche neue Fleischerläden.180 Dort ließen sich Fleischer nieder, die geschlachtete Tiere en gros, das heißt in großen Stücken, an andere Handwerkskollegen verkauften, die diese wiederum weiterverarbeiteten.181 Die zunehmende Trennung von tierschlachtender und fleischverarbeitender Arbeit erleichterte einem Gesellen den Weg in die Selbständigkeit. Sie führte zudem dazu, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kleinere Fleischer, die in der Woche zwei bis vier Rinder schlachteten, allmählich aus den Schlachthäusern verschwanden und sich der Fleischverarbeitung und Wurstherstellung widmeten.182 Ihr Fleisch bezogen diese Ladenfleischer von sogenannten Großschlächtern, die Tiere auf dem Wiener Zentralviehmarkt kauften, schlachteten und die Fleischstücke anschließend verkauften. Dieses Großschlächterei-System war zwar in Wien nie so stark ausgeprägt wie in anderen europäischen Großstädten – der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz behauptete noch 1889: „In Wien selbst bestehen gar keine eigentlichen Großschlächter, sondern nur Fleischhauer und Fleischverschleißer.“183 Auch der Wiener Magistratsrat Franz Wenzel, der Schlachthöfe in europäischen Städten besucht hatte, forderte 1874 das arbeitsteilige System der Großschlächterei in Wien auszubauen184 und der wirtschaftspolitische Autor Friedrich Kardosi urteilte noch 1913, dass „[i]n Wien […] die Großschlächterei noch stark aufnahme- und vermehrungsfähig“185 sei. Das Wiener Marktamt versuchte jedoch seit den 1890er Jahren die Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung mit der Gründung eines Großschlächtereibetriebs zu beschleunigen.186 Dieser „hätte den Einkauf der Thiere, die Schlachtung derselben, die Absonderung und Verwerthung der Nebenproducte zu besorgen und die in große Theile zer180 Vgl. ebd., S. 31. 181 Vgl. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 132. 182 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht des Markt-Dir Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, S. 1-3, 5 und 11-12]. 183 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 132. 184 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 210-212. 185 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 24. An anderer Stelle bemerkte Kardosi jedoch: „Die gewerbliche Großschlächterei hat sich in Wien in sehr kurzer Zeit eingebürgert. Ihr Hauptaufschwung erfolgte mit der Eröffnung des städtischen Schlachthauses und der Einführung des Schlachthauszwanges.“ Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 27. 186 Zu den Konflikten zwischen Fleischern und städtischen Behörden um die Einführung der Großschlächterei in Wien vgl. Nieradzik, Lukasz: „Dämon der modernen Zeit“. Der Konflikt um die Wiener Großschlächterei im 19. Jahrhundert. In: Schmidt-Lauber, Brigitta [u.a.] (Hg.): Wiener Urbanitäten. Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt. Wien/Köln/Weimar 2013, S. 94-108, hier S. 97-102.
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legten Thiere an die Detailfleischhauer zu verkaufen“187, verkündete die Behörde im April 1896. Ein solches arbeitsteiliges „System der Großschlächterei“188, wie es der stellvertretende Sekretär in der Wiener Handels- und Gewerbekammer Eugen Schwiedland forderte, hatten Kommunalpolitiker vereinzelt bereits in den 1870er Jahren propagiert. Sie hatten gehofft, dadurch die Fleischproduktion effizienter zu gestalten, den Konsum zu steigern, das im Verkauf angebotene Fleisch zu verbilligen und die Betriebskosten der einzelnen Fleischereien zu senken.189 Aber erst 1897 beschloss der Wiener Gemeinderat die Errichtung einer Großschlächterei, bis zu deren Gründung dann noch weitere acht Jahre vergehen sollten. Wie zuvor die Einführung des Schlachthauszwanges verstärkte auch die Einführung des Großschlächtereibetriebs einen Prozess der beruflichen Ausdifferenzierung zwischen denjenigen, die schlachteten, und denen, die Fleisch verarbeiteten.190 Nicht wenige Fleischer befürchteten, dass die fleischhandwerkliche Arbeit an beruflichem und gesellschaftlichem Stellenwert verliere, sollten sie fortan nur mit der Tierschlachtung betraut sein.191 Bei den meisten Fleischern verschwand diese Sorge jedoch zum Ende des 19. Jahrhunderts. Denn das Schlachten erforderte Routine und Erfahrung (siehe Kap. 6.2.1). Großschlächter engagierten anstelle von Lehrlingen vorwiegend „nur gelernte, nicht zu junge Gesellen, die das Schlachten mit den dazu gehörigen Nebenarbeiten bereits verstehen.“192 Hinzu kam, dass „von einer besonders differenzierten Arbeitsteilung keine Rede sein kein“193, urteilte 1913 Friedrich Kardosi, ein Kenner der Wiener Fleischversorgungsverhältnisse, und bemerkte: Beim Schlachten der Schweine z. B. tötet der eine die Tiere durch Betäubung und Bruststich, der nächste wirft sie in den Kessel, zieht die fertig gebrühten heraus und schabt sie ab, der dritte nimmt die Eingeweide aus, ein vierter schafft das
187 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht der IV. Section über die Frage der Einführung von Großschlächtereien in Oesterreich, Sitzung am 9.4.1896]. 188 Schwiedland, Vorbericht, S. 1. 189 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 210-212. 190 Vgl. Nieradzik, „Dämon der modernen Zeit“, S. 95. 191 Vgl. o.A. Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, abgehalten am 23., 24. und 25. Mai 1895 in Wien. Wien 1895, S. 2, 34 und 46-47; Schwiedland, Vorbericht, S. 40. 192 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 28. 193 Ebd., S. 27-28.
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Fleisch in die Kühlräume und besorgt die übrigen Nebenarbeiten, vor allem das Säubern der Därme.194
Neben der räumlichen Bündelung der Tierschlachtungen in St. Marx und Gumpendorf sowie der Einführung der Großschlächtereibetriebs verstärkte auch die Zentralisierung des Fleischhandels in Markthallen den Prozess einer beruflichen Ausdifferenzierung und Professionalisierung. Nach dem Vorbild der in den 1850er Jahren eröffneten Pariser Markthallen errichtete die Stadt Wien 1865 neben dem Zentralviehmarkt im dritten Gemeindebezirk die „Städtische Zentralhalle“. Anfänglich sollten in dieser wie in den Pariser Halles Centrales Lebensmittel versteigert werden. Da jedoch, wie der Wiener Ökonom Ludwig Messing bemerkte, für eine solche Auktionshalle „zu jener Zeit in Wien gänzlich das Verständnis und zu der auch hinsichtlich der zur Licitation gelangenden Fleischwaaren […] das Vertrauen fehlte“195, wurde sie am 11. September 1868 in eine Großmarkthalle für den Lebensmittelverkauf en gros und en detail umgestaltet.196 Dort eröffneten Fleischer Verkaufsstände, an denen sie vorwiegend aus Galizien importiertes Fleisch zu einem niedrigeren Preis als in privaten Fleischbänken anboten.197 Als am 5. Juli 1887 der Wiener Gemeinderat beschloss, den gesamten Fleischverkauf, der bis dahin auch in der Kälberhalle auf dem Wiener Zentralviehmarkt stattgefunden hatte, in vollem Umfang in die Großmarkthalle zu verlegen, wurde diese zum zentralen Ort für den Fleischverkauf in Wien. Dies zeigte sich allein an dem Anstieg der Fleischzufuhr in die Großmarkthalle, die sich gegenüber dem Vorjahr von circa 3,5 auf mehr als 7 Millionen Kilogramm verdoppelte.198 In den folgenden Jahren stiegen die Fleischimporte in die Großmarkthalle auf über 20,6 Millionen Kilogramm (1914) an.199 Bei der konsumierenden Bevölkerung stieß das importierte Fleisch auf große Akzeptanz. Es sei, urteilte zum Beispiel Ludwig Messing, 194 Ebd., S. 28. 195 Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 32. 196 Eine zweite Markthalle bestand zwischen Oktober 1898 und April 1903 im IX. Wiener Gemeindebezirk, wurde jedoch aufgrund eines zu niedrigen Umsatzes geschlossen. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 32, 1914 (1918), S. 573; Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 36; Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 25. 197 Vgl. Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 33-34. 198 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 8, 1890 (1892), S. 352-353, Tab. 13. 199 Vgl. ebd. 32, 1914 (1918), S. 574, Tab. 2. Zwischen 1871 und 1880 wurden dann angesichts des starken Bevölkerungsanstiegs im I. Bezirk sowie in den Vorstadtbezirken IV, VI, VII und IX insgesamt sechs Markthallen für den Detailverkauf von Fleisch errichtet. Vgl. ebd., S. 574.
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[b]emerkenswerth […], dass sich das in der Markthalle einkaufende Publicum derart an das importirte Fleisch gewöhnte, dass tadelnde Anstände erhoben wurden, wenn sich bei mangelhaften Einsendungen für die Detaillisten die Nothwendigkeit der Heranziehung frisch geschlachteten Fleisches – vom Viehmarkte – ergab.200
Die Großmarkthalle war ein Ort, an dem Fleischer zusammentrafen, die sich auf den Handel mit bestimmten Fleischsorten und Fleischqualitäten spezialisiert hatten. Dort begegneten Großschlächter kleineren Ladenfleischern, um von ihnen Fleischstücke von besserer Qualität zu kaufen und an sie Fleisch minderer Qualität (dafür aber in größeren Mengen) abzusetzen, und dort ließen sich auch „Specialisten“ nieder, „welche Primaqualitäten zum Verkaufe brachten“201. Die Großmarkthalle war eine Tauschbörse für Fleisch. Ihre Errichtung verstärkte die berufliche Ausdifferenzierung unter Wiener Fleischern, die sich auf den Kauf und Verkauf bestimmter Fleischsorten spezialisierten. Ihre Eröffnung beschleunigte damit wie zuvor der Bau von kommunalen Schlachthöfen und die Einführung des Schlachthauszwanges eine Professionalisierung im städtischen Fleischerhandwerk. Neben der Zentralisierung von Tierschlachtungen in kommunalen Schlachthöfen und vom Fleischhandel in der Großmarkthalle verstärkte diesen Prozess auch die Gründung von Institutionen zur Verwertung tierischer Nebenprodukte wie Häute, Talg und Blut. So betrieb zum Beispiel die 1905 gegründete „Erste Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft“202, die Tiere schlachtete und in großen Stücken an Ladenfleischer verkaufte, auf dem Gelände des Zentralviehmarktes eine eigene Albuminfabrik.203 Albumin, das aus dem Blut geschlachteter Tiere gewonnen wurde, bezeichnet ein Eiweiß, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem in der Herstellung von Fotopapier, dem sogenannten Albuminpapier, Verwendung fand, was für Fleischer, die für die Großschlächterei arbeiteten, einen wichtigen Nebenverdienst darstellte. Auch der Verkauf von Häuten, die in Gerbereien zu Leder verarbeitet wurden, oder tierischen Körperfetten (Rohtalg), die Seifensieder zur Kerzen- und Seifenherstellung verwendeten, wurde angesichts der steigenden Viehpreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (siehe Kap. 5.2.2) für immer mehr Fleischer zu einer wichtigen Einkommensquelle. Als seit den 1860er Jahren verstärkt Petroleum und Gas auf den Markt kamen, war es für Fleischer jedoch zunehmend 200 Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 34. 201 Ebd., S. 36. Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 26-27. 202 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Statuten der Ersten Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft, 1905]. 203 Vgl. Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 31; Mascher, Wesen und Wirkungen des Schlachthauszwanges, S. 30-31.
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schwierig, den Rohtalg abzusetzen. Hinzu kam, dass Seifensieder die Höhe der Verkaufspreise nach eigenem Ermessen festsetzten. Der Wiener Fleischhauer Julius Weißenberger resümierte, „daß, im Falle einer [ein Fleischer, L.N.] den Abnehmer wechseln wollte, jeder Seifensieder erklärte, genug Ware zu haben, wobei er die Trostesworte zufügte: ‚Sind sie froh, diesen Preis zu bekommen, ich könnte nicht einmal soviel geben‘.“204 Auch als Anfang der 1860er Jahre die in der Gemeinde Liesing südlich von Wien angesiedelte Firma F. A. Sarg‘s Sohn & Co. sich der Margarinherstellung widmete und Fleischern höhere Preise für eine bessere Rohtalgqualität bot, wurden diese von den Seifensiedern ausgeboten. Sarg sicherte den Seifensiedern zu, Rohtalg fortan nur von ihnen zu beziehen und bei Fleischern keinen mehr zu kaufen.205 Um sich gegen die Übervorteilung zur Wehr zu setzen, gründeten Wiener Fleischer eigene Wirtschaftsgenossenschaften für die Verwertung von Rohtalg. Zwischen 1884 und 1899 entstanden mehrere solcher Einrichtungen in Wien. Mit Ausnahme der „Wiener Margarinkompagnie“, die bei ihrer Gründung 1891 30 Fleischhauer als Mitglieder zählte und 1913 nur noch 23, stießen die beiden anderen Wirtschaftsgenossenschaften unter den Fleischern auf eine breitere Resonanz. Der „Wiener Fleischhauerkompagnie“ gehörten bei ihrer Gründung 18 Fleischhauer an, 1913 waren es 320. Die „Österreichische Fleischhauergenossenschaft“ zählte in demselben Jahr sogar 350 Mitglieder.206 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass die Errichtung von zwei kommunalen Schlachthäusern in St. Marx und in Gumpendorf sowie die Einführung des Schlachthauszwanges zu einer zunehmenden Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung führten. Immer weniger Fleischer schlachteten Tiere, immer mehr spezialisierten sich auf die Fleischverarbeitung und Wurstherstellung. Diesen Prozess der beruflichen Ausdifferenzierung und Professionalisierung zwischen denjenigen, die schlachteten, und denen, die Fleisch verarbeiteten, verstärkte auch die Konzentration des Fleischhandels in der Großmarkthalle. Fleischer standen diesen Entwicklungen keineswegs hilflos gegenüber, wie die Gründung von Wirtschaftsgenossenschaften zur Verwertung tierischer Nebenprodukte zeigt. Ebenso weist ihr Bestreben, sich auf die Verarbeitung von bestimmten Fleischqualitäten zu spezialisieren, die Fleischer als handelnde und gestaltende Akteure aus.207 204 Weißenberger, Julius: Über das Entstehen der Wirtschaftsgenossenschaften. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 125-128, hier S. 125. 205 Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftsliche Wechselwirkungen, S. 11. 206 Vgl. ebd., S. 12-13; Weißenberger, Über das Entstehen der Wirtschaftsgenossenschaften, S. 126-127. 207 Ein anderes Beispiel für das Bedürfnis und Bestreben, das Fleischerhandwerk aus eigener Kraft zu reformieren, stellt die Fortbildungsschule der Wiener Fleischhauer-
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Die Veränderungen, die ich hier beschrieben habe, verstärkten Konflikte zwischen Fleischern und städtischen Behörden. Für erstere war es keineswegs erstrebenswert, „zu bloßen Ladenfleischern herab[zu]sinken, die von den schlachtenden Genossen das Fleisch kaufen müssen“208, wie Eugen Schwiedland bemerkte. Der Wandel des Fleischerberufs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergrößerte die Spannungen und intensivierte Konkurrenzen unter den Fleischern. Wie ich im Folgenden zeigen werde, stärkten die Veränderungen aber zugleich das Bewusstsein der Wiener Fleischer, einer spezifischen sozialen Gruppe anzugehören und festigten soziale Hierarchien innerhalb der Genossenschaft.
5.1.2 Konflikte und Gruppenbildung Das Verhältnis zwischen Wiener Fleischern und den Behörden und Institutionen, die für die städtische Fleischversorgung zuständig waren (das Marktamt, die Handels- und Gewerbekammer sowie der Gemeinderat), blieb im gesamten Untersuchungszeitraum spannungsgeladen und konfliktreich. Kontroversen entzündeten sich an finanziellen Argumenten, die sowohl Befürworter als auch Gegner von Reformen immer wieder entweder für die Notwendigkeit und Relevanz von arbeitsorganisatorischen Umgestaltungen oder für deren Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit anführten. Konfliktfördernd waren vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen von Fleischern und Reformern aus Politik und Verwaltung, wie die ideale Organisation der Fleischversorgung und Fleischproduktion auszusehen hatte, sowie deren Diskrepanzen darüber, inwieweit Fleischer ihre beruflichen Bedarfe versorgungswirtschaftlichen Zielen hätten unterordnen sollen.209 Obwohl Reformer aus Politik und Verwaltung sowie auch zeitgenössische wirtschaftspolitische Autoren beklagten, dass sich die Wiener Fleischer „Neuerungen mit aller Gewalt widersetzten“210, stellten diese einen Bedarf an Reformen im Bereich der Fleischversorgung und des Fleischergewerbes nicht grundsätzlich infrage. Sie zweifelten jedoch wiederholt an dem an sie geknüpften Erfolgsversprechen und kritisierten insbesondere das fehlende Verständnis der Behörden gegenüber ihren Bedürfnissen und ihrem handwerklichen Ergenossenschaft dar. Sie veranstaltete Kurse über neue Schlachtmethoden und machte die Teilnehmenden mit neuesten Maschinen zur Fleischverarbeitung und Wurstherstellung vertraut. Vgl. Vorführung der verschiedenen Schlachtmethoden. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 5.1.1904, Nr. 2, S. 3. 208 Schwiedland, Vorbericht, S. 40. 209 Vgl. Nieradzik, „Dämon der modernen Zeit“, S. 97-104. 210 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 21.
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fahrungswissen. Der Wiener Fleischhauermeister Karl Weißenberger beklagte zum Beispiel eine generelle Diskrepanz zwischen den antizipierten Zielen, die Behördenvertreter mit Reformen verbanden, und seinen eigenen beruflichen Erfahrungen als Handwerker. Karl Weißenberger war Fleischhauermeister und Mitglied des Wiener Gemeinderates. Anlässlich seines Ausscheidens aus dem Gemeinderat veröffentlichte er auf Wunsch des Wiener Bürgermeisters Johann Prix 1891 eine Arbeit über die Wiener Fleischversorgung. In dieser Studie, „[n]ach den Ergebnissen einer sechzigjährigen praktischen Erfahrung beleuchtet“211, hob Weißenberger die Bedeutung von Erfahrungswissen für die Ausübung des Fleischerberufs hervor: Ich mußte die Handwerksarbeiten jeder Gesellenstufe persönlich durchmachen, um mir die manuelle Fertigkeit anzueignen, welche zur Fleisch-Ausschrotung erforderlich ist, wenn die kaufenden Parteien zufrieden gestellt werden sollen. Auf diese Weise gelangte ich zu einer genauen Kenntnis aller Aufgaben und Erfordernisse meines Gewerbes.212
Weißenberger kritisierte, „daß die von den amtlichen Organen der Gemeinde erstatteten Vorträge nur selten mit meinen praktischen Erfahrungen übereinstimmten.“213 So lehnten die Behörden unter anderem bewährte Geschäftspraktiken als unzeitgemäß ab. Im 19. Jahrhundert war es zum Beispiel unter Fleischern üblich, Verträge per Handschlag abzuschließen. Das Wiener Marktamt bemängelte dieses Geschäftsgebaren als unsicher und unmodern. Für Fleischer hingegen war es eine Frage der Handwerksehre214, dem Wort des Geschäftspartners Vertrauen zu schenken. Die Behörden missbilligten solche bewährten und gewohnheitsrechtlichen Geschäftsformen, sprachen Fleischern mitunter einen unternehmerischen und kaufmännischen Sinn ab und stellten zudem ihren gesamten Lebenstil infrage. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz geißelte in einem 1889 veröffentlichten Aufsatz über die Wiener
211 212 213 214
Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens. Ebd. , S. 5. Ebd., S. 6. Welche Bedeutung Fleischer dem Ehrbegriff beimaßen, veranschaulicht anekdotenhaft eine kurze Kundmachung in der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcherzeitung vom April 1904. Die Genossenschaft der Wiener Fleischhauer legte bei Kaiser Franz Joseph I. eine Beschwerde über einen Offizier ein, der im Streit mit einem Musiker diesen mit den Worten beleidigt hatte: „[I]hr Benehmen ist das eines Fleischhauers“. Kundmachungen. In: Wiener Fleischerhauer- und FleischselcherZeitung, XII. Jg., 26.4.1904, Nr. 34, S. 2.
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Fleischversorgung die Fleischer als verschwenderisch, verantwortungslos und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Er beklagte darin den Leichtsinn […] und die bei einigermaßen gutem Gange des Geschäftes immer mehr hervortretende Leichtlebigkeit seines Besitzers. Ein feines Zuckerzeugerl, lustige Gesellschaften, Trunk, Spiel und Maitressen – das waren von jeher die Hauptwünsche vieler wiener [sic!] Fleischhauer, und wenn der Ertrag des Geschäftes zur Erreichung dieser Wünsche nicht ausreichte, so wurde über schlechte Zeiten, miserable Geschäfte, hohe Steuern und Regieauslagen geklagt und Regierung wie Gemeinde für den ungünstigen Geschäftsausgang verantwortlich gemacht. So haben die Fleischhauer seit jeher geklagt und so klagen sie auch noch, weil sie – sehr ehrenwerte Ausnahmen vorbehalten – auch heute noch die gleichen noblen Passionen haben und sich in ein bescheidenes bürgerliches Leben nicht finden können.215
Die Vorwürfe gingen sogar so weit, Fleischern handwerkliches Können abzusprechen. Karl Kainz behauptete an anderer Stelle, dass diese nicht nur der konsumierenden Bevölkerung, sondern letztlich auch sich selbst schadeten. Zum Beispiel seien Wiener Fleischer nicht so versiert, daß sie bei der Besichtigung des lebenden Thieres ein vollkommen sicheres Urtheil über das Fleischgewicht desselben und den Unschlitt [Talg, L.N.] bilden können, und wer hört sie sehr oft darüber klagen, daß sie sich in ihrem Urtheile über den Fleischertrag getäuscht hätten, und daß sich der Ochse nicht so geschlachtet habe, wie sie es erhofften.216
Wie andere auch prognostizierte Kainz den Untergang des kleinbetrieblich organisierten Fleischerhandwerks. Denn ihm zufolge beanspruchten Reformen zuviel Zeit, und es dauerte Jahre, bis neue Institutionen errichtet würden. Vor allem kritisierte Kainz, dass sich die berufliche Ausdifferenzierung in Ladenfleischer und Großschlächter in Wien nicht soweit ausgebildet habe wie in anderen europäischen Großstädten. Den wesentlichen Grund hierfür sah der Direktor des Marktamtes in der fehlenden Bereitschaft Wiener Fleischer sich am Reformprozess zu beteiligen. Schließlich hätten Vertreter aus der Handelsund Gewerbekammer, dem Marktamt und Mitglieder des Gemeinderates die
215 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 104. 216 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 3].
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Errichtung einer durch die Genossenschaft der Wiener Fleischhauer geführten Großschlächterei befürwortet. Und obwohl das Marktamt, wie Kainz weiter bemerkte, dieser Institution „mit Rat und Tat zur Seite stehen“217 wollte, scheiterte das Unternehmen, weil Fleischer entgegen ihrem Interesse, das sie einer Großschlächterei auf genossenschaftlicher Basis entgegengebracht hatten218, dann doch kein Engagement zeigten und auf bewährten Versorgungsstrukturen beharrten. Auch für den Wiener Marktoberkommissär Karl Schwarz waren die Schwierigkeiten in diesem Bereich „[n]ur dem durch die tendenziöse Haltung der Fleischhauer herbeigeführten Kriegszustande […] zuzuschreiben.“219 Wiener Fleischer lehnten viele Reformen als illegitime Eingriffe in Gewohnheitsrechte und tradierte Kompetenzen ab. Ihre Sorgen und Bedenken wurden dadurch verstärkt, dass sogar einige Kommunalpolitiker und Behördenmitarbeiter die Reformvorschläge ihrer Kollegen bemängelten und mitunter missbilligten. Der Stadtrat Vinzenz Wessely befürchtete zum Beispiel erhöhte Betriebskosten einzelner Fleischereien infolge der Einführung einer Großschlächterei, wie sie der Wiener Gemeinderat, die Handels- und Gewerbekammer und die niederösterreichische Regierung seit den 1880er Jahren forderten.220 Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten unter den Reformbefürwortern wuchs bei den Fleischern das Misstrauen gegenüber den Behörden. Hinzu kam, dass so mancher Behördenmitarbeiter das nötige Fingerspitzengefühl vermissen ließ, wenn er, wie der stellvertretende Sekretär in der Handelsund Gewerbekammer Eugen Schwiedland, Versorgungsbedarfen gegenüber Handwerksinteressen den Vorrang einräumte und dabei bemerkte, dass „allein die Sicherung der Existenz fachlich unfähiger Elemente […] nicht den Gegenstand dieser Erörterung bilden“221 könne. Für Schwiedland und andere Reformer hatte die Modernisierung der städtischen Fleischversorgung oberste Priorität. Ihre Bemühungen zielten darauf, Tierschlachtungen und die gesamte Fleischproduktion fortschrittlicher, das
217 Ebd. [handschriftliches Schreiben des Marktdirektors Karl Kainz, 22.7.1897, S. 1.]. 218 Ebd. [Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa, 1897, S. 3]. 219 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 89. 220 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa, 1897, S. 3]. 221 Schwiedland, Vorbericht, S. 40.
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heißt „übersichtlich“222, „rationell“223 und „effizient“224 zu gestalteten. Den arbeitenden Menschen dachten die Reformer als ein unternehmerisches Subjekt, das neben einer fachlichen Qualifikation auch die „moralischen Eigenschaften und geistigen Fähigkeiten besitzen [sollte], welche die Bildung blühender Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften stets erfordert“225, urteilte Eugen Schwiedland. Fortschritt und Moderne waren für die Reformer aus Politik und Verwaltung untrennbar miteinander verbunden. Während sie beide Begriffe synonym verwendeten, entkoppelten Fleischer die Termini voneinander. Fortschritt knüpften sie an das Ideal einer „berufsständischen Wirtschaftsordnung“226 und Arbeitsorganisation, die der „Dämon der modernen Zeit“227 bedrohe, wie der Obmann der Wiener Fleischhauergenossenschaft Franz Schindler auf dem Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tag228 im Mai 1895 behauptete. Schindler kritisierte eine kontrollierende und regulierende städtische Versorgungspolitik, die den Status quo des Handwerks in seinen Grundfesten bedrohe. Seinem Verständnis von Moderne setzte er das Ideal einer zünftigen Gewerbeordnung entgegen und verwies darauf, dass in Wien und „in diesem Staatswesen [Österreich, L.N.] noch brauchbare Reste der alten ständi222 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely, Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei, 16.6.1904, S. 4]; ebd. [Bericht des Markt-Directors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Grossschlächterei, 28.10.1902, S. 12, unpag.]; ebd. [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 8, unpag.]. 223 Ebd. [Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 6 und 11]; ebd. [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 8 und 33-34]; ebd. [Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa, 1897, S. 2]; Schwiedland, Vorbericht, S. 2. 224 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 2]; ebd. [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 2]. 225 Schwiedland, Vorbericht, S. 40. 226 Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 2. 227 Ebd., S. 38. 228 Der „Erste österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Tag“ fand in Wien zwischen dem 23. und 25. Mai 1895 statt. Fleischermeister aus Wien, Österreich und Deutschland, Gemeinderäte und Landwirtschaftsvertreter diskutierten die Lage des Fleischergewerbes in Österreich und vor allem in Wien.
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schen Ordnung erhalten geblieben sind.“229 Ohne diese Behauptung zu konkretisieren, forderte er, „die Grundmauern für den Wiederaufbau des ständischen Wesens wieder aufzufinden.“230 Während Schindler wie viele andere Fleischer mit Rückgriff auf eine imaginierte Vergangenheit und Zunftordnung das Ideal einer zukünftigen Gewerbeverfassung und Arbeitswelt zeichnete, an die er den Fortschrittsbegriff knüpfte, war für die Reformer aus Politik und Verwaltung Fortschritt untrennbar an den Begriff der Moderne gebunden. Diese unvereinbaren Standpunkte standen Kompromissen im Weg.231 Zugleich verstärkten die Spannungen das Misstrauen zwischen städtischen Behörden und Fleischern, schwächten die Bereitschaft letzterer, sich an Reformen zu beteiligen und schufen unter den Handwerkern ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit“232, wie der Vorsteher der Wiener Genossenschaft der Fleischhauer Georg Hütter bemerkte. Der Direktor des Markamtes Karl Kainz vermutete, dass Fleischer damit versuchten, ihre ökonomische und politische Inferiorität zu kompensieren.233 Aussagen von Genossenschaftsvertretern wie Franz Schindler oder Georg Hütter, die die Geschlossenheit des Handwerks in Vergangenheit und Gegenwart ebenso hervorhoben wie die herausragende Stellung der Fleischer für die städtische Fleischversorgung, sollten unter den Handwerkern das Bewusstsein dafür stärken, einer eingeschworenen Gruppe im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüge der Stadt anzugehören.234 Die Genossenschaft der Wiener Fleischhauer inszenierte das Handwerk als patriotisch, kaisertreu und bürgerlich. Zum Beispiel veröffentlichte in ihrem Auftrag der Historiker und Archivar Karl Fajkmajer 1912 eine „Festschrift […] zur Dreihundertjahrfeier der kaiserlichen Wiederbestätigung der alten Wiener Fleischhauer-Privilegien“235. Er verwies darin „auf die hervorragende Stellung, 229 Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 38. 230 Ebd. 231 Zu den unterschiedlichen Deutungshorizonten von Wiener Fleischern und Behörden, die anhand des Begriffspaares „Fortschritt“ und „Moderne“ greifbar werden vgl. Nieradzik, „Dämon der modernen Zeit“, S. 102-104. 232 Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 10. 233 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 14]. 234 Vgl. Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 10 und 38; Fajkmajer, Karl: Vorwort. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 11; Ueber Selcherei. In: Allgemeine FleischerZeitung, II. Jg., 18.2.1875, Nr. 4, S. 14. 235 Vgl. o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft.
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welche das Fleischergewerbe in der Approvisionierung [Lebensmittelversorgung, L.N.] unserer Stadt seit dem Mittelalter einnahm“236 und betonte, „daß die Wiener Fleischhauerschaft seit jeher einen bedeutsamen und mächtigen Faktor innerhalb der Wiener Bürgerschaft gebildet hat.“237 Die Autoren dieser Festschrift waren Mitglieder der Vorstehung der Fleischhauergenossenschaft und Regierungsräte. Sie stellten Fleischer als solidarisch, kollegial und verantwortungsbewusst dar. Fleischer verbrachten ihre Freizeit mit Kollegen, wirkten in einem eigenen Gesangsverein mit,238 ihre Familien kannten einander und unternahmen gemeinsame Ausflüge.239 Sie unterstützten verarmte Kollegen finanziell und spendeten Fleisch an Hilfsbedürftige.240 Die Autoren beschrieben das Fleischerhandwerk als eine Solidargemeinschaft und als eine im städtischen Sozialgefüge fest verankerte Gruppe mit einer jahrhundertelangen Tradition. Sie verwiesen auf die „patriotischen Spende[n]“241, die Wiener Fleischer in Kriegszeiten an den Staat geleistet hatten ebenso wie auf verschiedene Urkunden und Verordnungen, mit denen die habsburgischen Kaiserinnen und Kaiser Wiener Fleischern weitreichende Privilegien eingeräumt hatten. Die Autoren erinnerten an den Fleischhauer Josef Ettenreich, der am 18. Februar 1853 ein Messerattentat auf Kaiser Franz Joseph I. durch den Schneidergesellen János Libényi verteitelt hatte242 und beschrieben Festumzüge, mit denen Fleischer Vaterland und Krone huldigten.243 Auch dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend mehr Fleischer im Namen ihres Betriebes den Appendix „und Söhne“ führten oder in 236 Fajkmajer, Vorwort, S. 11. 237 Ebd. 238 Vgl. Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 108. 239 Vgl. Ausflug der Wiener Fleischhauer-Söhne. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 9.6.1911, Nr. 23, S. 4. 240 Vgl. Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 105 und 114. 241 Saborsky, Albert: Der silberne Ochse im k. u. k. Heeresmuseum. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 75-78, hier S. 76. Wobei es sich – wie im Falle einer aus Silber angefertigten Ochsen-Statue, die im k. k. Heeresmuseum in Wien ausgestellt wurde – mehr um eine symbolische Geste denn eine finanzkräftige Unterstützung handelte. Vgl. ebd. 242 Vgl. o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft, o. S. [Einlage nach dem Titelblatt]. 243 So beteiligten sich am 12. Juni 1908 24 Fleischhauer an einem Festzug anlässlich des 60. Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs I. Sie trugen Kostüme aus dem 17. Jahrhundert und erinnerten an die „Zeit der Türkenbelagerung, bei welcher unser Gewerbe sich besonders ausgezeichnet hatte“. Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 115. Ein anderes Beispiel für das Auftreten und die Selbstinszenierung von Fleischern in der Öffentlichkeit ist ihre Beteiligung an einem Festumzug anlässlich der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaares im April 1879. Siehe Kap. 6.3.3.
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Werbeanzeigen darauf hinwiesen, ihr Geschäft existiere bereits in zweiter oder dritter Generation, diente als Ausweis, in einem alteingesessenen Betrieb zu arbeiten und sollte Kundinnen und Kunden die Qualität der angebotenen Waren suggerieren. Veränderungen wie die Verpflichtung, im kommunalen Schlachthof schlachten zu müssen, die Ausdifferenzierung der handwerklichen Arbeit in Schlachtung und Fleischverarbeitung oder eine Spezialisierung auf den Verkauf bestimmter Fleischwaren verstärkten unter den Fleischern das Bedürfnis nach einer beruflichen und sozialen Zugehörigkeit, das eine Mitgliedschaft in der Genossenschaft zu befriedigen versprach.244 Vor allem Fleischer, die der Genossenschaftsvorstehung angehörten, stellten deren Existenz als eine historische Konstante inmitten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandels heraus. Für sie war die Genossenschaft Garant der handwerklichen Souveränität, weshalb sie sich auch Stellungnahmen von denjenigen, die außerhalb des Handwerks standen, wie die Fleischversorgung und das Fleischergewerbe zu reformieren seien, als unrechtmäßige Einmischungen verbaten.245 Dieser Wunsch nach Souveränität war mit dem „Gesetz vom 15. März 1883, betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung“246 rechtlich abgesichert worden. Diese Gewerbenovelle schränkte die 1859 eingeführte Gewerbefreiheit stark ein.247 Sie erklärte die Fleischhauerei und Fleischselcherei zu „handwerksmäßigen Gewerben“, „bei denen es sich um Fertigkeiten handelt, welche die Ausbildung im Gewerbe durch Erlernung und längere Verwendung in demselben erfordern und für welche diese Ausbildung in der Regel ausreicht“.248 Hatte die Gewerbeordnung von 1859 noch zum Ziel, die Ausbildung von den Zünften zu trennen, räumte die Novelle von 1883 den Genossenschaften das Recht ein, Inhalt und Dauer der Lehre zu bestimmen.249 244 Vgl. Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien/München 1985, S. 388389. 245 Dementsprechend die Reden der Fleischhauermeister Franz Schindler und Georg Hütter auf dem Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tag im Mai 1895. Vgl. Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 2, 41 ff. 246 Vgl. Gesetz vom 15. März 1883, betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung. In: RGBl., XII. Stück, Jg. 1883, Nr. 39, S. 113-142. 247 Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, S. 403. 248 Gesetz vom 15. März 1883, betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung, Artikel II, I. Hauptstück, A. Allgemeine Bestimmungen, 1. Eintheilung der Gewerbe, § 1, S. 113-114. 249 Für die Genossenschaften stellte das Monopol der handwerklichen Wissensvermittlung ein Erziehungs- und Machtmittel dar. Aus historischer Perspektive verweist die Bildungswissenschaftlerin Helena Pedersen darauf, dass Erziehung schon immer im Zentrum von Machtkämpfen um die Produktion legitimen Wissens
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Fleischer beklagten wiederholt die beruflichen Veränderungen seit Einführung des Schlachthauszwanges und kritisierten, dass Politiker nicht ihre Interessen vertraten.250 Ihre Klagen stellten immer auch narrative Strategien einer fleischhandwerklichen Rhetorik dar. Spätestens mit der Gewerbenovelle von 1883 sicherte der Gesetzgeber den Genossenschaften zu, die kleinbetriebliche Organisation des Handwerks, für die sich Fleischer immer wieder ausgeprochen hatten, durch wirtschaftliche Reformen nicht zu gefährden. Dieses Gesetz vom März 1883 war ein Erfolg der Handwerks- und Gewerbetagbewegung, dessen Zustandekommen ohne die Weltwirtschaftskrise von 1873, die den Glauben in einen Wirtschaftsliberalismus tief erschüttert und eine Wende zum politischen Konservatismus Ende der 1870er Jahre eingeläutet hatte, nicht denkbar ist.251 stand. Vgl. Pedersen, Helena: „Abattoir Blues – Technologies of Violence in Animal Science Education“ (Vortrag im Rahmen der Third European Conference for Critical Animal Studies, Karksruhe, 28.–30.9.2013; Abstract unter URL: https:// dl.dropboxusercontent.com/u/6443497/boa.pdf [Stand: 15.9.2015], S. 20). Mit Eröffnung einer eigenen Fachschule zum Neujahrstag 1895 monopolisierte die Genossenschaft der Wiener Fleischhauer die praktische und theoretische Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen. Denn diese war „eine Pflichtschule für sämtliche Wiener Fleischhauerlehrlinge; ohne Entlassungszeugnis dieser Anstalt kann kein Lehrling freigesprochen werden.“ Hanke, Adolf: Die Fachschule unserer Genossenschaft. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 129-134, hier S. 130. Die Schule bestand aus einer Vorbereitungsklasse und zwei Fachklassen. Die Vorbereitungsklasse vermittelte den Schülern Basiskenntnisse in deutscher Sprache, Mathematik, Buchführung, Erster Hilfe und Bürgerkunde. Vgl. ebd., S. 130-132. Zudem wurde eine „Sammelklasse für solche, meist aus Ungarn oder den slawischen Ländern stammende Lehrlinge eingerichtet, welche der deutschen Sprache gar nicht oder zu wenig mächtig sind“. Ebd. Daneben wurden Kurse für Fleischhauergehilfen und Kassiererinnen sowie ein „Meisterkurs, bestehend aus Vorträgen hervorragender Fachleute über solche Partien, die ins Fach einschlagen“, angeboten. Ebd., S. 132. Vgl. auch: Gehilfencurs der Fachschule der Wiener FleischhauerGenossenschaft. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIII. Jg., 11.4.1900, Nr. 15, S. 4. 250 Vgl. Der kleine Mann. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 19.1.1904, Nr. 4, S. 1-2; Jedek, Valentin: Unsere Studienreise zum 21. deutschen Fleischer-Verbandstage, II. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 12.7.1898, Nr. 55, S. 1; Auch eine Antwort. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 12.1.1904, Nr. 4, S. 1-2. 251 Vgl. Feltl, 150 Jahre österreichische Gewerbepolitik, S. 93-94 und 334-335. In seiner Thronrede vor dem neu gewählten Reichsrat am 8. Oktober 1879 begrüßte Kaiser Franz Joseph I. die Einschränkung der Gewerbefreiheit. Vgl. Thronrede Seiner k. und k. Apostolischen Majestät des Kaisers Franz Joseph I. Gehalten bei der feierlichen Eröffnung des Reichsrathes am 8. October 1879. In: Stenographische Protokolle des Herrenhauses des Reichsrates 1861–1918, 1 der Beilagen zu den stenogra-
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Konflikte mit Behörden stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Fleischer, Gesetzesänderungen räumten den Genossenschaften Rechte und Befugnisse ein, und ihre Vorsteher stellten diese als Vertretungsorgane aller Wiener Fleischer dar, deren Mitgliedschaft für sie verpflichtend war. Im Hinblick auf die erheblichen Unterschiede im Geschäftsumfang der einzelnen Fleischereien ist es allerdings fraglich, inwiefern die Genossenschaft das Sprachrohr aller Fleischer darstellte, wie die Genossenschaftsvertreter immer wieder behaupteten. Daher untersuche ich nachfolgend die beruflichen und sozialen Hierarchien innerhalb des Wiener Fleischerhandwerks.
5.1.3 Handwerksinterne Hierarchien In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Geschäftsumfang, verwandtschaftliche Beziehungen im engeren und soziale im weiteren Sinn für die berufliche und gesellschaftliche Stellung von Fleischern entscheidend, wie ich im Folgenden am Beispiel des Viehhandels und der Möglichkeiten für Wiener Fleischer, in die Vorstehung der Genossenschaft aufzusteigen, zeige. Die in Wien vorherrschende Geschäftsform im Viehhandel war der sogenannte „kommissionelle Verkauf für auswärtige Sammelhändler.“252 Händler kauften Tiere im Auftrag eines Kommissionärs, übergaben diese an jenen, oder sie selbst kamen nach Wien, um die Tiere im Auftrag des Kommissionärs zu verkaufen.253 Es war üblich, dass Sammelhändler die Tiere an einen Kommissio när übergaben, ohne von diesem zuvor einen finanziellen Vorschuss für deren Kauf erhalten zu haben. Diese Geschäftsform basierte nicht auf Vergabe von Krediten und einer Zahlungspflicht von Schulden, sondern auf Vertrauen, wie Horáček et al. in ihrem 1909 in den „Schriften des Vereins für Socialpolitik“ erschienenen Aufsatz über die „Gemeindebetriebe in Österreich“ hervorheben: Solche Geschäftsverbindungen entspringen meist besonderem persönlichen Vertrauen oder altgewohnten Familienbeziehungen. Überhaupt muß man das Entstehen vieler Kommissionsfirmen auf solche Beziehungen zurückführen. Eine Gruppe einander nahestehender Familien, welche erbgesessen in einem Produktionsgebiete hier den Viehsammelkauf betreiben, entsenden einen aus ihrer Mitte nach Wien, damit er dort ihre gemeinschaftlichen Interessen vertrete. Dieser wird nun zum phischen Protokollen des Herrenhauses. IX. Session, S. 1-2, hier S. 2. Vgl. Feltl, 150 Jahre österreichische Gewerbepolitik, S. 93-94. 252 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 69. 253 Vgl. ebd.
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Kommissionär für alle Einsendungen der Gruppe, und das Vertrauensverhältnis bleibt auch aufrecht, wenn auf beiden Seiten im Laufe der Zeit persönliche Veränderungen eingetreten sind.254
Reformer aus Politik und Verwaltung kritisierten zwar derartige Geschäftsformen, die auf verwandtschaftlichen Beziehungen beruhten, weil für sie Versorgungs- und Konsumbedarfe gegenüber persönlichen und familiären Rücksichten stets Vorrang hatten. Sie akzeptierten jedoch den kommissionellen Sammelkauf im Viehhandel, weil sich dieser als Geschäftspraxis auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewährt hatte. Hinzu kam, dass einige Fleischer Mitglieder des Wiener Gemeinderates waren. Dadurch konnten sie handwerksgenossenschaftliche Interessen auf kommunalpolitischer Bühne vertreten. Handwerksmeister wie Georg Hütter und Gotthard Köckeis waren zum Beispiel Gemeinderäte und in der Vorstehung der Wiener Fleischhauergenossenschaft vertreten. Sie befürworteten arbeitsorganisatorische Veränderungen im städtischen Fleischergewerbe, forderten von anderen Reformbefürwortern aber zugleich, an der kleinbetrieblichen Organisation des Handwerks festzuhalten.255 Wiener Fleischer kritisierten jedoch wiederholt die Genossenschaftsvorstehung, aus Rücksicht auf „gute Beziehungen“ nicht immer die Interessen sämtlicher Gewerbetreibender zu vertreten.256 Die Möglichkeiten für einen Fleischer, in den Wiener Gemeinderat oder in die Genossenschaftsvorstehung gewählt zu werden, waren begrenzt. Fleischer, die dem Gemeinderat angehörten, waren Handwerksmeister, die in den meisten Fällen aus einer Meisterfamilie kamen oder seit mehreren Generationen ihr Geschäft betrieben. Aufgrund ihrer Herkunft konnten sie leichter als andere den Meisterstatus erlangen. Ein Beispiel dafür ist der weiter oben genannte Fleischhauer Karl Weißenberger. Nach einem zehnjährigen Schulbesuch trat dieser 1830 im Alter von 16 Jahren als Lehrling in den Betrieb seines Vaters ein „und erlernte das Handwerk von der untersten Stufe an.“257 Nach sieben Jahren legte Weißenberger erfolgreich seine Meisterprobe ab und eröffnete zwei Jahre später ein eigenes Geschäft. 1847 wurde Weißenberger zum Stellvertreter des Vorstehers der Wiener Fleischhauerinnung gewählt, dessen Nachfolge er 1852 254 Ebd. 255 Vgl. zum Beispiel: Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 13, 39 und 52. 256 Vgl. Wie weit wird es mit dem Gewerbe noch kommen? In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 17.11.1911, Nr. 46, S. 1; Ein Wutausbruch. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 21.1.1910, Nr. 3, S. 2-3. 257 Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens, S. 5.
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antrat. 1862 wurde Weißenberger dann in den Gemeinderat gewählt, dem er bis Ende April 1891 angehörte.258 Auch nach Einführung der Gewerbefreiheit 1859 hing die Möglichkeit Meister zu werden stark von der sozialen Herkunft ab. Wie diejenigen Fleischer, die Mitglieder des Gemeinderates waren, gehörten der Vorstehung der Wiener Fleischhauergenossenschaft und deren Stellvertretung vor allem Meister mit einem – gemessen am durchschnittlichen Schlachtpensum – überdurchschnittlichen Betriebsumfang an. Ein Fleischer mit einem größeren Schlachtpensum schlachtete in der Woche bis zu 200 Rinder, ein kleinerer in demselben Zeitraum hingegen nur zwei bis vier Tiere.259 Dass Söhne ihren Vätern in die Vorstehung oder deren Stellvertretung nachrückten, kam zwischen 1835 und 1912 aber nur in zwei Fällen vor. Von den insgesamt elf Vorstehern der Innung bzw. Genossenschaft folgte nur ein Fleischer ( Josef Wimmer junior) seinem Vater ( Josef Wimmer senior) in dieses Amt nach. Auch in die Vertretung der Genossenschaftsvorstehung wurde zwischen 1835 und 1912 nur in einem Fall ein Fleischer gewählt, dessen Vater bereits der Vorstehung und Stellvertretung angehört hatte – es handelte sich hierbei um den Sohn Karl Weißenbergers. Entscheidend dafür, Mitglied der Genossenschaftsvorstehung zu werden, war ein soziales – jedoch nicht verwandtschaftliches – Kapital. Zwischen 1835 und 1912 hatten sechs von elf GenossenschaftsVorstehern zuvor deren Stellvertretung angehört.260 Eine Mitgliedschaft in der Genossenschaftsvorstehung war tendenziell deren Stellvertretern und immer auch Fleischern mit einem größeren Geschäftsbetrieb vorbehalten. Genossenschaftsvorsteher, die erklärten, die Interessen aller Fleischer zu vertreten,261 verfolgten in erster Linie das Ziel, ein homogenes Bild vom städtischen Fleischerhandwerk zu zeichnen. Hierarchien innerhalb des Gewerbes blieben jedoch bestehen. Gerade das Streben der Meister nach Exklusivität und ihr Beharren auf einem Ideal von Gewerbeverhältnissen, das an eine Zunftordnung angelehnt war, gaben den Behörden Anlass, vor allem die kleineren Fleischer für Reformen zu gewinnen. Sie seien diejenigen, denen grundlegende Veränderungen im Gewerbe und in der Fleischversorgung „viele geschäftliche
258 Vgl. ebd., S. 5-6. 259 Ein Fleischer mit einem größeren Schlachtpensum schlachtete in der Woche bis zu 200 Rinder, ein kleinerer in demselben Zeitraum hingegen nur zwei bis vier Tiere. Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 26. 260 Vgl. Die Vorsteher und Vorsteherstellvertreter der Genossenschaft von 1835 bis 1912. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 137. 261 Vgl. Jedek, Valentin: Unsere Studienreise zum 21. deutschen Fleischerverbandstage, V. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 22.7.1898, Nr. 58, S. 2.
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Vortheile“262 brächten, betonten Reformer aus Politik und Verwaltung wie der Marktkommissär Karl Philipp und der Stadtrat Vinzenz Wessely. Die Einschränkung der Gewerbefreiheit festigte die Hierarchien innerhalb des Handwerks. Meistersöhne waren gegenüber anderen Gesellen und Lehrlingen privilegiert. Sie konnten leichter ihre Ausbildungszeit verkürzen oder den Meisterstatus erlangen.263 Mit Gründung des „Klubs der Wiener Fleischhauersöhne“ im Jahr 1890 wurde zudem eine weitere Möglichkeit geschaffen, zukünftige Mitglieder der Genossenschaftsvorstehung zu rekrutieren.264 Fleischer, die einen größeren Betrieb führten, der Genossenschaftsvorstehung angehörten und Beziehungen zum Gemeinderat unterhielten, profitierten von den beruflichen Veränderungen und dem politischen Klima im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ich werde im folgenden Kapitel zeigen, dass für die bislang beschriebene Transformation des Wiener Fleischerhandwerks im 19. und frühen 20. Jahrhundert ökonomische Veränderungen und der Wandel der städtischen Bedarfslagen ausschlaggebend waren.
5.2 Ökonomischer Kontext Die beruflichen Veränderungen im Wiener Fleischergewerbe waren untrennbar mit dem Wandel der städtischen Bedarfslagen und versorgungswirtschaftlichen Entwicklungen verbunden. In diesem Kapitel untersuche ich den ökonomischen Kontext des Schlachthofes St. Marx und setze diesen in Bezug zu dem beruflichen Wandel im Wiener Fleischergewerbe. Ich frage, inwiefern sich der Fleischkonsum der Wiener Bevölkerung und die Fleischproduktion eines Wiener Fleischers zwischen 1850 und 1914 veränderten (Kap. 5.2.1). Für diesen Zeitraum untersuche ich zudem die Entwicklung der Fleisch- und Viehpreise in Wien sowie die darum gelagerten Diskurse und die Lohnverhältnisse in privaten Fleischereien (Kap. 5.2.2). Am Beispiel des handwerklichen Kreditwesens wird zudem gezeigt, wie Wiener Fleischer ihren geschäftlichen Unterhalt bestritten (Kap. 5.2.3).
262 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 7]. Vgl. ebd., S. 14-15 und ebd., [Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely, Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei, 16.6.1904, S. 5]. 263 Vgl. Steidl, Auf nach Wien, S. 247. 264 Vgl. Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 104.
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5.2.1 Fleischkonsum Die Wiener Bevölkerungszahl stieg im 19. und frühen 20. Jahrhundert rasant an. 1910 war die Reichshaupt- und Residenzstadt mit circa zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern die viertgrößte Metropole der Welt.265 In diesem Zeitraum vergrößerte sich der Fleischverbrauch der Wienerinnen und Wiener von insgesamt circa 30 Millionen Kilogramm im Jahr 1850 auf über 175 Millionen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges.266 Ich werde anhand des Wiener Fleischkonsums und des durchschnittlichen Umfangs der Fleischproduktion eines Fleischers zeigen, dass die wachsende Fleischnachfrage einen beruflichen Ausdifferenzierungsprozess innerhalb des Gewerbes verstärkte und den Konkurrenzdruck unter den Fleischern erhöhte. Von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts entfielen auf einen Fleischer immer weniger Einwohnerinnen und Einwohner. Abbildung 4 zeigt das Verhältnis der Wiener Bevölkerungsentwicklung zur Zahl der im Fleischergewerbe selbständig Berufstätigen zwischen 1869 und 1914. Demnach entfielen 1869 auf einen Fleischer (Fleischhauer und Fleischselcher) circa 1.321 Einwohnerinnen und Einwohner, 20 Jahre später waren es noch etwa 1.066 und bei Ausbruch 265 Von 1810 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verzehnfachte sich die Bevölkerung Wiens. Zählten Innere Stadt und die Vorstädte 1810 circa 224.000 Einwohnerinnen und Einwohner, stieg diese Zahl bis Mitte des Jahrhunderts auf über 431.000 (1851) und erreichte im Zuge von Zuwanderung und Eingemeindung der Vororte im Jahr 1890 knapp 1,4 Millionen. Allein in den folgenden 20 Jahren wuchs die Bevölkerungszahl Wiens um 35 Prozent und lag im Jahr 1914 bei fast 2,2 Millionen. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 32, 1914 (1918), S. 44-45. 266 Eigene Berechnungen auf Grundlage von: Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse, S. 130, Tabelle A 9.4; Sandgruber, Roman: Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur im Österreich des 18. und 19. Jahrhunderts. Wien 1980, S. 210; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 32, 1914 (1918), S. 44-45 und 591. Zwischen 1850 und 1913 stieg die Zahl der auf dem Wiener Zentralviehmarkt verkauften Tiere um mehr als 370 Prozent. 1850 wurden 110.828 Rinder verkauft, 1913 211.110. In demselben Zeitraum verdoppelte sich fast der Kälberverkauf (1850: 126.950, 1913: 248.733) und verzehnfachte sich der Verkauf von Schweinen (1850: 88.330, 1913: 848.144). Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 11-12; Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 17; Riedl, Richard: Der Wiener Schlachtviehhandel in seiner geschichtlichen Entwicklung. In: Sonderabzug aus Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, hrsg. von Gustav Schmoller, Bd. XVII, Jg. 1893, Heft 3, S. 191-260 [= 829898], hier S. 259 [= 897]; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2, 1884 (1885), S. 232, 238-239; ebd. 3, 1885 (1887), S. 258-259; ebd. 4, 1886 (1888), S. 252; ebd. 8, 1890 (1892), S. 342, 352-353; ebd. 13, 1895 (1897), S. 454, 460-461; ebd. 17, 1899 (1901), S. 574, 583-584; ebd. 22, 1904 (1906), S. 570, 578; ebd. 27, 1909 (1911), S. 566, 575; ebd. 31, 1913 (1916), S. 573, 579.
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des Ersten Weltkrieges 834. Insgesamt verringerte sich zwischen 1869 und 1914 die Einwohnerinnen- und Einwohnerzahl pro Fleischer um circa 37 Prozent.267
Abb. 4 : EinwohnerIn pro Fleischer 1869–1914 (eigene Berechnungen) Quellen: Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, 1870–1914 [Branchenverzeichnis]; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 32, 1914 (1918), S. 45.
Obwohl die Wienerinnen und Wiener seit Mitte des 19. Jahrhunderts insgesamt mehr Fleisch konsumierten, verringerte sich seitdem der Anteil eines Fleischers an der Produktion des verbrauchten Fleisches (siehe Abb. 5). 1870 entfielen auf einen Wiener Fleischer circa 293 Kilogramm des täglich in Wien konsumierten Fleisches, 1890 noch etwa 186 Kilogramm, und 1913 waren es nur circa 140 Kilogramm. Dieser Rückgang wird in Anbetracht der gravierenden Unterschiede innerhalb des städtischen Fleischerhandwerks noch deut 267 Zieht man die Fleischwaren- und Fleischselchwaren-Verschleißer hinzu, das heißt diejenigen, die selbst Tiere nicht schlachteten oder Fleisch verarbeiteten, sondern dieses an Fleischer verkauften, sank zwischen 1869 und 1914 die Einwohnerinnenund Einwohnerzahl pro Fleischer sogar um mehr als die Hälfte auf 669. Eigene Berechnungen auf Grundlage von: Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, 1870-1914 [Branchenverzeichnis]; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 32, 1914 (1918), S. 45.
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licher. Die hier von mir errechneten Durchschnittswerte wurden de facto sowohl beträchtlich übertroffen als auch unterboten. Denn während ein kleinerer Fleischer drei bis vier Rinder innerhalb einer Woche schlachtete, lag das wöchentliche Pensum eines größeren bei 30 bis 40 Rindern.268 In einigen Fällen schlachteten Fleischer sogar über 60 Ochsen in der Woche.269 Diese Unterschiede verweisen auf einen beruflichen Konkurrenzdruck unter den Fleischern und die Trennung von schlachtender und fleischverarbeitender Arbeit (siehe Kapitel 5.1.1). Dass sich immer mehr Fleischer letzterer Tätigkeit widmeten, wird auch daran deutlich, dass zunehmend mehr Schweinefleisch verarbeiteten, immer weniger hingegen Rindfleisch. Fleischer nutzten Schweinefleisch vor allem für die Herstellung von Würsten, die in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr Wienerinnen und Wiener gegenüber dem Rindfleisch bevorzugten.270 Wie Abbildung V zeigt, produzierte 1870 ein Wiener Fleischer circa 196 Kilogramm des täglich in Wien konsumierten Rindfleisches, 1913 waren es nur noch 53 Kilogramm. In demselben Zeitraum stieg die tägliche Produktion des verbrauchten Schweinefleischs von circa 21 auf über 50 Kilogramm.271 Lag der Anteil der Rindfleischverbrauchsproduktion pro Fleischer an der durchschnittlichen Tagesgesamtfleischproduktion 1870 noch bei über 67 Prozent, waren es 1913 nur noch knapp 40 Prozent. In diesem Zeitraum stieg hingegen der Anteil der durchschnittlichen Schweinefleischverbrauchsproduktion an der Gesamtfleischproduktion pro Fleischer von circa 10,5 auf fast 36 Prozent.272
268 Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 26. 269 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei, [Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien, 26.7.1905, S. 5-6, unpag.]. 270 Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 13; Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 51; Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 20. 271 Die Kalbfleischproduktion verringerte sich zwischen 1870 und 1913 um fast zwei Drittel von knapp 37 auf 13 Kilogramm im Tagesdurchschnitt. Siehe Abb. 5. 272 Der Anteil der durchschnittlichen Kalbfleischproduktion pro Fleischer an der gesamten Tagesproduktion fiel von circa 12,5 auf etwas mehr als 9 Prozent. Siehe Abb. 5.
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Abb. 5 : Fleischverbrauchsproduktion pro Fleischer im Tagesdurchschnitt 1870–1913 (Eigene Berechnungen) Quellen: Lehmann‘s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, 1861–1914; Österreichisches Statistisches Zentralamt, Tabellenanhang, S. 130, Tabelle A 9.4; Sandgruber, Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur, S. 210; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 31, 1913 (1916), S. 45.
Obwohl sich seit Anfang der 1860er Jahre der Pro-Kopf-Fleischverbrauch273 in Wien bei 75–78 Kilogramm stabilisiert hatte,274 veränderte sich der Verbrauch der jeweiligen Fleischsorte. Wienerinnen und Wiener verbrauchten seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer weniger Rindfleisch und immer mehr Schweinefleisch. Sie konsumierten dabei überwiegend Mastrinder und Fleischschweine, deren Fleisch seinerzeit als das hochwertigste und nahrhafteste galt. Zeitgenössische Autoren wie Johann Brandl klagten mitunter: „Das beste Vieh und 273 Der Fleischverbrauch umfasste Rind-, Kalb-, Schweinefleisch, Geflügel, Wild und Fisch. 274 Der Wiener Gesamtfleischverbrauch pro Kopf stieg zwischen 1800 und 1845 von circa 84 auf 92 Kilogramm im Jahr. Infolge der Revolution 1848/49 sank er bis 1855 auf 70 Kilogramm und stieg, von geringfügigen Schwankungen abgesehen, bis zum Ende des Untersuchungszeitraums auf circa 78 Kilogramm pro Jahr. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, S. 130, Tabelle A 9.4; Sandgruber, Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur, S. 210.
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Fleisch geht nach Wien, auf dem Lande müssen Kühe und notgeschlachtete Tiere verzehrt werden.“275 Abbildung 6 zeigt, dass der Rindfleischverbrauch pro Kopf und Jahr seit 1845 bis 1913 von 56 auf circa 31 Kilogramm sank. Vor allem zwischen 1870 und 1890 ging der Rindfleischverbrauch pro Kopf stark zurück (54 gegenüber 36 Kilogramm). Im Vergleich dazu verdreifachte sich der Schweinefleischverbrauch pro Kopf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab 1870 stieg er von circa 10,5 auf 28 Kilogramm im Jahr 1913. Wie bei der durchschnittlichen Fleischverbrauchsproduktion eines Fleischers gilt auch für die Pro-Kopf-Angaben zum Konsum, dass hier erhebliche Unterschiede unter den Verbraucherinnen und Verbrauchern bestanden. Friedrich Kardosi bemerkte zum Beispiel, daß in den wohlhabenderen Häusern viel größere Mengen Fleisch verzehrt werden, daß ein großer Teil der Bevölkerung zweimal täglich Fleisch ißt und nicht zuletzt, daß die Fremden, die nach Wien kommen und die in den Wirtshäusern verpflegt werden, auch eine ansehnliche Quantität Fleisch konsumieren. Wenn man also das alles statistisch nachweisen könnte, dann erst würde sich der ganze Jammer der Fleischfrage vor uns aufrollen, dann erst würden wir zugeben müssen, daß zwei Drittel der Bewohner Wiens durch die derzeit bestehenden Verhältnisse auf dem Wiener Fleischmarkte gezwungen sind, auf den Fleischgenuß zu verzichten.276
Der steigende Schweinefleischverbrauch ist zum einen auf eine Intensivierung der Schweinemast, das heißt eine züchterische Selektion auf verkürzte Mastdauer und schnellere Gewichtszunahme277 sowie auf den Preisanstieg für Rindfleisch zurückzuführen (siehe Kap. 5.2.2). Zum anderen konsumierten vor allem die mittleren und unteren Schichten, deren Anteil an der Wiener Gesamtbevölkerung infolge von Zuwanderung stark anstieg, vorwiegend Schweinefleisch.278 275 Brandl, Johann: Zur Vieh- und Fleischfrage. Wien 1907, S. 13. 276 Karodsi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 26. 277 Zwischen 1850 und 1900 stieg das durchschnittliche Mastgewicht von Schweinen von 70 auf 100 Kilogramm, während die Mastdauer in demselben Zeitraum von zwei Jahren auf elf Monate sank. Vgl. Bartussek, Helmut: Zeit der Tiere – Raum für Tiere. Die Haltung von Tieren in der Landwirtschaft. In: Schneider, Manuel/ Geißler, Karlheinz A./Held, Martin (Hg.): Zeit-Fraß. Zur Ökologie der Zeit in Landwirtschaft und Ernährung. Politische Ökologie, Sonderheft 8, 3. Aufl. München 2000, S. 66-70, hier S. 67; Konold, Werner: Nutztiere in der Kulturlandschaft. In: Berichte des Instituts für Landschafts- und Pflanzenökologie der Universität Hohenheim, Heft 17. Stuttgart 2008, S. 171-188, hier S. 172. 278 Unterschieden wurden Rinder und Schweine nach der jeweiligen Fütterungsart. Das Fleisch von Mastrindern galt als das hochwertigste und nahrhafteste, gefolgt von Weiderindern und dem sogenannten Beinlvieh. Zu letzterem zählten „[v]er-
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Abb. 6 : Verbrauch nach Fleischsorten in Wien (in kg pro Kopf und Jahr) 1784–1913 Quellen: Österreichisches Statistisches Zentralamt, S. 130, Tabelle A 9.4; Sandgruber, Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur, S. 210.
Die Veränderungen, die ich hier beschrieben habe, gingen mit dem Prozess einer beruflichen Ausdifferenzierung im Wiener Fleischergewerbe einher. Der rückgängige Rindfleischkonsum und der steigende Verbrauch von Schweinefleisch, die sinkende Fleischverbrauchsproduktion eines Fleischers sowie die erheblichen Unterschiede im Schlachtumfang einzelner Betriebe beschleunigten die Trennung in Großschlächter und Ladenfleischer, und sie erhöhten den Konkurrenzdruck unter den Fleischhandwerkern. Diese Prozesse wurden zudem durch steigende Vieh- und Fleischpreise verstärkt und führten dazu, dass Fleischer einer wachsenden Kritik vonseiten der städtischen Behörden und Wiener Bevölkerung ausgesetzt waren, unrentabel zu arbeiten und für die Preisteuerung verantwortlich zu sein. kümmerte, im Wachstum zurückgebliebene und schlecht genährte, daher weder zur Zucht noch zur Mastung geeignete Rinder“. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 27, 1909 (1911), S. 567. Das Fleisch dieser Tiere verarbeiteten Fleischer vor allem zu Würsten. Vgl. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 194; Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 13 und 18; Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 20 und 23; Schwiedland, Vorbericht, S. 17.
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5.2.2 Preise und Löhne In diesem Kapitel zeichne ich die Teuerung der Vieh- und Fleischpreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert nach. Ich frage, wie Fleischer, städtische Behörden und zeitgenössische Autoren den Anstieg der Vieh- und Fleischpreise deuteten und welche Maßnahmen sie dagegen forderten. Anhand von Verbrauchsausgaben einer Wiener Arbeiterfamilie zeige ich exemplarisch die finanziellen Folgen der Fleischteuerung für einen privaten Haushalt und untersuche die Lohnverhältnisse in einzelnen Wiener Fleischhauereien, um die gravierenden Einkommensunterschiede in den jeweiligen Betrieben zu verdeutlichen. 1913 bezeichnete Friedrich Kardosi Wien als „die teuerste Stadt Europas und damit des Erdballes.“279 Denn zwischen 1850 und 1914 stiegen die Fleischpreise in der Reichshaupt- und Residenzstadt um ein Vielfaches. 1 Kilogramm Rindfleisch verteuerte sich in diesem Zeitraum von 0,74 auf 2,14 Kronen280, der Preis für 1 Kilogramm Schweinefleisch stieg von 1 auf 1,97 Kronen, und 1 Kilogramm Kalbfleisch kostete 1850 0,74 Kronen, 1914 bereits 2,1 Kronen.281 Fleischer und zeitgenössische Autoren führten diesen Anstieg auf die sogenannte Verzehrungssteuer, die zunehmend hohen Viehpreise und die Organisation der städtischen Fleischversorgung (siehe Kap. 5.2.1) zurück. Neben Markt-, Schlacht-, Beschau- und Waggebühren282 mussten Vieh(ver)käufer seit 1829 die sogenannte Verzehrungssteuer für Lebensmittel und Genussartikel zahlen, wenn sie diese über den Linienwall (eine Befestigungsanlage, die die Vororte von den Vorstädten trennte und als Steuerlinie fungierte) brachten. Die „Allgemeine Verzehrungssteuer“ war eine staatliche Abgabe für Konsumgüter. Sie wurde im November 1829, von wenigen Ausnahmen abgesehen, landesweit eingeführt, mehrmals novelliert und 1923 durch die Warenumsatzsteuer ersetzt. In Wien verlief die Verzehrungssteuerlinie mit Einge279 Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 75. 280 Aus Vergleichsgründen werden die in die 1892 monarchieweit eingeführte KronenWährung umgerechneten Preise angegeben. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse, S. 134-137, Tabelle A. 9.10. 281 Bis 1850 setzte die k. k. Regierung (ohne Unterschied auf die jeweilige Fleischqualität) die Rindfleischpreise fest. Diese Fleischtaxe wurde am 1. September 1850 aufgehoben. Vgl. Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens, S. 6; Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 5-6. Die Preise variierten nach den jeweiligen Fleischkategorien (zum Beispiel war vorderes Rindfleisch teurer als hinteres) und nach dem Verkaufsort (die Preise sanken mit größerer Entfernung zur Stadtmitte). Vgl. Marktzustände in den Vororten. In: Wiener Vororte-Zeitung, I. Jg., 1.5.1875, Nr. 6, S. 2. 282 Vgl. Brandl, Zur Vieh- und Fleischfrage, S. 17.
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meindung der Vororte 1891 entlang der neuen Stadtgrenzen.283 Im Februar 1874 verlegte die Stadt den Zentralviehmarkt in St. Marx außerhalb dieser Steuerlinie, jedoch nicht den Schlachthof.284 Infolgedessen entrichteten nicht mehr die Viehverkäufer, die Tiere auf den Markt brachten, die Verzehrungssteuer, sondern die Fleischer, die diese kauften.285 Fleischer argumentierten, dass sie infolge dieser Abgabe größere Betriebskosten hätten und zwangsläufig die Fleischpreise erhöhen müssten.286 Zeitgenössische Autoren kritisierten dabei ebenso wie Fleischhauer und Fleischselcher nicht nur die Höhe der Tarifsätze, die in Wien im Vergleich zu anderen Städten Österreichs doppelt so hoch waren, sondern vor allem deren Erhebungsmodus.287 Denn der Erhebungstarif der Verzehrungssteuer ist seiner Ungleichmäßigkeit halber zu verwerfen. Es wird z. B. für ein Schwein, unbekümmert darum, ob es 36 oder 150 kg schwer ist, 5,20 Kronen Steuer erhoben; dasselbe gilt vom Rind, welches die gleiche Verzehrungssteuer kostet, ob es 405 kg oder 1000 kg wiegt“.288
Hinzu kam, dass die Tiere unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Gattung immer nach einheitlichen Tarifen gleich besteuert wurden. So war für Mastrinder, deren Fleisch als das hochwertigste galt und am teuersten verkauft wurde, derselbe Steuersatz zu entrichten wie für das geringgeschätzte Beinlvieh, dessen Fleisch ausschließlich zur Wurstherstellung oder als Suppenfleisch Verwendung fand. Zudem wirkte die Verzehrungssteuer dem Bestreben der Behörden 283 Mit dieser Vergrößerung des Verzehrungssteuerrayons wurde zugleich die Zahl der zu versteuernden Artikel von 200 auf 37 reduziert. Zwar wurden auch die Tarife gesenkt, jedoch erhöhte sich der Gemeindeaufschlag, das heißt die Abgabe, die die Stadt zusätzlich zu der staatlichen Steuer erhob, um circa 30 Prozent. Hinzu kam, dass die Abgaben in den nun eingemeindeten Vororten um beinahe das 14-fache stiegen: „Auf die Bevölkerung des alten Verzehrungssteuerrayons entfielen im Jahr 1891 ca. 14,7 fl. an Verzehrungs- und Verbrauchssteuerleistung, auf die Vorortebevölkerung durchschnittlich 1,1 fl. Die Bevölkerung des vergrößerten Gemeindegebietes zahlte 1892 durchschnittlich 14,3 fl. pro Kopf“. Hauer, Die Verzehrungssteuer, S. 51, Fußnote 155. 284 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 196. 285 Vgl. Felling, Die Fleischversorgung, S. 35-36; Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 95. 286 Vgl. o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft, S. 90 und 114. 287 Vgl. Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens, S. 48-49; Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 205-207; o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft, S. 95 und 105-106; o.A.: Die beste Lösung der Verzehrungssteuer- u. Linienwall-Frage. Zugleich der beste Weg für die Brodversorgung und die Fleischversorgung von Wien und den Vororten. Wien 1889, S. 4-5. 288 Felling, Die Fleischversorgung, S. 37.
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entgegen, die Tierschlachtungen räumlich zu bündeln, weil in den erst Anfang der 1890er Jahre eingemeindeten Wiener Vororten Fleischer Rinder bisweilen in Wohnhäusern schlachteten und das Fleisch, auf das ein niedrigerer Tarif als auf lebende Tiere erhoben wurde, in das Verzehrungssteuergebiet einführten.289 Die Verzehrungssteuer war bei den Wienerinnen und Wienern dermaßen verhasst, dass in den Revolutionsjahren 1848/49 deren Abschaffung ein Ziel der Proteste bildete.290 Der Anstieg der Fleischpreise korreliert zudem mit den zunehmend hohen Viehpreisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So verteuerte sich allein der Viehpreis für „bestes Schlachtvieh“ auf dem Wiener Zentralviehmarkt zwischen 1850 und 1887 mit starken Schwankungen von 90 auf 126 Kronen pro 100 Kilogramm Lebendgewicht.291 Behörden, wirtschaftspolitische Autoren sowie die Wiener Fleischer machten dafür steigende Viehzölle verantwortlich,292 Missernten, infolge derer sich die Futtermittel verteuerten, den Ausbruch von Krankheiten, die zu Einfuhrverboten führten, und Rivalitäten zwischen deutschen und österreichischen Viehhändlern, die um ungarische Rinder konkurrierten.293 Sie kritisierten eine ungenügende Verwertung der tierischen Nebenprodukte (Häute, Blut, Fett)294 und waren zudem besorgt, dass Ungarn aus der Realunion mit Habsburg austrete und damit das zentrale Bezugsgebiet von Rindern für den Wiener Raum wegfalle.295 Die städtischen Behörden versuchten den steigenden Fleischpreisen zum einen durch einen immer größeren Import von Fleisch nach Wien zu begegnen. 289 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 206. 290 Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, S. 349. 291 Die Angaben wurden von „Wiener Zentner“ (1 Wr. Ztr. = 56 kg) in Kilogramm und von der Gulden- in die Kronen-Währung (im Verhältnis von 1:2) umgerechnet. 292 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg der Importzoll für Ochsen fast um das Sechsfache, für Schweine um das Neunfache und für Kälber sogar um das Zehnfache. Wurden für einen Ochsen 1851 8 Kronen Zolltarif erhoben, waren es 1906 47 Kronen. Bis 1906 wurde der Zoll für einen Ochsen pro Tier und seit diesem Jahr dann nach Lebendgewicht mit 9,40 Kronen pro 100 Kilogramm festgesetzt. Ein Ochse hatte ein durchschnittliches Lebendgewicht von circa 600 Kilogramm. Der Zolltarif betrug folglich etwa 47 Kronen pro Tier. Der Zolltarif für Kälber stieg in demselben Zeitraum von 0,5 auf 5 Kronen und für Schweine von 2 bis 12 Kronen. Vgl. Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 110-111. Die Angaben sind hier von der österreichischen Gulden- in die Kronenwährung (im Verhältnis 1:2) umgerechnet. 293 Vgl. Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 18; Horáček/Schwarz/Wächter/ Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 44; Schwiedland, Vorbericht, S. 17. 294 Vgl. Brandl, Zur Vieh- und Fleischfrage, S. 21-22; Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 10; Ders., Wirtschaftspolitische Kritik, S. 26-29 und 66-73. 295 Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 72.
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Zum anderen verlagerten sie 1887 den bis dahin in St. Marx abgehaltenen Fleischmarkt in die Großmarkthalle im I. Bezirk, wodurch „der Markt mehr in das Centrum der Stadt verlegt und dessen Besuch dem Publicum bequemer und leichter gemacht [wurde]“296, urteilte der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz. Beide Maßnahmen konnten letztlich aber die Fleischteuerung nicht verhindern.
Abb. 7 : Durchschnittliche Verbrauchsausgaben von Arbeitern in Wien 1869 (in Gulden) Quelle: Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse, S. 131, Tabelle A 9.5. Die Balken stellen die absolute Ober- und Untergrenze der Verbrauchsangaben dar. Der horizontale schwarze Strich bildet deren Durchschnittswert ab.
296 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 198.
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Die steigenden Preise trafen insbesondere Arbeiterinnen und Arbeiter, weil sie den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwendeten.297 Wie Abbildung 7 zeigt, gab ein lediger Arbeiter 1869 durchschnittlich zwischen 218 und 292 Gulden für Nahrungsmittel aus und damit circa 57 Prozent seiner Gesamtausgaben (in Höhe von 365 bis 514 Gulden).298 Bei einer vierköpfigen Arbeiterfamilie bewegten sich in demselben Jahr die Ausgaben für Nahrungsmittel zwischen 350 und 438 Gulden, was circa 55 Prozent an den Gesamtausgaben (636 bis 798 Gulden) ausmachte.299 Eine fünfköpfige Arbeiterfamilie gab 1869 im Durchschnitt zwischen 370 und 574 Gulden für Nahrungsmittel aus, was circa 57 Prozent an deren Gesamtausgaben entsprach.300 Weil das Fleisch immer teurer wurde, ernteten die Fleischer heftige Kritik vonseiten der Wiener Bevölkerung und der städtischen Behörden. Letztere warfen ihnen wiederholt vor, das Fleisch künstlich zu verteuern.301 Denn wenn die Viehpreise sanken, verbilligten Wiener Fleischer das angebotene Fleisch nur mit Verzögerung, oder sie verkauften es zu immer höheren Preisen. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz urteilte, „daß man mit Recht von einer willkürlichen Fleischvertheuerung sprechen kann“302. Während zum Beispiel der Viehpreis für „bestes Schlachtvieh“ zwischen 1850 und 1887 von 90 auf 126 Kronen pro 100 Kilogramm stieg, folglich um 40 Prozent, vergrößerte sich der Preis für 1 Kilogramm „bestes Fleisch“ von 0,88 auf 1,8 Kronen, demnach um 104,6 Prozent.303 Nach meinen Berechnungen korrelieren die prozentualen Veränderungen der Fleischpreise mit denen der Viehpreise: Stieg bzw. fiel der Viehpreis in einem Jahr, erhöhte sich bzw. sank im Allgemeinen auch der 297 Der Wiener Ökonom Ludwig Messing bemerkte 1899: „Die Consumenten, insbesondere die Mittelclassen und die arbeitende Bevölkerung in Wien klagen über allzuhohe Fleischpreise, die in Folge ihrer Höhe nicht in Einklang zu bringen sind mit dem Einkommen der betreffenden Kreise, so dass sich dieselben zu einer Reduction des Fleischgenusses bemüssigt sehen.“ Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 49. 298 Circa 12 Prozent der Gesamtausgaben entfielen für Wohnung, 14 Prozent für Kleidung, 4 Prozent für Heizung und 13,5 Prozent für Sonstiges. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse, S. 131, Tabelle A 9.5. 299 Circa 20 Prozent entfielen für Wohnung, 12,5 Prozent für Kleidung, 5 Prozent für Heizung und 7,5 Prozent für Sonstiges. Vgl. ebd. 300 Circa 18 Prozent entfielen für Wohnung, 13 Prozent für Kleidung, 4 Prozent für Heizung und 8 Prozent für Sonstiges. Vgl. ebd. 301 Vgl. Die beste Lösung der Verzehrungssteuer- u. Linienwall-Frage, S. 37; Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 100-101 und 120-123. 302 Ebd., S. 123. 303 Vgl. ebd., S. 122-123. Die Angaben wurden von „Wiener Pfund“ (1 Wr. Pfd. = 0,56 kg) in Kilogramm und von der Gulden- in die Kronen-Währung (im Verhältnis von 1:2) umgerechnet.
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Fleischpreis im darauffolgenden. Jedoch stiegen die Fleischpreise prozentual stärker als die Viehpreise und sanken schwächer als diese.304 Die steigenden Fleisch- und Viehpreise setzten vor allem Fleischer mit einem kleineren Schlachtpensum und geringeren Geschäftsumsatz unter finanziellen Druck. Diese Fleischer, die wöchentlich zwei bis vier Ochsen schlachteten, waren von steigenden Viehpreisen und ausbleibender Kundschaft infolge hoher Fleischpreise in ihrer geschäftlichen Existenz bedroht. Hinzu kam, dass es auch für Gesellen zunehmend schwierig wurde sich selbständig zu machen. Anstatt ein finanzielles Risiko einzugehen, hielten viele eine Anstellung in einem Meisterbetrieb für ökonomisch vernünftiger und sicherer. Dieser Trend festigte betriebsinterne Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse und förderte die Entstehung größerer Betriebe. Die Beziehungen zwischen Meister, Geselle und Lehrling waren wie zu Zunftzeiten geregelt. Auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es üblich, dass Gesellen und Lehrlinge beim Meister wohnten, der mitunter für ihre Verpflegung aufkam und sie mit Naturalien bezahlte. Form und Höhe des Lohns unterschieden sich in Wien stark. Abgesehen von Kost und Logis zahlte ein Meister seinen Bediensteten je nach Stellung im Betrieb ein wöchentliches bzw. monatliches Gehalt und Trinkgelder (das sogenannte Blut-, Gedärme-, Haut- und/oder Weingeld).305 304 Vor allem zwischen 1861 und 1865 sowie 1867 und 1887 lag der prozentuale Anstieg der Fleischpreise über dem der Viehpreise. Während zum Beispiel der Viehpreis sich 1861 um 10,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöhte (114,29 gegenüber 103,57 Kronen pro 100 Kilogramm), stieg der Fleischpreis in demselben Zeitraum um 14 Prozent (1,14 gegenüber 1 Kronen pro 1 Kilogramm). Dieser blieb bis 1864 unverändert, während der Viehpreis von 1862 bis 1863 um 7,7 Prozent (116,07 gegenüber 107,14 Kronen pro 100 Kilogramm) abnahm und von 1863 bis 1864 um weitere 5 Prozent (auf 101,79 Kronen pro 100 Kilogramm). Noch deutlicher ist das Auseinanderfallen der prozentualen Veränderungen der Vieh- und Fleischpreise ab 1866/67. 1867 erhöhte sich der Viehpreis gegenüber dem Vorjahr um 6,7 Prozent (114,29 gegenüber 107,14 Kronen), der Fleischpreis hingegen um über 13 Prozent (1,21 gegenüber 1,07 Kronen). Bis 1870 stieg der Viehpreis dann jährlich um circa 3,1 bis 4,5 Prozent, während sich der Fleischpreis von Jahr zu Jahr um circa 5,2 bis 6,6 Prozent erhöhte und auch 1871 um fast 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr stieg, obwohl der Viehpreis in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr unverändert blieb. Zudem sank zwischen 1873 und 1879 – mit Ausnahme der Jahre 1876 und 1877 – der Viehpreis jährlich um 0,7–5,6 Prozent, während der Fleischpreis zwischen 1873 und 1875 unverändert blieb und sich sogar 1879 gegenüber dem Vorjahr um 5,3 Prozent erhöhte. Auch zwischen 1884 und 1887 fielen die Viehpreise jährlich, ohne dass sich die Fleischpreise entsprechend veränderten. Eigene Berechnungen auf Grundlage von ebd. 305 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien, 26.7.1905, S. 3-6].
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Innerhalb eines Betriebs bestanden gravierende Lohnunterschiede. Die folgenden Angaben habe ich einem im Juli 1905 vom Wiener Magistrats-Vize-Direktor an seinen Vorgesetzten gesandten Bericht über die „Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien“ entnommen.306 Angaben über Verdienstverhältnisse von Fleischern im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind nicht systematisch vorhanden. Außer dem genannten Bericht sowie einer Publikation der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer von 1870307 sind weder Quellen noch Forschungsliteratur über das Einkommen von Fleischereibediensteten vorhanden.308 Wie Abbildung 8 zeigt, zahlten Meister ihren Bediensteten je nach Stellung im Betrieb bei voller Verpflegung zwischen 30 und 120 Kronen monatlich. Soge- nannte „Unterläufel“ (Aushilfen für Botendienste) erhielten 30–42 Kronen, „Wagknechte“ (zuständig für das Wiegen des Fleisches) 60–64 Kronen, „Hackknechte“ (Gehilfen für Schlachtung und Fleischzerkleinerung) und „Bruckknechte“ (zuständig für Innereien) jeweils 40–120 Kronen im Monat. Hinzu kamen noch ein wöchentliches „Kleingeld“ in Höhe von 1 Krone und „an Wäsche die nötige Anzahl an Schürzen.“309 Bediensteten war es zudem gestattet, Blut bzw. Gedärme der zerlegten Tiere zu nehmen, was ihnen monatlich zwischen 6 und 62 Kronen einbrachte.310
306 Vgl. ebd. 307 Vgl. Die Arbeits- und Lohnverhältnisse in den Fabriken und Gewerben NiederOesterreichs. Erhoben und dargestellt von der nied. Österr. Handels- und Gewerbekammer. Wien 1870, S. 75-77 308 Kardosi gibt zwar im Inhaltsverzeichnis seiner 1913 eingereichten Dissertation über die Probleme der Fleischversorgung Wiens unter Kapitel 4 „Lohnverhältnisse“ an. Jedoch wurden nur die ersten beiden Kapitel dieser Arbeit veröffentlicht, so dass entsprechende Angaben über „[d]ie Konstellation der Lohnverhältnisse, deren moderne Entwicklung, die eingeführten Systeme und die sonst typisch gewordenen Einrichtungen, Verträge usw.“ (Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 42), wie Kardosi in einem kurzen Ausblick über den unveröffentlichten Inhalt seiner Dissertation schreibt, nicht verfügbar sind. 309 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei, [Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien, 26.7.1905, S. 3]. 310 Die Berechnung des durchschnittlichen Blut-, Gedärme- und Hautrinkgeldes bezieht sich hier auf die Fleischerei Anton Sachs‘, bei der die Unterschiede in der Entlohnung gravierend waren. Ein Bruckknecht in der Fleischerei Knoll erhielt 40–50 Kronen Blutgeld monatlich, Bedienstete bei dem Fleischhauer Schweiger bekamen zu ihrem Lohn zusätzlich zwischen 32 und 40 Kronen Gedärmegeld, der Bruckknecht zudem 16-20 Kronen Blutgeld. Ebd., S. 5-6.
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Abb. 8 : Lohnverhältnisse in einzelnen privaten Fleischhauereien in Wien 1905 Quelle: WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien, 26.7.1905, S. 5-6, unpag.].
Festzuhalten bleibt, dass die Gründe für die Fleischteuerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielschichtig waren. Die historischen Akteure erklärten diese mit steigenden Viehpreisen, zunehmend hohen Einfuhrzöllen für importiertes Fleisch und Missernten, infolge derer sich die Futtermittel für die Tiere verteuerten. Behörden und zeitgenössische Wirtschaftsautoren warfen Fleischern zudem vor, die Fleischpreise ungerechtfertigt zu erhöhen. Diese wiederum beklagten eine Rücksichtslosigkeit der Behörden gegenüber ihrer beruflichen Situation. Aufgrund des ökonomischen Drucks infolge der Preissteigerung strebten Lehrlinge und Gesellen eine Anstellung in einem Meisterhaushalt gegenüber der finanziell weitaus riskanteren Selbständigkeit an. Betriebsinterne Bezie-
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hungen zwischen dem Meister und seinen Bediensteten waren auch nach Einführung der Gewerbefreiheit wie in der Zunftzeit organisiert und hierarchisiert. Wie aber bestritten Fleischer mit einem kleinen Betrieb ihren Lebensunterhalt, die weder Kontakte zu Politikern und Genossenschaftsvertretern noch verwandtschaftliche Beziehungen hatten, die sie geschäftlich nutzen konnten? Um diese Frage zu beantworten, untersuche ich im Folgenden, wie Fleischer ihren Geschäftsbetrieb finanzierten, über welche Möglichkeiten sie verfügten, Kredite zu nehmen und Schulden zu machen, und inwiefern hierbei Unterschiede zwischen den Gewerbetreibenden bestanden.
5.2.3 Kreditieren und Schuldenmachen Im Wien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts veränderten sich für einen Fleischer die Möglichkeiten, seinen Geschäftsbetrieb zu finanzieren. Entweder lieh er sich Geld von einer Privatperson oder bezog einen Kredit von der sogenannten städtischen Fleischkasse. Beide Finanzierungsoptionen lösten einander im Untersuchungszeitraum ab. Ich werde zeigen, wie es zu diesem Wandel kam und welche unterschiedlichen Möglichkeiten zwischen Wiener Fleischern bestanden Kredite aufzunehmen und Schulden zu machen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden finanzielle Fragen für immer mehr Fleischer zu einem beherrschenden Thema in ihrem beruflichen Alltag. Behördenvertreter, Kommunalpolitiker und wirtschaftspolitische Autoren beklagten, dass Gesellen, die sich selbständig machten, zu einem solchen Schritt die beruflichen Erfahrungen fehlten, sie weder über ausreichende Geld rücklagen verfügten noch die finanziellen Risiken berücksichtigten.311 Wie Friedrich Kardosi zudem bemerkte, fielen in einigen Fällen Gesellen Bauspekulanten zum Opfer, die sie mit falschen Versprechungen lockten, ein Geschäftslokal zu mieten. Fehlten ausreichende finanzielle Sicherheiten, konnte aus bleibende Kundschaft schnell zum Konkurs führen.312 Danach sei es für die 311 Hinzu kam, dass Wiener Fleischer „ein, zwei, ja selbst mehrere Gehilfen aufnehmen; in größeren Betrieben ist die Zahl der Gehilfen oft 17 bis 20.“ Die Wiener Fleischfrage. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 17.8.1897, Nr. 66, S. 1-2. 312 Kardosi verwies auf „das Animieren von Gesellen durch sogenannte Bauspekulanten, d. h. Leute, die in den Vorstädten nach vorausgegangener Bauplätzespekulation große Zinskasernen bauten und nun möglichst viel aus ihnen herausschlagen wollten. Sie richteten dann mehrere kleinere Läden ein, ließen sie schön mit Fließen ausstatten, sorgten für geeignete Räumlichkeiten zur Aufstellung von Fleischereigeräten und sonstigen Handmaschinen, sahen wohl auch die Benützung eines
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meisten Fleischer kaum möglich, im Gewerbe Fuß zu fassen, wie Kardosi schreibt: Selten war ein derartig heruntergekommener Fleischer wieder vom Großschlächter in Dienst genommen. Die meisten verschwinden hinter den Toren einer Fabrik und fristen als Kutscher, Taglöhner, Dienstmänner, Feuerwehrleute, Straßenkehrer u. dgl. ihr Leben und sind somit gezwungen, ihren Leichtsinn mit langer, harter Arbeit unter elenden sozialen Verhältnissen zu büßen.313
Um diese Entwicklungen zu verhindern und die finanziellen Risiken für Fleischer zu reduzieren, gründete die Stadt Wien 1850 eine sogenannte Fleischkasse. Diese stellte neben der Einführung des Schlachthauszwanges und dem Bau der beiden Schlachthäuser in St. Marx und Gumpendorf eine weitere zentrale Reform auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung dar. Mit ihrer Gründung versuchten die Reformer aus Politik und Verwaltung, Fleischer von privaten Geldgebern, allen voran den Viehhändlern, unabhängig zu machen. Um die Jahrhundertmitte war es üblich, dass diese die Tiere auf dem Wiener Viehmarkt von den Viehhaltern erstanden, ihrerseits dann an Fleischer verkauften und ihnen dafür Kredite gewährten. Als Kreditgeber etablierten die Viehhändler einen festen Kundenkreis unter den Wiener Fleischern und bestimmten eigenmächtig den Verkaufspreis für die Tiere.314 Diejenigen Viehhalter, die, anstelle ihre Tiere an Händler abzutreten, den Wiener Markt selbst aufsuchten, um diese zu verkaufen, fanden kaum Abnehmer: „Wer geht nach Wien, Der [sic!] wird grün!“315, war nach Friedrich Kardosi eine geläufige Redewendung auf dem Wiener Viehmarkt um die Jahrhundertmitte. Als die Stadt Wien 1850 der städtischen Fleischkasse das alleinige Recht der Kreditgewährung erteilte, trennte sie damit den Viehhandel von der Kreditvergabe. Seitdem konnten Fleischer beim Kauf von Tieren nur noch von der Motors gleich vor. Nun suchten sie Fleischergehilfen auf, luden sie zur Besichtigung des Ladens ein, hoben hervor, daß dieser extra für eine Fleischerei eingerichtet sei, und mancher junge Gehilfe ließ sich auf diese Weise überreden, den Laden zu übernehmen, in der Hoffnung, daß durch weiteres Wachsen des betreffenden Wohnviertels ihm eine reichliche Kundschaft gesichert werde. Trotz eines kleinen Kapitals machte er sich selbständig und versuchte, sich, so gut er vermochte, durchzuschlagen. Ging es dann aber einmal knapp, und probierte er es sogar mit eigenem Viehkauf, den richtig zu erlernen heute ein Gehilfe ja kaum Gelegenheit hat, so war der Anfang vom Ende da“. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 31. 313 Ebd., S. 32. 314 Vgl. Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 63-64. 315 Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 9.
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Fleischkasse einen Kredit beziehen. Hinzu kam, dass die Kreditaufnahme für jeden Käufer verpflichtend war. Ein Fleischer, der auf dem Viehmarkt ein Tier erstehen wollte, musste bei der Fleischkasse eine Kaution in Höhe von 2.100 Gulden hinterlegen, die er zugleich als Kredit in Anspruch anzunehmen und diesen innerhalb von zwei Wochen zurückzuzahlen hatte.316 Je nach Schlachtpensum eines Fleischers konnten Höhe und Häufigkeit der vergebenen Kredite stark variieren. Es kam vor, dass ein Fleischer alle drei Tage einen neuen Kredit beanspruchte oder bei der Fleischkasse über 20.000 Gulden Schulden anhäufte. Der Fleischhauer Johann Zeiller zum Beispiel schuldete der Fleischkasse für 57 Rinder, die er zwischen dem 30. Dezember 1867 und 27. Januar 1868 mit zehn Krediten von insgesamt über 8.700 Gulden gekauft hatte, nach Abzug seiner Kaution in Höhe von 2.100 Gulden mehr als 6.000 Gulden.317 Dieser Betrag war verglichen mit den Schulden des Fleischhauers Josef Wimmer noch gering. Der Vorsteher der Wiener Fleischhauergenossenschaft hatte vom 19. Dezember 1867 bis zum 30. Januar 1868 für den Kauf von insgesamt 152 Rindern in einem Abstand von zwei bis drei Tagen siebzehnmal einen Kredit von der Fleischkasse bezogen, den er nicht fristgerecht zurückzahlte. Seine Schulden beliefen sich auf insgesamt 27.889,67 Gulden.318 Es geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor, wie viele Fleischer ihre Kredite fristgerecht zurückzahlten oder in welchem Zeitraum sie ihre Schulden beglichen. Auffallend ist, dass diejenigen Fleischer, die relativ hohe Kredite in Anspruch nahmen, hohe Betriebsausgaben hatten, dafür aber auch viel Geld verdienten und daher ihre Schulden auch fristgerecht zurückzahlen konnten.319 So hatte Josef Wimmer bereits zwischen dem 16. Oktober und 22. November 1866 dreizehnmal einen Kredit in Höhe von insgesamt 18.360,44 Gulden be 316 Der bewilligte Kredit sollte die Höhe der hinterlegten Kaution nicht überschreiten. Ein Fleischer konnte jedoch mehr Geld beanspruchen, „wenn sein 14tägiger Verbrauch an Schlachtvieh diesen überstieg“. Ebd., S. 10. Das Kapital der Fleischkasse betrug bei ihrer Gründung insgesamt 300.000 Gulden, wovon 250.000 Gulden ein staatliches Darlehen an die Stadt Wien waren und die restlichen 50.000 Gulden durch die von den Wiener Fleischern hinterlegten Kautionen zusammenkamen. Vgl. ebd.; Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 201. 317 WStLA, 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 [Z. 367, 31.1.1868]. 318 Ebd. [Z. 362, 31.1.1868]. 319 Weitere Beispiele für Fleischer mit einem großen Geschäftsumsatz, die zudem Mitglieder in der Genossenschaftsvorstehung waren und Rückzahlungfristen von Krediten mehrfach verstreichen ließen, sind Karl Haas, Gotthard Köckeis und Franz Lechner. Vgl. Die Vorsteher und Vorsteherstellvertreter der Genossenschaft, S. 137; WStLA, 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 [Z. 1435, 11.3.1874]; ebd. [Z. 79720, 25.6.1870 (= K. Haas)]; ebd. [Z. 79719, 25.6.1870 (= G. Köckeis)]; ebd. [Z. 416, 4.5.1868]; ebd. [Z. 979 (= F. Lechner)].
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zogen.320 Drei Wochen später, am 14. Dezember 1866, wurde ihm erneut ein Kredit in Höhe von 1774,20 Gulden für den Kauf von 14 Rindern ohne den Vermerk einer ausstehenden Zahlung bewilligt.321 Wimmer hatte bis dahin die für Oktober und November 1866 erteilten Kredite zurückgezahlt. Für eine weitere verstrichene Rückzahlungsfrist für eine Kreditsumme von 16.821,45 Gulden, die er zwischen dem 14. Dezember 1866 und 17. Januar 1867 erhalten hatte,322 fehlt in einer darauf folgenden Mahnung über eine verstrichene Rückzahlungsfrist von insgesamt 27.889,67 Gulden ein Vermerk.323 Daraus geht hervor, dass ein kapitalkräftiger Fleischer von einer temporären Verschuldung in seiner beruflichen Existenz kaum gefährdet war. Schuldnerkarrieren, die im finanziellen Ruin endeten, und vor denen Fleischerzeitungen, zeitgenössische Wirtschaftsautoren und Kommunalpolitiker warnten,324 kamen nach vorliegender Quellenlage bei Fleischern mit einem großen Schlachtpensum nicht vor. Selbst denjenigen Fleischern, die die Fleischkasse als zahlungsunfähig einstufte, wurde die Möglichkeit in Aussicht gestellt, ihre Schulden nach veränderten Modalitäten (geringere Raten, längere Fristen) zu begleichen, damit sie ihren Geschäftsbetrieb fortführen konnten.325 Zudem waren die Rückzahlungsmodalitäten von vergebenen Krediten flexibel. Den Bitten von Fleischern, die Höhe vereinbarter Raten oder die Zahlungsabstände zu ändern, wurde üblicherweise Folge geleistet.326 Selbst als 1870 der Gemeinderat die Auflösung der Fleischkasse beschloss und ausstehende Zahlungen mit Nachdruck einforderte, entschied der Magistrat, dass „jenen Fleischhauern, denen Zalungsunfähigkeit bereits dargethan ist, […] die Schuld gänzlich abgeschrieben werden [soll], wenn eine auch nur theilweise Zalung nicht mehr zu erwarten ist“327. Die Stadt gewährte Fleischern damit ihre Kredite erst dann zurückzahlen zu müssen, wenn deren finanzielle Verhältnisse dies erlaubten. Dass aber der Gemeinderat am 1. Juli 1870 die Auflösung der städtischen Fleischkasse beschloss, lag daran, dass immer mehr kleinere Fleischer außerstande waren, ihre Schulden zu begleichen. Im wirtschaftsliberalen Ton-
320 Ebd. [30.11.1866]. 321 Ebd. [Z. 207, 22.1.1867]. 322 Ebd. 323 Ebd. [Z. 362, 31.1.1868]. 324 Vgl. Kontraste. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 22.1.1904, Nr. 7, S. 1-2; Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 31; Schwiedland, Vorbericht, S. 40. 325 WStLA, 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 [Z. 6225]. 326 Vgl. zum Beispiel: WStLA, 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 [Z. 1022, 23.7.1870] und [Z. 110859, 21.1.1871]. 327 Ebd. [Z. 6225].
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fall seiner Zeit beurteilte der Magistratsrat Franz Wenzel daher das Projekt der städtischen Fleischkasse 1874 rückblickend als gescheitert: Die vermöglichen Fleischhauer, die selbst im Besitze des zu ihrem Geschäfte nothwendigen Betriebsfondes waren, wurden durch die Fleischkasse in der Ausübung des Gewerbes nur beschränkt, und die kleinen Fleischhauer, die ohne eigenes Vermögen auf die Zahlung durch die Fleischkasse angewiesen waren, brachten der Fleisch-Approvisionierung gar keinen Vortheil, vertheuerten nur durch die vermehrte Nachfrage das Schlachtvieh und gingen zumeist an den großen Lasten der Regie zu Grunde.328
Hatten die Interessen der kleineren Fleischer bei der Gründung der städtischen Fleischkasse im Vordergrund gestanden, nahm der Gemeinderat bei deren Auflösung vor allem Rücksicht auf deren finanzkräftigere Berufskollegen. Der Direktor des Marktamtes Karl Kainz bemerkte 1889, dass sich der Wiener Gemeinderat zu diesem Schritt entschlossen hatte, „weil die großen Fleischhauer und Viehhändler die Beseitigung des Fleischcassezwanges begehrten.“329 Nach Auflösung der Fleischkasse traten Viehhändler erneut als Kreditoren in Erscheinung. Sie hatten noch zu Zeiten der Fleischkasse ihre Position auf dem Wiener Viehmarkt behaupten können, weil die Fleischkasse Kredite nur an Fleischer vergab, die in Wien ansässig waren, nicht jedoch an auswärtige Viehhalter. Diese aber waren auf Kredite angewiesen, damit sie den Viehmarkt mit Tieren beschicken konnten, und erhielten sie von den Viehhändlern.330 Aus deren Reihen gingen in den 1860er Jahren die sogenannten Fleischkommissionäre hervor, die nach Auflösung der städtischen Fleischkasse neben den Viehhaltern wieder Fleischer und auch andere Viehhändler kreditierten. Wie bereits vor Einführung der städtischen Fleischkasse waren vor allem die kleineren Fleischer auf die Kredite der Kommissionäre angewiesen.331 Deren finanzielle Abhängigkeit und Konflikte332 mit den Kommissionären veranlassten den Gemeinderat nach nur 14 Jahren im Februar 1884 eine neue Fleischkasse, die „Wie328 Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 202. 329 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 124. 330 Vgl. Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 64-65. 331 Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 19; Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 29-30. 332 Fleischer warfen Kommissionären immer wieder vor, mündliche Abmachungen nicht einzuhalten und stellten deren Glaubwürdigkeit in Geschäften infrage. Vgl. Zwei Stückerl vom Zentralviehmarkt. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 8.3.1904, Nr. 20, S. 2; Unglaublich aber wahr! In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, IV. Jg., 23.12.1874, Nr. 152, S. 1-2.
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ner Vieh- und Fleischmarktkasse“ zu gründen. Diese wurde nicht mehr wie ihre Vorgängerin unter städtischer Regie geführt, sondern von der Allgemeinen Depositenbank privat finanziert und vergab Kredite sowohl an Fleischer als auch an die Viehhalter.333 Doch mit dieser Reform gelang es den Behörden nicht, die Dominanz der Kommissionäre bei Kreditgeschäften zu verringern. Aus Protest eröffneten diese in Preßburg (heute Bratislava) im April 1884 einen Viehmarkt, auf dem sie Rinder verkauften, anstelle diese wie zuvor nach Wien zu bringen. Die Wiener Behörden waren daher zu Zugeständnissen gezwungen und gestatteten ihnen unabhängig von der Vieh- und Fleischmarktkasse Kredite an Fleischer und Viehhalter zu vergeben.334
333 Vgl. Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 63 ff. 334 Vgl. Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 66-67; Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 23. Auch eine andere Institution, die das Kreditvergabemonopol der Kommissionäre brechen sollten, scheiterte. Das sogenannte städtische Übernahmeamt entstand in Verbindung mit der Großschlächterei-Aktiengesellschaft im Juni 1905. Das Übernahmeamt hatte die „Aufgabe, Vieh und Fleisch, welches die Produzenten einsenden, auf dem Wiener Markte an die Fleischer zu verkaufen ohne Verkaufsgebühren dafür zu nehmen und so dem Zwischenhandel am Wiener Markte entgegenzutreten.“ Ebd., S. 41. Es unterstand dem Wiener Magistrat und wurde von einer Kommission, bestehend aus dem Bürgermeister und zwei Gemeinderäten, kontrolliert. Vgl. ebd., S. 66. Wie bei Einführung der Fleischkasse erhofften die städtischen Behörden auch mit dem Übernahmeamt, den „kleineren Produzenten die Möglichkeit zu bieten, ihre Produkte direkt und unmittelbar auf dem Wiener Zentralviehmarkte zu verwerten.“ Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 55. Weil diese Einrichtung jedoch fakultativ war, blieb die dominante Stellung der Kommissionäre unangetastet. Vgl. Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 65-66. Das hing vor allem damit zusammen, dass das Übernahmeamt zwar an Vieheinsender Kredite vergab, jedoch keine Vorschüsse an die Käufer oder Viehproduzenten erteilte. Vgl. Lindemann, Hugo: Städtische Einrichtungen für Lebensmittelversorgung. In: Sozialistische Monatshefte 13, 1909, 8, S. 495-501, hier S. 499. Weil die Kommissionäre die Vorauszahlungen an die Mäster übernahmen, „kann auch die städtische Uebernahmsstelle […] den fast mit einem Monopol ausgestatteten großen Viehkommissionären keine wirksame Konkurrenz machen, wie man erhofft hat“, urteilte Friedrich Kardosi 1913. Kardosi, Wirtschaftspolitische Kritik, S. 57. Wirtschaftspolitische Autoren wie Kardosi hielten das städtische Übernahmeamt daher für gescheitert, auch weil die durch diese Institution vermittelten Tiere auf dem Wiener Zentralviehmarkt nur einen Bruchteil des Gesamtauftriebs ausmachten. 1904 wurden zum Beispiel von insgesamt circa 250.000 auf dem Zentralviehmarkt verkauften Rindern lediglich etwa 2.400 durch das städtische Übernahmeamt vermittelt. Vgl. ebd., S. 59; Felling, Die Fleischversorgung der Stadt Wien, S. 75; Lindemann, Städtische Einrichtungen, S. 499.
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Das Beispiel „des Sezessionsmarktes von Preßburg“335 und die Formen der Kreditvergabe im Viehhandel legen die Grenzen städtischer Versorgungspolitik offen. Die Wiener Behörden vermochten nicht die finanzielle Unterstützung der Fleischer dauerhaft zu gewährleisten. Die Folgen der Kreditvergabe entzogen sich einer politischen Regulierung. Das zeigt auch, dass viele Entwicklungen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung ungeplant verliefen. Nach Ansicht des Wiener Marktoberkommissärs Karl Schwarz seien daher die Gründungen städtischer Institutionen auf dem Gebiet der Wiener Fleischversorgung „als Experimente anzusehen“336, die die Möglichkeit für „ein wirtschaftspolitisches Studium“337 böten. Galten Schlachthäuser als Errungenschaften eines technischen Fortschritts und einer planerischen Meisterleistung, entzogen sich Probleme und Herausforderungen, die mit Urbanisierung verbundene Entwicklungen mit sich brachten und die sich in Gestalt von steigenden Fleischpreisen oder einem zunehmenden Fleischbedarf zeigten, dem Kalkül von Politikern und Beamten. Wirtschaftsautoren verwiesen seinerzeit auf die Notwendigkeit von Reformen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung, gaben aber zugleich zu bedenken, daß man die Vieh- und Fleischfrage, wie viele andere Fragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaft nicht ‚lösen‘ kann, weil es Lösungen überhaupt nicht oder nur für den Augenblick gibt. Man kann bei all diesen Fragen nur mehr oder weniger wirksamen Einfluß auf ihre Entwicklung nehmen; mehr nicht, aber diesen bestimmt. Dazu ist stete Anpassung an die sich unablässig neugestaltenden Verhältnisse notwendig und diese Anpassungsfähigkeit sich anzueignen bzw. zu betätigen ist eine ernste Pflicht unserer öffentlichen Verwaltung; gelingt es ihr, dann hat sie den Beweis erbracht, in bestem Sinne modern geworden zu sein.338
Kommunalbeamte und Behördenvertreter waren sich dieser Herkulesaufgabe bewusst. Motor des Wandels, das wussten auch sie, waren ökonomische Veränderungen und Zwänge,339 mit denen auch kommunale Verwaltungen anderer Städte konfrontiert waren. Städtische Versorgungspolitik ging immer mit gesellschaftlichen Herausforderungen einher und stand im Kontext internatio naler Entwicklungen.
335 Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 66. 336 Ebd., S. 86. 337 Ebd. 338 Ebd., S. 93. 339 Vgl. Nieradzik, „Dämon der modernen Zeit“, S. 105-107.
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5.3 Gesellschaftlicher Kontext Die Reformen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Fleischversorgung, wie ich sie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und das frühe 20. Jahrhundert beschrieben habe, waren keineswegs nur auf Wien beschränkt. Die Inbetriebnahme kommunaler Schlachthäuser und Viehhöfe ebenso wie Prozesse einer beruflichen Ausdifferenzierung in Großschlächter und Ladenfleischer stellten europaweite Entwicklungen dar. Nachfolgend untersuche ich die unterschiedlichen Formen des Wissensaustauschs und zeige, dass Konflikte zwischen Fleischern und städtischen Behörden auch an der Frage entbrannten, inwiefern der Wandel der Fleischversorgung und der Arbeitsorganisation im Fleischerhandwerk ein internationales Phänomen darstellte oder ob es sich dabei um genuin wienspezifische Entwicklungen handelte (Kap. 5.3.1). Die Reform der städtischen Fleischversorgung umfasste ein gesellschaftspolitisches Programm, das immer auch auf eine Erziehung der Menschen zielte. Wie ich zeigen werde, imaginierten kommunale Behörden, Ärzte und zeitgenössische Autoren die Großstadt als pathogenen Ort, dem zahlreiche Gefahren für die moralische Integrität des Menschen inhärent waren (Kap. 5.3.2).
5.3.1 Internationalisierung Im Vergleich zu anderen Großstädten folgte die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien mit dem Bau von öffentlichen Schlachthäusern erst spät einer Entwicklung, die ihren Anfang bereits 40 Jahre zuvor in Frankreich genommen hatte. Aufgrund von Versorgungsproblemen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Napoleon Bonaparte mit zwei kaiserlichen Dekreten 1807 den Bau von fünf öffentlichen Schlachthäusern in Paris angeordnet, die zwischen 1810 und 1818 errichtet wurden und zusammen mit dem Schlachthof in Rouen vorbildhaft für den Bau der beiden Wiener Schlachthöfe in St. Marx und Gumpendorf waren.340 In den folgenden vier Jahrzehnten entstanden nach den französischen Vorbildern öffentliche Schlachthöfe und Viehmärkte in anderen europäischen Staaten. Ingenieure, Architekten, Veterinäre, Regierungsbeamte und Kommunalpolitiker besichtigten auf ihren „Studienreise[n]“341 diese Schlachthof- und
340 Vgl. Hennicke, Bericht über Schlachthäuser, S. 23; Klasen, Viehmärkte, Schlachthöfe, S. 439; Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Technikgeschichte, S. 112, 123 und 130; Osthoff, Schlachthöfe und Viehmärkte, S. 3. 341 Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Stadtarchiv und Stadtgeschichte, S. 811.
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Viehmarktanlagen und eigneten sich ein spezifisches Wissen über deren Architektur, technische Ausstattung und Arbeitsorganisation an.342 Im Mai und September 1872 besuchte eine Kommission des Wiener Approvisionierungsreferates unter der Leitung des Magistratsrates Franz Wenzel Schlachthöfe und Viehmärkte in Hamburg, Berlin, Dresden, Pest, Mailand, Turin, Lyon, Paris und London.343 Wie Wenzel in seinem abschließenden Bericht bemerkte, habe die Kommission dabei „auch über verschiedene andere gemeinnützige Einrichtungen, als: Markthallen, Volksküchen, Asylhäuser, Straf- und Besserungs-Anstalten, Spitäler, Friedhöfe, Kanalisierungen nähere Erhebungen gepflogen“344. Deren Besuch verweist auf eine Regierungspolitik der kommunalen Verwaltung, die darauf zielte, das Leben in der Stadt auf unterschiedlichen Ebenen zu verwalten. Nicht von ungefähr bezeichneten Politiker und Behördenvertreter die Schlachtordnungen in den Schlachthäusern und die Marktordnungen auf den Viehmärkten als Polizeiordnungen,345 weil diese die Rechte und Pflichten der Arbeitenden festschrieben, Abweichungen bestraften und den Schlachthof und Viehmarkt in Topografien einer spezifischen Ordnung, Kontrolle und Arbeitsdisziplin verwandelten (siehe Kap. 6.1). Umgekehrt war auch der Wiener Schlachthof in St. Marx ein häufiges Reiseziel ausländischer Politiker, Mediziner, Techniker, Architekten und Direktoren anderer Schlacht- und Viehhöfe aus dem In- und Ausland. Deren wohlwollende Stellungnahmen und anerkennenden Urteile über die Effizienz und Ordnung der Tierschlachtungen bestätigten der Direktion des Wiener Schlachthofes die Funktionstüchtigkeit einer modernen großstädtischen Fleischversorgung.346
342 Vgl. ders., Ein „blutiges Geschäft“, Technikgeschichte, S. 98-112. 343 Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte. Einen Überblick über die Studienreisen gibt: Lackner, Ein „blutiges Geschäfte“, Technikgeschichte, S. 98-100. 344 Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 8. 345 Vgl. zum Beispiel: Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 194. 346 Belegt sind zahlreiche Beispiele im sogenannten „Vorfallenheiten-Protokoll“ des Wiener Marktamtes. Vgl. WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 87 [23.6.1906, Schlachthaus-Direktor aus Nischni Nowgorod besucht Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt], S. 97 [21.8.1906, Belgrader Bürgermeister besucht Wiener Zentralviehmarkt], S. 133 [12.3.1907, Christo Bojadschief und H. Torlof, Architekten aus Sofia, besuchen Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt], S. 141-142 [27.5.1907, Veterinärbeamte besuchen Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt], S. 149 [7.7.1907, Russische Generäle besuchen Wiener Schlachthof und Viehmarkt], S. 151 [7.7.1907, Städtischer Schlacht- und Viehhofdirektor aus Chemnitz besucht Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt]; Preußische Ministerialbeamte auf dem Centralviehmarkte. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, VI. Jg., 15.11.1898, Nr. 91, S. 2-3.
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Neben Studienreisen bot die verstärkt seit Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinende ingenieurwissenschaftliche und bauarchitektonische Fachliteratur eine Möglichkeit, Kenntnisse und Erfahrungen einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Hinzu kam, dass die Verwaltungen verschiedener Gemeinden sowie die Direktionen der jeweiligen Schlachthöfe und Viehmärkte auf dem Briefweg miteinander kommunizierten. Franz Wenzel korrespondierte zum Beispiel mit mehreren Gemeindeverwaltungen, um sich über die bestehenden Verkaufsformen auf Viehmärkten in anderen Städten zu informieren,347 und das Wiener Marktamt unterhielt sogar postalische Beziehungen zur Gesundheitsbehörde in Boston.348 Studienreisen zu Schlachthöfen und Viehmärkten, das Erscheinen einer Fachliteratur und der Austausch von Wissen auf postalischem Weg ermöglichten eine europaweite Zirkulation von Erfahrungen und Kenntnissen. Die Internationalisierung dieses spezifischen Wissens standardisierte die Vorstellungen über den Bau von Schlachthöfen und die Organisation der städtischen Fleischversorgung. Ausgehend von der Annahme, dass die gleichen Probleme die gleichen Lösungen notwendig machten, forderten Vertreter einer europaweiten „Schlachthofbewegung“349 die räumliche Bündelung und verstärkte Kontrolle des Schlachtens in öffentlichen Schlachthäusern. Denn nur die Rationalisierung und Überwachung der Tierschlachtungen könnten die massenhafte Produktion gesundheitlich unbedenklichen Fleisches für eine wachsende städtische Bevölkerung sicherstellen. Vorreiter auf dem Gebiet der zentralisierten, rationalisierten und industrialisierten Fließbandschlachtung waren die USA. Zu einem Zeitpunkt, als in Wien noch kein einziger kommunaler Schlachthof existierte, schlachteten in Chicago Arbeiter Schweine bereits in fünfetagigen Schlachthäusern.350 Dort entstand eine Produktionsstruktur und Arbeitsorganisation, bei der der Schlachter kein Handwerker, sondern Arbeiter war, der einen bestimmten Arbeitsschritt unzählige Male immer wieder von Neuem ausführte. Diese „disassembly line“351, wie sie der Umwelthistoriker William Cronon nennt, die Tiere zerlegte und in 347 Vgl. Weißenberger, Die Fleischversorgung Wiens, S. 20-22. 348 Vgl. Die Schonung der Thiere. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.1.1875, Nr. 1, S. 3. 349 Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Technikgeschichte, S. 92. 350 Anschaulich und erschreckend sachlich beschreiben Sigfried Giedion und Upton Sinclair Fließbandschlachtungen in den Schlachthöfen Chicagos, in denen Hunderte von Schlachtgehilfen und Arbeitern Hand an ein Tier legten und es Schritt für Schritt zerteilten. Vgl. Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 238-277; Sinclair, Upton: Der Dschungel, 3. Aufl. Berlin 1982 [Original: The Jungle. New York 1906], S. 50-57. 351 Cronon, Nature‘s Metropolis, S. 211.
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Fleisch verwandelte, schuf die Grundlage und stellte den Prototypen für zen tralisierte und rationalisierte Produktionssysteme dar, die sich auch in anderen Wirtschaftszweigen wie in der Automobilindustrie etablierten. So waren für Henry Ford, dessen Mitarbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts die Schlachthöfe in Chicago besichtigten, die Schlachtung, Zerteilung und Verarbeitung von Rindern und Schweinen auf Fließbändern Vorbild für die Entwicklung und Einführung der Fließbandproduktion in der Automobilindustrie.352 Und bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts galten Schlachthöfe als Vorbilder und Inspirationsquellen für Rationalisierung und Industrialisierung von Arbeit sowie als Sinnbilder für eine radikale Versachlichung und Entmenschlichung zentralisierter Produktionsprozesse. So verweist unter anderem Karl Marx in seiner Abhandlung über die Genese der modernen Manufaktur auf die journalistische Verwendung des Begriffes Schlachthaus als Synonym für gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und spricht selbst von den „Schlachtopfer[n]“353 kapitalistischer Produktionsweisen. Zwar erreichte im Untersuchungszeitraum die Arbeitsrationalisierung in Wiener Schlachthäusern nie ein vergleichbares Ausmaß wie in Chicago. Aber auch in Wien veränderten die Behörden die fleischhandwerkliche Arbeitswelt grundlegend und etablierten Produktionsstrukturen, die eine Massentierschlachtung ermöglichten und berufliche Ausdifferenzierungs- und Professionalisierungsprozesse verstärkten. Für die Reformer stellten diese Entwicklungen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung eine historische Zwangsläufigkeit und ein europaweites Phänomen dar. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz forderte 1889 zum Beispiel, den Ausbau von Großschlächtereien zu forcieren und verwies darauf, dass es „[i]n London und Paris […] schon seit mehreren Jahrzehnten [Fleischer gibt], welche nur für Wiederverkäufer schlachten und sich selbst gar nicht mit der Fleischausschrotung befassen.“354 Die „carcass butchers“ und „chevillards“, wie die Großschlächter in London und Paris hießen,355 steigerten die Qualität des in den Verkauf ge352 Vgl. DeMello, Animals and Society, S. 133; Hounshell, David A.: The Ford Motor Company & the Rise of Mass Production in America. In: Ders.: American System to Mass Production, 1800–1932. The Development of Manufacturing Technology in the United States. Baltimore 1984, S. 217-262, hier S. 217 und 241 ff.; Pretting, Gerhard: Die Erfindung des Schlachtplans. In: brand eins 3, 2006, S. 114-122. 353 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. 5. Aufl. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1973, S. 418. 354 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 131. Vgl. Wernet, Karl Friedrich: Wettbewerbs- und Absatzverhältnisse des Handwerks in historischer Sicht. Nahrung, Getränke, Genußmittel, Viertes Kapitel: Fleischer/Metzger/Schlachter. Berlin 1967, S. 159-230, hier S. 214-215 und 226. 355 Vgl. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 131.
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langenden Fleisches, wie unter anderem der stellvertretende Sekretär in der Wiener Handels- und Gewerbekammer Eugen Schwiedland argumentierte. Denn, so Schwiedland, [d]er sich entwickelnde Großschlächter wird sich nun je nach der Qualität seiner Kunden specialisiren; er wird in dem Maße, als er nur Großschlächter wird, ausschließlich den Bedürfnissen seiner Abnehmer entsprechende Qualitäten von Thieren schlachten: […] der einzelne Fleischhauer wird nur diejenigen Theile – vorwiegend Vorderes oder vorwiegend Hinteres oder Filetstücke etc. – vom Großschlächter kaufen, deren er bedarf.356
Auch die rückgängigen Tierschlachtungen und steigenden Fleischimporte verorteten die Reformer aus Politik und Verwaltung innerhalb eines internationalen Rahmens. In ganz Europa, bemerkte der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz, „macht sich […] das Bestreben geltend, große Städte statt mit lebendem Vieh, mit importirtem Fleische zu versorgen.“357 Wiener Politiker und Verwaltungsbeamte fühlten sich in ihren Reformbemühungen bestätigt, weil steigender Fleischbedarf, stadthygienische Herausforderungen sowie der Bau von öffentlichen Schlachthäusern, die Einführung des Schlachthauszwanges und einer arbeitsgliedrigen Produktion auch in anderen Städten zu beobachten waren.358 Hingegen verorteten Wiener Fleischer die Entwicklungen im Gewerbe innerhalb eines nationalen und regionalen Bezugsrahmens. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer Internationalisierung und Nationalisierung von Problemlagen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Fleischversorgung bildete einen zentralen Widerspruch in den Auseinandersetzungen zwischen den Wiener Fleischern und Reformern aus Politik und Verwaltung. Konfliktverstärkend war zudem, wie ich im Folgenden zeigen werde, dass Behördenvertreter, Kommunalpolitiker und Regierungsbeamte die Reform der städtischen Fleischversorgung innerhalb des damaligen Diskurses um die pathogene Großstadt und die sogenannte Stadtassanierung verorteten. Damit rechtfertigten sie Reformen mit einer Argumentation, die Wiener Fleischer kaum nachvollziehen konnten.
356 Schwiedland, Vorbericht, S. 38. 357 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 189. 358 Vgl. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 16].
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5.3.2 Streben nach Hygiene In diesem Kapitel untersuche ich die Reformen auf dem Gebiet der Wiener Fleischversorgung im Rahmen des Hygienediskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ich zeige, dass Behördenvertreter, Politiker und Verwaltungsbeamte mit ihrem Streben nach Hygiene gesundheitliche Ziele und volkserzieherische Motive miteinander verbanden. Dabei frage ich, inwiefern für sie das Streben nach Hygiene ein Ausdruck und eine Regierungstechnik gesellschaftspolitischer Verantwortung war, mit der die Behörden zugleich an das soziale Pflichtgefühl jeder Wienerin und jedes Wieners appellierten, ihr Leben nach dem Maßstab der sogenannten Hygiene zu führen. Die Errichtung kommunaler Schlachthöfe und Viehmärkte stand wie der Bau von Kanalisationssystemen, Friedhofanlagen und Krankenhäusern im Kontext der sogenannten Assanierung der Stadt.359 Der steigende Fleischbedarf der Wiener Bevölkerung stellte die Behörden ebenso vor große Herausforderungen wie die Organisation der Müllbeseitigung, der Leichenbestattung und der Schutz vor Epidemien. Nicht nur Wiener Fleischer, sondern auch Politiker und Beamte erlebten die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als tiefe Einschnitte. Sie beschrieben die Entwicklungen mitunter nicht ohne eine gewisse Resignation und klagten über das für sie ungesunde und kräfteraubende Leben in der Großstadt.360 Im Fin de Siècle verstärkten sich pessimistische Gegenwartsdiagnosen, und nur Reformen vermochten in den Augen von Beamten, Behördenvertretern, Politikern und zeitgenössischen Wirtschaftsautoren die Probleme und Herausforderungen der pathogenen Stadt zu beseitigen. Beispielhaft warnte der Direktor der Wiener Hygieneausstellung von 1906 Josef Gally vor dem „enge[n] Zusammenleben größerer Menschenmassen in den großen Städten mit
359 Vgl. Rella, Die Assanierung der Städte, S. 273-282. 360 Im Februar 1899 schrieb zum Beispiel der Wiener Ökonom Ludwig Messing in seinem Vorwort zur „Wiener Fleischfrage“: „Wien ist schon lange nicht mehr die Stadt der Phäaken, wo immer am Herde der Spiess sich dreht. Seitdem die Stadt durch das Fallen der sie früher umschliessenden Wälle und Basteien bedeutend an Ausdehnung gewonnen hat, sind mit dem gleichzeitigen Anwachsen der Bevölkerung die Lebensverhältnisse schwieriger geworden. Die in die neueste Zeit fallende, zweite Stadterweiterung, welche die Vereinigung Wien‘s mit seinen Vororten herbeiführte, bedeutet […] auch neuerdings eine zunehmende Erschwerung der Lebensverhältnisse, da einerseits der Existenzkampf innerhalb einer MillionenBevölkerung ein harter ist, anderseits aber auch die ausreichende Versorgung eines derartigen Consumentenkreises mit Lebensmitteln nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten aufweist.“ Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. III.
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seinen mannigfachen gesundheitsschädlichen Begleiterscheinungen“361. Für die Wiener Versorgungsexperten aus dem Marktamt und Gemeinderat waren versorgungswirtschaftliche Ziele mit gesundheitlich-präventiven Motiven untrennbar verflochten. Auf diese hygienische Dimension der städtischen Fleischversorgung verweist allein die zeitgenössische Definition des Schlachthauszwanges. Der Ökonom Friedrich Kardosi definierte diesen 1913 als alle im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege getroffenen gesetzlichen Einrichtungen und Maßnahmen […], welche die makroskopische und mikroskopische obligatorische Vieh- und Fleischbeschau in einem öffentlichen, von Fleischern und Privaten ausschließlich zu benützenden Schlachthause durch das hiezu befähigte Personal bezwecken362.
Im 19. Jahrhundert bezeichnete Hygiene ein Bündel aus Wissen und Praktiken, mit dem die kommunale Verwaltung versuchte, gesundheitliche Gefahren zu bewältigen, die Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse für die Städterinnen und Städter mit sich brachten.363 Wie der Historiker Philipp Sarasin bemerkt, umfasste Hygiene vor allem „ein Wissen, das das Verhältnis des Menschen zu den materiellen Bedingungen seiner physischen Existenz beschrieb und das Individuen und gesellschaftliche Handlungsträger dazu anleitete, diese Bedingungen zu regulieren.“364 Diese Regulierung der materiellen Bedingungen, auf die Sarasin verweist, stellte in Wien in Bezug auf die Fleischversorgung der Versuch der Behörden dar, die Fleischproduktion räumlich neu zu ordnen. Wie die Leichenbestattung und Müllbeseitigung wurde auch das Schlachten an die städtische Peripherie ausgelagert und in einem kommunalen Schlachthof konzentriert. Ein zentrales Motiv für die Einführung des Schlachthauszwanges 1850 war für die Behörden 361 Gally, Josef (Hg.): Offizieller Katalog der unter dem höchsten Protektorate Sr. k. u. k. Hoheit des Durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Leopold Salvator stehenden Allgemeinen Hygienischen Ausstellung Wien–Rotunde 1906, 2. Aufl. Wien 1906, S. 3. 362 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 21. Jedoch unterstand zunächst nur das sogenannte Großhornvieh dem Schlachthauszwang. Schweine, Kälber, Lämmer oder Ziegen konnten auch nach 1850 in privaten Hinterhöfen geschlachtet werden. Reformer aus Politik und Verwaltung kritisierten diese Regelung stark. Franz Wenzel, Wiener Magistratsrat und Leiter einer städtischen Kommission, die 1872 Schlachthöfe und Viehmärkte in mehreren europäischen Städten besucht hatte, sah darin einen Widerspruch zu den stadthygienischen Motiven der Wiener Kommunalpolitik. Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 208. 363 Vgl. Poser, Museum der Gefahren, S. 39-40. 364 Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt/M. 2001, S. 17.
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die Eindämmung von Epidemien, die durch den Verzehr gesundheitlich bedenklichen Fleisches verursacht werden konnten. In der zweiten Jahrhunderthälfte avancierte der Schlachthof dann immer mehr zu einem kommunalpolitischen Instrument gesundheitlicher Prophylaxe. Dieser Wandel von einer reaktiven hin zu einer vorsorglichen Funktion des Schlachthofes verweist auf die Verschiebung des medizinischen Paradigmas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (siehe Kap. 6.3.1). Ärzte erachteten vorrangig nicht mehr schädliche Ausdünstungen als Ursache von Krankheiten und lehnten eine Argumentation, die in Tradition zur Miasma-Lehre eines Max von Pettenkofers stand, zunehmend ab. Hingegen vertraten immer mehr die Auffassung, dass Krankheiten durch bakterielle Infektionen und organische Zellveränderungen entstünden. 1874 machte der Magistratsrat Franz Wenzel noch „die schädlichen Ausdünstungen von dem bei den Schlachtungen zurückbleibenden Blute und den fäkalen Stoffen“365 als Gefahren für die menschliche Gesundheit und „Salubrität“366 aus. Seit Ende der 1870er Jahre verwandelte sich die Vieh- und Fleischbeschau dann zunehmend „aus einer empirischen Tätigkeit in angewandte Bakteriologie.“367 Diesen Wandel beschleunigte insbesondere die Entdeckung der Trichinellose in den 1860er Jahren, einer Infektionskrankheit, die durch den Verzehr von mit fadenartigen Würmern, den sogenannten Trichinen, befallenem Schweinefleisch verursacht wurde und die zu schweren Durchfallerkrankungen führen konnte.368 Tierärzte versuchten mithilfe von bakteriologischen Untersuchungen auf dem Gelände des Schlachthofes und Viehmarktes in St. Marx Krankheitserreger zu identifizieren und die Gefahren zu antizipieren, die von ihnen für die menschliche Gesundheit ausgehen konnten.369 Für die zuständigen Wiener Behörden waren die Kontrolle und Standardisierung von Arbeitsprozessen die wesentlichen Bedingungen für eine hygienische und gesundheitlich unbedenkliche Fleischproduktion. Die Zunahme 365 Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 207. 366 Ebd. 367 Wernet, Wettbewerbs- und Absatzverhältnisse, 213. 368 Vgl. Brantz, Animal Bodies, S. 74-75. 369 Der Wandel des medizinischen Paradigmas, den ich aus Gründen der Übersichtlichkeit in Kapitel 6.3.1 untersuche, ging mit einem Professionalisierungsprozess einher. Seit dem „Gesetz vom 29. Februar 1880, betreffend die Abwehr und Tilgung ansteckender Thierkrankheiten“ konnten nur noch approbierte Tierärzte die Viehund Fleischbeschau vornehmen. Vgl. Gesetz vom 29. Februar 1880, betreffend die Abwehr und Tilgung ansteckender Thierkrankheiten. III. Abschnitt. Maßregeln zur Verhinderung der Weiterverbreitung und zur Tilgung ansteckender Thierkrankheiten im Geltungsgebiete dieses Gesetzes, § 12. In: RGBl., XIV. Stück, ausgegeben und versendet am 14. April 1880, 35, S. 65-81, hier S. 68.
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eingeführter Fleischwaren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (siehe Kap. 5.2.1) begrüßten die Reformer aus Politik und Verwaltung nicht nur, weil diese Entwicklung einen Prozess beruflicher Spezialisierung und Professionalisierung begünstigte. Importiertes Fleisch beurteilten sie als hygienischer als das in städtischen Schlachthäusern produzierte.370 In ihren Auseinandersetzungen über einen verstärkten Import von Fleisch oder von Schlachttieren argumentierten sowohl Fleischer als auch Vertreter städtischer Behörden mit Begriffen wie Hygiene und Gesundheit. Befürworteten letztere eine verstärkte Fleischzufuhr aus hygienischen Gründen, lehnten Wiener Fleischer den Import mit demselben Argument ab und erklärten das importierte Fleisch aufgrund seiner Herkunft, vor allem Galizien und die Bukowina, für gesundheitlich bedenklich. Das vermeintliche Argument der Provenienz vermischte sich mit xenophoben und antisemitischen Stereotypen; das Fleisch aus dem Osten sei bedenklich, weil es die gesundheitlichen Verhältnisse dort ebenfalls seien. Obwohl Politiker und Beamte wie der Wiener Marktamtsdirektor Karl Kainz Fleischer dafür kritisierte, dass sie „das importirte Fleisch bei der Bevölkerung […] discreditiren, indem sie dasselbe als ungesund und nicht ausgiebig bezeichneten und über die Provenienz desselben haarsträubende, eckelerregende Gerüchte ausstreuten“371, bemerkte er zugleich: In diesem Kronlande [Galizien, L.N.] ist, wie so manches andere, auch der Viehund Fleischhandel ganz in den Händen der Juden. Da die Reinlichkeit im Allgemeinen kein Vorzug dieses Volkes ist, darf es keineswegs überraschen, wenn dort bei der Schlachtung und Aufarbeitung der Thiere, bei der Theilung, Verpackung und Transportirung des zur Versendung bestimmten Fleisches zu den Aufgabestationen nicht mit der wünschenswerthen Reinlichkeit und Vorsicht zu Werke gegangen wird.372
Die Aufgabe, die Stadtbevölkerung mit Fleisch zu versorgen, fiel für sie in den Bereich der sogenannten „Volkshygiene“373. Wie der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz bemerkte, stellte die städtische Fleischversorgung „einen hervorragenden und hochwichtigen Gegenstand der öffentlichen Fürsorge seitens der Regierungsbehörden und der Stadtverwaltungen“374 dar. Für diese waren die öffentliche Gesundheitsvorsorge, die medizinische Versorgung und Hygienemaßnahmen prestigeträchtige Betätigungsfelder, deren Errungen370 Vgl. Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 202. 371 Ebd., S. 196. 372 Ebd.. 373 Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 9. 374 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 97.
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schaften auf diesen Gebieten sie auf internationalen Ausstellungen präsentierten. So fanden zum Beispiel auf der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden von Mai bis Oktober 1911 Besucherinnen und Besucher eine Abteilung vor, die sich mit Hygiene im Kontext der gewerblichen Fleischproduktion und von Schlachthöfen befasste. Interessierte konnten sich dort über die vom Fleischverzehr ausgehenden Gefahren für die menschliche Gesundheit informieren, von der Notwendigkeit der Vieh- und Fleischbeschau überzeugen und sich vergewissern, dass kommunale Schlachthöfe Glanzlichter der öffentlichen Gesundheitspflege seien.375 Hinzu kam, dass durch den Konsum von Fleisch, wie der Wiener Marktamtsdirektor Karl Kainz weiter betonte, „[d]ie Zufriedenheit, Thatkraft und geistige Reife, die Willensstärke und Widerstandsfähigkeit, das Selbstbewußtsein und die Wehrkraft eines Volkes […] gehoben und gestärkt“376 würden. Für den Direktor des Wiener Marktamtes war es ein Anliegen, vor allem den ärmeren Bevölkerungsschichten gesundheitlich unbedenkliches Fleisch in großer Menge zu einem niedrigen Preis anzubieten, weil er darin ein Mittel gegen soziale Unruhen sah. Die „Magenfrage“377, bemerkte Kainz, habe immer auch eine politische Dimension. Denn der Mangel an Lebensmitteln oder Vertheuerung derselben haben schon öffentliche Unruhen mit folgenschwerem Ausgange veranlaßt. […] Hunger thut bekanntlich sehr wehe, und ein Hungernder ist in der Wahl der Mittel, um seinen Magen zu befriedigen, nichts weniger als bedächtig und rücksichtsvoll, sondern sucht endlich mit Gewalt das zu erreichen, was er auf gütlichem Wege nicht erlangen kann. Es muß daher einer tüchtigen Regierung in erster Linie sehr daran gelegen sein, in der Zufuhr der Lebensmittel jede Stockung hintanzuhalten; sie wird stets darauf 375 Vgl. Das Fleisch auf der Hygiene-Ausstellung. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 9.6.1911, Nr. 23, S. 2; Illing, Georg: Internationale Hygieneausstellung: Sonder-Katalog für die Gruppe Fleischversorgung der wissenschaftlichen Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Dresden 1911, S. 53-99 und 100-136. 376 Kainz, Die Fleischversorgung großer Städte, S. 97-98. Kainz führte den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelkonsum und Gesundheitsverhältnissen weiter aus: „In Gegenden, deren Bewohner auf eine minder kräftige Nahrung (wie z.B. Kartoffeln allein) angewiesen sind, wird man nur bleiche Gesichter und kraftlose Gestalten sehen, die ein elendes Dasein fristen und in apathischer Resignation dahinsiechen. […] In Städten, wo die Nahrungsverhältnisse die Gesundheit beeinträchtigen und auch die Atmosphäre nicht so rein und dem Organismus zuträglich ist, wie auf dem Lande, muß umsomehr auf eine kräftige Nahrung Bedacht genommen werden.“ Ebd., S. 98. 377 Ebd., S. 99.
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Bedacht nehmen, daß die Magenfrage in möglichst befriedigender Weise erledigt werde.378
Mit ihrem Streben nach Hygiene zielten die Reformer aus Politik und Verwaltung nicht nur auf die Fleischproduktion, sondern immer auch auf die Stadtbevölkerung. Der Direktor der Wiener Hygieneausstellung Josef Gally verwies zum Beispiel auf die solidarische Stoßrichtung des Strebens nach Hygiene, indem er jedem empfahl, sich mit den Anforderungen der Hygiene vertraut zu machen, in seinem eigenen und seiner Mitmenschen Interesse. […] Der Menge bleibt Heilwissenschaft und Heilkunst ein Geheimnis. Nicht so die Tochter Hygiene. Sie tritt hinaus ins Volk, Gesundheitspflege kann und soll jedermann kennen, kann und soll jedermann üben. Treten ihre Gebote doch überall im täglichen Leben an uns heran, in Wohnung, Kleidung und Nahrung, in Schule, Kaserne und Kirche, und nicht minder in unserer ganzen Erwerbstätigkeit. Krankheiten heilen kann nur der Arzt, Krankheiten verhüten kann jeder Mensch.379
Behördenvertreter, Politiker und insbesondere Mediziner forderten von jeder Wienerin und jedem Wiener ihren Beitrag für das städtische Gemeinwesen zu leisten, indem sie auf ihre Gesundheit achteten und Krankheitsrisiken nach Möglichkeit vermieden. Denn als „Hilfsmittel und Errungenschaften einer Wissenschaft, die bestimmt sein soll, das Erbe der Medizin anzutreten“380, wie Josef Gally 1906 urteilte, sei Hygiene von der Selbstverantwortlichkeit jeder und jedes Einzelnen abhängig und unterscheide sich dadurch von der Expertinnen und Experten vorbehaltenen Schulmedizin.381 Das Streben nach Hygiene im Sinne einer Prävention von Krankheiten und gesundheitlichen Gefahren war ein vielschichtiges Phänomen, das für die städtischen Behörden einen Ausdruck ihrer sozialpolitischen Verantwortung darstellte und zugleich Anforderungen an den Menschen umfasste, für sich selbst Sorge zu tragen.382 Behördenvertreter, Politiker und Ärzte argumentierten, dass die vermeintlich pathogene Atmosphäre und Enge der Großstadt von jeder und jedem abverlangten, sich selbst zu beobachten, zu kontrollieren, den eigenen Körper zu ertüchtigen und Rücksicht auf andere zu nehmen.383 378 Ebd. Vgl. Mascher, Wesen und Wirkungen des Schlachthauszwanges, S. 2. 379 Vgl. Gally, Offizieller Katalog, S. 3. 380 Ebd. 381 Vgl. ebd. 382 Vgl. ebd., S. 4-7. 383 Vgl. ebd., S. 3.
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In dieses Narrativ fügt sich auch die Forderung an die im Schlachthof und auf dem Viehmarkt arbeitenden Fleischer, Markthelfer und Viehhändler hygienische Standards gewissenhaft einzuhalten. Sie mussten nicht nur ihren Arbeitsplatz sauber halten, sondern auch auf ihr reinliches Erscheinungsbild achten.384 Solche Vorschriften lehnten Fleischer, die im Schlachthof arbeiteten, keineswegs als restriktive Maßnahmen ab, die die Direktion des Schlachthofes und Viehmarktes St. Marx an sie herangetragen hatte. Vielmehr hatten Fleischer neue Arbeitsnormen verinnerlicht (siehe Kap. 6.2.3). In ihrem Streben nach Hygiene verschränkten die zuständigen Wiener Behörden versorgungsökonomische Ziele mit volkspädagogischen Motiven und einer sozialpolitischen Agenda. Sie bemühten sich nicht nur um eine kontrollierte Produktion von Fleisch, das für die menschliche Gesundheit unbedenklich war. Ihr Ideal einer gesundheitlichen Prophylaxe umfasste immer auch den Appell an die Eigenverantwortung und Selbstsorge der Städterinnen und Städter, die damit ihren gesellschaftlichen und solidarischen Beitrag leisten sollten. Hygiene stellte folglich auch eine Sozialisationstechnik dar. Hinzu kam, dass die Behörden die Wienerinnen und Wiener als politische Verbraucherinnen und Verbraucher adressierten. Je mehr gesundheitlich unbedenkliches Fleisch zur Verfügung stünde, desto geringer sei das Risiko sozialer Unruhen. Für die Behörden waren zufriedene Verbraucherinnen und Verbraucher gute Bürgerinnen und Bürger. Hygiene stellte für sie ein Mittel sozialer Befriedung dar. Dabei stellte für die zuständigen Behörden die städtische Fleischversorgung vor allem eine Verwaltungsaufgabe dar. Es ging ihnen um die Neuorganisation der Fleischproduktion und der handwerklichen Arbeitsformen. Tierschlachtung und Fleischverarbeitung sollten ausdifferenziert, kontrolliert und hierarchisiert stattfinden. Die Reformen und Veränderungen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung betrafen nicht nur die beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontexte, sondern auch das konkrete Arbeiten im Schlachthof und auf dem Viehmarkt. In den nachfolgenden Kapiteln geht es genau um dieses.
384 WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, Mkt. A. Abt. Z. V. M. 305/12, 24.6.1912].
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6. Dimensionen der Transformation Nach der Analyse der Transformationskontexte in den vorangegangenen Kapiteln richte ich im Folgenden meinen Blick auf und in den Schlachthof und Viehmarkt St. Marx. An deren Beispiel untersuche ich den Wandel der fleischhandwerklichen Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich verorte den Schlachthof und Viehmarkt St. Marx innerhalb der städtischen Topografie, beschreibe dessen bauliche Veränderungen und frage zunächst, inwiefern ein Zusammenhang zwischen der räumlichen Ordnung, Organisation und Kontrolle der Arbeit im Schlachthof und auf dem Viehmarkt bestand und als welches normative Ideal Kommunalpolitiker, Vertreter Wiener Behörden sowie Architekten diesen entwarfen (Kap. 6.1: Räume und Normen). Anschließend untersuche ich die fortschreitende Technisierung in der Fleischproduktion. Ich frage, inwieweit sich durch den Einsatz neuer Werkzeuge und Maschinen das Arbeiten, berufsethische Normen und die Einstellung von Fleischern gegenüber neuen Techniken veränderten (Kap. 6.2: Technik und Handwerk). Schließlich untersuche ich die körperliche Dimension handwerklicher Arbeit. Ich werde zeigen, wie Ärzte, Politiker, Behördenvertreter und Fleischer ihre Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit verhandelten und tierische Körper für versorgungsökonomische, finanzielle und medizinische Zwecke nutzbar machten. Zudem frage ich, wie Fleischer mittels fotografischer Inszenierungen, Erzählungen und Bildern verkörperlichter Arbeitserfahrungen ein Ideal handwerklicher Arbeit entwarfen und kommunizierten (Kap. 6.3: Körper, Bilder und Erfahrung). Für die Analyse ziehe ich Baupläne des Schlachthofes und Viehmarktes, historisch-archivalische Quellen, Fotografien aus den Schlachträumen und zeichnerische Darstellungen sowie Briefkorrespondenzen von Fleischern, Ärzten, Kommunalpolitikern und Beamten heran. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die einzelnen Quellen an gegebener Stelle in den Fußnoten genannt.
6.1 Räume und Normen Ihr Streben nach einer rationalisierten Tierschlachtung und Fleischversorgung war für Kommunalpolitiker, Beamte und Architekten mit dem Ideal einer spezifischen räumlichen Gliederung des Arbeitsprozesses untrennbar verbunden. Diese Raumordnung stellte für sie die normative Grundlage modernisierter Produktion dar. Diese zielte nicht nur auf die Beschleunigung der Arbeit, sondern immer auch auf die Kontrolle und Selbstdisziplinierung der Arbeitenden. Im Folgenden untersuche ich, wie Politiker, Beamte und Architekten einen
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idealen Zusammenhang von Arbeitsorganisation und Raumordnung dachten und wie sie sich diesen als richtungsweisende Norm für die Produktion gesundheitlich unbedenklichen Fleisches vorstellten (Kap. 6.1.1: Raumordnung und Arbeitsorganisation). Ich frage, inwiefern Um- und Neubauten auf dem Gelände des Schlachthofes und Viehmarktes das Arbeiten veränderten und mit neuen Formen sozialer Kontrolle und Disziplinierung von Fleischern sowie Schlachthof- und Viehmarktangestellten zusammenhingen (Kap. 6.1.2: Kontrolle und Disziplinierung).
6.1.1 Raumordnung und Arbeitsorganisation Der Gefängnisarchitekt Guillaume-Abel Blouet verwies in seinem 1843 erschienenen „Projet de prison cellulaire“ auf einen untrennbaren Zusammenhang von Verwaltung und Architektur: „Behandelt man die Verwaltungsfrage unter Absehung von der Frage der Architektur, so läuft man Gefahr, Grundsätze aufzustellen, denen sich die Wirklichkeit entzieht.“385 Ähnlich wie Blouet sahen die Wiener Behörden die Organisation der städtischen Fleischversorgung als eine Verwaltungsaufgabe an, die mit baulichen Herausforderungen und räumlichen Ordnungen verbunden war. Dies betraf den Bau und die Anordnung von Gebäuden auf dem Schlachthof und Viehmarkt St. Marx sowie die Lage dieses gesamten Areals im städtischen Raum. Wie einleitend erwähnt (siehe Kap. 1.1), hatten die Errichtung der beiden Schlachthäuser in St. Marx und Gumpendorf sowie die Einführung des Schlachthauszwanges zur Folge, dass Fleischer Tiere nicht mehr in Hinterhöfen und Kellern schlachteten, sondern nunmehr dazu angehalten waren, diese Arbeit in einem Schlachthof an der städtischen Peripherie zu verrichten. Das Schlachten verschwand zusehends aus den Wohngebieten und wurde für die Konsumentinnen und Konsumenten unsichtbar. Nicht nur das Töten von Tieren, auch ihre Existenz versuchten die Behörden dem öffentlichen Blick zu entziehen. Vor allem der Viehtrieb durch Wohngebiet störte Reformer aus Politik und Verwaltung, die wiederholt beklagten, dass Passantinnen und Passanten von Rindern verletzt würden. Bis 1874 trieben Händler Tiere, die sie nach Wien brachten, durch städtisches Wohngebiet. Rinder wurden mit der Bahn nach Floridsdorf – einem Vorort im Norden Wiens, der 1904/05 als XXI. Bezirk eingemeindet wurde – transportiert, dort ausgeladen und auf einer circa zehn Kilometer langen Strecke durch die Straßen auf den Viehmarkt in St. Marx getrieben. Dazu nutzten Viehhändler 385 G[uillaume-]Blouet, Abel: Projet de prison cellulaire pour 585 condamnés, précédé d‘observations sur le système pénitentiaire. Paris 1843, S. 1, hier zit. nach: Foucault, Überwachen und Strafen, S. 320, Fußnote 58.
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auch Hunde. Vereinzelt verwendeten sie diese zum Ziehen von Fleischwagen.386 1873 verbot das Handelsministerium das Treiben von Tieren durch die Stadt und beauftragte die österreichisch-ungarische Staatseisenbahn-Gesellschaft (StEG), den Viehmarkt in St. Marx an deren Schienennetz anzuschließen. Die StEG verwirklichte dieses Vorhaben im darauffolgenden Jahr.387 Bereits im Februar 1875 bemerkte der Magistratsrat Franz Wenzel gegenüber dem Wiener Marktamt, dass „[d]as Schlachtvieh […] fast ausschließlich per Bahn auf den Viehmarkt gebracht und von dort, ohne die Strassen Wiens zu berühren, in die Schlachthäuser […] abgetrieben [wird].“388 Der Viehmarkt und Schlachthof St. Marx waren mit einem Streckennetz verbunden, das die StEG in den folgenden Jahren weiter ausbaute und das weite Teile der Monarchie nördlich und südöstlich von Wien umfasste. Im Nordwesten erstreckte es sich bis Bodenbach (heute Děčín) im Böhmischen Mittelgebirge, im Osten bis ins schlesische Zwardoń an den äußeren Westkarpaten und im Süden reichte es bis nach Orșova im Banat. Die Händler konnten nun die Tiere von den Aufzuchtgebieten direkt nach St. Marx befördern. Die Eisenbahn verringerte geografische Distanzen, verkürzte die Transportzeiten und stellte einen kontinuierlichen Nachschub an Tieren sicher. In dieser Produktionstopografie bildete Wien das Verbrauchszentrum der Monarchie.389 Ebenso wie mit Einführung des Schlachthauszwanges 1850/51 für die meisten Wienerinnen und Wiener das Schlachten von Großhornvieh und damit auch für die Fleischer, die diese Tiere töteten, unsichtbar geworden waren, rückten 24 Jahre später mit Verbot des Viehtriebs durch die Stadt und dem Anschluss 386 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 2, unpag.]; ebd., A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Hausordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. März 1889, § 8, S. 3, unpag.]. 387 Vgl. Felling, Die Versorgung der Stadt Wien, S. 8; Messing, Die Wiener Fleischfrage, S. 13. 388 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 3]. 389 Vgl. Röll, Victor von: Eisenbahngeschichte Österreichs in Grundzügen. Sattledt 2009 [erstmals erschienen 1915], S. 4-5. Zwischen 1845 und 1913 vergrößerte sich das österreichische Eisenbahnnetz von 728 auf 22.981 Kilometer. Vgl. ebd., S. 25. Der Zentralismus des Wiener Schienennetzes erreichte jedoch nie die Ausmaße der Eisenbahnverbindungen Paris‘, dem wie beim Bau der Schlachthäuser in St. Marx und Gumpendorf auch für den Ausbau der Wiener Bahnverbindungen eine Vorbildfunktion zukam. Vgl. Strach, Hermann [Red.]: Geschichte der Eisenbahnen der österreichisch-ungarischen Monarchie, Bd. I, Theil I. Wien/Teschen/Leipzig 1898, S. 398-405.
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St. Marx‘ an das Schienennetz der StEG die sogenannten Schlachttiere aus dem öffentlichen Blickfeld. Das Schlachten, die schlachtenden Fleischer sowie die geschlachteten und zur Schlachtbank geführten Tiere wurden zwischen 1851 und 1874 für immer mehr Wiener Verbraucherinnen und Verbraucher unsichtbar.390
Abb. 9 : Schlachthof St. Marx, „Französisches Kammersystem“, erbaut 1846–1848 Quelle: Hennicke, Julius: Bericht über Schlachthäuser und Viehmärkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz. Berlin 1866, Bl. XVII, hier aus: Lackner, Helmut: Ein „blutiges Geschäft“ – Zur Geschichte kommunaler Vieh- und Schlachthöfe. Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2003/2004, hrsg. von Schuster, Walter/Schimböck, Maximilian/Schweiger, Anneliese. Linz 2004, S. 805828, S. 816.
Zugleich wurde Arbeit innerhalb des Schlachthofes St. Marx selbst für die darin schlachtenden Fleischer und die sie überwachenden Aufseher zunehmend sichtbar, was mit der Neugestaltung des Viehmarktes und dem Ausbau der Schlachträume zusammenhing. Der zwischen 1846 und 1848 gebaute Rinderund Kälberschlachthof war wie sein Pariser und Rouener Vorbild nach dem sogenannten „französischen Kammersystem“ errichtet worden (siehe Abb. 9). Er bestand aus vier Schlachthallen mit insgesamt 80 Kammern. Ein Fleischer, der auf dem angrenzenden Viehmarkt ein Rind gekauft hatte, überführte das Tier in diesen Schlachthof und schlachtete es in einer der voneinander abgegrenzten Kammern, die er zuvor gemietet hatte.
390 Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 58-73; Nieradzik, Lukasz: Das Fleisch, die Stadt und der Tod. Tierschlachtung und Fleischproduktion im Wien des 19. Jahrhunderts. In: Testcard 22: Fleisch, 2012, S. 41-46, hier S. 41-42.
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Zwischen 1898 und 1918 wurden die Schlachträume ausgebaut. Die Errichtung von vier neuen Schlachthallen für Rinder und Kälber östlich des alten Schlachthauses erfolgte nach dem Prinzip des sogenannten „deutschen Hallensystems“. Ein Fleischer schlachtete hier ein Tier nicht mehr alleine in einer separaten Kammer, sondern verrichtete diese Arbeit wie auch andere Kollegen in einer großen Halle, in deren Inneren im Unterschied zum „französischen Kammersystem“ keine Wände den Raum unterteilten (siehe Abb. 10).391 Der Gemeinderat hatte den Bau dieser Anlage beschlossen, weil Aufseher in den großen offenen Hallen Fleischer leichter und gezielter überwachen konnten als in voneinander abgeschotteten Kammern.392 Die Fenster in den Schlachthallen waren unter den Dachvorsprüngen angebracht und ermöglichten „dadurch eine gleichmäßigere Lichtvertheilung und daher ‚hellere Beleuchtung‘“393, wie deren Architekt Rudolf Frey bemerkte. Hinzu kam, dass sich die Schlachthallen schneller und müheloser reinigen ließen. Wie der Wiener Magistrat in einer Dienstvorschrift bemerkte, hatten Schlachthofdiener, die bei der Stadt Wien angestellt waren, „die Schlachtungsräume beständig zu beaufsichtigen, die übrigen Schlachthausräume (: Keller, Böden und dgl. :) sind so oft als möglich, mindestens aber täglich einmal abzugehen.“394 Sie waren verpflichtet, „jede Krankheitserscheinung und Verendung dem diensthabenden Tierarzte zu melden“395 ebenso wie „die anscheinende Notwendigkeit einer Notschlachtung“396, und mussten darauf achten, dass Fleischer die Schlachträume in sauberem Zustand hinterließen, indem sie zum Beispiel die Exkremente der Tiere entfernten.397 391 Vgl. Witz, Gustav: Städtische Schlachthöfe und deren maschinelle Einrichtungen. In: Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, LII. Jg., 13.7.1900, Nr. 28, S. 437-445, hier S. 438; Osthoff, Schlachthöfe und Viehmärkte, S. 10-12 und 16-17. 392 Vgl. Lackner, Ein „blutiges Geschäft“, Stadtarchiv und Stadtgeschichte, S. 814. 393 Frey, Rudolf: Beschreibung des Projectes über den Central-Schlacht-Viehmarkt zu St. Marx in Wien. Wien 1879, S. 7. Beim Bau der Gebäude wurde auch den Wetterverhältnissen Rechnung getragen. So waren zum Beispiel in der Rinderhalle die Fenster derart angeordnet, dass „blos jede zweite Fensterwand der Verwehung [durch Schneestürme, L.N.] ausgesetzt ist, also immer noch eine gleichmäßige Beleuchtung der Halle stattfindet“. Ebd., S. 8. Zudem waren „sämmtliche Objekte mit Gasbeleuchtung versehen“. Ebd., S. 17. 394 Wiener Magistrat, Abt. IX: Vorschrift für den Dienst in den städtischen Schlachthäusern in Wien (Entwurf ), genehmigt ist im Drucke, mit einigen unwesentlichen Ab- änderungen, 1909, II. Die Obliegenheiten der einzelnen Organe, 4, B., b), § 51, S. 14. 395 Ebd., § 49, S. 14. 396 Ebd., § 53, S. 15. 397 Vgl. Instruction für den Haus-Inspector des Central-Viehmarktes und des Schlachthauses zu St. Marx, erlassen vom Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien am 21.11.1883. Wien 1883, S. 35.
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Abb. 10 : Rinderschlachthalle St. Marx, „deutsches Hallensystem“, erbaut 1898 Quelle: Witz, Gustav: Städtische Schlachthöfe und deren maschinelle Einrichtungen. In: Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, LII. Jg., 13.7.1900, Nr. 28, S. 437-445, hier S. 441.
Außer den Schlachträumen wurde bereits zwischen 1879 und 1883 das gesamte Areal vom Schlachthof und angrenzenden Viehmarkt unter Leitung des Architekten Rudolf Frey zum „Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx“ umgebaut (siehe Abb. 11). 1869 hatte der Wiener Gemeinderat eine Kommission eingesetzt und beauftragt, einen prototypischen Entwurf für die Vergrößerung und Modernisierung des Schlachthofes auszuarbeiten, an dem sich dann der spätere Bauplan orientieren sollte. Nachdem die Kommissionsmitglieder Schlachthöfe in europäischen und US-amerikanischen Städten besichtigt hatten, schrieb der Wiener Gemeinderat eine Offerte für den Umbau des Schlachthofes St. Marx und des angrenzenden Areals aus. Von den sechs eingegangenen Offerten bekam das Projekt des Zivilarchitekten Rudolf Frey den Zuschlag und wurde in vierjähriger Bauzeit ausgeführt.398
398 Vgl. Bericht der Minorität des Subcomite‘s zur Prüfung der eingelangten Projecte und Offerte für die Erbauung eines Central-Schlachtviehmarktes. Erstattet von dem Referenten Gemeinderath Dr. Ignaz Mandl. Wien 1879, S. 1 ff.
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Nach dem Umbau war der Schlachthofkomplex im Südosten und Südwesten von einem Eisenbahngleis umschlossen und verfügte über zwei Verladestationen. Im Osten wurden die mit der Schleppbahn von Floridsdorf transportierten Schweine verladen und gelangten vom Bahnsteig in die im Nordosten gelegenen Stallungen.399 Rinder und Kälber wurden über die an der Südwestseite gelegene Rampe auf das Marktgelände getrieben. Vom Verladebahnsteig gelangten sie durch Zählbuchten in die Kälber- bzw. Rinderhalle400, wo der Markt stattfand. Wiener Fleischer, die über die parallel zum südwestlichen Verladebahnsteig gelegene Viehmarktgasse auf den Zentralviehmarkt und in die Verkaufshallen kamen, erstanden dort die Tiere. Marktdiener wogen diese in einem von vier an den Seitenwänden der Rinderhalle angebrachten Waagehäusern, um den Verkaufspreis zu bestimmen. Anschließend überführten die Fleischer die Tiere in den Schlachthof. Dort schlachteten und zerlegten sie die Rinder oder Kälber mithilfe ihrer Gesellen und transportierten die Fleischstücke mit dem Fuhrwerk in ihre Fleischerei oder belieferten, wenn sie Großschlächter waren, städtische Ladenfleischer.401 399 Die Schweinestallungen bestanden aus drei Doppelreihen à 175 x 32 Meter, zweimal zwei Doppelreihen à 175 x 32 Meter und zwei Einzelreihen à 175 x 16 Meter. Die Gebäudegrößen in der ursprünglichen Projektbeschreibung Freys von 1879 weichen von dem realisierten Bau zum Teil ab. In diesem Fall nehme ich Bezug auf den Lageplan in: Klasen, Viehmärkte, Schlachthöfe, Blatt 80. Vgl. Frey, Beschreibung des Projectes, S. 13. 400 Die Kälberhalle im Westen des Zentralviehmarktes hatte mit einer Grundfläche von circa 8.000 Quadratmetern (125 x 64 Meter) ein Fassungsvermögen für 6.000 Kälber. Die im Südwesten gelegene Rinderhalle, die aus zwei durch eine überdachte Straße verbundenen Hallen bestand, umfasste in der Grundfläche über 22.600 Quadratmeter (115 x 156 Meter) und konnte 5.300 Rinder aufnehmen. Zwischen der Rinderhalle und dem Verladebahnsteig befanden sich in südöstlicher Richtung sowie zu beiden Seiten des davon östlich gelegenen Pumpwerkes Rinderställe für 2.500 Tiere. Vgl. Frey, Beschreibung des Projectes, S. 7-12. Die Kälberhalle war „möglichst nahe an den Perron gerückt, um den beschwerlichen Transport der Kälber vom Waggon in die Halle möglichst abzukürzen“. Ebd., S. 16. 401 Neben Rindern und Kälbern verkauften Händler auf dem Zentralviehmarkt St. Marx auch Schweine und Schafe. Der Schafmarkt befand sich zwischen dem Schlachthaus und Pumpwerk nordöstlich der Rinderhallen, der Schweinemarkt lag nordöstlich von der Schafhalle und den Schafständen. Der Schafmarkt bestand aus einer an allen Seiten offenen, 156 x 51 Meter großen Halle für 12.000 Schafe und aus offenen Schafständen mit einer Grundfläche von 156 x 30 Meter für 8.000 Schafe. Der Schweinemarkt hatte eine Gesamtgrundfläche von circa 15.600 Quadratmetern (156 x 100 Meter) und bestand aus einer Halle mit zwei Trakten von je 150 x 38 Meter, einem 24 x 18 Meter großen Zwischentrakt, einem offenen Hof (118 x 24 Meter) und einem 24 x 18 Meter großen Börsengebäude. Vgl. ebd., S. 10-11. Im Unterschied zu Rindern zählten Kälber, Schweine und Schafe zum sogenann-
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Mit der Neugestaltung des Viehmarktes und Schlachthofes unterteilte Rudolf Frey das gesamte Gelände in mehrere Räume, an denen unterschiedliche Arbeiten getrennt voneinander stattfinden sollten. Frey sah in seinem Bauentwurf vor, das Schlachthof- und Viehmarktareal übersichtlich zu gestalten, die einzelnen Arbeitsschritte räumlich zu trennen, um „eine Situation zu schaffen, […] welche gute Communicationen ermöglicht“402 und beim Arbeiten ten Stechvieh, weshalb sie vom Schlachthauszwang zunächst ausgenommen waren. Vgl. Wenzel, Die Einrichtungen der Viehmärkte, S. 208. Fleischer kauften die Tiere, transportierten diese in ihre Fleischereien und töteten sie dort. Von 1896 bis 1910 wurden Schweine auch im Schlachthaus St. Marx und auf der sogenannten Notstechbrücke gestochen. Die Notstechbrücke war ein 1889 errichteter Holzbau, an dem zum einen Fleischer, den keine eigene Schlachtstätte zur Verfügung stand, Schweine töteten. Zum anderen war die Notstechbrücke errichtet worden, wie der Architekt des Schweineschlachthauses Max Fiebiger bemerkte, „um seuchenkranke oder verunglückte Schweine sofort der Notschlachtung unterziehen zu können.“ Fiebiger, Max: Das neue Schweine-Schlachthaus im III. Bezirk. Wien 1910, S. 4. Im Durchschnitt wurden hier jährlich 45.000 bis 50.000 Schweine getötet, der weitaus größere Teil der Schweineschlachtungen fand jedoch in privaten Schlachtstätten statt. Von den zum Beispiel im Jahr 1908 circa 706.000 in Wien geschlachteten Schweinen wurden nur etwa 56.500 auf dem CentralSchlacht- und Viehmarkt St. Marx und in dem Schlachthaus im zwölften Wiener Gemeindebezirk Meidling getötet. Im Meidlinger Schlachthaus fanden Schweineschlachtungen zwischen 1897 und 1910 statt. Vgl. ebd.; Hofkanzleidekret vom 28. Mai 1810, Z. 7292, S. 5, hier zit. nach: Rotter, Adalbert (Hg.): Handbuch der österreichischen Veterinär-Vorschriften. Authentische Sammlung aller einschlägigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, grundsätzlichen Entscheidungen und Kundmachungen der verschiedenen österreichischen Zentralstellen, einschlieszlich der Judikate des Reichsgerichtes, des Verwaltungsgerichtshofes und des Obersten Gerichts- und Kassationshofes sowie der wichtigsten Vorschriften für den politischen Verwaltungsdienst. Zum Gebrauche für Tierärzte jeder Berufsstellung sowie für politische und richterliche Beamte. 2 Bde. Wien/Leipzig 1906, S. 22. Der Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx verfügte zudem über eine eigene Veterinäranstalt (im Nordosten an der Baumgasse gelegen) für kranke, verletzte und seuchenverdächtige Rinder. Diese bestand aus einer 83 x 65 Meter großen Abteilung für circa 1.200 „Stück bedenklicher Rinder“ (Frey, Beschreibung des Projektes, S. 13), einer 65 x 43 Meter großen Abteilung für fast 600 „Stück verdächtiger Rinder“ (ebd.), einem 46 x 20 Meter großen Sanitätsstand für 200 verletzte und kranke Rinder sowie einem 52 Quadratmeter großen Notschlachthaus mit einer Sezierkammer. Vgl. ebd. Des Weiteren befand sich auf dem Gelände des Zentralviehmarktes nordöstlich der Kälberhalle und in unmittelbarer Nähe zu den Schaf- und Rinderhallen ein Verwaltungsgebäude, bestehend aus einem 30 x 20 Meter großen Amtsgebäude für das Verwaltungspersonal und einem 24,5 x 28 Meter großen Börsensaal, in dem sich die jeweiligen Marktparteien (Verkäufer, Käufer, Marktbedienstete) trafen. Vgl. ebd., S. 14-15. 402 Ebd., S. 4.
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möglichst viel Zeit spart.403 Alle Gebäude waren über eine zentrale Straße erreichbar. Die Viehmarktgasse wurde in gerader Richtung durch den Zentralviehmarkt verlängert, so dass sämtliche Gebäude mit dieser und ihren beiden Querstraßen zwischen dem Schlachthaus und der Schafhalle einerseits, zwischen der Schafhalle und dem Pumpwerk andererseits verbunden waren.404 Die Rinderhalle befand sich an der Viehmarktgasse und in Nähe der Stallungen, „so daß ihre Einfüllung und Entleerung in kürzester Zeit bewerkstelligt werden kann“405, urteilte Frey. Die Rinder-, Kälber-, Schaf- und Schweine hallen waren nahe der Bahngleise, das Verwaltungsgebäude befand sich beim Eingang an der Viehmarktgasse „in nächster Nähe sämmtlicher Hallen aber, [sic!] ohne daß der Zugang zu diesen Gebäuden durch den Hallenverkehr beeinträchtigt wird.“406 Diese Anordnung der Gebäude und Straßen bewirkte die „möglichste Ordnung des Marktverkehres“407, bemerkte Frey. Der Architekt des Central-Schlacht- und Viehmarktes St. Marx forderte, dass auch den „diversen kleinen, aber doch wichtigen Erfordernissen […] Rechnung getragen ist“408. Das betraf auch die Lage der beiden Wächterhäuser in der Veterinäranstalt sowie zwischen der Schweinehalle und den Schweinestallungen, der Wachstube in den Rinderstallungen sowie des Portierhauses. Frey ordnete diese so an, dass 403 Rudolf Frey lehnte gerade aus diesem Grund einen Bauentwurf für den neuen Central-Schlacht- und Viehmarkt ab, der der Offertenausschreibung des Gemeinderates beilag und zur Orientierung für die Projekte der Bewerberinnen und Bewerber dienen sollte. Denn seiner Ansicht nach machte dieser das Areal zu unübersichtlich, und zwischen den einzelnen Arbeitsschritten verginge viel Zeit. Frey bemängelte zum Beispiel, dass „[e]in Theil der Rinderstallungen […] von der Rinderhalle durch dazwischen liegende Bauten anderer Bestimmung und deren Verkehr in unliebsamer Weise vollkommen abgetrennt [ist]. Das Administrationsgebäude hingegen steht auf einem Raume, wo von allen Seiten der lebhafteste Verkehr mit Wagen und Viehtrieb stattfindet, so daß zu Zeiten geradezu unmöglich sein wird, in dasselbe zu gelangen.“ Ebd., S. 5. Er kritisierte zudem, das „überdies der Platz nicht genügend ausgenützt, und […] insbesondere die rationelle Vergrößerung des Schlachthauses nicht möglich [ist]“ (ebd., S. 4) und plädierte dafür, „eine Situation zu schaffen, welche diese Uebelstände umgeht, welche gute Communicationen ermöglicht, durch breite und gerade Straßen“. Ebd. Beim Bauentwurf in der Offertenausschreibung sei das nicht der Fall: „Ein wesentlicher Nachtheil ist […], daß die Hauptsache auf einem Markte, die Communicationen, nicht gehörig gewürdigt wurden; nicht eine Straße hat eine gerade Richtung, alle sind gebrochen, und führen mehrmals um die Ecke, was für die Sicherheit des Verkehres auf einem Markte doppelt fatal ist.“ Ebd., S. 4. 404 Ebd., S. 5. 405 Ebd., S. 4. 406 Ebd., S. 5. 407 Ebd. 408 Ebd., S. 4.
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Abb. 11 : Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx, erbaut 1879–1883, nach dem Bauplan des Architekten Rudolf Frey Quelle: Frey, Rudolf: Beschreibung des Projectes über den Central-Schlacht-Viehmarkt zu St. Marx in Wien. Wien 1879, Anhang, Plan I.
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Aufseher von ihnen aus das ganze Marktgelände einsehen konnten.409 Auch die Stellplätze für insgesamt 400 Wagen und Fuhrwerke waren auf dem Marktgelände derart verteilt, „daß sich die Wägen in langen Reihen mit der Vorderseite gegen die Straße gerichtet, nebeneinander aufstellen können, so daß jederzeit jeder aus der Reihe gefahren werden kann, ohne die anderen zu belästigen.“410 Dass Frey auch Einzelheiten Beachtung schenkte, verweist zunächst auf die Notwendigkeit und das Bedürfnis jedes Bauingenieurs und Architekten, den Details Rechnung zu tragen. Diese sind zudem von Interesse, weil sie auf eine Raum- und Arbeitsordnung hinweisen, die das Schlachten beschleunigte und die Fleischproduktion modernisierte. Dass zum Beispiel die Straßen und Zufahrten zu den Hallen und Stallungen mit Granitsteinen gepflastert waren und der gesamte Viehmarkt leicht zur Donauseite hin geneigt war, damit das Gelände schneller und mit geringem Aufwand zu reinigen war, weil so das Wasser in eine Richtung abfließen konnte,411 zeigt das Erfahrungswissen Rudolf Freys im Gebäude- und Geländebau. Verortet man nun die Geländeneigung oder den Granitpflasterstein innerhalb des zeitgenössischen Diskurses um Hygiene und Stadtassanierung (siehe Kap. 5.3.2), fügen sich beide Details – die des Pflastersteins und der Geländeneigung – in ein Geflecht aus Diskursen (Hygiene), Praktiken (Reinigen) und Strukturen (Beschaffenheit und Ordnung des Materials). Das Beispiel der Straßenreinigung, das ich hier angeführt habe, das heißt das Fluten des Viehmarktes im Westen und das durch die Geländeneigung bedingte Abfließen des Wassers nach Osten, entlastete das Reinigungspersonal körperlich. Der Granitpflasterstein und die Geländeneigung waren partes Pro Toto eines kraft- und zeitsparenden Prinzips, worauf Rudolf Frey verweist, wenn er von der Ordnung des Marktverkehres spricht.412 Es lohnt sich mithin einen Blick auf die scheinbar unbedeutenden Details zu werfen, weil sich in diesen übergeordnete Kontexte verdichten und wie in einem Kaffeelöffel spiegeln, wie es Sigfried Giedion einmal formuliert hat.413
409 Vgl. ebd., S. 15. 410 Ebd., S. 16; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Hausordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. März 1889,§ 5, S. 2-3]. 411 Vgl. Frey, Beschreibung des Projektes, S. 17. 412 Ebd. 413 Vgl. Bachmann, Götz: Der Kaffeelöffel und die Sonne. Über einige Denkfiguren, die das Unbedeutende bedeutend machen. In: Brednich, Rolf Wilhelm/Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe vom 25. bis 29. September 1995. Münster [u.a.] 1997, S. 216-225.
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Die räumliche Differenzierung der Arbeit kennzeichnete auch die Innengestaltung der einzelnen Gebäude,414 wie sich am Beispiel des im Juni 1910 auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt eröffneten Schweineschlachthauses zeigt. Dieses Schlachthaus war unter der Leitung des Ingenieurs und städtischen Bauinspektors Max Fiebiger zwischen April 1908 und Februar 1910 nordöstlich des Rinder- und Kälberschlachthofes erbaut worden und für die tägliche Schlachtung von 600 Schweinen konzipiert (siehe Abb. 11).415 Anlässlich der Eröffnung bemerkte Fiebiger, dass dem Bau eine bestimmte Vorstellung zugrunde lag, Arbeit räumlich zu ordnen: Bei der Anlage war der Grundsatz maßgebend, die einzelnen Räume nach ihrer Bestimmung in der Reihenfolge des Arbeitsvorganges unmittelbar aneinander zu reihen, so daß die Schlachttiere von den Stallungen bis zur Verladung stets unter Dach bleiben. Demgemäß bilden die Schlachthausräume mit den Kühlhallen, dem Maschinen- und Kesselhause einen geschlossenen Baublock, während das Verwaltungsgebäude und die Sterilisierungsanstalt abseits gelegen sind.416
Die Arbeit im Schweineschlachthaus unterteilte sich in vier zentrale Schritte: erstens in den Transport der Tiere vom Zentralviehmarkt ins Schlachthaus, zweitens in die Tötung der Schweine, drittens in die Enthaarung und anschließende Zerlegung ihrer Körper und viertens in den Transport der Fleischstücke 414 In Bezug auf das Verwaltungsgebäude, in dem auch der Börsensaal untergebracht war, betonte Frey zum Beispiel die Notwendigkeit, „durch zweckmäßige Eintheilung und einfach klare Aneinanderreihung der inneren Räumlichkeiten den öffentlichen Verkehr möglich zu erleichtern, und in jeder Beziehung mehr der Zweckmäßigkeit des Gebäudes als dem äußeren Effect Rechnung zu tragen und nicht auf Kosten ersterer zu sündigen […]. Der Börsensaal als Vereinigungspunkt der Marktbesucher ist an einem leicht zugänglichen Punkte nächst der Rinder-, Kälberund Schafhalle situirt und nur wenige Schritte vom Haupteingang des Viehmarktes entfernt. Das Marktpublicum, welches sich theils hier, theils dort aufhält, soll Gelegenheit haben sich leicht zu finden.“ Frey, Beschreibung des Projektes, S. 14. 415 Wie im Falle des Schlachthauszwanges für Rinder waren auch für die räumliche Konzentration der Schweineschlachtungen Versorgungsmotive und das Streben nach Hygiene ausschlaggebend. Bereits 1875 hatten Wiener Gemeinderäte die Errichtung eines eigenen Schlachthauses für Schweine in Nähe des Viehmarktes in St. Marx diskutiert und einen solchen Bau im September 1895 beschlossen. Probleme, ein geeignetes Grundstück zu finden, und Kritik vonseiten der Fleischselchergenossenschaft, die erhöhte Betriebskosten für den einzelnen Handwerker infolge des Schlachthauszwanges befürchtete, verzögerten jedoch den Baubeginn. Vgl. Das neue Wiener Schweineschlachthaus. In: Allgemeine österreichische Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 24.6.1910, Nr. 25, S. 3. 416 Fiebiger, Das neue Schweine-Schlachthaus, S. 4.
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in das auf dem Schlachthofgelände untergebrachte Kühlhaus. Transport, Tötung und Zerteilung fanden in voneinander getrennten und aneinandergrenzenden Räumen statt (siehe Abb. 12). Vom Viehmarkt wurden die Schweine zunächst mit einer Bahn an die nordöstlich vom Schweineschlachthaus gelegene Verladerampe transportiert und von dort über drei Buchten in die schlachthauseigenen Stallungen getrieben.417 Die Stände in den Stallungen waren durch einen Meter hohe Betonwände getrennt, zwischen denen jeweils ein zwei Meter breiter Korridor in fünf „Töte-Buchten“418 führte, an die sich die Brüh- und die Ausschlachthalle anschlossen. Nach der Schlachtung und Zerteilung der Tiere brachten Fleischer Därme und Mägen mit Eisenkarren in die Darmwäscherei, wo sie diese reinigten.419 Hingegen wurden „[d]ie ausgearbeiteten Schweine […], an den Spreizen hängend, mittelst der Luftbahn in die gedeckte Durchfahrt gebracht und entweder auf die bereit stehenden Wagen geladen oder in die gegenüber liegende Kühlhalle weiterbefördert“420, bemerkte Max Fiebiger. Fiebiger unterteilte das Schweineschlachthaus in mehrere Räume, in denen Fleischer, Händler, Marktdiener und Aufseher unterschiedlichen Arbeiten nachgingen. Er unterschied zwischen Transporträumen (Eisenbahnverbindung, Verladerampe), Aufbewahrungsräumen (Stallungen), Tötungs- und Verarbeitungsräumen (Tötebuchten, Ausschlachthalle), Entlassungsräumen (Kühlhalle, Fuhrwerk) sowie Kontrollräumen (tierärztliches Laboratorium, Sanitätsanstalt, Sterilisierungsanstalt) und Aufenthaltsräumen (Ankleide- und Waschräume für Fleischer, Tierärzte und Aufseher, Verwaltungsgebäude mit Wohnungen für den Schlachthausleiter und einen Schlachthausdiener). Wie im Schweineschlachthaus unterteilte sich auch auf dem Zentralviehmarkt der Arbeitsprozess in Transporträume (Eisenbahnverbindung, Verladerampen), Aufbewahrungsräume (Hallen, Stallungen), Aufenthaltsräume für das Personal und die Marktbesucher (Verwaltungsgebäude) und Kontroll-
417 Die Stallungen hatten ein Fassungsvermögen von 1.500 Schweinen und bestanden aus separaten Ständen für Fleisch- und Fettschweine. Letztere waren im südöst lichen, erstere im nordwestlichen Flügel der Stallungen untergebracht. 418 Ebd., Lageplan Schweine-Schlachthaus, o. S. 419 Mit speziellen „Darmreinigungsapparate[n]“, die in der Mitte und an den Wänden des Raums angebracht waren und „auf welchen die Gedärme entleert, gereinigt und entfettet werden“, war es möglich, „das gesamte Fett zu gewinnen“, wie Fiebiger bemerkte. Ebd., S. 5. 420 Ebd., S. 6. Diese bestand aus zwei gleich großen Räumen, die wechselweise auf 15 bis 20 Grad Celsius gekühlt wurden. Hier blieben die Schweine „während der Kühlung auf den Luftbahngeleisen hängen und können auf diesen wieder in die gedeckte Durchfahrt zur Verladung auf das Fuhrwerk zurückgeführt werden.“ Ebd., S. 6.
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räume (Eingangstor mit Portier, Wachstuben). Die Tötungsräume bildeten hierbei die Schlachthofanlagen.
Abb. 12 : Arbeitsschritte im Schweineschlachthaus St. Marx (eigene Darstellung)
Diese räumliche Differenzierung der Arbeit erhoben die Schlachthof- und Viehmarktarchitekten Max Fiebiger und Rudolf Frey zur Norm einer modernen Tierschlachtung und Fleischproduktion. Denn nur so könne der städtische Fleischbedarf gedeckt, Arbeit kontrolliert und die Herstellung gesundheitlich unbedenklichen Fleisches sichergestellt werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx zum Inbegriff hygienischer Prophylaxe avancierte, den Behördenvertreter, Anwohnerinnen und Anwohner immer wieder als schmutzigen, stinkenden
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und lärmenden Ort bezeichneten. Der wirtschaftshistorische Autor Wilhelm Felling beschrieb die Verhältnisse auf dem Wiener Viehmarkt St. Marx um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel folgendermaßen: Der Verkauf der Tiere erfolgte zu jeder Jahreszeit an den bestimmten Markttagen unter freiem Himmel. Leicht läßt es sich denken, wie dieser Platz nach einem mehrtägigen Regen aussah, wenn tausende von Rindern und hunderte von Menschen diesen Morast durchschritten. Auch im Sommer an den schönen Tagen war es für den Menschen keine angenehme Aufenthaltsstätte, besonders nicht wenn der Wind den mit Krankheitsbazillen behafteten Staub aufwirbelte und den Besucher zwang, diese durch das Atmen aufzunehmen.421
Ungeachtet dieser Kritik stellte der Schlachthof einen Ort dar, der die aus der städtischen Öffentlichkeit verbannten Tiere in Fleisch verwandelte, das die Wiener Bevölkerung konsumierte. Der Schlachthof war ein magischer Ort, weil er das, was die Stadt von sich stieß, die unreinen Tiere, in das, was sie verzehrte, das reine Fleisch, transformierte. Die räumliche Differenzierung der Arbeit machte es möglich, zwischen dem als schmutzig geltenden Tier und dem sauberen Fleisch zu unterscheiden. Die Fleischproduktion stellte einen transformativen Akt dar, der nicht nur Tiere in Fleisch, sondern eine bei Fleischern, Ärzten, Markthelfern und Behördenvertretern als unrein geltende Arbeit in eine reine verwandelte.422 Sie alle unterteilten den Central-Schlacht- und Viehmarkt in einen reinen und einen unreinen Arbeitsbereich (siehe Abb. 13).423 Zu letzterem rechneten sie die Transport- und Aufbewahrungsräume (Eisenbahnverbindung, Verladerampen und Stallungen, Hallen); als rein bezeichneten sie die Kühlhäuser. Die Schlachthäuser stellten für sie Schwellenräume dar, die schmutzige und saubere Arbeiten vereinten und in denen Fleischer unreine Tiere in reines Fleisch verwandelten, indem sie diese töteten, ihre Körper zerteilten und dabei das Fleisch von den Häuten, In421 Felling, Die Versorgung der Stadt Wien, S. 8. Auch in jüngerer Vergangenheit erregen nicht nur Schlachthöfe, sondern auch Fleischereien aufgrund von Geruchsund Lärmbelästigung die öffentliche Ärgernis und sind mitunter Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen. Vgl. Oberster Gerichtshof, Entscheidungsdatum 31.08.1989, Geschäftszahl 6Ob616/89. URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_19890831_OGH0002_0060OB00616_8900000_000/JJT_19890831_ OGH0002_0060OB00616_8900000_000.pdf [Stand 15.9.2015]. Diesen Hinweis verdanke ich Bernhard Fuchs. 422 Vgl. Nieradzik, Lukasz: Necropolis II: Der Schlachthof. St. Marx und die Arbeit am Töten (Interview). In: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 51, April–Juni 2013: Verstädterung der Arten, S. 20-23, hier S. 21. 423 Vgl. Vialles, Animal to Edible, S. 35-39.
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nereien, dem Fett und den Schlachtabfällen trennten. Das Fleisch lagerten sie in den Kühlhallen, Rinderhäute hängten sie auf dem Boden des Schlachthauses auf,424 die Exkremente beförderten sie in Düngergruben oder auf den Misthof. Indem Fleischer oder Markthelfer den zerlegten Tierkörper und die tierischen Stoffe auf einzelne Räume verteilten, bestimmten sie diese als rein oder unrein. Sauberkeit und Schmutz stellten aufeinander bezogene und räumlich materialisierte Zuschreibungen von Fleischern und Markthelfern sowie Veterinären, Aufsehern und allen anderen dar, die auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx arbeiteten.425 Als zentralen und für die Produktion heikelsten Arbeitsschritt bezeichneten Fleischer, Mediziner und Behördenvertreter die Schlachtung und Zerteilung der Tiere. Fehlendes handwerkliches Können oder ein Missgeschick konnte die Fleischqualität beeinträchtigen. Hinzu kam die Sorge, dass das Fleisch verschmutzt und mit gesundheitsschädlichen Stoffen in Berührung kommen könnte. Daher waren das Schlachten und Zerteilen der Tiere diejenigen Arbeitsschritte, die Aufseher penibel kontrollierten. Die he rausragende Bedeutung des Betäubens und Tötens von Tieren für den gesamten Produktionsprozess wird allein an der Zahl der Aufseher deutlich. Von den 21 in St. Marx angestellten Aufsehern waren zwölf ausschließlich für die Überwachung der Schlachtungen zuständig.426 Je näher die Schlachtung eines Tieres (zeitlich und räumlich) heranrückte, desto frequentierter wurden die Gesundheitskontrollen. Veterinäre untersuchten den Zustand der Tiere „[u]nmittelbar vor der Schlachtung“427 und überwachten deren Betäubung, Tötung sowie Zerteilung, „bei der die notwendige Reinlichkeit nicht außer Acht gelassen werden“428 durfte, wie die Betriebsord424 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien, März 1889, § 10-11, S. 6-7]. 425 Diese Beobachtung entspricht Mary Douglas‘ These, wonach Sauberkeit und Schmutz bzw. das Reine und das Unreine relationale Kategorien darstellen, die an gesellschaftliche Ordnungen und Zuschreibungen gebunden sind. Vgl. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. 1. Aufl. Frankfurt/M. 1988 [Original: Purity and Danger. London 1966], S. 53. 426 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [76854 / 1876, Schlachthausdirektion St. Marx, 1876]. 427 Wiener Magistrat, Abt. IX: Vorschrift für den Dienst in den städtischen Schlachthäusern in Wien (Entwurf ), genehmigt ist im Drucke, mit einigen unwesentlichen Abänderungen, 1909, 2. Der Dienst der Schlachthaustierärzte, § 21, S. 6. 428 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien, März 1889, § 10-11, S. 6].
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nung für die Schlachthäuser der Stadt Wien vom März 1889 bestimmte. Erst nach bestandener ärztlicher Prüfung durften Fleischer das Fleisch aus dem Schlachthaus entfernen.429
Abb. 13 : Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx – Reine und unreine Räume (eigene Darstellung)
429 Ebd., § 9, S. 5-6.
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Für die städtischen Behörden ermöglichten die räumliche Differenzierung der Arbeit und Arbeitskontrollen eine massenhafte Produktion gesundheitlich unbedenklichen Fleisches. Die Trennung des Viehmarktes und der Schlachthäuser in reine und unreine Räume zerriss den tierischen Körper buchstäblich, indem Fleischer das saubere Fleisch vom schmutzigen Rest des Tieres schieden. Diese Teilung umfasste auch eine Reinigung der Sprache. Ein Tier, das Fleischer oder Markthelfer ins Schlachthaus überführten, stellte für sie ein „Objekt“430 dar. Sie benannten die einzelnen Fleischstücke (zum Beispiel als „Vorderes“ oder „Hinteres“) und begutachteten deren Form und Aussehen, woraus sie auf die Qualität des Produktes schlossen.431 Indem Fleischer Tiere schlachteten und zerteilten, trennten sie den semantischen Bezug des Fleisches zum Tierischen und Lebendigen. Die hier beschriebene räumliche Ordnung und Differenzierung von Arbeitsprozessen stellten die Architekten Rudolf Frey und Max Fiebiger ebenso wie die städtischen Behörden als alternativlos hin – und das sollte sie auch für die in den Schlachthöfen und auf dem Viehmarkt arbeitenden Fleischer, Markthelfer und Aufseher sein. Im folgenden Kapitel frage ich, wie das Wachpersonal die Arbeit von Fleischern überwachte und zeige, inwiefern sich letztere sowie auch Aufseher beim Arbeiten selbst disziplinierten.
6.1.2 Kontrolle und Disziplinierung Die räumliche Trennung einzelner Arbeitsschritte war für die Architekten des Wiener Schlachthofes und Viehmarktes St. Marx Inbegriff der modernen Tierschlachtung, und sie erleichterte Aufsehern, die Arbeit von Fleischern, Marktdienern, Reinigungskräften und Viehverkäufern zu überwachen. Das Arbeiten auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx kann in produzierende und kontrollierende Tätigkeiten unterschieden werden: Fleischer schlachteten Tiere, und Aufseher überwachten ihre Arbeit. Die Trennung von Produktion 430 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [Seiller, Vorschrift über den Geschäftsbetrieb in den städtischen Schlachthäusern und auf dem Viehmarkte, 28.4.1851, Den Schlachtviehmarkt betreffend, a), S. 1, unpag.]. 431 Vgl. zum Beispiel: WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [MarktamtsAbth. f. d. III. Bez. Wien, Zerfällung eines Ochsen nach Vierteln & Stücken, 29.1.1903]; ebd., A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Anhang zum § 22 des allgemeinen Dienstunterrichtes (Instruktion) für die Marktaufsicht, 20.12.1881]; DeMello, Animals and Society, S. 142-143.
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und Überwachung ist ein Merkmal rationalisierter und industrialisierter Arbeitsprozesse.432 Das Streben, Arbeit zu überwachen, sichtbarer und berechenbarer zu gestalten, stellte für die Wiener Behörden ein zentrales Motiv beim Umbau der Schlachträume und des Viehmarktes dar. Die Kontrollen waren jedoch lückenhaft. Aufseher griffen auf dem Viehmarkt wiederholt Kinder, die auf dem Gelände spielten, oder Frauen auf, die ihren dort arbeitenden Ehemännern ein Pausenbrot brachten.433 Das Marktamt beklagte den Diebstahl von Schweinen, Kälbern, Lämmern und Rindern,434 Kinder melkten unerlaubterweise die in den Stallungen untergebrachten Kühe,435 und Unbekannte stahlen Tierfutter436 oder Schweine, wobei „es niemals gelingt die Thäter zu eruieren“437, berichtete die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im März 1898. Der Wiener Marktinspektor Berger beklagte, dass „täglich eine Menge Frauen und Kinder zum Markte [kommen], [sie] passieren ohne angehalten zu werden das Eintrittstor […] und betreiben […] vor den Augen der Aufsichtsorgane einen äusserst schwunghaften Handel mit Rum, Tee und Kaffee“438. Auch Betrugsfälle und Bestechungen waren bekannt. In der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung berichtete der Schweinehändler Tomaszevsky im Juli 1898, „dass bei Selchern, Fleischhauern und Gastwirten wiederholt Individuen vorgesprochen haben, welche sich als seine Bediensteten ausgeben und Geld herauslockten.“439 Fleischer verteilten Geschenke an Abwieger, die beim Viehkauf die Tiere wogen, damit diese einige Kilogramm weniger auf die Waage 432 Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 382. 433 WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, unbefugte Personen auf Zentralviehmarkt, 26.7.1914]; ebd. [Kurrende, unbefugte Personen auf Zentralviehmarkt, 2.9.1914]. 434 Ebd. [Kurrende, Schweinediebstahl, ca. 1911]; ebd. [Kurrende, Lämmerdiebstahl, 9.3.1911]; ebd. [Kurrende, Rinderdiebstahl, 9.2.1916]; ebd. [Kurrende, Schweinediebstahl durch Markthelfer Johann Bendekovits, ca. 1914]. 435 Ebd. [Verlautbarung, illegales Melken, 23.2.1915]; ebd. [Kurrende, Marktinspektor Berger, 12.8.1915, S. 1, unpag.]. 436 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 28-29 [22.12.1905] und 113 [14.11.1906]; ebd., Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, Z. 211/16, 17.2.1916]. 437 Scandalöses vom Wiener Borstenviehmarkte. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 4.3.1898, Nr. 18, S. 1. 438 WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, Marktinspektor Berger, 12.8.1915, S. 1]. 439 Zur Warnung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 8.7.1898, Nr. 54, S. 2.
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legten und sie für das erstandene Rind einen geringeren Preis zahlten.440 Der Marktinspektor Berger sah sich deshalb dazu veranlasst, „einen Lokalaugenschein, zur Behebung der Uebelstände abzuhalten.“441 Wie er weiter bemerkte, konnte der Leiter der Kommission Herr Mag. Sekretär Dr Eger aus eigener Wahrnehmung feststellen, dass einige Markthelfer nicht auf den ihnen zugewiesenen Dienstposten anzutreffen waren, dass sich viele Frauen und Kinder mit Flaschen, Taschen und Körben im Marktbereiche aufhielten, und sich beim Haupttore 5 Marktdiener sich [sic!] so anregend unterhielten, dass sie weder das Nahen der Kommission, geschweige den [sic!] das Betreten des Marktes durch Unberufene bemerkten.442
Selbst Aufseher und Nachtwächter wurden ermahnt oder entlassen, weil sie betrunken zur Arbeit erschienen waren,443 sich zu ihrem Dienstantritt verspätet,444 in den Stallungen geraucht445 oder Trinkgelder angenommen hatten, um „strenge Tiere“446 einzustallen. Neben baulichen Veränderungen, wie ich sie im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, versuchte die Direktion des Central-Schlacht- und Viehmarktes diesen Verfehlungen durch unterschiedliche Formen sozialer Kontrolle entgegenzuwirken, die Fleischer ebenso betrafen wie die bei der Stadt Wien angestellten Markthelfer, Aufseher und Nachtwächter.447 440 WStLA, 1.3.2.243, A3/1 Normalien, 1893–1938, 1.1 Betriebsordnungen, 1893–1936, Zentralviehmarkt [Kundmachung, betreffend das Verbot von Geschenken an die Waagorgane auf dem Zentralviehmarkte in St. Marx., M.Abt. IX, 951/12, 15.2.1912]. 441 WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, Marktinspektor Berger, 12.8.1915, S. 2]. 442 Ebd. 443 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 85 [4./17.6.1906] und 129 [29.1.1907]. 444 Ebd., S. 71 [29.4.1906]. 445 Ebd., S. 144 [9.7.1907]. 446 Ebd., S. 59 [12.3.1906] und 62-62 [19.3.1906]. 447 Das Personal des Central-Schlacht- und Viehmarktes St. Marx bestand aus einem Schlachthausleiter, Tierärzten, Schlachthausdienern, Kanzleimitarbeitern, Nachtwächtern, Aufsehern, Reinigungskräften und einem Hausmeister. Der Schlachthausleiter war ein vom Magistrat der Stadt Wien eingesetzter approbierter Tierarzt, der „für den gesamten Schlachthausbetrieb verantwortlich [war]“. Wiener Magis trat, Abt. IX: Vorschrift für den Dienst in den städtischen Schlachthäusern in Wien (Entwurf ), genehmigt ist im Drucke, mit einigen unwesentlichen Abänderungen, 1909, II. Die Obliegenheiten der einzelnen Organe, 1.) Der Dienst des Schlachthausleiters, § 4. Der Schlachthausleiter kontrollierte die Finanzen, teilte die Dienste des Personals ein, leitete Verordnungen und Kurrenden des Magistrats an die Angestellten weiter und wurde von den anderen Tierärzten bei der Viehbeschau
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Zum Beispiel waren dem Direktor des Schlachthauses und Viehmarktes Biografie und beruflicher Werdegang seiner Angestellten bekannt, indem er bei Stellengesuchen bei der Wiener Polizeidirektion Auskunft über die Bewerber einholte.448 Aufseher und Nachtwächter dokumentierten und beurteilten zusätzlich das Verhalten ihrer Kollegen, und die Schlachthof- und Viehmarktdirektion erstellte auf Grundlage dieser Informationen kurze Profilbilder ihrer Angestellten und klassifizierte sie als „fähig“, „fleißig“ oder „ungeeignet“.449 Diese Kontrolle der Kontrolleure sollte die Aufseher zu willigen Vollstreckern der Direktion machen, die ihre Überwachungsaufgaben pflichtbewusst erfüllten: Selbst als der Wiener Gemeinderat eine Gehaltserhöhung für städtische Bedienstete beschloss, lehnte der Direktor des Schlachthofes in St. Marx diese für seine Angestellten mit der Begründung ab, „daß das ihr [der Schlachthausdirektion, L.N.] unterstehende Personal in jeder Hinsicht seinen Dienstesobliegenheiten mit Fleiß und Eifer nachgekommen ist“450 und selbst keine Gehaltsforderungen stelle. Im Auftrag des Wiener Marktamtes führte die Direktion des Wiener Schlachthofes und Viehmarktes sogenannte „Qualifications“-Listen, in denen sie Aufseher nach ihrer „Fähigkeit“, „Verhinzugezogen, „wenn das Untersuchungsergebnis Zweifel zuläßt oder wenn die zutreffende Verfügung von besonderer Bedeutung erscheint.“ Ebd., 2.) Der Dienst der Schlachthaustierärzte, § 22, S. 7. Vgl. ebd., 1.) Der Dienst des Schlachthausleiters, § 18, S. 5, § 13, S. 4-5. Zu weiterem Personal zählten Tierärzte, die für die Vieh- und Fleischbeschau sowie Notschlachtungen zuständig waren, Schlachthausdiener zur Unterstützung der Tierärzte, Kanzleipersonal für Büroarbeiten und zur Kontrolle des Dienstantritts der Angestellten sowie Diener in den Kühlanlagen, die darauf achteten, dass diese Räume sauber gehalten und von unbefugten Personen nicht betreten wurden. Überdies gehörten zur Belegschaft des Central-Schlacht- und Viehmarktes St. Marx Nachtwächter und der Betriebsaufsichtsdienst, zuständig für die Ausführung der vom Schlachthausleiter vorgenommenen Raumzuteilung der Fleischer, die Kontrolle der Reinigungskräfte sowie die „Unterstützung des Schlachthausleiters und der Tierärzte und [die] Überwachung des Verkehres in den Stallungen, Schlachthallen und sonstigen Schlachthausräumen sowie auf den Höfen und Straßen.“ Ebd., 4, B., b) Der Betriebsaufsichtsdienst, § 45, S. 13. Des Weiteren war ein Hausmeister mit „der Überwachung des baulichen Zustandes des Schlachthauses“ betraut. Ebd., 4, B., f ) Der Hausaufsichtsdienst, § 67, S. 19). Ihm unterstanden „Reinigungs- und Desinfectionsarbeiter“. Ebd., B., b), § 57, S. 16). 448 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [k. k. Bezirks-Commissariat, Hernals in Wien, 28.11.1892]; ebd. [Rat Siegl, Prot. Nr. 197593, Ref. Nr. 3825, 11.11.1892] und ebd. [Prot. Nr. 208173, Ref. Nr. 4110, 18.11.1892]. 449 Ebd. [Die Einreihung der Beamten und Diener, 6.7.1876]; ebd. [Status des Schlachthaus-Personales und der Diener in den sonstigen Markt-Anstalten, 1.5.1876]; ebd. [Direktor des Schlachthauses St. Marx Meisel an Magistrat, 17.4.1876]. 450 Ebd. [Meisel, Schlachthausdirektor in St. Marx, o.D., S. 1, unpag.].
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wendung“ und ihrem „Betragen“ beurteilte. In diesen Listen, von denen zwei Exemplare im Wiener Stadt- und Landesarchiv vorhanden sind, werden die Aufseher als „vorzüglich“, „sehr fleißig“ oder „tadellos“ bezeichnet. Nur im Fall des Brückenaufsehers Josef Gerbann und zwei Markthelfern äußerte die Schlachthausdirektion ihren Unmut. Gerbann sei „widerspenstig und herausfordernd“451 und deshalb entlassen worden. Aufseher beschwerten sich über Marktdiener, Reinigungskräfte und ihre Kollegen, wenn diese gegen die Dienstvorschriften verstießen.452 In den sogenannten Vorfallenheitenprotokollen (siehe Kap. 3.1) vermerkten sie unterschiedliche Verstöße: Fleischer übertränkten Kälber,453 stritten mit Verkäufern über das Gewicht von Ochsen,454 Hallendiener klagten „über das rohe Benehmen eines Kutschers“455 und Nachtwächter beschwerten sich bei der Direktion des Schlachthofes und Viehmarktes, weil Kollegen sie beleidigt hatten.456 Die Häufigkeit der Einträge – oft mehrere am Tag – und die vielfältigen Anlässe für einen Vermerk zeigen, dass Aufseher penibel ihrer Arbeit nachgingen. Sie verweisen auf die Gewissenhaftigkeit des Kontrollpersonals, Fleischer zu überwachen und Verstöße gegen die Hausordnung sichtbar zu machen. Hinzu kam, dass einige Aufseher vor ihrer Anstellung im Schlachthof bzw. auf dem Viehmarkt selbst als Fleischer gearbeitet, aufgrund finanzieller Schwierigkeiten jedoch ihren handwerklichen Beruf aufgegeben hatten. Ihre berufliche Vergangenheit als Fleischer hinderte sie nicht daran, sich über ihre ehemaligen Handwerkskollegen zu beschweren. Dass sie das taten, ist bemerkenswert im Hinblick auf den Prozess sozialer Gruppenbildung im Wiener Fleischerhandwerk im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (siehe Kap. 5.1.2) und angesichts der Erzählungen von Aufsehern, die mit Stolz ihre fleischhandwerkliche Ausbildung und berufliche Vergangenheit als Fleischer herausstellten. Stellvertretend für andere sei hier als Beispiel das Gesuch des Konkurs gegangenen Fleischhauers Leopold Seeböck um eine Stelle als Nachtwächter im Schlachthaus St. Marx vom November 1892 genannt. Darin verweist der in 451 Ebd. [Status des Schlachthaus-Personales und der Diener in den sonstigen MarktAnstalten, 1.5.1876]; Gekündigt wurde auch zwei Markthelfern, weil diese sich „schlecht benehmen“, bemerkte ein Aufseher. WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 87-88 [25.6.1906]. 452 Ebd. S. 85 [4./17.6.1906]. 453 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Bürgermeister Felder, Kundmachung gegen Kälberzapfen, 5.2.1870]; ebd., A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Auf seher [Marktamtsdirektion erörtert die Ursachen für das Übertränken, 21.4.1891]. 454 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 15-16 [10.11.1905]. 455 Ebd., S. 143-144 [1907]. 456 Ebd., S. 152-153 [24.8.1907].
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Hernals (seit 1893 der XVII. Wiener Gemeindebezirk) ansässige, 33 Jahre alte Vater von zwei Kindern, der als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt verdiente, wiederholt auf seinen von Fleiß, Strebsamkeit und Gehorsam geprägten beruflichen Werdegang.457 Pflichtbewusst und gewissenhaft übten Aufseher ihren Beruf im Schlachthof und auf dem Zentralviehmarkt auch gegenüber den ehemaligen Handwerkskollegen aus, weil sie die sozialen Bedingungen, Werte und Normen eines neuen Arbeitsmilieus verinnerlicht hatten. Die räumliche Differenzierung der Arbeit beschleunigte diese Enkulturation. Die Schlachthof- und Viehmarktdirektion wies Aufsehern einem bestimmten Gebäude oder Arbeitsraum auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt zu, den sie überwachen mussten und nicht verlassen durften.458 Ihre Beziehung zu anderen Aufsehern war hierarchisch geordnet (siehe Abb. 14). Die Direktion delegierte die Überwachungskompetenz an mehrere gleichberechtigte Oberaufseher, die wiederum andere, ihnen untergeordnete Aufseher, kontrollierten. Alle Aufseher unterstanden dem Schlachthausdirektor, der seinerseits dem Direktor des Veterinäramtes und dem Magistrat der Stadt Wien Rechenschaft schuldig war. Je niedriger die Position war, die jemand in diesen hierarchischen Kontrollbeziehungen einnahm, desto größer war seine Pflicht, den Vorgesetzten über Vorkommnisse auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt in Kenntnis zu setzen, und umso geringer seine Möglichkeit, anderen Befehle zu erteilen. Die Aufseher informierten die ihnen vorgesetzten Oberaufseher, und diese benachrichtigten den Schlachthausdirektor. Die Befehlskette gestaltete sich entsprechend umgekehrt.459 457 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [Stellengesuch Eduard Seeböck, 12.11.1892]. Vgl. auch: ebd. [Stellengesuch Ludwig Fleischhacker, ca. 1892]. 458 Der Hausaufseher zum Beispiel hatte eine im Schlachthausgebäude eingerichtete Wohnung zu beziehen „und darf sich ohne Vorwissen und Erlaubniß der Verwaltung nicht aus dem Hause entfernen.“ WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [Seiller, Dienst-Instruction für die Hausaufseher in den städtischen Schlachthäusern, 18.4.1857, S. 1, § 2]. Ihm war zwar „gestattet zu jeder Zeit in alle Lokalitäten des Schlachthauses zu treten“, wenn „jedoch der Eintritt in eine geschlossene Localität nöthig [war] so hat dieß mit Vorwissen der Direktion zu geschehen.“ Ebd., S. 3, § 8. Von ähnlichen Beschränkungen, den Central-Schlacht- und Viehmarkt zu verlassen, waren auch die Schlachtbrücken-Oberaufseher und selbst der Schlachthausdirektor betroffen. Ebd. [M. Z. 1169 ex 1889, Hausordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. März 1889, § 14, S. 6]; ebd. [Dienst-Instruktion für den Schlachthausdirektor oder Verwalter, o.D., S. 1, unpag.]. 459 Ebd. [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien. März 1889, § 9, S. 6]. So wurde zum Beispiel zu den Reinigungsarbeiten „dem Hausinspector das erforderliche Aufseher- und Arbeitspersonal zuge-
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Abb. 14 : Hierarchie der Überwachung im Schlachthof und auf dem Viehmarkt St. Marx (Eigene Darstellung)
Diejenigen Aufseher, die in der Kontrollhierarchie die niedrigsten Positionen bekleideten, überwachten Fleischer, deren Gehilfen, Markthelfer und Reinigungskräfte, die im Schlachthof oder auf dem Viehmarkt arbeiteten. Anderes Überwachungspersonal kontrollierte die Gebäude sowie Kollegen, die eine niedrigere oder die gleiche Position in der Kontrollhierarchie einnahmen.460 Je wiesen, und es hat derselbe die genaue Einhaltung der Arbeitszeit zu überwachen. Die Nachtwächter hat der Hausinspector gehörig zu instruiren und den Dienst derselben strenge zu überwachen.“ Ebd. [Instruction für den Haus-Inspector des Central-Viehmarktes und des Schlachthauses zu St. Marx. Wien 1883, S. 4, § 4]. 460 Aufseher vermerkten nicht nur Verstöße gegen die Hausordnung durch Marktbesucherinnen und -besucher, sondern regelmäßig auch Verfehlungen ihrer Kollegen gegen die Dienstvorschrift. WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 66 [2.4.1906], 85 [4./17.6.1906] und 144 [9.7.1907]. Die Gebäudeüberwachung umfasste die Auflistung von Schäden an den Stallungen, Hallen und am Schlachthaus, Vermerke über gestohlene oder beschädigte Werkzeuge, die Überwachung der Wasserleitungen sowie die Kontrolle der Einhaltung hygienischer Vorschriften. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch
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höher jemand in der Hierarchie stand, desto mehr Verantwortung kam demjenigen für das ihm untergeordnete Personal zu. Der Schlachthausdirektor hatte zum Beispiel „für das Benehmen des seiner Leitung untergebenen Personals“461 Sorge zu tragen. Ebenso war der Hausinspektor, zuständig für Reparaturarbeiten, dafür verantwortlich, dass die ihm unterstellten Arbeiter „mit allen Handgriffen vollkommen vertraut sein [müssen], um in gefährlichen Momenten das Richtige zu treffen und […] daß die gewählte Persönlichkeit ihren Pflichten gleichmäßig nachkomme.“462 Die hierarchisch geordneten Beziehungen zwischen dem Aufsichtspersonal und anderen Schlachthof- und Viehmarktangestellten stellten ein geregeltes Gefüge von Aufgabenpflichten und gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten dar. Die Kompetenzen waren verschieden und voneinander abgegrenzt. Jeder Aufseher überwachte einen ihm zugewiesenen Abschnitt auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt, kooperierte mit seinen Kollegen und hatte zugleich das Recht und die Pflicht, diese bei seinen Vorgesetzten anzuzeigen.463 Mit dem pflichtbewussten Befolgen der Dienstvorschriften und ihrer gegenseitigen Kontrolle disziplinierten sich die Aufseher selbst, weil mit jeder Beurteilung der Arbeit eines Kollegen immer auch ein Urteil über das eigene Vermögen und die eigene Qualifikation einherging. Aufseher achteten gewissenhaft auf die Einhaltung der Hausordnung, weil sie dem Dienst nach Vor(1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [Seiller, Dienst-Instruction für die Hausaufseher in den städtischen Schlachthäusern, 18.4.1857, S. 1-2, § 4 und S. 2, § 6]. 461 Ebd. [Dienst-Instruktion für den Schlachthausdirektor oder Verwalter, S. 1]. 462 Ebd. [Instruction für den Haus-Inspector des Central-Viehmarktes und des Schlachthauses zu St. Marx. Wien 1883, S. 26, § 29]; ebd. [Seiller, Dienst-Instruction für die Hausaufseher in den städtischen Schlachthäusern, 18.4.1857, S. 2, § 6]. Auch der Schlachthausdirektor war für das untergebene Personal verantwortlich. Diesem hatte das Wiener Marktamt „die Oberaufsicht im Hause, die Leitung der Anstalt, der in dieser beschäftigten Beamten und Aufseher übertragen, er bleibt nicht nur für die richtige Gebahrung und Verrichtung der eingehobenen Schlachtungs-Gebühren verantwortlich, sondern auch für das Benehmen des seiner Leitung untergebenen Personals“. Ebd. [Dienst-Instruktion für den Schlachthausdirektor oder Verwalter, S. 1]. 463 Dieses hierarchisierte Beziehungsgeflecht von Weisungsrechten und Informationspflichten ähnelt dem von Max Weber beschriebenen „Prinzip der ‚Amtshierarchie‘ und des Instanzenzuges, d. h. ein festgeordnetes System von Über- und Unterordnung der Behörden unter Beaufsichtigung der unteren durch die oberen, ein System, welches zugleich dem Beherrschten die fest geregelte Möglichkeit bietet, von einer unteren Behörde an deren Oberinstanz zu appellieren.“ Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Paderborn 2006 [Original: Tübingen 1921/22], S. 1047. Denn „die hierarchische Unterordnung [ist] nicht gleichbedeutend mit der Befugnis der ‚oberen‘ Instanz, die Geschichte der ‚unteren‘ einfach an sich zu ziehen.“ Ebd.
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schrift ihren Beruf, ihre Macht und auch ihr Selbstbewusstsein verdankten.464 Vor allem für diejenigen Aufseher, die wie ehemalige Fleischer aus finanzieller Not eine Stelle im Schlachthaus oder auf dem Viehmarkt angetreten hatten, stellten Pflichtbewusstsein und ein Verantwortungsgefühl eine Anforderung an sich selbst dar. Indem sie andere Kollegen kontrollierten und dazu anhielten, die Hausordnung zu befolgen, disziplinierten sich die Aufseher selbst, weil sie von anderen nur das fordern konnten, was auch sie selbst beachteten. Die gegenseitige Überwachung und Selbstkontrolle der Aufseher führten dazu, dass auch die Arbeit von Fleischern auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx immer sichtbarer wurde. Hinzu kam, dass auch Fleischer sich durch ihr Arbeiten selbst disziplinierten. Dabei waren sie diejenigen, die die Arbeitsrationalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder kritisierten. Fleischer wehrten sich gegen Vorwürfe, für die Fleischteuerung oder Versorgungsprobleme verantwortlich zu sein (siehe Kap. 5.1.2 und 5.2.1). Vor allem störte sie die Anschuldigung nicht „handwerksmäßig“465 bzw. nicht nach „Handwerksgebrauch“ zu arbeiten, wie der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz bemerkte. Das handwerksmäßige Schlachten und Fleischverarbeiten bildeten den Kern einer fleischhandwerklichen Berufsethik. Für Fleischer stand der Begriff des Handwerksmäßigen für ihr spezifisches handwerkliches Wissen, das für das fachgerechte Schlachten, Enthäuten und Zerlegen von Tieren erforderlich war. Für sie blieben ihre Arbeitsweisen, die sie in der Ausbildung durch Beobachtung und Nachahmung erlernt hatten (siehe Kap. 6.2.1), in Zeiten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandels unverändert. Diese historische Kontinuität, die vor allem die Handwerksgenossenschaften inszenierten, war für jeden Fleischer beim handwerksmäßigen Arbeiten greifbar. In der Ausübung seines Berufs veranschaulichte und reproduzierte der Fleischer ein durch Routine und Erfahrung erworbenes, historisches Know-how im Umgang mit Tieren und Werkzeugen und vergegenwärtigte damit auch eine imaginierte zünftige Vergangenheit, die für ihn als genossenschaftliches Ideal fortbestand. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz verwies in einer Stellungnahme zu den Schlachtvorschriften, dass, wie er in Erfahrung gebracht habe, Fleischer „stolz [sind], in gleicher Weise wie ihre Väter zu arbeiten“466. Und die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung bemerkte im 464 Erving Goffman verweist darauf, dass jede soziale Institution den Menschen „dazu bringt, sein Leben künftig an der Hausordnung auszurichten.“ Goffman, Asyle, S. 54. 465 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Äußerung des Marktamtes über Schlachtungsvorschrift, Marktdirektor Karl Kainz, ca. 1900, S. 2, unpag.]. 466 Ebd.
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Februar 1900: „Die gründliche Kenntnis der Schlachtthieres war stets der Stolz unseres Gewerbes, und unsere Väter, die noch ‚ins Gäu‘ gingen, waren in der Kunst des Schätzens der Rinder Meister.“467 Im Unterschied zu Fleischern verbanden die städtischen Behörden den Begriff des handwerksmäßigen Arbeitens nicht mit Wissen und Routine, sondern mit Anforderungen an Arbeitsproduktivität und mit ihrem Streben nach Hygiene. Zudem bezogen sie diesen Terminus ausschließlich auf die Tierschlachtung und nicht auf den weiteren Prozess der Fleischverarbeitung,468 was damit zusammenhing, dass Fleischer diese Arbeit nicht im Schlachthof oder auf dem Viehmarkt, sondern in ihren eigenen Fleischereien verrichteten. Die Fleischverarbeitung entzog sich damit der behördlichen Kontrolle. Handwerksmäßig war für sie das Arbeiten, wenn Fleischer die räumliche Differenzierung der Produktion beachteten und sich um Sauberkeit bemühten. Fleischer durften zum Beispiel Fleischstücke aus den Schlachtkammern nicht entfernen, „so lange nicht die vorschriftsmäßige Beschau durch den Marktkommissär oder Bruck-Oberaufseher vorgenommen wurde“469, und deren Anweisungen mussten sie ausnahmslos befolgen.470 Das Wiener Martkamt forderte von den Fleischern zudem, dass sie „[d]ie zum Schlachten erforderlichen Werkzeuge und Geräthschaften […] in einem reinlichen und brauchbaren Zustande erhalten“471. Fleischer, die im Schlachthaus immer mit ihren eigenen Werkzeugen arbeiteten, mussten damit eine Vorschrift befolgen, mit der das Marktamt seine Befugnisse auf fremdes Eigentum ausgedehnt hatte. Die Behörde argumentierte ebenso wie die Direktion des Central-Schlachtund Viehmarktes St. Marx, dass ein Streben nach Sauberkeit und Handwerksmäßigkeit der Arbeit untrennbar miteinander verbunden seien. Das Arbeiten 467 Ein trauriges Zeichen der Zeit. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIII. Jg., 7.2.1900, Nr. 6, S. 3. Die Vorstellung von einer historischen Kontinuität des Wiener Fleischerhandwerks als einer für das Sozial- und Wirtschaftsgefüge der Stadt unentbehrlichen Gruppe entwirft die 1912 erschienene Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft. 468 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [Seiller, Vorschrift über den Geschäftsbetrieb in den städtischen Schlachthäusern und auf dem Viehmarkte, 28.4.1851, S. 2, § 8 und S. 3, § 24]. 469 Ebd., S. 2, § 8. 470 Ebd., § 1, 3, 5 und S. 3, § 24, 30, 32. 471 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien, März 1889, §. 7, S. 4-5]; ebd. [Seiller, Vorschrift über den Geschäftsbetrieb in den städtischen Schlachthäusern und auf dem Viehmarkte, 28.4.1851, S. 2, § 7].
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nach „Handwerksgebrauch steht im Dienst der Assanierung“ und fördere „Sauberkeit“ und „Hygiene“, bemerkte das Wiener Marktamt demgemäß.472 Handwerksmäßiges Arbeiten definierten Fleischer und städtische Behörden unterschiedlich. Indem Fleischer sich auf ihre Vorstellung vom handwerksmäßigen Arbeiten beriefen, unterstützten und stabilisierten sie paradoxerweise eine Arbeitsordnung, die sie lange Zeit abgelehnt hatten. Hinzu kam, dass nicht nur Aufseher die Fleischer überwachten, sondern auch diese ihre eigenen Kollegen kontrollierten. Fleischer beschwerten sich bei Aufsehern über Kollegen, die „nicht sauber“473 arbeiteten, weil sie die Schlachträume verschmutzt hinterließen oder ein Rind nicht mit einem gekonnten Hieb niederstreckten.474 Fleischer arbeiteten diszipliniert, weil sie die Hausordnung und die Vorschriften befolgten, die eine Grenze zwischen dem Erlaubten und Verbotenen zogen und ihre Handlungsfreiheiten einschränkten. Sie akzeptierten eine räumliche Differenzierung der Arbeit, die Architekten, Beamte und Behörden zur Norm einer modernen Tierschlachtung erhoben hatten. Zugleich schwärmten Fleischer von Gewerbeverhältnissen wie in Zunftzeiten und konnten sich aufgrund des Schlachthauszwanges nicht den kontrollierenden Blicken der Aufseher und ihrer Handwerkskollegen entziehen. Angesichts der Spannung zwischen dem Ideal einer berufsständischen Organisation des Gewerbes und der Gegenwart rationalisierter Arbeitsprozesse und Überwachung der eigenen Arbeit wurde für Fleischer das handwerksmäßige Arbeiten zum zentralen Topos ihrer beruflichen Identität. Für sie blieb das Arbeiten nach Handwerksgebrauch von der Neuorganisation, Technisierung und Rationalisierung der Tierschlachtung und Fleischproduktion unberührt. Gerade aufgrund ihres handwerklichen Wissens und Könnens erfüllte sie ihre Arbeit mit Stolz, und deshalb hielten sie sich auch in einer neuen Arbeits- und Wirtschaftsordnung für unentbehrlich.475 Die These in diesem Zusammenhang ist, dass Fleischer sich durch ihr handwerksmäßiges Arbeiten disziplinierten. Die dürftige Quellenlage lässt keine ein deutige Aussage zu, weshalb ich diese Behauptung als thematische Verdichtung des zuvor Erarbeiteten formuliere. Die Annahme ist, dass 472 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Äußerung des Marktamtes über Schlachtungsvorschrift, Marktdirektor Karl Kainz, ca. 1900, S. 1]. 473 Ebd. 474 Vgl. ebd. 475 So urteilte zum Beispiel der Wiener Archivar und Historiker Karl Fajkmajer im Vorwort der Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft: „Die geschicht liche Vergangenheit der Wiener Fleischhauergenossenschaft vermag […] vor allem jedes Mitglied der Genossenschaft mit dem stolzen Bewußtsein zu erfüllen, daß die Wiener Fleischhauerschaft seit jeher einen bedeutsamen und mächtigen Faktor innerhalb der Wiener Bürgerschaft gebildet hat.“ Fajkmajer, Vorwort, S. 11.
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Fleischer „Gefangene einer Machtsituation [waren], die sie selber stützen“476, weil sie immer nur unter den Blicken der Aufseher und ihrer Kollegen Tiere schlachten, enthäuten und zerlegen konnten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Arbeit und das handwerkliche Know-how eines Fleischers durch deren räumliche Differenzierung, die Kontrollen durch Aufseher und die Blicke der eigenen Kollegen zunehmend sichtbar.477 Die Sichtbarkeit machte das handwerksmäßige Arbeiten zu einer Disziplinartechnik und zugleich zu einer „Technologie des Selbst“478. Jedes Mal, wenn er ein Rind schlachtete, enthäutete und zerlegte, vergewisserte sich ein Fleischer seines Könnens, seiner Erfahrung und Routine. Dabei setzte er sich zwangsläufig den prüfenden Blicken seiner Kollegen aus und damit immer auch der Gefahr zu scheitern, indem er einen Fehler machte und sich den Missmut anderer Fleischer zuzog. Indem Fleischer das Handwerksmäßige ins Zentrum ihrer Berufsethik rückten und zugleich die Forderung der Behörden berücksichtigten, „hygienisch“ und „sauber“ zu arbeiten,479 akzeptierten sie den behördlichen Anspruch, in die Ausübung ihres Gewerbes regulierend einzugreifen. Sie erkannten im Handwerksmäßigen ein vom wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel unberührtes Überbleibsel aus Zunftzeiten, verkannten die Neubesetzung dieses Begriffes durch Behörden, Ärzte und Reformpolitiker und erkannten damit deren Machtanspruch an. In diesem Zusammenhang stellte Hygiene eine soziale Praxis dar, mit der die Schlachthof- und Viehmarktdirektion, Aufseher, Fleischer sowie auch Markthelfer Arbeitsabläufe und Arbeitsbeziehungen ordneten. Das Streben nach Hygiene verband sich mit dem Streben nach Produktivität der Arbeit. Die räumliche Differenzierung der Arbeitsprozesse verstärkte diese Entwicklungen: Das Arbeiten wurde übersichtlicher, geregelter, produktiver, überwachter und disziplinierter, kurzum: moderner. Die räumliche Ordnung des Schlachthofes und Viehmarktes stellte die symbolische Ordnung der Moderne dar, von der auch das handwerkliche Selbstverständnis von Fleischern nicht unberührt blieb. Das nachstehende Kapitel untersucht, inwiefern die Neuorganisation, Rationalisierung und Technisierung der Tierschlachtung und 476 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 258. 477 Zum Zusammenhang von Sichtbarkeit und Disziplin vgl. ebd., S. 257: „Die Sichtbarkeit ist eine Falle.“ 478 Ders.: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Frankfurt/M. 2009, S. 70 ff. Vgl. ders., Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt/M. 1994, S. 243-250. 479 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Äußerung des Marktamtes über Schlachtungsvorschrift, Marktdirektor Karl Kainz, ca. 1900, S. 1].
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Fleischverarbeitung das berufliche Selbstverständnis von Fleischern und ihre handwerkliche Arbeitsethik veränderten.
6.2 Technik und Handwerk
6.2.1 Narrative handwerklicher Persistenz „[Y ]ou take my life, When you do take the means whereby I live.“480
So wie in William Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“ Shylock gegenüber Porzia und dem Dogen beteuert, wie sehr sein Leben von einer produktiven und selbstbestimmten Arbeit abhänge, so grundlegend waren für Wiener Fleischer ihr handwerkliches Wissen und Können, ein Tier zu schlachten, zu enthäuten und zu zerteilen, um ihre Arbeit als sinnhaft und nützlich zu erfahren.481 Wie Fleischer ein Tier schlachteten, unterschied sich nach der jeweiligen Tierart. Von kleinen Abweichungen abgesehen, die das Töten, Enthäuten und Ausnehmen der Tiere betrafen, war der Ablauf grundsätzlich derselbe, wie ich im Folgenden am Beispiel der Rinder- und Schweineschlachtung zeigen werde. Die Schlachtung, die immer unter Aufsicht eines Tierarztes stattfand,482 bestand aus zwei getrennten, aufeinander folgenden Arbeitsschritten: der Betäubung und der eigentlichen Tötung des Tieres. Zunächst band der Fleischer das Rind mit einem am Boden befestigten Seil an einem Bein an. Das Fixieren des Rindes erleichterte das anschließende Betäuben des Tieres, das der Fleischer durch einen kräftigen und gezielten Schlag auf das Stirnbein mit dem Schlagbeil vollführte.483 480 Shakespeare, William: Merchant of Venice, 4. Aufzug, 1. Szene. In: Ders.: The Plays and Poems of William Shakspeare [sic!]. Accurately Printed from the Text of the Corrected Copies left by the Late Samuel Johnson [u.a.]. Leipzig 1833, S. 167-187, hier S. 184. 481 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [M. a. Z. 2060 ex 1903, 18.7.1903, S. 5, unpag.]. 482 Ebd. [Vorlage eines Entwurfes einer Schlachtungsvorschrift, 23.7.1903, § 1, S. 2, unpag.]. 483 Es kam auch vor, dass hierzu mehrere Schläge vonnöten waren. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1, unpag.]; Die Bouterole. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 7.3.1875, Nr. 6, S. 1.
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Nach der Betäubung durchschnitt der Fleischer die Hauptschlagader des Rindes, wodurch er den Blutfluss beschleunigte und das Tier tötete. Danach löste er „[d]ie Haut […] von dem Körper in der Weise […], daß kein Fleisch oder Fett an ihr verbleibt“484 und trennte in einem weiteren Arbeitsschritt den Kopf zwischen dem Hinterhauptbein und ersten Halswirbel sowie die Füße an der Fußwurzel. Anschließend entfernte er die in der Bauch-, Brust- und Beckenhöhle gelegenen Organe. Dazu zählten der Herzbeutel (auch Herzfell genannt), das Mittelfell und Zwerchfell (Brusthöhle), der Pansen, die Gedärme, der Blätter- und Labmagen (Bauchhöhle) sowie die Harnblase, Harnröhre (auch Ochsenziemer genannt), der Mastdarm und die Nieren (Beckenhöhle).485 Nach dem Ausweiden, das heißt dem Entfernen der Eingeweide, teilte der Fleischer den von den genannten inneren Organen befreiten Tierkörper in je zwei vordere und hintere Viertel (Spitz und Schulter sowie Schlögel/Knöpfel/ Keule und Riedhüfel), wobei die Brust als Ganzes gelöst und in zwei Teile geteilt wurde (Brustkopf und Frack). Dabei trennte der Fleischer das Fett von den Muskeln. Nach Zerteilung des Tierkörpers wog ein beim Schlachthaus angestellter Diener die Brust, die Viertel sowie die Nieren und das Nierenfell, um das Schlachtgewicht zu bestimmen.486 Nach Begutachtung durch einen Tierarzt brachte anschließend der Fleischer oder ein Geselle die Fleischstücke in die Kühlhalle oder transportierte sie zur weiteren Verarbeitung in die eigene Fleischerei. Die Schweineschlachtung unterschied sich nur unwesentlich von dem hier geschilderten Ablauf. Der Fleischer machte die Tiere vor der Betäubung und dem Entbluten nicht durch ein Anhängen unbeweglich, vor der Enthäutung wurden die Schweine mit heißem Wasser abgebrüht, und die Teilung des Körpers folgte einem anderen Schema. Wie bei Rindern wurden auch Schweinen die inneren Organe der Brust- und Bauchhöhle entnommen, die Haut gelöst, Fett und Muskeln voneinander getrennt. Dieser Prozess der Schlachtung, Enthaarung und Zerteilung gestaltete sich als ein routiniertes Zusammenspiel von Werkzeugen, Arbeitsgeräten sowie schlachtenden Menschen und geschlachteten Tieren. Max Fiebiger, der Bauleiter des Schweineschlachthauses in St. Marx, beschrieb diesen Ablauf folgendermaßen: 484 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Vorlage eines Entwurfes einer Schlachtungsvorschrift, 23.7.1903, § 2, a), S. 5]. 485 Ebd., § 2, b), c) und d), S. 5. 486 Ebd., § 2, e), S. 5. Vom Wiegen ausgenommen waren die Haut, der Kopf, die Füße, die inneren Organe der Brust-, Bauch- und Beckenhöhle, der Herzbeutel, die Harnröhre, die Luftröhre, der Schlund (Rachen), der Schwanz sowie die Hoden bzw. das Euter. Ebd., § 2, f ), S. 5-6.
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Vor der Schlachtung werden die Schweine in den Wartebuchten gesammelt, von welchen Türen in die Brühhalle zu 5 hochgelegenen Stechbuchten führen. In diesen werden die Schweine betäubt und dann gestochen, wobei das Blut in Gefäßen aufgefangen wird. Anschließend an jede Stechbucht befindet sich je ein Heißwasserkessel zum Abbrühen der Schweine. Das geschlachtete Schwein wird von der Stechbuch mittelst eines Einwurfrostes in den Heißwasserkessel gebracht. Dieser Einwurfrost ist derart eingerichtet, daß weder der Schlächter noch das lebende Tier in den Brühkessel fallen können. Aus dem Brühkessel wird das Schwein über eine Walze auf einen Tisch gezogen, dort enthaart und mit Kaltwasser (Brausen) gereinigt. Über den Tischen sind Luftbahngeleise angeordnet. Das auf dem Enthaarungstische liegende Schlachttier wird an eine Spreize gehängt, die mittelst einer Laufkatze auf dem Luftbahngeleise in die Ausschlachthalle geführt wird. […] Die Ausschlachthalle ist mit einer verzweigten Luftbahnanlage versehen. Hier werden die Schweine an den Schlachtspreizen und Laufkatzen hängend ausgearbeitet.487
Das Zitat macht deutlich, wie sehr die schlachtende und fleischproduzierende Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts technisiert stattfand. Technik beschleunigte die Produktion und verringerte die körperliche Anstrengung beim Arbeiten. Zugleich deuten sich hier die Grenzen technischer Machbarkeit an. Die weiteren Arbeitsschritte, das Zerteilen des Tierkörpers und Entsehnen des Fleisches, erforderten handwerkliches Know-how und konnten im Untersuchungszeitraum nicht maschinell bewerkstelligt werden. Das an den Hinterbeinen aufgehängte Schwein spaltete der Fleischer mit einem Beil entlang der Wirbelsäule in zwei Hälften und teilte diese anschließend in die einzelnen Fleischstücke, den Stutzen, das Karree (Rücken), das Vorderviertel und den Bauch. Als notwendig erachteten sowohl die städtischen Behörden als auch Fleischer, das Tier vor der Tötung auf eine schmerzlose Weise zu betäuben. Veterinäre, Behördenvertreter und der Wiener Tierschutzverein argumentierten: Ein Tier, das nicht merkt, wenn es stirbt, mache das Arbeiten sicherer und die Fleischproduktion effizienter. In der Entsinnlichung des Sterbens sahen sie die Gewaltlosigkeit des Todes, in der Schnelligkeit des Schlachtens die Modernität dieser Arbeit.488 Auf der Suche nach der optimalen Betäubungs- und Tötungstechnik, die für Fleischer einfach zu handhaben sein und deren Verwendung Tieren keine Schmerzen zufügen sollte, testete das Wiener Marktamt unterschiedliche 487 Fiebiger, Das neue Schweine-Schlachthaus, S. 5. 488 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Zuschrift des Wiener Thierschutzvereins mit Abstellung der unzureichenden Thierquälereien, welche beim Ausladen der Kälber am Westbahnhof vorkommen, 14.1.1897, S. 1, unpag.].
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Schlachtmethoden. Mitte der 1890er Jahre verfasste die Behörde einen internen handschriftlichen vierseitigen Bericht darüber, „welche Schlachtungsmethoden [in Bezug auf Rinder, L.N.] thatsächlich in Anwendung stehen, bei welchen hingegen es blos beim Versuche geblieben ist, und welche Lichtu[nd] Schattenseiten jede dieser Methode zeigt“489. Der Bericht kritisierte die gängige „Schlachtung mit dem Beile“, weil diese „gewöhnlich mehrere Schläge auf das Stirnbein des Thieres erforderlich [macht]“490. Und er fährt fort: „[ J]a es sind die Fälle nicht selten, wo der Fleischer selbst mit der Schneide der Hacke noch wuchtige Streiche auf den Kopf des Thieres führt, um dessen völlige Tödtung zu bewerkstelligen.“491 Das Wiener Marktamt argumentierte, dass die Betäubung mit dem Beil die Tiere unnötig leiden lasse. Auf diese Weise zu schlachten, vermochten nur geübte Fleischer, die erfahren und routiniert seien. Hinzu kam, dass Gesellen oder junge und unerfahrene Fleischer, die Rinder mit dem Beil schlachteten, sich dabei häufig verletzten.492 Demgegenüber erzielte das Betäuben und Töten von Rindern mit elektrischem Strom zwar „ein glänzendes Resultat, doch fand diese Tödtungsmethode bei ihrer Umständlichkeit und Kostspieligkeit keine weitere praktische Verwendung.“493 Auch „[d]ie Tödtung der Rinder durch Äther“494 befand das Marktamt für ungeeignet, „weil der Geruch des vom Thiere eingeatmeten narkotischen Mittels auch dem Fleische sich mittheilte und dadurch die Konsumtionsfähigkeit des Letzteren verweigerte.“495 Ebenfalls aus Rücksicht auf die Konsumentinnen und Konsumenten erklärte das Wiener Marktamt das Ersticken von Tieren durch einen Bruststich und das Einfüllen von Luft in den Brustkorb über eine Kanüle, wodurch die Lungen kollabierten und das Tier starb, für unbrauchbar. Zwar verwies das Marktamt auf den national-ökonomischen Vortheil, daß in Folge des Zurückbleibens des Blutes in den Muskelfasern gegenüber der bei anderen Schlachtungsmethoden eintretenden mehr oder minder vollständigen Verblutung, das Fleisch an Nahrungswerth u[nd] Gewicht in erheblichen Maßen gewinnt.496
489 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1]. 490 Ebd. 491 Ebd. 492 Ebd. 493 Ebd., S. 2. 494 Ebd. 495 Ebd. 496 Ebd.
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Zugleich aber reduzierte sich dadurch die Haltbarkeit des Fleisches erheblich. Hinzu kamen noch die geschmacklichen Präferenzen der konsumierenden Bevölkerung, die das Marktamt dazu veranlasste, von dieser Tötungsart Abstand zu nehmen. Denn „auch läßt sich mit solchem Fleisch durch Kochen keine weiße sondern blos braune Suppe erzielen, weßhalb an jenen Orten wo die Bevölkerung weiße Suppe zu genießen liebt diese Schlachtungsmethode keine Anwendung findet“497, urteilte das Wiener Marktamt. Die Behörde favorisierte hingegen die Betäubung und Tötung von Rindern mit der Bouterolle, einer ledernen Maske, die der Fleischer dem Rind über den Kopf stülpte (siehe Abb. 15). Mit einem Schlag auf einen röhrenförmigen Eisenstab, der sich auf Höhe des Stirnbeines befand, zerschlug dieser die Schädeldecke, wodurch das Tier betäubt wurde. In die geöffnete Schädeldecke wurde dann „ein Eisenstäbchen […] eingeführt und hiedurch das Gehirn in seinem Zusammenhange zerstört […], welche Prozedur das Thier nur mit einigen Zuckungen begleitet.“498 Mithilfe der Bouterolle war es möglich geworden, den zeitlichen Abstand zwischen Betäubung und Tötung auf ein Minimum zu reduzieren. Die Schlachthaustierärzte in St. Marx ebenso wie das Wiener Marktamt, aber auch die Fleischergenossenschaften bezeichneten die Bouterolle als geeignetes Werkzeug für all diejenigen, „denen daran gelegen ist, ihr Gewerbe in der vollkommensten, das heißt humansten Weise auszuüben“499, urteilte zum Beispiel die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im März 1904. Die von dem Pariser Fleischer Bruneau erfundene und 1872 patentierte Schlachtmaske galt für die kommunalen Verwaltungen der europäischen Großstädte als Inbegriff einer sauberen, zweckmäßigen und für das Tier vermeintlich angenehmen Tötungsmethode. Das Wiener Marktamt würdigte deren einfache Handhabung, hob hervor, dass der Tod des Tieres augenblicklich eintreffe, die Schlachtmaske unkompliziert zu bedienen und zudem ein Präzisionsinstrument sei, das mit chirurgischer Genauigkeit in den Tierkörper dringe.500 Obwohl die Schlachtung mit der Bouterolle laut Marktamt eine erhebliche Arbeitserleichterung bedeutete, setzte auch diese eine Zusammenarbeit von mehreren Fleischern und ihren Gesellen voraus, wie die Behörde im zitierten Bericht bemerkte. Nachdem der Fleischer dem Rind die Schlachtmaske aufgesetzt hatte, wurde 497 Ebd. 498 Ebd., S. 4. 499 Zur Generalversammlung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg, 15.3.1904, Nr. 22, S. 1. Vgl. Die Bouterole, S. 1. 500 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 3-4]. Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 58.
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[e]ine an beiden Hörnern des Thieres befestigte Leine […] durch den am Boden der Schlachtkammer angebrachten eisernen Ring gegeben, sodann über einen in der Höhe der Kammer erfindlichen Balken geschlungen und angezogen, wodurch der Kopf des Thieres mit der Richtung nach unten fixirt wird. Ein Fleischergehilfe ergreift sodann das linke Horn, richtet den Kopf etwas gegen sich und ein anderer Gehilfe an der ersten Seite stehend führt den Schlag mitten auf die Stirn des Thieres.501
Abb. 15 : Die Bouterolle (Modell Bruneau) Quellen: Die Bouterole. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 7.3.1875, Nr. 6, S. 1. (links) und Schwarz, Oscar: Public Abattoirs and Cattle Markets. London 1901, S. 136, hier aus: MacLachlan, Ian: Coup de Grâce: Humane Cattle Slaughter in Nineteenth Century Britain. In: Food & History, 3, 2006, 2, S. 145-171, hier S. 161 (rechts).
Auch der Fleischer, der dem Rind die Maske über den Kopf stülpte, brauchte dazu ein gewisses Maß an Erfahrung und Routine. Er musste die Bouterolle jedem Rind eigenhändig anpassen und darauf achten, „daß dieselbe fest an der Stirne anliegt, daß das Kopfteil nicht die Anwendung stört, damit der einzuführende Stift direct auf das Gehirn geleitet wird.“502
501 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 3]. 502 Correspondenzen (Bouterolle). In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, IV. Jg., 14.12.1878, Nr. 151, S. 1.
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Handelte es sich bei der gängigen Beilschlachtung in erster Linie um eine Betäubungsmethode – die Tötung erfolgte erst durch Blutentzug –, fielen bei der Bouterolle Betäubung und Tötung zusammen. Während bei der ersten Schlachtmaske, der Bruneau‘schen Bouterolle, der Fleischer noch nach dem Schlag auf das Stirnbein des Rindes eine Sonde durch die zersprungene Schädeldecke bis ins Rückenmark des Tieres einführte, um das Tier zu töten, war dieser Vorgang bei neueren Modellen wie der von dem englischen Fleischer Robert Baxter modifizierten Schlachtmaske (siehe Abb. 16) nicht mehr notwendig, „da das Eindringen des Bolzens in das Großhirn eine schnelle und hinreichende Betäubung herbeiführte, um sofort darnach die Blutentziehung und damit den sicheren Tod bewirken zu können, ohne dem Thiere nennenswerte Schmerzen verursacht zu haben.“503
Abb. 16 : Die Bouterolle (Modell Baxter) Quelle: Baxter, Robert: Instruments for Slaughtering Animals, Specifications of Patents, Nr. 2924, 1874. Holborn 1875, hier aus: MacLachlan, Coup de Grâce, S. 161.
Gegenüber der Beilschlachtung ermöglichte das technisierte Schlachten mittels der Bouterolle einen normierten Arbeitsablauf. Für Veterinäre und Schlachthausreformer verhieß Technik das Versprechen von der „humanen Schlachtung“, das heißt der Notwendigkeit, das Tier vor der Tötung zu betäuben,504 einzu503 Welches sind die empfehlenswertesten Schlachtmethoden? In: Wiener Fleisch hauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 16.9.1898, Nr. 74, S. 5-6, hier S. 6. 504 Vgl. MacLachlan, Coup de Grâce, S. 149.
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lösen. Die fortschreitende Technisierung des Schlachtens, sei es mit der Bouterolle wie auch mit den im Untersuchungszeitraum noch nicht ausgereiften Techniken mit Gas oder Elektrizität,505 machte das Schlachten vom menschlichen Können zunehmend unabhängig und verwandelte den Schlachthof in ein Laboratorium für humane Tötungsmethoden.506 Die Suche von Behördenvertretern, Politikern und Tierärzten nach einer Schlachttechnik, die das Arbeiten erleichtern und die Produktion steigern sollte, begleitete ein wachsendes Misstrauen gegenüber dem handwerklichen Können von Fleischern. Technik versprach das Töten vom handwerklichen Erfahrungswissen und der praktischen Routine zu lösen. Das beim Schlachten erforderliche handwerkliche Routinewissen, das Können, Kraft, Geschick erforderte und Erfahrung voraussetzte, trat hinter die Fähigkeit zurück, ein Werkzeug oder eine Maschine zu bedienen. Am eindrücklichsten zeigte sich diese Substitution menschlichen Know-how durch Technik – ebenso wie das Zusammenfallen von Betäubung und Tötung – am Beispiel der Schlachtpistole. Hier genügte nur ein Abzug mit dem Zeigefinger, um den Ablauf der Schlachtung in Gang zu setzen. Das Geschoss tötete das Tier in Sekundenbruchteilen. In Wien waren entsprechende Apparate für den Untersuchungszeitraum jedoch nicht in Anwendung. Der Direktor des Wiener Marktamtes Karl Kainz ließ zwar die sogenannte Schuss-Bouterolle im Schlachthof St. Marx erproben, kam aber zu dem Ergebnis, daß das Tödten der Schlachtthiere durch Erschießen nur als ein Experiment anzusehen und diese Tödtungsart in einem Schlachthause, wo Massenschlachtungen stattfinden, aus mehrfachen Gründen zur allgemein praktischen Anwendung nicht zu empfehlen sei.507
505 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 2]; Welches sind die empfehlenswertesten Schlachtmethoden, S. 5. 506 Eine bizarre Anekdote lieferte die Besetzung des Schlachthofareals Ende Juni 1976, mit der Architekturstudentinnen und -studenten, Kunstschaffende und Musikerinnen und Musiker gegen den geplanten Abriss der alten Schweineschlachthallen auf dem Gelände in St. Marx und für ein alternatives Kunst- und Kulturzentrum in Wien demonstrierten. Wie „Der Spiegel“ im Oktober 1976 berichtete, rechtfertigten die Besetzerinnen und Besetzer ihr Vorgehen unter anderem mit den Worten: „Die einstigen Schweineschlachthallen sind humaner als Gemeindebauten.“ Marx in St. Marx. In: Der Spiegel, 4.10.1976, Nr. 41, S. 175. 507 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Kainz, Die Anwendung des Hakel‘schen Schußapparates zum Rinderschlachten, 2.7.1896, S. 1-2, unpag].
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Das Töten von Rindern mit dem Schussapparat sei zu laut, erhöhe das Risiko von Bränden und beschädige das Fleisch, weil „bei den auf diese Art getödteten Tieren das Projektil oft tief in den Körper, selbst bis in die Lenden eingedrungen ist und die durchbohrten Fleischtheile, welche […] durch Zerreißen u[nd] innere Blutungen entwerthet worden sind.“508 Zudem erfordere der Gebrauch dieses Schlachtwerkzeuges „eine gewisse Erfahrung in der Handhabung mit Schußwaffen“509, und es sei außerdem zu befürchten, urteilte Kainz, dass Angestellte oder Fleischer dieses Schlachtwerkzeug als Waffe missbrauchen könnten: „Muthwillen, Necken, Streit & Zank unter dem Personale kann bei der Manipulation mit dem geladenen Schußapparat das Leben der dabei Beschäftigten gefährden.“510 Fleischer begegneten der Einführung neuer Werkzeuge wie der Bouterolle mit Unbehagen, weil sie dadurch ihre berufliche Degradierung befürchteten. In der Tat schufen die Konzentration und Rationalisierung der Tierschlachtungen in St. Marx einen wachsenden Bedarf nach geringqualifizierten Arbeitskräften. Die Schlachthausdirektion stellte Arbeitslose, die vor den Toren des CentralSchlacht- und Viehmarktes warteten, als Reinigungskräfte ein, beschäftigte Tagelöhner als Aufseher auf dem Zentralviehmarkt, und richtete im Schlachthaus St. Marx eine Arbeitsvermittlungsstelle ein.511 Von dieser zogen an starken Schlachttagen Fleischer Tagelöhner als Aushilfen heran, die Schlachtabfälle zu entsorgen oder die Schlachträume nach getaner Arbeit zu reinigen hatten. Großschlächter stellten kurzfristig auch „Helfer“ ein. Wie Kardosi berichtet, waren dies „meist Arbeitslose, die sich auf den Fleischerberuf verstehen und stets in beträchtlicher Zahl, Stellung suchend, auf den Schlachthöfen anzutreffen sind“512. Das ausschließliche Recht auf die Vermittlung von Arbeitssuchenden hatte die Schlachthausdirektion. Wiewohl versuchten Fleischer und Viehhändler diese Vorschrift zu umgehen, indem sie Hilfsarbeiten an Arbeitssuchende eigenhändig verteilten, ohne die Direktion in ihre Entscheidung einzubeziehen. Im September 1896 beklagte daher der Wiener Marktamtsdirektor, dass 508 Ebd., S. 3. 509 Ebd.. S. 2. 510 Ebd. 511 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S. (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [Seiller, Dienst-Instruction für die Hausauf seher in den städtischen Schlachthäusern, 18.4.1857, § 6, S. 2]; ebd., SchlachtbrückenAufseher [Brief des Rates Siegl an den Stadtrat, 1.2.1893]; Wien. Errichtung einer Abteilung des städtischen Arbeits- und Dienstvermittlungsamtes im Schlachthause St. Marx. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 12.4.1904, Nr. 30, S. 3. 512 Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 26.
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Schulkinder und beschäftigungslose Jungen, […] weil sie sich gerne zur Mithülfe beim Treiben und Prügeln der Rinder verwenden lassen, schon sowol durch den Herren Marktreferenten, als auch durch mich unter Zuhilfenahme des Aufsichtspersonales vom Markte abgeschafft worden [sind].513
Die Einführung und das Bewerben neuer Schlachtapparate verstärkte ein Unbehagen gegenüber derartigen Entwicklungen und die Sorge um eine berufliche Degradierung. Sowohl für deren Befürworter als auch Gegner versprachen neue Schlachttechniken, den Menschen unfehlbar zu machen. Aber gerade das Risiko zu scheitern, stellte für Fleischer die Notwendigkeit des handwerklichen Könnens in der Tierschlachtung heraus. Der Meister war seinen Gesellen ein Vorbild, weil er sein durch Erfahrung erworbenes Können beim Arbeiten zur Schau und den Lehrlingen dadurch zur Anschauung stellte.514 Mit einer gezielten Bewegung versetzte er einem Ochsen, an dem die Lehrlinge das Schlachten übten, den ersehnten Gnadenschlag, wozu der eifrige Nachwuchs noch nicht imstande war. Hier war das Unvermögen aus mangelnder Erfahrung der einen die Möglichkeit der anderen, ihr Können beim Arbeiten als praktische Manifestation eines jahrelang erworbenen Erfahrungswissens unter Beweis zu stellen. Ob Fleischer neue Werkzeuge und Maschinen als Entwertung ihres handwerkliches Könnens oder als willkommene arbeitserleichternde Hilfsmittel erlebten, hing von der jeweiligen Arbeit ab. Während sie neue Schlachttechniken kritisierten, begrüßten Fleischer neue Kühltechniken515 zur längeren Aufbewahrung von Fleisch ebenso wie fleischverarbeitende und wurstherstellende Maschinen. Letztere ersetzten zwar das menschliche Geschick und galten als „künstlich“516. Aber unter ihrer Zuhilfenahme konnten Fleischer sich auf dem Gebiet der Fleischverarbeitung oder Wurstherstellung spezialisieren, ein neues Wissen aneignen und neue Arbeitsroutinen entwickeln. Mit dem Einsatz von neuen Maschinen und Werkzeugen trieben sie die Technisierung der Arbeit weiter voran, indem sie deren Grenzen für bestimmte Arbeiten aufzeigten und damit auch das Bedürfnis nach weiteren neuen Techniken schufen.517 513 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Marktamts-Direction, 10.9.1896, S. 3, unpag.]; WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 94 [8., 5., 22. und 29.7.1906]. 514 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [M. a. Z. 2060 ex 1903, 18.7.1903, S. 5]. 515 Zur Entwicklung von Kühltechniken im Fleischergewerbe vgl. Carlson, Cattle, S. 119-123. 516 Fleisch-Würfel-Schneidemaschine. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.10.1875, Nr. 34, S. 133-134. 517 Vgl. Eine wichtige Maschine für Fleisch-Selcher. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 23.5.1875, Nr. 15, S. 57.
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Ob Fleischer technische Neuerungen ablehnten oder sich dieser annahmen, hing folglich davon ab, ob sie diese als Gefahr für ihr handwerkliches Erfahrungswissen einschätzten oder als eine Möglichkeit willkommen hießen, ihre Kenntnisse und ihr Können zu erweitern. Es wäre allerdings zu kurzsichtig und vereinfachend, Fleischern grundsätzlich eine Aversion und Feindseligkeit gegenüber neuen Techniken, auch auf dem Gebiet der Tierschlachtung, vorzuwerfen. Vielmehr setzten sie sich sukzessiv mit neuen Werkzeugen und Maschinen auseinander. Die fachliche Fortbildungsschule der Wiener Fleischhauergenossenschaft veranstaltete zum Beispiel Anschauungs- und Fortbildungskurse über den Umgang mit neuen Schlachtmethoden. Mit diesen Veranstaltungen verfolgte die Genossenschaft das Ziel, die Modernität des Wiener Fleischerhandwerks herauszustellen: Fleischer hingen nicht fanatisch idealisierten Vorstellungen zünftiger Zeiten nach, sondern befassten sich vielmehr aus eigenem Antrieb bereitwillig mit neuen technischen Errungenschaften. Zudem nutzte die Genossenschaft diese Kurse, um die Grenzen der Technisierung im Fleischergewerbe aufzuzeigen.518 Wiewohl Arbeit sich zunehmend rationalisiert und technisiert gestaltete, erklärten Fleischer sowie auch städtische Behörden, Kommunalpolitiker und Veterinäre das Schlachten und Zerteilen von Tieren zu handwerklichen Tätigkeiten, die Erfahrung und Wissen erforderten.519 518 Vgl. Vorführung der verschiedenen Schlachtmethoden. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 5.1.1904, Nr. 2, S. 3. 519 Ganz im Unterschied zu der Entwicklung in den USA, wo in den 1890er Jahren die Technisierung und Arbeitsteilung eine Fließbandschlachtung von Rindern ermöglicht hatten. Die Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung widmete diesem Schlachtsystem, namentlich dem Großschlächtereibetrieb „Armour and Company“ in Chicago, im Mai 1900 einen Artikel. Darin wird der arbeitsteilige und technisierte Produktionsablauf beschrieben, bei dem der einzelne Fleischer an einem Fließband stehend fortwährend dieselben Handgriffe am Tier verrichtete. Die Maschine und Arbeitsteilung nahmen die menschliche Arbeitskraft für eine Arbeitsorganisation in Anspruch, die keinen Aufschub duldete. Lücken der Arbeit, selbstgewählte Pausen, Eigenständigkeit existierten nicht mehr: Die „rationelle Massenschlachtung […] besteht aus einer endlosen, beweglichen eisernen Tafel und ist 280 Fuß lang und 10 Fuß breit. Ihre Bewegungsschnelligkeit wird durch eine besondere Vorrichtung geregelt. Von dem Augenblicke an, wo das zu schlachtende Rind von der Maschinerie aufgenommen wird, was nach der Ausblutung geschieht, bis es bereit ist, in die Fleischkühlräume zu kommen, werden die einzelnen Verrichtungen bei der Schlachtung automatisch gehandhabt. Der Betrieb der Maschine verläuft ganz geräuschlos. Besondere Erwähnung verdient die Reinlichkeit. In früheren Tagen waren die Schlachtplätze blutig, schmutzig und glitscherig, und die Männer beschmutzt von Haupt bis zu Füßen mit Blut; jetzt ist die bewegliche Plattform so rein, daß man während der Arbeit selbst dinieren kann. Automatische Sprenger an jedem Ende spritzen frisches und reines Wasser
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Welches handwerkliche Know-how das Schlachten eines Rindes umfasste, zeigt das Beispiel der sogenannten Probeschlachtung. Diese bezeichnete „das […] Schlachten einzelner ausgeloster Stücke Schlachtvieh, um das Durchschnittsgewicht von einer nach dem Schlachtgewichte verkauften Schlachtviehpartie zu ermitteln“520. Im Februar 1904 verfasste das Wiener Marktamt einen 18-seitigen handschriftlichen Bericht über den Ablauf einer solchen Probeschlachtung. Dieser gibt detaillierte Einblicke in eine Arbeit, über die schriftliche Aufzeichnungen ansonsten fehlen. Ich gebe diese Quelle im Folgenden in längeren Passagen wieder, weil sie zum einen den Umstand unterstreicht, dass das Schlachten im Untersuchungszeitraum eine handwerkliche Tätigkeit blieb, wiewohl neue Werkzeuge dessen zunehmend technisierten Ablauf ermöglichten. Zum anderen macht der Inhalt diesen Bericht zu einer Quelle mit Seltenheitswert. Denn wie das Wiener Marktamt bemerkte, existierten bis dahin über den Ablauf einer Probeschlachtung keine schriftlichen Aufzeichnungen. Der Bericht „basiert […] auf Observanz nach welcher […] beim Schlachten und Aufarbeiten der Probeochsen von jeher vorgegangen wurde und noch jetzt vorgegangen wird.“521 Das Schlachten – „[d]ieses Beobachten und strenge Einhalten der herkömmlichen Gebräuche beim Schlachten und Aufarbeiten der Probeochsen“522, wie das Marktamt bemerkte – bezeichneten Fleischer als „das regiemäßige Schlachten“523. Dabei führte der Fleischer zunächst „mit der Schlaghacke 3 Hiebe auf den Schädel [des Rindes, L.N.] in der Art […], daß durch den 1. Hieb, der zwischen beide Hörner geführt wird, das Oberhauptbein sich spaltet, durch die zwei andern Hiebe aber das Stirnbein rechts und links 3 Zoll ober
auf die sich drehende eiserne Tafel. Die […] Abfälle werden am Ende der Tafel, wo die Umdrehung erfolgt, in Kanäle geleitet, so daß, wenn die Tafel an der anderen Seite wieder auf die Oberfläche kommt, ihre Decke vollkommen rein ist. Die Metzger sind an verschiedenen Stationen postiert. Jeder hat eine gewisse Handverrichtung zu machen, während das Schlachtvieh an ihm vorbei kommt. Er muß die Arbeit in einer gegebenen Anzahl Minuten vollführt haben, da das Schlachtstück immer in Bewegung ist. Es wartet nicht für eine Minute. Die Unterlassung wird gleich entdeckt; es kann nicht des Nachbars Gang passieren und muß gehalten oder ausgewechselt werden. Die Maschiene [sic!] kann beschleunigt werden, je nach der Anzahl der zu schlachtenden Tiere von 1400 bis 3000 Tiere pro Tag.“ Neue Schlachtvorrichtungen. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 13.5.1900, Nr. 19, S. 4. 520 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [M. a. Z. 2060 ex 1903, 18.7.1903, S. 1]. 521 Ebd., S. 5. 522 Ebd. 523 Ebd.
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dem Augenbogen durchgehauen wird.“524 Dann löste der Fleischer die Hörner vom Kopf, den er anschließend enthäutete und teilte den Hinterkiefer in der Weise, „daß die Hiebe, welche auf den hintern Rand der Äste derselben geführt werden gerade so den Knochen treffen, daß an dem abgehauenen Stücke des Hinterkiefers 3 Zähne haften bleiben.“525 Als nächstes legte der Fleischer das Tier auf die rechte Seite und löste die Haut von den Füßen, dem Rumpf, der Schulter und dem Schweif. Dabei musste die „Haut des Ochsen […] von der unteren Bauchgegend gegen den Rücken zu mit den Hackenstielen von den unterliegenden Weichteilen getrennt werden, damit der Hautmuskel (: Kücherl :) nicht an derselben hängen bleibt.“526 Daraufhin trennte der Fleischer „de[n] untere[n] Teil des Kopfes (: Gesichtsteil :) mit der Hacke in der Weise vom Schädelteile desselben […], daß die Hiebe auf die Längenachse des Kopfes geführt, gerade unter dem Ende der Kopfleiste (: Knöberl :) die Gesichtsknochen treffen.“527 Nach diesem sogenannten „Vorschlagen“ wurde „durch einen 2. Hieb, mit der Längenachse des Kopfes parallel, der ganze Schädel in 2 Hälften gespaltet (: Schälen :)“528. Auch das anschließende Auslösen, das heißt das Trennen des Fleisches vom Fett und von den Knochen, stellte einen komplexen Vorgang dar, der genaue anatomische Kenntnisse voraussetzte und bei dem ein Fleischer zahlreiche Einzelheiten zu beachten hatte. So musste zum Beispiel [b]eim Herausschneiden der Zunge […] die Hinterkieferdrüse (: Kröpfl :) und das sie umgebende Fett so gespaltet werden, daß der Schnitt parallel mit ihrem Längendurchmesser geführt wird und dadurch die eine ihrer Hälften an der Zunge, die andere an der innern Fläche der Äste des Hinterkiefers haften bleibt. Dasselbe gilt auch von dem um sie gelagerten Fette. Auch darf die aus dem Grunde des Halses emporragende Thymusdrüse (: Stichbries genannt :) nicht entfernt werden.529
Ähnlich stark reglementiert gestaltete sich das Ausnehmen und Zerkleinern der inneren Organe in der Brust-, Bauch- und Beckenhöhle. So durfte unter anderem [v]om Zwerchfell […] nur der sehnichte Teil (: hlg. Geist :) weggeschnitten werden, der fleischige Teil muß bleiben. Beim Entfernen der Harnröhre (: Ochsenziemer :) 524 Ebd., S. 6. 525 Ebd. 526 Ebd., S. 9-10. 527 Ebd., S. 7. 528 Ebd. 529 Ebd., S. 8.
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und des Mastdarmes (: Hinterkrum :) darf kein Fleisch weder aus der Schoßgegend noch um den Schweif oder After heraus mitgenommen werden. Der Schweif selbst ist ganz aus der Haut herauszuziehen.530
Hinzu kam, dass der Fleischer, um das endgültige Schlachtgewicht des Tieres festzustellen – das sich nur aus der Brust, Schulter und dem Spitz sowie den Nieren und dem Nierenfett zusammensetzte –531, beim Entfernen bestimmter Organe mit einer chirurgischen Vorsicht und Genauigkeit vorging. So wurde zum Beispiel [a]m Beuschel […] das Fett […], nachdem das mit der Luftröhre in Verbindung stehende Stück Magenschlund abgetrennt und auf die Riemen gelegt ist, zur rechten und linken Seite der Luftröhre sorgfältig bis zu der Stelle abgenommen, wo sich die Luftröhre in ihre Äste teilt, wo die blauen Drüsen (: Bronchialdrüsen :) liegen. Hier wird der Schnitt so geführt, daß dieselben mit dem Messer nach ihrer Längenachse gespalten werden und die eine Hälfte am Beuschel hängen bleibt […]. Hierauf wird die vordere und hintere Aorta aus dem sie umgebenden Fett heraus gestreift während das links und rechts an der Luftröhre befindliche Fett unangelastet bleibt.532
Auch das Herausnehmen des Pansens („Wampst“/„Wampe“), Netzmagens („Haube“) und Blättermagens („Löser“) erforderte Geschick und Routine: Da der Wampst mit der Haube für sich und der Löser mit dem Laube [Labmagen, L.N.] verbunden, aus der Bauchhöhle genommen werden, so wird zuerst der Wampst so niedergelegt, daß die Fläche desselben, an welcher sich das Netz anhaftet unter und jene, an welcher die Einpflanzungsstelle des Magenschlundes ist, oben auf zu liegen kommt. Von der Fläche wird das Fett mit den Händen abgerissen […]. An die Öffnung herum, die durch das Abschneiden des Lösers von der Haube entsteht (: das Kranzl :) wird das Fett mit dem Wasser abgelöst, hie rauf wird der Magen umgedreht, so daß seine Netzfläche obenauf liegt. Hier wird nun das Netz vom anklebenden Blute und Unrat mit dem Rücken des Wassers gut befreit, ordentlich ausgebreitet und dann von der Anheftungsstelle eine schwache 530 Ebd., S. 10. 531 Ebd., S. 16-17. Vom Schlachtgewicht ausgenommen waren die Haut, der Kopf, die Füße „im ersten (: unteren :) Gelenke der Fußwurzel über dem Schienbeine“, die Eingeweide, die Luftröhre, „[d]ie Blutgefäße die an der Wirbelsäule und dem vorderen Teile der Brust gelegen sind“, das Rückenmark, der Penis und die Hoden, „[d]er Schwanz zwischen dem vierten und fünften Wirbel“ sowie „[v]orgefundene krankhafte Veränderungen.“ Ebd., S. 15-17. 532 Ebd., S. 11-12.
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Männerhand breit parallel mit demselben durchgeschnitten, der zurückbleibende handbreite Streifen gehört dem Fleischer. […] Der Löser und der Laub werden in der Art vom Fette befreit, daß der Löser zuerst auf seinen großen Bogen aufgestellt wird, wodurch die Öffnung wo er in die Haube einmündet, oben auf kommt (: Kranzl :) und mit dem Messer am kleinen Bogen und vom Laub ohne sehr zu schinden abgenommen, hierauf wird der Löser auf seinen kleinen, des Fettes schon beraubten Bogen gestellt und vom großen Bogen des Lösers und Laubes das Fett abgelöst.“533
Es folgen noch Angaben zum Entfernen der Därme und Harnorgane, die detailliert das weitere Ausnehmen des Tieres beschreiben. Die vielen einzelnen Arbeitsschritte, die ein Fleischer beim Schlachten und Zerlegen eines Tieres beachten musste, um „regiemäßig“ zu schlachten, vollführte er intuitiv.534 Sie bestätigten das eigene Können. Fleischer echauffierten sich vor allem dann, wenn Lehrlingen, Gesellen oder jungen Kollegen handwerkliche Fehler unterliefen. Sie beklagten deren mangelnde Qualifikation und fehlendes Geschick.535 533 Ebd., S. 12-13. 534 Dies betraf auch auf das „richtige[] Abschlachten der Häute und Felle“. Wie beim Schlachten und Zerlegen des Tieres hatte der Fleischer darauf zu achten, die Schnitte mit dem Messer an der richtigen Stelle anzusetzen, um nicht den Wert des Felles zu beeinträchtigen: „Das Aufschlitzen der Haut muß ganz gerade vom Maul über die Mitte der Brustspitze und des Bauches direkt nach dem After erfolgen. Zur Vermeidung der langen Brust- und Bauchzipfel sind die Vorderbeine nie nach dem Stich zu und die Hinterbeine nie nach dem After oder den Geschlechtsteilen zu aufzuschneiden. Die vier Beinschlitze sind, von der Klauen ausgehend, von den Beugegenden ab so zu führen, daß sie den Mittelschnitt rechtwinkelig treffen, bei den Vorderbeinen von der Beuge ab nach Brustspitze und bei den Hinterbeinen in der Richtung der Haarscheide. Ein Aufschneiden der Maulöffnung bis zu den Auge [sic!] ist zu vermeiden und auch auf das Ausschlachten des Kopfes Sorgfalt zu verwenden. Der Schwanz ist nur der Länge, nie der Quere nach aufzuschneiden, und namentlich an der Schwanzwurzel eine sorgfältige Abschlachtung zu beobachten. Es ist zu empfehlen, den Schwanz bei Beginn des Emporwindens gleich ganz auszuschlachten und am Hinterviertel zu belassen. Beim Abschneiden des Schwanzes zum Brühen darf zum Ausheben der Schwanzwurzel nicht bis in den Rücken hineingeschnitten werde [sic!]. So erhält die Haut einen großen Inhalt, der nicht durch Löcher oder Kerbe beschädigt werden darf, auch Handlöcher (Hackenlöcher) sind zu vermeiden. Beim Ausschlachten der Vorder- und Hinterpartie sind Vorder- und Hinterbeine zusammenzubinden, nicht zusammenzuhaken.“ Anleitung zum richtigen Abschlachten der Häute und Felle. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 14.4.1911, Nr. 15, S. 5-6. 535 So klagte zum Beispiel die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im Februar 1900 über „[a]m letzten Rindermarkte […] zwei allerdings noch ziemlich junge Fleischhauermeister, welche – weil selbst dazu unfähig – sich von einem
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Am Schlachten und Zerteilen der Tiere zeigten sich die Grenzen der Technisierung. Die Widerständigkeit der „organische[n] Substanz“536 machte handwerkliches Wissen und Können für die Fleischproduktion unverzichtbar. Hinzu kam, dass Fleischer neue Werkzeuge wie die Bouterolle aus Sorge um eine berufliche Degradierung lange Zeit ablehnten. Technik und handwerkliche Arbeitsformen bedingten einander. Dort, wo bestimmte Arbeiten aufgrund fehlender Hilfsmittel nicht technisiert werden konnten, führten sie Fleischer zwangsläufig als manuelle handwerkliche Tätigkeiten aus.537 Zugleich bedurfte für viele Fleischer das auf Erfahrungswissen Viehtreiber jeder einen Ochsen für ihren Bedarf auswählen ließen. Wir gestehen offen, dass uns diese Thatsache mit Scham und Wehmuth zugleich erfüllte. Ein trauriges Zeichen der Zeit fürwahr, wenn der Nachwuchs in unserem Gewerbe solche Früchte zu zeitigen vermochte. Die gründliche Kenntnis der Schlachtthiere war stets der Stolz unseres Gewerbes […]. Auch die heutigen Meister sind in der großen Mehrheit tüchtig beim Einkaufe und ihrer Sache sicher, leider aber zeigen sich hie und da in der Neuzeit bei ganz jungen Meistern Mängel in der Ausbildung im Handwerke, die tief bedauerlich und symptomatisch für die Zukunft unseres Gewerbes sind. Das Armuthszeugnis, welches sich die eingangs erwähnten zwei jungen Fleischhauer am Markte gegeben, soll ein Fingerzeig für den jungen Nachwuchs sein, wie unerlässlich die gründliche Erlernung des Gewerbes in allen seinen Theilen ist“. Ein trauriges Zeichen der Zeit, S. 3. 536 Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 262. 537 Der Ökonom Friedrich Kardosi bemerkte: „So handelt es sich beim Schlachten darum, dem sich trotz der Fesselung bewegenden Tiere den Betäubungsschlag richtig beizubringen und das Blut an einer ganz bestimmten Stelle zu entziehen, die in der Regel oft nach längerer Übung sicher getroffen wird. Noch weniger kann man sich ein durch mechanische Vorrichtung bewerkstelligtes Abhäuten und Ausweiden der Tiere vorstellen, denn hier kommt es darauf an, einerseits die Haut nicht durch Schnitte in ihrem Wert zu beeinträchtigen, anderseits beim Ausschlachten so vorsichtig zu verfahren, daß Magen und Därme nicht verletzt werden und durch ihren Inhalt das damit in Berührung kommende Fleisch verunreinigen. Beim Ausputzen [Entsehnen, L.N.] des Fleisches wieder müssen die Sehnen erst aufgesucht und bloßgelegt werden, ehe man sie entfernen kann. Beim Auslösen von Knochen schließlich muß die Hand das Messer allen Biegungen und Wülsten des Knochens nachführen, wenn alles Fleisch wirklich sauber entfernt werden soll.“ Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 34. Und Kardosi fährt fort: „[O]bwohl wir eine große Zahl mannigfaltigster Maschinen im modernen Produktionsprozeß in diesem Gewerbe finden, müssen wir doch konstatieren, daß die Anwendung der Technik und damit zugleich die Zahl der möglichen Großbetriebe an der Eigenart dieses Gewerbes ihre Grenzen findet. Die Maschinen vermögen den Gehilfen eben nur zu unterstützen, ihm Nebenarbeiten zu erleichtern oder abnehmen. Die Hauptverrichtungen, das Schlachten und Abhäuten der Tiere, vor allem aber das kunstgerechte Ausweiden und Zerlegen, sowie später das sogenannte Ausputzen […] des Fleisches für Zwecke der Wursterei, können nur in gelernter Handarbeit
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und Routine beruhende Handwerk keiner weiteren Technisierung. Fleischer bevorzugten die althergebrachte Beilschlachtung gegenüber der Bouterolle gerade deshalb, weil diese das Arbeiten erleichterte und handwerkliches Geschick, Routine sowie Erfahrung entbehrlich machte. Das Einhalten einer genauen Abfolge von einzelnen Arbeitsschritten und einer festgesetzten Anzahl von Schlägen, die der Fleischer an verschiedenen Stellen am Tier platzierte und ausführte, sowie das zentimetergenaue Anbringen jedes einzelnen Handgriffes waren für das fleischhandwerkliche Arbeitsethos von zentraler Bedeutung, weil sie damit ihre praktischen Fertigkeiten, ihr einverleibtes Wissen und den gekonnten Einsatz von Kraft und Geschick unter Beweis stellten.538
6.2.2 Mechanismen wirtschaftlicher Modernisierung Die städtischen Behörden sahen in der Technisierung eine Möglichkeit, die Fleischversorgung zu modernisieren. Zentrale Mechanismen für eine wirtschaftliche Modernisierung stellten für Kommunalpolitiker, Beamte und die Entwickler neuer Techniken die Beschleunigung, Spezialisierung und Verwissenschaftlichung der Fleischproduktion dar. Als ausschlaggebend für die Fleischqualität bezeichneten sie die Distanz zwischen Produkt und Produzent. Je weniger der Fleischer mit Fleisch in Berührung kam und je zentraler technische Hilfsmittel in der Herstellung wurden, desto mehr entsprach Arbeit ihrem Streben nach Hygiene (siehe Kap. 5.3.2). Die Hersteller bewarben ihre Produkte mit der „Reinlichkeit“539 und Gesund heit fördernden Wirkung einer maschinellen Verarbeitung von Fleisch. „[G]e ausgeführt werden.“ Ebd. Die Grenzen einer Technisierung der Fleischproduktion zeigten sich auch im Falle der Schlachthöfe Chicagos, dem Inbegriff für maschinisierte und rationalisierte Arbeitsweisen, wie der Historiker Marcus Gräser bemerkt: „Von der Modernität der meat packing industry etwa durch den Einsatz der disassembly line kann nicht auf eine restlose Mechanisierung geschlossen werden: […] Die Zahl der Arbeiter, die keine Maschinen bedienten, blieb konstant hoch – und es ist nicht falsch, in der Innovation der disassembly line gerade eine Reaktion auf die Unmöglichkeit einer weitgehenden Mechanisierung zu sehen – insofern als die disassembly line die Arbeitsteilung favorisierte und den optimalen Einsatz der Handarbeit gewährleisten konnte.“ Gräser, Chicagos „Eingeweide“, S. 113. 538 Die Aneignung eines handwerklichen Fachwissens und der routinierte Einsatz dieses inkorporierten Know-how waren für das berufliche Selbstverständnis von Fleischern essentiell und stellten zugleich für jeden Handwerker Anforderungen an sich selbst dar. Siehe Kap. 6.3.3. 539 Abermals eine wichtige Maschine für Fleischselcher. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 1.6.1875, Nr. 16, S. 61.
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sünder für menschliche Nahrung“540 sei solches Fleisch, das der Fleischer mithilfe von Maschinen herstelle und das von Tieren stamme, die er mit neuen Schlachttechniken wie der Bouterolle schlachte. Sie argumentierten, dass Technik die manuellen Fertigkeiten des Fleischers in der Fleischverarbeitung und Wurstherstellung entbehrlich mache. Dieser bediente die Technik, die das Fleisch ohne sein weiteres Zutun verarbeitete: Maschinen zerkleinerten Fleischstücke oder verarbeiteten sie in Wurstware, Verwertungsapparate beseitigten Fleischabfälle und ganze Tierkadaver. Mithilfe von physikalischen und chemischen Prozessen war es möglich geworden, Erreger und Keime abzutöten und selbst aus kranken und für den menschlichen Verzehr ungeeigneten Tieren und Fleischabfällen noch Erzeugnisse zu gewinnen, die als Verbrauchsgüter verkauft werden konnten. Der Otte‘sche Fleisch-Verwertungs-Apparat (siehe Abb. 17) zur Beseitigung von Tierkadavern garantierte zum Beispiel „eine völlig sichere Vernichtung der in den Cadavern enthaltenen Ansteckungs-Keime“541, ein „geruchloses Arbeiten“542 und „dass keine übelriechenden und inficierten Abwässer die Anlage verlassen“543, berichtete die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im Juli 1898.544 Technik ermöglichte nicht nur die Produktion gesundheitlich unbedenklichen Fleisches und die Verwertung von Schlachtabfällen. Sie leistete zudem einer wirtschaftlichen Effizienz Vorschub.545 Indem technische Arbeitsmittel die unerreichbaren und blinden Flecken des Hygieneprimats beseitigten, reduzierten sie die Gefahren für die Produktion, sicherten dadurch einen reibungslosen Ablauf der Arbeit und erhöhten deren wirtschaftlichen Ertrag. Hinzu kam, dass die Einführung neuer Maschinen das Arbeiten sicherer machte. Maschinen wurden derart konstruiert, dass sie das Risiko von Schnittverletzungen und Quetschungen reduzierten, indem zum Beispiel bei Fleischschneidemaschinen die rotierenden Messer durch eine Schutzvorrichtung abgedeckt waren.546
540 Correspondenzen (Bouterolle), s. 1. 541 Der neue Otte‘sche Fleisch-Verwertungs-Apparat. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 29.7.1898, Nr. 60, S. 5. 542 Ebd. 543 Ebd. 544 Die Maschine verarbeitete Tiere, Knochen und Fleischabfälle in pulverisiertes Tiermehl, Fett und Leim. In das Innere eines Zylinders wurde Dampf eingeleitet, und dann begann der Kochprozess, der drei bis vier Stunden dauerte. Dabei wurde den Fleisch- und Knochenmassen Fett entzogen und Keime abgetötet. Das Fett tropfte durch die Löcher der Siebtrommel und sammelte sich im unteren Teil des Zylinders. Vgl. ebd. 545 Vgl. ebd; Abermals eine wichtige Maschine für Fleischselcher, S. 61. 546 Vgl. Fleisch-Würfel-Schneidemaschine, S. 133 f.
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Abb. 17 : Otte‘scher Fleisch-Verwertungs-Apparat Quelle: Der neue Otte‘sche Fleisch-Verwertungs-Apparat. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 29.7.1898, Nr. 69, S. 5, Fig. 1 und 2.
Während Technik einerseits altbekannte Gefahren beseitigte, schufen neue Maschinen und Werkzeuge andererseits neue Risiken für die Arbeitssicherheit. In Fleischereien und Selchereien häuften sich Unfälle mit dampf- und gasbetriebenen Maschinen. Das Schwungrad eines Gasmotors zertrümmerte zum Beispiel dem 23-jährigen Wiener Selchergehilfen Franz Poboschek die Schädeldecke und verletzte ihn dadurch tödlich, und der 21-jährige Selchergehilfe Karl Lederer verlor einen Zeigefinger in einer Wurstmaschine.547 Ein zentrales Merkmal der wirtschaftlichen Modernisierung stellte die Beschleunigung der Arbeit dar. Mithilfe von Maschinen und Motoren sparte ein Fleischer Zeit und Kraft. Verstärkt seit den 1870er Jahren lässt sich eine Mechanisierung und Motorisierung im Wiener Fleischergewerbe beobachten. Von Hand betriebene Maschinen für die Fleischzerkleinerung und Wurstherstellung beschleunigten diese Arbeiten (siehe Abb. 18). Eine „Fleischzerkleinerungs- oder Fleischschneide-Maschine“548 wurde zum Beispiel „in leichter 547 Vgl. Tödlicher Unfall. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 22.1.1904, Nr. 7, S. 2; Ein Unglücksfall in einer Wurstfabrik. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 2.2.1904, Nr. 10, S. 3. 548 Eine wichtige Maschine für Fleisch-Selcher, S. 57.
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Weise von zwei Mann bedient und liefert in 42 Minuten nicht weniger als 70 Pfund feines Fleisch zu Cervelatewurst“549, berichtete die Allgemeine Fleischer-Zeitung im Mai 1875. Auch die „Fleisch-Würfel-Schneidemaschine“550 lobte dieselbe Zeitung für deren Zeit- und Kraftersparnis, wodurch „ein Arbeiter ohne besondere Anstrengung in einer Stunde 250 bis 300 Kilo Fleisch in beliebig kleine oder größere Würfel zerschneiden kann.“551 Die „Ersparniß von Zeit und Mühe“552 machte für deren Befürworter den Einsatz von Maschinen für den einzelnen Fleischer unentbehrlich. Inserate, die Fleischer in Zeitungen aufgaben und darin unterschiedliche Maschinen und Motoren zum Verkauf anboten, geben einen Einblick in die technische Ausstattung eines Wiener Fleischereibetriebs in der zweiten Hälfte
Abb. 18 : Maschinen zur Fleischverarbeitung und Wurstherstellung Oben links: „Wurstfüll-Maschine“ (Quelle: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 1.6.1875, Nr. 16, S. 1); Oben rechts: „Fleisch-Wurst-Schneidemaschine“ (Quelle: Allgemeine FleischerZeitung, II. Jg., 26.10.1875, Nr. 34, S. 1); Unten: „Fleischzerkleinerungs- oder Fleischschneidemaschine“ (Quelle: All gemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 23.5.1875, Nr. 15, S. 1). 549 Ebd. 550 Fleisch-Würfel-Schneidemaschine, S. 133 (wie Anm. 512). 551 Ebd. 552 Abermals eine wichtige Maschine für Fleischselcher, S. 61.
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des 19. Jahrhunderts. Otto Schneider, Fleischer aus dem XII. Wiener Gemeindebezirk, verkaufte zum Beispiel „[e]ine Brätmaschine fast neu, […] einige Wochen in Betrieb gewesen“553. Zwei Kollegen aus dem III. und XIV. Bezirk inserierten jeweils einen „4-pferdekräftige[n] Gasmotor“, und wiederum ein anderer bot aufgrund seiner Geschäftsauflösung „Rundschneider, Quetsch-, Anmach- und Füllmaschine, Siebenschneider mit Stock“554 zum Verkauf an.
Abb. 19 : Eiskammer / Eishaus Quelle: Eiskammern und Eishäuser [Inserat des Ingenieurs Franz Bollinger]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 8.7.1898, Nr. 54, S. 3.
Die Einführung neuer Maschinen steigerte den Bedarf nach neuen Techniken. Die Produktivitätssteigerung erforderte immer ausgefeiltere Kühltechniken, um Fleisch haltbarer zu machen. Eismaschinen und Kühlanlagen, die auf physikalischen und chemischen Grundlagen Kälte erzeugten sowie ganze, in die private Fleischerei montierbare Eiskammern ermöglichten es, Fleisch länger 553 Eine Brätmaschine [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 1.1.1897, Nr. 1, S. 3. 554 4-pferdekräftiger Gasmotor [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 13.8.1897, Nr. 65, S. 3; Ein 4pferdekräftiger Gasmotor [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 16.4.1897, Nr. 31, S. 3; Wegen Geschäftsaufgabe [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, VI. Jg., 22.11.1898, Nr. 93, S. 3.
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aufzubewahren und frisch zu halten (siehe Abb. 19).555 Diese wiederum bedurften neuer Antriebstechniken, die in Gestalt von Gas-, Benzin- und seit den 1890er Jahren verstärkt auch Elektromotoren für den privaten Betrieb auf den Markt kamen.556 Es entstanden neue Gewerbezweige, die auf den Bau und Verkauf dieser unterschiedlichen Techniken spezialisiert waren. Firmen verkauften Eis- und Kühlmaschinen an private Fleischereien,557 Maschinenfabriken stellten „vollständige maschinelle Einrichtungen für öffentliche Schlachthäuser“ her und belieferten diese mit „Sicherheitswinden“, „Fleisch-Transport-Vorrichtungen“ und „Schweine-Schlachtschragen“.558 Andere Werkstätten wiederum spezialisierten sich auf die Reparatur und Instandsetzung von Maschinen und Motoren.559 Neben der Fleischverarbeitung und Tierschlachtung beschleunigten neue Techniken das Arbeiten auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx in genere. Um die Jahrhundertwende führte zum Beispiel das Wiener Marktamt auf dem Zentralviehmarkt Schubkarren für die Düngerabfuhr ein, die auf Schienen fuhren und die Fleischer sowie Marktbedienstete ohne größeren Kraftaufwand von den Stallungen zum Misthof schieben konnten. Die Behörde bewarb den ergonomischen Vorteil dieser Wagen in einer Broschüre, indem es die alten, körperlich belastenderen Methoden der Düngerabfuhr den neuen, rückenschonenderen entgegenstellte.560 Der Zusammenhang von körperlicher Entlastung und Beschleunigung der Arbeit zeigt sich auch in der technischen Ausstattung der Schlachthallen und anderen Arbeitsräume auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx. Mit einem Kran hob zum Beispiel ein Fleischer ein gestochenes Schwein in den Brühkessel und von dort auf den Arbeitstisch, wo es ein anderer ent555 Vgl. zum Beispiel: Eiskammern und Eishäuser [Inserat des Ingenieurs Franz Bollinger]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VIII. Jg., 11.4.1900, Nr. 15, S. 6. 556 Vgl. Elektricität. Kraftanlagen mit Elektromotoren für Selcher und Fleischhauer [Inserat des Ingenieurs Paul Schmidt]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleisch selcher-Zeitung, VII. Jg., 8.9.1899, Nr. 71, S. 7; Original Adam‘s Petrolin-Motor [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VIII. Jg., 17.1.1900, Nr. 3, S. 8; Original-Otto-Motor [Inserat der Gasmotorenfabrik Langen & Wolf ]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VIII. Jg., 17.1.1900, Nr. 3, S. 8. 557 Vgl. Die Eis- und Maschinenkühlung für den Kleinbetrieb. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 17.9.1897, Nr. 75, S. 1-2, hier S. 1. 558 Maschinenfabrik Kaiser & Brenn, Cassel [Werbung]. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 16.4.1897, Nr. 31, S. 3. 559 Vgl. Gasmotoren-Reparatur-Werkstätte Franz Neugam & Babler, Wien, X. Muhrengasse 11 [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 1.1.1897, Nr. 1, S. 4. 560 Vgl. Fiebiger, Das neue Schweine-Schlachthaus, Anhang.
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borstete. In der Rinderhalle und im Schweineschlachthaus zogen Fleischer die Tiere mit einem Kettenzug zu den Laufkatzen an den Decken der Gebäude und beförderten sie auf diese Weise durch die verschiedenen Arbeitsräume (siehe Abb. 20).
Abb. 20 : Schweineschlachthaus St. Marx, ca. 1910 Quellen: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Inventarnummer 99.467 - D (oben) und 199.469 - D (unten).
Die Technisierung beschleunigte das Arbeiten und machte mitunter die handwerklichen Fertigkeiten von Fleischern entbehrlich. Zugleich verstärkte sie die Tendenz, dass sich Fleischer auf den Gebieten der Fleischzerkleinerung und Wurstherstellung spezialisierten. Sie widmeten sich zum Beispiel verstärkt der Herstellung von Naturdärmen sowie künstlichen Wurstdärmen, Gewürzen
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oder Konservesalzen.561 Fleischer fertigten aufwendige Dekorationen für Schaufensterauslagen von Fleischerläden aus Fleischstücken und Würsten an oder spezialisierten sich auf die Produktion bestimmter Fleischwaren.562 Die handwerklichen Errungenschaften in der Fleischverarbeitung und Wurstherstellung wurden für zunehmend mehr Fleischer zum Nachweis ihres Könnens, das sie auf Kochausstellungen den Kollegen sowie auch einem fachfremden Publikum stolz zur Schau stellten. Am 5. Januar 1898 fand zum Beispiel anlässlich des 50-jährigen Thronjubiläums Franz Josephs I. die „Zweite Internationale Kochkunst-Ausstellung in Wien“ statt, auf der 400 Ausstellerinnen und Aussteller „die Erzeugnisse der höheren Kochkunst563, und zwar Speisen und Tafel-Schaustücke in fertigem und halbfertigem Zustande“ einem interessierten Publikum präsentierten. Einen Höhepunkt bildeten die „geschmackvoll arrangierte[n] Pyramiden aus Würsten“564 des Fleischselchermeisters Josef Ziegler und „die prächtig aus rohen Schinken, Fleisch und Schweineschmalz modellierte Dachsteingruppe, deren Abhänge ein reizender Nadelwald en miniature schmückt.“565 Fleischer nutzten verschiedene Ersatzstoffe, um Aussehen und Form ihrer Fleischwaren zu verändern. Mit Farbstoffen wie dem sogenannten Wurstlack, das ein „[s]chönes natürliches Aussehen der Wurst“566 verlieh, wie der Herstel561 Vgl. Künstliche Wurstdärme. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 15.3.1875, Nr. 7, S. 25; Saitlinge, Därme und Gewürze, Jakob Flegmann [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 16.12.1898, Nr. 100, S. 4; Seybold‘s Kaiser-Gewürze [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 28.12.1898, Nr. 103, S. 4; Salpeter und Salitrolit. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 14.5.1897, Nr. 39, S. 4; Seybold‘s Conserve-Salz [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischer-Zeitung, VI. Jg., 29.7.1898, Nr. 60, S. 4. 562 Vgl. Neuestes Auslagestück für Selcher u. Wirthe! Schweinskopf [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 19.2.1897, Nr. 15, S. 3; Prager Schinken [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 3.8.1897, Nr. 62, S. 3; Schnellpökelung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 2.8.1898, Nr. 61, S. 2. 563 Zweite Internationale Kochkunst-Ausstellung in Wien. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 11.1.1898, Nr. 3, S. 1-2, hier S. 1. 564 Ebd. 565 Ebd. 566 Sanguis! Trockene konservierende Wurströthe! [Werbung] In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 26.10.1897, Nr. 86, S. 3. Vgl. Blutmischvorrichtung für Schächtereien. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 15.3.1904, Nr. 22, S. 2-3. Ein anderes Beispiel für ein Produkt, Fleisch haltbarer und ansehnlicher zu machen, war das sogenannte „Räucherpulver“. Es „giebt den Fleischwaren ein schönes glänzendes Aussehen, erhöht den Wohlgeschmack und schützt die Ware gegen Fliegen und Maden.“ Räucherpulver [Werbung]. In:
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ler versprach, färbten Fleischer ihre Waren, damit diese länger eine rote Farbe behielten. Sie versuchten dem Konkurrenzdruck im Gewerbe standzuhalten und den Konsumbedürfnissen der Wienerinnen und Wiener gerecht zu werden, die neue Herstellungsweisen und insbesondere chemische Verfahren ermöglicht und verstärkt hatten. Der Einsatz neuer Techniken deckte Bedarfe und schuf neue Bedürfnisse, die weitere technische Lösungen erforderten.567 Zum Beispiel waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fleischextrakte bei den Konsumentinnen und Konsumenten sehr beliebt. Diese eingedickten und ihrer Flüssigkeit entzogenen Konzentrate aus Rindfleisch, von denen das nach dem Chemiker Justus von Liebig benannte zu den bekanntesten zählt, sind ein Beispiel für den chemisch und technisch veränderten und veränderbaren organischen Rohstoff Fleisch. Zwar verdrängten im Untersuchungszeitraum solche industriell hergestellten und chemisch modifizierten Produkte den Bedarf nach frischem Fleisch bei den Wienerinnen und Wienern keineswegs. Sie verweisen jedoch auf die Anfänge einer sich herausbildenden Lebensmittelindustrie, die auf Grundlage von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und unter Einsatz von technischen Mitteln Fleisch zunehmend manipuliert.568 Die Bedeutung, die chemische Verfahren für die Fleischverarbeitung in der zweiten Jahrhunderthälfte einnahmen, betraf auch die Verwertung von lange Zeit nicht konsumierbaren tierischen Stoffen. Dazu zählten zum Beispiel Verfahren, „wonach es möglich ist, Abfälle von rohem Fett und Wurstschmalz zu einem dem Schweineschmalz gleichkommenden Produkt zu verarbeiten.“569 Ein weiteres Gebiet, auf dem chemische Mittel verstärkt zum Einsatz kamen, waren Frischhalteverfahren für Lebensmittel. Chemiker, Ärzte, erfinderische Fleischer und einfallsreiche Gastwirte suchten nach Stoffen und Methoden, die es ohne die teuren und raumeinnehmenden Eiskammern (siehe Abb. 19) erlaubten, Fleisch länger frisch zu halten. Sie entwickelten Verfahren, die eine Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.2.1898, Nr. 13, S. 3. 567 Vgl. Radkau, Joachim: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, S. 53. 568 Heute stellen molekularbiologische und genetische Eingriffe in den tierischen Körper die Spitze technischer Möglichkeiten der Einflussnahme dar. Vor allem in der Tierzucht verschränken sich unterschiedliche Techniken, die Morphologie und Anatomie von Tieren radikal zu verändern. Vgl. Holloway, Lewis/Morris, Carol: Exploring Biopower in the Regulation of Farm Animal Bodies: Genetic Policy Interventions in UK Livestock. In: Genomics, Society and Policy 3, 2007, 2, S. 8298; Wolf, Eckhard: Nutzung von Tieren in Landwirtschaft und Forschung. Ziele, Methoden und ethische Rahmenbedingungen. In: ZDF-Nachtstudio, Mensch und Tier a.a.O., S. 259-284. 569 Ein Fleischhauer als Erfinder. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 6.5.1910, Nr. 18, S. 5.
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Kühlung von Fleisch mit Formalin, Boraten, Salycilsäuren und anderen Chemikalien ermöglichten.570 Die Technisierung, wie ich sie hier beschrieben habe, betraf vor allem die Fleischverarbeitung. Fleischer registrierten, wie sich ihre Arbeit veränderte, ohne wie im Fall der Tierschlachtung den Verlust von Wissen, Kompetenzen und Erfahrung zu beklagen. Vielmehr sei die Expansion von Technik „ein Zeichen von dem Fortschritte unserer Zeit, daß das Maschinenwesen immer tiefer eingreift und ein immer größeres Terrain gewinnt in der gewerblichen Thätigkeit“571, urteilte die Allgemeine Fleischer-Zeitung im Juni 1875. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet im öffentlichen Schlachthaus, dem Epizentrum der rationalisierten Arbeit und Inbegriff für die kommunalpolitische Modernisierung großstädtischer Versorgungsherausforderungen, das Arbeiten zum größten Teil handwerklich blieb. Während hier die „Widerspenstigkeit des organischen Materials“572 ebenso wie berufsethische Motive von Fleischern der Technisierung Grenzen setzten, war im privaten handwerklichen Betrieb eine Tendenz zur technisierten Fleischverarbeitung auszumachen. Vor allem Wiener Fleischselcher machten wiederholt darauf
570 Die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung bewarb zum Beispiel ein von dem Berliner Arzt Stroese entwickeltes Verfahren, Fleisch mit Formalin zu kühlen. Stroeses Konstruktion war „ein hölzerner Schrank, in dem das Fleisch aufgehängt werden kann. Er besitzt verschiedene Ventilationsöffnungen und ein Abzugsrohr, dass [sic!] durch ein Wandloch oder Fenster ins Freie geführt werden kann. […] Die Conservierung in dem Schrank wird durch Formalin besorgt.“ Fleischconservierung durch Formalin. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 7.10.1898, Nr. 80, S. 2. Ein anderes Beispiel für den Erfindungsreichtum auf dem Gebiet der Fleischkonservierung ist ein vom Wiener Hofküchenchef entwickeltes Frischhalteverfahren mit dem nach ihm benannten „Mayolin“, für das er unter anderem auf Vorträgen vor Gastwirten warb: „Seine Methode besteht in dem Principe, dem Fleische die Luft auf kaltem Wege fernzuhalten und zwar dadurch, daß man es mit einer Frischerhaltungsflüssigkeit, die der Erfinder ‚Mayolin‘ nannte, bestreicht. Diese Flüssigkeit ist derart zusammengesetzt, daß nichts davon in das Fleisch einzudringen vermag, indem der ätherische Theil derselben sich an der Luft verflüchtigt, während der eigentliche, das Fleisch erhaltende Theil eine dünne, homogene Schicht bildet, welche dasselbe von der Einwirkung der äußeren Luft schützt. Diese natürliche Hülle kann dann vor dem Gebrauche leicht von der Oberfläche des Fleisches durch Waschen entfernt werden.“ Ein neues Frischerhaltungsverfahren für Lebensmittel. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2. 571 Abermals eine wichtige Maschine für Fleischselcher, S. 61. 572 Brandstetter, Thomas: Maschinenträume. In: Diagonale, materialien 17, 2006, S. 1-2, hier S. 1.
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aufmerksam, wie unentbehrlich der Einsatz von Maschinen und Motoren für die Fleischverarbeitung und Wurstherstellung sei.573 Die Spezialisierung in der Fleischwarenverarbeitung umfasste auch einen Form- und Funktionswandel der Schneid- und Sägewerkzeuge, mit denen Fleischer arbeiteten. Sie benutzten immer seltener ein und dasselbe Werkzeug für unterschiedliche Arbeiten, sondern verwendeten Werkzeuge, die jeweils für eine bestimmte Tätigkeit konstruiert worden waren.574 Ein Beispiel hierfür ist eine Anfang 1911 eingeführte Säge zum Zersägen von Tierknochen (siehe Abb. 21). Im Unterschied zu der für diese Arbeit bis dahin gebräuchlichen Bogen573 Motoren hätten den Vorteil, „die Gehilfen von der zu schweren Arbeit des continuierlichen Kurbeldrehens bei den Quetsch- und Schneidemaschinen zu entlasten“. Zum Capitel Sonntagsruhe. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 30.7.1897, Nr. 61, S. 1. Sie dienten „nicht […] dem Zwecke, um eine Mehrleistung an Arbeit zu erzielen oder aber menschliche Arbeitskräfte zu ersparen“ (ebd.), bemerkte die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im Juli 1897. Hinzu kam, dass viele Gehilfen und junge Fleischer die körperliche Anstrengung, die eine manuelle Verarbeitung von Fleisch und Herstellung von Würsten mit sich brachten, von vornherein mieden. Die Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung bemerkte zum Beispiel: „Es ist für einen Fleischselcher, welcher ohne Motor arbeitet, dermalen überhaupt sehr schwierig, Gehilfen für den Handbetrieb zu den in dessen Geschäft thätigen Quetsch-, Schneide-, Misch- oder Gewürzmaschinen zu bekommen, denn die erste Frage bei Anweisung eines Platzes ist seitens des Gehilfen jene, ob in dem betreffenden Hause ein Motor in Thätigkeit ist. Wird diese Frage mit Nein beantwortet, so nimmt der Gehilfe den Platz nicht an, weil er nicht den Handbetrieb der genannten Maschinen, eben der zu großen Anstrengung wegen, übernehmen will.“ Ebd. Deren Weigerung, in Betrieben ohne entsprechende Maschinen zu arbeiten, verweist damit auf eine Gewöhnung und Habitualisierung an diese neuen Techniken, die den Arbeitenden körperlich entlasteten. 574 Marx verweist auf den Zusammenhang zwischen technischem Formwandel und der Produktivität einer räumlich konzentrierten und arbeitsteiligen Produktion. In Bezug auf die Manufaktur schreibt er: „Die Produktivität der Arbeit hängt nicht nur von der Virtuosität des Arbeiters ab, sondern auch von der Vollkommenheit seiner Werkzeuge. Werkzeuge derselben Art, wie Schneide-, Bohr-, Stoß-, Schlaginstrumente usw., werden in verschiednen Arbeitsprozessen gebraucht, und in demselben Arbeitsprozeß dient dasselbe Instrument zu verschiednen Verrichtungen. Sobald jedoch die verschiednen Operationen eines Arbeitsprozesses voneinander losgelöst sind und jede Teiloperation in der Hand des Teilarbeiters eine möglichst entsprechende und daher ausschließliche Form gewinnt, werden Veränderungen der vorher zu verschiednen Zwecken dienenden Werkzeuge notwendig. Die Richtung ihres Formwechsels ergibt sich aus der Erfahrung der besondren Schwierigkeiten, welche die unveränderte Form in den Weg legt. Die Differenzierung der Arbeitsinstrumente, wodurch Instrumente derselben Art besondre feste Formen für jede besondre Nutzanwendung erhalten, und ihre Spezialisierung […] charakterisieren die Manufaktur“. Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 303.
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säge – benannt nach ihrem bogenförmigen Gestell – konnte ein Fleischer die neue Knochensäge an einem Arbeitstisch festschrauben, was die Gefahr von Schnittverletzungen erheblich verringerte. Er war nun nicht mehr gezwungen, den Knochen mit einer Hand festzuhalten. Weil die Säge an einem Tisch fixiert war, konnte er den Knochen mit beiden Händen haltend an dieser zerteilen.575
Abb. 21 : Knochensäge Quelle: Eine neue Knochensäge. In: Allgemeine österreichische Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 3.2.1911, Nr. 5, S. 4.
Ein weiteres Beispiel für die Spezialisierung von Werkzeugen sind Messer. Es gab Messer, die ein Fleischer für das Zerschneiden von größeren Fleischstücken benutzte, mit denen er Tierhäute ablöste und solche, die nur für einen einzigen Schnitt bestimmt waren, wie der sogenannte „Patent-Auslöser“, den Fleischer ausschließlich „zum Säubern und bequemen Auslösen des Röhrenknochens aus Schinken bei Vermeidung des so schädlichen und nachtheiligen Durchschneidens des Fleisches zwischen Kugel und Oberschale“576 ver wendeten. Die Spezialisierung von Werkzeugen, mit denen Fleischer arbeiteten, führte dazu, dass deren handwerkliche Erfahrung in der technisierten Fleischpro575 Diese neue Knochensäge, urteilte die Allgemeine österreichische Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, „ermöglichte ein schnelleres und leichteres Arbeiten, weil das Sägeblatt mit einer starken Neigung nach vorn geführt ist und dadurch den Nutzeffekt erhöht und endlich sind Fingerverletzungen so gut wie ausgeschlossen.“ Eine neue Knochensäge. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 3.2.1911, Nr. 5, S. 4. 576 Patent-Auslöser [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 24.5.1898, Nr. 41, S. 3.
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duktion an Bedeutung gewann. „Die Wiederentdeckung des Eigengewichtes der Erfahrung“577, so der Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau, resultierte nicht zuletzt aus einer Spannung zwischen dem Bestreben, Werkzeuge und Maschinen zu verbessern und zu vervollkommnen einerseits und der handwerklichen Kompetenz der Fleischer andererseits. Überall dort, wo Technik an ihre Grenzen stieß, waren das Erfahrungswissen und die Praxisroutine des Handwerkers gefragt. Die Spezialisierung in der Produktion von Maschinen, Werkzeugen und Arbeitsgeräten ging mit einer zunehmenden „Verwissenschaftlichung der Technik“578 einher. Chemische und physikalische Erkenntnisse wurden für die Weiterentwicklung von Kühltechniken nutzbar gemacht. Architekten und Bauingenieure spezialisierten sich auf die Gestaltung von Schlachthäusern und Viehmärkten. Ihre Bestrebungen nach einer wirtschaftlich effizienten Raumund Arbeitsordnung (siehe Kap. 6.1.1) stellten einen Vorläufer betriebswirtschaftlicher Analysen dar. Veterinärmedizin und Bakteriologie verringerten gesundheitliche Risiken. Die Verwertung von Schlachtabfällen bedurfte immer neuerer und ausgefeilterer Techniken. Mit deren Hilfe war es möglich geworden, organische Stoffe zu verarbeiten, für die zuvor keine Verwendung bestanden hatte. Das Wiener Marktamt erhob zum Beispiel seit den späten 1880er Jahren Anspruch auf die sogenannten tierischen Nebenprodukte und Schlachtabfälle, über die zuvor Fleischer ausnahmslos verfügt hatten. Die Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über Fäzes führte zu Konflikten zwischen städtischen Behörden, die mit Verweis auf gesundheitliche Erfordernisse und einen rationell arbeitenden Schlachthof die Ausscheidungen der Tiere zur Düngerherstellung beanspruchten, und Fleischern, die darin einen illegitimen Eingriff in ein Gewohnheitsrecht sahen. Zwar war es Wiener Fleischern gestattet, in den älteren Schlachträumlichkeiten in St. Marx und in Gumpendorf über die Ausscheidungen der Tiere zu verfügen, jedoch nur solange die jeweilige Schlachthausdirektion diese nicht für sich einforderte. Die eigenwillige Mitnahme von Abfällen oder Unschlitt, das heißt dem tierischen Körperfett, ahndete die Schlachthausdirektion mit Entlassungen, oder sie verhängte lebenslange Hausverbote.579 Diese Beobachtung, dass Gewerbetreibende die Expansion kommunalpolitischer Verfügungsgewalt auf tradierte und rechtlich unbestimmte Bereiche des Arbeitsalltags ablehnten, deckt sich mit den Er577 Radkau, Technik in Deutschland, S. 44. Vgl. ebd., S. 43-45. 578 Ebd., S. 40. 579 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien, März 1889, § 16, S. 9]; Zur Nachahmung empfohlen! In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 15.10.1897, Nr. 83, S. 2.
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gebnissen Peter Reinhart Gleichmanns, der am Beispiel des „Wandel[s] in der Verfügung über die Exkremente“580 im Berlin des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, wie die kommunale Verwaltung im Zuge der Modernisierung städtischer Entsorgungssysteme die Fäkalien ihrer Bürgerinnen und Bürger beanspruchte und dadurch Konflikte mit der Bevölkerung provozierte. Im Bereich des Maschinenbaus und Bauingenieurwesens, der Physik und Chemie entstanden neue Wissensfelder, deren Erkenntnisse sich neue Experten für die Fleischproduktion und Tierverwertung nutzbar machten. Im Unterschied zum handwerklichen Know-how, das Fleischer durch Beobachtung und Nachahmung sich als körperimmanentes Wissen aneigneten und in praxi weitergaben, ohne die Arbeitsformen zu verändern, generierten Maschinen- und Bauingenieure fortwährend ein neues Wissen durch Experimente. Für sie standen gegenwärtige Probleme und deren zukünftige Lösungen durch technische Erfindungen im Vordergrund. Die Entwicklung neuer Techniken stellte einen langwierigen Aushandlungsprozess zwischen der Anfälligkeit neuer unausgereifter Maschinen und deren Ausbesserung durch ein in der Praxis akkumuliertes Wissen dar. Techniken mussten kontinuierlich erprobt und ausgebessert werden. Noch im September 1898 erklärte zum Beispiel die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung: „Die Betäubung mittels Elektricität sei bis heute noch unausführbar“581. Im April 1904 berichtete dieselbe Zeitung hingegen über „[d]as Betäuben der Schlachttiere mittels blitzartig wirkender Betäubungs-Apparate“582. Auch Fleischzerkleinerungs- und -würfelmaschinen oder Schneidewerkzeuge wie Knochensägen waren das Resultat einer Trial-and-Error-Methode, bei der das durch Arbeiten erworbene Wissen angemessene Lösungen hervorbrachte, Form und Aussehen dieser Werkzeuge zu verändern, um Fehlerquellen zu beseitigen, die Sicherheit der Arbeitenden zu erhöhen und um Zeit und Kraft beim Arbeiten zu sparen.583 580 Gleichmann, Peter: Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen. In: Ders./ Goudsblom, Johan/Korte, Hermann (Hg.): Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie, Bd. 1. Frankfurt/M. 1979, S. 254-278, hier S. 261. 581 Welches sind die empfehlenswertesten Schlachtmethoden, S. 5. 582 Das Betäuben der Schlachttiere mittels blitzartig wirkender Betäubungs-Apparate. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 15.4.1904, Nr. 31, S. 2-3. 583 Die Allgemeine Fleischer-Zeitung beschrieb das Finden und Bewältigen von technischen Herausforderungen am Beispiel einer Fleischschneidemaschine: „Wenn man gewöhnlich bei neuen Erfindungen, ungeachtet der Zweckmäßigkeit in der Hauptsache, doch immer noch Mängel zu bekritteln und zu beklagen hat, und erst im Laufe der Zeit nur allmählich die Störungen und Unzulänglichkeiten beseitigt werden, so dieses überhaupt erzielt werden kann – wird hier dieser FleischschneideMaschine von Fachmännern, die mannigfache Proben mit derselben angestellt, das Zeugniß gegeben, daß dieselbe in ihrer Construction allen Ansprüchen vollkom-
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Das Ziel von Ingenieuren, urteilte die Allgemeine Fleischer-Zeitung im Oktober 1875, sei es, eine Maschine „[n]ach vielen Abänderungen […] so weit zu bringen, daß sie die früher gelieferten Maschinen bei Weitem in ihren Leistungen übertrifft“584. Und die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung bemerkte in diesem Zusammenhang, dass auf einem gänzlich neuen Gebiete nicht gleich etwas Vollkomenes [sic!] geleistet werden [kann]. Es musste erst eine Zeit lang probirt werden; man mußte Erfahrungen der verschiedensten Art sammeln, bevor man hoffen durfte, ein allgemein befriedigendes Resultat zu erzielen.585
Trotz der Genese eines naturwissenschaftlichen und bauingenieurlichen Expertenwissens blieb das handwerkliche Know-how von Fleischern für die Fleischproduktion unentbehrlich. Denn das Schlachten, Enthäuten und Zerteilen von Tieren erforderten ebenso wie die Fleischverarbeitung und Wurstherstellung Routine und Erfahrung. Fleischer verfügten über besondere Kenntnisse, wie sie Fleischstücke zubereiten oder Würste herstellen mussten, um die geschmacklichen Präferenzen ihrer Kundinnen und Kunden zu bedienen und sich gegenüber Konkurrentinnen und Konkurrenten mit ihren Produkten durchzusetzen. Dieses Wissen hüteten sie nicht selten als ihr Geschäftsgeheimnis.586 Für sie hatte nicht die Technik als solche, sondern die Arbeit als handwerkliche Tätigkeit einen Wert. Während zum Beispiel Ingenieure danach strebten, sich den neuesten Stand der Technik anzueignen und diesen für die Fleischversorgung nutzbar zu machen, tradierten Fleischer ein handwerkliches Wissen, das nicht von technischen Hilfsmitteln abhängig war, sondern auf einer körpergebundenen Erfahrung beruhte.587 Nur ein geübter und routinierter Fleischer vermochte Tiere fachgerecht zu schlachten und in Fleischwaren zu verarbeiten. Dennoch befürchteten Fleischer immer wieder, dass vor allem die Einführung neuer Schlachttechniken handwerkliche Arbeitsformen und ihr spezifisches Wissen entwerten könnte. Auch ihre berufsethischen Vorstellungen und Ideale sahen sie von der Technisierung bedroht. Nachfolgend frage ich daher, wie sich die berufsethischen Vorstellungen von Fleischern in einer zunehmend technisierten Arbeitswelt verän-
584 585 586 587
men entspricht und geradezu nichts daran auszusetzen ist.“ Eine wichtige Maschine für Fleisch-Selcher, S. 57. Fleisch-Würfel-Schneidemaschine, S. 133. Der neue Otte‘sche Fleisch-Verwertungs-Apparat, S. 5. Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 35. Vgl. zum Beispiel: WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [M. a. Z. 2060 ex 1903, 18.7.1903].
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derten und inwiefern deren Wandel mit der Einführung und Etablierung von neuen Werkzeugen und Maschinen in Zusammenhang stand.
6.2.3 Anpassung beruflicher Ethik an die Technik Wie in Kapitel 5.1.2 gezeigt, bezeichneten Fleischer neue Schlachtmethoden als einen Angriff auf ihr berufliches Selbstbild, Tiere fachgerecht und handwerksmäßig zu schlachten. Sie befürchteten, dass dadurch ihr Erfahrungs- und Routinewissen untergraben würde, wenn die Tierschlachtung in Zukunft auch ohne eine handwerkliche Fachausbildung ausgeübt werden könnte.588 Für die städtischen Behörden hingegen bot die Technisierung der Tierschlachtung eine Möglichkeit, die Herausforderungen städtischer Fleischversorgung zu bewältigen. Ihrem Bestreben und ihrer Vorstellung, Arbeit durch einen verstärkten Einsatz von neuen Maschinen und Werkzeugen zu erleichtern, stellten Wiener Fleischer ein Verständnis von handwerklicher Arbeit entgegen, das gerade die physische Anstrengung als erstrebenswert hervorhob. Ihre berufliche Vorstellung vom Fleischer, der körperliche Belastungen bereitwillig auf sich nahm, der erfahren war und routiniert seine Arbeit verrichtete, mündeten im Ideal des fleischhandwerklichen Meisterkönners, das Fleischer selbstbewusst und manchmal auch selbstgerecht verteidigten. Die Inszenierung ging zum Beispiel so weit, dass Wiener Fleischhauergesellen, die ein solches Selbstbild verinnerlicht hatten, im Juli 1898 in einem offenen Brief den „Beef Dressing Champion of the World“ Paul Tetzel aus London zu einem Preiswettschlachten herausforderten.589 Nachdem dieser eine Reisekostenübernahme als Bedingung für sein Kommen gestellt hatte, äußerten die Wiener Gesellen in einem weiteren Brief in der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung ihren Unmut über diese Forderung. Sie wollten 588 Denn mithilfe neuer Techniken schlachtete nicht mehr der Meister, sondern der Geselle. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 3]. Vgl. Will man nie gerecht und wahr sein. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 2.10.1875, Nr. 31, S. 121; Auch eine Antwort, S.1 f.; Gedruckte Impertinenzen. In: Wiener Fleischer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 19.2.1904, Nr. 15, S. 2; Nichts Neues unter der Sonne. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 27.11.1875, Nr. 37, S. 144-145; Zum Thierschutz: Fleischhauer und Humanität. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 1.6.1875, Nr. 16, S. 62. 589 Vgl. Ein Brief des Weltmeister-Schlächters Paul Tetzel an die „Oesterr.-ungar. Viehverkehrs-Zeitung“. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.7.1898, Nr. 56, S. 2.
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Herrn Tetzel‘s Auffassung dahin […] corrigieren, dass wir gewiss nicht jene waren, die ihn herausgefordert haben, sondern einfach gegen die Aneignung des Weltmeistertitels Stellung nahmen, da bekanntlich auch Wien zur Welt gehört und wir Wiener Fleischhauer auch nicht zu den Letzten zu rechnen sind. Herr Tetzel hat Hamburg, Leipzig, Berlin und Paris herausgefordert; uns Wiener hat er ingnoriert [sic!].590
Zudem belächelten die Fleischhauergesellen den von Tetzel aufgestellten „Record von 18 min. 33 Sec.“591, die er zum Schlachten eines Rindes benötigt hatte und inszenierten sich als Opfer eines unlauteren Wettbewerbs: Ja, in wessen Interesse liegt es denn eigentlich, den Wettkampf durchzuführen? Doch nicht in unserem! Wir haben uns doch niemanden [sic!] gegenüber als Weltmeister aufgeworfen, nur Herr Tetzel hat das gethan und, wie wir glauben, ohne Berechtigung.592
Die Beschwerde der Wiener Gesellen stieß im Gewerbe aber auch auf Kritik. Ein Wiener Fleischhauer mahnte in einem offenen Brief in derselben Zeitung die jungen Kollegen zur größeren Bescheidenheit und Nachsicht, die neben dem handwerklichen Können zu den Tugenden des Fleischerhandwerks zählten. Der anonyme Autor kritisierte das Wettschlachten zudem als „Dummheit“, „Schmarn“ und „Reclametrommelerei“.593 Vor allem Anfang der 1870er Jahre, als die ersten Maschinen und Motoren für die Fleischverarbeitung eingeführt wurden und das Wiener Marktamt begann, verschiedene Methoden der Tierschlachtung zu erproben, beklagten Fleischer die Rationalisierung und Technisierung des Gewerbes. In ihrer Kritik stellten sie das berufliche Ethos des Handwerks, das Aufmerksamkeit und Geduld kennzeichneten, einer kühlen Sachlichkeit der modernen Fleischproduktion entgegen, bei der die Arbeitenden die Arbeit „sine ira ac studio“594 erledigten. Diese Antithese zwischen handwerklichem Ethos und rationaler Sachlichkeit595 wird an der Vorstellung von Fleischern über Grausamkeit und deren Wandel greifbar. Als Mitte der 1870er Jahre die Bouterolle in Wien eingeführt wurde, begegneten Fleischer dieser neuen Schlachttechnik skeptisch und bezeich 590 Die Antwort der Wiener Fleischhauer-Gehilfen. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.7.1898, Nr. 56, S. 2. 591 Ebd. 592 Ebd. 593 Wettschlachten und kein Ende. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 22.7.1898, Nr. 58, S. 2. 594 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1065. 595 Vgl. ebd., S. 1070.
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neten das Schlachten mit diesem Werkzeug als grausam.596 Sie beklagten, dass diese neue Schlachttechnik das handwerkliche Können des Fleischers entbehrlich mache, weil sie das Töten der Tiere von seiner Erfahrung trenne. Fleischer argumentierten, dass im Unterschied zu der Bouterolle das gängige Schlachten der Tiere mit dem Schlagbeil den schlachtenden Fleischer nicht aus der Verantwortung entlasse zu töten.597 Die Kritik an neuen Techniken war vor allem eine Kritik gegenüber der kommunalpolitischen Reglementierung fleischhandwerklicher Arbeit.598 Wie das Tier schließlich starb, ob es litt oder keine Schmerzen spürte, hing in diesem Fall von dem Können und der Routine des Fleischers ab, der als erfahrener Schlachter einen 600 Kilogramm schweren Ochsen mit einem einzigen gezielten wuchtigen Schlag niederzustrecken vermochte.599 Fehlten Übung und Erfahrung, konnte es vorkommen, „daß nach öfteren, ja 10–15 Schlägen erst das Thier zusammenstürzte, wobei oft Fehlhiebe das Auge des Thieres trafen, oder dieses das Seil abreißend, davonsprengte.“600 Daher forderten die städtischen Behörden und andere Befürworter von neuen Schlachttechniken, vor allem Tierärzte und Tierschutzvereine, den verstärkten Einsatz der Schlachtmaske. Sie argumentierten, dass hierbei Betäubung und Tötung zusammenfielen, der Tod des Tieres unmittelbar eintrat und nicht erst durch das Aufschneiden der Hauptschlagader erfolgte. Diese neue Technik erlaubte es, mit geringstem Kraftaufwand eine große Wirkung zu erzielen, urteilte das Wiener Marktamt, „und mannigfache in den Wiener Schlachthäusern zur Erprobung dieses Schlachtverfahrens selbst an Vollstieren und Büffeln angestellten Versuche lieferten das befriedigendste Resultat.“601 Dabei stand nicht das Wohlergehen von Tieren im Vordergrund, wie das Marktamt herausstellte, weil ausschließlich „die Tödtung jener Thiere, deren Fleisch dem Menschen zum nothwendigen Nahrungsmittel dient, möglichst schnell und schmerzlos zu vollziehen [ist].“602 Für die Behörden waren versor596 Vgl. Nieradzik, Die Ausgrenzung der Grausamkeit, S. 206-207. 597 Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 65-66 und 70; Vialles, Animal to Edible, S. 73. 598 Die Fleischerzeitungen beklagten zum Beispiel, dass Vieles „von oben herab befohlen“ würde. Zum Thierschutz: Fleischhauer und Humanität, S. 262. 599 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Äußerung des Marktamtes über Schlachtungsvorschrift, Marktdirektor Karl Kainz, ca. 1900, S. 1]. 600 Die Bouterole, S. 1. 601 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 4]. 602 Ebd., S. 1.
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gungsrelevante Motive für einen gewaltfreien Umgang mit Tieren ausschlaggebend. Kommunalpolitiker, Behördenvertreter und Veterinäre forderten von Fleischern, Viehhändlern und Marktdienern, die Tiere weder zu schlagen noch Stress auszusetzen, weil dadurch deren Fleisch an Qualität einbüße.603 Sie sollten die Tiere nach Möglichkeit schonen, vor der Schlachtung beruhigen und schnell töten.604 Wer ein sogenanntes Schlachttier quälte, der schadete folglich den Konsumentinnen und Konsumenten. Mit einem Tier dementsprechend umzugehen, widersprach zudem der „fortschreitende[n] Zivilisation“605, bemerkte das Wiener Marktamt: Die fortschreitende Zivilisation unter den Völkern hat auch am Zeugnisse der Geschichte in jeder Zeit auch auf die Auffassung des Verhältnisses des Menschen zum Thiere merklichen Einfluß geübt, gegenüber der Grausamkeit voriger Jahrhunderte, welche Thierhetzen zu den öffentlichen Volksbelustigungen zählten, führte die moderne Gesittung dahin, daß bei den meisten europäischen Kulturvölkern, Thierquälerei selbst gesetzlich verpönt wurde und der Grundsatz immer allgemeinere Geltung gewann: Es sei die Tödtung jener Thiere, deren Fleisch dem Menschen zum nothwendigen Nahrungsmittel dient, möglichst schnell und schmerzlos zu vollziehen.606
Das technisierte Schlachten galt als „ein wahrhafter Fortschritt auf dem Wege der Humanität“607, und Tierschutz zielte immer auch auf eine Erziehung zu „Sittlichkeit und Humanität“608, wie der Gründer des Wiener Tierschutzvereins Ignaz Castelli in einem Brief an das Marktamt vom Mai 1847 bemerkte. In einem Schreiben an Kaiser Ferdinand I. vom Mai 1847 betonte Castelli zudem, dass es
603 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875, S. 10, unpag.]; Die Schonung der Thiere, S. 3; Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 42. 604 Vgl. ebd.; Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 35 und 52. 605 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1]. 606 Ebd. 607 Die Schlachtmaske. In: Die Gartenlaube 45, 1874, S. 734. 608 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Dr. Ignaz Castelli, Gründer des Wiener Tierschutzvereins, 29.5.1847, S. 1, unpag.].
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sein Bestreben [des Wiener Tierschutzvereins, L.N.] seyn wird, durch alle ihm zu Gebothe stehenden Mittel auf die Jugend zu wirken, den Grausamkeiten roher Menschen ein Ziel zu setzen und die öffentlichen Organe in Handhabung der dießfalls bestehenden Vorschriften zu unterstützen.609
Die erzieherische und Menschen formende Stoßrichtung des Tierschutzes, der „bei allen gefühlvollen Menschen aus allen Ländern [Anklang] findet“610, wie Castelli betonte, propagierten auch die städtischen Behörden. Denn Tierschutz erziehe den Menschen zur Gefühlsfähigkeit, die die grundlegende Voraussetzung für ein tugendhaftes Leben darstelle und dieses wiederum die gesellschaftliche Solidarität und Ordnung bedinge.611 Die staatliche und städtische Förderung tierschützerischer Ambitionen, wie sie in der Verbreitung von Publikationen von ausländischen Tierschutzvereinen612 oder in der Unterstützung einer Gründung eines Wiener Tierschutzvereins nur ein Jahr vor der Revolution 1848/49 zum Ausdruck kam, verweist mitunter auf die Sorge der Regierungsbehörden vor sozialen Unruhen sowie auf ein Bestreben, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Für die städtischen Behörden, allen voran für das Wiener Marktamt, das für die Lebensmittelversorgung und -kontrollen der wachsenden Großstadt verantwortlich war, implizierte Tierschutz immer auch ein versorgungswirtschaftliches Motiv. Die Behörde argumentierte, dass Tiere, die Fleischer stressfrei töteten, schneller und in größerer Anzahl geschlachtet und zu Fleisch verarbeitet würden.613 Tierschutz und Produktionsschutz bedingten sich wechselseitig.614 In ihren Auseinandersetzungen über die richtige Weise zu schlachten, verwendeten Fleischer und die Behörden den Begriff der Grausamkeit als strategischen Terminus, um ihre Gegner zu kritisieren und zu desavouieren. Be609 Ebd. 610 Ebd. 611 Vgl. Grier, Pets, S. 161-170, 177-181 und 184-186. 612 So forderte zum Beispiel der Wiener Magistrat bereits in den 1840er Jahren das Gremium der hiesigen Buchhändler dazu auf, Druckschriften und Broschüren des Münchener Tierschutzvereins, der für die Gründung seines Wiener Pendants von Einfluss war, zu verbreiten. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Rat Wilting, Referent auf Sitzung des Wiener Magistrats, Prot. Nr. 58358, Ref. Nr. 2216, 23.9.1845]; ebd. [Aufsatz in der Münchener Landbötin, Der Münchener-Verein gegen Thierquälerei, 8.11.1845, S. 1, unpag.]. 613 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1]; Hribal, Animals are Part of the Working Class, S. 17. 614 Vgl. MacLachlan, Coup de Grâce, S. 152.
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merkenswert ist, dass spätestens seit den 1890er Jahren eine Kritik an der Schlachtmaske abebbte. Inwiefern also veränderte sich die Vorstellung von Grausamkeit in diesem Zeitraum, und in welchem Zusammenhang stand dieser Wandel zum zeitgenössischen Diskurs um Tierquälerei? Um diese frage zu beantworten, zeichne ich zunächst in einem Exkurs den rechtlichen Status von Tieren im 19. Jahrhundert nach und setze diesen dann in Bezug zu den arbeitsorganisatorischen und technischen Veränderungen im städtischen Fleischergewerbe.
Exkurs: Tierquälerei im österreichischen Recht 1811–1925 Der Bedeutungsgehalt des Grausamkeitsbegriffes blieb im gesamten Untersuchungszeitraum unverändert. Fleischer, Behördenvertreter und Veterinäre bezeichneten damit einen als zu exzessiv erfahrenen Umgang mit Tieren und verwendeten den Terminus als Synonym für Tierquälerei und Misshandlung von Tieren. Unverändert in dieser Zeit blieb auch der rechtliche Status von Tieren, den das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie“ (im Folgenden: ABGB) vom 1. Juni 1811, ein Dekret der kaiserlich und königlichen Hofkanzlei vom 2. Juli 1846, eine diesem am 15. Februar 1855 vom Innenministerium hinzugefügte Verordnung und das Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 regelten. Das ABGB vom 1. Juni 1811, die erste landesweite zivilrechtliche Kodifikation, schrieb Tieren den juristischen Status einer Sache zu.615 Auf Grundlage des cartesianischen Dualismus und in Tradition einer naturrechtlichen Argumentation616 bestimmte das Gesetz den Menschen als ein von Geburt und Natur 615 § 285 des „Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie“ bestimmte: „Alles, was von der Person unterschieden ist, und zum Gebrauche der Menschen dient, wird im rechtlichen Sinne eine Sache genannt.“ ABGB. Wien 1811, Zweiter Teil, Von dem Sachenrechte, Von Sachen und ihrer rechtlichen Einteilung, Begriff von Sachen im rechtlichen Sinn, § 285, S. 56. 616 So bestimmte das ABGB: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ Ebd., Erster Teil, Von dem Personenrechte, Erstes Hauptstück, Von den Rechten, welche sich auf persönliche Eigenschaften und Verhältnisse beziehen, Personenrechte, I. Aus dem Charakter der Persönlichkeit. Angeborne Rechte, § 16, S. 10. Es existierten jedoch bisweilen konträre „Seelentheorien“ nebeneinander, die sowohl „die Ähnlichkeit der Tierseele mit der Menschenseele betonen“ als auch „den Schöpfungsbericht eindeutig zugunsten des Menschen interpretieren: Nur die menschliche Seele sei aus dem Nichts erschaffen, die tierische
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aus vernunftbegabtes Wesen und schloss Tiere aus dieser Rechtsgemeinschaft aus. Tiere besäßen keine „[a]ngeborne[n] Rechte“617 und wurden vom Gesetzgeber als Eigentumssachen definiert, über die der Mensch frei verfügen durfte.618 Diese gesetzliche Grundlage übernahm auch ein Dekret der Österreichischen Hofkanzlei vom 2. Juli 1846. Es bestimmte, „gegen Thierquälerei allfällige Maßregeln im angemessenen Wege anzuempfehlen“619. Das Dekret beklagte unter anderem den Transport von Schweinen als grausam, jedoch nicht aus Sorge um das einzelne Tier, sondern im Hinblick auf die Qualität des für den Konsum bestimmten Fleisches. Ausgehend von der Annahme, dass, wenn sich die Transportbedingungen für die Tiere verbesserten, auch deren Fleischqualität steige, appellierte das Dekret zugleich an den ökonomischen Verstand der Händler, in ihrem eigenen Interesse Veränderungen herbeizuführen, um die Tiere nach Wien überhaupt einführen zu dürfen.620 Die grundlegende Änderung gegenüber dem ABGB war die neue Bestimmung, „alle auffallenden, und öffentliches Aergerniß erregenden Mißhandlungen der Thiere nach dem Geiste der österreichischen Gesetzgebung als ein Polizei-Vergehen mit angemessener Strafe von den Polizei-Obrigkeiten zu ahnden.“621 Das Dekret verbot Tierquälereien – ohne sie zu definieren – keines dagegen aus der Materie.“ Münch, Paul: Tiere und Menschen. Ein Thema der historischen Grundlagenforschung. In: Ders. (Hg.): Tiere und Menschen: Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses. Paderborn [u.a.] 1998, S. 7-34, hier S. 23-24. 617 ABGB, Erster Teil, Von dem Personenrechte, Erstes Hauptstück, Von den Rechten, welche sich auf persönliche Eigenschaften und Verhältnisse beziehen, Personenrechte, I. Aus dem Charakter der Persönlichkeit. Angeborne Rechte, S. 10. 618 „Alles, was jemandem zugehört, alle seine körperlichen und unkörperlichen Sachen, heißen sein Eigentum.“ ABGB, Zweiter Teil, Von dem Sachenrechte, Erste Abteilung des Sachenrechtes, Von den dinglichen Rechten, Zweites Hauptstück, Von dem Eigentumsrechte, Begriff des Eigentums. Eigentum im objektiven Sinne, § 353, S. 71. „Als ein Recht betrachtet, ist das Eigentum die Befugnis, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkür zu schalten und jeden andern davon auszuschließen.“ Ebd., [Eigentum] im subjektiven [Sinne], § 354, S. 72. 619 Mißhandlungen der Thiere sind als Polizei-Vergehen zu ahnden. Hofkanzlei-Decret von 2. Julius 1846, Z. 20501. In: Sammlung der Gesetze für das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns. Acht und zwanzigster Theil. Jahr 1846. Wien 1852, Nr. 122, S. 207. 620 Ähnlich auch: WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, S. 7]; ebd., Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Bericht der Marktdirektion über Tierquälereien beim Kälbertransport, 13.10.1874, S. 2.]. 621 Mißhandlungen der Thiere sind als Polizei-Vergehen zu ahnden. Hofkanzlei-
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wegs, verbannte diese jedoch aus dem öffentlichen Raum. Eine Kritik an Tierquälerei beruhte nicht auf einer tierschützerischen oder tierrechtlichen Begründung.622 Tiere wurden ausschließlich in Beziehung zum Menschen zu einer causa legis. Auch eine Verordnung des Innenministeriums vom 15. Februar 1855, die dem Hofkanzleidekret hinzugefügt wurde, folgte derselben Argumentation. Sie verbot Tierquälereien, „[s]ollten gewisse Arten solcher Mißhandlungen häufiger wahrgenommen werden, oder im gewerblichen Verkehre herkömmlich geworden seyn“623. Tierquälereien – auch hier fehlt eine Definition dieses Begriffes – wurden dann strafrechtlich geahndet, wenn sie öffentlich stattfanden.624 Der Decret von 2. Julius 1846, Z. 20501. In: Sammlung der Gesetze für das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns. Acht und zwanzigster Theil. Jahr 1846. Wien 1852, Nr. 122, S. 207; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Magistrat Wien, Statthaltereidekret, 8.12.1851]; ebd. [Niederösterreichische Landes-Regierung an Wiener Magistrat, 19.9.1846, S. 1, unpag.]. 622 Tierschutz bezeichnet sämtliche Bemühungen, Tieren im Rahmen ihrer Nutzung vor sogenannten nicht-notwendigen Leiden, Stress und Misshandlungen zu bewahren. Der Begriff des „nicht-notwendigen“ Leidens verweist auf die Superiorität menschlichen Interesses gegenüber tierischen Bedarfen und Bedürfnissen. Tierschutz ist immer anthropozentrisch und speziezistisch. Diesen Standpunkt stellen Tierrechtlerinnen und -rechtler infrage. Tierrecht bezeichnet das Bestreben, auf Tiernutzungen zu verzichten und Tiere als mit Grundrechten ausgestattete Individuen zu begreifen. Zum Unterschied und zur Begriffsbestimmung vgl. Roscher, Mieke: Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 8-9, 2012, S. 34-40. Zum Speziezismus-Begriff vgl. Ryder, Richard D.: Victims of Science. The Use of Animals in Research, 2. Aufl. London 1983, S. 1-14. 623 Verordnung des Ministeriums des Innern im Einvernehmen mit der obersten Polizeibehörde vom 15. Februar 1855, wirksam für alle Kronländer, mit Ausnahme der Militärgrenze, womit eine gesetzliche Vorschrift gegen Thierquälerei erlassen wird. In: RGBl., Jg. 1855, X. Stück, ausgegeben und versendet am 21. Februar 1855, Nr. 31, S. 295. 624 „Wer öffentlich auf eine Aergerniß erregende Weise Thiere, sie mögen ihm eigen thümlich angehören oder nicht, mißhandelt, ist von der politischen Behörde, und an Orten, wo sich eine k. k. Polizeibehörde befindet, von dieser nach § 11 der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854, Reichs-Gesetz-Blatt, Nr. 96 […] zu bestrafen.“ Ebd.; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 11]. Nach § 11 der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854 waren in diesem Fall Geldstrafen in Höhe von einem bis 100 Gulden und Haftstrafen von bis zu 14 Tagen vorgesehen. Vgl. Kaiserliche Verordnung vom 20. April 1854, wirksam für alle Kronländer, mit Ausnahme des lombardisch-venetianischen Königreiches und der Militärgrenze, wodurch eine Vorschrift
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Gesetzgeber legte die Misshandlung von Tieren als politisches Vergehen aus. Dies zeigt zum einen den Ordnungs- und Regelungsanspruch der Behörden, die den öffentlichen Raum als einen politischen entwarfen; obgleich der Nachweis einer solchen Übertretung und wiederholte Anzeigen deutlich machen, „nicht in jedem Falle durch Zeugenführung erbracht werden kann“625, beklagte die Marktamtsdirektion im September 1896. Zum anderen verweist das Bestreben, Tierquälereien „hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens“626 zu verlagern, auf die bereits bei Immanuel Kant auftretende Sorge, dass Grausamkeit gegenüber Tieren den Menschen dazu veranlasse, auch gegenüber anderen Menschen grausam zu handeln.627 Die Angst vor einer verrohenden Wirkung durch den Anblick grausamer Szenen zeigt das in Konversationslexika seit dem 18. Jahrhundert verhandelte Wissen. Diese kontrastierten den Begriff der Grausamkeit bzw. Brutalität mit Vernunft und rückten erstere in eine semantische Nähe zum Tier. Grausamkeit sei eine deformierte menschliche Moral und ein „Laster […] wieder [sic!]
für die Vollstreckung der Verfügungen und Erkenntnisse der landesfürstlichen politischen und polizeilichen Behörden erlassen wird. In: RGBl., Jg. 1854, XXXIII. Stück, ausgegeben und versendet am 22. April 1843, Nr. 96, S. 345-350, hier S. 348, § 11. Das Verbot von Tierquälereien im öffentlichen Raum stellte ein europaweites Phänomen dar. Vgl. Steiger, Andreas/Camenzind, Samuel: Heimtierhaltung – ein bedeutender, aber vernachlässigter Tierschutzbereich. In: Grimm, Herwig/Otterstedt, Carola (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Göttingen 2012, S. 236-259, hier S. 251. 625 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Marktamts-Direction, 10.9.1896, S. 1-2]. 626 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 324. 627 „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtete) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen angestrengte, Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören; da hingegen die martervolle physische Versuche, zum bloßen Behuf der Spekulation, wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden könnte, zu verabscheuen sind. – Selbst Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Menschen, nämlich in Ansehung dieser Tiere, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 578-579.
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die Gesetze der Natur oder Sittlichkeit“628, urteilte Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexikon. Und Meyers Konversationslexikon definierte „brutal“ als „viehisch, roh“, „Brutalität“ als „viehisches, rohes Be tragen“.629 Einer solchen Argumentation folgend, bemerkte die niederösterreichische Landesregierung im März 1846, dass Tierschutz immer auch „die humane und die allgemeine Sittlichkeit fördernde Sendung“630 zum Gegenstand habe. Und anlässlich des Antrags auf Gründung des Wiener Tierschutzvereins im November 1846 hob der Wiener Rat Holzapfel hervor, dass Tierschutz „im Allgemeinen für die Zweckmäßigkeit und Gemeinnützigkeit“631 dienlich sei. Im 19. Jahrhundert hatten Tiere in der österreichischen Gesetzgebung jedenfalls den rechtlichen Status von Sachen. Bis Mitte der 1920er Jahre erfüllten Tierschutzgesetze vorwiegend den Zweck, Handlungen gegenüber Tieren, die die Grenze des Ertragbaren zu überschreiten drohten, dem öffentlichen Blick zu entziehen. Erst das Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 etablierte tierschutzrechtliche Bestimmungen, die Misshandlungen von Tieren als einen Straftatbestand ahndeten, mochten diese öffentlich oder privat stattgefunden haben.632 Die Behörden beklagten nicht so sehr das Leid der Tiere, sondern die fehlende Kontrolle in Anbetracht ihres panoptischen Überwachungs- und Regulierungs628 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 11. Halle/Leipzig 1735, Sp. 747-753, hier Sp. 747, s.v. Grausamkeit. 629 Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., Bd. 3. Leipzig/Wien 1890, S. 532. 630 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Niederösterreichische Landes-Regierung, 19.3.1846, S. 1, unpag.]. Auch heute sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Auffassung, dass ein gewaltfreier und liebevoller Umgang mit Tieren die Fähigkeit zu Mitgefühl, Barmherzigkeit und Empathie gegenüber Menschen fördert. Vgl. DeMello, Animals and Society, S. 160-161. 631 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Holzapfel, Referent, Dr. I. Castelli überreicht den Statuten-Entwurf für den n.ö. Verein gegen Thierquälerey, 5.11.1846, S. 2, unpag.]; ebd. [Rat Wilting, Referent vor dem Wiener Magistrat, Prot. Nr. 9294, Ref. Nr. 330, 5.3.1846, S. 4, unpag.]. 632 Artikel VIII. e) des Bundesgesetzes bestimmte: „Wer […] ein Tier aus Bosheit quält, roh mißhandelt oder rücksichtslos überanstrengt, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der politischen Bezirksbehörde oder in Orten, für die eine Bundespolizeibehörde besteht, von dieser mit Geld bis 200 S oder Arrest bis zwei Wochen zu bestrafen.“ Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 zur Einführung der Bundesgesetze über das allgemeine Verwaltungsverfahren, über die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes und das Verwaltungsstrafverfahren sowie über das Vollstreckungsverfahren in der Verwaltung, Artikel VIII. e). In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jg. 1925, ausgegeben am 14. August 1925, 63. Stück, Nr. 273, S. 941-945, hier S. 944.
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anspruchs633 und äußerten ihre Bedenken, wenn Menschen das Fleisch gequälter Tiere konsumierten.634 Tierschutz stellte immer einen dem Tier vom Menschen zugestandenen Schutz dar,635 und die Verwendung des Grausamkeitsbegriffes war strategisch. Denn Menschen bezeichneten das als grausam, was ihren ökonomischen Zielen und kulturellen Bedürfnissen zuwiderlief.636 Neben dem Ziel, tierisches Leiden zu vermindern, stellte Tierschutz immer auch ein Mittel sozialer Distinktion dar637 – was sich unter anderem an der bürgerlichen Provenienz von Tierschutzvereinen im 19. Jahrhundert zeigt. So gründete in Wien der oben genannte Dichter und Dramatiker Ignaz Franz Castelli in den 1840er Jahren den „Niederösterreichischen Verein gegen Misshandlung der Tiere“. Wie andere Tierschützer war auch Castelli darum bemüht, nicht nur gegen Tierquälereien vorzugehen, sondern auch die städtische Bevölkerung und insbesondere die unteren Gesellschaftsschichten zu „Sittlichkeit
633 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 10]. 634 Ebd. [Kundmachung, Bürgermeister Felder, 5.2.1870]. 635 Die Antithese von Grausamkeit und Humanität führten Fleischer mitunter als strategische Setzungen in Konflikten mit städtischen Behörden an und kritisierten damit neue Wissensmonopole, die neue Expertinnen und Experten besetzt hatten. Die Allgemeine Fleischer-Zeitung bemerkte zum Beispiel, dass „Thierschutz-Bestrebungen nicht nur mit dem Interesse des Fleischer-Gewerbes nicht collidiren, sondern vielmehr noch mit demselben parallel laufen. Es soll dem FleischerGewerbe der ehemals mit demselben verbundene Begriff der Rohheit umsomehr fernegehalten werden, als die Fleischhauer unserer Tage an Humanität, ja an Bildung und Intelligenz keinem andern Gewerbe nachstehen. Ist das Gewerbe auch an und für sich in einer Bewältigung der Thiere, so ist deßhalb noch keine Grausamkeit nothwendig damit verbunden. Ja wir erlauben uns, die kühne Behauptung, daß das Fleischergewerbe sich weit eher mit Humanität verträgt, als die Wissenschaft der Naturforscher und Aerzte. Man denke nur an die grausamen Vivisectionen, wo den armen Thieren äußere Gliedmaßen oder auch innere Theile aus dem lebendigen Leibe geschnitten werden. Wie man das auch durch die Nothwendigkeit der Wissenschaft entschuldigen mag, so bleibt es immer für das menschliche Gefühl etwas Schauderhaftes, welches oft die bedeutendsten Männer der Wissenschaft empörte.“ Zum Thierschutz. Fleischhauer und Humanität. 636 Vgl. Nieradzik, Die Ausgrenzung der Grausamkeit, S. 197-198; ders.: Was ist grausam? Die strategische Verwendung eines Begriffs (Interview). In: TIERethik 6, 2014/1, 8, S. 69-74, hier S. 71. 637 Vgl. Uekötter, Frank/Zelinger, Amir: Die feinen Unterschiede – Die Tierschutzbewegung und die Gegenwart der Geschichte. In: Grimm/Otterstedt, Das Tier an sich a.a.O., S. 119-134, hier S. 123-125.
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und Humanität“638 zu erziehen, wie er in einem Brief an das Wiener Marktamt vom Mai 1847 bemerkte.639 Castelli forderte von Anfang an, dass Fleischer Tiere mit neuen Schlachttechniken „human“ schlachten sollten. Verstärkt seit den 1890er Jahren640 übernahmen Wiener Fleischer die Argumentation der „Humane Cattle Slaughter“641, die das Ineinanderfallen von Betäubung und Tötung kennzeichnete und die Behörden, Schlachthausreformer, Veterinäre und Tierschutzvereine propagierten. Das lag daran, dass die Bouterolle zu keinem Zeitpunkt die Beilschlachtung ersetzt hatte.642 Das Schlachten blieb im gesamten Untersuchungszeitraum eine handwerkliche Arbeit, die Erfahrung und Routine erforderte. In den 1890er Jahren bezeichneten Fleischer dann nicht mehr eine Massentierschlachtung, die neue Schlachttechniken ermöglichten, als grausam, sondern das Töten von nicht-betäubten Tieren.643 Sie übernahmen damit die Argumente einer technisierten Schlachtung (Schnelligkeit, Zusammenfallen von Betäubung und Tötung, einfache Ausübung) und entkoppelten die Be 638 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Dr. Ignaz Castelli, Gründer des Wiener Tierschutzvereins, 29. S. 1847, S. 1, unpag.]. Tierschutz erfüllte daher immer auch eine gesellschaftliche Funktion, weil „die Folgen für Veredlung der Menschen und Milderung der Volkssitten unberechenbar seyn [müssen], weil Mitleid eine der Hauptquellen aller Tugenden ist.“ WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Aufsatz in der Münchener Landbötin, Münchener-Verein gegen Thierquälerei, 8.11.1845, S. 2]. 639 Das Verbot öffentlicher Tierquälerei und der volkserzieherische Impetus des Tierschutzes folgte ähnlichen Motiven wie die Befriedung von zoologischen Gärten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Comte de Étienne de La Villesur-Illon Bernard-Germain Lacépède hatte verlangt, die „Zahl der reißenden Tiere zu reduzieren, denn diese lieferten das Vorbild für eine zerstörerische Grausamkeit, verleiteten zu der Annahme, die Natur habe das Reich der Gewalt legitimiert, und symbolisierten die Tyrannei; vielmehr sei den friedfertigen Tieren der Vorzug zu geben, die ganz natürlich dem öffentlichen Nutzen dienten und gewissermaßen Allegorien des arbeitsamen citoyen seien.“ Zit. nach: Macho, Zoologiken, S. 17. 640 Seitdem finden sich in den Fleischerzeitungen sowie in anderen Quellengattungen wie den Vorfallenheiten-Protokollen (siehe Kap. 3.1) keine Beschwerden über die Verwendung der Schlachtmaske. Angesichts der Quellendichte für den Untersuchungszeitraum ist die These von einer Habitualisierung der Arbeitenden an einem neuen technischen Standard naheliegend. 641 MacLachlan, Coup de Grâce, S. 149. 642 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 43. 643 Vgl. Die Einführung des Schächtverbotes. In: Wiener Fleischerhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2-3; Vorführung der sämtlichen Schlachtapparate und Erklärung der Fleischsorten. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 12.1.1904, Nr. 4, S. 3.
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griffe der Humanität sowie Grausamkeit vom handwerklichen Erfahrungswissen und Können. Human war nun auch das Schlachten mit Werkzeugen, die „von ungeschulter Hand auszuführen“644 waren. In den 1890er Jahren hatten Fleischer erkannt, dass altbewährte Schlachttechniken fortbestanden, wiewohl neue erprobt und eingeführt worden waren. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, von welcher Tragweite das Ineinanderfallen von Betäubung und Tötung für das berufliche Selbstverständnis von Fleischern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Technik machte das Betäuben und Töten, die beiden zentralen Arbeitsschritte in der Tierschlachtung, zunehmend indifferent.645 Obwohl neue Schlachttechniken ältere nicht verdrängten, entweder weil erstere noch unausgereift waren und daher nicht zum Einsatz kamen oder weil Fleischer althergebrachte Methoden bevorzugten, wurde das Streben nach der sogenannten humanen Tierschlachtung, die neue Techniken mit dem Zusammenfallen von Betäubung und Tötung überhaupt erst möglich gemacht hatten, auch als Forderung für Arbeiten mit älteren Schlachtwerkzeugen in Stellung gebracht. Wiener Fleischer waren bemüht, „ihr Gewerbe in der vollkommensten, das heißt humansten Weise auszuüben“646, urteilte die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im März 1904. Fleischer lehnten nunmehr neue Schlachtmethoden nicht von vornherein als Bedrohung für ihr Handwerk wie noch 30 Jahre zuvor ab.647 Sie hatten erkannt, dass Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse ihre handwerklichen Fertigkeiten für die Fleischproduktion keineswegs entbehrlich machten. Das Zerteilen und Verarbeiten des geschlachteten Tieres blieben Arbeitsschritte, die im gesamten Untersuchungszeitraum Erfahrung und Routine erforderten. Weshalb Fleischer verstärkt um die Jahrhundertwende die Forderung nach einer „humanen Tierschlachtung“ begrüßten, lässt sich aufgrund der Quellenlage nur annährend beantworten. Wahrscheinlich ist, dass sie neue Arbeitsnor644 „Bouterolle“ [Werbung]. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 7.3.1875, Nr. 6, S. 23. 645 Bernhard Kathan ist der Ansicht, dass infolge des Ineinanderfallens von Betäubung und Tötung die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt worden sei. Bezugnehmend auf Schlachthöfe resümiert er: „Der Tod findet nicht statt“. Vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 58-72. 646 Zur Generalversammlung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 15.3.1904, Nr. 22, S. 1. 647 Vereinzelt bezeichneten einzelne Redakteure von Fleischerzeitungen Anfang des 20. Jahrhunderts das Schlachten dann als grausam, wenn die technischen Hilfsmittel als veraltet galten, wie zum Beispiel das Schlachten von Ochsen mit dem Beil. Diese Korrelation von Grausamkeit und Stand der Technik blieb jedoch eine Ausnahme. Die Beilschlachtung war im gesamten Untersuchungszeitraum die gängige Methode Tiere zu töten. Vgl. Unsere Generalversammlung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 25.3.1904, Nr. 25, S. 1.
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men allmählich verinnerlicht hatten. Ebenso denkbar ist, dass sie darin eine Möglichkeit zur werbestrategischen Inszenierung der Qualität ihrer Fleischwaren sahen, die nicht von gequälten Tieren stammten. Das Ideal der humanen Tierschlachtung war auch der Grund, weshalb Ende des 19. Jahrhunderts das Schächten einen Gegenstand hitziger Diskussionen bildete, die mit Inbrunst, einer leidenschaftlichen Unnachgiebigkeit und mitunter argumentativen Radikalität geführt wurden. Das Schlachten ohne vorangegangene Betäubung „läßt gerade diese Methode als die grausamste erscheinen“648, urteilte das Wiener Marktamt Mitte der 1890er Jahre. Mit ihrer Kritik am Schächten griffen Behörden, Politiker und Fleischer antisemitische Vorwürfe und Stereotype auf. Das vermeintlich Grausame „dieser inhumanen, abscheulichen Methode“649, „welche[] die Juden trotz Fortschritt und Humanität seit Jahrtausenden noch immer prakticiren“650, behauptete die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im April 1897, erklärte so mancher kurzum zu einem Wesenszug von Jüdinnen und Juden. Hinzu kam, dass (nichtjüdische) Fleischer das kraftraubende Niederwerfen des Tieres zu Boden als grausam bezeichneten. Denn human sei das Schlachten, wenn es keinen körperlichen Widerstand des Tieres provoziere.651 648 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1]. Die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung vertrat dieselbe Auffassung. Von allen Schlachtmethoden (mit der Schlaghacke, Schussapparaten und der Schlachtmaske) sei das Schächten am grausamsten: „Es war grauenvoll, diese Prozedur mit anzusehen. Nicht nur, daß der ganze Vorgang grausen ist und das Tier gequält wird, auch das Werfen des Rindes ist sehr gefahrvoll und verschiedene Unglücksfälle sind schon dadurch vorgekommen. Alle Anwesenden gaben ihrem Mißmute lauten Ausdruck. Die Fleischhauer, die zugegen, verlangten insgesamt die Abschaffung des Schächtens und meinten, wenn es auch aus ganz unbegreiflichen Gründen beibehalten werden müßte, so sei mindestens das Tier vorher zu betäuben.“ Vorführung der sämtlichen Schlachtapparate und Erklärung der Fleischsorten. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, XII. Jg., 12.1.1904, Nr. 4, S. 3. Vgl. Die Einführung des Schächtverbotes. In: Wiener Fleischerhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2-3. Zur Kritik am Schächten im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Kathan, Zum Fressen gern, S. 61-62. 649 Zum Capitel „Schächten“. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 9.4.1897, Nr. 29, S. 2. 650 Ebd. 651 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, S. 1]; Vorführung der verschiedenen Schlachtmethoden. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 5.1.1904, Nr. 2, S. 3.
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Jedoch lässt sich kein umfassendes Urteil darüber fällen, wie antisemitisch Wiener Fleischer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren. Die Stellungnahmen innerhalb des Gewerbes waren vielfältig. Allein in der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung erschienen Artikel, die das Schächten als „Verhöhnung der Humanität und des menschlichen Gefühles“652 brandmarkten, dafür plädierten, dass der Gesetzgeber „der grausamen Methode des Schächtens ein Ende bereitete“653 und Juden […] gezwungen werden, Fleisch zu consumiren, welches von einem Thiere stammt, das auf humane Art getödtet wurde und nicht unter den gräßlichsten Qualen unter dem Messer des jüdischen Schächters eines langsamen Todes starb.654
Zugleich veröffentlichte dieselbe Zeitung Beiträge, die die Kritik am Schächten als übertrieben zurückwiesen, hinter den Vorwürfen ungerechtfertigte Vorurteile erkannten und versuchten zwischen Gegnern und Befürwortern des Schächtens zu vermitteln.655 Politiker, Vertreter städtischer und staatlicher Behörden, Veterinäre, viele von ihnen lehnten das Schächten als ein sinnliches, theatralisches Spektakel ab. Mitunter pathologisierten sie jüdische Fleischer und forderten, dass das Töten von Tieren ohne vorangegangene Betäubung einer technischen Nüchternheit weichen sollte, die, so deren Argumentation, die Sinne neutralisiere. Die Kritik am Schächten war vorwiegend eine Kritik am sinnlich erlebbaren Töten, und sie ist kulturhistorisch im Kontext einer Angst vor Verletzung der moralischen Integrität und damit der Furcht vor einer „Verrohung“ zu verorten (siehe Kap. 6.3.1). Die Debatte um das Schächten war eine Art Medium oder Seismograph gesellschaftlicher Befindlichkeiten, Stimmungen und Gemütszustände um die Jahrhundertwende. Inwiefern Fleischer nun einen bestimmten Umgang mit Tieren als grausam oder als „human“ bezeichneten, hing davon ab, ob sie neue Werkzeuge ablehnten oder deren Gebrauch akzeptierten. Mit neuen Schlachttechniken veränderten sich nicht nur die Arbeitsweisen, sondern auch die Erfahrung zu töten.656 So bezeichnete der Londoner Anwalt, Humanist und Schlachthausreformer John Verschoyle Anfang des 20. Jahrhunderts das Schlachten nicht als Töten, sondern als Euthanasie, weil es gewaltlos, plötzlich und emotionslos ablief.657 652 Zum Capitel „Schächten“, S. 2. 653 Die Einführung des Schächtsverbotes. In: Wiener Fleischerhauer- und Fleisch selcher-Zeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2-3, hier S. 2. 654 Ebd., S. 2-3. 655 Vgl. Welches sind die empfehlenswertesten Schlachtmethoden, S. 5-6 . 656 Vgl. Nieradzik, Was ist grausam?, S. 74; ders.: Die Ausgrenzung der Grausamkeit, S. 207-208. 657 Vgl. Otter, The Vital City, S. 530.
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Auch in der heutigen Tierschlachtung entlastet die Arbeitsteilung die Tötenden aus ihrer Verantwortung zu töten, weil nicht nur sie als einzelne Person, sondern mehrere Arbeizet verantwortlich für die Schlachtung sind: – Arbeit, die sich auf mehrere Schultern verteilt, entlastet das Gewissen.658 Anfänge einer solchen Arbeitsrationalisierung, die sich auf die Erfahrungsdimension tierschlachtender Arbeit auswirkten, sind für Wien im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auszumachen. Fleischer, die neue Techniken in der Tierschlachtung in den 1870er Jahren noch unerbittlich kritisiert hatten, gewöhnten sich allmählich an deren Gebrauch.659 Hinzu kam, dass neue Fleischzerkleinerungs- und Verarbeitungsmaschinen eine Steigerung, Vervielfältigung und Spezialisierung der Wurstproduktion und Fleischwaren ermöglichten.660 Eine erhöhte Produktion und handwerkliches Können stellten somit nicht ausschließlich einen Widerspruch dar, sondern gingen oftmals Hand in Hand. Die Ablehnung und Akzeptanz neuer Techniken bestanden nebeneinander.661 Weil das Arbeiten und nicht zuletzt die tierischen Körper eine kontinuierliche Technisierung im Untersuchungszeitraum (noch) begrenzten, blieben das Enthäuten, Ausweiden und Zerkleinern der Tiere sowie die Fleischverarbeitung abhängig vom fleischhandwerklichen akteursgebundenen Erfahrungswissen. Ebenso unverzichtbar war jenes Gemisch aus Kraft und Geschick, um ein Rind mit einem gezielten kräftigen Schlag mit dem Beil zu betäuben. Die körperliche Kopräsenz von Menschen und Tieren im Schlachthaus und auf dem Viehmarkt gestaltete sich als eine sensible und machtvolle Beziehung. Fleischer, Markthelfer und Viehhändler misshandelten Tiere. Zugleich stellten letztere für den Menschen immer eine Gefahr und der Umgang mit ihnen ein gesundheitliches Risiko dar: Tiere verletzten Menschen, und der tierische Körper galt als möglicher Überträger von Krankheiten, die Tierärzte, Ingenieure und städtische Behörden durch eine spezifische Raumordnung, Kontrollen und eine zunehmende Technisierung der unterschiedlichen Arbeitsschritte zu beseitigen hofften. Neben diesen gesundheitlichen Gefahren und Risiken waren auch sozialhygienische Motive für Mensch-Tier-Beziehungen prägend, und auch hier war der Umgang mit dem tierischen Körper von zentraler Bedeutung. Wie gezeigt, 658 Vgl. Vialles, Animal to Edible, S. 45-52; Wilkie, Livestock/Deadstock, S. 164. 659 Die Gewöhnung an neue Techniken durch ihre Nutzung veränderte die Einstellung zu diesen. Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 52. 660 Zu den Wiener Spezialitäten zählten die Bratwurst, Leberwurst, Blutwurst, das Frankfurter [sic!] Würstel, die Cervelatewurst, die sogenannte Extrawurst, die Pariser [sic!] Wurst und die Presswurst. Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 189-191. 661 Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 47.
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schrieben Veterinäre, Kommunalpolitiker und Tierschützer dem Anblick von geschlagenen und misshandelten Tieren eine verrohende Wirkung auf den Menschen zu. Das Streben nach Hygiene umfasste neben dem Schutz des tierischen Fleisches vor Krankheitserregern auch eine visuelle Reinigung des öffentlichen Raums. Die Zentralität und Bedeutung organischer Gefahren und Resistenzen sowie des fleischhandwerklichen Körperwissens rücken damit den tierischen sowie menschlichen Körper in den Mittelpunkt meines Forschungsinteresses.
6.3 Körper, Bilder und Erfahrung Die körperliche Dimension der Arbeit ist Gegenstand der nachfolgenden Kapitel. Die Analyse von Körperwissen, Körperpraktiken, Körperbildern und Körpererfahrungen stellt ein paradigmatisches Untersuchungsfeld für die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt dar. Die Arbeit eines Fleischers umfasste immer einen sinnlichen Umgang mit Tieren. Fleischer nahmen den tierischen Körper total in Beschlag und verwandelten diesen „in eine Zielscheibe einer verdichteten Gewaltförmigkeit“662. Die folgende Analyse zielt auf das Wissen von Fleischern und Veterinären über den menschlichen und tierischen Körper (Kap. 6.3.1) und die damit einhergehenden Praktiken, Tiere ökonomisch verwertbar zu machen, um versorgungswirtschaftliche Bedarfe zu decken (Kap. 6.3.2). Das handwerkliche Wissen über und der Umgang mit Tieren war zugleich ausschlaggebend für die Herausbildung eines spezifischen Körperbildes unter Fleischern. Fleischer beschrieben ihre Arbeit als körperlich anstrengend und emotional belastend. Sie verbanden mit ihrem Beruf ein spezifisches Körperbild und Männlichkeitsideal, die Kraft, Geschick und Selbstdisziplin kennzeichneten und in Zusammenhang mit Vorstellungen von Weiblichkeit sowie Animalität standen. Wie zu zeigen sein wird, umfasste die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt auch einen Wandel der Geschlechterverhältnisse innerhalb des Gewerbes (Kap. 6.3.3).
662 Nieradzik, Lukasz: Sinnlichkeit und Entsinnlichung des Tötens. Ein Beitrag zur Grausamkeit, „Humanität“ und Mysophobie im Wiener Fleischergewerbe im Fin de Siècle. In: Ders./Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Tiere nutzen. Ökonomien tierischer Produktion in der Moderne. Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 49-65, hier S. 49. Marcus Gräser spricht von einer „Verdichtung von Gewaltförmigkeit, die in den Schlachthöfen geradezu ‚sinnlich‘ zu erleben war“. Gräser, Chicagos „Eingeweide“, S. 113.
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6.3.1 Verhandlungen von Gesundheit und Krankheit Zu den häufigsten Erkrankungen im Fleischerhandwerk zählten Rheu ma, Gicht, Herz-, Nieren- und Blasenerkrankungen, Blutvergiftungen und „Schlagfluß“ [Schlaganfall, L.N.].663 Für Fleischer und Ärzte waren sie die Folge einer kontinuierlichen körperlichen Belastung. Mit Verweis auf England – eine entsprechende Statistik für das Wiener bzw. österreichische Fleischergewerbe fehlt – gab die Allgemeine österreichische Fleischhauer- und FleischselcherZeitung im Januar 1897 an, dass 23 Prozent der Fleischer im Alter von 45 bis 55 Jahren starben und damit erheblich früher als Angehörige anderer Handwerkszweige.664 Der Fleischerberuf, urteilte die Zeitung weiter, böte „die denkbar ‚günstigsten‘ Bedingungen für die Entwicklung dieser Krankheiten“665. So „muß [der Fleischer] in der größten Kälte oft in zugigen Räumen mit kaltem und heißem Wasser abwechselnd arbeiten und in der größten Hitze viele Male des Tages in den Eiskeller laufen, ohne Zeit zu haben, sich vorher abzukühlen.“666 Hinzu kämen ein ungesunder Lebensstil, „[h]itzige Getränke, viele Fleischkost und ein plötzliches Aufhören der früheren übermäßigen körperlichen Anstrengungen“667, was Herzerkrankungen und andere Beschwerden wie Krampfadern verursache. Zu der körperlichen Überanstrengung wirkten sich zudem der häufige Temperaturwechsel und Zugluft beim Arbeiten gesundheitlich belastend aus.668 Vor allem die Nähe zu den Tieren führten Fleischer als Ursache für Krankheiten an. Diese seien die Folge „von zurückgetriebener Ausdünstung, von einer Schwäche der Theile und von einer Schärfe der Säfte“669. Fleischer argumentierten, dass Krankheiten aufgrund eines beeinträchtigten Gleichgewichts der „Säfte“670 entstünden und durch einen ansteckenden Stoff verursacht würden. Hierbei handelte es sich um „ein sogenanntes fixes Konta663 Vgl. Die Gefahren des Fleischerberufes. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 8.1.1897, Nr. 3, S. 1-2. 664 Vgl. ebd., S. 1. 665 Ebd. 666 Ebd. 667 Ebd. 668 „Bald bedarf der Fleischhauer behufs des Schlachtens kaltes, bald warmes oder sehr heißes Wasser, bald muß er im Freien oder im Luftzuge der Schlachthäuser, bald in warmen, sehr durchhitzten Räumen arbeiten; bald schwitzt er, bald muß er die durch die Stubenhitze übernatürlich vermehrte Ausdünstung unterdrücken.“ Gesundheitsverhältnisse der Fleischhauer. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 1.4.1875, Nr. 9, S. 33. 669 Ebd. 670 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undat.].
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gium, welches sich nur durch direkte Berührung überträgt“671, urteilte die Allgemeine Fleischer-Zeitung im Februar 1875 und warnte vor den „erschlaffenden thierischen Ausdünstungen, die der Fleischhauer beim Schlachten einathmen muß“.672 Eine Gefahr für die Gesundheit seien auch [d]ie faulen, harnartigen Dämpfe, die sich im hohlen Bauche eines jeden Thieres vorfinden, und die der Fleischhauer, wenn er das Thier öffnet, warm in sich schlucken muß, so wie die Ausdünstung des frischgeschlachteten Fleisches und des Unrathes in den Eingeweiden.673
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich dieses humoralpathologische medizinische Paradigma, das seit Hippokrates und Galenos in Europa über 2.000 Jahre für die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit prägend gewesen war. Die Zellularpathologie Robert Remaks und Rudolf Virchows, wonach Krankheiten durch Zellveränderungen verursacht würden, löste das ältere humoralpathologische Konzept ab und wurde zum dominanten medizinischen Erklärungsmodell. Die Entdeckung der Trichinen in den frühen 1860er Jahren und der Aufschwung der Mikrobiologie revolutionierten das medizinische Körperverständnis und Körperwissen grundlegend und veränderten die Perspektive auf Tiere, deren Körper sich in eine von Myriaden von unsichtbaren Mikroorganismen bevölkerte Gefahrenlandschaft verwandelte.674 671 Ueber den Milzbrand der Rinder. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 18.2.1875, Nr. 4, S. 14. Zugleich stellte das Unbekannte das Bedrohliche dar. Denn „[d]as Contagium ist seiner Natur nach noch nicht erkannt, weder mikroskopischen Untersuchungen auf die etwaige Anwesenheit eines der Krankheit eigenthümlichen Sitzes oder ähnlichen Organismus in den kranken Geweben oder im Blute, noch die chemischen Untersuchungen haben bis jetzt ein genügendes Resultat ergeben.“ Meyer, Johann B.: Die Approvisionirung des europäischen Fleischmarktes in ihren Beziehungen zur oesterreichisch-ungarischen Landwirthschaft. Nebst einer Monographie der Refrigeratoren. Ein Beitrag zur Lösung der Rinderpestfrage. Wien 1879, S. 33. 672 Gesundheitsverhältnisse der Fleischhauer, S. 33. 673 Ebd. 674 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 11-14; Barsch, Achim/ Hejl, Peter M.: Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt/M. 2000, S. 7-90, hier S. 50-52; Neghina, Raul [u.a.]: The Roots of Evil: The Amazing History of Trichinellosis and Trichinella Parasites. In: Parasitology Research 110, 2012, 2, S. 503-508, hier S. 504-506; Was in der Fachwelt vorgeht (erneuter Trichinenfall). In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 18.2.1875, Nr. 4, S. 14-15; Zur Trichinen-Frage. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 3.2.1875, Nr. 2, S. 5-6.
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Fleischer richteten nun ihren Blick verstärkt auf die unsichtbaren Gefahren und schenkten neuen Risiken zu erkranken ihre Aufmerksamkeit. Sie befürchteten von Bandwürmern und Trichinen befallen zu werden oder sich mit Milzbrand- und Tuberkuloseerregern zu infizieren.675 Die Vorstellung, dass Bakterien „mikroskopische[] Thierlein“676 seien, die im menschlichen Körper nisteten und sich auf einen anderen Organismus über die Atemwege, durch Blut, „fauligen Darmschleim oder andere Verwesungsflüssigkeiten“677 übertrügen, verweist auf eine Angst vor dem Eindringen fremder Stoffe in den eigenen Körper sowie dem Vermischen organischer Substanzen. Tierärzte diagnostizierten Krankheiten über das Auf- und Austreten von ekelerregenden Flüssigkeiten wie Schleim oder Eiter678 und machten im Umkehrschluss den Gesundheitszustand von deren Fehlen abhängig. Die Animalisierung von gesundheit lichen Gefahren durch die Vorstellung von Krankheitserregern als winzige Tiere verdeutlicht die Sorge von Fleischern um die eigene Gesundheit aufgrund der Unkontrollierbarkeit und scheinbar grenzenlosen Wirkmächtigkeit von Mikroorganismen. Die Angst vor dem unendlich Kleinen war, wie der Literaturwissenschaftler Michael Gamper schreibt, ein zeitgenössisches Gefühl der gesellschaftlichen und lebensweltlichen Unsicherheit im Fin de Siècle, die auch in anderen sozialen Kontexten zu beobachten war. Vor allem in der 675 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Trichine [Brief, ca. 1900]; Die Gefahren des Fleischerberufes, S. 1. 676 Virchow, Trichinenentdecker. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg. 9.4.1875, Nr. 10, S. 38. 677 Die Gefahren des Fleischerberufes, S. 2. 678 Der Veterinärmediziner Anton Barański beurteilte zum Beispiel Rinder als krank, wenn deren Blut „blassroth, dünnflüssig, wässerig, fleischwasserähnlich oder schwarzroth, dickflüssig, klebrig wie Wagenschmiere“ und „die Schneidezähne locker, mit Schleim überzogen“ waren. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 86 und 87. Und er fuhr fort: „In der Brusthöhle befindet sich eine trübe, gelbe, molkige Flüssigkeit, Blut oder Eiter“. Die Lungen seien „schwer trennbar und durch Gerinnungen mit demselben [Brustfell, L.N.] verklebt, mit Wasserblasen durchsetzt oder mit einem gelben, eierspeisähnlichem [sic!] Gerinnsel bedeckt, beim Aufschneiden Eiter und Jauche ergiessend“. Ebd., S. 88. Auch seien „[d]ie Gedärme […] von stinkenden Gasen stark aufgetrieben, Galle, Schleim, Würmer, Blut, Eiter, Jauche, flüssigen oder sehr festen und harten Darmkoth enthaltend“. Ebd. Dann sei noch „der Lab von aussen mit rothen violetten Flecken besetzt, im Inneren einen grünlichen, aschgrauen, schleimigen, von Blut, Eiter oder Jauche durchsetzten, stinkenden, sehr flüssigen Brei enthaltend.“ Ebd., S. 89. Die Milz sei „wie ein mit Blut gefüllter Schwamm, aufgeschnitten, dunkles, schwarzes, zähes, klebriges Blut ergiessend“ und „die Nieren […] Blut, Eiter, Jauche ergiessend“ ebenso wie „[d]ie Harnleiter an der einen Seite geröthet, Schleim, Eiter, Blut, Sand und Steine enthaltend.“ Ebd., 89-90.
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Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts war die Angst vor Ansteckung zum Erklärungsmodell für Gruppendynamiken geworden.679 In der medizinisch-paradigmatischen Umbruchszeit zwischen Ende der 1850er und Mitte der 1870er Jahre bestanden die zum Teil konträren Vorstellungen der älteren humoralpathologischen und der neueren zellularpathologischen Konzepte nebeneinander. Noch 1875 erschienen in Wiener Fleischerzeitungen mehrere Artikel, in denen die Autoren diese beiden unterschiedlichen pathogenetischen Konzepte thematisierten und den medizinischen Paradigmenwechsel als einschneidendes Phänomen beschrieben, dem Fleischer mit Unbehagen begegneten. Als im September 1875 die Allgemeine Fleischer-Zeitung über Rudolf Virchows Entdeckung von Trichinen schrieb, schloss sie den Artikel mit den Worten: „Die Fleischhauer und mit ihnen viele Andere halten die ganze Sache für eine gelehrte Grille, lächerlich. Wer von beiden Theilen hat nun Recht? Diese Frage ist noch nicht spruchreif. Noch wogt der Kampf unentschieden.“680 Die Etablierung des neuen medizinischen Wissens veränderte den Umgang mit Tieren (siehe Kap. 6.3.2). Die Behörden ermahnten Fleischer und diejenigen Angestellten, die im Schlachthaus und auf dem angrenzenden Viehmarkt arbeiteten, sowie die Markthelfer und Aufseher nachdrücklich, die toten von den lebenden Tieren räumlich zu trennen, weil sich krankmachende Stoffe aus den toten Tieren lösen und die gesunden Körper der lebenden infiltrieren könnten. Veterinäre, städtische Behörden, Schlachthaus- und Viehmarktangestellte nutzten diese zellular-humoralpathologische Deutung als Argument für die räumliche Differenzierung des Central-Schlacht- und Viehmarktes (siehe Kap. 6.1.1). Für die städtischen Behörden und Veterinäre stellte Tierschutz eine Möglichkeit dar, den Austausch von Erregern zu verhindern. So prangerte der Wiener Magistratsrat Franz Wenzel überfüllte Bahnwaggons bei Kälbertransporten an, weil infolgedessen einige Tiere erstickten, die lebenden mit krankmachenden Stoffen ansteckten und der Konsum ihres Fleisches die menschliche Gesundheit gefährde.681 679 „Die Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Furcht vor infektiösen Mikroben übertrug sich durch rhetorische Ansteckung nun auf die Masse“, bemerkt Gamper, Michael: Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge. In: Horn, Eva/Gisi, Lucas (Hg.): Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld 2009, S. 69-84, hier S. 83. Zur Vorstellung Gustave Le Bons von Mikroben als „Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren“ vgl. ebd., S. 83-84. 680 Was ist es mit den Trichinen? In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 16.9.1875, Nr. 29, S. 113-114, hier S. 113. 681 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875,
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Die allmähliche Deutungshoheit zellularpathologischer Perspektiven veränderte zudem das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit. Für die Wiener Behörden galt der Mensch als gesund, wenn weder seine körperlichen Funktionen noch seine körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt waren. Dieses Verständnis schloss eine Gleichzeitigkeit von Gesundheit und Krankheit aus. Beamte, Politiker und Ärzte bestimmten Gesundheit immer in Abgrenzung zur Krankheit. Ein solches Verständnis zielte auf die Reproduktion der Arbeitskraft und die Wiedereingliederung des Kranken in den Arbeitsprozess. Nicht das eigene Krankheits- bzw. Gesundheitserleben, sondern die Diagnose und Bescheinigung des Arztes waren für eine Krankschreibung ausschlaggebend. Die Erkrankten hatten dafür Sorge zu tragen wieder gesund zu werden. Wer innerhalb des ärztlich attestierten Zeitraums nicht genas, hatte das aus Sicht von Behördenvertretern aufgrund fehlenden Eigenengagements selbst verschuldet.682 Fleischer übernahmen das dichotome Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie bestimmten Gesundheit jedoch nicht über das Abhandensein von Krankheit, sondern über das Vorhandensein eines gesundheitlichen Wohlbefindens, das neben einer körperlichen Störungsfreiheit auch das Fehlen sozialer Abhängigkeiten sowie das Gefühl, gebraucht zu werden, umfasste.683 Wie Ärzte und städtische Behörden waren auch Fleischer der Ansicht, dass KrankS. 10-11]. In gleicher Weise argumentierte das Wiener Marktamt, wenn Tiere während des Transports verendeten, weil sie niemand getränkt oder gefüttert hatte. WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrende, 12.5.1910]; ebd. [Kurrende, 12.5.1912]; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Auszug aus den Protokollen des MarktCommissariates über die Handhabung der Viehbeschau auf den Bahnhöfen in der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1870]; Was in der Fach-Welt vorgeht. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.6.1875, Nr. 19, S. 73. 682 Dieses antithetische Verhältnis von Krankheit und Gesundheit zeigte sich deutlich im Versicherungswesen. Im Krankenversicherungsgesetz war „[a]ls Krankheit […] jener durch Gesundheitsstörung herbeigeführte Zustand einer Person anzusehen, in welchem dieselbe ärztlicher Behandlung bedarf und der Erkrankte noch nicht so weit hergestellt ist, um durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Ist aber der Krankheitsprocess beendet, so hört die Verpflichtung der Krankencasse zur Leistung einer Krankenunterstützung auf, wenn auch durch die Krankheit dauernde Erwerbsunfähigkeit oder verminderte Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Ein solcher Zustand kann nicht mehr als Krankheit bezeichnet werden.“ WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917) [Muster eines Krankenscheins der regis trierten Hilfskasse „Einigkeit“, ca. 1900]. 683 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undat.].
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heiten vorzubeugen erstrebenswerter sei, als diese erst nach ihrem Ausbruch zu behandeln.684 Im Unterschied zum biomedizinischen Verständnis, wonach Gesundheit sich über die Abwesenheit einer körperlichen Beeinträchtigung definierte, war für Fleischer das subjektive Wohlbefinden weitaus wichtiger. Fleischer fühlten sich nicht gesund, sobald sie wieder arbeiten konnten, sondern wenn sie gut arbeiteten, das heißt wenn sie ihrer Arbeit einen persönlichen Wert beimaßen, weder über- noch unterfordert waren, dabei Anerkennung sowie das Gefühl einer Kontrolle und Eigenverantwortung beim Arbeiten erfuhren. Gespräche mit Kollegen über die körperlichen Anstrengungen, über Streit mit Aufsehern und andere Strapazen beim Arbeiten ebenso wie die Möglichkeit, einem Kollegen beim Schlachten, Enthäuten oder Zerteilen von Tieren zu helfen, bezeichneten sie als entlastend. Mitunter kam es auch vor, dass Fleischer Arbeitsbelastungen oder ihre als prekär wahrgenommene geschäftliche Situation beklagten, diese zugleich aber als unveränderlich und schicksalhaft akzeptierten.685 Dem eigenen Befinden maßen Fleischer großen Wert bei.686 Die Differenz von ärztlichem Befund und subjektivem Befinden, dem Streben nach Regeneration einer körperlichen Störung einerseits und nach einem Wohlbefinden beim Arbeiten andererseits, verweist darauf, wie Fleischer und die Behörden über unterschiedliche Konzepte von Gesundheit und Krankheit ihre Beziehungen verhandelten. Indem Fleischer ein Gesundheitsverständnis vertraten, das das biomedizinische Konzept dem persönlichen Wohlbefinden unterordnete, stellten sie ärztliches Expertenwissen, das wiederum den objektiven Befund dem subjektiven Befinden überordnete, infrage. Ärzte hatten jedoch die medizinische Deutungshoheit. Das lag nicht zuletzt daran, dass die städtischen Behörden ihre Perspektive teilten und mit versorgungspolitischen Prämissen produktionsorientierte Ziele verfolgten.687 Die Behörden zielten auf die Wiedereingliederung des aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenen Kranken und die Sicherstellung der städtischen Fleischversorgung. Fleischer kritisierten, dass eine solche, andere Konzepte ausschlie684 Vgl. Die Gefahren des Fleischerberufes, S. 1. 685 Vgl. Das letzte Kapitel. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 16.2.1904, Nr. 14, S. 3; Gedruckte Impertinenzen. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 19.2.1904, Nr. 15, S. 2. 686 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undat.]. 687 Der Krankenschein, der das Kranksein beglaubigte und den Betreffenden legitimierte, vorübergehend aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden, mit dem Ziel seine Arbeitskraft wiederherzustellen, ist exemplarisch für diese Verschmelzung von medizinischem Wissen, bürokratischer Verwaltung und versorgungs- sowie produktionsorientierten Ansprüchen.
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ßende Definitionsmacht (schul-)medizinischen Wissens über Gesundheit und Krankheit das eigene Erleben ihres Körpers entwerte. Zentral dabei war, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zellularpathologische Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit humoralpathologische Perspektiven ablösten. Auch wenn beide lange Zeit nebeneinander existierten, waren immer mehr Ärzte, städtische und staatliche Behörden ebenso wie Fleischer der Auffassung, dass Krankheiten eine Folge zellulärer Veränderungen und organischer Störungen seien, die durch Mikroorganismen verursacht würden. Nur mithilfe wissenschaftlicher Experimente und unter Einsatz von neuen medizintechnischen Apparaten wie dem Mikroskop war es für Ärztinnen und Ärzte sowie Biologinnen und Biologen möglich geworden, die für das bloße menschliche Auge unsichtbaren Erreger zu identifizieren. Infolge dieser Entwicklungen verloren Fleischer die Deutungshoheit über ihren eigenen Körper. Sie misstrauten ihrem Körperempfinden, weil sie gesundheitliche Gefahren nicht lokalisieren und aufgrund der Inkubationszeit Krankheiten nicht vorhersehen konnten. Daran zeigt sich, wie durch eine neue medizinische Perspektive, die subjektives Befinden dem vermeintlich objektiven Befund von Expertinnen und Experten unterordnete, ältere Wissensbestände allmählich entwertet wurden.
6.3.2 Praktiken der Nutzbarmachung Im Zuge des im vorangegangenen Kapitel beschriebenen medizinischen Paradigmenwechsels veränderten sich auch die Praktiken der wirtschaftlichen und medizinischen Nutzung von Tieren. Fleischer und Viehhändler intensivierten aus geschäftlichem Kalkül ihre Versuche, tierische Körper, tierische Agency und tierisches Sozialverhalten zu manipulieren. Neben Bemühungen, Tiere unbeweglich zu machen, indem Händler zum Beispiel Kälber beim Transport mit Stricken fesselten (siehe Abb. 22),688 die Wagen derart überfüllten, dass die
688 So beschwerte sich im September 1876 das Wiener Marktamt beim Magistrat, „daß bei dem Transporte von Kälbern in die verschiedenen Schlachtlocalitäten, sowie auf Märkten diese Thiere mit dünnen Stricken oder Rebschienen gefesselt an den durch die Zusammenschnürung ohnehin schmerzhaften Füßen mit dem Kopf noch abwärts aufgehoben und zum Behufe des Abwägens auf den eisernen Faden einer sogenannten Schindlwage aufgehängt werden.“ WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Z. 27036, Beschwerdebrief an Wiener Magistrat, 20.9.1876]. Ebd. [Bericht der Marktdirektion über Tierquälereien beim Kälbertransport, 13.10.1874]; ebd. [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 4-5].
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Tiere sich nicht bewegen konnten689, oder sie übereinanderliegend stapelten,690 lassen sich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Praktiken beobachten, den tierischen Körper kurzfristig sowie auch nachhaltig zu verändern. Dazu zählte unter anderem das „Kälberzapfen“, bei dem Kälbern „unter dem Vorwande einer Labung, eine unverhältnismäßig große Quantität Wasser gewaltsam eingegossen wird“691. Händler verfolgten damit den Zweck, das Gewicht eines Tieres vorübergehend zu erhöhen, um beim Verkauf einen höheren Preis zu erzielen. Ähnliche Praktiken, aus finanziellen Erwägungen das Gewicht eines Tieres zu manipulieren, bestanden darin, Tiere mit Salz zu überfüttern.692 Nicht unüblich war es, wenn ein Verkäufer Rinder hungern ließ, anschließend das Futter mit Salz anreicherte oder „den Thieren die Zunge mit Salz einrieb und sie dann erbarmungslos den Qualen des durch den übermäßigen Salzgenuss auf das Höchste gesteigerten Durstes preisgab, um sie dann erst vor Marktbeginn zur Tränke zu führen“693, beklagte die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung im September 1897. Es kam auch vor, dass Viehmarkt- und Schlachthausangestellte im Auftrag von Verkäufern die Fenster in den Rinderstallungen verschlossen, so dass die Tiere dann aufgrund einer extremen Hitze mehr Wasser tranken.694 Die Direktion des Central-Schlachtund Viehmarktes St. Marx ebenso wie die Wiener Fleischer verurteilten das Übertränken der Tiere aufs Schärfste. Käufer würden dadurch betrogen und 689 Ebd. [Bericht der Marktdirektion, ad M. Z. 171778, 1874, S. 1, unpag.]. 690 Ebd. [Bürgermeister Dr. Zelinka, Kundmachung gegen Tierquälerei bei Kälbertransporten, 10.9.1862]. 691 Ebd. [Bürgermeister Felder, Kundmachung gegen Kälberzapfen, 5.2.1870]. 692 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [Marktamtsdirektion erörtert die Ursachen für das Übertränken, 21.4.1891]. 693 Überfütterung am Borstenviehmarkte. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg, 17.9.1897, Nr. 75, S. 1. 694 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [Marktamtsdirektion erörtert die Ursachen für das Übertränken, 21.4.1891]. Das Übertränken von Tieren infolge extremer Hitze war weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet. So berichtete der Amtstierarzt der Bundes-Polizeidirektion in Wien Alfred Dasch, „daß ein Wärter im Sommer die Ventilationen und Fenster immer fest verschloß, trotzdem durch das zuständige Veterinäramt die Art der Lüftung genau vorgeschrieben war. Kaum hatte der städt. Aufseher die Fenster geöffnet, so schloß sie hinter ihm der Wärter sofort wieder. Zur Anzeige gebracht, gab er an, daß ihm ein Interessent aufgetragen habe, die Fenster möglichst zu schließen, damit sich eine große Hitze im Stalle entwickle, die Rinder vor Durst mehr Wasser aufnehmen und dadurch schwerer wiegen. Der […] Befund und Gutachten ergab [sic!] den Tatb. schwerer T. qu. Bestrafung aller Beschuldigten. Betrugsanzeige!“ Dasch, Alfred: Tierschutz und Bekämpfung der Tierquälerei. Spezieller Teil. Wien 1937, S. 78-79.
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Tiere aus finanzieller Habgier gequält,695 beklagte der Wiener Bürgermeister Cajetan von Felder im Februar 1870.696
Abb. 22 : Kälberwagen Quelle: Spannagel, Rudolf: Der Centralviehmarkt und das Schlachthaus in St. Marx. In: Wiener Schriftsteller: Wienerstadt. Lebensbilder aus der Gegenwart. Prag/Wien/Leipzig 1895, S. 62-66, hier S.65. 695 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Bürgermeister Felder, Kundmachung gegen Kälberzapfen, 5.2.1870]. 696 Ein übertränktes Schwein mit einem Lebendgewicht von 65 Kilogramm, berechnete die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, ergab mitunter einen Verlust von 30 Kilogramm: „Magen sammt Inhalt […] 15 Kilo, Bandl (die übrigen Gedärme) sammt Inhalt 12 [Kilogramm, L.N.], dazu ist zu rechnen das Gewicht des Blutes, der Haare und der Gewichtsverlust bis zur Schlachtung mit […] 3 [Kilogramm, L.N.]“. Überfütterung am Borstenviehmarkte, S. 1.
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Obwohl die Direktion des Central-Schlacht- und Viehmarktes darum bemüht war, das Übertränken von Tieren zu verhindern, indem sie zum Beispiel mehr Aufseher und Stallwächter anstellte,697 die die Wasserhähne in den Stallungen kontrollierten698 oder Angestellten, die sich der Beihilfe zu solchen Vergehen schuldig gemacht hatten, mit einem Arbeitsverbot drohte,699 gelang es ihr zu keinem Zeitpunkt diese Praktiken zu unterbinden. Profitstreben und die Aussicht auf ein lukratives Geschäft überwogen die Sorge um die eigene Reputation oder die Angst vor einer Kündigung. Hinzu kam, dass Fleischer, Veterinäre und städtische Behörden ein übermäßiges Tränken der Tiere nicht immer als Tierquälerei und Betrug verurteilten. So bemerkte der Magistratsrat Franz Wenzel, dass das Kälberzapfen nicht nur abzulehnen, „sondern besonders zur heißen Jahreszeit sogar nothwendig“700 sei. Während Händler mit dem Übertränken von Tieren aus finanziellen Erwägungen darauf abzielten, dass diese vorübergehend an Gewicht zunahmen, versuchten einige Fleischer wiederum aus denselben Gründen, einen Gewichtsverlust bei Tieren herbeizuführen. So sei bekannt, berichtete der Wiener Amtstierarzt Alfred Dasch, dass ein Stallwärter im Auftrag eines Fleischers, der sich für den Kauf einiger Rinder interessierte, diesen „einen Besenstiel in den Darm steckte und durch Vor- und Zurückschieben desselben die Tiere im Darm stark reizte.“701 Der Darm der Tiere sei dadurch erheblich verletzt worden, „die Rinder krümmten aus Schmerzen den Rücken und hatten starken Kotdrang.“702 Jedoch war, wie Dasch weiter bemerkte, „[d]ie Tat […] unter einer ganz falschen Voraussetzung geschehen, da gerade durch die Schleimhaut697 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Maßnahmen gegen das Übertränken: effizientere Überwachung, 9.1.1893]; ebd. [Gutachten des Ausschusses der Wiener Fleischhauer-Genossenschaft, 12.12.1892]. 698 Ebd. [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien: versperrbare Wasserhähne gefordert, 13. und 14.12.1892]; ebd. [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Maßnahmen gegen Übertränken: Bewachung der Wasserläufe]; ebd. [Ansuchen der Marktdirektion, Absperrvorrichtungen an den Wasserausläufen und ein Wächter pro Stallung gefordert, 12.11.1892]. 699 WStLA, Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 [Kurrenden, 12.11.1913 und 15.1.1914]. 700 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 5]; ebd. [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875, S. 5]. 701 Dasch, Tierschutz, S. 78. 702 Ebd.
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verletzungen die Tiere infolge starker Schmerzen noch weniger Kot absetzen können.“703 Die Beispiele, wie Viehhändler, Markthelfer oder Fleischer den tierischen Körper in eine Zielscheibe einer wirtschaftlich motivierten Gewalt verwandelten und diesen vorübergehend oder nachhaltig veränderten, sind zahlreich. Schweinehändler brachen den Tieren Zähne aus,704 um sie jünger oder älter erscheinen zu lassen, da Fleischer anhand der Zahnstellung das Alter der Tiere bestimmen konnten.705 Ein anderes drastisches Beispiel für eine radikale Indienstnahme tierischer Körper schildert der oben zitierte Alfred Dasch. Dieser berichtet von einem Nachtwächter, der in den Stallungen ein Schwein sah, „dem die Haut schlotternd am Körper hing. Als er näher hinsah, bemerkte er einen langen Schnitt über den Rücken des Tieres. Der Täter hatte beiderseits dem lebenden Schweine große Stücke Fett herausgeschnitten.“706 Zuletzt genannte Umgangsformen, mit denen Menschen den tierischen Körper vergewaltigten, blieben die schaurige Ausnahme. Verbreiteter waren das Übertränken und Überfüttern der Tiere. Neben diesen Eingriffen in den tierischen Körper waren Fleischer, Viehhändler, Veterinäre und die städtischen Behörden darum bemüht, das Verhalten sowie das sinnliche und kommunikative Erleben der Tiere zu ihrem Vorteil zu verändern. Fleischer und Marktdiener rieben zum Beispiel Schweine mit Branntwein ein, damit diese sich nicht untereinander bissen.707 Blenden, die Begleiter Rindern während des Transports in offenen Viehwaggons aufsetzten oder Hauben, die Markthelfer den Tieren vor dem Verkauf auf dem Viehmarkt über den Kopf stülpten, um ihnen die Sicht zu nehmen, sollten die Tiere beruhigen und in eine körperliche Starre versetzen (siehe Abb. 23). Dadurch konnten Fleischer, Händler und das Viehmarktpersonal leichter ihrer Arbeit nachgehen und Interessenten die Tiere in Ruhe begutachten, ohne sich dabei einem Risiko auszusetzen, durch eine unvorhergesehene Bewegung eines Rindes verletzt zu werden. Die unterschiedlichen Gewaltformen gegenüber Rindern, Kälbern und Schweinen stellten Formen einer kulturellen Markierung dar, mittels derer Menschen Tiere in Wertgüter verwandelten Dabei war der Umgang mit Tieren 703 Ebd. 704 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion A 2/1 58 V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Instruktion für die Markt-Aufsicht, 20.12.1881]. 705 Vgl. Schlachtung unreifer Kälber. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 15.5.1875, Nr. 14, S. 53; Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 32. 706 Dasch, Tierschutz, S. 79. 707 Vgl. Fach-Notizen. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg. 23.7.1875, Nr. 22, S. 86.
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überaus ambivalent.708 Neben den hier genannten Praktiken einer körperverändernden Nutzungsgewalt versuchten Fleischer, Viehhändler und die städtischen Behörden zugleich, Tiere körperlich zu schonen und Krankheiten vorzubeugen. Händler behandelten Kühe mit Dämpfen, um Euterentzündungen zu verhindern, verabreichten Rindern Tinkturen gegen ein Aufblähen der Mägen oder diätetische Futterergänzungsmittel, „bei Mangel an Fresslust [und] schlechter Verdauung“709. Sie wuschen und massierten Kühe mit Ölen und speziellen „Waschwassern“ wie „Hotter‘s Trainingsfluid“, das „bei allen Folgen von Ueberanstrengungen, Lahmheit und Steifheit mit überraschendem Erfolge angewandt“710 worden sei, wie der Hersteller versprach. Und schließlich informierten Fleischer einander in Fleischerzeitungen über unterschiedliche Hausmittel, die die Abwehrkräfte der Tiere stärken und den Genesungsprozess beschleunigen sollten.711 Diesen unterschiedlichen Umgangsformen war das Bestreben gemeinsam, den großstädtischen Fleischbedarf zu decken, das Arbeiten produktiv gestalten und dabei noch ein gutes Geschäft machen zu können. Die städtischen Behörden sowie auch Fleischer bezeichneten Eingriffe in den tierischen Körper dann als legitim, solange sie der Fleischversorgung und Arbeitsproduktivität nutzten. Genauso ambivalent wie der Umgang des Menschen mit Tieren gestaltete sich auch seine Naturvorstellung im Kontext der Fleischversorgung. Fleischer bedienten sich naturästhetischer Inszenierungen, um ihre maschinell hergestellte und chemisch manipulierte Fleischware zu bewerben.712 Natur stellte für sie eine außerhalb der Stadt gelegene, von ihr einzuverleibende und jederzeit
708 Vgl. Münch, Paul: Freunde und Feinde. Tiere und Menschen in der Geschichte. In: ZDF-Nachtstudio, Mensch und Tier a.a.O., S. 19-36. 709 Kwizdas Korneuburger Viehnähr-Pulver [Werbung]. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, VIII. Jg., 17.1.1900, Nr. 3, S. 8. 710 Hotter‘s Trainingsfluid [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, VIII. Jg., 21.2.1900, Nr. 8, S. 7. Vgl. Kwizda‘s Restitutionsfluid [Werbung]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VIII. Jg., 21.2.1900, Nr. 8, S. 8. 711 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 43 [12.2.1906]; Gegen Euterentzündung. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 3.2.1875, Nr. 2, S. 7; Gegen das Aufblähen des Rindviehs. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 1.4.1875, Nr. 9, S. 35. 712 Vgl. Giedion, Mechanisierung und Tod, S. 271, Abb. 124. Auch heute stellt Naturbezug eine zentrale Werbestrategie in der Nahrungsmittelindustrie dar. Vgl. Yarwood, Richard/Evans, Nick: New Places for „Old Spots“: The Changing Geographies of Domestic Livestock Animals. In: Society and Animals 6, 1998, 2, S. 137-165, hier S. 152-153 und 157.
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verfügbare Ressource dar.713 Die Verfügbarmachung von Naturrohstoffen für den städtischen Bedarf fand im Schlachthof St. Marx statt. Hier wurden Tiere als organische Ressourcen für die Versorgung der habsburgischen Metropole nutzbar gemacht; hier in St. Marx sorgte die Stadt für ihr Dasein vor.714
Abb. 23 : Stiere auf dem Schlachthof mit verbundenen Augen, undat. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Inventarnummer FO22771.
713 In westlichen Narrativen werden Tiere der Natur zugeordnet, Menschen hingegen gelten als deren Kontrolleure. Vgl. Ingold, From Trust to Domination, S. 4. Das Tier als Naturwesen gilt als das schlechthin Andere des Menschen. Vgl. Köstlin, Konrad: Kultur als Natur – des Menschen. In: Brednich, Rolf Wilhelm/Schneider, Annette/ Werner, Ute (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle vom 27.9 bis 1.10.1999. Münster [u.a.] 2001, S. 1-10, hier S. 4-5. Natur ist immer etwas, was der Mensch zu nutzen versucht, um, wie der Europäische Ethnologe Siegfried Becker schreibt, „in der Auseinandersetzung mit dem Natürlichen für sich das beste herauszuholen.“ Becker, Siegfried: Die Gestaltung der Kreatur. Tierzucht als Kulturleistung? In: Brednich/Schneider/Werner, Natur – Kultur a.a.O., S. 205-212, hier S. 212. 714 Vgl. Laak, „Just in Time“, S. 14. Der Stadthistoriker Simon Gunn und der Geograf Alastair Owens sprechen in diesem Zusammenhang von „processes of transformation which radically rework nature in the service of the city“. Gunn/Owens, Nature, Technology and the Modern City, S. 491.
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Für die Wiener Behörden, deren zentrale Aufgabe die Deckung des städtischen Fleischbedarfs war, bildeten Tiere ein Scharnier zwischen der bedrohlichen und lebenswichtigen Dimension von Natur. Als organische Ressourcen waren sie unentbehrlich und zugleich aufgrund ihrer Unberechenbarkeit mit einem gesundheitlichen Risiko für den Menschen behaftet. Welche Qualitäten, Potentiale oder Gefahren Fleischer sowie die städtischen Behörden mit Fleisch assoziierten, hing ihnen zufolge von dem vorangegangenen Umgang mit Tieren ab. Fleischer, Veterinäre und Kommunalbeamte betrachteten die körperliche Unversehrtheit des Tieres als Voraussetzung für die organische Integrität und Qualität des Fleisches.715 Daher waren sie bestrebt, diese Unversehrtheit, die Profitstreben und Rücksichtlosigkeit gefährdeten, bis zur Betäubung und Tötung eines Tieres zu garantieren. Kritik an Tierquälerei ist im Rahmen einer solchen Konzeption von Tieren als Ressourcen zu verorten. Fleischer, Ärzte und Kommunalpolitiker waren der Ansicht, dass das Risiko für den Menschen zu erkranken steige, wenn dieser das Fleisch gequälter Tiere konsumiere. Daher sollte der tierische Körper bis zur Schlachtung unversehrt bleiben.716 715 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Kainz, Die Anwendung des Hakel‘schen Schußapparates zum Rinderschlachten, 2.7.1896, S. 3]; Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 35. 716 Während des Transports mit der Eisenbahn sollten zum Beispiel Kälber nach Möglichkeit in den Waggons nicht gefesselt sein. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Bericht der Marktdirektion über Tierquälereien beim Kälbertransport, 13.10.1874, S. 3]; ebd. [Äußerung der Markt-Direktion, Kälbertransport, 4.2.1875, S. 1, unpag.]. Dies erforderte eine besondere Konstruktion der Wagen. Die Marktamtsdirektion forderte die Eisenbahngesellschaften dazu auf, „den Thieren einen Stützpunkt während der Fahrt [zu] gewähren und sie vor dem Ausgleiten und Stürzen [zu] schützen.“ Ebd. [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 8]. Das Wiener Marktamt beschwerte sich wiederholt bei Viehhändlern, „daß Thiere, welche in den Waggons niederstürzen oder sich legen wegen mangels an Raum hindern, daß beim Ausladen die ersten Stücke mit Gewalt herausgezogen werden müssen.“ Ebd. [Bericht der Marktdirektion, ad M. Z. 171778, 1874, S. 2]. Hinzu kam, dass Tiere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich in geschlossenen Waggons transportiert wurden, um dadurch vor Wind, Regen oder Hitze geschützt zu sein. Auch geringfügige Veränderungen genügten, um „die Strapazen des oft mehrere Tage dauernden Transports, namentlich die stoppende und rüttelnde Bewegung des Waggons einander gedrängt stehend, auszuhalten.“ Ebd. [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 9]. Dazu zählten verstärkte Kontrollen der Tiere, ihr regelmäßiges Tränken während des Transports und an Bahnstationen, Bemühungen, Viehwaggons nicht zu überladen, sie mit Stroh auszulegen, damit die Tiere bequemer liegen konnten sowie bestimmte Formen, die Tiere in den Waggons derart zu plat-
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Die Forderung Tiere zu schonen und das Ideal einer extensiven Landwirtschaft717 verweisen nicht nur auf die Apotheose eines Naturideals im Rahmen werbestrategischer Inszenierungen, sondern immer auch auf die Vorstellung der historischen Akteure von der pathogenen Stadt, die einerseits die Natur braucht und durch deren Einverleibung sich der Mensch andererseits zugleich einem gesundheitlichen Risiko aussetzt. Diese spannungsgeladene Vorstellung von Stadt und Natur kulminierte in der Konzeption vom Tier als einer von der Stadt einverleibten organischen Ressource.718 Tiere im Schlachthof stellten Mischwesen dar, die bestimmte Vorstellungen sowohl von Stadt als auch von Natur verkörperten. Tiere zu nutzen und Gefahren zu vermeiden, erforderte spezifische Praktiken, ein bestimmtes Wissen über den tierischen Körper zu generieren. Fleischer, Viehhändler oder Tierärzte schlossen dabei entweder von äußeren Merkmalen eines Tieres auf dessen innere Qualitäten, oder sie eigneten sich ein Wissen an, indem sie den tierischen Körper öffneten. Dies allerdings war nur nach einer Schlachtung möglich, so dass Praktiken am lebenden Tier, mit denen Kenntnisse über die Qualität dessen Fleisches gewonnen werden konnten, vor allem für Käufer, namentlich Fleischer, von Bedeutung waren. So konnte zum Beispiel ein erfahrener Fleischer bei einem Kalb anhand der Zahnstellung, der Anzahl von Zähnen,719 der Farbe des Zahnfleisches720 oder der Größe und Gestalt der Hörner721 dessen Alter bestimmen. Tierärzte sowie geübte Fleischer waren zudem imstande, durch das Beobachten einer Bewegung oder des Aussehens,722 zieren, dass diese von Verletzungen verschont blieben. Ebd. [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875, S. 9-10]; Ebd. [Markt-Commissariats-Äußerung bezüglich Tiertransporten, 3.8.1871, S. 2, unpag.]; ebd. [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, S. 8]; ebd. [Bürgermeister Dr. Zelinka, Kundmachung gegen Tierquälerei bei Kälbertransporten, 10.9.1862]. 717 Vgl. Verwilderte Rinder. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 13.5.1898, Nr. 38, S. 5. 718 Zur Vergesellschaftung von Natur im Schlachthof vgl. Nieradzik, Necropolis II, S. 22-23. 719 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 15 und 33-34. 720 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Anhang zum § 22 des allgemeinen Dienstunterrichtes (Instruktion) für die Marktaufsicht, 20.12.1881]. 721 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 32-33. 722 Vgl. ebd., S. 77-79. So beschreibt zum Beispiel der Veterinärmediziner Anton Barański das Verhalten eines gesunden Rindes wie folgt: „Liegt das Thier [Rind, L.N.], so steht es bei Annäherung fremder Personen und beim Anrufen gewöhnlich auf, wobei es sich zuerst mit den Hinterfüssen erhebt; ist es aufgestanden, so streckt es sich meistens, schüttelt die Haut und schaut sich um. Es ist munter und auf die
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durch das Hören des Herzschlags, das Spüren der Atmung und Riechen von Tieren Krankheiten zu erkennen.723 Vor allem das Befühlen des tierischen Körpers mit bestimmten Griffen garantierte Fleischern und Tierärzten eine sichere Diagnose über den gesundheitlichen Zustand eines Tieres sowie über dessen Fett- und Fleischanteil.724 Neben diesen haptischen, visuellen und olfaktorischen Praktiken verschafften sich Fleischer sowie Veterinäre durch das Zerteilen des Tierkörpers einen Überblick und Eindruck über dessen Gesundheitszustand. Das Öffnen des Körpers machte das von diesem umhüllte und verborgene Fleisch für das menschliche Auge sichtbar. Zugleich stellten das Aufschneiden, Ausweiden und Zerteilen eines Tieres kritische Arbeitsschritte dar.725 Der Preis des in den Tierkörper eindringenden und sich des Tieres bemächtigenden Blickes war das Risiko Krankheitserreger freizulassen.726 Diesen kritischen Moment zwischen Nutzen und Schaden zeigte insbesondere die Furcht von Fleischern Umgebung aufmerksam, bewegt die Ohren und den Schweif. Junge Thiere sind lebhafter und munterer als alte oder abgetriebene und hochgemästete Stücke. Im Stalle schauen sich die Thiere nach Futter um, […] fressen rasch und ununterbrochen das vorgelegte Futter. Das Wasser trinken sie in langen Zügen. Wenn die Thiere gefressen und getrunken haben, legen sie sich nieder, und zwar auf die Unterbrust und Bauch mit unter die Brust geschlagenen Füssen und fangen an wiederzukauen.“ Ebd., S. 78-79. Vgl. auch: ebd., S. 83. „Kranke Thiere stehen mit gesenktem Kopfe, traurig, unaufmerksam, matt, schläfrig, unregelmässig oder sie liegen und sind zum Aufstehen gar nicht zu bewegen.“ Ebd., S. 82. 723 Vgl. ebd., S. 79. „Das Thier fiebert, die Zahl der Pulsschläge und Athemzüge ist bedeutend vermehrt. Die Percussion und Auskultation der Brustorgane kann […] verschiedene Veränderungen nachweisen. Die Thiere husten. Ist der Husten schmerzhaft, so krümmen sie dabei den Rücken nach oben; der Hinterleib ist aufgetrieben oder eingefallen.“ Ebd., S. 83. 724 Dabei bedienten sich Fleischer „[z]ur Feststellung des Fettgehaltes […] der sogenannten Griffe, die sie in Ober- und Untergriffe eintheilen. Zu den Obergriffen zählen die am Sitzbeine, an den Hüften, an der Wölbung der ersten falschen Rippen, an der Gräte des Schulterblattes, am Widerrist und am Rücken; zu den Untergriffen jene am Bug, an der Flanke, am Hodensack und bei der Kuh am sogenannten Voreuter. Sind alle diese Stellen reichlich mit Fett versehen, kann man mit Recht auf einen guten Mastzustand und grösseres Körpergewicht schliessen.“ Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 39-40. Vgl. Kardosi, Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen, S. 16, Fußnote 2. 725 Wie gezeigt wurde, konzentrierten sich die Kontrollen insbesondere auf die Schlachtung. WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher [76854/1876, Schlachthausdirektion St. Marx, 1876]. 726 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Entwurf einer Vieh- und Fleischbeschau-Ordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, 1900].
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und Tierärzten vor austretenden Körperflüssigkeiten beim lebenden Tier an. Zähe, dickflüssige, übel riechende und im Allgemeinen Ekel erregende Substanzen galten für sie als Indizien für Krankheiten.727 Im Umkehrschluss war das Fleisch solcher Tiere für den menschlichen Konsum unbedenklich, wenn es „nicht gallertig, sulzähnlich, an der Oberfläche erweicht (schlitzig) oder stark durch-feuchtet“728 war, bemerkte das Wiener Marktamt. Dergleichen sollte „das Bindegewebe unter der Haut und zwischen den Muskeln […] nicht schleimig und fettarm, sondern etwas dichter und von einigem nicht krümlichen, sondern in den Fettzellen abgelagerten Fette durchsetzt sein“729. Visuelle und olfaktorische Sinneseindrücke evozierten folglich die Angst vor Krankheitserregern. Die Fleischqualität hing vom Alter und Geschlecht des Tieres sowie von dem Umgang des Menschen mit ihm vor und während der Schlachtung ab. Fleisch von abgemagerten, trächtigen, sowohl zu jungen als auch zu alten Tieren bezeichneten Fleischer und Veterinäre als unschmackhaft und hielten dieses für die menschliche Verdauung für ungeeignet.730 Vor der Schlachtung sollten die Tiere 12 bis 20 Stunden ruhen, weil bei zu starken Bewegungen die Muskeln übermäßig viel Milchsäure produzierten, was die Haltbarkeit des Fleisches reduzierte.731 Hinzu kam, dass Viehhändler männliche Tiere, bevor sie geschlechtsreif wurden, aufgrund geschmacklicher Präferenzen kastrierten.732 Es sei an dieser Stelle noch einmal auf die Naturvorstellung der historischen Akteure im Rahmen der Fleischproduktion verwiesen. Das Ideal vom bäuer727 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 78-83. 728 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Anhang zum § 22 des allgemeinen Dienstunterrichtes (Instruktion) für die Marktaufsicht, 20.12.1881]. 729 Ebd. 730 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 30-31; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Entwurf einer Vieh- und Fleischbeschau-Ordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. 1900, § 6 a)–d)]. 731 Vgl. Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 35. 732 Denn „Thiere, die in der Jugend castrirt wurden, haben ein zartes, fettreiches, saftiges und schmackhaftes Fleisch, zugleich besitzt das Fleisch verschnittener Thiere niemals jenen unangenehmen Geruch, welcher bei nicht castrirten, z. B. bei Ebern und Böcken, sehr oft wahrgenommen wird. Ja, es sind Fälle bekannt, wo das gekochte Fleisch von Klopfschweinen (d. i. solchen, bei welchen ein Hode in der Bauchhöhle oder im Leistencanal zurückgeblieben ist), während der Zeit ihrer geschlechtlichen Erregbarkeit getödtet wurden, so abscheulich stank, dass es Niemand in der Küche aushalten konnte. Am meisten stinkt das Fleisch von den Füssen und vom Kopf solcher Schweine etwa auf die Art, wie die Füsse mancher Leute stinken.“ Ebd., S. 34.
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lichen Kleinbetrieb als tierfreundlichere Alternative zum rationalisierten Unternehmen und vom Rind als umpflegtes und gehegtes Haustier stellte zwar eine werbestrategische Inszenierung für Fleischwaren dar. Zugleich implizierte diese Vorstellung den Wunsch und die Forderung, Tiere nicht zu misshandeln, sondern zu schonen. Denn nur der unversehrte und immer kontrollierte tierische Körper könne für den Menschen nutzbar gemacht werden, argumentierten Behörden, Ärzte und Fleischer.733 Diesem Zweck dienten sämtliche Praktiken, Tiere zu beobachten, zu untersuchen oder zu vermessen.734 Von Fleischern und Ärzten verlangten die unterschiedlichen Umgangsformen mit Tieren ein genaues anatomisches Wissen über den Tierkörper. Das Nutzen von Tieren als organische Ressourcen beschränkte sich nicht nur auf die Fleischproduktion, sondern umfasste auch Praktiken, mit denen Menschen tierische Körper für medizinische und therapeutische Zwecke brauchbar machten. Im Folgenden frage ich am Beispiel der sogenannten animalischen Bäder, die der Wiener Arzt Sigismund Eckstein im Schlachthaus Gumpendorf Ende der 1850er Jahre errichtet hatte, inwiefern dieser von der Heilwirkung tierischer Körperstoffe überzeugt war und zeige, dass seine Behandlungsmethode eine Umbruchszeit des medizinischen Paradigmas im 19. Jahrhundert markiert. In einem Exkurs lege ich dar, inwiefern im Schlachthof übergeord nete gesellschaftliche Phänomene und Prozesse greifbar werden.
Exkurs: Animalische Bäder als Marker des medizinischen Paradigmenwandels Animalische bzw. Tier-Bäder bezeichneten eine humanmedizinische Behandlungsmethode, bei der Patientinnen und Patienten einzelne Glieder oder ihren ganzen Körper in Wannen tauchten, die mit Blut, Eingeweiden und dem Mageninhalt frisch geschlachteter Rinder gefüllt waren.735 Tier-Bäder sind bei733 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau [Marktamtsäußerung zur Viehbeschau, 20.8.1901]; ebd. [Marktsamtsdirektor zur Fleischbeschau, 8.8.1901, 12 S.]; ebd. [Kundmachung, 10.12.1891]. 734 Vgl. Um das Gewicht von Mastvieh durch Messen zu berechnen. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 31.12.1875, Nr. 40, S. 157. 735 Vgl. Brockhaus‘ Konversationslexikon, Bd. 1, 14. Aufl. Berlin/Wien 1894–1896, S. 643-644, s.v. Animalische Bäder; Schwarz, Oscar: Bau, Einrichtung und Betrieb von öffentlichen Schlachthöfen. Berlin 1894, S. 104-105. Eckstein schwieg über die Namen seiner Patientinnen und Patienten. Ebenso fehlen Selbstzeugnisse, autobiografische Aufzeichnungen oder andere Quellen mit selbstreferentiellen Bezügen
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spielhaft für die Vorstellung einer den menschlichen Körper und die menschliche Gesundheit stärkenden Wirkung tierischer Stoffe im Kontext eines spezifischen medizinischen und heiltherapeutischen Diskurses um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Am 4. August 1856 erteilte die k. k. niederösterreichische Statthalterei nach einem vorangegangenen Gutachten der medizinischen Fakultät der Universität Wien dem Arzt Sigismund Eckstein die Erlaubnis, die Bäder im Schlachthaus Gumpendorf zu errichten. Dieser eröffnete dort am 11. Januar 1859 „eine Heilanstalt für animalische Bäder (Wammenbäder)“736, nachdem er nach eigenen Angaben auf diese Weise bereits seit zwei Jahren Patientinnen und Patienten erfolgreich behandelt hatte.737 Bemerkenswert ist, dass Eckstein versuchte, die These von animalischen fluidalen Kräften, auf der die heilende Wirkung von Tierbädern beruhe, innerhalb des damaligen medizinischen Diskurses zu verorten und mithilfe von empirischen Daten als wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zu etablieren. Die Heilanstalt bestand aus 14 Badezimmern mit jeweils „zwei Metallwannen, eine für das Bademateriale, welche während des Badegebrauches mittels Holzdeckel bis zum Halse schliesst, wodurch jeder Luftzutritt verhindert wird und das Materiale während der einstündigen Badezeit die ursprüngliche Temperatur von 27–28° R. [1 Réaumur: 0,8 Grad Celsius, L.N.] beibehält.“738 Nach der Behandlung wuschen die Patientinnen und Patienten in der zweiten Wanne das Rinderblut von ihren Körpern ab. Außerdem existierten noch zwei Gemeinschaftsräume, jeweils für Männer und Frauen, „in welchen mehrere Personen zugleich Localbäder einzelner Körpertheile nehmen können.“739 Neben seinem Bestreben, animalische Bäder als medizinisch relevante und von der Fachwelt akzeptierte Behandlungsmethode zu etablieren, verfolgte Eckstein damit auch sozialpolitische und volkspädagogische Ziele. In Argumentation der Hygieniker des 19. Jahrhunderts sah er in den Tierbädern ein von Personen, die sich einer solchen Behandlung unterzogen. Daher stütze ich meine nachstehenden Ausführungen auf den Wiener Arzt. 736 Eckstein, Sigismund: Bericht über die Heilresultate der animalischen Heilbäder im Gumpendorfer Schlachthause in Wien. In: Oesterreichische Zeitschrift für practische Heilkunde, hrsg. von dem Doctoren-Collegium der medicinischen Facultät in Wien, VI. Jg., 7.9.1860, Nr. 36, Sp. 577-583, hier Sp. 577. 737 Vgl. ebd.; Nieradzik, Körperregime Schlachthof, S. 301-327. 738 Eckstein, Bericht über die Heilresultate, Sp. 578. Darüber hinaus verfügten einige dieser Wannen über „eine bis zum Boden derselben reichende Kupferröhre, die durch das Oeffnen eines Hahnes nach Erfordernis Dampf zuströmen lässt, um dem Bademateriale eine höhere Temperatur verleihen zu können, wenn es dem Heilzwecke förderlich ist.“ Ebd. 739 Ebd.
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„Heilmittel […] und Volksmittel […] im Interesse […] der leidenden Mensch heit“740. Diese richteten sich vorwiegend an ärmere Bevölkerungsschichten sowie „das k. k. Militär vom Unteroffizier abwärts“741. Mit deren Institutionalisierung im Schlachthaus Gumpendorf intendierte Eckstein „nicht nur ein Heilinstitut, sondern eine Humanitätsanstalt im engeren Sinne des Wortes gegründet zu haben, die Jedermann die Aufnahme ermöglicht und der erspriesslichen Wirkung dieses Heilmittels theilhaftig werden lässt“742. Tierbäder sind beispielhaft für eine effiziente Verwertung von tierischen Körpern, deren Voraussetzung die räumliche Konzentration der Schlachtungen und die Verfügbarmachung der tierischen Nebenprodukte bildete. Die größten Heilwirkungen erzielten die Bäder, so Eckstein, wenn „[d]as Bademateriale“ […] aus dem Inhalte des ersten Magens von frisch geschlachteten Rindern im lebenswarmen Zustande“743 bestand. Aus diesem Grund errichtete er seine Heilanstalt in einem Schlachthaus, und daher fanden die Badestunden von 11 bis 16 Uhr statt, in der Zeit, in der die Tiere geschlachtet wurden.744 Medizinhistorisch im Kontext des animalischen Magnetismus Franz Anton Mesmers zu verorten, wonach Krankheiten durch eine Störung fluidaler Kräfte verursacht würden,745 sahen Befürworter von Tierbädern die Heilung unterschiedlicher Krankheiten in der Übertragung animalischer Wärme und der damit verbundenen Lebensenergie auf den menschlichen Körper.746 Ecksteins Tierbäder markieren eine medizinische Umbruchzeit. Während der Arzt noch 1860 die wissenschaftliche Bedeutung von animalischen Bädern hervorhob und seine Behandlungen mit Verweis auf andere Kollegen legitimierte, die seine Resultate bestätigten – ohne sie allerdings beim Namen zu nennen –,747 740 Ebd., Sp. 579. 741 Ebd., Sp. 578. 742 Ebd. 743 Ebd., Sp. 577. 744 Vgl. ebd., Sp. 578. 745 Krankheiten seien das „Ergebnis eines unnatürlichen ‚Widerstandes‘ in Nervensystem und Muskulatur, wodurch die Säftezirkulation zum Stocken komme und der Organismus sich krankhaft verfestige“. Barsch/Hejl, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes, S. 20. 746 Vgl. Brockhaus‘ Konversationslexikon, S. 644. Zu Mesmers Begriff der „tierischen Elektrizität“ und des „tierischen Magnetismus“ sowie zum Mesmerismus als Modetherapie vgl. Barsch/Hejl, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes, S. 20-22; Darnton, Robert: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich. München/Wien 1983, S. 13-50; Gruber, Jutta: Angst und Faszination: Eine Neubewertung des animalischen Magnetismus Franz Anton Mesmers. Berlin 2011, S. 46-55. 747 „Mehrere Aerzte und vielbeschäftigte Praktiker, die meine Anstalt mit gerechtfertigtem Skepticismus besuchten, sind, nachdem sie von den Heilresultaten daselbst
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urteilte Brockhaus‘ Konversationslexikon 1894, „daß die tierischen Bäder keinen Vorzug vor andersartiger passender Anwendung der feuchten Wärme haben. Ihre Anwendung ist daher nur noch eine sehr beschränkte.“748 Auch der Sanitätstierarzt und Direktor des städtischen Schlachthofes in Stolp (heute Słupsk) Oscar Schwarz, dessen 1894 erschienene Schrift „Bau, Einrichtung und Betrieb von öffentlichen Schlachthöfen“ im deutschsprachigen Raum breit rezipiert wurde, sprach von geringem therapeutischem Nutzen [der] sog. Thier- oder animalischen Bäder […]. Thatsächlich wirken die Bäder nicht anders als jede feuchte Wärme, und ist ihnen in diesem Sinne auch eine gewisse Einwirkung bei rheumatischen Leiden, Gicht u. s. w. nicht abzusprechen.749
Auch wenn die meisten Medizinerinnen und Mediziner spätestens seit den 1860er Jahren von der These animalischer Kräfte abgerückt waren, blieb das Prinzip der Wärmeübertragung auf Körper nach wie vor eine gängige und anerkannte Behandlungsmethode von Krankheiten bei Menschen und Tieren.750 Bereits 1866, nur sieben Jahre nachdem Eckstein in Wien die ersten Tierbäder eröffnet hatte, urteilte der Architekt und Schlachthausbauexperte Julius Hennicke: „Die animalischen Bäder, von Dr. Eckstein eingerichtet, erfreuten sich früher grossen Erfolgs, sind jedoch seit einiger Zeit im Rückgange und befinden sich jetzt in ziemlich vernachlässigtem Zustande.“751 Eckstein behandelte nach eigenen Angaben von Mitte Januar bis Ende Dezember 1859 363 Personen mit seinen Tierbädern im Gumpendorfer Schlachthaus. Seine zentrale Forschungsfrage war die nach der spezifischen Wirkung animalischer Bäder. Eckstein interessierte, inwiefern Tierbäder sich von anderen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel Thermen oder mineralischen Bädern unterschieden und für die Behandlung welcher Krankheiten sie geeignet waren. Seine Patientinnen und Patienten hatten unterschiedliche gesundheitliche Beschwerden. Dazu zählten Erkrankungen des Bewegungsapparats sowie chronische Leiden (Rachitis, Lähmungen, Entzündungen der Hüftgelenke, Hautausschläge und epileptische Anfälle).752 Den Behandlungserfolg führte Eckstein auf physikalische, chemische und vor allem die „animalischen [Fac-
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sich überzeugt hatten, die wärmsten Panegyriker des Mittels und eifrige Beförderer der Anstalt geworden.“ Eckstein, Bericht über die Heilresultate, Sp. 583. Brockhaus‘ Konversationslexikon, S. 644. Schwarz, Bau, Einrichtung und Betrieb von öffentlichen Schlachthöfen, S. 104. Vgl. Gegen Euterentzündung, S. 7. Hennicke, Bericht über Schlachthäuser, S. 23. Vgl. Eckstein, Bericht über die Heilresultate, Sp. 579-582.
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toren]“753 zurück. Ähnlich wie bei Thermal- und Moorbädern wirkten sich eine konstante Temperatur von circa 28 Grad Celsius heilsam aus. Hinzu kamen [d]ie Säuren des Magens mit den Extractivstoffen und Salzen der vom Thiere genossenen Kräuter und Gräser, welche Vegetabilien bei ihrem Zerfallen und Auflösen durch die sich entwickelnden Gase belebend und anregend auf den Organismus wirken.754
Ausschlaggebend seien aber „der Magensaft, der Speichel, Magenschleim“755, weil diese Bestandteile pflanzlicher Nahrungsmittel enthielten, die – dem Rindermagen während des Verdauungsprozesses entnommen – elektrische Ströme freisetzten, von deren heilender Wirkung Eckstein überzeugt war.756 Tierbäder verstand Eckstein nicht ausschließlich als eine Methode zur Behandlung von Krankheiten im Rahmen des biomedizinischen Modells. Vielmehr verband er damit salutogenetische757 Ziele: Neben dem ärztlichen Befund 753 Ebd. 754 Ebd., Sp. 583. 755 Ebd. 756 Eckstein vermutete, dass „thierische Secrete homogen dem thierischen Organismus vielleicht auch schneller resorbirt werden, abgesehen von dem Gährungsprocesse, der hier stattfindet und den elektrischen Verhältnissen der einzelnen Molecule während dieses Processes, die die Wirkung noch bethätigen. Ich glaube die Erklärung durch elektrische Verhältnisse ist nicht zu gewagt, als es bekannt ist, dass Vegetabilien bei dem Uebergange von einer Metamorphose in die andere, wie es beim Verdauungsprocesse stattfindet, gerade in dem Uebergangsmomente ihre Wirkung am meisten erschliessen, was doch veränderte Molecularverhältnisse bedingt.“ Ebd. Die Vorstellung, Tiere setzten elektrische Ströme frei, zeigte sich auch in einem anderen Kontext. Nachdem Besucherinnen und Besucher des Wiener Naschmarktes sich beim Marktamt darüber beschwert hatten, dass „Fische mangelhaft oder gar nicht abgeschlagen schon noch im lebenden Zustande abgeschuppt und geöffnet wurden“, bemerkte die Behörde: „Bei den oftmaligen […] Kontrollen und Nachproben wurde kein einziger derartiger Fall konstatiert! Die Beschwerde läßt sich in dieser Hinsicht nur damit erklären, daß man die elektristischen Zuckungen bei Fischen noch einige Zeit nach der Tötung und totalen Zerteilung des Fleisches bemerken kann.“ WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Marktamt, Fischquälereien am Naschmarkt, 11.1.1913]. 757 Im Unterschied zu pathogenetischen Ansätzen, die die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten untersuchen, zielen salutogenetische Perspektiven auf die Genese und Bewahrung von Gesundheit. Vgl. Antonovsky, Aaron: Health, Stress and Coping. San Francisco 1979; Franke, Alexa: Zum Stand der konzeptionellen und empirischen Entwicklung des Salutogenesekonzepts. In: Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997, S. 169-190.
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über den gesundheitlichen Zustand von Patientinnen und Patienten waren für ihn deren eigene Wahrnehmungen ausschlaggebend. Diese Methode sei auf die „Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten“ ausgerichtet, betonte Eckstein und konstatierte bei ihnen eine Verbesserung des subjektiven Befindens.758 Der Versuch, die Distanz zwischen Befund und Befinden zu verringern, mündete in einem spezifischen Verständnis von animalischen Bädern, die Eckstein als paradigmatisches Beispiel für einen Wandel im Umgang mit Körpern dachte: Tierbäder stellten eine demokratisierte und säkularisierte heilmedizinische und therapeutische Praxis dar, die der schulmedizinisch legitimierten Notwendigkeit chirurgischer Eingriffe sanftere Behandlungsmethoden entgegensetzte. Aufgrund des medizinischen Paradigmenwechsels (siehe Kap. 6.3.1) ging der Glaube an die heilende Wirkung von animalischen Bädern verloren. Die Verwissenschaftlichung der Medizin und die Rationalisierung der Fleischproduktion entzauberten Tiere,759 die für Veterinäre, Fleischer und die städtischen Behörden einen organischen Rohstoff zur Deckung des Fleischbedarfs und zur Herstellung von Gebrauchsgütern wie Kerzen, Margarine oder Leder darstellten. Der Soziologe Rainer E. Wiedemann spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozess der „Vereindeutigung“760 und „Ambivalenzauslöschung“761. Damit bezeichnet er das menschliche „Bemühen, dem Tier in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sinnbereichen möglichst ‚eindeutige‘ Bedeutungen zuzuweisen“762. 758 Vgl. Eckstein, Bericht über die Heilresultate, Sp. 582. 759 „Die Moderne ‚entzaubert‘ auch die Tierwelt, die nun nach der subjektiven oder objektiven Seite hin ‚verdiesseitigt‘ wird.“ Wiedenmann, Tierbilder im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung, S. 203. Diese Entzauberung und Verdiesseitigung ging mit einer Kategorisierung und Klassifizierung der Natur einher: „[M]an zergliedert Natur in klar definierte, eindeutige Komponenten, angespornt von der fortschrittsfrohen Verheißung, sie damit besser regulieren und reproduzieren zu können.“ Ebd., S. 201. 760 Ebd., S. 189. 761 Ebd., S. 202. 762 Ebd., S. 189. Die Rationalisierung der Schlachtung, Fleischproduktion und Verwertung von Tierkörpern, die, wie Wiedenmann schreibt, das Tier entzauberte, fällt zeitlich mit den Anfängen medizinischer Tierversuche zusammen. Für deren Wegbereiter, den Physiologen Claude Bernard, der forderte, medizinisches Wissen nur auf Grundlage von Tierexperimenten und Vivisektionen zu gewinnen, stellten Tiere organische Maschinen dar: „[A] living organism is nothing but a wonderful machine endowed with the most marvellous properties and set going by means of the most complex and delicate mechanism.“ Bernard, Claude: An Introduction to the Study of Experimental Medicine. New York 1957 [Original: Introduction à l’étude de la médicine experimentale. Paris 1865], S. 63. Die Vivisektion bezeichnete er als „an analytic method of investigation of the living“ (ebd., S. 104) und forderte: „[T]o analyze the phenomena of life, we must necessarily penetrate into living
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Menschen verwissenschaftlichten und ökonomisierten den tierischen Körper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr wissenschaftliches Interesse und ihr medizinischer Blick auf Tiere machten diese zum Gegenstand von Forschung und einer biopolitischen Kontrolle.763 Der wissenschaftliche Blick war schöpferisch, weil er Tiere als Objekte wissenschaftlicher Analyse und medizinischer Beobachtung hervorbrachte. Aufgrund des medizinischen Paradigmenwechsels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entzauberte die zellularpathologische Perspektive von Veterinären Tiere ihrer animalischen Lebensgeister, die sie mit ihrem miasmatisch-humoralpathologischen Blick zuvor entdeckt hatten. Untrennbar verbunden mit der Verwissenschaftlichung von Tierkörpern war deren Verfügbarmachung für den städtischen Fleischbedarf. Das ökonomische Streben verwandelte den Körper in eine organische Ressource und in das Objekt einer wirtschaftlichen Verwertungslogik. Das Streben der Behörden, den Tierkörper restlos zu nutzen und zu verwerten, machte diesen zu einem Politikum. Für die Behörden war die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch untrennbar mit einer munizipalsozialistischen Fürsorge und einem panoptischen Anspruch, den gesamten Produktionsprozess zu überblicken, sowie dem Streben nach einer hygienischen und zugleich rationalen Entsorge der tierischen Körperreste verbunden. Der Schlachthof war ein Ort, der all dies ermöglichte; ein Ort, an dem Menschen tierisches Leben verwalteten, mit ihrem Erkenntnisdrang ein Wissen über Tiere hervorbrachten und an dem sich ihr Streben nach Wissen mit Fürsorge verband.764 Im Schlachthof wurde der tierische Körper zum Zeichen des menschlichen Drangs nach Wissen und Macht.765 Die Möglichkeit, Tiere in Massen zu schlachten (ebenso wie zu verspeisen), wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Selbstverständlichkeit.766 Die räumliche Konzentration organisms with the help of the methods of vivisection.“ Ebd., S. 99. Die Schmerzensschreie von Tieren, deren Körper bei vollem Bewusstsein und unbetäubt aufgeschnitten wurden, bezeichnete Bernard als „Quietschen einer rostigen Maschine“. Rose, Hilary/Rose, Steven: Genes, Cells and Brains. The Promethean Promises of the New Biology. London 2012, S. 88. 763 Vgl. Nieradzik, Körperregime Schlachthof, S. 301-327. Der wissenschaftliche Blick auf den Körper markierte eine körperliche Analogie zwischen Menschen und Tieren. Auf physischer Ebene stellte er beide als jeweils abgrenzbare organische Entitäten dar. Menschen und Tiere konnten erkranken, geheilt werden und sterben. Der physische Blick betonte das symmetrische Verhältnis von Menschen und Tieren aufgrund körperlicher Analogien und Homologien. 764 Vgl. Derrida, The Beast & the Sovereign, S. 283 und 296-299. 765 Vgl. Wilkie, Livestock/Deadstock, S. 123. 766 Vgl. Joy, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – Eine Einführung. Münster 2013, S. 30-38 und 42-43.
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von Tieren auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx, die Verfügbarkeit von unterschiedlichen Werkzeugen und Maschinen sowie das sowohl wissenschaftliche als auch lebensweltliche, durch Erfahrung erworbene Knowhow verhärteten eine speziezistische767 Perspektive. Fleischer, Ärzte und die für die städtische Fleischversorgung zuständigen Behörden rechtfertigten die unterschiedlichen Formen der Nutzbarmachung von Tieren einzig und allein mit der Möglichkeit ihres Könnens.768 Die vielfältigen Möglichkeiten, Tiere für versorgungswirtschaftliche und medizinische769 Zwecke zu nutzen, ihre Körper zu manipulieren und zu gebrauchen, verweisen immer auf eine bestimmte menschliche Vorstellung von Tieren. Wie gezeigt, bestand zwischen Umgangsformen mit Tieren und medizinischen Perspektiven ein Zusammenhang. Am Beispiel der animalischen Bäder, deren Popularität Ende der 1850er Jahre ebenso schnell auftauchte wie wieder verschwand, ist deutlich geworden, wie Selbstverständlichkeiten brüchig wurden. Die Wissenslandschaft veränderte sich und mit ihr die Perspektive von Veterinären, Behörden und Fleischern auf Tiere und Tierkörper. Ebenso war der Blick von Fleischern auf ihren Körper und ihr Ideal handwerksberuflicher Körperbilder einem starken Wandel unterworfen.
6.3.3 Körperbilder und Körpererfahrungen Für das berufliche Selbstbild Wiener Fleischer war die Thematisierung des eigenen Körpers fundamental. Sie nahmen häufig Bezug auf ihren Körper und nutzten diesen als eine argumentative Ressource, um Arbeitserfahrungen zu kommunizieren und Arbeitsbelastungen zu bewältigen. Im Zuge des medizinischen Paradigmenwechsels veränderten sich nun nicht nur die Vorstellungen über den tierischen Körper. Auch das berufliche Ideal und Selbstbild von Fleischern, die untrennbar mit bestimmten Vorstellungen von Körperlichkeit und Maskulinität sowie bestimmten Perspektiven auf Weiblichkeit und Animalität verbunden waren, unterlagen einem Wandel. Inwiefern Fleischer ihre Vorstellungen von Körperlichkeit sowie das Verhältnis von Geschlecht und Spezies verhandelten, steht im Vordergrund dieses Kapitels. Dabei geht es mir 767 Zum Begriff des Speziezismus im Sinne eines anthropozentrischen Speziesrassismus vgl. Ryder, Victims of Science, S. 1-14. 768 Vgl. Nieradzik, Körperregime Schlachthof, S. 301-327. 769 Das Streben, Tiere für humanmedizinische Zwecke verfügbar und nutzbar zu machen, mündet gegenwärtig in xenotransplantorischen Fantasien, Tierorgane auf Menschen zu übertragen. Vgl. Wolf, Nutzung von Tieren, S. 274-279.
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nicht darum, eine Geschlechter- und Körpergeschichte für das 19. und frühe 20. Jahrhundert (neu) zu schreiben. Diese ist an anderer Stelle ausführlich behandelt worden.770 Mein Erkenntnisinteresse zielt auf den Wandel des fleischhandwerklichen (und dabei immer auch) männlichen Blickes auf Körper und Geschlecht in einem konkreten sozialen und historischen Arbeitsfeld. Fleischer erlebten die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Zeit des beruflichen Umbruchs und der emotionalen Aufruhr. Körperbezüge im Fleischerhandwerk finden sich in unterschiedlichen Kontexten. Fleischer nutzten Körpermetaphern, um den ihrer Ansicht nach desaströsen Zustand des Handwerks zu beklagen, beschrieben körperliche Veränderungen, um die Anstrengungen beim Arbeiten zu verdeutlichen und nahmen auf ihren Körper Bezug, wenn sie über emotionale Erlebnisse berichteten. So bedienten sie sich einer Lebens- und Körpermetaphorik, um den schä digenden Einfluss von Reformen oder arbeitsorganisatorischen Veränderungen zu verdeutlichen. Sie beschrieben das Gewerbe als kränkelnden „Wirt schaftskörper“771, weil Reformen an dessen „Lebensfähigkeit“772 und an seiner „Kraft“773 zehrten. Der Vorsteher der Wiener Fleischhauergenossenschaft Valentin Jedek wetterte „gegen Ausbeuter und Gelegenheitsdiebe, welche bei uns gleich der Reblaus am Weinstocke an der gesunden Wurzel unseres Gewerbes nagen und die Ursache sind, dass Zweig für Zweig des einst so blühendes Baumes verdorrt.“774 Fleischer beklagten privatunternehmerische Tendenzen auf dem Gebiet der Fleischversorgung, die sie in den „MassenSelbstmord treiben“775 und „unser ganzes Gewerbe zum Tode verurtheilen!“776 Die Veränderungen in der zweiten Jahrhunderthälfte nahmen Fleischer als dramatische Verschlechterungen wahr.777 In Nachrufen, die in Fleischerzeitungen erschienen, beklagten sie Kollegen, die sich, wie sie argumentierten, aufgrund der arbeitsorganisatorischen und wirtschaftspolitischen Veränderungen 770 Vgl. zum Beispiel die Überblickdarstellung von: Barsch/Hejl, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes, S. 7-22, 60-71. 771 Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und FleischselcherTages, S. 13. 772 Ebd., S. 34. 773 Ebd. 774 Jedek, Unsere Studienreise zum 21. deutschen Fleischerverbandstage, V., S. 2. 775 Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tages, S. 34. 776 Ebd. 777 Vgl. Nieradzik, Lukasz: Emotionen als Körperlichkeit. Das Beispiel des Wiener Fleischerhandwerks im 19. Jahrhundert. In: Beitl, Matthias/Schneider, Ingo (Hg.): Emotional Turn?! Europäisch-ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten. Beiträge der 27. Österreichischen Volkskundetagung in Dornbirn vom 29. Mai – 1. Juni 2013. Wien 2016, S. 203-211.
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das Leben genommen hatten. Im Februar 1904 berichtete zum Beispiel die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung über den Selbstmord des Wiener Fleischhauers Engelbert Katzinger: Trauernachrichten, die von Selbstmorden, von vernichteten Existenzen, von geistigen Erkrankungen von Kollegen melden, sind uns nachgerade nichts neues mehr und wenn eine derartige Kunde uns zugeht, so entlockt sie uns heute kaum mehr ein bedauerndes ‚Schon wieder Einer‘! […] Ebenso angesehen wegen des bedeutenden Geschäftsumfanges, wie wegen der außerordentlichen Geschäftstüchtgkeit, wegen der strengrechtlichen und ehrenhaften Denkungsart, wie wegen des stark ausgeprägten Standesbewußtseins, so sind die Brüder Katzinger stets gewesen. Nun ist einer dahingeschieden im blühendsten Mannesalter, das Bewußtsein, mit aller Tüchtigkeit und allem Fleiß gegen den zerstörenden Einfluß der Verhältnisse nicht länger mehr ankämpfen zu können, hat ihm die totbringende Waffe in die Hand gedrückt. Er fiel, ein Blutzeuge des Niederganges unseres Gewerbes.778
Solche Nachrufe stellen immer auch nostalgische Erzählungen dar.779 Für Wiener Fleischer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Nostalgie Ausdruck einer erlebten wachsenden Not. Sie kontrastierten ein idealisiertes Bild der Vergangenheit mit der Vorstellung einer mangelhaften Gegenwart, benannten emotionale Ursachen der Selbstmorde und entwarfen ein gesellschaftliches Szenario, das dem einzelnen Handwerker keine Orientierung und sichere Zukunftsperspektive mehr bot.780 Insbesondere die Genossenschaft der Wiener Fleischhauer tradierte ein suizidales Narrativ, mit dem sie mit einer fatalistischen Entschlossenheit und teleologischen Prädestination den Tod als Erlösung imaginierte.781 Veränderungen, die Fleischer als Bedrohungen wahrnahmen und die sich in Gefühlen artikulierten, standen immer im Kontext einer narrativen Strategie, Genos778 Das letzte Kapitel, S. 3. 779 Vgl. Gabriel, Yiannis: Organizational Nostalgia – Reflections on The Golden Age. In: Fineman, Stephen (Hg.): Emotion in Organizations. London 1993, S. 118-141, hier S. 121-131. 780 Vgl. Das letzte Kapitel, S. 3. 781 Das suizidale Narrativ entspricht Durkheims Begriff des anomischen Selbstmordes, der die Selbsttötung mit einer fehlenden gesellschaftlichen Integrationskraft begründet. Im Januar 1911 schrieb zum Beispiel die Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung: „Die Selbstmorde von Angehörigen unseres Gewerbes vermehren sich in erschreckender Weise“. Die Zeitung berichtete, „daß Kollege Orgl meister sich erhängte, daß zwei andere Kollegen in die Donau sprangen, und die Überlebenden beneiden sie um ihren Mut, dem Elende mit einem Schlage ein Ende zu machen.“ Kontraste, S. 1 f.
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senschaftsziele zu bekräftigen (siehe Kap. 5.1.2). Im Fleischerhandwerk des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellte vor allem die Artikulation verkörperlichter Emotionen eine rhetorische Strategie dar, Arbeitserlebnisse zu kommunizieren und Anstrengungen zu bewältigen. Als belastend erlebten Fleischer ihre Sorge, mit tierischen Stoffen in Berüh rung zu kommen und sich zu verunreinigen.782 Sie argumentierten, dass „die Verrichtung des Schlachtens, die Arbeiten im warmen Körper des Viehes und das Einsaugen frischen Blutes durch die Hauptporen“783 krank machten und dem Wohlbefinden schadeten. Fleischer zählten die Krankheiten auf, die sie auf die bauliche Gestaltung der Schlachträume zurückführten, lokalisierten Schmerzen am eigenen Körper und beklagten eine „tieftraurige[] Niedergeschlagenheit“784, wenn sie während der Arbeit Kollegen begegneten, denen „die Müh und Schmerzen ins Gesicht geschrieben“785 standen. Sie beobachteten andere Fleischer, die mit ihnen zusammenarbeiteten, nahmen den Schweiß, den ihnen die Arbeit auf die Stirn trieb, und deren verzerrten Gesichtsausdruck beim Zerteilen der Tiere zur Kenntnis, spürten deren Anstrengungen und fühlten die körperliche Erschöpfung und Müdigkeit.786 Für Fleischer war es entlastend, wenn sie ihre Anstrengungen ihren Kollegen mitteilen konnten. Dabei bewerteten sie vergleichbare körperliche Belastungen mitunter sehr unterschiedlich. Während einige das Arbeiten, vor allem das Zerteilen von Rindern wiederholt als körperlich anstrengend bezeichneten und chronische Erkrankungen befürchteten, hatte wiederum die gleiche Arbeit für andere eine gesundheitsfördernde Wirkung. Denn man müsse „zugestehen […], daß gegenüber vielen anderen Beschäftigungen die Schlachtkunst eine der Gesundheit am wenigsten nachtheilige ist, weil sie viele Bewegungen des
782 Vgl. Ueber den Milzbrand der Rinder, S. 14; WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875, S. 10-11]. 783 Gesundheitsverhältnisse der Fleischhauer, S. 33. 784 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undat.]. 785 Ebd. 786 Vgl. ebd. Diese körperliche Referenz- und Orientierungsebene menschlicher Arbeitserfahrung hatte dabei immer auch eine verzeitlichende Dimension. Das gegen wärtig erfahrene Leiden an der Arbeit nahm stets Bezug zu einer idealisierten Vergangenheit, die Fleischer als erstrebenswerten Entwurf für die Zukunft antizipierten. Die Zukunft war gekoppelt an Imaginationen. Die Vermutung liegt nahe, ohne sie jedoch aufgrund der mangelhaften Quellenlage verifizieren zu können, dass das Erinnern dieser Zukunftsvorstellungen auch das körperliche Erleben prägte.
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Körpers erfordert und den Genuß der freien Luft oft gestattet“787, argumentierte die Allgemeine Fleischer-Zeitung im April 1875. Zugleich verwies sie darauf, „daß verschiedene Umstände, die der Fleischhauer bei Ausübung seines Berufes nicht vermeiden kann […], den Körper gar sehr angreifen und zu verschiedenen Krankheiten Veranlassung geben.“788 Fleischer entwickelten unterschiedliche Strategien, das körperliche, durch physische Belastungen geprägte und durch Erfahrungen, Vorstellungen, Routinen vermittelte Leiden an der Arbeit zu bewältigen. Üblich war es, den Schmerz und die Unzufriedenheit anderen mitzuteilen.789 Aber auch eine Spezialisierung auf die Fleischverarbeitung – für einen Ladenfleischer war der Schlachthofbesuch entbehrlich geworden – war eine Möglichkeit, das Risiko körperlichen Leidens zu verringern. Indem Fleischer das Arbeiten körperlich erlebten (visuell, auditiv, haptisch, gustatorisch, olfaktorisch), konstruierten, ordneten und bewerteten sie zugleich ihre Arbeitserfahrungen. Körperzustände markierten790 die eigene Erfahrung, indem sie diese zum Beispiel durch 787 Gesundheitsverhältnisse der Fleischhauer, S. 33. 788 Ebd. 789 Vgl. zum Beispiel: WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) [Beschwerde von Georg Hütter und Georg Stelzer an Wiener Magistrat über Schlachtvorschrift, 14.08.1895]; Unreelle Konkurrenz. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, XII. Jg., 25.3.1904, Nr. 25, S. 2. 790 Ich greife hier António Dámasios „Hypothese der somatischen Marker“ auf. Vgl. Dámasio, António R.: Descartes‘ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 2. Aufl. Berlin 2005, S. 237 ff. Somatische Marker stellen einverleibte, durch Erfahrung erworbene, körperliche Beurteilungs- und Bewertungskriterien dar. Sie „sind […] der Kontrolle eines internen Präferenzsystems unterworfen und dem Einfluß äußerer Umstände ausgesetzt, wozu nicht nur Objekte und Ereignisse gehören, mit denen der Organismus interagieren muß, sondern auch soziale Konventionen und Regeln.“ Ebd., S. 245. Somatische Marker stellen „ein automatisches körpereigenes System zur Bewertung von Vorhersagen“ dar, indem sie „die Aufmerksamkeit auf das negative Ergebnis [lenken], das eine bestimmte Handlungsweise nach sich ziehen kann.“ Ebd., S. 237-238. Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Kritik, mit der soziologische und kulturwissenschaftliche Untersuchungen dieser Hypothese Dámasios begegnen und seine Überlegungen über den menschlichen Körper und menschliches Handeln als biologistisch, evolutionistisch oder neuroökonomisch ablehnen. Häufig unberücksichtigt bleibt dabei, dass Dámasios Hypothese der somatischen Marker aus einer begriffsanalytischen, evolutionärfunktionalen oder neurowissenschaftlichen Perspektive gelesen werden sollte. Als neurowissenschaftliche Theorie akzentuiert Dámasio die physiologische Genese von Emotionen und Gefühlen. Aus funktionaler Sicht interessiert ihn demgegenüber der evolutionäre Nutzen ihrer Entwicklung für eine Gattung (im biologischtaxonomischen Verständnis). Besonders in dieser Perspektive zeigt sich Dámasios hypothetische Annahme einer homöostatischen Lebensgestaltung jedes Organis-
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einen spürbaren Schmerz, einen wahrnehmbaren Geruch oder den Anblick eines sichtlich angespannten und erschöpften Kollegen bewerteten.791 Für Fleischer war ihr Körper eine „Bühne der Gefühle“792, eine zentrale Referenz- und Orientierungsebene der Arbeitserfahrung, die immer mit einem bestimmten Körperbild einherging. Ob ein Fleischer das Arbeiten als belastend, die Anstrengungen als annehmlich oder sogar seiner Gesundheit förderlich empfand, hing immer von der Differenz bzw. Indifferenz zwischen dem körperlichen Selbst- und Idealbild ab. Das spezifische körperliche Idealbild eines Fleischers kennzeichneten Kraft, Stärke und Geschick im Umgang mit dem eigenen Körper. Die Allgemeine Fleischer-Zeitung urteilte zum Beispiel im April 1875, dass es eine „bekannte Sache [ist], daß ein Meister, wenn er einen Lehrling nimmt, darauf namentlich sieht, daß er von kräftiger Körperconstitution ist, und daher kommt es, daß die Fleischhauer mit wohl nur wenigen Ausnahmen starke, gesunde Leute sind“793. Dafür sei vor allem die viele Bewegung beim Arbeiten verantwortlich, aber „auch die kräftige und derbe Kost, die der Fleischhauer genießt, trägt das ihrige bei, einen gesundverdauenden Körper im Stande zu erhalten“794, wusste die Zeitung zu berichten. Der Fleischerberuf etablierte ein spezifisches körperbezogenes Selbstbild, das einen ausgeglichenen, harmonischen, zielsicheren und entschlossenen Einsatz von Kraft und Geschick erforderte. Dieses Ideal der fleischhandwerklichen Arbeit umfasste einen disziplinierten und routinierten Einsatz des eigenen Körpers. Die Körperlichkeit ihres handwerklichen Selbstverständnisses stellte für Fleischer nicht nur beim Arbeiten eine zentrale Bezugsebene des Erlebens und Erfahrens dar. Auch die Inszenierung von Körpern in Bildmedien sowie beim mus entweder für sich selbst oder für die soziale Gruppe. Schließlich stellen Emotionen und Gefühle Begriffe dar, die für eine Untersuchung des wechselseitigen Zusammenhangs von körperlichen Veränderungen und deren Erleben als analytische Termini nutzbar gemacht werden können. An diese begriffsanalytische Lesart schließen auch meine Überlegungen an. Es geht darum zu zeigen, dass zwischen Emotionen und Gefühlen in ihrer körperlichen Dimension, zu handeln sowie der Bereitschaft zu handeln und Handlungsmöglichkeiten zu antizipieren und zu bewerten, ein wechselseitiger Zusammenhang besteht. Damit eröffnet sich ein emotions-/gefühlsgeschichtlicher Zugang, historische Lebenswelten zu untersuchen, ohne die Analyse auf semantische Fragen zu beschränken. Vgl. Nieradzik, Emotionen als Körperlichkeit, S. 203-211. 791 WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undat.]. 792 Dámasio, Descartes‘ Irrtum, S. 213. Vgl. James, William: What is an Emotion? In: Mind 9, 1884, 34, S. 188-205, hier S. 193-194. 793 Gesundheitsverhältnisse der Fleischhauer, S. 33. 794 Ebd.
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geschlossenen Auftreten der Genossenschaft im öffentlichen Raum anlässlich von Jubiläen oder Festumzügen schuf, reproduzierte und stärkte ein spezifisches körperliches Selbstbild des Fleischers. Ich werde im Folgenden zeigen, inwiefern Fleischer ihre Teilnahme an Festumzügen als identitätsstiftend und als ein emotionales Ereignis erlebten. Daran anknüpfend untersuche ich am Beispiel einer historischen Bildquelle, wie Fleischer in diesem Medium sich und damit immer auch ihren Körper in Szene setzten. An dem vom Historienmaler und Dekorateur Hans Makart organisierten Festumzug anlässlich der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaares am 27. April 1879, an dem sich verschiedene Handwerke, Gewerbe, Vereine und Militärs beteiligten, nahm auch die Wiener Fleischhauergenossenschaft teil. Deren Festzugsgruppe bestand aus einem Festwagen, den mehrere Meister und Gesellen, in historischen Kostümen gekleidet und Dokumente aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit sich tragend, begleiteten (siehe Abb. 24). Die Fleischhauer Leopold Dadletz und Heinrich Schedl beschrieben die Festzugsgruppe der Wiener Fleischhauer wie folgt: Voran reitet ein Herold [Bote, L.N.] […] im roten Damastkostüm mit Heroldstab, diesem folgen zwei kostümierte Trompeter zu Pferde, dann ein Bannerträger […] zu Pferde mit dem von Professor Makart entworfenen Banner aus gelbem Damast, welches im Felde zwei Ochsenköpfe und zwei Hacken zeigt. Das Banner wird von zwei Meistern zu Pferde […] begleitet. […] Die Pferde waren reich gezäumt, mit Schabracken [verzierte Satteldecken, L.N.] aus Samt mit Goldborten gedeckt. Dann kam der nach Zeichnung des Professors Hans Makart ausgeführte Festwagen, von sechs Tigerschecken [Pferde mit Scheckungsmuster, L.N.], deren Geschirre von rotem Samt und reich vergoldet waren, gezogen, auf welchem zwei Mastochsen deutscher Rasse, von vier Gehilfen bewacht, postiert waren. Den Wagen flankierten vierzehn Fleischhauergehilfen, die Pferde wurden von sechs Wagenführern geführt. Hinter dem Wagen gingen vier Meistersöhne, welche das Genossenschaftssiegel und Dokumente aus dem 16. und 17. Jahrhundert trugen, und den Schluß bildeten acht Meister im Kostüm.795
795 Dadletz/Schedl, Das Fleischhauergewerbe, S. 96-97.
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Abb. 24 : Festzugsgruppe der Wiener Fleischhauergenossenschaft 1879 Quelle: Dadletz/Schedl: Das Fleischhauergewerbe. In: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., nach S. 96.
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Im Nachhinein bezeichneten Fleischer, die an diesem royalen Huldigungszug teilgenommen hatten, ihr gemeinsames Auftreten in der Öffentlichkeit als ein hochemotionales Erlebnis. Die körperliche Nähe schaffe ein Gefühl der Zusammen gehörigkeit und emotionalen Verbundenheit.796 Fleischer betonten, dass das gemeinsame und ritualisierte Auftreten unter den Handwerkern ihre „Moral stärkt“797, was „am [eigenen] Körper zu spüren ist“798. Für den einzelnen Fleischer war seine Teilnahme an einem solchen Festumzug ein wichtiges biografisches Ereignis. Anlässlich eines Besuchs der Wiener Fleischhauergenossenschaft bei ihren Hannoveraner Kollegen im Juni 1898 nahmen die österreichischen Fleischer an einem von den deutschen veranstalteten Umzug teil. Der Vorsteher der Wiener Fleischhauergenossenschaft Valentin Jedek resümierte in der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung „eine unserer prächtigsten Reiseerinnerungen“799. Er lobte die organisatorische Leistung der Veranstalter und beschrieb, ähnlich wie der oben zitierte Josef Thiel, den Umzug als emotionales Ereignis für alle Teilnehmenden. Begeistert rief er den „imposante[n] Wagenzug“ (mit mehreren Musikkapellen, „prächtig berittene[n] Collegen im Frack mit rother Schärpe“) in Erinnerung („Unser Herz schlug höher, als wir die strammen Gestalten unserer Collegen […] bewundern konnten“), zeigte sich erfreut über die Begeisterung der Teilnehmer sowie der ihnen zujubelnden Passantinnen und Passanten, „die uns erkennen ließen, welch‘ herzliche Sympathien man dort unserem Gewerbe entgegenbringt“ und lobte das abschließende „gemeinschaftliche[] Abendessen“, mit dem der Tag einen würdigen Abschluss gefunden habe.800 In der Retrospektive verschmolzen individuelle Erlebnisse zu einer körperlich spürbaren Verbundenheit. Die Festzugsteilnehmer erlebten eine Ordnung, Koordination und Synchronisation des Kollektivs über ihren eigenen Körper. Die Inszenierung eines emotional verbundenen Kollektivs – das immer etwas anderes war als die Summe der einzelnen Teilnehmer, vielmehr eine metaphy796 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll [Brief des Fleischhauers Josef Thiel, nicht adressiert, Mai 1905, eingelegt zwischen den Seiten 125 und 126]. 797 Ebd. 798 Ebd. Zum Zusammenhang von Emotionen und Ritualen sowie einer kollektiv erlebten und vermittelten Körperlichkeit vgl. Barbalet, Jack M.: Ritual Emotion and Body Work. A Note on the Uses of Durkheim. In: Wentworth/William M./Ryan, John: Social Perspectives on Emotion, Bd. 2. Greenwich 1994, S. 111-123, hier S. 112, 116-118 und 121; Collins, Randall: Stratification, Emotional Energy, and the Transient Emotions. In: Kemper, Theodore D. (Hg.): Research Agendas in the Sociology of Emotions. Albany 1990, S. 27-57, hier S. 32; Katz, Jack: How Emotions Work? Chicago 1999, S. 5-6 und 334 ff. 799 Jedek, Valentin: Unsere Studienreise zum 21. deutschen Fleischer-Verbandstage, III. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.7.1898, Nr, 56, S. 1. 800 Alle: ebd.
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sische Größe, sinnlich spürbar, in einer emotionalen Unmittelbarkeit im Sinne einer reflexiven Rückkoppelung auf sich selbst erlebbar – ging mit der Präsentation und Inszenierung von Körpern einher. Die Körperlichkeit emotionaler Verbundenheit prägte zugleich die Vorstellung eines erstrebenswerten Körperideals, das insbesondere anhand der fotografischen Inszenierung greifbar wird. Zu den Ingredienzien des bildlich inszenierten Körpers zählten bestimmte körperliche Ausdrucksformen, das Präsentieren einer spezifischen Arbeitskleidung sowie eine bestimmte bildliche Anordnung von Fleischern und gegebenenfalls von Menschen und Tieren, wie Abbildung 25 zeigt.
Abb. 25 : Interieuraufnahme, Schweineschlachthaus St. Marx, 1910 Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Inventarnummer 199.468 - D.
Die Interieuraufnahme aus dem Schweineschlachthaus in St. Marx entstand um 1910.801 Die Fotografin bzw. der Fotograf ist nicht bekannt. Zu sehen sind 801 Die Datierung dieser Aufnahme, die das Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek circa auf das Jahr 1900 angibt, ist falsch. Das Schweineschlachthaus
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insgesamt sieben Fleischer, die zwei Gruppen zu drei bzw. vier Personen bilden. Beide Gruppen stehen jeweils neben mehreren geschlachteten, an Luftbahngeleisen an ihren Hinterfüßen aufgehängten Schweinen. Das jeweils vordere Tier, das die unmittelbar hinter ihm folgenden frontal verdeckt, ist in beiden Fällen bäuchlings vom Kopf bis zum After aufgeschnitten. Dem Tier in der linken Bildgruppe sind die inneren Organe entnommen, beim Schwein in der rechten Bildgruppe sind diese noch vorhanden und aufgrund der Schwerkraft unten in der Brusthöhle gestaut. Diese Fotografie ist eine inszenierte Momentaufnahme des Ausnehmens und Zerteilens geschlachteter Tiere. Sämtliche Fleischer richten ihren Blick direkt in die Kamera und konfrontieren die Betrachterin bzw. den Betrachter mit Selbstsicherheit und Erhabenheit. Die Körperhaltung verstärkt diese „faciale[n] Botschaften“802 der Entschlossenheit und des Selbstbewusstseins: Breitbeinig in einem festen, sicheren Stand, das Hemd bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, das Fleischermesser entweder in der rechten Hand haltend oder am Hüftgürtel befestigt, die Beine bis zu den Stiefeln von einer blutgetränkten Schürze verdeckt, die Schultern nach hinten gezogen, positionieren sie sich vor der Fotografin bzw. dem Fotografen. In der linken Personengruppe stehen hinter den beiden Meistern zwei Gesellen bzw. Lehrlinge. Sie wirken deutlich jünger als die beiden vor ihnen postierten Fleischer, tragen noch nicht den um die Jahrhundertwende modischen Schnurrbart und ahmen ihre Ausbilder in Körperhaltung (den Blick gerade in die Kamera gerichtet, fester Stand mit leicht auseinander gestellten Füßen, bis zu den Ellenbogen hochgekrempeltes Hemd) und Gestik (in die Hüfte gestemmte rechte Hand, die linke gerade zum Boden hin leicht von sich gestreckt) nach. Diese mimetischen und gestischen Imitationen verweisen auf die Spezifik des intergenerationellen Ausbildungsverhältnisses zwischen Meister und Lehrling bzw. Geselle, bei dem die Nachahmung für das Erlernen handwerklichen Könnens entscheidend war, und was sich in der fotografischen Bildgestaltung fortschreibt. Zugleich wurde erst im Juni 1910 eröffnet. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass eine andere Fotografie, die das Archiv auf das Jahr 1910 datiert (Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Inventarnummer 199.467 - D), an demselben Tag aufgenommen wurde. Darauf verweisen dieselben Personen, die auf beiden Fotografien in derselben Kleidung und im gleichen Alter zu sehen sind, ebenso wie die Anordnung und der Zustand einzelner Arbeitsgeräte wie zum Beispiel ein Auffangtisch für das vorübergehende Lagern von Eingeweiden geschlachteter Schweine (jeweils in der rechten Bildhälfte). 802 Macho, Thomas: Vision und Visage. Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Medien. In: Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien/New York 1996, S. 87-108, hier S. 88.
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verdeutlichen die körperlichen Ausdrucksformen, welches Körperbild der Fleischerberuf hervorbrachte und verstetigte und welches körperliche Selbstbild die Handwerker produzierten. Physische Stärke, die einen kräftigen Körperbau voraussetzte und den die körperlich belastende Arbeit hervorbrachte, Tatkraft und die Bereitschaft zu körperlichen Anstrengungen und einer schmutzigen Arbeit, die die hochgekrempelten Arme, blutgetränkten Schürzen, gezückten Messer und die Nähe zu den getöteten Tieren (ein Fleischer stemmt seinen rechten Arm auf den Hinterfuß eines aufgehängten Schweines) verdeutlichen, kennzeichneten das körperliche Selbstbild des Fleischers. Trotz der blutgetränkten Schürzen, den gezückten Messern, aufgehängten und aufgeschnittenen Tiere vermittelt die Fotografie das Bild einer sauberen Arbeit. Die Eingeweide des ausgenommenen Schweines sind an den rechten Bildrand gerückt und von der Betrachterin bzw. dem Betrachter der Fotografie nur schwer zu erkennen, der Boden ist vom Blut und anderen Körperflüssigkeiten gereinigt, nur vereinzelt verweisen Wasserpfützen auf das blutige Geschäft. Diese Fotografie stellt folglich nicht so sehr eine Momentaufnahme eines bestimmten Arbeitsprozesses dar. Vielmehr deutet sie auf dessen Spuren hin, auf die Spuren des Lebens, des Tötens, des Sterbens. Für die Betrachterin bzw. den Betrachter lässt sich die Arbeit des Fleischers nur erahnen. Das Streben der städtischen Behörden, das Schlachten gesellschaftlich unsichtbar zu machen und hygienisch zu gestalten, bestimmt auch die Gestaltung der Fotografie. Am Ort des Tötens ist das Töten für die Betrachterin bzw. den Betrachter ins Imaginäre gerückt. Diese Fotografie vermittelt einen Einblick in eine technisierte und räumlich getrennte Produktion, für die handwerkliches Know-how und die Hand-Arbeit nach wie vor unverzichtbar waren. Gerade deshalb erhoben Fleischer ein praktisches Können und die Fähigkeit, das erlernte einverleibte Wissen jederzeit und ohne Mühe abzurufen, zu unentbehrlichen Attributen des fleischhandwerklichen Berufs. Hierzu zählte auch die Bereitschaft zum solidarischen Handeln. Das betraf neben außerberuflichen Aktivitäten (Spendensammeln, Beteiligung in Vereinen, Mitwirkung an Festumzügen) vor allem das gegenseitige Unterstützen beim Arbeiten im Schlachthof. Fleischer liehen einander Werkzeuge, griffen sich gegenseitig unter die Arme und teilten Arbeiten untereinander auf. Lehrlinge und Gesellen reinigten die Arbeitsräume von den gröbsten Verschmutzungen, räumten die Eingeweide geschlachteter Tiere beiseite, spülten die Blutlachen mit Wasser in die Abflussrinnen, trugen Fleischstücke in die Kühlräume und assistierten bei Schlachtungen, indem sie einander Werkzeuge reichten oder die Tiere festhielten, damit der Meister oder ein erfahrener Kollege einen gezielten Schlag mit dem Beil ansetzen konnte. Das Ideal der gegenseitigen Unterstützung ist auch in die figurative Gestaltung der Fotografie eingeschrieben.
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Abb. 26 : „Das Schlachten“ Quelle: Spannagel, Rudolf: Der Centralviehmarkt und das Schlachthaus in St. Marx. In: Wiener Schriftsteller: Wienerstadt. Lebensbilder aus der Gegenwart. Prag/Wien/Leipzig 1895, S. 62-66, hier S. 63.
Auch andere Aufnahmen aus dieser Zeit ebenso wie zeichnerische Darstellungen folgen der gestalterischen Bildkonvention von körperlicher Nähe und uniformer Kleidung, um eine berufliche sowie soziale Verbundenheit zu suggerieren (siehe Abb. 26). Diese bildlichen Inszenierungen visualisieren Zuneigung, Eintracht sowie einen Gemeinsinn, wie sie auch das weiter oben untersuchte Narrativ verkörperlichter Emotionen bekräftigt. Sprache und Bilder erzeugten und verstärkten ein bestimmtes Image des Fleischers. Die Popularisierung der Fotografie als neues technisches bildgebendes Verfahren ermöglichte seit der
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Jahrhundertwende einem größeren Publikum sporadische Einblicke in eine für viele Wienerinnen und Wiener verborgene Arbeitswelt. Sie ordnete und ästhetisierte die Vorstellungen vom Fleischhandwerker innerhalb und außerhalb des Gewerbes.803 Das narrativ und visuell geschaffene und verstetigte Körperbild des Fleischers war mit bestimmten Vorstellungen von Männlichkeit untrennbar verbunden. Körperliche Stärke, die Bereitschaft zur anstrengenden und mitunter gesundheitsschädlichen Arbeit und der Umstand, einen Beruf mit Stolz auszuüben, den viele mit Schmutz, Rohheit und Grausamkeit assoziierten,804 waren Attribute, die ihre Bedeutung immer nur in Relation – und keineswegs in ausschließlicher Abgrenzung – zu Vorstellungen vom Weiblichen sowie auch Animalischen erlangten. Fleischer instrumentalisierten Tierbeschreibungen in Zusammenhang mit ihrer Vorstellung von Natur in dreifacher Weise. Sie beschrieben den Fleischhandwerker und das Schlachttier als Opfer modernisierter Arbeitsbedingungen, bewarben mit idealisierten Tier- und Naturästhetiken ihre Fleischwaren und stellten Tiere und Natur zugleich als etwas Bedrohliches dar, dass nur Fleischer mit ihrem handwerklichen Können zu bändigen imstande seien. Tiere fungierten als narrative Figuren, mit denen Fleischer empfundene Defizite der menschlichen Gesellschaft und empfundene Bedrohungen in einer modernisierten Arbeitswelt verdeutlichten. Vor allem im Rahmen eines gesellschaftlichen Pessimismus im Fin de Siècle erschienen in den Fleischerzeitungen Artikel, die sich Tiermetaphern und Tiervergleichen bedienten, um den wahrgenommenen moralischen Mängeln der menschlichen Gesellschaft eine vermeintliche Natürlichkeit tierischer Sozietäten entgegenzusetzen.805 Eine 803 Die Analyse einer Fotografie sollte die Perspektive der jeweiligen Adressatinnen und Adressaten berücksichtigen. Im vorliegenden Fall ist dies jedoch aufgrund fehlender Quellen nicht möglich. Wahrscheinlich ist, dass unterschiedliche Betrachterinnen und Betrachter in derselben Fotografie jeweils etwas anderes erkannten bzw. fokussierten. Fleischer konnten die Fotografie betrachten, die Kollegen während der Arbeit in der Schlachthalle zeigte, und diese als Beispiel für die Solidarität innerhalb des Handwerks auslegen. Für Magistratsbeamte konnte diese einen Beleg für eine moderne und saubere Tierschlachtung und Fleischproduktion darstellen, und Konsumentinnen und Konsumenten bekamen wiederum einen stilisierten Einblick in die räumliche Provenienz ihrer Fleischprodukte. Fotografien wie alle Bilder zeigen immer mehr, als deren Betrachterinnen und Betrachter sehen. Sie „zeigen etwas, was sie selbst nicht sind.“ Wiesing, Lambert: Verstärker der Imagination. Eine Einleitung. In: Ders.: Phänomene im Bild. München 2000, S. 10-29, hier S. 10. 804 Vgl. Felling, Die Versorgung der Stadt Wien, S. 8; Fitzgerald/Kalof/Dietz, Slaughterhouses and Increased Crime Rates; Otter, Civilizing Slaughter, S. 89-106. 805 Vgl. zum Beispiel: Verwilderte Rinder, S. 5. Die Imagination von tierischen Sozie
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fehlende Bereitschaft zum solidarischen Handeln und das Streben nach dem eigenen Vorteil charakterisierten für sie die Gesellschaft um die Jahrhundertwende, die nur mehr aus „egoistischen Menschen“806 bestünde. Das Fleischergewerbe beschrieben sie demgegenüber als eine Solidargemeinschaft, die gesellschaftlichen Entwicklungen trotze. Sie argumentierten, dass es für sie kaum noch möglich sei, ihre volle Aufmerksamkeit und ihr berufliches Engagement ausschließlich der handwerklichen Arbeit, der Schlachtung, fachmännischen Zerteilung des Tieres und Zubereitung von Fleischwaren, zu widmen. Wie die Tiere, die sie schlachteten, seien auch Fleischer Opfer der neuen Zeit und litten unter dem Joch rationalisierter, kontrollierter und ausschließlich an ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichteter Arbeitsverhältnisse. Diese seien weder mit dem natürlichen „Freiheitsdrang“807 und „geistige[n] Atavismus“808 der Tiere noch mit dem beruflichen Ideal handwerklicher Arbeit vereinbar. Im Rahmen des antithetischen Narrativs von einer authentischen, unverfälschten existenziellen Bestimmung tierischen Lebens und des Fleischerhandwerks einerseits und deren Verformung andererseits könnten sich Tiere und Fleischer nur losgelöst von rationalisierten Produktionsstrukturen frei entfalten. So stellte die Allgemeine österreichische Fleischhauer- und FleischselcherZeitung in einem Artikel diesen Zusammenhang von Freiheit und Natürlichkeit bei Tieren besonders heraus. Am Beispiel der Rinderhaltung in Argentinien und Brasilien, bei der die Tiere im Frühjahr in Wäldern und auf Wiesen ohne Obhut weideten und erst mit Beginn der Regenzeit im Mai von selbst in die Stallungen zurückkehrten, entwarf der anonyme Autor ein Ideal optimaler Haltungsbedingungen, bei der sich jedes einzelne Tier körperlich und geistig entfalten könnte.809 täten als paradigmatische, prototypische und utopische Ideale der menschlichen Gesellschaft stellt ein immer wieder herangezogenes kulturhistorisches Topos dar, handelt es sich dabei um feudale, totalitäre oder demokratische Staatsentwürfe. Vgl. zum Beispiel: Escherich, Karl: Termitenwahn. Eine Münchener Rektoratsrede über die Erziehung zum politischen Menschen. München 1934, S. 11-20; Johach, Eva: Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften. In: Horn/Gisi, Schwärme a.a.O., S. 203-224; Seeley, Thomas D.: Honey Bee Democracy. Princeton 2010, S. 1-8. 806 Verwilderte Rinder, S. 5. 807 Ebd. 808 Ebd. 809 Der Artikel beklagte, dass „das Bewusstsein eigener Kraft […] unserem Hausrind, dem ‚entarteten Kinde der besser gearteten Mutter‘ völlig abhanden gekommen ist. Ein stets sattes Tier bleibt grässlich dumm und mit dem Kosenamen ‚Ochs‘ fügen wir der Dummheit noch die Trägheit hinzu.“ Ebd. Und weiter heißt es: „Solche geistig hoch über dem gewöhnlichen Ochsen-Milieu stehende Wesen [in Wäldern oder auf Wiesen weidende Rinder, L.N.] werden plötzlich vom Freiheitsdrang er-
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In dieser Argumentation entbehrten Tiere jeglicher Bedrohungen – im Unterschied zu den Gefahren und Risiken, die sie für die Produktion und menschliche Gesundheit darstellen konnten (siehe Kap. 6.3.1). Die Konzeption des Tieres als unschuldige Kreatur stellte eine Metapher für menschliche Sorgen dar. Fleischer bedienten sich dabei insbesondere Anthropomorphisierungen810 und anekdotenhafter Erzählungen über die Beziehungen von Tieren und Menschen, um die Schicksalhaftigkeit beider zu verdeutlichen und ein Ideal vergangener Zeiten zu entwerfen, das sie als verlorenes Handwerkerparadies imaginierten.811 Daher sind die meisten Anekdoten im ländlichen Raum und jenseits des großstädtischen Schlachthofes verortet. Für Fleischer war der Mythos der Naturverbundenheit und beruflichen Idylle in der Vorstellung einer ländlichen Kulisse greifbar. In den fleischhandwerklichen Erzählungen handelten Tiere eigensinnig, waren widerspenstig und zeigten Gefühle. Ihre Individualität und die Wirkmächtigkeit ihrer Handlungen machten sie zu allegorischen Fabel wesen. Die Erzählungen von Fleischern handeln von Kälbern, die „sich frisch und munter oder matt, abgeschlagen und traurig zeigt[en]“812, Ochsen, die nachts aus dem Stall ausbrachen und auf ihrer „beschaulichen Nachtwanderung“813 auf betrunkene Passantinnen und Passanten Jagd machten, oder Rindern, die, „in drei Monaten militärisch ausgebildet, auf Schwadronscommando und Schenkeldruck trabte[n], auf Schritt und Front hielte[n], genauso wie die Remonten“814. griffen, geben sich dem ungebundenen Leben hin, entfliehen den Fesseln und erlangen im Bewusstsein und Gebrauch ihrer Kraft derartig Klugheit und Verschlagenheit wieder, dass sie darin wo möglich noch unser Hochwild übertreffen.“ Ebd. Freiheit stärke zudem „neben der schnellen Entwicklung der geistigen Fähigkeiten auch die körperlichen Veränderungen […]. Die Haut wurde weicher, das Haar im Winter dichter, die Schalen glatt und poliert wie beim Reh. Der ‚schleppfüssige‘ Gang war verschwunden, das Rind war flüchtig wie Edelwild und überfiel hohe Barrieren. Sein Fleisch erhielt Wildgeschmack.“ Ebd. 810 Anthropomorphisierung wird hier verstanden als eine Zuschreibung kognitiver, emotionaler, intentionaler, motivationaler und handlungspraktischer Fähigkeiten an nicht-menschliche Tiere. Vgl. Serpell, James A.: Anthropomorphism and Athropomorphic Selection – Beyond the „Cute Response“. In: Society & Animals 11, 2003, 1, S. 83-100, hier S. 83. 811 Die Historikerin Laurie Winn Carlson verweist in ihrer sozialhistorischen Untersuchung über Rinder und Rinderhaltung auf die Aktualität des Bedürfnisses, Tiere als Figuren und Repräsentanten menschlicher Sehnsüchte und paradiesischer Zustände menschlicher Gesellschaften zu denken. Vgl. Carlson, Cattle, S. 28. 812 Barański, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau, S. 77. 813 Abenteuer eines Mastochsen. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 27.5.1910, Nr. 21, S. 3. 814 Verwilderte Rinder, S. 5.
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Die Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung berichtete im Mai 1898 von einer Kuh, „die nur dann beim Melken Milch gab, wenn die Magd ihr schöne Lieder […] vorsang“815. Viele Erzählungen haben die Trunkenheit von Tieren zum Gegenstand. In den Fleischerzeitungen erschienen wiederholt Artikel über Rinder und Schweine, die sich Fleischern widersetzten, sie zu schlachten816 oder sich mit Branntweinresten betranken und anschließend ohne viel Grazie einen Tanz an[fingen], dann taumelten sie ungenirt und suchten mit wunderlichen Geberden den Schlummer, welcher bald ein ewiger zu werden drohte; jedoch bekamen die Patienten nach vierundzwanzig Stunden Gesundheit und ‚Verstand‘ wieder.817
Solche Erzählungen sollten das Publikum unterhalten und amüsieren. Zugleich verband sich mit diesen Anekdoten eine Sehnsucht nach einem beruflichen Idyll, das Nähe und ein harmonisches Miteinander zwischen Menschen und Tieren kennzeichnete. Bemerkenswerterweise schrieben die Erzählungen Tieren jeweils nur eine spezifische menschliche Eigenschaft zu. Entweder sie legten eine Raffinesse, List, Gerissenheit und Gewitztheit an den Tag, zeigten Gespür und Mitgefühl für menschliche Bedürfnisse und Befindlichkeiten oder entfalteten ein aufsässiges eigenwilliges Verhalten. Diese „anthropomorphische Selektion“818 prägte die fleischhandwerklichen Narrative. Tiere und Menschen begegneten sich in den Erzählungen nur in einzelnen Situationen auf Augenhöhe. Die Geschichten unterscheiden immer zwischen Tieren mit kognitiven oder emotionalen oder mit Fähigkeiten eigenständig zu handeln und eigene Ziele, Interessen und Motive zu verfolgen. In diesen Narrativen stellten Anthropomorphisierungen daher immer speziezistische819 Praktiken dar, insofern sie auf Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren verwiesen, aber jeweils nur eine Vergleichsebene heranzogen und damit Unterschiede indirekt benannten und naturalisierten. Die fleischhandwerklichen Narrative zeichneten ein Idyll der Mensch-TierBeziehung. Sie individualisierten Tiere und romantisierten das Fleischerge815 Ebd. 816 Vgl. Schwein und Auto. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 28.7.1911, Nr. 30 S. 2. 817 Betrunkene Schweine. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 10.2.1875, Nr. 3, S. 11. 818 Hier verstanden als „selection in favor of physical and behavioral traits that facilitate the attribution of human mental states to nonhumans“. Serpell, Anthropomorphism, S. 92. Vgl. ebd., S. 91-95. 819 Vgl. Ryder, Victims of Science, S. 1-14.
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werbe. Wenn Menschen über Tiere sprechen, sprechen sie meistens über sich selbst.820 So zollen auch die Erzählungen von Fleischern von der Sehnsucht nach einer imaginierten Vergangenheit und Kritik am Status quo des Gewerbes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie gezeigt, war der Umgang mit Tieren von versorgungspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt. Auch die im Gewerbe verbreitete Praxis, Rindern Namen zu geben, stellte weder eine Individualisierung der Tiere dar noch indizierte sie eine Emotionalisierung der Mensch-Tier-Beziehung. Vielmehr verweist sie auf das Bestreben, Tiere voneinander zu unterscheiden.821 Fleischer bewarben mit der Namensgebung die Provenienz von Fleischwaren, um ihre Fürsorge gegenüber Tieren und damit die Qualität ihrer Fleischwaren herauszustellen. Die moderne Tierschlachtung und Fleischproduktion verwandelte Tiere in organische Roh- und Werkstoffe,822 die sich der Mensch mit zunehmend wissenschaftlichen und technisierten Praktiken nutzbar machte. Mit einer neuen Nüchternheit und Sachlichkeit in der Mensch-Tier-Beziehung in den letzten zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begann sich das Fleischergewerbe auch für Frauen zu öffnen. Diese waren bis dahin im Fleischerhandwerk und in den Fleischerzeitungen abwesend. Seit dem 8. April 1910 führte die Allgemeine österreichische Fleischhauer- und FleischselcherZeitung in jeder ihrer folgenden Ausgaben die an Frauen adressierte Rubrik „Frauen-Zeitung“. Um die Zeitung „immer reichhaltiger zu gestalten, werden wir einen Theil unseres Blattes von nun an den Frauen der Kollegen widmen“823, bemerkte die Zeitungsredaktion. Denn „[w]ir sind überzeugt, mit dieser Neuerung den Beifall der Frauen zu erwerben und hoffen, daß auch auf dieser Seite das Interesse an unserem Blatte ein stets reges bleiben wird.“824 In dieser Rubrik wurden vor allem Leserinnenbriefe veröffentlicht. Bereits in der ersten Ausgabe forderte Anna G., verheiratet mit einem Fleischhauer, daß wir in unserer Zeitung auch berücksichtigt werden sollen. Zu einer Zeit, wo nicht mehr auf den Mann allein die Lasten des Geschäftes liegen, ist die Frau auch an den Dingen, die in der Welt vorgehen, interessiert. […] Wir wollen ein Plätzchen für uns in der Zeitung haben.825 820 Vgl. Ingold, From Trust to Domination, S. 1. 821 Vgl. Münch, Tiere und Menschen, S. 22. 822 Vgl. Macho, Thomas: Tier. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, S. 62-85, hier S. 79. 823 Die Redaktion und Adminstration der Allgemeinen Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, XVIII. Jg., 8.4.1910, Nr. 14, S. 1. 824 Ebd. 825 G., Anna, Fleischhauergattin [Leserinbrief ]. In: Allgemeine österreichische
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In den Briefen betonten die Verfasserinnen vor allem die unterstützenden und haushälterischen Qualitäten von Frauenarbeit. Einige Autorinnen forderten die Öffnung der fleischhandwerklichen Ausbildung und des Berufs auch für Frauen, wohingegen andere patriarchalische Vorstellungen von Geschlechterrollen propagierten. So bemerkte die Briefverfasserin Pepi M.: Die Frauenarbeit im Fleischhauergewerbe wäre nur denkbar bei einem Zusammenwirken männlicher und weiblicher Arbeitskräfte. Wir meinen, daß ein solches weder wünschenswert, noch möglich ist. Wünschenswert darum nicht, weil eine Verträglichkeit unter verschiedenartigen Arbeitskräften ausgeschlossen ist und weil es deshalb um die Ruhe und den Frieden im Hause geschehen wäre.826
Die haushälterische Begrenzung weiblicher Arbeit im fleischproduzierenden und -verarbeitenden Gewerbe blieb im Untersuchungszeitraum die Regel.827 Frauen arbeiteten als Kassiererinnen in privaten Fleischereien, waren auf dem Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx als Reinigungskräfte beschäftigt oder versorgten ihre Ehemänner mit Pausenbroten und Tee, während diese im Schlachthof Tiere töteten.828 Daneben griffen Aufseher Frauen auf dem Viehmarkt auf, die sie beschuldigten, unerlaubterweise Wein an Marktbesucherinnen und -besucher verkauft oder Tierfutter gestohlen zu haben.829 Zwar stellte im gesamten Untersuchungszeitraum das Fleischerhandwerk eine Männern vorbehaltene Domäne dar. Seit der Jahrhundertwende sind jedoch zunehmend Tendenzen zu beobachten, die die Dominanz der männlichen Attribute in der Vorstellung vom Fleischerberuf relativieren und infrage stellen. Die Fleischerzeitungen benannten circa seit 1910 neben körperlicher Kraft, Stärke und Bereitschaft zu anstrengender Arbeit „Gewandtheit und Geschicklichkeit“830, Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 8.4.1910, Nr. 14, S. 2. 826 M., Pepi: Weibliche Arbeitskräfte im Fleischhauergewerbe. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 15.4.1910, Nr. 15, S. 2. 827 Die erste Frau, die in Österreich ihre Gesellinnenprüfung (in der Klosterneuburger Genossenschaft) ablegte, war am 15. Mai 1911 Hermine Reisinger, Tochter eines Fleischhauers. Vgl. Der erste weibliche Fleischergehilfe in Oesterreich. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 2.6.1911, Nr. 22, S. 4. 828 Vgl. Hanke, Adolf: Die Fachschule unserer Genossenschaft. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 129-134, hier S. 132; WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 148 [30.6.1907]. 829 WStLA, Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll, S. 28-29 [22.12.1905] und 99100 [17.9.1906]. 830 Vgl. Meisterprüfung einer Frau. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 14.4.1911, Nr. 15, S. 3.
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Empathie und Sorgfalt für das Detail sowie haushälterische und unterstützende Qualitäten als fleischhandwerkliche Attribute, die sie als spezifisch weibliche Eigenschaften herausstellten. So war im April 1911 in der Allgemeinen österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung über Frau Littich, die als erste Frau im deutschsprachigen Raum ihre Meisterinnenprüfung abgelegt hatte, zu lesen: Es ist […] nicht zu vergessen, daß den Frauen im Fleischergewerbe überhaupt wichtige Aufgaben zufallen. Jeder Meister findet in der Hausfrau geradezu eine wichtige Stütze in Hinsicht auf seinen Geschäftsbetrieb. Von der Umsicht und Einteilung der Frau im Geschäfte hängt in den meisten Fällen das Gedeihen des Betriebes ab, aber auch der Erfolg der gemeinsamen Bemühungen. Dies soll hier nicht festgestellt, sondern anerkannt werden. Es liegt so viele Mühe, so viel Sorge auf den Frauen, die im Geschäfte mitwirken, daß man sich oft wundern muß, daß die Frauen all den Anforderungen gerecht werden können, die ihnen der Geschäftsbetrieb auferlegt. Die erfolgreiche Mitwirkung der Frauen in dem schweren Berufe bildet denn auch ein glänzendes Zeugnis für die hervorragenden Eigenschaften der Frauen unserer Kollegen! Es soll ihnen deshalb auch die allgemeine Wertschätzung nicht versagt bleiben.831
Derselbe Artikel weist aber an anderer Stelle explizit darauf hin, dass diese Eigenschaften allein zur Ausübung des Fleischerberufs nicht genügten. Denn dazu seien nach wie vor vermeintlich männliche Attribute wie ein „kräftige[r] Körperbau“832, „technische[] Gewandtheit“833, „kaufmännische Sicherheit“834 und die Bereitschaft, „die strengen Lehrjahre durchzumachen“835, erforderlich. Die anfängliche Öffnung des Fleischergewerbes für Frauen war immer mit patriarchalischen Vorstellungen von einem prinzipiell maskulinen Beruf verbunden. Sie setzte ein ungleiches Geschlechterregime keineswegs außer Kraft. Vielmehr festigte sie eine „hegemoniale Männlichkeit“836, die nun nicht mehr exklusiv, sondern auch zugänglich für Frauen war. Dieser zugeschrieben wa831 Ebd. 832 Der erste weibliche Fleischergehilfe in Oesterreich, S. 4. 833 Meisterprüfung einer Frau, S. 3. 834 Ebd. 835 Der erste weibliche Fleischergehilfe in Oesterreich, S. 4 836 „Hegemoniale Männlichkeit“ verstehe ich in Anlehnung an Raewyn W. Connell als „jene Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann.“ Connell, Raewyn W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 3. Aufl. Wiesbaden 2006 [Original: Masculinities. Cambridge 1995], S. 97. Vgl. ebd., S. 98-102.
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ren Eigenschaften wie technische Fertigkeiten, die Bereitschaft, etwas auf sich nehmen zu wollen, und kaufmännisches Verständnis. Konzepte von Männlichkeit standen im Fleischerhandwerk des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer in Bezug zu den Vorstellungen von Weiblichkeit und Animalität. Die narrative Herstellung von Männlichkeit war im Wiener Fleischerhandwerk immer an die Herstellung von Geschlechter- und Speziesdifferenzen gekoppelt. In den fleischhandwerklichen Narrativen stellte der Körper die Bezugs- und Vergleichsebene dar, mit der Fleischer Gemeinsamkeiten mit sowie Unterschiede gegenüber Frauen und Tieren benannten. Ein zielgerichteter und kontrollierter Einsatz der Körperkraft wurde in Abgrenzung gegenüber der ungezügelten tierischen Gewalt und Stärke – dem Inbegriff des Animalischen – sowie gegenüber dem vermeintlich naturgegebenen geringeren weiblichen Kraftreservoir narrativ greifbar. Ein solches Narrativ, das Vorstellungen des Männlichen, Weiblichen und Tierischen zueinander in Relation stellte und voneinander abgrenzte, naturalisierte Geschlechterbilder, verband sie mit jeweils unterschiedlichen Qualitäten und enthob diese ihrer soziokulturellen Rahmenbedingungen. Die Begriffe „Mann“, „Frau“, „Tier“ stellten narrativ verstetigte und reproduzierte Episteme dar, die die paradigmatischen, ahistorischen Bedingungen der Welterfahrung repräsentierten. Die fleischhandwerklichen Narrative konstruierten diese naturalisierten geschlechts- sowie auch speziesspezifischen Eigenschaften auf einer körperlichen Ebene. Über die körperlichen Eigenschaften und bestimmte kognitive und emotionale Qualitäten, die mit diesen einhergingen – im Narrativ naturgegeben und ahistorisch – war es möglich, Unterschiede zwischen Geschlechtern und Spezies zu benennen. In der nachstehenden Tabelle (Abb. 27) habe ich die Narrative des Doing Gender und Doing Species im Wiener Fleischerhandwerk um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schematisch zusammengefasst. Quellengrundlage sind Leserinnen- und Leserbriefe und Artikel, die in der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung zwischen 1900 und 1914 sowie in der Allgemeinen österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung zwischen 1910 und 1914 erschienen. Ich habe diese Zeitungen dahingehend gelesen, wo Männer, Frauen, Tiere thematisiert, wie diese verhandelt und welche Qualitäten diesen zugeschrieben wurden.Von den Texten habe ich die Kategorien „Körperkraft“,„Körpererscheinung“ und „Körperkontrolle“ abstrahiert, weil diese die gemeinsame Bezugsebene der narrativen Kategorien „Mann“, „Frau“, „Tier“ bilden, das heißt: Über die drei Körperkategorien ergeben sich die Unterschiede der jeweiligen narrativen Kategorien „Mann“, „Frau“, „Tier“ (im Folgenden am Beispiel eines Rindes).
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Abb. 27 : Narrative des Doing Gender und Doing Species im Wiener Fleischerhandwerk um 1900 Quellen: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. Offizielles Organ des Verbandes der Genossenschaften der Fleischhauer und Fleischselcher NiederÖsterreichs, hrsg. von Valentin Jedek, 1910–1914; Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. Zentralorgan für Wahrung der Gesamtinteressen der Fleischhauer und Fleischselcher Österreichs, hrsg. von Georg Hütter, 1910–1914.
Im fleischhandwerklichen Narrativ überstieg das körperliche Kraftpotential des Mannes dasjenige der Frau, reichte aber zugleich an die ungezügelte und ungezähmte Gewalt des Tieres nicht heran. Gemeinsam war den narrativen Epistemen „Mann“ und „Tier“ eine muskulöse Körpererscheinung (gegenüber dem filigranen weiblichen Körper), die sich durch die Kontrolle des Mannes über seinen Körper und einen zielgerichteten Einsatz seiner Kraft einerseits, der ungezügelten sowie unberechenbaren Stärke des Tieres andererseits voneinander unterschieden. Kraft und Kontrolle über seinen eigenen Körper stellen zwei immer wieder auftauchende Eigenschaft des Männlichen dar, so auch im Fleischerhandwerk.837 Neben körperlicher Stärke und der Bereitschaft zu physischer Anstrengung zählte auch ein Kräftemessen mit Tieren und ein Bezwingen der Natur zu den Versatzstücken fleischhandwerklicher Romantik und Ästhetik. Eindrucksvoll stellen das die vom Bildhauer Anton Schmidgruber erstellten Steinskulpturengruppen am Eingangstor des (ehemaligen) Wiener Zentralviehmarktes dar (siehe Abb. 28). Schmidgruber, der auch zahlreiche Plastiken für Bauten an der Wiener Ringstraße im Stil des Historismus entwarf (unter anderem für das k. k. Hofburgtheater, Rathaus, Parlamentsgebäude, den Arkadenhof der Wiener Universität sowie für die Votivkirche), lehnte beide „Stiergruppen“ an die figurative Ästhetik antiker Plastiken und Skulpturen an, was unter anderem der musku837 Vgl. Lönnqvist, Bo: Die verleugnete Natur. Zur kulturellen Paradoxie des „Fleischkleides“. In: Brednich/Schneider/Werner, Natur – Kultur a.a.O., S. 251-257, hier S. 252.
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löse Körperbau und die Nacktheit der Figuren (die Fleischer tragen nur ein Stoffgewand, das ihre Hüften bedeckt) verdeutlichen.838 In der rechten Gruppe bändigt ein Fleischer einen widerspenstigen Stier, indem er ihn an einem Horn fasst und am Maulriemen zieht. Die Anstrengung steht im sichtlich ins Gesicht geschrieben. Entschlossenheit und Körperbeherrschung, wie sie hier Blickrichtung und Körperhaltung vermitteln und für einige Skulpturenentwürfe Schmidgrubers für die Ringstraßenbauten typisch sind, stellen auch in den fleischhandwerklichen Narrativen zentrale Charakteristika der maskulinen Vorstellung vom Fleischerberuf dar. So bilden in den Zeitungsnarrativen Körperkontrolle und selbstbestimmte Zielgerichtetheit der Körperkraft das speziezistische Element der Unterscheidung von „Mann“ und „Frau“ bzw. dem „Menschen“ einerseits und dem „Tier“ andererseits. Die Binnendifferenzierung dieser Konstruktion des Menschlichen erfolgte über die unterschiedlichen genderspezifischen Charakteristika. Courage, Feinfühligkeit, Empathie und Bedachtheit als spezifische Attribute des Weiblichen grenzten sich von der Konstruktion des Männlichen ab, als dessen genderspezifische Qualitäten Wagemut und die Bereitschaft, körperlich anstrengende Arbeiten bereitwillig anzunehmen, galten. Diese genderspezifischen Unterscheidungen hingen wiederum von den narrativen Konstruktionen körperlicher Kraft und körperlicher Erscheinung ab. In Relation mit dem Epistem „Frau“ löste sich im Epistem „Mann“ die speziezistische Unterscheidung zum Epistem „Tier“ auf. Im „Mann“ verbanden sich animalische mit menschlichen Qualitäten (Körperkraft/muskulöse Körpererscheinung und Kontrolle/Zielgerichtetheit), wodurch die genderspezifische speziesinterne Differenzierung von „Mann“ und „Frau“ überhaupt erst möglich wurde. Körperbezogene Narrative eines Doing Gender und eines Doing Species waren untrennbar miteinander verbunden. Die fleischhandwerklichen Narrative, in denen sich diese unterschiedlichen Differenzkriterien verschränkten, verweisen immer auch auf die wirtschaftlichen Ausdifferenzierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert, die Weiblichkeit als eine neue ökonomisch relevante Größe im Kontext der Fleischversorgung hervorbrachten.839 Eine neue Sachlichkeit in der Tierschlachtung und Fleischproduktion ließ stereotype patriarchalische Berufsvorstellungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich aufweichen; gänzlich auflösen vermochten die Entwicklungen auf dem Gebiet 838 Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 10, 1993, S. 318-319, s.v. Schmidgruber, Anton. 839 Die Wirtschaftswissenschaftlerin Stephanie Seguino verweist darauf, „dass […] Geschlecht zwar immer wirkt, aber nicht immer relevant ist.“ Olloz, Nadja Mariangeles: Tagungsbericht „Geschlecht im Kontext verschärfter ökonomischer Krisen“, Bern, September 2012. In: Soziologiemagazin. Publizieren statt archivieren, URL: http://soziologieblog.hypotheses.org/4623 [Stand: 15.9.2015].
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der Fleischversorgung und fleischproduzierenden Arbeit diese jedoch nicht. In fleischhandwerklichen Erzählungen bestimmten maskuline Stereotype die beruflichen Vorstellungen und Selbstbilder. Neu war, dass Fleischer verstärkt seit der Jahrhundertwende ihre Berufsbilder nicht mehr grundsätzlich gegenüber ihren Vorstellungen des Weiblichen abgrenzten, das heißt: Nach wie vor bestanden zwar stereotype Konzepte beider Geschlechter, die Grenzen zwischen beiden gestalteten sich allerdings zunehmend durchlässig. Fingerspitzengefühl, Sorgfalt und Empathie als spezifische Attribute des Weiblichen stellten kaum mehr einen Widerspruch zum narrativen Konstrukt männlicher Stärke oder maskulinen Wagemuts dar.
Abb. 28 : Eingangstor, Wiener Central-Schlacht- und Viehmarkt St. Marx, ca. 1890 Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Inventarnummer 114.206 - B/C.
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Im Zuge der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert veränderte sich nicht nur das Arbeiten. Auch die beruflichen Vorstellungen vom Fleischerhandwerk unterlagen einem Wandel. Fleischer naturalisierten vermeintlich typische Fähigkeiten und Eigenschaften des Fleischerberufs, die ökonomischen und gesellschaftlichen Verformungen scheinbar trotzten. Sie bedienten sich handwerksromantischer Ideale, um eine als bedrohlich wahrgenommene neue Zeit zu bewältigen. So wie der Schlachthof St. Marx und der an diesen angrenzende Zentralviehmarkt soziale Orte darstellten, an denen sich städtische und gesamteuropäische Transformationsprozesse en miniature zeigten, so stellten die Narrative des Doing Gender und Doing Species ineinander verwobene soziale Phänomene dar, die darauf verweisen, wie historische Akteure die mit technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen verbundenen Herausforderungen bewältigten. Die Analyse fleischhandwerklicher Narrative zeigt die Allumfassendheit der Transformation der fleischhandwerklichen Arbeits- und Lebenswelt. In den Erzählungen verdichteten sich Transformationsprozesse des gesamten Gewerbes, die die handwerkliche Arbeitswelt und mit ihr auch die Sicht der historischen Akteure auf die Welt veränderten. Technische und organisatorische Veränderungen, Prozesse beruflicher Ausdifferenzierung und Professionalisierung ebenso wie ein paradigmatischer Wandel des legitimen Wissens veränderten nicht nur das konkrete Arbeiten, sondern auch die Vorstellungen, Ideale und Bedürfnisse der historischen Akteure. Der Wandel der Arbeit umfasste immer auch einen Wandel von lebensweltlichen Perspektiven, die im Schlachthof, einem paradigmatischen Ort der Moderne, greifbar werden.
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7. Der Schlachthof als Paradigma Ein Blick auf den Schlachthof und Zentralviehmarkt St. Marx, urteilten Wiener Magistratsbeamte um die Wende zum 20. Jahrhundert, gebe einen Einblick in die Funktionsweisen und Wirkungsprinzipien der Wiener Fleischversorgung sowie zugleich in die Versorgungsstrukturen der gesamten Monarchie.840 In der Analyse wurde deutlich, welche Bedeutung St. Marx für die Versorgung der Reichshaupt- und Residenzstadt seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte. St. Marx war ein Ort, an dem sich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel en miniature zeigte. Vielleicht erscheint es ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt zu behaupten: St. Marx ist Wien, und Wien ist das Fin de Siècle, der urbane Spiegel einer zeithistorischen Epoche, in der sich Spannungen der Moderne verdichteten: Fortschreitende Technisierung und Rationalisierung von Arbeitsprozessen einerseits, die Sehnsucht nach ständischen Gewerbeverhältnissen andererseits, eine aufkeimende politische Liberalisierung einerseits, politischer Antisemitismus und Geschichtsdarwinismus andererseits. Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren eine Zeit der Nervosität, Gereiztheit und Aufregung, für deren historiografische und literarische Verarbeitung Wien häufig als narratives und symbolisches Motiv herhalten musste. Die Diskussionen, Befindlichkeiten und Stimmungslagen schwirrten dabei nicht (nur) wie ein ideologisches Kontagium über den Köpfen der Menschen, das sie von Zeit zu Zeit mit einem Gespür für unheilverheißende Botschaften infizierte. Die Unsicherheit, Angst, Wut und Bürde der Zeit werden konkret in unterschiedlichen Feldern des Alltags greifbar, so unter anderem in der leidenschaftlich und unnachgiebig geführten Debatte um das Schächten. Deren körperliche Dimensionierung ist ein Beispiel für die Stärke einer mikroskopischen Perspektive und das Aussagepotential einer historischen Kulturanalyse, die im räumlichen Klein semantische Vielfalt sichtbar macht. Und ein soziales Phänomen bedarf unterschiedlicher Perspektivierungen, um sich die Bedeutungsvielfalt, die Spannungen und Widersprüche eines sozialen Feldes wie dasjenige des Fleischerhandwerks vor Augen zu führen. Um den Untersuchungsgegenstand in seiner Vielschichtigkeit zu verorten, untersuchte ich zunächst die beruflichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontexte des Schlachthofes St. Marx. Es wurde gezeigt, dass die Inbetriebnahme des Schlachthauses in St. Marx sowie die Einführung des Schlachthauszwanges den Prozess einer beruflichen Ausdifferenzierung im Wiener Fleischergewerbe verstärkte (Kap. 5.1.1). Immer weniger Fleischer schlachteten Tiere, immer mehr spezialisierten sich auf die Fleischverarbeitung und 840 Vgl. HoráČek/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 27.
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Wurstherstellung. Die versorgungswirtschaftlichen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen der zweiten Jahrhunderthälfte verstärkten zudem die Konflikte zwischen den in Genossenschaften organisierten Fleischern und städtischen Behörden (Kap. 5.1.2). Forderten letztere eine Modernisierung der Fleischversorgung, die vor handwerklichen Gewohnheitsrechten und tradierten Kompetenzen nicht haltmachen durfte, lehnten Fleischer die neue Kommunalpolitik seit der Jahrhundertmitte immer wieder als rücksichts-, gewissenund skrupellos ab. Die Vorsteher der Wiener Genossenschaften der Fleischhauer und Fleischselcher erklärten die städtische Wirtschafts- und Versorgungspolitik zum Feind aller Handwerker, beschworen die Geschlossenheit des Gewerbes und stellten in Publikationen, Reden und öffentlichen Auftritten die Fleischer als patriotisch, monarchietreu und für die städtische Versorgungswirtschaft unverzichtbar dar. Wie sehr auch die Genossenschaftsvorsteher ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Wiener Fleischern propagierten, so hat die Analyse gezeigt, dass unter den Gewerbetreibenden erhebliche wirtschaftliche Differenzen, soziale Hierarchien und unterschiedliche Möglichkeiten zur politischen Partizipation bestanden (Kap. 5.1.3). Während nur wenige Fleischer einen umsatzstarken Betrieb führten und zum Beispiel mehr als 100 Ochsen in der Woche schlachteten, stand ein kleinerer Wiener Fleischer, der in demselben Zeitraum lediglich zwei bis vier Ochsen tötete und verarbeitete, unter einem erheblich größeren finanziellen Druck und beruflichen Risiko. Denn er musste für die laufenden Betriebskosten aufkommen, hatte einen kleineren Kundenkreis, eine geringere Nachfrage nach seinen Waren und verfügte im Unterschied zu Fleischern mit einem großen Schlachtpensum meistens nicht über geschäftliche Beziehungen, die ihm lukrative Aufträge und hohe Umsätze ermöglichten. Von den beruflichen, ökonomischen und versorgungspolitischen Veränderungen profitierten vor allem wohlhabendere Fleischer. Sie konnten horrende Kredite aufnehmen, verwandtschaftliche Beziehungen zu den Viehhändlern garantierten ihnen ebenso geschäftliche Sicherheit wie ihre Kontakte zur Wiener Kommunalpolitik. Wie am Beispiel des städtischen Kreditwesens gezeigt, konnten sie zudem auf den politischen Entscheidungsprozess starken Einfluss ausüben (Kap. 5.2.3). Trotz einer Modernisierung der Fleischversorgung bestanden im Wiener Fleischergewerbe auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitunter Arbeitsverhältnisse wie zu Zunftzeiten: Lehrlinge und Gesellen wohnten nicht selten beim Meister, der für ihre Verpflegung und Kleidung aufkam, Meistersöhne konnten aufgrund ihrer familiären Herkunft ihrerseits leichter als andere Gesellen die Meisterprobe ablegen, und infolge der eingeschränkten Gewerbefreiheit in den frühen 1880er Jahren hatte die Genossenschaft das ausschließliche Monopol über Inhalt und Dauer der Ausbildung.
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Neben beruflichen Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen, wachsenden Konflikten zwischen Fleischern und städtischen Behörden sowie den – im Hinblick auf den Geschäftsumfang und die Möglichkeit zur politischen Einflussnahme – immer größer werdenden Unterschieden innerhalb des Wiener Fleischergewerbes veränderten sich im Untersuchungszeitraum die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, einen fleischhandwerklichen Beruf auszuüben. In der Analyse des ökonomischen Kontextes wurde deutlich, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fleischkonsum der Wiener Bevölkerung einem starken Wandel unterlag (Kap. 5.2.1). Die Wienerinnen und Wiener verbrauchten zunehmend mehr Schweinefleisch und immer weniger Rindfleisch. Dies war zum einen auf eine Intensivierung der Schweinezucht zurückzuführen (verkürzte Mastdauer bei gleichzeitig höherem Schlachtgewicht). Zum anderen stand der Wandel in unmittelbarem Zusammenhang mit dem vorab untersuchten Prozess der beruflichen Spezialisierung unter Wiener Fleischern, die sich seit der Jahrhundertmitte verstärkt der Herstellung von Würsten und damit auch der Verarbeitung von Schweinefleisch widmeten. Viele der Veränderungen waren alles andere als wienspezifisch. Die wachsende Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung, sinkende Schlachtzahlen und immer größere Importe von Fleischstücken trafen ebenso auf andere europäische Städte zu wie der Bau von öffentlichen gemeindeeigenen Schlachthöfen und Viehmärkten oder die Herausbildung einer kommunalen Verwaltung, die regulierend und kontrollierend in die städtische Wirtschaftsund Versorgungsorganisation eingriff und althergebrachte Arbeitsstrukturen grundlegend veränderte (Kap. 5.3.1). Der kommunalpolitische Gleichschritt in den Städten Europas resultierte aus vergleichbaren versorgungswirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen deren Behörden konfrontiert waren. Daher tauschten Kommunalbeamte, Politiker, Architekten und Ingenieure ihre Erfahrungen und ihr Wissen untereinander aus, um ähnlichen Problemen mit ähnlichen Lösungsansätzen zu begegnen. Dies traf auch auf ihr Streben nach Hygiene zu, womit die Behörden im Kontext des zeitgenössischen Diskurses um die Stadtassanierung auf eine massenhafte Produktion gesundheitlich unbedenklichen Fleisches abzielten und darin zugleich ein politisches und volkserzieherisches Mittel sahen, soziale Unruhen zu verhindern und die Städterinnen und Städter als selbstverantwortliche und solidarische Subjekte zu adressieren (Kap. 5.3.2). Wiener Fleischer beanstandeten einen solchen internationalen Deutungshorizont von Problemlagen, die für sie im Unterschied zu den städtischen Behörden spezifisch regionale Entwicklungen darstellten. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Deutungsperspektiven, an die sich weitere Gegensatzpaare (unter anderem die historische Zwangsläufigkeit und Legitimität versus Willkür von Reformen, die Modernisierung/Liberalisierung der Fleisch-
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versorgung versus das Ideal berufsständischer Wirtschaftsordnung) anschlossen, befeuerten Konflikte und Spannungen. Ausgehend von diesem wirtschafts- und sozialhistorischen Setting richtete sich mein Blick ins zunehmend Kleine: Zunächst rückten der Schlachthof und Viehmarkt St. Marx in ihren räumlichen Dimensionen in den Mittelpunkt der Analyse. Hierbei untersuchte ich den wechselseitigen Zusammenhang von räumlichen Ordnungen und Arbeitspraktiken (Kap. 6.1.1). In der Analyse wurde deutlich, dass sich das Töten, Zerlegen, Verarbeiten von Tieren und die bauliche Gestaltung der Schlachträume ebenso wechselseitig bedingten wie der Zusammenhang zwischen Raumordnungen, Kontrollen und Disziplinierungen der Arbeitenden. Der Architekt des Central-Schlacht- und Viehmarktes St. Marx unterteilte die gesamte Anlage in mehrere Räume, an denen Fleischer, Markthelfer und Aufseher jeweils unterschiedlichen Arbeiten nachgingen. Die räumliche Trennung einzelner Arbeitsschritte erhoben die Behörden zur Norm einer modernen Tierschlachtung und Fleischproduktion. In der zweiten Jahrhunderthälfte bildete sich eine Arbeitsordnung heraus, die der Umwelthistoriker William Cronon treffend als „disassembly line“841 bezeichnet hat – mit dem wesentlichen Unterschied, dass in Wien (anders als im Fall der industrialisierten Tierschlachtung in Chicago) handwerkliche Arbeit sowie die Erfahrung und das spezifische Wissen und Können des Fleischers für die Tierschlachtung und Fleischproduktion unentbehrlich blieben. Um das Handeln von Fleischern, Markthelfern, aber auch vom Aufsichtspersonal berechenbarer zu gestalten, bediente sich die Schlachthaus- und Viehmarktdirektion unterschiedlicher Kontroll- und Disziplinierungspraktiken (Kap. 6.1.2). Der Umbau des Schlachthofes vom Kammer- zum Hallensystem Anfang der 1880er Jahre machte das Arbeiten zunehmend sichtbar und erleichterte es Aufsehern Fleischer zu überwachen. Überdies erfolgten Kontrollen nicht nur von Oben, sondern wurden immer auch quer durch die Arbeitenden ausgeübt. Am Beispiel der Hierarchien innerhalb des Aufsichtspersonals wurde gezeigt, wie sie sich durch ihre Bereitschaft und ihr Bedürfnis, Arbeit nach Dienstvorschrift und gemäß der Hausordnung auszuüben, selbst kontrollierten. Desgleichen disziplinierten sich auch Fleischer selbst, indem sie unter Bezugnahme auf das sogenannte handwerksmäßige Arbeiten – das zentrale Topos ihres beruflichen Arbeitsstolzes – die Logik einer rationalisierten und auf Effizienz ausgerichteten Arbeitsordnung reproduzierten. Die räumliche Konzentration der Tierschlachtungen bündelte die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren. Für die Wienerinnen und Wiener galten Schlachthöfe als schmutzige, lärmende und stinkende Ort der Stadt. Zugleich garantierten Kontrollen durch Aufseher und Tierärzte die Produktion 841 Cronon, Nature's Metropolis, S. 11.
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gesundheitlich unbedenklichen Fleisches. Hinzu kam, dass die städtischen Behörden und der Architekt des Schlachthofes und Viehmarktes St. Marx Rudolf Frey die gesamte Anlage in reine und unreine Räume unterteilt hatten. Im Schlachthaus verwandelte sich das „unreine“ Tier in „reines Fleisch“. Hier wurde die Arbeit der Fleischer am intensivsten und häufigsten überwacht. Hier zeigte sich, wie sehr versorgungswirtschaftliche Motive mit dem behördlichen Streben nach Hygiene zusammenhingen. Dieses Paradoxon zwischen der Herstellung „reinen Fleisches“ an einem „unreinen Ort“ war kennzeichnend für die gesamte Tierschlachtung und Fleischproduktion im Untersuchungszeitraum. Wie in der Analyse deutlich wurde, stellte für die Schlachthof- und Viehmarktdirektion Hygiene als ein Bündel aus Wissen und Praxis immer auch ein Mittel dar, Arbeitsbeziehungen zu hierarchisieren und eine bestimmte Arbeitsordnung zu etablieren. Nach der Analyse der räumlichen Dimension der Transformation rückten die konkreten Arbeitspraktiken in den Mittelpunkt der Untersuchung. Eine zentrale Veränderung in der Tierschlachtung und Tierverarbeitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte die zunehmende Technisierung einzelner Arbeitsschritte dar, welche die Behörden zur Norm einer modernen Tierschlachtung und Fleischproduktion erklärten (Kap. 6.2.1). Technisierung habe ich als die Umformung von Produktionsproblemen, die sich entweder aus arbeitsorganisatorischen Gründen ergaben oder aus dem Umgang mit Tieren resultierten, in Herausforderungen der Arbeit definiert, die Menschen unter verstärktem Einsatz von Maschinen bewältigten. Technik stellte dabei ein von Menschen geschaffenes Arbeitswerkzeug dar, umfasste ein spezifisches Wissen, das technische Artefakt zu bedienen und stellte immer auch eine Hinterlegung von Arbeitspraktiken dar. In diesem Zusammenhang interessierte mich, wie Fleischer einer zunehmend rationalisierten und technisierten Arbeit und der Einführung neuer Werkzeuge und Maschinen begegneten. Der Einsatz neuer Maschinen zum Beispiel in der Verwertung von Kadavern oder tierischen Nebenprodukten eröffnete neue Möglichkeiten, tierische Körper als organische Rohstoffe zu nutzen. Die Entwicklung und Einführung neuer Maschinen schuf und setzte ein neues Know-how voraus. Techniker, Ingenieure und erfindungsreiche Fleischer traten als Experten mit neuem Fachwissen auf den Plan. Fleischer sahen sich keineswegs als Opfer einer technizistischen Arbeitsideologie. Sie vermochten neue Techniken zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil zu nutzen. Es bestand nicht zwangsläufig ein Widerspruch zwischen einer immer umfassenderen Technisierung der Tierschlachtung und insbesondere der Fleischproduktion einerseits und handwerklichen Arbeitsformen andererseits. Fleischer sahen in der Einführung neuer Werkzeuge und Maschinen eine Bedrohung, zugleich war es gerade die technische Entwick-
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lung, die handwerkliches Wissen und Können verstärkte und für die Fleischproduktion unentbehrlich machte. Wie in der Analyse deutlich wurde, bildeten sich zahlreiche Enklaven fleischhandwerklicher Arbeit heraus, die die Genese eines exklusiven und detaillierten Know-how begünstigte. Fleischer wurden einerseits immer mehr zu ausgewiesenen Meistern in dem Metier der Fleischverarbeitung, das der Lehrling durch Beobachtung und Nachahmung erlernte. Andererseits blieben bestimmte Arbeitsschritte von der Technisierung unberührt, weil entweder keine entsprechenden Verfahren existierten, die das handwerkliche Wissen und Können des Fleischers entbehrlich machen konnten oder weil Fleischer sich schlichtweg weigerten mit neuen Techniken zu arbeiten. Vor allem aber stellte im gesamten Untersuchungszeitraum die Zerlegung des Tierkörpers ein unangefochtenes Terrain fleischhandwerklicher Erfahrung dar. Der tierische Körper war die zentrale Determinante einer grenzenlosen Technisierung. Diese organische Grenze war noch ausschlaggebender für die Persistenz handwerklicher Arbeitsformen als der Widerstand von Fleischern gegenüber neuen Werkzeugen und Maschinen, den sie mit Verweis auf Arbeitsgewohnheiten oder berufsständische Traditionen rechtfertigten. Mehr noch als die imaginierte Geschichte des Handwerks bot sich Fleischern die Gegenwart ihres Gewerbes an, um sich ihrer Unverzichtbarkeit für die städtische Fleischversorgung zu vergewissern. Denn das Ausnehmen, Zerteilen und Enthäuten von Tieren waren Arbeiten, bei denen ein Fleischer sein durch Erfahrung erworbenes Wissen unter Beweis stellen konnte. Zwar fand in der zweiten Jahrhunderthälfte das Arbeiten räumlich und organisatorisch ausdifferenziert, rationalisiert und technisiert statt. Die räumliche Konzentration der Arbeitenden, die Teilung der Arbeit und die Verräumlichung der einzelnen Arbeitsschritte, die Spezialisierung von Werkzeugen und Maschinen sowie die Klassifizierung der Angestellten in Kontrollpersonal und Arbeitspersonal (Marktdiener, Reinigungskräfte) kennzeichneten eine rationalisierte und kapitalistische Produktionsweise. Im Untersuchungszeitraum blieb aber immer das Handwerk die eigentliche Basis der Arbeit. Für die städtischen Behörden stellten die Beschleunigung der Arbeit und die körperliche Entlastung der Arbeitenden infolge des Einsatzes neuer Werkzeuge und Maschinen zentrale Mechanismen wirtschaftlicher Modernisierung dar (Kap. 6.2.2). Durch die Anwendung (natur)wissenschaftlichen Wissens erhofften die Reformer aus Politik und Verwaltung Arbeit zu rationalisieren. Vor allem in der Tierverwertung verschränkten sich physikalische, chemische, veterinärmedizinische, bakteriologische und ingenieurwissenschaftliche Disziplinen. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Entwicklung von neuen Werkzeugen und Maschinen keinem Masterplan folgte. Vielmehr stellte sie das Resultat einer anwendungsorientierten Lösung vorausgegangener Probleme und Fehler dar.
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Für ihre Entwickler und Befürworter waren die neuen Maschinen Ausweis einer technologischen Meisterleistung. Sie stellten Objekte dar, in denen sich wissenschaftliches Streben und szientistischer Glauben materialisierten. Deren Einsatz bot die ultimative Möglichkeit, die wachsenden Herausforderungen einer rasend voranschreitenden Urbanisierung bewältigen zu können. Das Credo lautete: Nur mit neuen Techniken hielten die Menschen der ökonomischen und gesellschaftlichen Beschleunigung stand, die altbewährte Lösungen nutzlos und unzweckmäßig gemacht habe. Die Technisierung der Arbeit verschob bestehende Kompetenzen und weitete die Befugnisse der kommunalen Verwaltung aus. Am Beispiel der Tierverwertung habe ich gezeigt, wie Fleischer den Anspruch städtischer Behörden auf tierische Kadaver, die mithilfe einer neuen Maschine in Fett und Leim verwandelt werden konnten, als illegitime Ausdehnung der kommunalpolitischen Verfügungsgewalt anfangs ablehnten. Mit der Zeit gewöhnten sich jedoch Fleischer an neue Werkzeuge und Maschinen. Wie umfassend solche Habitualisierungen waren, zeigte sich exemplarisch am Wandel der fleischhandwerklichen Arbeitsethik (Kap. 6.2.3). Die von Veterinärmedizinern und Kommunalbeamten seit den 1870er Jahren propagierte „Humanisierung“ der Tierschlachtung mit der sogenannten Bouterolle, die erstmals das Ineinanderfallen von Betäubung und Tötung möglich machte, lehnten Fleischer zunächst ab. Weil das Schlachten mit der Bouterolle ein handwerkliches Können weitgehend überflüssig machte, befürchteten sie eine Entwertung des Fleischerberufs. Zudem beklagten sie, dass die Bouterolle zur Massentierschlachtung führe, die sie als grausam bezeichneten, weil sie den Tötenden aus der Verantwortung zu töten entlasse. Innerhalb eines Zeitraums von circa 20 Jahren übernahmen Fleischer aber die Argumentation der „Humane Cattle Slaughter“842. Die Notwendigkeit des schnellen und präzisen Tötens war nun auch für sie zum Ausweis einer „humanen Tierschlachtung“ geworden. Technische Eigenschaften entkoppelten sich damit ihres artifiziellen Bezugsrahmens und wurden zu Qualitäten fleischhandwerklicher Arbeit. Neben dem Argument einer Habitualisierung wird die veränderte Einstellung von Fleischern gegenüber neuen Techniken vor allem unter Berücksichtigung der Stimmungslage innerhalb des Wiener Handwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar. In den 1870er Jahren kämpften Fleischer um verlorene Kompetenzen und Freiheiten, die sie mit Einführung der Gewerbefreiheit 1859 an städtische Behörden hatten abtreten müssen. Die heftige Kritik bis in die 1890er Jahre an neuen Werkzeugen und Maschinen fiel in die Zeit einer sich formierenden Gewerbetag- und Handwerksbewegung. Im Zuge derer vollbrachten es die Fleischer schließlich, politische Rechte und einen neuen autonomen Handlungsspielraum gegenüber der kommunalen Ver842 Vgl. MacLachlan, Coup de Grâce, S. 149.
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waltung zu erkämpfen. Mit dem Bewusstsein, dass ihr handwerkliches Wissen und Können für die großstädtische Fleischproduktion unerlässlich waren, wich die Angst vor neuen Techniken dem beruflichen Stolz und der Selbstsicherheit, für die Wiener Versorgung unentbehrlich zu sein. Das waren die gesellschaftlichen Voraussetzungen, warum Fleischer trotz anfänglicher Kritik, neue Werkzeuge, Maschinen und Techniken akzeptierten. So wird deutlich, dass die Analyse der technischen Dimension fleischhandwerklicher Arbeit eines Blickes auf umfassendere, städtische, politische und gesellschaftliche Prozesse bedarf. Die Einstellungen von Fleischern gegenüber neuen Techniken sowie der Wandel ihrer Perspektive verweisen immer auf ihre Beziehungen zu den jeweiligen historischen Akteuren. Dies betraf nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch das Verhältnis von Mensch und Tier im Schlachthof und auf dem Viehmarkt, das sich als eine besonders augenfällige Herrschafts- und Gewaltbeziehung darstellte. Die Analyse der Mensch-Tier-Beziehung kann eine neue Perspektive auf die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt und Fleischproduktion im 19. und frühen 20. Jahrhundert eröffnen. So konnte ich anhand der unterschiedlichen Vorstellungen über das „gute“ Töten von Tieren den Wandel einer fleischhandwerklichen Arbeitsethik nachzeichnen. Der Umgang von Fleischern und Veterinären mit Tieren bedurfte eines spezifischen Wissens über deren Anatomie und Sozialverhalten. Tiere stellten immer auch eine gesundheitliche Gefahr für Menschen dar, weil sie diese verletzen und mögliche Überträger von Krankheiten sein konnten. Die körperliche Dimension der Arbeit war daher Gegenstand des letzten Kapitels der Untersuchung. Ich fragte nach dem Zusammenhang von Körperwissen, Körperpraktiken, Körperbildern und Körpererfahrungen. Dabei stand zunächst das (medizinische) Körperwissen von Fleischern und Ärzten im Vordergrund (Kap. 6.3.1). Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte eine epistemische Umbruchszeit medizinischer Perspektiven dar. Zwar existierten humoral- und zellularpathologische Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit nebeneinander. Jedoch gewannen biomedizinische Konzepte, die Gesundheit und Krankheit in einem antithetischen Verhältnis zueinander positionierten und die Ursache von Krankheiten in organischen Veränderungen aufgrund der Übertragung von Viren sahen, gegenüber älteren Vorstellungen Vorrang, für die im Kontext eines miasmatischen Paradigmas in erster Linie Umwelteinflüsse für Gesundheit und Krankheit ausschlaggebend waren. Die Vorstellung, dass unsichtbare Mikroorganismen Krankheiten verursachten, veränderte die Vorstellung von Tieren und verunsicherte das Gefühl, dem eigenen Körperbefinden vertrauen zu können. Fleischer fürchteten nicht mehr so sehr, beim Arbeiten von einem Tier verletzt zu werden, sondern vielmehr sich mit Erregern anzustecken. Das Tier verwandelte sich in einen organischen Träger von unsichtbaren gesundheitlichen Gefahren. Zugleich ordneten Flei-
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scher ihr körperliches Befinden dem ärztlichen Befund unter, weil sie ihrem Empfinden zunehmend misstrauten und der vermeintlich sachlicheren und nüchternen Expertise des Arztes größeren Glauben schenkten. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit verweisen auf die jeweils unterschiedlichen Interessenlagen der historischen Akteure: versorgungspolitische Interessen, die auf die Deckung städtischer Bedarfslagen zielten, einerseits, die Befriedigung beruflicher und fleischhandwerklicher Bedürfnisse beim Arbeiten andererseits. Für die städtischen Behörden hatte die Reproduktion der Arbeitskraft Vorrang gegenüber dem Bedürfnis von Fleischern, sich beim Arbeiten wohl zu fühlen. Für diese war neben einer körperlichen Störungsfreiheit ein allgemeines Wohlbefinden beim Arbeiten von Bedeutung ebenso wie das Gefühl der Eigenverantwortung und sozialen Anerkennung. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Umbruchszeit medizinischer Wissensordnungen, wie ich sie für das Wiener Fleischergewerbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht habe, keinen reibungslosen Übergang darstellte, bei dem ein Paradigma das andere ablöste. Beide bestanden neben einander, wie das Beispiel des Zusammenhangs von Grausamkeit und der Angst vor Verrohung zeigt. Die Vorstellung, dass der Anblick von Tierquälereien eine verrohende Wirkung auf den Menschen habe – eine These, die bereits Kant formulierte –, fußte auf einem miasmatischen Konzept, demzufolge das menschliche Gemüt durch krankmachende Ansteckung ebenso gefährdet sei wie der menschliche Körper. Die erzieherische Stoßrichtung von Tierschutz im 19. Jahrhundert, mit dem immer auch versorgungspolitische Interessen und das Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung einhergingen, verweist auf die Verquickung von gesundheitlichen und moralischen Risiken. Sowohl Fleischer als auch städtische Behörden bedienten sich einer Lebens- und Organismusmetaphorik, um die Gefahren für die Gesundheit des sozialen Körpers, womit sie auf den handwerklichen Berufsstand ebenso Bezug nahmen wie auf die Stadt, zu verdeutlichen. Eine dieser Gefahren für den sozialen Körper Stadt war dessen Versorgung mit Fleisch. Das rasante Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte eine neue Organisation der Fleischversorgung und -produktion erforderlich; die räumliche Konzentration der Tierschlachtungen bündelte zugleich die Gefahren, die von Tieren, ihrer Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung ausgingen. Die Möglichkeiten, Tiere zu nutzen, waren vielfältig (Kap. 6.3.2). Fleischer, Händler, Markthelfer und Veterinäre versuchten den tierischen Körper zu verändern und restlos zu verwerten. Mit ihrem naturwissenschaftlichen Blick verwandelten sie Tiere in Forschungsobjekte einer veterinärmedizinischen Neugierde, und das wirtschaftliche Interesse von Fleischern und den städtischen
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Behörden machte sie zu organischen Roh- und Werkstoffen. Die Verwissenschaftlichung und Ökonomisierung des tierischen Körpers unterwarf diesen immer mehr der Verfügungsgewalt des Menschen. Zugleich bedienten sich Fleischer anthropomorphisierender Tierbilder, um eine vergangen und verloren geglaubte Idylle handwerklicher Arbeitsverhältnisse zu entwerfen. Die Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt hatte auch eine emotionale Dimension. Mit einem körperhistorischen Zugang untersuchte ich die Gefühlswelt Wiener Fleischer im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Kap. 6.3.3). Dabei standen zunächst deren Narrative im Mittelpunkt. Wie in der Analyse deutlich wurde, nahmen Fleischer Veränderungen als dramatische Verschlechterungen wahr und nutzten nostalgische Erzählungen als narrative Strategien sozialer Gruppenbildung. Vor allem das von der Genossenschaft organisierte gemeinsame Auftreten von Fleischern in der Öffentlichkeit stellte in der Retrospektive für viele ein hochemotionales, identitätsstiftendes und biografisch bedeutendes Ereignis dar. In ihren Erzählungen erinnerten sie an die körperliche Nähe und an ein Gefühl emotionaler Verbundenheit. Überhaupt bot eine körperorientierte Untersuchung von historischen Gefühlswelten die Möglichkeit, einen weiteren Aspekt des Wandels fleischhandwerklicher Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Am Beispiel des Gesundheitserlebens und Wohlbefindens von Fleischern beim Arbeiten habe ich gezeigt, dass zwischen körperlichen Veränderungen, Gefühlen und konkreten Handlungen ein wechselseitiger Zusammenhang bestand. Dabei bildete die Reziprozität sozialer Arbeitsbeziehungen einen wichtigen Bezugsrahmen für das eigene Erleben und Erfahren von körperlichen Anstrengungen und psychischen Belastungen beim Arbeiten. Das Sprechen über gesundheitliche Beschwerden, körperliche Anstrengungen und andere Sorgen konnte entlastend wirken. Das subjektive Wohlbefinden hing zum einen maßgeblich vom sozialen Arbeitsumfeld ab. Zum anderen war das Erleben der Arbeit durch idealisierte Körperbilder bedingt. Je indifferenter sich das Verhältnis zwischen Selbstbild und Idealbild für Fleischer gestaltete, desto unbedeutender waren für sie auch körperliche Anstrengungen. Das Ideal des Fleischhandwerkers stellte körperliche Stärke, den entschlossenen zielgerichteten Einsatz von Kraft sowie die Bereitschaft zur anstrengenden und mitunter auch gesundheitsbelastenden Arbeit als zentrale Attribute des Fleischerberufes heraus. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass der häufige Gebrauch einer Körper-, Lebens- und Organismusmetaphorik, die die Narrative von Wiener Fleischern prägte ebenso wie die Thematisierung des eigenen Körpers in unterschiedlichen Kontexten mehr als nur rhetorische Wendungen waren. Im Körperbild und Körperleben des Fleischers verdichteten sich basale Vorstellungen und Selbstverständlichkeiten vom Handwerk. Fleischer nutzten Körperbilder, um wahrgenommene
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Gefahren zu artikulieren. Bedrohungen für den Status quo des Handwerks und den gesamten Berufsstand waren immer auch ein Angriff auf das körperliche Selbstverständnis und umgekehrt. Die narrative Verkörperlichung sozialer und beruflicher Problemlagen gibt somit ein analytisches Mittel an die Hand, die historische Arbeitswelt Wiener Fleischer im 19. Jahrhundert zu untersuchen. Abgesehen von den handwerklichen Erzählungen vermittelten Fleischer ihre Vorstellungen vom beruflichen Körperideal durch bildliche Repräsentationen. Anhand der fotografischen Inszenierung des fleischhandwerklichen Körpers habe ich gezeigt, wie Fleischer bestimmte Gestiken, Mimiken und das Präsentieren von Werkzeugen dazu nutzten, ein Ideal harmonischer und kollegialer Berufsverhältnisse, deren Herzstück handwerkliche Arbeitsformen und handwerkliches Know-how waren, zu visualisieren. Die narrative und visuelle Inszenierung des fleischhandwerklichen Körpers stellte immer eine Präsentation des männlichen Körpers dar. Bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit grenzten sich immer von Konzeptionen des Weiblichen sowie auch Animalischen ab. Die epistemischen Differenzen, die den Narrativen eines Doing Gender und Doing Species zugrunde lagen, konstituierten und naturalisierten bestimmte gender- und speziesspezifische Eigenschaften. Als männliche Attribute galten Wagemut, Courage, Beherztheit, mitunter aber auch Leidenschaft und Ungestümtheit, zu den weiblichen zählten ebenfalls Courage und eine beherzte Hinwendung zur Arbeit, vor allem aber Feinfühligkeit, Besonnenheit und Empathie. Demgegenüber kennzeichneten „das Tier“ Triebhaftigkeit und Unberechenbarkeit, die nur in anekdotenhaften Erzählungen einem genuin humanen Kalkül wichen. Im Epistem „Mann“ verschränkten sich „weibliche“ (Courage, Beherztheit) und „animalische“ Charakteristika (Ungestümtheit). Diese Vorstellung vom „Tier“ im „Mann“ steigerte sich zu einer in Zeichnungen dargestellten Verbundenheit und Vertrautheit zwischen beiden im Rahmen eines naturromantischen Idylls harmonischer Arbeitsverhältnisse, das die berufliche Gegenwart kontrastierte und die Geschichte des Handwerks als Verlusterzählung präsentierte. In dieser Perspektive waren beide, Mensch/Mann und Tier Opfer der neuen Zeit. Im gesamten Untersuchungszeitraum blieb das Fleischergewerbe eine Männern vorbehaltene Domäne. Auch wenn seit der Jahrhundertwende eine zaghafte Öffnung des Handwerks für Frauen zu beobachten ist, die die neue Sachlichkeit und Nüchternheit im Umgang mit Tieren verstärkten, war nach wie vor ein patriarchalischer Grundtenor vorherrschend, der vor allem die haushälterischen und fürsorglichen Qualitäten als genuin weibliche Eigenschaften herausstellte. Die Analyse der Transformation der fleischhandwerklichen Arbeitswelt gestaltete sich als ein multidimensionales Unterfangen. Weil der Wandel auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung trat, waren verschiedene Zugänge erfor-
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derlich, um den Gegenstand in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen. Ich habe meinen analytischen Blick vom Großen ins zunehmend Kleine gerichtet, um eine kontextualisierende Perspektive, die derjenigen von Fleischern aufgrund der ihr inhärenten Tendenz zu Verallgemeinerungen nicht gerecht werden kann, mit einem Blick in Verbindung zu bringen, der sich an die Lebenswirklichkeit dieser historischen Akteure annähert. Schließlich sind, um mit Pierre Bourdieu in Anlehnung an Virginia Woolf zu sprechen, generelle Ideen immer Generalsideen,843 und eine analytische Perspektive sollte sich, um einen Untersuchungsgegenstand in seiner Vielfalt zu erfassen, vom Feldherrenhügel zu den Untiefen der Schlacht bewegen und den Blick der anonymen kämpfenden Soldaten einbeziehen. Diesen Anspruch, dem ich in dieser Arbeit versucht habe gerecht zu werden, verstehe ich als ein zentrales Unterfangen der historischkulturanthropologischen Forschung. Abschließend möchte ich an dieser Stelle den Versuch unternehmen, die perspektivische Richtung ins zunehmend Kleine umzudrehen, das heißt von den Details erneut auf die diese übergeordneten Kontexte zu blicken. In der Analyse wurde deutlich, dass in einem kleinen lebensweltlichen Ausschnitt – seien es die fleischhandwerklichen Narrative über Arbeitserlebnisse, seien es die konkreten Arbeitspraktiken, die Auseinandersetzung mit neuen Techniken und Arbeitsordnungen oder die konkurrierenden Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit – Wirkungsprinzipien und Funktionsweisen übergeordneter, kontextualisierender Prozesse greifbar werden, die sich auf städtischer und gesamtgesellschaftlicher Ebene zeigten. Zum Beispiel stellten Differenzierungen, Spezialisierungen und Professionalisierungen zentrale Phänomene der Urbanisierung und Modernisierung von Arbeitswelten dar. In vielen unterschiedlichen und miteinander verflochtenen Bereichen des Lebens verdichteten sich städtische Transformationsprozesse, die nicht nur die konkreten Arbeitspraktiken, Raumordnungen und Körpertechniken betrafen, sondern auch die beruflichen, sozialen und individuellen Vorstellungen, Wissensordnungen und Bedürfnisse von Menschen mitbestimmten und veränderten. Der Schlachthof war ein paradigmatischer Ort, an dem unterschiedliche Prozesse städtischer Transformationen in einem kleinen gesellschaftlichen Ausschnitt, der fleischhandwerklichen Arbeitswelt, in verdichteter Form greifbar und nachvollziehbar werden. Eine Analyse des Schlachthofes gewährt nicht nur Einblicke in Prozesse, die in diesem größeren Kontext verortet werden können, sondern eröffnet zudem eine Perspektive auf die historische Genese der gegenwärtigen Fleischindustrie, deren arbeitsorganisatorische, technische und wissensbasierte Grundlagen eine kommunale Verwaltung Mitte des 19. Jahr843 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1997, S. 43.
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hunderts setzte. Bereits die historischen Akteure stellten diese Bedeutung des Schlachthofes und Viehmarktes St. Marx heraus, indem sie beide als paradigmatische Orte beschrieben, an denen sich übergeordnete Prozesse en miniature zeigten.844 Motor des Wandels, wie er hier auf materiell-ökonomischer und politischsozialer Ebene sowie im Hinblick auf den Zusammenhang von Raumordnungen, Arbeitspraktiken und Disziplinartechniken, von handwerklichen Arbeitsformen und einer zunehmenden Technisierung einzelner Arbeitsschritte sowie von Körperwissen, Körperpraktiken, Körperbildern und Körpererfahrungen untersucht wurde, waren die stetig wachsenden Bedarfslagen der Großstadt. Die Fleischversorgung bildete einen zentralen Aufgaben- und Interessenbereich einer neuen kommunalen Regierungspraxis, die, mit neuen politischen Kompetenzen ausgestattet, Herausforderungen bewältigte und Probleme in Angriff nahm, die zwar bekannt waren (Fleischversorgung), die sich aber in radikal neuen Dimensionen stellten (Millionenbevölkerung) und damit auch neue Herausforderungen schufen (Stadthygiene). Der Schlachthof war gerade deshalb ein paradigmatischer Ort, weil hier diese Problematik urbaner Versorgungsanforderungen ebenso greifbar wird wie das Fortschrittscredo der Moderne, das sich im Schlachthof, diesem sozialen Kosmos der Urbanisierung, Rationalisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung verdichtete. Zugleich stellten der Schlachthof und Viehmarkt St. Marx soziale Orte dar, weil hier unterschiedliche Akteure mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessenlagen zusammentrafen und ihre Kompetenzen und Gewohnheitsrechte neu verhandelten; Orte, an denen Menschen ein neues Wissen generierten, ein Wissen, das Konflikte schuf, provozierte und verstärkte, weil es mit tradierten Wissensbeständen kollidierte, Arbeitsweisen und Berufsbilder veränderte und radikal infrage stellte. Der kommunale Schlachthof war ein typisches Phänomen der Moderne im 19. Jahrhundert. Die beruflichen, ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und technologischen Transformationen, die sich in ihm verdichteten und die er katalysierte und symbolisierte, sind von einer ungeheuren historischen Tragweite, auf die es sich einen Blick zu werfen lohnt; einen Blick, der unumgänglich ist, um das historische Fundament und Gewordensein gegenwärtiger Versorgungspolitiken nachvollziehen zu können.
844 Vgl. zum Beispiel: Horáček/Schwarz/Wächter/Bernard/Sylvester, Die Gemeindebetriebe in Österreich, S. 27.
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Epilog – Eine Kritik der Moderne Die finanziellen, sozialen und emotionalen Kosten der fleischhandwerklichen Arbeitswelt hatte der einzelne Gewerbetreibende zu tragen. Reformen implizieren immer den Zwang, Gewohnheiten, Vorlieben und Selbstverständlichkeiten zu überdenken und umzustellen. Sie stellen die Sinnhaftigkeit des Selbstverständlichen infrage. Auch Wiener Fleischer fragten sich nach der Notwendigkeit kommunalpolitischer Reformen auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung. War es wirklich notwendig, ein Gewerbe mit einer jahrhundertelangen Tradition und Organisation, das sich stets bewährt hatte, so radikal zu verändern? Hatten sie, wie Fleischer häufig beklagten, kein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen, die ihren Beruf betrafen? Warum wurden sie gezwungen, an einem Ort ihre Arbeit zu verrichten, mit dem sie nicht einverstanden waren? Wie anders als fehlendes Vertrauen vonseiten der Behörden war es zu verstehen, dass sie beim Schlachten und Zerlegen der Tiere von Aufsehern überwacht wurden? Solche Fragen, die sich Fleischer nach Errichtung der beiden kommunalen Schlachthäuser in St. Marx und in Gumpendorf stellen mochten, und Vorwürfe, die sie erhoben, lassen sie als Verlierer der Moderne erscheinen. Das fleischhandwerkliche Narrativ, das Trauer, Nostalgie und die fatalistische Gewissheit eines bevorstehenden Untergangs kennzeichneten, war nur eine Seite der Medaille. Denn Fleischer waren anpassungs- und wandlungsfähig, innovativ und reformativ. Sie glichen dem von Max Scheler entworfenen Idealtypen des von Modernisierungsprozesssen bedrohten „Homo Faber“, und waren doch zugleich Inbegriff eines technizistischen Fortschrittsoptimisten, wie ihn Max Frisch beschrieben hat.845 Fleischer beriefen sich auf die Vergangenheit, die sie glorifizierten, idealisierten, ohne gegenwärtigen Problemen, Herausforderungen und Möglichkeiten, die ihnen die städtische Reformpolitik anbot, aus dem Weg zu gehen oder diese abzulehnen. Einerseits sind zahlreiche Klagen vonseiten der Fleischer bekannt. Die Zeitungen berichteten über Selbstmorde von verarmten Handwerkern, die Behörden beklagten die Abhängigkeitsverhältnisse und starke wirtschaftliche und soziale Hierarchien im Gewerbe, und die Genossenschaften warnten vor zu viel Reformen mit einer geradezu fatalistischen Gewissheit des bevorstehenden Untergangs. Und mit Untergängen kannten sich die Wienerinnen und Wiener um die Jahrhundertwende, dem Fin de Siècle bekanntlich aus. Trübsinn, Niedergeschlagenheit, Melancholie waren
845 Vgl. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 1995 [Original: Darmstadt 1928]; Frisch, Max: Homo Faber. Ein Bericht. Frankfurt/M. 1957.
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Kernelemente eines Narrativs der Zeit, das Wien, wie es Karl Kraus einmal nannte, zur „österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs“846 machte. Nach meinem Befinden hat in jüngerer Zeit kaum ein anderer in einer solch eindringlichen, konkreten und unterhaltsamen Weise die Wiener Stimmung des Fin de Siècle literarisch zu Papier gebracht wie der Keramiker und Schriftsteller Edmund de Waal in seinem Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“847. „Das Wesen der Zeit“, schreibt de Waal „war der Wandel, etwas, das man im Teilstück, im Fragment, im Melancholisch-Lyrischen, nicht in den grandiosen, schweren, opernhaften Akkorden der Gründerzeit und der Ringstraße ansprechen konnte.“848 Und als Ausweg aus der Zeit blieb das Scheiden aus dem Leben, und mit dem Gedanken an den Tod zu kokettieren, schien eine Wiener Eigenschaft zu sein, wie de Waal weiter schreibt: Liebestod war eine Antwort. Selbstmord war eine schreckliche Normalität […]. Schnitzlers Tochter, Hofmannsthals Sohn, drei von Ludwig Wittgensteins Brüdern, Gustav Mahlers Bruder, sie alle nahmen sich das Leben. Der Tod war eine Möglichkeit, sich vom Alltäglichen abzugrenzen, vom Snobismus, den Intrigen, dem Klatsch, ins »Gleitende« zu entschweben. In »Der Weg ins Freie« erwägt Schnitzler Gründe, sich umzubringen: »wegen Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus Affektation«. Als am 30. Januar 1889 Kronprinz Rudolf Selbstmord beging, nachdem er seine junge Geliebte Mary Vetsera ermordet hatte, erhielt der Suizid seine imperiale Imprimatur.849
Auch wenn unter Wiener Fleischern in der Zeit, die de Waal unter Bezug auf den feinfühligen Seismographen seiner Epoche, Arthur Schnitzler, in Augenschein nimmt, vermutlich niemand aus „Affektation“ sich das Leben nahm, so ist doch das suizidale Narrativ unter den Handwerkern keine Unbekannte. Kurzum: Ein solches Narrativ des Fleischerhandwerks als eines Modernisierungsverlierers ist nicht zu verharmlosen. Entscheidend ist die Frage: Wer spricht? Und die Möglichkeit zu sprechen, hatten vor allem die Genossenschaften, die sich aus wohlhabenden Fleischern rekrutierten. Es war vor allem dieser Handwerkeradel, der vom Wandel im 19. Jahrhundert profitierte. Der gemeine Fleischer taucht in den meisten Fällen in den Quellen nur als Randnotiz auf, als Behandelter, selten als Handelnder. 846 Kraus, Karl: Franz Ferdinand und die Talente. In: Die Fackel XVI. Jg., 10.7.1914, Nr. 400-403, S. 2. 847 De Waal, Edmund: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi“. Wien 2012 [Original: The Hare with Amber Eyes: a Hidden Inheritance. London/New York 2010]. 848 Ebd., S. 162. 849 Ebd.
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Trotz allem möchte ich behaupten: Von einem Niedergang des Handwerks kann keine Rede sein. Die Sehnsucht nach einer imaginierten und idealisierten Vergangenheit war mit einer Bereitschaft, die Anforderungen der neuen Zeit anzunehmen und die Umwälzungen zu bewältigen, durchaus vereinbar, gemäß dem Motto: Wer am lautesten klagt, hat die geringsten Sorgen. Wiener Fleischer passten sich an eine neue Zeit an. Sie verfeinerten, spezialisierten ihr Know-how und übertrugen ihre traditionalistischen Vorstellungen von Arbeit in die Moderne. Der Wiener Fleischer ist personifiziertes Beispiel einer ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Vergessen wir nicht: Wir sind im Wien um die Jahrhundertwende. Karl Lueger war unmodern, in dem, was er sagte, aber zugleich war er eine Ausgeburt der Moderne. Und die Christsozialen rekrutierten bekanntlich ihre Wählerschaft zu großen Teilen aus dem kleinbetrieblich organisierten Gewerbe. So stellt der Wiener Fleischer – als eine Synthese aus Max Schelers von der Moderne bedrohtem Handwerker und Max Frischs Paradebeispiel des modernen Menschen – den Inbegriff einer Moderne der Unmoderne sowie auch der Unmoderne der Moderne dar. Wenn das selbsterklärte Bild von Fleischern als den Modernisierungsverlierern zu revidieren oder besser gesagt zu kontextualisieren ist,850 drängt sich die Frage auf, welche Folgen der Wandel der Fleischversorgung und des Fleischerhandwerks nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere hatte. Wie verhält es sich mit Tieren, die Händler auf den Viehmarkt in St. Marx brachten, die Fleischer dort kauften und im Schlachthaus töteten, sie anschließend enthäuteten, ihre Körper zerteilten und in kommensurable Fleischwaren und in für den menschlichen Verzehr unzumutbare, der weiteren Verwertung jedoch nicht vorzuenthaltende Stücke verarbeiteten? Inwiefern veränderte sich der gesellschaftliche Status von Tieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Vor nunmehr 15 Jahren hat der Historiker Paul Münch in einer pionierhaften Anthologie von der Ambivalenz der Mensch-Tier-Beziehungen gesprochen.851 Er meinte damit vor allem die historisch gewachsene Distanz zwischen einer liebevollen und emotionalen Hinwendung zu Haus- bzw. Heimtieren einerseits, den ökonomisierten und rationalisierten Umgang mit Nutztieren andererseits. Gerade in dieser vermeintlichen Ambivalenz im Umgang mit Tieren wird der gemeinsame Nenner eines menschlichen Selbstverständnisses greif850 Bereits Ernst Bruckmüller hat Mitte der 1980er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass die These von einem Niedergang des handwerklichen Gewerbes im Österreich des 19. Jahrhunderts keineswegs zutrifft und dass das Wehklagen eine rhetorische Strategie politischer Zielsetzungen darstellte. Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, S. 388-389. 851 Vgl. Münch, Tiere und Menschen.
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bar, das seine Berechtigung als naturgegebene und vernünftige Konstante anthropologischer Konsistenz verkennt. Die Hand, die einem liebevoll den Kopf streicheln kann, so Max Horkheimer und Theodor Adorno, ist zugleich dazu fähig zu vernichten.852 Münchs Aufsatzsammlung stellt insofern eine gewich tige Publikation dar, als dass sie auf ein Themenfeld verweist, das sich heute eines regen Forschungsinteresses erfreut. Münch leistete für die deutschsprachige Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaft, was unter anderem Donna Jeanne Haraway oder Jacques Derrida für den anglophonen Raum getan haben: Sie rückten Tiere als gestaltende oder zumindest mitwirkende Protagonisten sozialer Prozesse in den Vordergrund.853 Einige Autorinnen und Autoren sprechen mittlerweile dezidiert vom „animal turn“, oder sie fordern diesen ein.854 Dabei sind es vor allem Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die ihre Forschungen im Bereich der Human-Nonhuman-Animal Studies verorten. Hierbei soll es nicht mehr nur um die Repräsentation von Tieren gehen, sondern um den Versuch, Spuren tierischer Agency und Wirkmächtigkeit in historischen und gegenwärtigen sozialen Prozessen zu finden. Es sind Fragen, die sich bereits in anderen Kontexten gestellt haben – im Bereich der Migrationsforschung, den Gender Studies und der Historischen Anthropologie. Gerade dieser wissenschafts 852 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W: Mensch und Tier. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969, S. 262-271, hier S. 270. 853 Vgl. Haraway, When Species Meet; dies., The Companion Species Manifesto; Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Wien 2010. 854 Vgl. zum Beispiel: Philo/Wilbert, Animal Spaces a.a.O.; Simmons, Laurence/ Armstrong, Philip: Bestiary: An Introduction. In: Dies. (Hg.): Knowing Animals. Leiden 2007, S. 1-26; Sittert, Lance van/Swart, Sandra: Canis Familiaris: A Dog History of South Africa. In: South African Historical Journal 48, 2003, S. 138-173; Weil, Kari: A Report von the Animal Turn. In: Differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 21, 2010, 2, S. 1-23; Wirth, Sven: Fragmente einer anthropozentrismus-kritischen Herrschaftsanalytik. Zur Frage der Anwendbarkeit von Foucaults Machtkonzepten für die Kritik der hegemonialen Gesellschaftlichen MenschTier-Verhältnisse. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftiche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld 2011, S. 43-84, hier S. 80. Jede Anthologie als Sondierung und Bestandsaufnahme eines Forschungsfeldes stellt den ersten Schritt dar, ein wissenschaftliches Fundament zu begründen, von dem aus die Forschungslandschaft überblickt werden kann. Auch wenn man in den Anfängen noch an Kurzsichtigkeit leidet, so ist es doch gerade dieser erste Blick, der peu à peu den Horizont erweitert und allmählich in die Tiefe und ins Detail vordringen kann. Vgl. Fenske, Michaela: Wenn aus Tieren Personen werden. Ein Einblick in die deutschsprachigen „Human Animal Studies“. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 109, 2013, 2, S. 115-132, hier S. 123.
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demokratische Anspruch einer Gleichbehandlung, einer theoretischen Abkehr speziezistischer Deutungen, stellt das zentrale Problem der Human-Nonhuman-Animal Studies dar. Aus Gayatari Chakravorty Spivaks poststrukturalistischen Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation des oder der „Anderen“ wissen wir um das schicksalhafte Verfängnis repräsentativer Praktiken.855 Gefangen in dominanten Wissensordnungen ist es nicht möglich, „das Andere“ jenseits dieser Episteme zu repräsentieren oder, um mit Spivak zu sprechen: Man entkommt der Repräsentation nicht, indem man sie ablehnt, und wenn wir über Tiere sprechen – die eine dankenswerte Akteursgruppe sind, weil sie selbst nie die Stimme erheben –, dann meinen wir damit ein Stück weit immer auch uns selbst. Auch ich war beim Verfassen dieser Arbeit vor der anfangs ernüchternden Erkenntnis nicht gefeit, Ziele und Fragen, die mein Interesse geweckt und meine Motivation gelenkt haben, während des Forschungsprozesses zu verändern. Ich spreche gezielt nicht vom Abrücken, sondern vielmehr vom fragenden Modifizieren, Ummodellieren und Transformieren von Fragestellungen. Die eigenen Fragen zu hinterfragen, um sie anschließend anders zu stellen, ist ein möglicher Zugang, der sich gerade in einer historisch-kulturwissenschaftlichen Untersuchung als fruchtbar erweist, die, wie in meinem Fall, nach Aussagen über eine Arbeitswelt strebt, deren Akteure kaum Quellen mit selbstthematisierenden und selbstreflektierenden Bezügen hinterlassen haben. Der Ausweg aus dem repräsentativen Dilemma ist folglich ein Umweg. Gerade die Frage nach Agency, Praxis, Handlungsträgerschaft oder Wirkmächtigkeit von Tieren in historischen Prozessen, die mich zu Beginn meiner Forschung brennend interessierten und sich angesichts der Quellenlage kaum beantworten ließ, konnte ich anders stellen:856 Aus der Frage „Können Tiere handeln?“ erwuchs mein 855 Vgl. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 275, 280 und 285-287. 856 Es bleibt ein Ziel, ein analytisches begriffliches Instrumentarium zu erarbeiten, dass dem Begriff einer tierischen Agency gerecht wird. Dass dies nur in einem transdisziplinären Dialog gelingen kann, der neben kultur-, sozial-, geistes-, literaturwissenschaftlichen Perspektiven insbesondere eine ethologische notwendig macht, erscheint angesichts des Forschungsstandes unumgänglich. Die Forderung, eine praxisorientierte Perspektive einzunehmen, kann nur gelingen, wenn die begriffliche Unschärfe der Agency-Terminologie überwunden und, das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sich mit verhaltensökologischen und -biologischen Ansätzen offen und offensiv auseinandersetzen. Damit könnten wir (möglicherweise) auch die Phase der Post-Science-Wars endlich hinter uns lassen. Vgl. folgendes Projekt („Tiere handeln. Ein transdiszi plinäres Projekt zur Erforschung tierischer Agency“), zu dessen Teilnahme ich zusammen mit der Ethologin Anke Gutmann von der Universität für Bodenkultur Wien aufgerufen habe: URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/chancen/ id=8857&type=stipendien [Stand: 15.9.2015]. Auch die von Brigitta Schmidt-Lauber
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Interesse für die soziokulturelle seismografische Dimension der Mensch-TierBeziehung: Was sagt der Umgang von Fleischern mit Tieren über die Gesellschaft im 19. Jahrhundert aus? Was geschieht, wenn, wie in Wien in der zweiten Jahrhunderthälfte, Tiere zunehmend aus dem öffentlichen Raum und Blickfeld verschwinden, der Schlachthof aber zugleich ein panoptisches Blickregime etabliert? Welche soziokulturellen Parameter bedingen Mensch-Tier-Beziehungen und inwiefern sind diese für jene konstitutiv? Ausgehend von diesen Fragen richtete sich meine Forschungsperspektive zunächst auf den größeren, den städtischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext. Die Frage, wie die historischen (menschlichen) Akteure ihre Beziehungen zu Tieren aushandelten, hing von der Antwort ab, wie sie ihre Beziehungen untereinander gestalteten und was wiederum ihr Aushandeln und Verhandeln bedingte. Mit Schwitters habe ich begonnen, mit Schwitters möchte ich auch enden. Als ich anfing, mich mit dem Thema des Schlachtens und der Transformation von Arbeitsprozessen in fleischhandwerklichen Kontexten zu befassen, wurde ein Unbehagen in Anbetracht der Genese eines Produktionsregimes, das im Namen der Zweckmäßigkeit, Moderne und Vernunft das Leben kolonialisierte und Tiere in organische Rohstoffe verwandelte, zu meinem ständigen Begleiter beim Verfassen dieser Arbeit. Die Allmacht und Allumfassendheit der Vernunft, der Logik rationaler und effizienter Arbeit, die im 19. Jahrhundert allmählich und mit kaltblütiger Entschlossenheit auf immer neue Bereiche nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch gesellschaftlichen Lebens vordrang und soziale Konventionen mit Verweis auf historische Zwangsläufigkeiten oder ökonomische Notwendigkeiten zerschlug, machte das Schlachthaus zum Inbegriff einer produktiven Logik der Moderne mit ihrem unverblümten Fortschrittscredo, dessen Schattenseiten nirgends eindrücklicher, exemplarischer und beklemmender als an dem Ort sichtbar wurden, an dem Menschen Tiere töteten, in Fleisch verwandelten und ihre Körper restlos verwerteten. Überhaupt stellte Restlosigkeit die programmatische und teleologische Setzung der städtischen Fleischversorgung dar, der ein Streben nach vollkommener Entgrenzung körperlicher Schranken inhärent war. Die organische Grenze der finalen und grenzenlosen Modernisierung der Schlachtung und Tierkörperverarbeitung zeigt den Zynismus derjenigen, die im Namen der Humanität die Logiken modernisierter Arbeitsverhältnisse propagieren und das Tier aus dem Leben verdrängen, ebenso an wie den verzweifelten und verstummund mir organisierte Tagung „Ökonomien tierischer Produktion. Mensch-Nutztier-Beziehungen in industrialisierten Kontexten“ (29.–30.5.2015, Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien) schlug in diese Kerbe. Programmheft unter: URL: http://euroethnologie.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_ethnologie_europ/pdf/programmheft_druck_1_.pdf [Stand: 7.8.2015].
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ten Aufschrei des Tieres, diesen physischen Appell der Auflehnung eines von Geburt an zum Tod bestimmten Lebewesens, das keines mehr ist, sondern lediglich ein in die Stadt eingeführter und für die Stadt bestimmter Rohstoff. Nur die Spuren animalischer Existenzen können die Städterinnen und Städter heute vernehmen, verblichene Abdrücke der Tiere, die, das zeigt deren Benennung an, als Nutztiere für den weltlichen Zweck menschlichen Konsums prädestiniert seien. Den Zynismus der Welt erkennen wir nicht zuletzt an der Sprache, an den Worten, derer wir uns bedienen. Es ist nicht nur die gesellschaftliche Unsichtbarmachung von Tierschlachtungen, die eine emotionale Distanz zu dieser Arbeit und damit auch zwischen Mensch und Tier begründet.857 Auch die Begriffe, die Benennungen und Beschreibungen, zeigen unsere Gleichgültigkeit gegenüber einer entrückten Welt an, deren Grausamkeiten, Vorhersehbarkeiten und verabscheuungswürdige Absurditäten uns kaum interessieren. Wenn wir doch einmal einen Blick in den dunklen Keller unserer modernen Gesellschaft wagen, von dem Max Horkheimer gesprochen hat,858 wenn wir den verstummten Schreien lauschen, auf die Upton Sinclair so drastisch verwiesen hat,859 und auf das Geschehen in den intensiven Mast- und Nutztierhaltungssysteme schauen, wie es Ruth Harrison getan hat,860 wenn wir uns auf die Fährten von vergangenen Leben, die keine sein durften, begeben, ja, selbst dann erfassen wir das Ganze mit einem begrifflichen Euphemismus, indem wir von Waren und Produkten sprechen – eine semantische Distanzierung, damit wir uns der Allgegenwart erwehren können, in der Hoffnung, durch andere Worte eine andere Welt zu denken und zu schaffen. Im 19. Jahrhundert stellte die Versorgung von Städterinnen und Städtern mit Fleisch eine versorgungswirtschaftliche Leistung der kommunalen Verwaltung dar, von der die Karnivoren unter uns noch heute profitieren. Unsere räumliche 857 Die Psychologin und Soziologin Melanie Joy sieht im Zusammenhang von Gewalt und Verfügbarmachung von Tieren für den menschlichen Bedarf einerseits und deren gesellschaftliche Unsichtbarkeit andererseits das zentrale Element des karnistischen Glaubenssystems. Damit bezeichnet sie eine Ideologie, der ein Wahrheitsdiskurs inhärent ist, wonach Fleisch zu essen, notwendig, natürlich und normal sei. Vgl. Joy, Warum wir Hunde lieben, S. 32-38, 42-45 und 130-140. 858 Die Gesellschaft, schrieb Max Horkheimer Anfang der 1930er Jahre, gleiche einem Wolkenkratzer: „Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.“ Horkheimer, Max [alias Heinrich Regius]: Der Wolkenkratzer. In: Dämmerung. Notizen in Deutschland. Zürich 1934, S. 132-133, hier S. 133. 859 Vgl. Sinclair, Der Dschungel, S. 50-57. 860 Vgl. Harrison, Ruth: Tiermaschinen. Die neuen landwirtschaftlichen Fabrikbetriebe. München 1965 [Original: Animal Machines. The New Factory Farming Industrie. London 1964].
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Distanz zu Nutztieren bewahrt uns davor, uns Gedanken über die Provenienz dessen, was auf unseren Tellern landet, zu machen und befreit uns von einem schlechten Gewissen. Die moderne Tierschlachtung und Fleischproduktion schaffen eine Geborgenheit und einen Komfort, nach denen wir streben, die aber eine soziale Verhärtung zur Folge haben können. Denn wir leben unser Leben auf Kosten von anderen, die wir an unserem Leben nicht mit ihren Bedürfnissen teilhaben lassen.861 Dabei sind es nicht nur Tiere, derer sich der Schlachthof, dieses symbolträchtige und materialisierte Prinzip der von Vernunft und Zweckmäßigkeit geprägten Moderne, bemächtigte. Auch Menschen waren und sind in dem Netz einer produktiven Logik verfangen, die das ontologische Grundgesetz dieses Mikrokosmos Schlachthof bildete – Gefangene in einem Arbeits- und Produktionssystem, das Effizienz und Wirtschaftlichkeit als grundlegende Prinzipien ökonomischer Moderne auswies und neben Tieren auch Menschen produktionslogischen Prämissen unterordnete.862 Der Beruf des Fleischers, der Tiere schlachtet, hat heutzutage auch den letzten Rest seines Nimbus sozial- und naturromantischer Idylle verloren, wie ihn die Fleischwarenindustrie im Rahmen ihrer Produktreklame mitunter immer noch entwirft. Die fordistische Produktionsweise, erfunden in den Schlachthöfen Chicagos, ist in der Fleischindustrie längst zum unangefochtenen globalen Erfolgsmodell geworden, und je mehr sie sich durchsetzte, desto geringer wurden Prestige und Stellung von (nunmehr) Arbeitern (und nicht mehr Handwerkern) im fleischproduzierenden Gewerbe, deren ökonomischer und gesellschaftlicher Stellenwert in den Kellern unserer Gesellschaft liegt, um noch einmal auf Horkheimer zu verweisen. Die Logik der radikalen Grenzziehung als grundlegendes Phänomen der Moderne, die im Zentrum der Kritischen Theorie steht, welche einen Ursprung der Grausamkeit in dem Augenblick verortet, wenn den vermeintlich Vernunftlosen Vernunft angetan wird,863 beschreibt auch Giedion in seiner techniksoziologischen Analyse über die Herrschaft der Mechanisierung mit ihrem gesellschafts- und kulturpessimistischen Grundtenor ebenso wie Sinclairs schockierender sozial- und vor allem kapitalismuskritischer Erfahrungsbericht über das Töten von Tieren und Ausbeuten von Menschen in den Union Stock Yards. Alle drei untersuchen konkrete Mechanismen und intellektuelle Prinzipien einer Distanzierung und Verdrängung von Lebewesen, deren gesellschaftliche Funktion sich erst mit deren Tötung realisiert. Es ist nicht so sehr das Töten, Zerlegen und Verarbeiten, es ist das dahinterliegende Prinzip, die Logik der Ökonomie, des Strebens nach wirtschaftlicher 861 Vgl. Sennett, Fleisch und Stein, S. 459 und 462-463. 862 Vgl. DeMello, Animals and Society, S. 139-141. 863 Vgl. Horkheimer/Adorno, Mensch und Tier, S. 262.
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Deckung des Bedarfs und von Bedürfnissen, das die Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Techniken ordnet und regelt, deren Prinzip im Schlachthaus so eindringlich greifbar wird wie an keinem anderen Ort. Und es ist zugleich dieses Prinzip Schlachthaus, das im ontologischen Kern der Moderne des 19. Jahrhunderts liegt, das Prinzip des Trennens, Abgrenzens und rücksichtslosen Ausbeutens, das man so oft mit Verweis auf Sachzwänge und fehlende Alternativen gerechtfertigt hat. Auf diese ökonomische Logik, die des Tötens nicht entbehren kann, weil es ihren elementaren Bestandteil bildet, möchte ich verweisen. Im Kern dieser als Prinzip Schlachthof bezeichneten Logik der Moderne steht die Praxis des Tötens, welche die Logik des Tötens bestärkt. Es ist ein Prinzip, dessen historische Genese bereits Sigfried Giedion in den Schlachthäusern des 19. Jahrhunderts verortet und dessen Expansion er auch in anderen Kontexten und in anderen Zeiten vermutet hat. Der Erfolg dieser Rationalisierung des Tötens mit ihren baulichen, technischen und organisatorischen Grundlagen liegt in der Ausschaltung jeglichen menschlichen Maßstabes zur Beurteilung einer Handlung, ganz nach dem Motto: Das Prinzip rechtfertigt das Prinzip. Giedion, dessen epochales Werk „Die Herrschaft der Mechanisierung“ drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erschien, stand aufgrund der zeitlichen Nähe in einer besonderen Beziehung zu den Schrecken, den Grausamkeiten, einem Geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen, das aber geschehen war, nun vorstellbar, ein Geschehen, das der Mensch, wie Hannah Arendt es nannte, nicht übergehen konnte.864 So ist es mein Anliegen, das ich am Ende, im Ausgang dieser Arbeit, formulieren möchte, die Historizität ökonomischer Prinzipien noch stärker herauszuheben und insbesondere die Möglichkeiten und die mit ihnen verbundenen Gefahren zu berücksichtigen. Es genügt nicht, eine Logik, eine Ordnung, ein bestimmtes Prinzip unseres Seins, etwas, das in einem bestimmten sozialen Feld entstand, ausschließlich mit Argumenten aus eben diesem Feld zu rechtfertigen. Wir müssen lernen, eine grundsätzliche Ehrfurcht vor dem Leben des Anderen zum ersten und zum ultimativen Prinzip unserer eigenen Existenz zu machen, wie es Albert Schweitzer forderte und Emmanuel Levinas mit der sozialen Erbsünde einer Verantwortung für den Anderen dachte.865 864 Vgl. Trawny, Peter: Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah Arendts. Würzburg 2005, S. 145-148. 865 Vgl. Schweitzer, Albert: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, 9. Aufl. München 2008, S. 20-22 und 32-37; Levinas, Emmanuel: The Name of the Dog, or Natural Rights. In: Calarco, Matthew/Atterton, Peter (Hg.): Animal Philosophy. Essential Readings in Continental Thought. London [u.a.] 2004, S. 47-50. Richard Sennett, der, ohne auf ihn Bezug zu nehmen, ähnlich wie Levinas argumentiert, indem er eine emotionale und empathische Hinwendung zum Anderen fordert, sieht im Schmerz, den wir nicht ausschließen, sondern als Teil unseres
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Das ist meine persönliche Forderung, die ich an das Ende dieser Arbeit stellen und auch als Frage formulieren möchte, weil sie meinen eigentlichen Unter suchungsgegenstand verlässt und ich sie nicht auf Quellen, sondern nur auf meine emotionale und ethische Bedürfnislage stützen kann. Sie ist zugleich mein Appell, Geschichte anders zu denken, sie als Geflecht möglicher Wendungen zu begreifen. Geschichte als eine von vielen Alternativen zu denken, verschafft uns keineswegs Erleichterung, wohl eher das Gegenteil ist dann der Fall, wenn wir die Gewordenheit historischer Welten als Produkt menschlicher Verhandlungen verstehen und das Argument der Schicksalhaftigkeit als entlastende Illusion entlarven. Die Zusammensetzung des Erzählers, den Schwitters in der „Zwiebel“ schlachtet, zeigt diese Möglichkeit des Umgangs mit Geschichte an, die niemanden entlastet, aber seine Leserinnen und Leser zu mehr Reflexion, zu mehr Bewusstheit gegenüber dem eigenen Handeln treibt, weil wir viele Fehler in unseren Leben machen, und es sind Fehler, mit denen wir uns an Anderen vergehen, weil es in vielen Fällen nicht wir, sondern die Anderen sind, die unsere Handlungen betreffen. Der alte König war ohnmächtig geworden. Furcht gipfelt Silbersaiten Stein zu Stein. Die Prinzessin winkte und befahl, daß ich wieder zusammengesetzt werden sollte. […] / Man begann mich wieder zusammenzusetzen. Mit einem sanften Ruck wurden zuerst meine Augen in ihre Höhlen gedrückt. […] Dann holte man meine inneren Teile. Es war zum Glück noch nichts gekocht, auch noch nichts zu Wurst zerhackt. […] Infolge der mir eigenen inneren magnetischen Ströme schossen meine inneren Teile, sobald sie eingesetzt waren, ruckweise zusammen und hafteten fest und richtig aneinander. […] Beim Ordnen der Eingeweide waren gewisse Schwierigkeiten zu überwinden, weil sie ein wenig durcheinander geraten waren. […] Aber ich merkte, was los war und lenkte meine magnetischen Ströme hin und her, kreuz und quer, eins zwei eins zwei eins zwei eins der Ton zerwühlen Balken im Auge. Ich zog und zerrte magnetisch an den Eingeweiden, bis alle wieder richtig an gewohnter Stelle lagen. […] Jawohl! Man hatte meine festen Teile mittlerweile sammengesetzt, nun fehlte das Blut noch. […] Die Mägde hielten die Schale mit Blut unter den Stich in der Seite und quirlten umgekehrt. […] Durch meine magnetischen Ströme hob sich ein dicker Strahl Blut aus der roten Fläche und stieg in meine Wunde in der Seite. […] Meine Adern füllten sich langsam, das Herz war voll, die inneren Teile nahmen Blut auf. Aber das Herz rührte sich noch nicht, ich war noch tot. […] Der Schlächter berührte die Wunde in meiner Seite mit dem Messer, stach tief hinein und zog das Messer heraus, und – die Wunde Lebens akzeptieren, die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Reform des Miteinander. Vgl. Sennett, Fleisch und Stein, S. 462-464.
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war zu. […] Ich hatte meine Teile nun wieder zusammen, es waren bloß einige Lücken, da kleine Fetzchen an den Messern haften geblieben waren. Der Wunsch und das Bedürfnis dazu ist wohl vorhanden, aber es fehlt an Gelegenheit. […] Man senkte Winden winden Flaschenzüge hinab. Nun mußte ich mich aufrichten, das fühlte ich, und so richtete ich mich auf; erst sehr schnell, dann immer langsamer werdend, bis ich stand. […] / Der Schlächter nahm seine Keule wieder zur Hand (Die Tragödie der Menschwerdung.), stellte sich vor mich […] und legte die Keule sanft auf meinen gespaltenen Schädel. […] Dann sprang der Schlächter mit einem gewaltigen Ruck zurück. […] Es gab einen gewaltigen Krach, als die Keule sich von meinem Kopfe löste. […] Der Schlächter sprang rückwärts gehend in seine ursprüngliche Ausgangsstellung zurück. […] Die Stücke meines Schädels flogen wieder zusammen, ich war so ungefähr wieder heil. […] / Es war ein ganz eigentümliches Gefühl, wieder lebendig zu sein. […] Ich fühlte, daß ich ein wenig Pose machen mußte, und so machte ich ein wenig Pose.866
866 Schwitters, Die Zwiebel, S. 25-27.
Epilog
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Quellen Genutzte Bestände und Serien des Wiener Stadt- und Landesarchivs [WStLA] – 2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 – Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion: – A 2/1, 18, G (4.Teil), Großschlächterei – A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher – A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) – A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) – A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) – A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau – Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll – Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917
Einzelquellen in den genutzten WStLA-Beständen/-Serien
2.8.15.A1, Akten, 1753–1881, A 1/5, Mappe 3 – [30.11.1866] – [Z. 207, 22.1.1867] – [Z. 362, 31.1.1868] – [Z. 367, 31.1.1868] – [Z. 416, 4.5.1868] – [Z. 979] – [Z. 1022, 23.7.1870] – [Z. 6225] – [Z. 79719, 25.6.1870] – [Z. 79720, 25.6.1870] – [Z. 110859, 21.1.1871] – [Z. 1435, 11.3.1874]
Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, 2/1, 18, G (4. Teil), Großschlächterei – [Bericht der IV. Section über die Frage der Einführung von Großschlächtereien in Oesterreich, Sitzung am 9.4.1896]
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– [Bericht des Markt-Dir Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, unpag.] – [Bericht des Markt-Directors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Grossschlächterei, 28.10.1902] – [Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei, 1900] – [Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely, Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei, 16.6.1904] – [Brief des Fleischhauers Karl Braun, nicht adressiert, undatiert] – [handschriftliches Schreiben des Marktdirektors Karl Kainz, 22.7.1897] – [Lohnverhältnisse in den großen Fleischhauereien in Wien, 26.7.1905, unpag.] – [Marktkommissär Karl Philipp, Programm für die Errichtung einer Großschlächterei, 1900, unpag.] – [Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa, 1897] – [Statuten der Ersten Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft, 1905]
Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtbrücken-Aufseher – [76854 / 1876, Schlachthausdirektion St. Marx, 1876] – [Ansuchen der Marktdirektion, Absperrvorrichtungen an den Wasserausläufen und ein Wächter pro Stallung gefordert, 12.11.1892] – [Brief des Rates Siegl an den Stadtrat, 1.2.1893] – [Die Einreihung der Beamten und Diener, 6.7.1876] – [Direktor des Schlachthauses St. Marx Meisel an Magistrat, 17.4.1876] – [Gutachten des Ausschusses der Wiener Fleischhauer-Genossenschaft, 12.12.1892] – [k. k. Bezirks-Commissariat, Hernals in Wien, 28.11.1892] – [Marktamtsdirektion erörtert die Ursachen für das Übertränken, 21.4.1891] – [Meisel, Schlachthausdirektor in St. Marx, o.D., unpag.] – [Prot. Nr. 208173, Ref. Nr. 4110, 18.11.1892] – [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Maßnahmen gegen das Übertränken: effizientere Überwachung, 9.1.1893]
Quellen
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– [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Maßnahmen gegen Übertränken: Bewachung der Wasserläufe] – [Protokoll, aufgenommen vor dem Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien: versperrbare Wasserhähne gefordert, 13. und 4.12.1892] – [Rat Siegl, Prot. Nr. 197593, Ref. Nr. 3825, 11.11.1892] – [Status des Schlachthaus-Personales und der Diener in den sonstigen Markt-Anstalten, 1.5.1876] – [Stellengesuch Eduard Seeböck, 12.11.1892] – [Stellengesuch Ludwig Fleischhacker, ca. 1892]
Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser (Mappe 6) – [Dienst-Instruktion für den Schlachthausdirektor oder Verwalter, o.D., unpag.] – [Instruction für den Haus-Inspector des Central-Viehmarktes und des Schlachthauses zu St. Marx. Wien 1883] – [M. Z. 1169 ex 1889, Betriebsordnung für die Schlachthäuser der Stadt Wien. Wien. März 1889, unpag.] – [Seiller, Dienst-Instruction für die Hausaufseher in den städtischen Schlachthäusern, 18.4.1857] – [Seiller, Vorschrift über den Geschäftsbetrieb in den städtischen Schlachthäusern und auf dem Viehmarkte, 28.4.1851, unpag.]
Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsvorschriften (Mappe 9) – [Äußerung des Marktamtes über Schlachtungsvorschrift, Marktdirektor Karl Kainz, ca. 1900, unpag.] – [Beschwerde von Georg Hütter und Georg Stelzer an Wiener Magistrat über Schlachtvorschrift, 14.08.1895] – [M. a. Z. 2060 ex 1903, 18.7.1903] – [Marktamts-Abth. f. d. III. Bez. Wien, Zerfällung eines Ochsen nach Vierteln & Stücken, 29.1.1903] – [Vorlage eines Entwurfes einer Schlachtungsvorschrift, 23.7.1903, unpag.]
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Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Tierquälerei (Mappe 3) – [Aufsatz in der Münchener Landbötin, Der Münchener-Verein gegen Thierquälerei, 8.11.1845, unpag.] – [Äußerung der Markt-Direktion, Kälbertransport, 4.2.1875, unpag.] – [Auszug aus den Protokollen des Markt-Commissariates über die Handhabung der Viehbeschau auf den Bahnhöfen in der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1870] – [Bericht der Marktdirektion über Tierquälereien beim Kälbertransport, 13.10.1874] – [Bericht der Marktdirektion, ad M. Z. 171778, 1874, unpag.] – [Bürgermeister Dr. Zelinka, Kundmachung gegen Tierquälerei bei Kälbertransporten, 10.9.1862] – [Bürgermeister Felder, Kundmachung gegen Kälberzapfen, 5.2.1870] – [Dr. Ignaz Castelli, Gründer des Wiener Tierschutzvereins, 29.5.1847, unpag.] – [Holzapfel, Referent, Dr. I. Castelli überreicht den Statuten-Entwurf für den n.ö. Verein gegen Thierquälerey, 5.11.1846, unpag.] – [Kundmachung, Bürgermeister Felder, 5.2.1870] – [Magistrat Wien, Referent Wenzel, 4.2.1875, unpag.] – [Magistrat Wien, Statthaltereidekret, 8.12.1851] – [Markt-Commissariats-Äußerung bezüglich Tiertransporten, 3.8.1871, unpag.] – [Marktamt, Fischquälereien am Naschmarkt, 11.1.1913] – [Marktamts-Direction, 10.9.1896, unpag.] – [Marktamtsdirektion erörtert die Ursachen für das Übertränken, 21.4.1891] – [Niederösterreichische Landes-Regierung an Wiener Magistrat, 19.9.1846, unpag.] – [Niederösterreichische Landes-Regierung, 19.3.1846, unpag.] – [Prot. Nr. 214344, Ref. Nr. 9371, Magistrat Wien, Referent Rat Wenzel, 27.11.1874, unpag.] – [Rat Wilting, Referent auf Sitzung des Wiener Magistrats, Prot. Nr. 58358, Ref. Nr. 2216, 23.9.1845] – [Rat Wilting, Referent vor dem Wiener Magistrat, Prot. Nr. 9294, Ref. Nr. 330, 5.3.1846, unpag.] – [Z. 27036, Beschwerdebrief an Wiener Magistrat, 20.9.1876] – [Zuschrift des Wiener Thierschutzvereines mit Abstellung der unzu reichenden Thierquälereien, welche beim Ausladen der Kälber am Westbahnhof vorkommen, 14.1.1897, unpag.]
Quellen
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Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 58, V (3. Teil), Vieh- und Fleischbeschau – [Entwurf einer Vieh- und Fleischbeschau-Ordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, 1900] – [Kundmachung, 10.12.1891] – [Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Anhang zum § 22 des allgemeinen Dienstunterrichtes (Instruktion) für die Marktaufsicht, 20.12.1881] – [Marktamtsäußerung zur Viehbeschau, 20.8.1901] – [Marktsamtsdirektor zur Fleischbeschau, 8.8.1901]
Marktamt, B 54/4, Vorfallenheiten-Protokoll – S. 15-16 [Eintrag vom 10.11.1905] – S. 28-29 [22.12.1905] – S. 43 [12.2.1906] – S. 59 [12.3.1906] – S. 62-62 [19.3.1906] – S. 66 [2.4.1906] – S. 71 [29.4.1906] – S. 85 [4./17.6.1906] – S. 87 [23.6.1906, Schlachthaus-Direktor aus Nischni Nowgorod besucht Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt] – S. 87-88 [25.6.1906] – S. 94 [8., 5., 22. und 29.7.1906] – S. 97 [21.8.1906, Belgrader Bürgermeister besucht Wiener Zentralviehmarkt] – S. 99-100 [17.9.1906] – S. 113 [14.11.1906] – zwischen S. 125 und 126 [Brief des Fleischhauers Josef Thiel, nicht adressiert, Mai 1905] – S. 129 [29.1.1907] – S. 133 [12.3.1907, Christo Bojadschief und H. Torlof, Architekten aus Sofia, besuchen Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt] – S. 141-142 [27.5.1907, Veterinärbeamte besuchen Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt] – S. 143-144 [1907] – S. 144 [9.7.1907] – S. 148 [30.6.1907]
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– S. 149 [7.7.1907, Russische Generäle besuchen Wiener Schlachthof und Viehmarkt] – S. 151 [7.7.1907, Städtischer Schlacht- und Viehhofdirektor aus Chemnitz besucht Wiener Schlachthof und Zentralviehmarkt] – S. 152-153 [24.8.1907]
Marktamt, Zentralviehmarkt: Normalien, Kurrenden, Kundmachungen, A 51/3, Kurrenden, einige Schreiben, 1895–1917 – [Muster eines Krankenscheins der registrierten Hilfskasse „Einigkeit“, ca. 1900] – [Kurrende, 12.5.1910] – [Kurrende, Schweinediebstahl, ca. 1911] – [Kurrende, Lämmerdiebstahl, 9.3.1911] – [Kurrende, 12.5.1912] – [Kurrende, Mkt. A. Abt. Z. V. M. 305/12, 24.6.1912] – [Kurrende, 12.11.1913] – [Kurrende, Schweinediebstahl durch Markthelfer Johann Bendekovits, ca. 1914] – [Kurrende, 15.1.1914] – [Kurrende, unbefugte Personen auf Zentralviehmarkt, 26.7.1914] – [Kurrende, unbefugte Personen auf Zentralviehmarkt, 2.9.1914] – [Verlautbarung, illegales Melken, 23.2.1915] – [Kurrende, Marktinspektor Berger, 12.8.1915] – [Kurrende, Rinderdiebstahl, 9.2.1916] – [Kurrende, Z. 211/16, 17.2.1916]
Sonstige – WStLA, 1.3.2.243, A3/1 Normalien, 1893–1938, 1.1 Betriebsordnungen, 1893–1936, Zentralviehmarkt [Kundmachung, betreffend das Verbot von Geschenken an die Waagorgane auf dem Zentralviehmarkte in St. Marx., M.Abt. IX, 951/12, 15.2.1912] – WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachthäuser an der Grenze [Magistratsrat Wenzel, Prot. Nr. 290041, Ref. Nr. 12591, Die Richtung einer Petition an das Herrenhaus wegen Errichtung von Schlachthäusern an der russisch-rumänischen Grenze betreffend, 6.12.1879, unpag.].
Quellen
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– WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Kainz, Die Anwendung des Hakel‘schen Schußapparates zum Rinderschlachten, 2.7.1896, unpag] – WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 51, S (3. Teil), Sch (1. Teil), Schlachtungsmethoden (Mappe 8) [Ueber die verschiedenen Methoden der Rinderschlachtungen, ca. 1895, unpag.] – WStLA, Marktamt, Altregistratur der Marktamtsdirektion, A 2/1, 54, St. (3. Teil), T Sch. 54, Trichine [Brief, ca. 1900]
Nichtarchivalische Quellen 4-pferdekräftiger Gasmotor [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 13.8.1897, Nr. 65, S. 3. Abenteuer eines Mastochsen. In: Allgemeine österreichische Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 27.5.1910, Nr. 21, S. 3. Abermals eine wichtige Maschine für Fleischselcher. In: Allgemeine FleischerZeitung, II. Jg., 1.6.1875, Nr. 16, S. 61. Allgemeine Fleischer-Zeitung, hrsg. von Dr. J. H. Hirschfeld (später Otto Maß), verantwortlicher Redakteur A. Münzer (später L. C. Heß). Wien 1874 ff. Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. Zentralorgan für Wahrung der Gesamtinteressen der Fleischhauer und Fleischselcher Österreichs, hrsg. von Georg Hütter. Wien 1910–1938. Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie. Wien 1811. Anleitung zum richtigen Abschlachten der Häute und Felle. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 14.4.1911, Nr. 15, S. 5-6. Auch eine Antwort. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 12.1.1904, Nr. 4, S. 1-2. Ausflug der Wiener Fleischhauer-Söhne. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 9.6.1911, Nr. 23, S. 4. Barański, Anton: Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau für Stadt- und Bezirksärzte, Thierärzte, Sanitätsbeamte, sowie besonders zum Gebrauche für
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Physikats-Candidaten mit gleichmässiger Berücksichtigung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung. 4., umgearb. Aufl. Wien/Leipzig 1897. Beim Beginn des neuen Jahrganges. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.1.1875, Nr. 1, S. 1. Bericht der Minorität des Subcomite‘s zur Prüfung der eingelangten Projecte und Offerte für die Erbauung eines Central-Schlachtviehmarktes. Erstattet von dem Referenten Gemeinderath Dr. Ignaz Mandl. Wien 1879. Bernard, Claude: An Introduction to the Study of Experimental Medicine. New York 1957 [Original: Introduction à l’étude de la médicine experimentale. Paris 1865]. Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890 in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. 1. Heft: Analytische Bearbeitung und Reichsübersicht. Bearbeitet von dem Bureau der k. k. statistischen Central-Commission. II. Besondere Übersichten über die Berufsverhältnisse in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Tabelle II: Die Bevölkerung nach Hauptberufs- und Nebenerwerbsarten. Wien 1894. Betrunkene Schweine. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 10.2.1875, Nr. 3, S. 11. Blutmischvorrichtung für Schächtereien. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 15.3.1904, Nr. 22, S. 2-3. „Bouterolle“ [Werbung]. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 7.3.1875, Nr. 6, S. 23. Brockhaus‘ Konversationslexikon, Bd. 1, 14. Aufl. Berlin/Wien 1894–1896, S. 643-644, s.v. Animalische Bäder. Bundesgesetz vom 21. Juli 1925 zur Einführung der Bundesgesetze über das allgemeine Verwaltungsverfahren, über die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes und das Verwaltungsstrafverfahren sowie über das Vollstreckungsverfahren in der Verwaltung, Artikel VIII. e). In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jg. 1925, ausgegeben am 14. August 1925, 63. Stück, Nr. 273, S. 941-945. Correspondenzen (Bouterolle). In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, IV. Jg., 14.12.1878, Nr. 151, S. 1. Correspondenzen. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, IV. Jg, 14.12.1874, Nr. 151, S. 1.
Quellen
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Dadletz, Leopold/Schedl, Heinrich: Das Fleischhauergewerbe und die Genossenschaft nach Einführung der Gewerbeordnung. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 87-124. Das Betäuben der Schlachttiere mittels blitzartig wirkender BetäubungsApparate. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 15.4.1904, Nr. 31, S. 2-3. Das Fleisch auf der Hygiene-Ausstellung. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 9.6.1911, Nr. 23, S. 2. Das letzte Kapitel. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 16.2.1904, Nr. 14, S. 3. Das neue Wiener Schweineschlachthaus. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 24.6.1910, Nr. 25, S. 3. Dasch, Alfred: Tierschutz und Bekämpfung der Tierquälerei. Spezieller Teil. Wien 1937. Der erste weibliche Fleischergehilfe in Oesterreich. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XIX. Jg., 2.6.1911, Nr. 22, S. 4. Der kleine Mann. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 19.1.1904, Nr. 4, S. 1-2. Der neue Otte‘sche Fleisch-Verwertungs-Apparat. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 29.7.1898, Nr. 60, S. 5. Der Pariser Fastnachts-Ochse. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 10.2.1875, Nr. 3, S. 9. Die Antwort der Wiener Fleischhauer-Gehilfen. In: Wiener Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.7.1898, Nr. 56, S. 2. Die Arbeits- und Lohnverhältnisse in den Fabriken und Gewerben NiederOesterreichs. Erhoben und dargestellt von der nied. Österr. Handels- und Gewerbekammer. Wien 1870. Die Bouterole. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 7.3.1875, Nr. 6, S. 1. Die Einführung des Schächtverbotes. In: Wiener Fleischerhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2-3. Die Eis- und Maschinenkühlung für den Kleinbetrieb. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 17.9.1897, Nr. 75, S. 1-2.
282
Die Gefahren des Fleischerberufes. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 8.1.1897, Nr. 3, S. 1-2. Die Redaktion und Adminstration der Allgemeinen Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 8.4.1910, Nr. 14, S. 1. Die Schlachtmaske. In: Die Gartenlaube 45, 1874, S. 734. Die Schonung der Thiere. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 26.1.1875, Nr. 1, S. 3. Die Vorsteher und Vorsteherstellvertreter der Genossenschaft von 1835 bis 1912. In: o.A.: Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a.a.O., S. 137. Die Wiener Fleischfrage. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 17.8.1897, Nr. 66, S. 1-2. Eckstein, Sigismund: Bericht über die Heilresultate der animalischen Heilbäder im Gumpendorfer Schlachthause in Wien. In: Oesterreichische Zeitschrift für practische Heilkunde, hrsg. von dem Doctoren-Collegium der medicinischen Facultät in Wien, VI. Jg., 7.9.1860, Nr. 36, Sp. 577-583. Ein 4pferdekräftiger Gasmotor [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 16.4.1897, Nr. 31, S. 3. Ein Brief des Weltmeister-Schlächters Paul Tetzel an die „Oesterr.-ungar. Viehverkehrs-Zeitung“. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 15.7.1898, Nr. 56, S. 2. Ein Fleischhauer als Erfinder. In: Allgemeine österreichische Fleischhauerund Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 6.5.1910, Nr. 18, S. 5. Ein neues Frischerhaltungsverfahren für Lebensmittel. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, V. Jg., 23.3.1897, Nr. 24, S. 2. Ein trauriges Zeichen der Zeit. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, XIII. Jg., 7.2.1900, Nr. 6, S. 3. Ein Unglücksfall in einer Wurstfabrik. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 2.2.1904, Nr. 10, S. 3. Ein Wutausbruch. In: Allgemeine österreichische Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XVIII. Jg., 21.1.1910, Nr. 3, S. 2-3. Eine Brätmaschine [Inserat]. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 1.1.1897, Nr. 1, S. 3.
Quellen
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Zum Capitel Sonntagsruhe. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 30.7.1897, Nr. 61, S. 1. Zum Thierschutz: Fleischhauer und Humanität. In: Allgemeine FleischerZeitung, II. Jg., 1.6.1875, Nr. 16, S. 62. Zur Generalversammlung. In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, XII. Jg, 15.3.1904, Nr. 22, S. 1. Zur Nachahmung empfohlen! In: Wiener Fleischhauer- und FleischselcherZeitung, V. Jg., 15.10.1897, Nr. 83, S. 2. Zur Trichinen-Frage. In: Allgemeine Fleischer-Zeitung, II. Jg., 3.2.1875, Nr. 2, S. 5-6. Zur Warnung. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 8.7.1898, Nr. 54, S. 2. Zwei Stückerl vom Zentralviehmarkt. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, XII. Jg., 8.3.1904, Nr. 20, S. 2. Zweite Internationale Kochkunst-Ausstellung in Wien. In: Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung, VI. Jg., 11.1.1898, Nr. 3, S. 1-2.
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