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German Pages 82 [84] Year 1956
E I N L E I T U N G Der Bildgedanke eines Stufenbaus der Entwicklungsalter ist in die Geschichte der Wissenschaft übergegangen. Es klingt in dem Begriff der Stufe das Schreiten mit, das dem eigentlichen Geschehen der Geschichte entspricht. Der Begriff der Entwicklungsalter aber verkettet das Bild mit dem Leben des Einzelmenschen und läßt eine Vorstellung anklingen, die uns als gültigster Vertreter alles Werdens aus eigener Kraft gewohnt geworden ist: die Vorstellung des Lebens selber. Auf diesen Grundton kommt es mir an. Der innere Forschungsdrang, der mich — ob auch nur zuweilen bewußt und nur gelegentlich ausgesprochen — zutiefst und zustärkst bestimmt hat, ist der biologische, das heißt der Wunsch, in den Geschichtseinheiten, aus denen die Geschichte der Menschheit zusammengeflochten ist, Lebensgebilde, mehr: Lebensverläufe, Wachstümer zu sehen. Nur aus diesem Drang konnte ich dazu gelangen, an die Stelle der reinen Jahrhundertzeitrechnung die Ordnungsform der entwicklungsgeschichtlichen Zeitrechnung zu setzen, die von Wachstumsabschnitten ausgeht und die zu der im Jahre 1905 zum erstenmal verfochtenen Vorstellung von einer Bündelung der Völkergeschichten — aller Völkergeschichten — zu einem Nebeneinander von Gleichläufigkeiten, von Parallelismen führt. Freilich, das Gleichnis bleibt wie jedes in seiner Tragweite und Gültigkeit beschränkt. Der Vergleich mit den Lebensaltern der Einzelmenschen darf nur bis zu einem bestimmten Punkt des Weges festgehalten werden, wenn er nicht statt Förderung Mißleitung bringen soll. So darf aus dem Bildbegriff der Lebensalter nicht der Wahn entstehen, daß unsere Völker sich unaufhaltsam ihrem Lebensende näherten, ein Fehlgriff gleich verderblich für Erkenntnis wie Leben. So würde der andere Bildbegriff des Wachstums, falsch festgehalten, ebenfalls zu der Vorstellung führen müssen, daß Welken und Tod das Ende sein müßten. In Wahrheit aber ist die Geschichte der 1«
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Einleitung
Menschheit ein Verlauf ganz eigener Werdensweise, ganz sui generis, und darf keinem anderen gleichgesetzt werden. Ohne Bild gesprochen, handelt es sich um den folgenden Ordnungsgedanken. Die Geschichte aller Völker spielt sich ab in der Reihe einer Anzahl von Zuständen — d. h. Einheiten von Handlungsweisen — , die von fest umschreibbarer Eigenart sind und in einer bestimmten Abfolge sich aus- und nacheinander entfalten. Die sachliche Zusammengehörigkeit dieser Völkerzustände ist nicht an Ort, an Zeit, an Verwandtschaft gebunden. Dieser Ordnungsgedanke ist keineswegs losgelöst von der Vorstellung des zeitlichen Nacheinanders, die den innersten Kern und das auszeichnende Merkmal aller Geschichtswissenschaft ausmacht. Aber er ist mit ihr eine eigentümliche Verbindung eingegangen, die ihn über die Abhängigkeit von der reinen Gleichzeitigkeit hinaushebt: er gipfelt in der Behauptung, daß eine Folge von Zuständen den Inhalt der Weltgeschichte ausmacht, eine Folge, die sich bei allen Völkern und Völkerteilen in gleichem Nacheinander aufweisen läßt, von der nur die einzelnen Glieder der Menschheit sehr ungleich lange Wegstrecken durchlebt haben. Von den einzelnen Entwicklungsstufen der Menschheit scharf abgegrenzte Begriffe zu geben, kann diese Einleitung noch nicht unternehmen. Sie zu formen, ist eines der letzten Ziele der Darstellung der Geschichte der Menschheit selber. Allen Ausführungen dieses Buches ist eine Grenze gesetzt, die zu überschreiten ich mir streng verboten habe, deren einschränkende Wirkung ich aber, tiefer vielleicht noch, als der Leser es tun wird, wie einen Mangel empfunden habe. Ich habe nirgends das volle, bunte, blühende Leben der Völker oder gar des Einzelnen in aller seiner bewegten Mannigfaltigkeit aufsuchen dürfen. So möge denn auch der Leser nicht vergessen — wie ich es an keinem Tage, ein wenig zu meinem Leidwesen, habe vergessen können — , daß dieses Buch nur den Grund- und Aufriß einer Geschichte der Menschheit bedeuten will. Von dem Insgesamt der Geschichte ein Bild zu gewinnen, ist nicht minder wichtig, als irgendeine ihrer Einzelheiten zu durchdringen. Ein solches Gesamtbild gibt für alle Einzelszenen und Einzelgestalten der Vordergrundsschilderung den Rahmen, ohne den jenen die feste Beziehung zueinander fehlen würde. Ohne ihn aber würde auch die Geschichtswissenschaft selbst einer sicheren Einordnung in das Gesamtwissen des Welt und Menschheit umspannenden Ganzen der Forschung entbehren müssen.
Erster Abschnitt:
URZEIT
Erstes Stück GESELLSCHAFT Die Naturvölker der heutigen Kulturverteilung sind Völker der Urzeit; man dürfte sagen: ewiger Urzeit, mit dem Vorbehalt, daß damit nicht behauptet werden soll, sie würden bis an das Ende der Tage in diesem Zustand verharrt haben, auch wenn kein europäischer Kulturzwang ihre Entwicklung jäh und vermutlich für alle Zeiten durchbrochen hätte. Allerdings umfaßt die Bezeichnung Urzeit eine stufenreiche Entwicklungsfolge von Zuständen; aber diesen Sachverhalt teilt sie mit allen höheren Entwicklungsaitern, und man braucht nicht zu den am weitesten vorgeschrittenen Heersäulen dieses zurückgebliebenen Flügels der Völkerschlachtordnung zu greifen, um auf Merkmale zu stoßen, die den germanischen zur Zeit des Tacitus in mehr als einem Stück verwandt sind. Um 1800, vielfach noch um 1850, war der größere Teil der Erdoberfläche noch fast ganz ohne tatsächlichen Druck der indogermanischen Kaukasier, der angelsächsischen, slawischen und romanischen Europäer und ihrer Tochter- und Siedlungsvölker, die dem Namen nach auch damals schon eine Oberherrschaft über sie ausübten, in der Hand von lebenden Urzeitvölkern. Die bei weitem größten Landstrecken von Nord- und Südamerika, das festländische und das melanesische Australien, der ungeheure Block des nördlichen Asiens, Grönland und nicht geringe versprengte Landstücke von Afrika und Südasien setzten dieses Übergewicht von Urzeitländern zusammen. Aber auch noch heute mag die Ländermasse, auf der die Herrschaft des weißen Mannes nur oberflächlich lastet, immer fast die Hälfte des Antlitzes der Erde betragen. Nur die Kopfzahl aller dieser Stämmefamilien ist verhältnismäßig gering. Vielleicht mag ihr Insgesamt noch zur Zeit ihrer Blüte kaum wenige Millionen, das nordmongolische Urzeitmassiv gar nur Hunderttausende gezählt haben. Der gesellschaftlichen Ordnung nach, die in der Regel von dem Rahmen der Geschlechtsverkehrs- und Blutsverbände bestimmt wird, aber zugleich die staatlichen und wirtschaftlichen Einungen darstellt, lassen sich drei Teilalter der Urzeit unterscheiden: zuerst das Zeitalter der Horde, die aus der Vereinigung von 20 bis 200 Männern und
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Urzeit • Gesellschaft
Weibern in ganz freiein oder nur wenig eingeschränktem Geschlechtsverkehr und in wirtschaftlichem und staatähnlichem Zusammenschluß bestanden haben mag. Dieser Zustand ist mindestens einmal beobachtet worden — bei den Zwergnegern der afrikanischen Westküste; doch kann namentlich der hundertfach festgestellte Bau der Geschlechterverfassung, d. h. der höchsten Form der Urzeitverfassung, in seinem Werdegang auf gar keinen anderen Vorzuätand zurückgeführt werden als auf die Horde, die mithin durch Schlußfolgerung als früheste Gesellschaftsform vom Geschlechterstaat her gesichert erscheint. Diese unterste Schicht der Urzeitgesellschaftsordnungen hat in den höheren Geschieben Restspuren hinterlassen: die Männerbünde und die ihnen nachgeahmten Frauengemeinschaften, der Aufbau der Altersklassen und das Flötenhaus können kein anderes Ursprungsalter als die Zeit der Horde gehabt haben, da sie diese voraussetzen und das Bestehen der Sonderfamilie ausschließen. Nach Heinrich Schurtz' genialen Forschungen sind auch sie über die Erde verbreitet und haben in den Jungmannschaften der Dörfer und den Jugendbünden unserer Studenten noch ihren letzten Nachhall. Bei den Kwakiutl an der Nordwestküste von Nordamerika wird auf das deutlichste sichtbar, wie diese veralteten Ordnungen als Winter- und Festgemeinschaften neben den neuen Blutsverbänden als Sommerund Arbeitsordnungen noch eine Weile fortbestanden haben. Das Ende dieses Zustandes ist durch die Begründung der Sonderfamilie herbeigeführt worden, d. h. die größte Kulturtat der Frau, zu der sie in der Entwicklung des Ackerbaus und der Gartenbestellung noch eine zweite, kaum geringere gefügt hat. Nichts aber liegt näher, als die Gesellschaftsordnung der Horde als die allen für uns zutage liegenden Ordnungen gemeinsame Stammwurzel anzusehen, auch für die andere große Gruppe von Verfassungsformen, für den Siedlerschaftsstaat, d. h. die lediglich in Sonderfamilien geteilte Siedlerschaft, die an sich nicht mehr Geschlechtsverkehrs-, sondern nur noch Staats- und Wirtschaftsverband ist. Sie umfaßt außer den Zwergrassen — den innerafrikanischen Zwergnegern, den Kubu auf Sumatra und einigen andern versprengten Bruchstücken dieser vielleicht untersten Urschicht aller Erdbevölkerung — die sehr große Stämmefamilie der Eskimos und der Athapasken im nördlichsten Nordamerika, die Urzeitvölker Südamerikas außer wenigen Geschlechterstaaten in Guayana und, mit Ausnahme der Tungusen, die mongolischen Nordasiaten. Aber dieser an sich noch mannigfach verästelte Zweig am Stammbaum der Menschheit scheint mit Unfruchtbarkeit geschlagen zu sein: die Urzeiten aller später höher gediehenen Völker der mittleren
Siedlerschaftsstaat • Geschlechterverfassung
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und höchsten Stufen gehören der zweiten, unvergleichlich viel weiter verbreiteten Urzeitverfassung, der Geschlechterverfassung, an. Ihr gehören unter den lebenden Urzeitvölkern die Nordost- und Nordwestamerikaner, die festländischen und melanesischen Australier und schließlich noch sehr viele weithin verstreute einzelne Stämme und Stammesfamilien in Afrika und Asien zu. Für sie aber macht sich die Vergleichung mit den Germanen dör taciteischen Urzeit überall als möglich geltend. Eine Anzahl der Völkerschaften an der Nordwestküste von Nordamerika ist noch um 1870 in einem ziemlich unberührten, von europäischem Einfluß nicht erreichten Zustand beschrieben worden. Sie hatten, wie die Germanen, im wesentlichen eine Gemeinwirtschaft, die nur Werkzeug, Boote, Netze, fahrende Habe im Besitz des Einzelnen läßt, den eigentlichen Wert des Volksvermögens, die Fischgründe und die zu ihnen gehörigen Küstenstreifen aber als Gesamteigentum ansieht. Sie stehen, ähnlich wie die Germanen, auf der Grenze zwischen Wanderleben und fester Siedlung, sind dieser eher schon näher gekommen, denn sie schweifen nur im Sommer umher, um dem Fischfang nachzugehen. Sie haben, wie die Germanen, eine Sonderfamilie, in der der vermögende Mann mehrere Frauen, die ärmere Mehrzahl nur eine hat. Einige dieser Völkerschaften rühmen sich, wie die Germanen des Tacitus, der Keuschheit ihrer Frauen; Ehebruch, Scheidung sind selten. Der Brautkauf gilt hier wie dort. Wie die Germanen zur Jagd, so ziehen diese Tlinkit, Solink, Nutka oder Cifat zum Fischzug, während den Weibern zu Hause viel schwere Arbeit zufällt. Die Treue und Zuverlässigkeit der Binnenstämme der Nordwestküste wird hoch bewertet. Aber selbst die Laster, die in der germanischen Uberlieferung fast ebenso liebevoll als Eigentümlichkeit unseres Volkstums gehätschelt werden wie jene angeblich besonderen Tugenden der Gastfreundschaft, des treuen Zusammenhalts, die wir in Wahrheit mit allen höheren Naturvölkern teilen, auch sie finden sich an jener fernen Küste. Der Sund-Indianer der Nordwestküste gibt, wenn er sich einmal zum Spiel gesetzt hat, all sein Eigentum, Sklaven, Kinder, Frau und zuletzt selbst die eigene Freiheit als Einsatz hin. Entscheidend aber ist über alles fort die eigentümliche, zwischen Staats- und Familienverfassung stehende Ordnung der gesellschaftlichen Körperschaften. Das Geschlecht, die Gemeinschaft aller, die noch lebendig sich als von einer Person abstammend empfinden, ist die Grundform jeder höheren gesellschaftlichen Einung. Sie stellt die Zelle aller umfassenderen menschlichen Gemeinschaften dar; sie ist der Keim, aus dem Völkerschaft, Stamm, Volk, Rasse hervorgegangen sind, und sie ist damals bei den germanischen wie bei zahllosen heutigen Urzeitvölkerschaften auch noch zum Teil Träger und Inhaber
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Urzeit • Gesellschaft
öffentlicher Rechte. Die Tlinkit, eine Stammgruppe der Nordwestküste, wie die Irokesen, der kriegerisch und staatlich erfolgreichste Stamm der Nordostamerikaner, haben eine bis ins letzte hinein verwandte Ordnung, die Geschlecht und keimende Staatsgemeinschaft in der wunderbarsten Verflechtung zeigt. Schon gibt es Einungen, die nicht oder nicht mehr auf dem Gedanken gleichen Blutes beruhen: Häuptlingschaften, Siedlerschaften, d. h. Dörfer, Völkerschaften, zuletzt selbst, im Fall der Irokesen, einen Stamm. Aber diese Gemeinschaften stellen nur die Längsschnitte eines sehr fein gegliederten Aufbaus dar: die Querschichten werden von den Blutsgemeinschaften, von den zu Großgeschlechtern ausgeweiteten Geschlechtern ausgemacht, die schon wieder in Teilgeschlechter oder Unterteilgeschlechter zerfallen sind. Die eigentlich staatlichen Verbände, auch der weiteste noch, der Gesamtstamm der Irokesen, verdankt die außerordentliche Festigkeit, mit der er durch Jahrhunderte zusammengehalten hat, sicherlich sehr viel mehr diesen Querriegeln der Geschlechtef als seinen eigenen staatlichen Einrichtungen. Die staatliche Leistung aber, die er in diesem Zustand vollbrachte, war keine verächtliche: die Irokesen haben in raschem Anlauf ein Gebiet, etwa zweieinhalbmal so groß wie einst das Deutsche Reich, ihrer mittelbaren Herrschaft unterworfen und dieses ungeheure Gebiet durch Jahrhunderte festgehalten; neben anderem auch eine erstaunliche Kriegskunst- und Leibesleistung, da ihnen, wie allen Amerikanern, Pferde und Reiterei fehlten und sie also die unabsehbaren Weiten zu Fuß durcheilen mußten. Ebenso denkwürdig ist, daß die Verfassung des Stammes und der Völkerschaftsstaaten der Irokesen vollkommen von dem Ubergewicht des Geschlechtergedankens beherrscht ist. Alle ihre Vertretungskörperschaften setzen sich aus den Häuptlingen der Teil- und Unterteilgeschlechter zusammen. Ihre grundsätzliche Abneigung gegen die Einzelherrschaft — sie haben die Versuche zur Herstellung des Königtums mit eifriger und erfolgreicher Strenge niederzuhalten gewußt — rührt unzweifelhaft von der Kraft des Geschlechtergedankens her. Er wirkte in ihnen eine Gesinnung, die man mit demselben Recht Adels- oder Volksherrschaftsgeist, aristokratische oder demokratische Gesinnung nennen dürfte und die vielleicht gerade deshalb eine so stolze und feste Form weitgehender Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Volksgenossen darstellt. Von noch weitergreifender, schlechthin weltgeschichtlicher Bedeutung ist, daß die Verfassung der Irokesen und Tlinkit in all ihrer Verwickeltheit und Zusammengesetztheit einen Blick in ihre Vorgeschichte zu tun erlaubt, und daß dieser Blick mit sicheren Schlußfolgerungen bis an ihren Ursprung reicht. Da ergibt sich, daß alle
Geschlechterstaaten; ihre Spuren bei Malaien, Mongolen
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eigentlich staatliche Bildung dieser Stämme dort eingesetzt hat, w o z w e i selbständig s c h w e i f e n d e Bluts- und G e s c h l e c h t s v e r k e h r s v e r bände sich vereinigten, um miteinander eine neue Gemeinschaft zu schließen. Bis dahin stellten auch sie staatähnliche Gebilde dar, insofern sie auf A b w e h r äußerer Feinde und innerem Zusammenschluß beruhten w i e noch heute der entwickeltste Staat; aber in ihnen ü b e r w o g das G e p r ä g e eines rein auf das Gefühl der Blutsgemeinschaft gestellten Zusammenschlusses. Die neue Form der Einung, obw o h l im selben Sinn v o n dem Geschlechtstrieb — dem Drang n a c h W e i b e r t a u s c h — beherrscht und zu W i r t s c h a f t s g e m e i n s c h a f t und Gewaltenzusammenschluß als zu selbstverständlichen F o l g e n führend, unterscheidet sich dennoch v o n der älteren, insofern sie nicht mehr auf den G e d a n k e n der Blutsgemeinsamkeit, der gleichen A b s t a m m u n g zurückgeht. M a n könnte vermuten, daß durch die V e r e i n i g u n g z w e i e r Horden zum Z w e c k erweiterter W e i b e r w a h l trotzdem ein neues, nur größeres Gebilde enger Geschlechtsgemeinschaft und schließlich auch v o l l k o m m e n e r Stammbaumverflechtung entstanden sei. So aber haben es diese j u n g e n V ö l k e r nie aufgefaßt, sondern bis an das Ende ihrer Zeiten Geschlechts- und Staatsverband auseinandergehalten. Nur j e n e m w u r d e die V o r s t e l l u n g gemeinsamer A b s t a m m u n g beigelegt, nur er v e r b a n d seine Glieder zu einer A r t familienhafter Treue und Anhänglichkeit, die den staatlichen Gebilden fremd blieb. Zugleich läßt sich dieser Urzfeitzustand auch als survival, als übriggebliebener Grundstock der G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g in die V ö l k e r höherer Geschichtsstufen verfolgen. Bei den p o l y n e s i s c h e n und australischen M a l a i e n ist er als sehr w e i t verbreitet nachzuweisen: v o n den Festlandaustraliern aufwärts bis zu den Fürsten- und A d e l s geschlechtern Samoas mit ihren fast tausendjährigen Stammbäumen oder dem Unterbau der Gesellschaft d e s Archipels. Die Suku und Pangulu des alten Malaienstaates auf Sumatra scheinen den Sachemschaften und Geschlechtshäuptern der Irokesen fast g e n a u zu entsprechen. Die Familienverfassung des malaiischen Hovastaats a'if Madagaskar, des westlichsten, afrikanischen Vorpostens dieser austra lisch-südostasiatischen Rasse, wird durch das Inzuchtverbot, für die Geschlechter, ein untrügliches Zeichen des Geschlechtergedankens, beherrscht. Die Mongolen, die Rasse, die die ungeheuersten Landräume einnimmt sind der Schulfall für den N a c h w e i s der Geschlechterverfassung. So v i e l e Entwicklungsalter sie umfaßt, sie sind alle v o n ihr durchdrungen, ein Beweis, daß sie die Urzeitstufe mit um so rückhaltloserer Stärke beherrscht hat. Das führende V o l k der Rasse, die Chinesen, tritt in die G e s c h i c h t e ein als das V o l k der hundert Geschlechter, und noch heute ist das Inzuchtverbot, das in China jeden angesehenen
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Urzeit • Gesellschaft
Mann abhält, ein Mädchen gleichen Namens heimzuführen, ein deutliches Zeichen für die lange nachwirkende Kraft übermächtiger Urzeiteinrichtungen. Auch sonst fehlt es nicht an unzweifelhaften Resten dieser Urzeitverfassung. So ist der chinesische Zustand sehr wertvoll für die Erkenntnis, daß auch jene engsten Blutsgemeinschaften der Urzeit bei genügend langer und friedlicher Entwicklung sich zu ungeheuer menschenreichen Massen ausweiten können: man zählt im heutigen China nur vierhundert Familiennamen, so daß im Durchschnitt etwa eine Million Seelen auf das einzelne Geschlecht fällt, eine so große Zahl, daß man nun wohl die alte Zagheit aufgeben muß, die da zögert sich vorzustellen, daß ganze Völker, ja Rassen aus dem Schöße einer einzigen Mutter hervorgegangen sein könnten. Für das japanische Volk läßt sich vollends mit Sicherheit aus der vorhandenen halb sagenhaften Uberlieferung folgern, daß es in seiner Urzeit aus straff zusammengehaltenen Geschlechtern zusammengesetzt war. Selbst die Schiffs- und Geschwaderverbände, in denen dieser einzige seeliebende Zweig der Mongolen über Meer gefahren ist, um von seinem späteren Inselland Besitz zu ergreifen, sind nicht anders denn als Geschlechter und Großgeschlechter zu deuten. Die Uji und Großuji der älteren Zeiten Japans entsprechen durchaus den Teilgeschlechtern der Irokesen: nur hat hier die Einzelherrschaft des Königtums schon die Unabhängigkeit dieser Verbände mehr gebrochen als die freie Volksvertretung der zu Stamm und Völkerschaft geeinten Irokesen, die ja selbst nur aus den Geschlechtsoberhäuptern bestand. Die Mongolenstämme endlich, die noch heute in Urzeitzuständen in Mittelasien leben, etwa die Völkerschaften von Ost- und Westturkestan, stellen einen ganz reinen Fall von Geschlechterverfassung dar, von der irokesischen nur in der umgekehrten Richtung wie die japanische abweichend: hier handelt es sich um einen jüngeren, unreiferen Zustand, nicht, wie in Japan, um eine schon weiter fortgeschrittene Entwicklungsform. Hier sind noch ganz einfache Bauformen zu beobachten: mehrere der fünf- bis sechsköpfigen Sonderfamilien, die bei diesen schweifenden Hirtenstämmen die Zeltgemeinschaft, die natürliche Lebens- und Wirtschaftseinung bilden, sind zu Khotons, zu Großfamilien zusammengefaßt, und mehrere Khotons stellen ein Anghi dar, also ein Geschlecht, das, ganz entsprechend der . allgemeinen Regel, durch Inzuchtverbot zusammengehalten ist. Dieses wächst aber nicht über etwa achtzehn Großfamilien an. Ist diese Zahl überschritten, so verliert sich das Bewußtsein der Blutszusammengehörigkeit. Obwohl diese Turkvölker sich sehr viel auf ihr Stamm-, baumwissen zugute tun, an dem selbst der gemeine Mann teil hat, haben sie also bei weitem nicht soviel geschichtlichen Sinn wie die Irokesen, die über ein Vierteljahrtausend ihre Geschlechtseinheiten
Die Geschlechterverfassung bei Negern, Hamiten, Semiten, Ariern
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festgehalten haben. Auch dies ist eine allgemeine Beobachtung: mit wachsender Staatskraft wächst das geschichtliche Bewußtsein. Die Turkvölker aber haben nur in einigen bevorzugten Fällen, wie in dem der Karakirgisen, über den Geschlechtern noch eine Staats-, will sagen Völkerschafts- und Stammesverfassung. Sie ist wiederum über die irokesische hinausgewachsen, insofern sie über die Vertretung der versammelten Häuptlinge einen Aagamanap, einen Oberhäuptling, stellt. Dieser Zustand wirft wieder ein Licht auf die Verhältnisse, aus denen die beiden großen Eroberervölker der gelben Rasse hervorgegangen sind, zuerst die Mongolen der Khane und Horden, die um 1175 unter Dschingis-Khan, nun also schon zur Altertumsstufe starker Einzelherrschaft emporgestiegen, etwa drei Vierteile Asiens beherrschten. Ihre Fahnen und Heerkörper von zehn, hundert, tausend Köpfen waren, zumal es sich um die gesamte bewaffnete Mannschaft ganzer Völkerschaften handelte, schwerlich anderes als zu Regel und Einförmigkeit gebrachte Großfamilien, Geschlechter, Horden. Bei den Türken aber, die auch aus diesen Gegenden hervorgegangen sind, gibt es noch heute eine Sage, die erkennen läßt, daß Osman, der erste der großen Sultane, von der Rangstufe eines Geschlechtshäuptlings emporgestiegen ist. Denn es heißt von ihm; daß er mittags noch all seine Leute durch eine Fahne zum Essen zusammenzurufen vermochte. Für die schwarze Rasse läßt die vorhandene Menge einzelner Bestätigungen von Geschlechterordnung, so im Rechtsverfahren der Kaffern, so in der Verfassung der südwestafrikanischen Ovaherero, so in dem Aufbau der Ewe von Togo vermuten, daß es sich hier auch um ein Glied in der gleichen Kette handelt. Innerhalb der weißen Rasse ist dagegen der Geschlechtergedanke fast ausnahmslos als die frühen Stufen der Gesellschaftsentwicklung beherrschend nachgewiesen. Bei den hamitischen Ägyptern, deren Geschichte von ehrwürdigem Alter schon in ihren ersten Anfängen eine höhere Stufe aufweist, schließt man doch aus dem Bestehen zahlreicher Tierdienste auf eine einstmals kräftige Geschlechterordnung. Unter den Semiten haben die Araber mit der äußersten Zähigkeit am Geschlechtergedanken festgehalten: zur Zeit Mohammeds bestimmte er ihr öffentliches Dasein völlig,- und noch als sie längst unter mächtigen Königen eine halbe Welt erobert hatten, ist er wieder und wieder zum Durchbruch gekommen. Wenn eine kleine Truppe im Kampf gegen die Ungläubigen sich nur mit schwerer Mühe aufrechterhielt, so kam es in ihr, wenn der alte Haß und Streit der Geschlechter sich entzündete, auch dann noch zu blutigem Zwist. Das jüdisch-israelitische Königtum Davids hatte seine Herrschaft über das Volk noch mit den Oberhäuptern der
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Urzeit • Gesellschaft
Vaterhäuser, der Geschlechter, zu teilen, und seinem Enkel Rehabeam wurde im israelitischen Teil des Reiches die Nachfolge durch eine Versammlung der Geschlechterhäupter entzogen. Die Karthager endlich scheinen nie über einen halb mutterrechtlichen Geschlechterstaat hinausgediehen zu sein. Unter den arischen Kaukasiern haben Inder und Perser unzweifelhaft von der Geschlechterordnung den Ausgang ihrer staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung genommen. In der attischen, vollends in der römischen Verfassung ältester Zeiten steht das Geschlecht im Vordergrund, und für den Ausgang der Urzeit der Germanen hat ein so bedeutender Geschichtsschreiber wie Sybel sogar den reinen Geschlechterstaat noch als vorhanden nachweisen wollen. Daß der älteste Staat der Griechen wie der der Römer vom Geschlechtergedanken beherrscht gewesen sein muß, geht vielleicht auch aus dem Namen der leitenden Vertreterschaft des Volkes hervor: die Bezeichnungen Gerusia und Senat mögen den Sinn einer Gemeinschaft der Geschlechterältesten haben. Die wichtigste Bestätigung erfährt die Beobachtung der schlechthin planetarischen Herrschaft der Geschlechterordnung über alle höheren Urzeitvölker und über die Urzeitalter der später zu höheren Stufen emporgestiegenen Völker dadurch, daß die Zusammenfassung von Sonderfamilien zu einem weiteren Blutsverband, das sie einende Inzuchtverbot und die Annahme der Blutszusammengehörigkeit aus der Wurzel der gemeinsamen Abstammung von einer Ahnin oder einem Ahnen nicht die einzigen Merkmale sind, die diesen Aufbau der Gesellschaft kennzeichnen, sondern daß ihnen in bedeutenden Fällen auch noch einzelne Bauformen zur Seite treten, die das Insgesamt der Völkerschafts-, Stammes-, Volkseinheit angehen. So vor allem die Doppelung der Geschlechterordnung, d. h. ihre Teilung in zwei einander entsprechende Hälften, zwei Bruderschaften •— um den von Morgan der Einrichtung gegebenen Namen Phratrien aufrechtzuerhalten —, die aus den Entstehungszeiten dieser Gesellschaftsform, aus den Zeiten des Ubergangs von der Horden- in die Geschlechterverfassung herstammen muß. Zwei Möglichkeiten des Ursprungs sind für sie gegeben: entweder, wie Schurtz' geistreiche Vermutung ist, aus einem Zu- und Ineinanderwachsen zweier ursprünglich unabhängiger Horden zu einer Doppelhorde, oder, wofür Frazer sich einsetzt, duTch eine autogene Spaltung, die auf die Verhütung der Begattung von Kindern durch Eltern und der Inzucht von Geschwistern mit Geschwistern abzielt. Diese Doppelung, die bei den nordost-, den nordwestamerikanischen und den australischen Geschlechterstaaten zum Überfluß oft und deutlich nachgewiesen ist, findet sich in wünschenswert scharfer Ausprägung in den Urzeitüberlebsein höherer
Planetarische Verbreitung der Geschlechterordnung • Häuptlingstum
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Stufen an so verschiedenen Stellen des Völkerstammbaums wie bei Japanern, Spartanern und Römern, noch dazu jedesmal unter der Maske einer Dreiteilung, die aber sofort als ein späteres Stratum zu erkennen ist, das den Kern der ursprünglichen Doppelteilung nur an der obersten Oberfläche verhüllen kann. Die Tenshin, die vom Blut der Himmelsgötter, und die Chiki, die vom Blut der Erdengötter, sind in Japan ebenso sicher die beiden Urbruderschaften wie die Hylleis und Dymanes in Sparta, die Ramnes und Tities in Rom, während die angeblich dritte, d. h. später hinzugekommene Bruderschaft, in Japan Bambetsu, d. h. Einwanderer, in Sparta Pamphyloi, also Allstämmler, und in Rom Luceres genannt, in den ersten beiden Fällen schon durch den Namen als spätere Angliederung, in Rom dadurch, daß sie weder Eponymos noch eine Legende hat, als unebenbürtig gekennzeichnet sind. W i e erstaunlich, daß über den Erdball hin so eigentümliche Sonderformen wiederkehren, freilich nicht mehr, als daß die Durchquerung der Bluts- durch Staatsverbände in Sparta und in dem spät wieder aufgelebten Geschlechterstaat der Dithmarschen völlig dem Aufbau des irokesischen Geschlechterstaates entspricht, oder daß sich bei den schottischen Clans der gleiche Verwitterungsvorgang einer Umbildung der ursprünglich reinen Personalverbände in örtliche Verbände findet wie bei den Narrang-ga an der Küste von Südostaustralien. Kein Zweifel: das Geschlecht war einmal weithin auf dem Erdenrunde die stärkste Form menschlicher Gemeinschaft, und aus der Verbindung mehrerer, meist, wenn nicht immer, zweier von diesen Urzellen ist der älteste Staat entstanden. Er zeichnet sich aus durch weitgehende Schonung einmal dieser seiner Grundbestandteile, der Geschlechter, in ihrer Selbständigkeit und fast ebenso sehr durch die gleiche Rücksichtnahme auf Stolz und Freiheit des Einzelnen. Die Menschheit hat viele Formen von Herrenjoch auf sich genommen, aber in das Licht der Geschichte ist sie nicht in knechtischem Zustand eingetreten. Dennoch hat schon die Urzeit die Anfänge der Einzelherrschaft entwickelt. Die Keime zu ihr hat selbst die Tlinkit- oder die Irokesenverfassung schon emporsprießen lassen; die irokesische war hierin bemerkenswert weiter fortgeschritten als die des nordwestamerikanischen Stammes. Aber schon die rote Rasse weist einzelne Urzeitvölker auf, in denen die Häuptlingschaft, die bei den Irokesen noch auf Teil- und Unterteilgeschlecht beschränkt ist und von den eigentlich staatlichen Einungen, von Völkerschaft und Stamm ängstlich ferngehalten erscheint, nun auch auf die weiteren, nicht durch nächste Blutsgemeinschaft zusammengehaltenen Verbände übergeht. Ja, mit der Ausdehnung des Machtbereiches geht hier und da auch eine Steigerung der Gewalt Hand in Hand. In nächster Nähe der Irokesen,
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Urzeit • Gesellschaft
in Nord- und Südkarolina, haben sich, zum Teil schon im siebzehnten Jahrhundert beobachtet, Ansätze zu einer Selbstherrschaft gebildet: Häuptlinge, vor denen man niederfiel, andere, die körperliche Züchtigung verhängen durften, sind emporgekommen. In Südamerika finden sich einzelne Seitenstücke. Afrika endlich ist recht die Heimat solcher Ürzeiteinzelherrschaften verschiedenster Stufen. Oft nur Dorfhäuptlinge, die vielleicht nur Geschlechtsoberhäupter von etwas schärfer geprägter Machtvollkommenheit sind, oft Herren mehrerer Völkerschaften oder gar Stämme, oft an den Beirat der Altesten gebunden und ohne bemerkenswerte Macht, oft zu grausam-herrischer Königsgewalt emporgestiegen, mögen doch auch sie auf demselben Weg zu ihrer Stellung gekommen sein, der von der Entwicklungslinie der Tlinkit und Irokesen vor der Vollendung ihres Geschlechterstaates abzweigt oder der ihre Verlängerung darstellt über das Ziel hinaus, das die Irokesen ihren Kriegshäuptlingen zu erreichen nie verstattet haben. Gewiß, es gibt kaum eine Stufe der weltgeschichtlichen Entwicklung, die eine so große Mannigfaltigkeit von Unterstufen, von Um- oder Abwegen darbietet; ihre Gesellschaftsordnung läßt sich dennoch mit einigen, wenn auch weiten und leisen Umrissen umfassen. Bunter noch wird das Bild, gedenkt man der wirtschaftlichen, der geistigen Zustände. Reine Jäger und Fischer, aber auch solche, die, wie die Nordwestamerikaner, bei dieser Wirtschaftsform zu Seßhaftigkeit und vielfach geregeltem Betrieb emporgestiegen sind; Jägervölker, die eben zu Ackerbau und fester Siedlung übergehen,- noch schweifende Hirten- und wirkliche, angesessene Ackerbau Völker: sie alle sind auf dieser Stufe anzutreffen. Eine Tatsache, die zugleich einen guten Beweis dafür abgibt, daß man hier nicht der marxistischen Schule folgen kann: denn während die eigentlich gesellschaftlichen Verhältnisse, während Familien- und Staatsverfassung einen festen und brauchbaren Rahmen für diese Stufe abgeben, bieten die wirtschaftlichen Zustände ein sehr zersplittertes Bild dar; ja, einige ihrer Kennzeichen, zum Beispiel das des festen Ackerbaus, sind auch anderen, höheren Stufen, gemein, so daß eine sichere Abgrenzung durch diesem Alter allein eigentümliche Merkmale völlig unmöglich ist. Die Einwirkung der Wirtschaftsform könnte so stark gewesen sein, daß Unterarten des Geschlechterstaates und des Zwergkönigtums durch sie, wenn nicht erzeugt, so doch begünstigt wurden. Aber die eigentlich gesellschaftlichen Grundtatsachen sind zu stark, als daß man sie als Folgeergebnis der wirtschaftlichen ansehen dürfte. Der Machttrieb ist in den Menschen dieser jungen Zeiten eher stärker als schwächer wie der Erwerbstrieb.
Wirtschaft • Allkraft-, Zauber-, Geisterglauben
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Zweites Stück GEIST Noch mannigfacher ist der Gesamtanblick des geistigen Schaffens dieser Stufe. Da, wo es sich zu seiner Gipfelleistung erhebt, im Glauben, bietet sich ein unerhörter Reichtum von Gestalten dar. Daß die Fülle der Gesichte sich hier auf wenige große Grundformen zurückführen lasse, daran ist nicht zu zweifeln. Ahnende Furcht vor den Verstorbenen ist heute nicht mehr wie früher als der am stärksten sprudelnde oder gar ursprüngliche Quell aller überwirklichen Vorstellungen anzunehmen. In drei Schichten stellt sich der Urzeitglauben dar, soweit er über erste Anfänge hinaus gediehen ist, schon eine gefügte Vorstellungswelt entfaltet hat, Schichten, die da, wo eine langsame und viele Uberlebsel erhaltende Entwicklung es glücklich gefügt hat, also etwa bei zu höchst gestiegenen Urzeitvölkern, sogar als übereinander gelagerte strata gleichzeitig zu erkennen sind. Die unterste macht ein Allseelenglaube, richtiger ein Allbeseelungs-, ein Allkraftglaube aus, der in den Naturdingen, denen der belebten wie der unbelebten Welt, ihnen innewohnende Kräfte, besser Bewohner, Eigner annimmt, die sie alle dem Menschen, der durch seine Seele in ihre Reihe gehört, verwandt macht. Fels und Bach, See und Bucht, Wolke und Stern, Pflanze, Tier und Mensch stehen einander hierin gleich. Diese Weltanschauung — denn das ist sie weit mehr als ein Glaube — ist dem Empfinden heutigen weltfrommen, an das Ganze des Weltgeschehens, nicht an Einzelheiten hingegebenen Weltglaubens ähnlicher und verwandter als irgendeine der sogenannten höheren Glaubensformen. Ganz uns fremd an ihr ist nur der Bestandteil, der sie freilich erst recht zum Glauben und damit zu der möglichen Wurzel aller späteren, volleren und reiferen Glaubensformen macht: der Wunsch und die Kunst, diese so weit hin über die Welt zerstreuten Kräfte sich dienstbar oder doch wenigstens unschädlich zu machen durch zauberische Beschwörung. Die im Geist sehr feinen Stämmefamilien der nördlichsten Amerikaner, die Athapasken und vornehmlich die seelisch ganz zarten Eskimos haben diese Glaubensschicht am reichsten und klarsten ausgebildet. Es finden sich Keim- und Kümmerformen bis zur vollendeten Glaubenslosigkeit bei den Zwergrassen, etwa den Zwergnegern, den Weddah auf Ceylon, den Kubu auf Sumatra; über dieser untersten Schicht findet sich bei anderen Stämmen eine etwas höhere, die die Zauber- und Allkraftvorstellung allmählich entwickelt. Die mittlere Stufe des Urzeitglaubens, von der ohne weiteres anzunehmen ist, daß sie sich aus der untersten der Allkraftvorstellungen entwickelt hat, ist die des Geisterglaubens, insbesondere des Tier-,
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Urzeit • Geist
seltener des Pflanzengeisterglaubens. Hier liegt nichts näher als die Unterstellung, daß allmählich in dem Wettbewerb um die Gunst des die Verstärkung der eigenen Kraft suchenden Menschen diejenigen Wesen den Vorrang errungen haben, die ihm ihrem Wesen nach eigens nah erscheinen. Das Tier, fern genug, um nicht ganz verständlich und deshalb ungeeignet zum Träger höherer Gewalt zu werden, ist doch nahe genug, um brüderlich vertraut zu erscheinen, um ihm ganz das gleiche Wesen, dieselbe Seele, Sprache, Volkszusammengehörigkeit und so fort zuzutrauen. In seltsam freier Verflechtung mit den eigenen gesellschaftlichen Ordnungen des Menschen kommt der Tiergeisterglauben auf: die Geschlechter, zuvor wohl selbst die Männerbünde der Horde, machen einzelne Tiere zu Schutzherren, anfänglich nur zu Schutzverwandten, mächtigen Verbündeten. Und in dieser eigentümlich irdisch-greifbaren, halb dem Bluts-, halb dem Staatsverband dienenden Umgrenzung wachsen die Tiergeister — selten neben ihnen auch einige Pflanzengeister — zu Gewalthabern der Seele empor. Zuerst ist das Verhältnis zwischen dem gläubigen Menschen und dem geglaubten Tier ein durchaus franziskanisch-brüderliches: bei den mittelaustralischen Aranda feiert das Ära-, d. h. das Känguruhgeschlecht zu Ehren seines geliebten Tieres Feste, bei denen Tänze und Gesänge nicht Bitten und Wünsche an, sondern nur Bitten und Wünsche für das Känguruh und sein Wohlergehen ausdrücken. Man ist versucht zu sagen: in seiner Kindheit hat das Menschengeschlecht nicht zum Gott, sondern für den Gott gebetet. Auch sonst war dieser Stufe alle die erniedrigende und fast sklavische Demut, zu der sich der Gläubige der höheren Stufen so oft verstanden hat, noch völlig fremd. Doch war die bauende Einbildungskraft, vielleicht auch der Wunsch am Werke, an den verehrten Tiergeistern noch stärkere Beschützer zu gewinnen, diese oberen Gestalten zu höhen und zu steigern, denen man mehr und mehr Macht zu helfen, aber auch zu schaden zutraute. Und so gelangten die Urzeitvölker höchster Ordnung in die dritte und höchste Schicht des Urzeitglaubens, in die des Heilbringers, d. h. des keimenden Gottes und in die der wachsenden Götter selbst. Jelch, der Rabe, und Kanuk, der Wolf, verdrängten bei den Tlinkit an der nordamerikanischen Nordwestküste zuerst die anderen Tiere, die Tiergeister der anderen Geschlechter sind: Bär, Adler, Lachs, Walfisch und so fort. Sie werden die namengebenden Schutzherren der beiden Großgeschlechter, der beiden Bruderschaften, in die ihr Stamm zerfällt. Zuletzt aber wird Jelch, der Rabe, vollends Sieger und wird der Heilbringer seines Stammes. Halb Mensch, halb Tier, erscheint er nach Willkür bald als Rabe, bald als Mann; unverwundbar wie Siegfried, Feuerbringer wie Prometheus,
Tiergeister-, Heilbringerglauben
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von ungeschlechtlicher Geburt wie Jesus, wird er zum Bringer aller Segnungen der Kultur. Aber er bleibt doch noch Rabe, man erzählt sich drollige Geschichten von ihm; noch ist keine Spur von Dienst oder priesterlicher Verehrung. Ein Glaubensstand wie dieser der Tlinkit bezeichnet die Schwelle zur dritten Stufe: der Heilbringer, der aus der Sintflut die Erde, der die Menschen und manche andere Teile der Welt schaffe ist da —, aber noch nicht der Gott. Der Glaubensstand, den die Irokesen einnahmen, als Morgan 1847 ihr Leben erforschte, bezeichnet den Schluß, die Krönung dieser Entwicklung dritter Stufe. Ioskeha, der Heilbringer, den die französischen Jesuiten um 1670 beschrieben haben, steht nicht wesentlich höher als Jelch, der Rabe, nur daß ex die Tiergestalt völlig abgestreift hat, während der Große Hase der nächst benachbarten Algonkin sie noch bewahrt. Sintflut, Erd-, Menschenschöpfung sind nah verwandt. Aber bis 1847 hat sich das Bild geändert: Hawenneyu, der Herrschergott, aus Ioskeha erwachsen, ja durch ein Begleittier, den weißen Hund, in seinem Urkern als Tiergeist kenntlich gemacht, hat schon einen ausgebildeten Dienst; neben ihm stehen ein Donnerer, ein Windgeist, anmutige Pflanzengeister. Schon ist möglich, daß sich christliche Bestandteile in die Lehre drängen. Ganz ähnlich wie die Geschlechterverfassung über die Erde geht, durchzieht die Heilbringergestalt die Urzeiten fast aller höher gediehenen Völker; Sintflut, Drachenkampf und viele Einzelheiten der Heilbringersage begleiten sie wie in Nordamerika an vielen Orten. Gleichviel ob man den indischen Dyaus oder Indra, den griechischen Zeus, den germanischen Tiuz, den babylonischen Marduk durchleuchtet, immer wird der Kern der Heilbringergestalt erkennbar. Das Erstaunlichste aber ist wohl, daß sich die erhabenste aller Gottesgestalten der gläubigen Menschheit, die sich zuletzt den Erdball unterworfen hat, in ihrer Jugend, als der frühjüdische Jahve, zu dem keimenden Heilbringer der Nordamerikaner, etwa der Lape-Lenape, der Delawaren oder dem Michabazo der Algonkin in nächste Nähe gerückt findet. Welt-, Menschenschöpfung, Drachenkampf, Sintflut, hieT wie dort, Ähnlichkeiten bis zu ganz geringfügigen und doch höchst bezeichnenden Einzelzügen, wie die Erbauung eines Floßes, wie das dreimalige Aussenden eines Botentieres in die Flut. Da von irgendwelchen Übertragungen über die Hälfte des Erdumfangs fort nicht die Rede sein kann, scheint es, als unterliege noch die scheinbar so frei und willkürlich schaffende Einbildungskraft der gläubigen Völker gewissen Zwangsläufigkeiten1). 1
) Nähere Begründungen für diese kürzesten Zusammenfassungen finden sich in dem Buche: Die Entwicklung des Gottesgedankens und der Heilbringer (1905) sowie in dem Werk: Die Geschichte der Menschheit I, Anfänge der Menschheit (1936) und II, Völker ewiger UTzeit (1939), 2 Der Stufenbau der Weltgeschichte
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Urzeit • Geist
Ungewiß und unbegrenzt, dunkel und rätselhaft war die Welt um diese Menschen; und so ist in ihnen alles ungewiß schwankende Schaffen des Geistes am herrlichsten gediehen. Götter allüberall zu ahnen, die beseelte und unbeseelte Natur sich durch halb vermenschlichende, halb vergottende Umdeutung zu nähern und doch auch wieder in Furcht und Scheu von sich abzuwehren: das war die Stärke und Größe des Hirnlebens dieser Zeiten. Und die Menschheit hat so in dieser Kindheit einen unerschöpflichen Schatz unbewußten Künstlertums für alle ihre späteren Lebensalter geschaffen. Wieviel nüchterner würde besonders unser nüchternes Zeitalter sein, wäre es nicht von dem letzten zarten Goldglanz bestrahlt, der von dieser Morgenröte ausging. Fast alles, was Märchen ist in unserer Dichtung, unserem ölauben, ist Erbgut der Urzeit: eine kahle Grauheit würde sich über unser Dasein legen, wollte man die Buntheit dieses kindhaft tiefen Fabulierens aus uriserer Vergangenheit, unserem Heute streichen. Sicher wird auch das Wirrsal der Formen urzeitlicher Kunst einmal geordnet werden; und es kann nicht geschehen ohne die tätige Beihilfe einer vom bunten Leben lernenden Kunstwissenschaft, die nicht allein auf die an sich gewiß auch notwendige Spaltung und Abgrenzung der höchsten Begriffe nach Art der alten Ästhetik gerichtet ist, dieselbe Begrifflichkeit vielmehr benutzt, um auf Grund eines reichen Erfahrungsstoffes die einzelnen Gattungen der Zierkunst, der Schmucklinie, der Zierfarben und so fort ordnend zu unterscheiden. Etwas mehr ist heute schon zur Ordnung der ältesten Erzeugnisse der Verstandestätigkeit geschehen, die bei den Urzeitvölkern die augenfälligsten Früchte getragen hat, der Technik, die freilich noch mehr Werkzeugkunst als Werkzeugkunde war, immerhin aber doch eine auf das werktätige Leben gerichtete Wissenschaft jener Dämmerzeiten ist. Hier ist die geistige Leistung der Urzeit eine ungeheure: wir sind ihr noch heute zu Dank verpflichtet. Es war natürlich nichts Geringes, die ersten und wichtigsten Werkzeuge zu erfinden; es ist fraglich, ob man den Erfinder des Dampfpfluges mit dem des einfachen Urpfluges auf eine Stufe stellen darf. Allein dem Einwand Nietzsches gegen diese Hochschätzung, daß den ersten und einfachsten Erfindungen sehr oft der Zufall zu Hilfe gekommen sein möge, kann man nicht völlig unrecht geben. Doch im Bereich des Wissens der Urzeitvölker steht die Werkzeugkunde nur für die erste und oberflächlichste Betrachtung im Vordergrunde. In Wahrheit hat das Denken der Urzeit ganz außerordentliche Leistungen zustande gebracht. Am wenigsten besagen vielleicht die Anfänge der Einzelwissenschaften, von denen doch auch schon Zeugnisse vorliegen. Angewandte Erdkunde in Gestalt der Kartenzeichnung ist in Nordamerika bei Eskimos und südlicheren Stämmefamilien
Urzeiterbe • Werkzeug • Geschichte • Bildschrift • Zahl • Sprache
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nichts Seltenes, aufwärts reichend bis zu dem Vermögen, etwa eine Küstenlinie von hundert Kilometern Länge mit allen Buchten und Inseln scharf und getreu wiederzugeben. Die Geschichte ist in mündlicher Überlieferung bis zu dem Grade gepflegt worden, daß es den Irokesen möglich war, bei Begehung ihrer großen Staatsfeiern die anfängliche Legende der Gründung ihres Bundesstaats und die Geschichte ihrer großen Kriegstaten, vermehrt durch die Erzählung der Ereignisse des letzten Jahres, von Jahr zu Jahr in gleichem Wortlaut fortzupflanzen. Und im Wege der Aufzeichnung durch Bilderschrift sind die an Staatskraft soviel schwächeren Delawaren emporgestiegen bis zu ihrem Walam Olum, einer Ursage und Urchronik, die als Mischung von heiliger und weltlicher Geschichte von dem Weg, der bis zu dem Hochziel der frühjüdischen Genesis führt, schon den größeren Teil zurückgelegt hat. Die Bilderschrift, in der die Nordostamerikaner so weite Fortschritte gemacht haben, ist als geistige Leistung um so denkwürdiger, als sie in ihren Anfängen aller Wahrscheinlichkeit nach noch vor die Entstehung der Wortsprache zurückreicht: dafür zeugt ihre sehr weitgehende Abhängigkeit von der Gebärdensprache, der durchaus nicht etwa unbedeutenden Vorläuferin der Wortsprache. An der Bilderschrift hat der menschliche Verstand in jedem Fall den gleichen Fortschritt vom Gewachsen-Besonderen zum Allgemein-Ubereinkünftlichen gemacht, den er in der Ausbildung der Sprache so tausendfach erringen mußte. In einem ganz besonderen Fall, doch einem von äußerster Tragweite, in der Ausbildung der Zahl, hat der Urzeitmensch den gleichen Weg der Neubildung von Geistesgut, hier sogar von Geisteswerkzeugen durch Abziehen, Abstrahieren, zurücklegen müssen. Wohl gibt es nicht wenige Urzeitvölker niederer Stufe, die an Zahlworten nur bis drei oder wenig darüber kommen. Aber unsere Kulturprahler von heute übersehen, daß es einer der stärksten Anspannungen des menschlichen Verstandes und seines mathematischen Vermögens bedurfte, um die ersten Zahlen, 2 und 3, d. h. die Zahl überhaupt, und das heißt wieder die kühnste, aber'auch die mächtigste aller Abgezogenheiten zu finden, mit denen die menschliche Vernunft den unübersehbaren Wirrwarr der sie umstarrenden Wirklichkeiten ordnend gemeistert hat. Höchst denkwürdig ein Nebenweg, den sie noch vor Erfindung des Zählens in Worten bei melanesischen Völkerschaften eingeschlagen hat: die Zählung an den Gliedmaßen und Körperteilen des eigenen Leibes, ungenau, aber zur Bemeisterung der Zahlen bis 36 allenfalls ausreichend. Zuletzt aber muß von dem gewaltigsten Geisteserzeugnis der Urzeit die Rede sein: von der Sprache. Wohl fehlt es nicht an Kümmerformen 2*
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Urzeit • Geist
noch bei niederen Siedlerschaftsvölkern, die einen sehr geringen Vorrat an Worten, einen noch geringeren an Beugungen und Zusammensetzungen aufweisen. Und dennoch gibt es schon auf jener mittleren Unterstufe der Urzeit in der Schicht der Siedlerschaftsstaaten Sprachen von einem Reichtum der Formengliederung, etwa im Eskimo, daß man ins Große und Allgemeine gesehen von ihnen den Eindruck erhält, als ständen sie den Sprachen der großen Kulturvölker, dem Griechischen oder Deutschen in dieser Hinsicht nicht nach. Das Eskimo ist von einer Üppigkeit des Formenwachstums, einer Feinheit des Gefüges, einer Nervosität der Zusammensetzung seiner eigentümlich großen Satzwörter, dazu dann wieder von einer so strengen- Folgerichtigkeit seines Baus, daß es an eine Kathedrale der üppigsten Gotik erinnert — ebenso wuchernd in seinem Gliederreichtum und doch auch wieder ebenso sicher und bestimmt in seiner Regelhaftigkeit. Wer nun überschlägt, wie unsäglich viel geistige Arbeit deüa Gebild einer so hoch entwickelten Sprache einverleibt ist, wie hundertfach wiederholte Begriffsordnungen, Begriffsvereinfachungen, Abziehungen, Verallgemeinerungen des Denkbildes hier vorgenommen sind, der wird irre an dem Recht der herkömmlichen Einschätzung, die den Völkern dieser Stufe Kultur abzusprechen sich getraut. Wohl hat das Eskimo in der Umständlichkeit und Schwerfälligkeit seiner Satzwortungeheuer ein Hindernis, das es vielleicht für immer an der Ausbildung der höchsten Fähigkeiten einer Sprache, vornehmlich an Versbau und Gedicht, gehindert hätte und das es mit den agglutinierend-polysynthetischen, anleimend-zusammenfügenden Sprachen der rotön Rasse überhaupt teilt; aber die Denkleistung, die die, wie man meint, in ihrer heutigen Gestalt schon tausend Jahre alte Sprache in und an sich darstellt, bleibt bewunderungswürdig. Und noch eins besaß die Urzeit, das uns wie ein versunkener, verlorener Schatz scheinen mag, dem wir dennoch sehr starke Antriebe für die Zukunft unseres Geschlechtes entnehmen können. Der Mensch der Urzeit war noch rund, war noch ganz; alle seine Nachkommen haben ein Teilleben geführt, und wir, die spätesten seiner Enkel, sind vollends zu Splittern geworden. Denn dies ist der eigentlichste Grundzug des Urzeitmenschen: alle Kräfte sind in ihm in eins Verschmolzen, Glauben, Wissen, Bilden ist noch eine einzige Kraft des Geistes in ihm. Und so auch war sein Leben: wie der Irokese noch Freier, Edelmann und fast auch König in einer Person war, so daß es schwer hält, die Form seiner Verfassung genau zu bezeichnen, so war der Urzeitmensch auch Priester, Redner, Dichter, Künstler, Bauer, Krieger, Tänzer, Schauspieler, Sänger, Zimmermann — alles in einem. Wird uns noch ein Abend dämmern, an dem wir diese Kraft und Ganzheit des Menschheitsmorgens wiederfinden?
Zweiter Abschnitt:
ALTERTUMSREICHE
Erstes Stück DER S T A A T Von eines Meisters Hand gibt es ein eindiruckreiches Blatt, das dem Gedanken des Königtums zum Sinnbild werden könnte. Es schildert den König, nicht einen König. In irgendeinem steilen Prunk des Orients sitzt der Herrscher auf seinem Königsstuhl, starrend von Pracht und Edelsteinen. Drei seiner höchsten Diener nahen sich ihm. Der eine neigt sich tief vor dem Gebieter, der zweite beugt das Knie, der dritte wirft sich in den Staub und berührt mit der Stirn den Boden. Alles atmet herrischen Stolz dort, demütige Unterwürfigkeit da. Hier ist nicht ein zufälliger Träger, hier ist die Staatsform an sich zürn Reden gebracht: ihr Sinn selbst ist es, der zu uns spricht. Man mag gegen die Tatsache abgestumpft sein, wie man gegen mehr als eine der wichtigsten Tatsachen- der Weltgeschichte abgestumpft ist, man mag es auch nicht wahrhaben wollen: mit dem Königtum ist etwas Ungeheures in die Welt gekommen. Es geschaffen zu haben, ist eine Zyklopentat. Sie darf nicht nur im Gesichtswinkel der Verfassungsgeschichte gesehen werden; sie ist eine, sie ist vielleicht die wichtigste Stufe im Zuge der Geschichte des Handelns, der Gesellschaft, mehr noch: der Persönlichkeit. Der Tag, an dem zuerst ein ganzes Volk dem Einen an seiner Spitze demütig huldigte, hat die Stärkefähigkeiten, die Entwicklungsmöglichkeiten in der Seele, im Willen des Menschen in das Ungemessene gesteigert. Gewiß, die Kosten waren nicht gering: damit der Einzige Großes gewann, mußten Tausende ebensoviel, vielleicht viel mehr verlieren, nicht an äußerem Reichtum und Besitz, sondern an dem viel höheren Gute der Ichstärke, der Selbstherrlichkeit, der machtvollen, in sich ruhenden Kraft des Einzelnen, die die Urzeit so hoch gehalten hatte. Aber wer wollte heute um dieser Gewinn- und Verlustrechnung willen den nie getrübten Fortbestand der alten Gemeinfreiheit, die ewige Unterdrückung aller Königsgedanken wünschen? Selbst der eifrigste Anhänger der Volksherrschaft müßte, dünk^ mich, Dank dafür empfinden, daß j e Könige in die Welt gekommen sind: dem Menschen selbst, jedem Starken wenigstens von heute und immerdar ist dadurch ein Kräftezuwachs geworden, den ihm ohne diese Durchgangsentwicklung der menschlichen Seele nachträglich keine Macht der Erde verschaffen könnte. Wie immer es darum stehen mag: der Zwangslauf des Werdeganges der Gesellschaft hat jedenfalls alle höher aufwärts gelangten Völker
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Altertumsreiche • Der Staat
über diese Stufe des Altertumsstaates, der ersten Königsherrschaft geführt. Ihre eigentlichen Merkmale sind nicht zu verkennen: äußere Ausdehnung des Staatsgebietes über die erste Zwergform eines Geschlechts-, Dorf-, Völkerschafts- oder allenfalls Stammeskönigtums fort oft bis zu dem riesenhaften Ausmaß weiter Reiche; und zweitens außerordentlicher Machtzuwachs des Staatsleiters auch den eigenen Volksgenossen gegenüber. Dennoch fehlt es weder an breiten Grenzstreifen unsicheren Überganges zwischen Urzeit- und Altertumsstufe noch innerhalb dieser selbst an zahlreichen Graden. Vor- und Keimformen finden sich namentlich in Afrika, aber auch unter amerikanischen Urzeitvölkern, ausgebildete auch bei den später zum Mittelalter emporgestiegenen Polynesiern, bei diesen freilich dann durch ihr Zurückreichen bis in eine jahrhundertealte Vergangenheit einigermaßen verhüllt und so nur halb erkennbar. Als im Jahre 1606 in Nordamerika die englische Siedlung Virginia begründet wurde, bestand dort das erst eben mit Gewalt und List zusammengebrachte Reich Powhatans. Ursprünglich Oberhäuptling von acht kleinen Völkerschaften oder Teilvölkerschaften, hatte er sich allmählich dreißig unterworfen-, in seinem Reich galt sein Wille als Gesetz; er hatte einen Harem von hundert Weibern, hielt sich eine Leibwache, verurteilte als Richter die von ihm für schuldig Befundenen unter seinen Untertanen zu grausamen Leibesverstümmelungen, kurz, verhielt sich in allem und jedem wie ein afrikanischer Selbstherrscher. In Afrika finden sich ganz kleine Königtümer von ausschweifender Unumschränktheit, aber sie steigen in vielsprossiger Stufenleiter zu Reichen von großem Umfang auf. Viele von ihnen sind Augenblicksschöpfungen kühner Eroberer — Afrika ist das klassische Land kleiner Napoleone —, einige aber haben es zu festem Bestand und jahrhundertelanger Dauer gebracht. Die Aschanti Westafrikas hatten einst ein Königtum, das in der Beherrschung unterworfener Völkerschaften Einrichtungen ausgebildet hatte, die durchaus an die entsprechenden der persischen Großkönige erinnern. Dahome war jahrhundertelang das mächtigste Königreich von Westafrika. Zu viel größerem Umfang und viel höherer Gliederung ist im nördlichen Südafrika das Reich der Barotse emporgewachsen. Sein Beherrscher gebietet über achtzehn größere, dreiundachtzig kleinere Völkerschaften. Ihn umgibt ein mannigfach abgestufter Hof- und Beamtenstaat. Die Verwaltung wird von einem engeren, einem weiteren Rat ausgeübt. Dies Königtum, das übrigens mit sehr niedrigen Mitteln, mit Spionentum und henkermäßiger Grausamkeit sich aufrecht erhält, hat sich doch die Bewältigung so anspruchsvoller Aufgaben wie die einer vollkommenen Verstaatlichung des Handels zugetraut. Zu noch stärkerer Macht und Entwicklung
Königtum und Persönlichkeit • Afrikanische Königsstaaten
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gedieh das nördlich von den Barotse gelegene Lunda-Reich, dessen Bestand rückwärts bis mindestens in das Ende des sechzehnten Jahrhunderts durch Europäernachrichten verbürgt ist. Hier ist bei höherer Gesittung der Grundsatz halb unabhängiger, halb beamtenmäßiger Stellung der unterworfenen Häuptlinge noch feiner ausgebildet, und die Ubermacht des Königtums ist nicht so weit gediehen, daß es nicht noch auf den Beirat der Volksversammlung Rücksicht nähme. Das ostafrikanische Reich der Waganda zeigt eine andere Form des Überganges zu reiner Selbstherrschaft: hier haben die unterworfenen Häuptlinge, die aber immerhin schon ganz beamtenmäßig in zwei Stufen geordnet sind, einen großen Anteil an der Reichsregierung; sie bilden gemeinsam mit dem Kanzler und einigen Hofwürdenträgern des Königs den Großen Rat des Reiches. Das Königtum der Waganda ruht, wie etwa das der Karolinger, auf der Wahrhaftigkeit des ganzen Volkes, in dem jeder Mann Krieger ist. Die Höhe dessen, was Negern in dieser Richtung zu erreichen gegeben war, haben die Kaffern,unter ihnen vornehmlich einer ihrer Teilstämme erreicht: die Sulu. Sie haben ihre Dörfer zu Truppenübungsplätzen und Standquartieren, ihr Leben zu einem kaum unterbrochenen Kriegerdasein gemacht. Ihr Heerwesen ist an Feinheit der Gliederung, Zweckmäßigkeit der Einrichtungen weit über den Zustand des karolingischen Frankenreiches hinausgewachsen. Eine Art Staatssozialismus, wie er auf den Höhen der Altertumsstaatsentwicklung in Altperu und China anzutreffen ist, tritt ähnlich bei ihnen zutage: nicht nur, wie bei den Barotse, der Handel, sondern auch das Eigentum am Grund und Boden ist verstaatlicht. Der einzelne Sulu hat nicht Eigentum, nur Rechte am Boden, und selbst die Rinderherden, die den größten Reichtum des Landes ausmachen, unterliegen der Aufsicht des Königtums, da ihr Fleisch die Nahrung, ihr Fell die Schilde für das ungeheuer große stehende Heer liefert. Ein in zwei Stufen gegliedertes Heerführer- und Beamtentum krönt das Gebäude; die Allgewalt des Königs ist durch das Doppelhausmeiertum zweier oberster Staats- und Heerführer eingeschränkt. Immer höher hebt sich der Bau: nicht regelmäßig, nicht so abgepaßt, daß nicht eine im ganzen tiefer stehende Entwicklung in einem besonders begünstigten Stück höher dränge bis zur nächstübergeordneten Staffel, und doch sehr wohl abzustufen. Zwei Leistungen des Altertumsstaates treten schon an diesen Keimformen hervor: die Fähigkeit, unterworfene Völkerschaften in geordneter Abhängigkeit zu erhalten —also der Anfang aller Verwaltung—, und zweitens, doch eng hiermit verbunden, die Schöpfung und Gliederung eines Heerführer- und Staatsbeamtentums. Nicht im Afrika der Neger, aber in der malaiischen Randsiedlung des schwarzen Erdteiles, im Hovastaat auf
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Altertumsreiche • Der Staat
Madagaskar, tritt ein noch höheres Erzeugnis der Staatsbildung der Altertumskönigsherrschaft hervor: die Entstehung eines Adels. Der Geschlechterstaat ist auch seinerseits zuweilen imstande gewesen, aus sich heraus in völlig eigenwüchsiger, autogener Entwicklung einen Adel auszubilden. Aber es scheint nicht oft, ja vielleicht nur in seltenen Ausnahmefällen geschehen zu sein. So liegt in Japan ein Zusammenhang zwischen der ältesten Schicht des Adels und den Ordnungen des Geschlechterstaates unzweifelhaft zutage. In jener Frühzeit der Altertumsstufe, die, sicher Jahrhunderte vor derTaikwa-Gesetzgebung von 645 umfassend, noch dem aus der Urzeit überlieferten Geschlechterstaat vollen Raum gewährte und doch schon ein völlig ausgebildetes Königtum kannte, ist ein Beispiel von deutlich beleuchtetem Übergang aus der Urzeit in die Altertumsverfassung gegeben wie wohl nie wieder innerhalb der Menschheit. Das Gelenk, das diese beiden Hauptröhren im Knochenbau der Staatsgeschichte verbindet, ist hier einmal völlig bloßgelegt, während es sonst für die unmittelbare Uberlieferung in der Regel verhüllt bleibt und nur durch mancherlei bedingte und mittelbare Forschung erschlossen werden kann. Ein sehr günstiger Zustand der Uberlieferung erleichtert dies Sehen; aber auch die besonderen Eigenschaften der japanischen Innenentwicklung kommen zu Hilfe: sie hat den Staatsverband der Urzeit mit Vorliebe und Zähigkeit noch durch eine lange Reihe von Jahrhunderten bewahrt, und andererseits hat hier offenbar das Königtum nicht, wie so vielfach, ja wie fast in der Regel zü beobachten ist, die Werkzeuge seines neuen Staatswesens und seine neuen Staatszwecke von unten her neu aufgebaut, sondern sich an den Geschlechterstaat, aus dem es pflanzenmäßig langsam hervorgegangen zu sein scheint, angelehnt und seinen Häuptlingen, also den Häuptern der Blutsverbände, noch viel Gewalt überlassen. Für die halbgeschichtliche Zeit, in der die Anfänge der Altertumsstufe hier dämmernd verlaufen, ist dies als sicher vorauszusetzen; aber auch das Zeitalter des ausgebildeten Königs- und Geschlechterstaats, d. h. die letzten Jahrhunderte vor 645, die schon vom Licht der geschichtlichen Uberlieferung beleuchtet sind, weisen diesen Zustand auf. Der Adel aber, und dies ist das Denkwürdigste, scheint in dieser Zeit des geschichtlichen Geschlechterstaates recht eigentlich die stehengebliebene Schicht des alten Geschlechterbaus zu sein. Er zerfällt in zwei Gruppen, von denen die eine, die der Muraji, den Shimbetsu entspricht, unter welchem Namen die beiden Urbruderschaften, von denen die Rede war, die Chiki und die Tenshin zusammengefaßt wurden, während die andere, die der Omi, als die Naelikommen der Kobetsu gelten, d. h. der Blutsverwandten des kaiserlichen Hauses. Und es ist bezeichnend, daß an der Spitze beider Adelsklassen je ein
Adelsbildung aus Gesdilediterbau • Hoch- und Dienstadel
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Hauptgeschlecht steht, dessen Häupter als O-Muraji und O-omi bezeichnet werden, wörtlich Groß-Muraji und Groß-Omi. Und sie sind zugleich die obersten Berater des Herrschers, nur daß sich ihnen doch auch schon eigentliche Beamte, die Daibu, zugesellen; doch auch sie sind aus dem Adel der Muraji oder Omi hervorgegangen. Der Zustand — es ist der vor der Taikwa-Gesetzgebung von 645 — weist das höchst eigentümliche Bild einer Verflechtung von Geschlechter-, Adel- und Königsstaat auf, die dartut, daß ein möglicher W e g zur Adelsbildung auch unmittelbar vom Geschlechterstaat herführen könnte. In dieser Deutlichkeit wiederholt es sich, soweit mein Blick reicht, nirgends; aber es ist überaus wahrscheinlich, daß Teile von ihm auch sonst vielfach verwirklicht sind: vielleicht in döm Sinne, daß aus bevorzugten Geschlechtern des alten Geschlechterbaus der neue Dienstadel hervorgegangen ist. Die Zusammenhänge aber zwischen den Geschlechtsverwandten des Herrscherhauses und dem neuen Adel liegen mehr als einmal auch sonst offen zutage: so etwa in dem malaiischen Hovastaat auf Madagaskar. Eine andere, ebenso weit, ja noch weiter von der regelhaften Entwicklung abweichende Sonderbildung stellt die karthagische Verfassung dar. Ihrer dürfte hier nicht gedacht werden, wenn n u r von Altertumsreichen die Rede wäre: denn die karthagische Geschichte scheint gerade darin einen Sonderfall darzustellen, daß sie zwischen dem reinen Geschlechterstaat der Urzeit und allen ihren Primitivitäten, namentlich ihrer wirtschaftlichen Unentwickeltheit, und einer mittelalterlichen Adelsherrschaft kein Königtum kennt. Die ganz bürgerlich-kaufmännische, ebenso pluto- wie aristokratische Adelsverfassung des geschichtlichen, handelsmächtigen Karthago ist wohl unzweifelhaft unmittelbar aus einem seinem ganzen Bau nach urzeitmäßigen Geschlechterstaat hervorgegangen. Selbst die Doppelung des höchsten Amts der Suffeten klingt an Urzeitüberlieferung an. Dabei gelang es diesem Reich mit starker kriegerischer und staatsmännischer Kraft, ein großes Gebiet zu unterwerfen und sich lange Untertan zu halten. Jedenfalls aber hat der Altertumsstaat viel ausgeprägtere Formen des Adels geschaffen, als alle diese Entwicklungen aus dem Geschlechterstaat aufweisen. Eine von ihnen, der Hochadel, ist nicht eigentlich ein Erzeugnis der Klassen-, sondern der Staatsbildung. Er besteht aus den von dem neuen Königtum unterworfenen Häuptlingen, die man doch in ihrer Stellung beläßt und nur auf eine mehr oder weniger zweckmäßige u n d erfolgreiche Art in beständigem Gehorsam zu halten weiß. Dieser mediatisierte Fürstenstand, der halb hoher Adel, halb hohes Beamtentum wird, scheint eine fast beständige Begleiterscheinung des Altertumsstaates zu sein: er ist die innere Folge seines ebenso stufengemäßen äußeren Er.oberns, Denkwürdiger und im Grunde folgenreicher
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Altertumsreiche • Der Staat
ist die eigentlich klassengeschichtliche Errungenschaft der neuen Königsherrschaft, die Schöpfung eines Dienstadels, also des ersten wirklichen Adels. Auch dafür reichen erste Keimerscheinungen in weit niedrigere Bildungen der Altertumsvorstufen zurück. In einigen der festländischen Karaibenstämme des nördlichen Südamerika hat das noch ganz rohe Königtum einen Kriegerdienstadel in drei Stufen gebildet. In Venezuela führten die beiden höchsten Stufen ein Tigerfell und ein Halsband aus Menschenknochen als Ehrenabzeichen. Zu einer durchgeführten Gliederung aber ist der Hovastaat vorgedrungen; auch er kennt zunächst einen Hochadel, der freilich großenteils zu sprichwörtlicher Armut herabgesunken ist: er besteht aus den Nachkommen der früheren Häuptlinge. Daneben aber besteht, von Radamal. geschaffen, ein wirklicher kriegerischer Dienst- und Verdienstadel; und damit die Ähnlichkeit mit fränkisch-karolingischen Zuständen voll werde, hebt siqh aus dem Stande der Gemeinfreien noch ein besonderer, etwas höherer Adel der Kriegsdienstpflichtigen hervor. Die Verfassung des Staates vereint, wie in den vornehmsten Königreichen des Afrika der Bantu- und der Sudanneger, ein starkes Maß von Eigenwirtschaft des Staates mit Hoheitsrechten: alle Mineralien, alles Nutzholz des Waldes, alle Erzeugnisse des Feldes, die nicht mit Hacke und Spaten gewonnen sind, gehören dem König; er wird als Eigentümer des Bodens angesehen. Das Königtum, dem Namen nach Selbstherrschaft, ist unter schwachen Inhabern durch Adel und Volksversammlung stark eingeschränkt. Alle diese Fälle von Altertumskönigtum möchte man zunächst nur den Keim- und Vorstufen zuzählen; doch ragen die entwickeltsten von ihnen so gänzlich in Karölingerhöhe, also in die Altertumsstufe der Germanen hinein, daß nirgends die Grenzen zu ziehen sind. Die Reiche des malaiischen Archipels von Südostasien, die mongolisch-malaiischen Königsstaaten von Hinterindien, die gewaltigen Heerkönigtümer der östlichen und westlichen Hunnen und der mongolischen Khane und Horden, die um 700 vor, um 350 und um 1175 nach Beginn unserer Zeitrechnung in drei furchtbaren Wellen China, Europa und Asien überschwemmt haben: sie alle zeigen wilde, rohe oder doch nur halbgeordnete Formen des Altertumskönigsstaates. Nur einige der hinterindischen Reiche reichen an Staats- und Standesgliederung höher, so Annam mit einem von 1545 an herrschenden Hausmeiergeschlecht, so Kambodscha mit seiner stufenreichen Klassenteilung. Wenn die Türken höhergestiegen sind und einen vielfach abgestuften Behördenbau zur Verwaltung ihres weiten Reiches ausgebildet haben, so mögen sie darin doch durch byzantinische und arabische, also spateren Entwicklungsstufen angehörende Muster gefördert worden sein.
Babylonien • Assyrien: Eroberung und Verwaltung
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Kommt es auf den Grad der Entwicklung an, so darf man die Schlußglieder in der Reihe mongolischer Altertumsstaaten, China und Japan, nicht vor, sondern muß sie hinter die alten Reiche des vorderasiatischwestafrikanischen Völkerkreises stellen. Die babylonisch-assyrische Geschichte erlaubt sogar, die Entstehung des eigentlichen Großstaates aus dem Zusammenschluß mehrerer kleinerer zu verfolgen. Die Patesi, die Teilfürsten, die später als abhängig von den Königen der größeren Reiche von Agade, von Ur, von Akkad und Sumer auftreten, scheinen ursprünglich unabhängig gewesen zu sein. Von dem noch größeren gesamtbabylonischen Reich, das später entsteht, ist in Hinsicht auf Verfassung und Verwaltung wenig genug bekannt; aber der Grundzug mächtiger Königsherrschaft schimmert doch durch allen Nebel der Zeiten. Noch stärker ist er der assyrischen Geschichte aufgeprägt, die die babylonische nach über achtzehnhundertjährigem Bestehen ablöste. So abhängig sie von Anfang an von dem Bildungsbesitz des weit früher gereiften und im Geist weit fähigeren Babyloniervolkes ~war, das wieder von der nicht-semitischen, höchstwahrscheinlich arischen Vorkultur der Sumerer ein großes Erbe angetreten hatte, staatlich ist sie höher gestiegen als Babylon. Der assyrische Staat ist, vielleicht als erster in der Geschichte des Erdballes, in ganz großem Zuge erobernd aufgetreten, insofern er nicht, was vorher den Ägyptern schon einige Male gelungen war, nur niederzuwerfen, sondern festzuhalten verstand. Er breitete sich weithin in Vorderasien aus, hat Mesopotamien, Syrien, Kanaan und lange Zeit hindurch Babylonien in Unterwerfung gehalten und hat zum erstenmal die ungeheure Leistung vollbracht, einen alten Kulturstaat wie Ägypten, wenn auch nur auf wenige Jahrzehnte, zu unterjochen: nicht mit den Mitteln barbarischer Urzeitkraft — das wäre nicht das erste Mal gewesen angesichts der Überschwemmungen Babyloniens und Ägyptens durch immer neue Völkerwellen—, sondern mit den Waffen eines ebenbürtigen Kampfes, Altertums- gegen Altertumsstaat, Kultur- gegen Kulturstaat. Er hat dafür zwei verschiedene Formen der Beherrschung gefunden: erstens die der lockeren Oberhoheit, die den besiegten Fürsten und Königen ihre Stellung und fast das volle Maß eigener Verwaltung ließ und ihnen nur Tributzahlung und Heerfolge auferlegte. Es ist die ursprüngliche, vielfach in allen Weltteilen wiederkehrende Form, dieselbe, die in späteren Jahrhunderten von allen mongolischen Eroberervölkern angewandt ist und über die selbst die Staatskünstler der gelben Rasse, die Türken, jahrhundertelang nicht hinausgegangen sind, von den Hunnen und den Mongolen der Khane und Horden ganz zu schweigen. Weiter sind die Assyrer in Babylon, in Palästina vorgeschritten: dort haben sie wirklich einverleiben, wirklich verwalten wollen. Es geschah mit gewalttätigen und grausamen Mitteln,
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Altertumsreiche • Der Staat
insbesondere durch Verpflanzung der Bevölkerung: so haben sie Samariter nach Mesopotamien, Juden nach Babylonien, Babylonier nach Samaria übergeführt. Aber sie richteten dann einen förmlichen Verwaltungsbau ein: zwar nur erst einstufig und roh, denn nur eine Form, wie es scheint, von Statthaltern gab es, und sie hatten sehr viel Macht, waren auch wieder nur zur Abführung bestimmter Geldsummen an den Königshof gehalten. Schon aber sprießt doch der Keim des Baumes hervor, dessen letzte Gipfelung die Behördenordnung des nach-diokletianischen Roms werden sollte. Die assyrischen Shaknu mögen die ersten Ahnen der Präfekten, Vikare, Prokonsuln des dreigestuften Baus der spätkaiserlichen Beamtenschaft gewesen sein. Und auch darin glich der Anfang dem römischen Ende, daß die Statthalter auf nichts so sehr wie auf eigene Bereicherung auf Kosten der Unterworfenen ausgingen. Selbst die letzte, höchste Stufe der Ausweitung eines Staatswesens haben die Assyrer erreicht: die wirkliche Verschmelzung fremden Landes und Volkes mit dem eigenen. So sind sie in Mesopotamien verfahren, dessen Bevölkerung sie sich selbst gleichstellten. Doch das blieb eine Ausnahme, und man meint, der Staat der Assyrer sei zusammengebrochen, weil sie in den meisten der unterworfenen Länder nur eine dünne Oberschicht dargestellt hätten. Auch die klassengeschichtlichen Wirkungen der starken Königsherrschaft des Altertumsstaates treten in der assyrischen Entwicklung in schulgerechter Ausprägung hervor. Frühzeitig ist der Adel weit in den Vordergrund getreten, erwachsen wie sehr oft auf dieser Stufe aus einer Heeresgattung, einer Spezialwaffe, wie man heute sagen würde: aus den Streitwagenkämpfern. Die bäuerlichen Gemeinfreien von Assur, die ursprünglich die Hauptmacht der Heere, das schwere Fußvolk, gestellt haben mögen, haben später vorgezogen — in völliger Ähnlichkeit mit karolingisch-fränkischen Verhältnissen — daheim zu bleiben und ihre väterliche Scholle zu bestellen. Man hat sie dann zu einer Wehrsteuer herangezogen, und sie sind vom Adel in immer üblere Abhängigkeit herabgedrückt worden; die Heere aber wandelten sich in Söldnertruppen. Starken Einfluß auf die staatliche Entwicklung hat der Adel in den Zeiten der völligen Vereinigung von Assur mit Babylon geübt. Aus dem barbarischen Bergland hervorgegangen, spielte er in dem kulturreichen Babylonien eine etwas makedonisch-piemontesisch-preußische Rolle. Er war Herrenstand, aber in einem Lande von ihm weit überlegener Bildung und zugleich weit höherer, bürgerlich-städtischer Volkswirtschaft. Und am Hof der assyrischen Könige von Babylon im achten und siebenten Jahrhundert ist es zu einem weltgeschichtlich denkwürdigen Aufeinanderplatzen zweier Kulturparteien, der assyrisch-junkerlichen und der babylonisch-bürgerlichen, gekommen, wobei die zweite von der gelehrten
Assyrischer Adel • Ägypten: Staatsbildung, Hodiadel
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Priesterschaft des Landes geführt erscheint. Uber wilde Kämpfe und blutigen Streit, der manchem König dieser Zeiten den Thron gekostet haben mag, ist dieser Gegensatz nicht gediehen-, aber es kam niemals zu einer dauernden äußeren Verbindung, geschweige denn zu innerer Verschmelzung. Und daß die viel roheren Eroberervölker der Meder und Perser dann Assur wie Babylon in rascher Folge überrannt haben, mag nicht zuletzt die Folge der Unverschmelzbarkeit der beiden Reiche gewesen sein, die durch diesen inneren Zwiespalt herbeigeführt war. Die Staatsbildung des ägyptischen Altertumsreiches mag der babylonisch-assyrischen an Feinheit und Ausgliederung überlegen gewesen sein: die volle Wucht der assyrischen Großstaatschöpfung hat es nie erreicht. Die Eroberungszüge der Ramessiden verblassen neben den Kriegstaten der Assyrer, aller Ruhmredigkeit der Pharaoneninschriften zum Trotz. Das ägyptische Königtum hat in unerhört früher Zeit das staatgründende Einigungswerk dieser Stufe vollbracht und alles untere und mittlere Nil-Land beherrscht. Aber weder an innerer Durchbildung noch an äußerer Ausdehnung haben das Mittlere und Neue Reich das Alte übertroffen. Um so denkwürdiger sind dessen Zustände, die, von einem viel helleren Licht der Überlieferung bestrahlt als die gleichzeitige babylonische Geschichte, Aufschlüsse gewähren über die besondere Art des vorderorientalischen Altertumsstaates. In steiler Pracht steht auch hier schon an den Pforten einer heute mehr als fünftausendjährigen Geschichte der Gedanke unumschränkter Königsmacht aufgerichtet. Und in derselben Frühzeit erscheint diese höchste Gewalt mit Waffen und Werkzeugen ausgestattet, die in Staunen setzen ob ihrer Zweckmäßigkeit und Ausgebildetheit. Es ist nicht allein eine kaum übersehbare Reihe von Hofbeamten der verschiedensten und immer ganz besonderen Tätigkeit,, bis zum Nagelschmücker und Sandalenmacher abwärts, sondern eine wohlgeordnete Beamtenurad Heerführerschaft, an ihrer Spitze, wie im Reich der Sulu, ein doppeltes Hausmeiertum. Um so wichtiger ist, daß auch dieses um 3000 vielleicht schon jahrhundertelang herangewachsene, zu hoher Reife gediehene Staatswesen noch Spuren seiner Zusammensetzung aus kleineren Gebilden trägt. Wenigstens das Südreich hat in seinen Gaufürsten einen Schulfall des zum Hochadel herabgedrückten, ursprünglich sicher unabhängigen Teilfürstentums aufzuweisen. Diese dreißig Großen des Südens sind zwar zu Beamten des Königtums geworden, aber mehr als ein Zeichen spricht für ihre einst höhere Stellung. Sie haben getrennten Eigenbesitz und lehenartiges Amtsland, sie unterhalten selbst wieder einen ganzen Stab von Beamten, Höflingen, Schreibern; und das
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Altertumsreiche • Der Staat
Bezeichnendste vielleicht: im Norden, der, offenbar erst später erobert, als eigentliches Kronland der Pharaonen gilt, sind ihre Standesgenossen in viel abhängigerer, beamtenhafterer Stellung. Die völlige Zwiegespaltenheit des Reichskörpers, die an sich — auf ganz anderer Stufe — an die der senatorischen und kaiserlichen Provinzen Roms anklingt, kam in sinnbildhafter Stärke vor Augen bei den großen Feiern des königlichen Hofes: bei ihnen tritt die Säule der Fürsten, Heerführer und Beamten des Nordens zur Linken des Königs auf, an ihrer Spitze der Anführer der linken Hälfte der Krieger, wie er amtlich genannt ist; zur Rechten des Thrones aber stehen die erbeingesessenen Fürsten und Führer des Südens, an ihrer Spitze der Hausmeier und nächst ihm der Vorsteher der Großen des Südens. Im Norden ist der Pharao unumschränkter Herrscher, im Süden aber ist seine Gewalt durch den Adel vielfach eingeengt, der Verwaltung, Priesterstellen und Gericht inne hat, dieses in einer seltsam an die frühmittelalterlichen Reiserichter Englands gemahnenden Form. An einem niederen Adel fehlt es nicht, sei er aus Dienstadel, sei er aus den jüngeren Söhnen der Gaufürsten und deren Nachkommenschaften, wie imHovastaat, hervorgegangen. Viele Völkerstürme sind über Ägypten hingefahren; Verfall, Zusammenbruch, Wiederaufsteigen des Reiches und des Königtums haben sich mehrfach wiederholt. Der Grundzug seiner Verfassung hat sich nicht geändert, mochte die so viele Jahrhunderte umfassende Entwicklung auch hier, wie in Babylonien, allmählich neben der adelig-ländlichen eine bürgerlich-städtische Volkswirtschaft emporwachsen lassen. Denkwürdig ist: wie zäh auch das überstarke Königtum immer wieder zu Leben und Herrschaft kam, so sind doch fast ebenso häufig von der zersplitternden Kraft der alten Teilfürstentümer die Zerrüttung und der Zerfall des Reiches ausgegangen. Neben diesen beiden erlauchtesten Beispielen der ausgebildeten Königsherrschaft des Altertumsstaates im semitischen und hamitischen Orient nehmen sich die indogermanischen Reichsgründungen in Vorderasien und Indien zum Teil zwar gereifter, aber nicht ganz ebenbürtig aus. Das medische Reich ist, mit ihnen verglichen, eine Eintagsschöpfung, aber auch das der Perser, das mehr als zwei Jahrhunderte dauerte, hat, verglichen mit Ägypten und Babylonien, die es doch beide überwand, nur eine kurze Lebenszeit gehabt. Die indischen Altertumsstaaten endlich, die sich viel längerer Dauer erfreuten, können sich wiederum an äußerer Wucht und innerer Festigkeit den beiden vorderorientalischen Großreichen nicht gleichstellen. Dennoch hat jede von beiden Entwicklungen eine eigentümliche Stärke: die indische ist bei aller staatlichen Zersplitterung gesellschaftlich zu einer höheren, zu mittelalterlicher Stufe gestiegen, die persische führte
Indien • Persien • China: Lebensdauer
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den Altertumsstaat in der Ausdehnung, in der Unterwerfungs- und Regierungskunst noch einen Grad höher. Die dem persischeA Volkstum eigene Mischung von Mut und Mäßigung gab ihm eine Fülle von Herrschaftstugenden, die nie vorher und vielleicht nie nachher wieder erreicht worden ist. Die Perser haben dem Grundsatz nach das erste Weltreich gegründet: sie wollten das Erdenrund beherrschen, soweit es ihnen bekannt war. Sie haben mit ihrer Eroberung von ganz Vorderasien, von Ägypten und nicht geringer Teile von Südosteuropa, einer Kette von Feldzügen, in der der Plan gegen Griechenland und der noch weiter führende gegen Karthago nur die schließenden Glieder bilden sollten, ein um das Vierfache größeres Reich geschaffen als die Assyrer. Aber sie sind auch in der inneren Ordnung ihres kaum übersehbaren Besitzes weit über diese ihre einzigen Vorgänger hinausgedTungen: ihr Steuer-, ihr Posten-, vor allem ihr Behördenwesen bedeutet eine weit höhere Stufe als die assyrische. Bei der Schonung, die sie dem Glauben und den Sitten der von ihnen unterworfenen Völker angedeihen ließen, duldeten sie doch keine halb selbständigen Königtümer oder auch nur Selbstverwaltung und Sonderrechte, sondern spannten das Netz ihrer Satrapien über den ganzen Umfang des weiten Reiches, das den doppelten Gebietsumfang des späteren Römerstaates erreichte. Trotzdem und trotz allem ungerechtfertigten Hochmut, mit dem wir auf mongolische Leistungen herabzublicken gewohnt sind, ist das gewaltigste Erzeugnis dieser Altertumsstufe doch der chinesische Staat. Zunächst der Dauer nach, was nicht nur nicht wenig, sondern sehr viel bedeutet. Nur e i n e Reihe von Herrschergeschlechtern darf auf dem Erdball neben die märchenhafte Zahl der sechsundzwanzig Pharaonenhäuser gestellt werden: es ist die der chinesischen Kaisergeschlechter. Chinas letzter Herrscher gehörte, wenn ich recht zähle, der dreiunddreißigsten, der seit 1644 regierenden Dynastie an. Und selbst zweifelsüchtigen Europäerköpfen muß doch eine Entwicklung Ehrfurcht einflößen, die vielleicht ebensoviel Jahrtausende weit zurück und sicher zweieinhalb Jahrtausende weiter vorwärts führt als die ihres hohen Alters wegen so viel bewunderte der Ägypter. Setzt man den Anfang der sicheren Reichsgeschichte etwa um 2200 an, so muß die Altertumsstufe, das Zeitalter der Großkönige, damals schon als Jahrhunderte bestehend angenommen werden. Gewiß ist China, hierin dem ihm auch sonst vielfach ähnlichen Ägypten gleich, nicht das Werk eines einzigen Volkstums, über das Land des Huangho und des Jangtsekiang wie über das des Nils oder über das des Euphrat und Tigris ist mehr als eine Völkerwelle gegangen, immer von neuem mit frischem Hirten- und Erobererblut die stockenden Säfte eines festsitzenden Ackerbau- und bald auch Städtervolkes verjüngend. Dennoch ist das
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Altertumsreiche • Der Staat
Ganze die Leistung, die höchste Leistung einer einheitlichen Rasse. Und sie stellt selbst die ägyptische, die assyrische, die persische Staatsbildung in den Schatten. Das chinesische Reich hat zur Zeit seiner äußersten Ausdehnung, um das Jahr 1760, dreizehn Millionen Geviertkilometer gemessen, viermal mehr als das der Römer, fast dreimal mehr als das der Perser. Es umfaßt heute fast ein Fünftel der Menschheit, an Kopfzahl nur übertroffen von dem Weltreich der Engländer, an Flächenraum nur von diesem und dem der Russen. Kann man diesem Volk so sehr verübeln, daß es den gleichen triebmäßigen Größenwahn hegt, den noch jedes starke Volk, die geistvollen Griechen und die Deutschen nicht ausgeschlossen, irgendeinmal in sich genährt hat, und daß die Chinesen ihr Land das Reich der Mitte nennen? Die eigentümliche Verlangsamung, hier und da selbst völlige Erstarrung der Entwicklung teilen die Chinesen mit einer Reihe von großen Altertumsvölkern, besonders mit den Ägyptern. Sie liegt schon ausgesprochen in der Grundtatsache der chinesischen Geschichte, daß sie nicht eigentlich über die Altertumsstufe hinausgediehen ist. Aber dies wird wie bei Ägyptern, Babyloniern und selbst Persern dadurch zu einem Teil ausgeglichen, daß es einen Fortschritt der Volkswirtschaft von dem natürlichen Ausgangspunkt dieser Stufe, reiner Ackerbauoder gar noch halber Hirtenwirtschaft, zu Gewerbe- und Handels-, Stadt- und Geldwirtschaft nicht aufhielt, von einigen Seitenstücken im geistigen Leben ganz zu schweigen. Drückend wirkt der Stillstand der Staats- und Klassenentwicklung auch auf sie; aber hier darf nicht die Voreingenommenheit unserer eigenen Erfahrung den Geschichtsforscher hemmen: wir nennen heute Stillstand ein Übel, ohne doch zu wissen, ob nicht vielleicht schon nach einem oder gar schon einem halben Jahrtausend die Menschheit sich ohne die mindesten Verfallsoder Krankheitsursachen entschließt, einen einmal gewonnenen Zustand als den denkbar wünschenswertesten oder den besten unter den erreichbaren festzuhalten. Die Chinesen waren schon lange dieses Glaubens; wir Weiße können ihnen nur vorwerfen, daß sie sich damit in Rückstand gegen den tätigeren Teil der Menschheit gebracht haben. Darüber hinaus bleibt bestehen, daß China unter allen Altertumsstaaten die höchste Leistung vollbracht hat, nicht nur an äußerer Ausdehnung und Bewahrung seiner Grenzen, sondern auch im inneren Aufbau. Die Entstehung des Einheitsstaates erscheint dunkel auch bei Benutzung der durchaus nicht wertlosen Geschichtssagen, mit denen die Chinesen sich ein Bild ihrer ältesten Zustände entworfen haben, wie es gleich farbig und wunderreich kaum einem zweiten Volk der Erde gelungen ist. Die riesenhafte Übermacht des Königstums leuchtet auch aus diesen Erzählungen hervor, wenn sie schildern, wie der eine
Umfang • Entwicklungstempo • Entwicklungswellen
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dieser Urherrscher halb göttlichen Wesens die Menschen die Zähmung der Haustiere, der andere sie die Buchstabenschrift gelehrt, ein dritter den Pflug und den Tauschhandel erfunden habe. Dürfte man aber aus dem frühzeitigen Versuch einer Zersplitterung, wiederum nach karolingisch-fränkischem Muster und in Erinnerung an ägyptische Verhältnisse, auf die voraufgehende Überwindung vorhandener Kleinfürstentümer schließen, so müßte man sie auch hier annehmen. Denn schon im Morgengrauen halb geschichtlich beleuchteter Zeit taucht die Kunde auf von weitgehender Zersplitterung des zuvor ungeteilten Reiches, von Schaffung großer — angeblich fünfundfünfzig — Teilfürstentümer und kleinerer—angeblich achtzehnhundert—Lehnsbesitzungen, meist zu Tschili, dem eigentlichen Mittel- und Kronland des Reiches gehörig, deshalb also der Staatseinheit sicher noch weit mehr abträglich, als wenn sie am Kreisrand des Reiches gelegen gewesen wären. In den darauffolgenden Jahrhunderten—die chinesische Geschichte mißt eher nach Halbjahrtausenden — muß Reichseinheit und Königsgewalt wieder emporgewachsen sein; dann zerstören Bürgerkriege wieder alle Früchte dieses Schaffens, bis Shi Huang Ti, der Karl der Große der chinesischen Geschichte, um 220 v. Chr. der Wiederhersteller der Staatseinheit und der Zerstörer des Teilfürstentums wird. Er ist der Erbauer der Großen Mauer; und welcher Glanz seinen Namen umstrahlt, entnimmt man der Überlieferung, die ihm die Erbauung eines Schlosses zuschreibt, dessen Haupthalle zehntausend Menschen gefaßt und fünfzig Fuß hohe Banner aufgenommen habe, ohne daß man sie hätte beugen müssen. Etwas später fällt die Einteilung des Reiches in dreizehn Provinzen, noch über die vierundsiebzig Bezirke fort, in die es schon vorher geteilt war. Sie sind nach karolingischer Art, nur fast ein Jahrtausend vorher, dreizehn reisenden Königsboten unterstellt. Eine Bodensteuer, ähnlich wie die gleichnamige spätmittelalterliche Abgabe Englands der Fünfzehnte genannt, läßt vollends den Staatszustand als den der persischen Königsherrschaft in ihren glänzendsten Zeiten ebenbürtig erscheinen. Chinesische Geschichtsschreiber des Jahres 1874 meinen, der Gesamtumfang des bebauten Ackerbodens habe damals etwa um ein Achtel mehr betragen als in ihrer Gegenwart. Und wieder senkt sich ganz wie in Ägypten die Lebenslinie des Königtums. Die Statthalter, die an Stelle der Königsboten getreten sind, machen sich erblich, die einigende, zwingende Kraft der Staatsgewalt nimmt ab. Doch wieder ein Jahrtausend später erreicht sie einen neuen Höhepunkt: Tai Tsu, der erste König des Minggeschlechts, hat nach 1368 eine Bezirksteilung und einen Behördenaufbau geschaffen, der, vierstufig wie er ist, noch das römische Urbild aller germanischromanischen Ämter- und Verwaltungsordnungen hinter sich läßt, ohne daß irgendwelche alt- oder neueuropäische Einwirkungen zu vermuten 3 Der Stufenbau der Weltgeschichte
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Altertumsreiche • Der Staat
sind. Die Entwicklung des chinesischen Staatswesens im letzten halben Jahrtausend hatte diesen Errungenschaften nichts hinzuzufügen. Nur waren freilich bis auf unsere Tage in diesem gewaltigen Reichskörper Haupt und Glieder in einem steten stillen Kampf begriffen, in dem der zeitweilige Sieg bald der einen, bald der anderen von den beiden Schlachtordnungen zufiel. Dicht vor der Revolution von 1912 schien er eher auf der Seite der Teilgewalten, der Statthalter, zu sein. Die innere Entwicklung des japanischen Staates verschwindet auf ihren älteren Stufen an Wucht und Stärke neben der chinesischen schon darum, weil bei ihr nur eine kurze Teilstrecke des Weges ist, was in China die nie verlassene Grundform einer viertausendjährigen Geschichte wurde. Auch erscheint die Taikwa-Gesetzgebung, die das Großkönigtum dieses Zeitalters in Japan endgültig begründet, wie in vielen anderen Stücken so auch in der einheitlichen Bezirks- und Kreiseinteilung, die samt dem zugehörigen Behördenaufbau damals geschaffen wurde, als eine Nachbildung, und zwar eine bewußte, auf Grund von Reisen ihrer eigensten Urheber unternommene Nachbildung chinesischer Einrichtungen. Was diesen Übergang weltgeschichtlich bedeutend macht, ist eher die im Unterschied zu fast allen anderen gleichartigen Entwicklungen helle geschichtliche Beleuchtung, unter der sich hier die Auflösung der Geschlechterverfassung der Urzeit und ihre Uberleitung in die Formen eines mehrstufigen Ämteraufbaues vollzieht, herbeigeführt durch die emporkommende überstarke Einzelherrschaft des Altertumsstaates. Die neusemitischen Reiche, die Arabien ein Jahrtausend nach dem Untergang der altsemitischen aus seinem völkerspendenden Schoß gebar, sind jener sonderbaren Ausnahmeentwicklung der Karthager insofern wahlverwandt, als die Geschlechter Verfassung bei ihnen nur durch die Vereinigung von Glaubens- und Staatsaufschwung, von Priester- und Königsherrschaft überwunden werden und, wie berührt, nie völlig zurückgedrängt werden konnte. Dafür war der Aufschwung, den dies bisher in ganz zwerghafte Gebilde zerspaltene Volk von 622 an nahm, ein um so ungeheurerer, In wenigen Jahrzehnten war ein Reich zusammengebracht, das selbst das der Perser noch wesentlich an Umfang übertraf. Und auf seiner Höhe hat das Kalifat' zwar in der Verwaltung der unterworfenen Länder kaum die Höhe persischer Leistung erreicht; aber da, wo es unmittelbar regierte, wie in Babylonien oder in dem später sich abzweigenden Spanien, hat es sie sicherlich noch hinter sich gelassen. Keinen Augenblick darf die vergleichende Geschichtsforschung zögern, die für den ersten Augenschein so weit entlegene und in mehr als einem Betracht auch innerlich ferne ünd fremde Verfassung der
Japan • Neusemitische Reiche • Mayareidie • Reich der Inka
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altamerikanischen Staaten der asiatisch-ägyptischen Reihe anzugliedern. Denn daß sie der Altertumsstufe entweder gänzlich angehörten oder sie zu erreichen eben im Begriff standen, daran ist nicht zu zweifeln. Die Maya der Halbinsel Yukatan, der Kulturwiege Mexikos und des mittleren Amerika, sind zur Bildung von verhältnismäßig kleinen Reichen, des Staates der Cocomes und des von Itzamal vorgeschritten, Reiche, die indessen für den Umfang dieses begrenzten Landes und für die Geschichte eines wesentlich geistigem Schaffen zugewandten Volkes groß genug waren. Ihre besondere Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Stufe ist, daß sie, wie auch einige der mächtigeren Nahuavölker, auf dem W e g e der Priesterherrschaft zur Ausbildung eines starken Altertumsstaates und der ihm entsprechenden Einzelherrschaft vorgedrungen sind. Die stärksten und am meisten fortgeschrittenen der Nahuavölker, die Azteken und ihre nächsten Vorgänger, haben ungefähr gleichzeitig gewaltigere und straffer zusammengehaltene Reiche begründet. Aber auch sie machen den Eindruck von viel geringerer Dauerhaftigkeit als die. Reiche Vorder- oder Hinterasiens, von ihrem unvergleichlich viel geringeren Umfang ganz zu schweigen, Die wenigen Jahrhunderte, die die halbwegs sichere Uberlieferung vor dem Eindringen der Europäer zu überblicken erlaubt, zeigen ein hastig-unruhiges Auf und Ab von rasch emporkommenden und noch rascher zerfallenden Staatenbildungen, das schon im Schrittmaß der Entwicklung den denkbar schroffsten Gegensatz zu der Ruhe asiatischer Verfassungsgeschichte darstellt. Daß es sich nicht um eine Eigenschaft der roten Rasse handelt, zeigt ein vergleichender Blick auf die wunderbar stete Entwicklung des Urzeitstaates der Irokesen. Einmal aber ist auch die Altertumsverfassung von einem Volk der Neuen Welt zu hoher Vollendung ausgebildet worden: es geschah im Staate der Inka. Ihr Tahuantinsuyu, das Reith der vier Weltgegenden geheißen genau wie einer der ursprünglichen Einzelstaaten Babyloniens, erinnert nicht nur im Namen an die große asiatische Staatsbildung. Zwar mehr als ein Vierteljahrtausend umfaßt auch ihre Geschichte nicht: der übermächtige Angriff der europäischen Eroberung hat den Faden dieser Entwicklung allzufrüh durchschnitten. Aber die zuerst römerhaft rasch, wenn auch sehr unrömisch gelind vordringende Eroberungskunst der Altperuaner hat nicht nur dem Wirrwarr sich vordrängender und übereinanderschiebender Staatsgebilde, der vorher, wie in Altmexiko, so auch hier bestand, ein Ende gemacht, sondern sie hat auch ein an Umfang ungeheures, an Ordnung und Zusammenhalt dauerhaftes Reich geschaffen. Hier wurde ein Maß von Ämtergliederung und befehlender Zusammenfassung des Volkes erreicht, das noch die Errungenschaften chinesischer Staatsbildung übertrifft, ägyptische, assyrische, ja selbst persische Einrichtungen weit 3*
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Altertumsreiche • Wirtschaft und Geist
hinter sich läßt. Zwar hier und da wurde unterworfenen Teilfürsten noch ihre Herrschaft belassen. Doch auch sie wurden zuletzt in den Ämterbau eingegliedert, der im übrigen das ungeheure Reich zusammenhielt und der an Zahl der Stufen und an eiserner Gleichförmigkeit jeden anderen j e dagewesenen übertrifft. Schon je zehn Familienväter der Peruaner sind zu einer Zehntschaft zusammengefaßt, einem Zehntner unterstellt! fünf Zehntschaften bilden eine Fünfzigschaft, zwei Fünfzigschaften eine Hundertschaft, ü b e r den Hundertschaften türmen sich die Fünfhundert-, die Tausendschaften, die Zehntausendschaften, über ihnen noch die vier Statthalterschaften, und erst über ihnen erhebt sich der Geheime Rat der Inka. Man sieht: ein Aufbau von unerhörter Feinheit der Gliederung, in acht Stufen erst bis zum Gipfel führend und dazu von fanatischer Regelmäßigkeit. Man hat berechnet, daß zur Regierung von tausend peruanischen Hausvätern ein A u f w a n d von hundertunddreizehn Beamten nötig war. Vergegenwärtige man sich dazu, daß dieser Beamtenstaat eine ausgezeichnete Statistik, eine fortwährende Berichterstattung, ein wohlgeordnetes Wehrwesen ausgebildet hat.
Zweites Stück WIRTSCHAFT UND GEIST Es ist aber nicht die vollkommene Ähnlichkeit der Staatsordnung allein, die zwischen asiatischen und amerikanischen Altertumsreichen über Tausende von Jahren, Tausende von Meilen hinweg die Brücke schlägt: es gibt noch ein Zusammentreffen beider Entwicklungen, das in tiefere Schichten des gesellschaftlichen Zustandes und zugleich in weitere Zusammenhänge des geschichtlichen Verlaufes führt. Man kennt die eigentümlich staatssozialistische Königsherrschaft von Altperu: wer zuerst von ihrem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Unterbau Kunde erhält, hat den Eindruck eines utopischen Staatsromans. Daß der Boden Eigentum des Staates ist, daß die Bodenbestellung gemeinsam unter Leitung der staatlichen Aufseher besorgt wird, daß alljährlich eine Neuaufteilung erfolgt, daß jedem das gleiche Bodenmaß zugeschrieben, daß für jedes Kind ein Zuschuß an Boden gegeben wird, daß die Heiraten in einem bestimmten Lebensjahr und nur unter Genehmigung des zuständigen Beamten erfolgen: das alles erweckt die Vorstellung, als habe ein frommer, begeistert kommunistisch denkender Jesuit diese Dinge als ein in die Vergangenheit, statt in die Zukunft geworfenes Traumbild vom besten Gesellschaftszustand ersonnen. Man glaubt dieser Überlieferung nicht recht. Eines Besseren wird man belehrt, wenn man die chinesische und die ganz von ihr abhängige, aber besser beleuchtete japanische Geschichte
Altertums-Staatssozialismus
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zu Rate zieht. Da finden sich auf frühen Strecken ihres Weges durch den Zeitraum des Altertums völlig verwandte Einrichtungen. Die quadratische Teilung je eines großen Ackermaßes von 25 000 Morgen in neun große Felder, von denen das mittlere der Regierung vorbehalten ist, während die acht äußeren unter das Volk verteilt sind, die schon aus dem dritten Jahrtausend, der Sagenzeit, unsicher, später sicher überliefert ist, erinnert durch ihre Regelmäßigkeit und den Vorbehalt eines Restlandes für den Staat an die Verhältnisse im Reich der Inka, die sich ein Drittel des Bodens zurückbehielten. Die alten Zehntschaften mit gegenseitiger Haftung ihrer Mitglieder, die auch Shen Tsung um 1075 wieder einführen wollte, entsprechen vollends den kleinsten Gemeinschaften der Peruaner, den Zehntschaften, aus denen sich als den Zellgebilden ihr Staat zusammensetzte und die zugleich die kleinste Wirtschaftseinheit darstellten. Die Fünferschaften, die auch die Taikwa-Gesetzgebung von 645 in Japan nach chinesischem Muster eingeführt hatte, sind vollends gleichen Gepräges. Denn sie beruhen auf gemeinsamer Haftung ihrer Genossen dem Staat gegenüber und sie haben deutlich sozialistische Züge, insofern zum Beispiel der Anteil eines flüchtig gewordenen Genossen dem Staat wieder zurückerstattet werden muß. Alle diese Verhältnisse bedürfen noch mannigfacher Aufklärung, aber sie lassen erkennen, daß das Reich Tahuantinsuyu, mag es auch den Staatssozialismus weiter als jedes andere der frühen Geschichte getrieben haben, damit auf der Altertumsstufe nicht allein steht. Und noch etwas läßt die altperuanische Gesellschaftsgeschichte vermuten, die altjapanische fast erkennen: dieser Staatssozialismus ist nicht ein vollkommen eigenes Erzeugnis der Altertumsstufe, sondern ein Erbe der Urzeit, nur mit den Machtmitteln des neuen Königs- und Großstaates ausgestattet und aus freier Genossenschaft in Zwangsgenossenschaft umgewandelt. Es ist die Wirtschaftsgemeinschaft der Urzeit, umgestempelt zur Untertanenabteilung. In Altperu spricht ein Merkmal vor anderen für diese Herkunft: all die zahlreichen, immer größeren Gemeinschaften, die da, nach Zehn- und Fünfzahl so sauber abgeteilt, aufeinander^ getürmt sind, zeigen die eine gleiche Eigenschaft ihres Aufbaus: Führer ist immer eins von den zur Einheit zusammengefaßten Familienhäuptern, so schon einer von den Zehn zur Zehntschaft vereinigten. Der gleiche Grundsatz der Leitung einer Genossenschaft durch den Ersten unter Gleichen beherrscht auch die Irokesenverfassung. In Japan sind die Zusammenhänge zwischen der Fünferschaft und dem alten, nach 645 wenn nicht ausgetilgten, doch seiner Macht beraubten Geschlecht, dem Uji, sehr leicht zu vermuten, wie denn auch die Zehntschaft der Altperuaner an Kopfzahl ungefähr dem Durchschnitt eines Teilgeschlechtes bei den Tlinkit entspricht. Die Einförmigkeit der Zahlen aber ist dieselbe, die aus den noch heute in Turkestan
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Altertumsreiche • Wirtschaft und Geist
bestehenden ungleichen Geschlechtern und Großgeschlechtern zur Zeit der Khane die ebenso regelmäßig abgezirkelten Fahnen und Heerteile entstehen ließ. Staatsgemeinwirtschaft endlich kennen, wie schon berichtet wurde, viele Negerreiche. Dies alles aber, Gleichförmigkeit und straffe Zusammenfassung und schließlich gar staatssozialistische Beherrschung der Volkswirtschaft, ist nur Erzeugnis der einen großen Errungenschaft dieses Stufenalters, des übermächtigen Königtums, des überstarken Einzelnen, dem die Masse, dem selbst die freie Genossenschaft der Urzeit sich unterworfen hat. Vielleicht haben die starken, weisen und milden Herrscher, die im Reiche Tahuantinsuyu durch ein Vierteljahrtausend auf dem Thron der Inka saßen, die Höhe dieses großen Menschheits-, besser noch Menschengedankens reiner als irgendein anderes Fürstentum verkörpert. Die Verfassungsstufe der Altertumsvölker weist sehr feste und bestimmte Merkmale auf. Königtum und Staatsverwaltung haben ihr einen sicheren Stempel aufgeprägt. Weit reicher und mannigfaltiger, deshalb aber auch unbestimmter ist das Bild, das ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gewähren. Der Ausgangspunkt scheint in den meisten Fällen höherer Entwicklung der Zustand reiner Ackerbauwirtschaft zu sein. Das Alte Reich in Ägypten zeigt dies Gesicht, und die chinesische Überlieferung läßt es ebenfalls verbluten. Unter dieser Höhe sind die Staatsbildungen der mittelasiatischen Mongolen nicht nur zu Anfang, sondern noch auf lange Strecken ihres Weges zurückgeblieben. Sie beruhten auf schweifender Hirtenwirtschaft, wie sie denn auch lange nicht zu Seßhaftigkeit und festem Gebiet vorgedrungen sind — was man sehr irrtümlicherweise zuweilen zu einer der unerläßlichen Voraussetzungen des Staatsbegriffes erhoben hat. Doch haben sich unter der starken Obhut der neuen Staatsgewalt, vielleicht auch schon zuvor im Schatten hoher Tempel und unter dem Schutze mächtiger Priesterschaften, Märkte und Gewerheplätze, Ansammlungen von Handwerkern und Kaufleuten, Keime bürgerlicher Stadtwirtschaft geregt, die unter günstigen Voraussetzungen in Ägypten, China, besonders früh in Babylonien sich rasch entwickelten und der Volkswirtschaft ein neues, viel lockereres, viel bürgerlicheres, manchmal selbst wohl schon kapitalistisches Ansehen gaben, jedenfalls tler Geldgegen die Naturalwirtschaft zum Emporkommen und zur Ausbreitung verhalfen. Hier wurde also vorweggenommen, was die in Staat und Gesellschaft zu höheren Stufen emporgestiegenen Völker in der Regel erst in ihrem Mittelalter erreicht haben. Babylonien hat nicht allein für einen weiten Völkerkreis die Münze erfunden, sondern ein scharf geprägtes Handelsrecht, eine hochentwickelte Geldwirtschaft ausgebildet; China hat eine ungeheure Städtekultur erzeugt; die altamerikanischen Völker haben weitgedehnte Stadtruinen hinterlassen. Diese
Mannigfaltigkeit der Wirtschaftsformen • Bauten • Götter
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Unregelmäßigkeit darf nicht an der Richtigkeit der Stufenteilung überhaupt irre machen. Denn erstens ist die Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten das weitaus stärkste Erzeugnis des gesellschaftsseelischen Verhaltens der handelnden Menschheit und kann und soll deshalb die ausschlaggebenden Merkmale der Stufenteilung liefern. Zweitens aber kann nicht wundernehmen, daß sich bei Völkern, deren staatlich-gesellschaftliche Entwicklung für manches Jahrhundert — odfer gar wie bei Ägyptern und Chinesen für Jahrtausende — im gleichen Zustande verharrt, doch nicht auch für alles sonstige Leben die gleiche Stetigkeit erweist. Gewaltige Bauten sind fast überall die Begleit-, in Wahrheit doch wohl die Folgeerscheinungen der starken Königsherrschaft der Altertumsstaaten. Sie strebt danach, sich sinnlich greifbaren, prachtvollen Ausdruck zu verschaffen. Sie türmt Grabmäler, Tempel, Königsburgen und, mehr als das, sie folgt dabei gewissen Regeln des künstlerischen Formens, die über Tausende von Meilen und Jahren fort diesen Werken ein ähnliches Gepräge geben. Die mittelamerikanischen Tempelpyramiden und die ägyptischen, die chinesischen und wieder dije ägyptischen Denkmalalleen, die babylonische und die altmexikanische Bildnerei: sie alle zeigen unzweifelhafte Ähnlichkeit der Kunstweise, die hier in keinem der Fälle durch eine Gelehrtenvermutung auf gegenseitige Beeinflussung zurückgeführt werden kann. Es würde möglich sein, was hier nur im rohesten angedeutet ist, durch tausend Einzelzüge zu belegen. Noch tiefer in den Geist dieses Stufenalters führt eine Betrachtung seiner Glaubensformen. Die innere Verwandtschaft zwischen dem Verhalten der Menschen zu den von ihnen auf den Thron erhobenen Göttern und dem anderen zu ihren irdischen Herrschern tritt hier so deutlich wie nirgend sonst in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes hervor. Derselbe Zug steiler, starrer Größe, Einsamkeit, der die übermächtigen Könige dieses Weltalters kennzeichnet, ist auch seinen Göttergestalten aufgeprägt. Entscheidend ist immer die Richtung auf die Einzigkeit, die zur Einzelherrschaft'hier, dort zum Glauben an e i n e n Gott führt. Es ist doch erstaunlich, wie das bunte Geistergewimmel der Urzeit nun zusammenschwindet und sehr häufig zuerst einem Götterkreis, dann einer vorherrschenden oder gar einzigen Gottheit Platz macht. Von vorbildlicher Folgerichtigkeit ist in diesem Betracht die ägyptische Glaubensgeschichte. Sie hebt an mit einer Schar von oberen Gottheiten und einer noch größeren niederer, ganz besonders vom Volk verehrter, die durchaus der'von der Urzeit ererbten Mannigfaltigkeit entspricht. Aber die Gestallt des Sonnengottes überstrahlt mehr und mehr alle anderen, in ihrer Einheitlichkeit und Einzigkeit lange verhüllt durch die Fülle der Dienste und der Gestalten, unter denen sie verehrt wird, zuletzt doch siegreich
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Altertumsreiche • Wirtschaft und Geist
durchbrechend. Dieser Sieg wird ihr bereitet durch lange zusammenwirkende Vorarbeit der Priesterschaften, zuletzt aber bezeichnenderweise durch das gewalttätige Eingreifen eines großen Königs. Nachher hat es an heftigen Rückschlägen freilich nicht gefehlt. Und wunderbar: soviel Förderung dieses Einigungswerk auch durch staatliche Einflüsse erfahren haben mag, nicht selten wurde es duich sie auch gehindert. Die Vielheit der Sonnengötter in Ägypten ist sicherlich zum größten Teil durch die staatliche Zerspaltenheit des alten, noch vor dem Königtum der Pharaonen liegenden Zustandes zu erklären, der in den Gauen und dem Gaufürstentum sich ja lange noch in halber Selbständigkeit erhielt. Aber da die Uberwindung dieser Zersplitterung eben Ziel und Aufgabe der Königsherrschaft war, so lag es nahe, daß sie auch die von ihren Vorgängern herrührende gleichsam staatliche Vielgötterei überwand. Ägypten aber ist nur ein Fall von vielen. Die Richtungsgleichheit, in der sich der Glaube der Altertumsvölker entwickelt hat, ist erstaunlich. Nicht nur der Durchbruch des Ein-Gottes-Gedankens, der nur zur Ausnahme die geringeren Dienste völlig verdrängt, wohl aber sie überstrahlt, mehr noch auch die Form dieses Gedankens ist von denkwürdiger Ubereinstimmung in den entlegensten Fällen. Fast immer ist es die Sonne, die unter den zu Gottheiten erhobenen und verehrten Naturkräften obenan steht. Osiris, Horus, Ra, Amon sind allesamt Sonnengötter und zuletzt zeitweise zu einer begrifflichen Einheit verschmolzen. In Babylonien bestehen schon in vorsemitischer Zeit mehrere Sonnendienste; der Baal von Nippur, der Zeus der Babylonier, überragt sie alle, seine Verehrung scheint dem größten Teil von Vorderasien gemeinsam gewesen zu sein, sie überwiegt in Syrien, Phönizien, Karthago, im frühen Palästina. Der höchste Gott der ältesten Iranier und Perser ist der Sonnengott. Nur bei den ältesten Indern teilt Surya, der Sonnengott, sfeine Übermacht mit einem Himmels- und einem irdischen Feuergott. Den Himmel, ja das All umfassend, tritt der höchste Gott der ältesten Chinesen auf: immerhin ist die Sonne die erste unter seinen Verkörperungen. In Japan aber steht wieder eine Sonnengottheit, hier als Weib gedacht, an einsamer Spitze der Göttergestalten. Und in Altamerika überwiegt der Sonnendienst vollends: der Kukulkan der Maya, der Huitzilopochtli der Azteken, der Inti des älteren Inkareiches vertreten ihn. Die Ähnlichkeit ist besonders schlagend da, wo sich die unmittelbare Einwirkung der neuen Staatsform auf den Glauben zeigt. In Ägypten hatten freilich schon ganze Reihen von Priestergeschlechtern daran gearbeitet, die örtlichen Verschiedenheiten der Sonnengottsagen auszugleichen; sie hatten, um die einzelnen Gaue zu befriedigen, eine heilige Erdkunde des Osirislebens ausgearbeitet, seinen Leichnam hatten sie von jeher für zerstückelt erklärt, um nur möglichst viele
Sonnengötter • Königtum und Götterkönige
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Tempel mit Überresten des göttlichen Leibes ausstatten zu können. Aber erst der Pharao Amenhotep IV. machte um das Jahr 1450 den kühnen Versuch, durch einen Gewaltstreich den Ein-Gottes-Gedanken rein herzustellen, gegen den erbitterten Widerstand der Amonpriesterschaft einen einzigen Sonnengott statt mehrerer Gestalten zur Anerkennung zu bringen. Im Uberschwang seiner Begeisterung nahm er selbst den Namen des neugeschaffenen Gottes an und nannte sich Chuen-aten, Abglanz der Sonnenscheibe. Und wieder um das Jahr 1450, nur nach Beginn unserer Zeitrechnung und auf der entgegengesetzten Seite des Erdballs, trat ein Großkönig auf, der ebenso den Begriff des Sonnengottes reinigen und einigen, der ihn von dem menschlichen Bestandteil des bisherigen Zustandes befreien, ihn von der Stelle eines Ahnengottes des eigenen Herrschergeschlechts zu dem höheren Platz des wirklich höchsten Gottes erheben wollte, — und ebenso im Gegensatz zu starker Priesterüberlieferung. Es war der Vorgänger des Inka Yupanki, und auch er legte seinen alten Namen ab, auch er nannte sich nach dem neuen Gott und hieß fortan Huiracocha. An mannigfachen Unterstufen und einzelnen Abweichungen fehlt es nicht. Besonders denkwürdig ist der Unterschied zwischen den sinnlich greifbaren Sonnen- und Himmelsgöttern und jenen anderen, der Wirklichkeit ferneren, abgezogeneren, geistigeren Gottheiten, die dem reinen Ein-Gottes-Gedanken näherrücken. Nur ist dabei wohl zu merken, daß diese von unseren Vorstellungen her gesehen höhere Gottesform nicht immer eine Errungenschaft dieser Stufe ist, sondern oft schon das Erbe früherer Zeiten, wie sich denn in der Götterwelt polynesischer und afrikanischer Urzeitvölker dieser Begriff eines höchsten Gottes unmittelbar über einem breiten und rohen Göttergewimmel noch sehr einfacher Art findet. An zwei Stellen aber ist freilich — und zwar durchaus mit den geistigen, besser staatlichen Anschauungen dieser Stufe — eine Vorstellung von einem höchsten Gott ausgebildet worden, die allmählich vom Ein-Gottes- zum All-EinGottesgedanken geführt hat, zur Annahme eines einzigen, das Dasein aller anderen Götter ausschließenden Gottes. Auch für diese unzweifelhaft großartigere, ausschließlichere Form des Gottesgedankens sind Staatswesen und Königsherrschaft des Zeitalters maßgebend gewesen. Selbst die unvergleichlich viel weiter gehende Entwicklung des jüdischen Gottesbegriffes hat zu einem Teil offenbar staatliche Ursachen. Gewiß: nur ein mit tiefer Glaubens- und Vorstellungskraft ausgestatteter Stamm wie der jüdisch-israelitische konnte diesen Gedanken so außerordentlich steigern: aber was zunächst als Hindernis erscheint für diese Entwicklung, die Zwerghaftigkeit dieses an babylonisch-assyrischen Verhältnissen gemessen nur kleinen Reiches, das ist vermutlich eine Förderung geworden. Denn
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eben weil das Land so klein war, brauchte hier nicht ein hoher Aufwand geistiger Kraft verbraucht zu werden, um wie in Ägypten, in Babylon erst Dutzende von Gaugötter-Gestalten zu einer Einheit zusammenzuschweißen. Wiederum aber mag die Kleinheit der Untertanenschaft, die dieser Gott besaß, dazu beigetragen haben, daß er bei aller Steigerung nie die menschlich-persönliche Greifbarkeit verlor, auf die man als sein auszeichnendes, ihn von allen höchsten Göttern scheidendes Merkmal sicher mit Recht hingewiesen hat. Daß dieser Gott, aus dessen kraftvoller Urzeitgestalt der Kern des ursprünglichen Heilbringers und Drachenkämpfers noch deutlich hervorleuchtet, nie die Erweichung seiner Umrisse durch das Aufgehen in einer großen Naturgewalt und damit einen Plastizitätsverlust, wie er sonst sehr gewöhnlich war, erlitten hat, mag zu der Festigung und Steigerung seiner Gestalt ein Größtes beigetragen haben. Gerade diese Mischung von leiblich-persönlicher Menschlichkeit, wie sie sonst nur kleine Urzeitgötter hatten, mit einer Allmacht und Ausschließlichkeit, die nicht einmal die stärksten unter allen anderen Eingöttern der Altertumsstufe erreichten, muß der Gestalt des christlich-jüdischen alleinen Gottes zum Sieg über alle anderen Götter, zur Herrschaft über den Erdball verholfen haben. Und noch eine zweite Quelle geschichtlicher Besonderheit hat gesprudelt, aus der dieser siegreiche Glaube seine Kraft hat schöpfen können, vielleicht die ergiebigste, weil es die innerlichste, die aus dem Tiefsten der Seele fließende ist. Die Juden, die dem Geiste — gar nicht der Tat — nach zu den Genies unter den Völkern zählen, haben mit einer höchst denkwürdigen Einseitigkeit all das starke Vermögen, das ihnen zu Gebote stand, in die eine einzige Betätigungsform einströmen lassen. Alles, was bei anderen geistig reichen Völkern, bei den Griechen oder, stufen- und blutnäher, bei den Babyloniern, auch der Forschung, dem Denken über die Welt zufloß, das ist hier durch lange Jahrhunderte immer nur dem einen Zweck dienstbar gemacht worden: dem Glauben. Hierzu half allerdings auch eine Staats- und Tatgesinnung, die durch das äußere Schicksal des jüdischen Reiches herausgetrieben worden ist. Daß dieses so früh und so schnell von der vielfach überlegenen Ubermacht der benachbarten Großreiche überwältigt wurde, ohne Anstrengung daniedergeworfen und achtlos beiseite geschleudert wurde wie ein schwacher Fußkämpfer von einem der furchtbaren Sichelwagen der assyrischen Könige, hat dies Volk, das der Tatkraft nach zu schwach war, um aus eigener Macht sich gegen soviel Schicksal zu erheben, aber dem Geist und der Seele nach zu stark war, um sich völlig in das Verhängnis zu ergeben, ein neues Geistesgut erringen lassen. Es entstand in dem kleinen, feurigen und zähen Volk eine Glaubensform, die ganz einzig in dieser ihrer Art die Hoffnung
Glauben und Staat bei Juden und Mohammedanern
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auf das Wiedererstehen und Wiedererstarken des verlorenen Staates in einer seltsamen Mischung mit dem Glauben an den Gott verband, dessen alte, urzeitmäßig rauhe Kriegs- und Kämpfergestalt noch durchaus nicht vergessen war. Der Parusiegedanke, den später das Christentum in seiner jüdischen Frühzeit zu einem wichtigen Bestandteil seiner Lehre ausgebildet hat, war im Grunde für das späte Judentum, das ihn schuf, von viel größerer Bedeutung. Er verkündete das gewisse Kommen des Reichs, das heißt des Gottes, der sich, sei es selbst, sei es durch einen Sendboten, den Messias, an die Spitze seines Volkes stellen und es durch Krieg und Sieg zu neuer und ganz unerhörter Macht und Herrlichkeit führen würde. So bedeutete er nicht allein in ganz theokratischer Folgerichtigkeit, in einem überstark gesteigerten Königs-Gottesglauben ein Anklammern der eigenen Staatshoffnung an den Gott, nein auch eine außerordentliche Verirdischung der Gottesgestalt. Sie wurde mit einem Wirklichkeitssinn auf die Erde niedergezogen, der an den unbefangenen, ganz menschlichen Erdengötterglauben der Griechen erinnert und ihm doch überlegen ist durch den Ernst seiner Staats- und Tatzwecke. Es war eine Romantik, aber doch eine Romantik, die auf Tat und Staat gestellt, nicht allein aus Traum und gläubiger Ahnung genährt war. Wahrlich die Juden waren, wie tief in ihr Wesen dringende Forschung erkannt hat, ein Volk des realsten Realitäts-, des sichersten Wirklichkeitssinnes. In hohem Maße abhängig von der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung ist die arabisch-mohammedanische von Anfang an gewesen. Sie ist in keinem Sinn ursprünglich. Auch an ihr aber ist der innige Zusammenhang von Gesellschafts- und Glaubensentwicklung nachzuweisen, nur freilich im umgekehrten Sinn. Die Araber der Zeit vor Mohammed waren in eine Anzahl von kleinen und kleinsten Staatsgebilden zerspalten; die brausende Stärke der neuen Glaubensbewegung aber übte eine so ungeheure einigende Wirkung aus, daß nun all die Hunderte von wilden Gießbächen der Geschlechterverbände zu einem Strom zusammenrannen., der breit und stark genug war, halbe Erdteile zu überschwemmen und doch für lange Jahrzehnte nichts von der reißenden Wildheit jener Gebirgswasser zu verlieren. Solche fördernde Wirkung von Glaubensgestaltungen auf die Entstehung von Altertumsstaaten steht nicht allein da: insbesondere bei den Nahua- und Mayavölkern liegt dieser Zusammenhang trotz mangelhafter Uberlieferung auch zutage. Aber sicherlich hat die Wucht des All-Ein-Gottesgedankens die Macht dieses Einflusses außerordentlich vermehrt: hier mag die irdische einmal der himmlischen Einzelherrschaft nachgebildet worden sein. Ja selbst den höchsten Ehrgeiz, den Gedanken der Weltherrschaft, den die Araber so stark und bewußt wie zuvor nur die Perser genährt haben, sie haben ihn aus ihrem Glauben geschöpft. Denn ihnen galt als Pflicht
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des Glaubens, alle zu bekämpfen, die auf Erden nicht den wahren Gott und seine Verkünder ehren. Mögen sie auch zu Anfang durch den gewöhnlichen Antrieb für Völkerwanderung, durch den Wunsch, reichere Länder zu besitzen, aus ihren Sitzen hervorgelockt sein, und mögen sie ihre wenig selbständige Kultur in das vorhandene Becken der hellenistischen Bildungseinheit wie in ein bereitstehendes Gefäß gegossen haben, mögen sie namentlich auch gar nicht oder doch nicht grundsätzlich haben bekehren wollen, ihr Glaubenseifer trieb sie doch vorwärts: die Gläubigen sollten siegen und herrschen über die Ungläubigen. Nur in den Fällen höchster Leistung hat sich der besondere Sinn der Altertumsstufe auch in der Forschung einen ähnlich starken und kennzeichnenden Ausdruck verschafft: in gipfelhafter Vollendung bei den Babyloniern. Zwar haben sie ihr Erkunden der Welt und ihr Denken noch-nicht losgelöst vom Glauben, aber sie haben mit ihm so außerordentliche Siege des Geistes davongetragen, daß zuletzt ihr Glaube eher wie ein Anhang denn wie die lenkende Mitte ihres erforschten Weltbildes erschien. Mit unseren, also wie wir annehmen letzten sachlichen Maßstäben gemessen, ist ihre Sternkunde, die ihnen von den Bewegungen der Sonne und ihrer Geleitsterne ein fast völlig richtiges Bild verschaffte, ihr größter Erfolg. Seelengeschichtlich gesprochen aber war ihr Wollen auch dort, wo ihr Vollbringen irrte, groß: das Denkgebäude, das sie errichteten, sollte nicht weniger als Himmel und Erde, Sterne und Schicksal der Staaten wie der Menschen, die Geschichte der Welt wie der Menschheit umspannen und zu einer festgeschlossenen Einheit schmieden. Den Einheitsgedanken, freilich einen der stärksten Antriebe für alles Forschen der Menschen, haben sie höher getrieben als wir: im Sternenlauf sahen sie das Triebwerk für alles Geschehen, für das größte wie das kleinste Tun der Menschen. Die Weltalter der Menschheitsgeschichte wie die Ordnung der Farben, der Metalle, der Glieder des menschlichen Leibes, der Maße, der Zahlen, der Monde, Wochen, Tage, Stunden leiteten sie von ihm ab. Und die allerdings begrifflich nicht nur letzte, sondern an sich auch völlig unumstößliche Forderung jeder Wissenschaft •— daß den gefundenen Regeln Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft ganz gleichmäßig unterworfen sein müssen — zogen sie schon, im Kern folgerichtig trotz allem Wähnen und Irren: Wissen wurde ihnen zur Weissagung. Was Chinesen, Ägypter erreichten, blieb weit zurück: das Wissen der Griechen und Germanen steckte auf dieser Stufe noch in Kinderschuhen. Doch wenigstens in dem einen Volk hat sich der herrscherliche, alles zur Einheit zwingende Geist des Stufenalters zu großem Können, größ&ijem Wollen auch in der Wissenschaft offenbart.
Dritter Abschnitt: A U S S E R E U R O P Ä I S C H E MITTELALTER Auch für die Mittelalterstufe sind die festen Eigenmerkmale zunächst der gesellschaftlichen Entwicklung zu entnehmen, und zwar hier nicht ihrer Oberfläche, der Geschichte der Staatsform, sondern den tiefer liegenden Wandlungen der Klassengeschichte. Auf der Altertumsstufe ist nächst der Entstehung von Großstaat und hohem Königtum das auffälligste Kennzeichen das Aufkommen eines Adels, eines aus dem mediatisierten Gaufürstentum hervorgehenden Hochadels oder eines niederen Dienstadels oder endlich die Überführung eines Geschlechteradels in die engere und strengere Form des neuen, rein staatlichen Adels. Die Fortentwicklung dieses Standes, des ersten von Macht und Breite, den die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft kennt, rückt auf der mittelalterlichen Stufe in den Vordergrund: alles Mittelalter ist Adelszeit. Zuweilen schwillt diese Bewegung so übermächtig an, daß die Staatsform selbst dadurch verändert, daß eine wirkliche Adelsherrschaft an die Stelle der Einzelherrschaft, des Königtums gesetzt wird. Aber diese Fälle sind selten: meist bleibt wenigstens der Form nach die bezeichnende Verfassungsart des Altertums, das Königtum, bestehen; aber es verliert an Stärke und Unbedingtheit seines Einflusses eben zugunsten des Adels. Bei den starken Schwankungen, denen diese Machtverhältnisse unterworfen zu sein pflegen, bei der Häufigkeit der Rückschläge oder Rückschlagsversuche von der Seite des Königtums her kann aber die Entscheidung darüber, ob der Zustand eines Volkes als mittelalterlich anzusehen sei, nicht von diesen Einwirkungen der Klassengeschichte auf den Staat abhängig gemacht werden. Entscheidend ist vielmehr das Vorhandensein eines zahlreichen, gesellschaftlich, wirtschaftlich, meist auch geistig starken Adels. In den häufigsten Fällen treten hoher und niederer Adel gemeinsam in solcher Stärke auf; ausschlaggebend aber ist der niedere, nicht überreiche oder übermächtige, aber zahlreiche Adel. An sich ist selbstverständlich, daß auch hier breite Übergangsstreifen und nicht scharf gezogene Grenzen die Stufenalter trennen; aber eine besonders irreführende Mischstufe ist ausdrücklich kenntlich zu machen. Sie entsteht dadurch, daß die Entwicklung gewissermaßen einen Rückfall in Urzeitverhältnisse erlebt. Es ist, als ob die Hochflut der Altertumsverfassung sich senkte und die viel ungleichförmigeren, viel zerspalteneren Gestaltungen der Urzeit wieder hervorträten. Großstaat und Königsherrschaft des Altertums hatten die sehr viel zahlreicheren und sehr viel zweighafteren Gebilde der Urzeit überwunden und in der Einheit ihrer neuen Ordnung verschwinden
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oder doch untertauchen lassen. Insbesondere das Gau- und Kleinfürstentum der Urzeit war so unterworfen, oft freilich nur zu mittlerer, halb beamten-, halb fürstenmäßiger Abhängigkeit herabgedrückt worden. Erlitt nun das Königtum wesentliche Kräfteverluste, so war nichts natürlicher, als daß die alten, nicht vollständig beseitigten Gewalten sich wieder erhoben. Nicht immer brauchen es gerade dieselben Häuptlingsgeschlechter zu sein, die die Träger dieser überlieferten und nun wieder auflebenden Macht sind; aber gar nicht selten werden die alten Gebietseinheiten der Ausgangspunkt für solche Neubildung. Vorgänge dieser Art, von denen man nicht weiß, ob man sie als Rückbiegungen zur Urzeit oder als halbe Vorstöße in Mittelalter ansehen soll, können dann ein noch reicheres Bild darbieten, wenn es nicht nur der Hochadel ist, der mit ihnen sich höher, zu staatähnlicher Unabhängigkeit aufreckt, sondern in seinem Gefolge etwa auch ein niederer, zu ihm im Dienstverhältnis stehender Adel sich weiter entfaltet. Sie täuschen so in mannigfachen Graden ein Mittelalter vor oder leiten es geradezu ein; nur kommt es nicht zur vollen Entfaltung der neuen Gesellschaftsform, weil die wiedererstarkenden Mächte des Altertumsstaates und der unbedingten Königsherrschaft ihr bald ein Ende bereiten. Der Zweifel, ob es sich um Rückfälle in Urzeiten oder um Vorstöße in Mittelalter handelt, darf nicht in die Irre führen. In ihm kommt nur eine innere Wahlverwandtschaft beider Stufen zum Ausdruck. Wenn der furchtbare Zwang einmal wich, den die Königsherrschaft der Altertumsstufe dem Eigenwillen und dem Selbstbestimmungsrecht von kleineren Genossenschaften, namentlich dem aller Geschlechterverbände, und den zwar stark bevorrechteten, aber nicht bis zu eigentlicher Königshöhe gelangten Einzelnen, den Gaufürsten und Kleinkönigen angetan hatte, so war nur natürlich, daß sie oder ihnen gleiche oder ähnliche gesellschaftliche Gewalten sich regten. Und wie den alten Fürsten der neue Hochadel entsprach, so hat der neue niedere Adel oft allein in den Völkern die so denkwürdig aus Freiheits- und Genossenschaftstrieben gemischte Gesinnung des alten Geschlechterstaates wieder erneuert. Das gilt vom voll ausgereiften Mittelalter ebenso wie von den Zwitterbildungen eines angebahnten, aber nicht vollzogenen Überganges zu dieser höheren Stufe. Solches vorgetäuschtes Mittelalter zeigt die altägyptische Geschichte in mehreren Fällen. Schon der Verfall des Alten Reiches, etwa von 2700 ab, scheint sich in der Form eines Wiederemporkommens der Teilfürsten vollzogen zu haben. Das Königtum des Mittleren Reiches, des elften Herrscherhauses, mußte sich erst mühsam, vermutlich selbst aus gaufürstlichen Anfängen, emporarbeiten und die Aufgabe der Großstaatsbildung von neuem bewältigen. Und wieder ein halbes Jahrtausend später, als auch das Mittlere Reich zum Sterben kommt,
Rüdebildungen • Vorgetäusdite Mittelalter • Japan
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sind es ebenfalls örtliche und Gebietsherren, die das Haupt erheben und den Zerfall des Gesamtstaates herbeiführen oder doch ihn sich zunutze machen. Auch das Neue Reich mußte die Gründung eines Altertumsstaates auf sich nehmen,'wenn ihm die Fremdherrschaft der Hyksos nicht zuvorgekommen wäre. Trotz all diesen Zwischenfällen ist Ägypten nie dauernd zu mittelalterlichen Verhältnissen emporgestiegen. Und die chinesische Geschichte, die an die ägyptische in 50 vielen Stücken erinnert, scheint ihr in bezug auf die staatlich-gesellschaftliche Entwicklung ähnlich zu sein. Von mehr als einem der Rückschläge, die auch hier das sonst so starke Königtum erlitt, ist hinlänglich sicher überliefert, daß sie die Form eines Aufkommens von örtlichen oder ganze Bezirke umfassenden Sondergewalten annahmen. Im sechsten Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung ist vollends ein Zustand verwirklicht, der nicht nur das Reich in viele Fürstentümer des Hochadels zerfallen, sondern diesen selbst wieder mit seinen Lehnsträgern, also mit dem niederen Adel, im Kampfe begriffen zeigt. Trotzdem ist es auch hier nicht zu dauernder Festigung mittelalterlichen Wesens gekommen. Bei einem Volk der mongolischen Rasse aber ist der ausgeprägteste Fall mittelalterlicher Entwicklung zu finden, den die außereuropäische Geschichte überhaupt aufzuweisen hat. So stark der Aufschwung gewesen war, mit dem der Königsstaat des japanischen Altertums die Geschlechterspaltung der Urzeit überwunden hatte, verhältnismäßig früh ist er wieder zurückgeebbt. Man kann ihm kaum mehr als fünf Jahrhunderte ungestörter Herrschaft zumessen, auch wenn man ihm vor der Taikwa-Umwälzung von 645 noch die Voralter eines Königtums mit einem Unterbau reiner Geschlechterordnung zurechnet. Das durch ein Hausmeiergeschlecht um seine Macht gebrachte Königtum verliert von 930 an allen Einfluß, den auch die in ihrem Amt nunmehr erblich werdenden und geradezu an Königsstelle tretenden Fujiwara nicht festzuhalten vermögen. Ein auf seinem großen Grundbesitz mit Immunitäten ausgestatteter Hochadel kommt auf, und ihm folgt später eine neue Adelswelle, die der Schwertträger, ein Ritter- und Ministerialenstand. Gegen Ende des unbestritten mittelalterlichen Zeitraums der japanischen Geschichte, im sechzehnten Jahrhundert, blüht ein in mannigfachem Stufenbau gegliederter Adel vom bäuerlichen Landedelmann aufwärts bis zu den großen Daimios, den Fürsten, denen ganze Bezirke Untertan sind. Und alle Erscheinungen, die solches reich entfaltete Adelsleben zu begleiten pflegen, treffen zu: wachsender Bauerndruck, gesteigerte Frondienste, erhöhte Abgaben der Hörigen, unablässige Fehden, eine dem Lehen sehr ähnliche Besitzabhängigkeit, und so weiter. Und so erscheint es wie eine Übereinstimmung zwischen Geist und Tat, die alles andere als von ungefähr ist, daß, wie das Urbild dieses
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Außereuropäische Mittelalter
ritterlichen Mittelalters ganz, bis auf Tracht und Rüstung, unserem, dem germanischen Mittelalter entspricht, die Spiegelung, die dies Adelsleben in der Kunst, vornehmlich in der Bildnerei'gefunden hat, ingleichem sich unseren gotischen Bildwerken wie einem eng verwandten Seitenstück nähert. Die Kwannongestalt, ein Werk der koreanischen Weise der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts, das im Museum Nara bewahrt wird und einer mädchenhaft zarten, lieblichen Edelfrau ähnlicher als einer Göttin ist, rückt an frühgotische Enge, frühgotische Strenge —• bei wesentlich höherer Formenmeisterschaft — so nahe, wie dies über den Erdball und über Jahrhunderte fort nur möglich ist. Weniger scharf als in Japan hebt sich in Indien der mittelalterliche vom Altertumszustand ab. Die sehr ungewisse Überlieferung läßt vieles im Dunkel. Als die Arier in Indien eindrangen, scheinen noch in ihrer Verfassung Urzeitverhältnisse überwogen zu haben. Ein schwaches, noch erst keimhaftes Königtum, starke Geschlechterverbände bezeugen es. Dann aber scheint während der langen Eroberungsarbeit, die das Stromgebiet des Ganges den arisch-iranischen Eindringlingen unterwarf und die das Jahrtausend zwischen 1500 und 500 eingenommen haben mag, das Königtum erstarkt zu sein. Der Zustand aber, den dann das dicht vor 500 entstandene Gesetzbuch des Manu erkennen läßt, ist ein ganz mittelalterlicher: ein zahlreicher, waffenlustiger, beweglicher Adel, eine lange Reihe auch von mittleren und kleinen Fürstentümern besteht, und nur die außerordentliche Macht des neuen Priesterstandes der Brahmanen verdunkelt etwas den Glanz dieses lauten und reichen Adelslebens. Vielleicht haben in diesem Zeitalter und im nächsten, das von 500 vor bis 1000 nach Beginn unserer Zeitrechnung reicht, starkes Königtum und kleine Fürstentümer zuweilen nebeneinander gfestanden; aber die Königsherrschaft hat selbst dort und dann, wo sie in voller Blüte stand, so unter König Asoka, an dem Adelsunterbau, über dem sie sich erhob, nichts geändert. Und neben den größeren Reichen gab es auch damals eine Fülle von kleineren Staatsgebilden, in denen eine mittelalterliche Adelsherrschaft unter einem Fürstentum bestand, das selbst der Form nach kaum nennenswerte Rechte hatte; so in dem kleinen Land am Südhang des Himalaya, in dem Gotamo, der Buddha, um die Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Beginn unserer Zeitrechnung geboren wurde. Die Stufenmischung geht hier so weit, daß man fast den Eindruck hat, als hätten sich in zurückgebliebenen Rand- und Bergländern des indischen Bereiches noch Reste von Urzeit- und Geschlechterverfassung erhalten. Ähnlich unsicher umrissen ist das Bild, das die arabische Entwicklung in einer gewissen Höhe ihres Wachstums bietet. Das Kalifat von
Indien • Araberstaaten • Kunst- und Glaubensformen
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Bagdad, das Hauptwerk der neusemitischen Staatsbildung, ist zwar auch zeitweise in Teile zerspalten und so in die Hände eines zu fürstlicher Gewalt emporgestiegenen Adels geraten, und es fehlt nicht an sonstigen Anzeichen der Mittelalterlichkeit, von der als dauernd erreichter Stufe aber trotzdem nicht gesprochen werden darf. Anders seit 750 im unabhängigen arabischen Spanien. Die Verfassungsform, die die neu gegründeten Gebilde annehmen, ist zwar nach dem Muster des Mutterlandes durchaus die des Altertumskönigtums. Aber schon bei der Eroberung muß der Adel zahlreich und mächtig gewesen sein: viele westgotische Edelleute, die den Islam annahmen, konnten in die Reihen des arabischen Adels eintreten, ohne Stellungs- und Standesverlust zu erleiden. Und wiederum haben arabische Edle nicht selten die Stelle und den Besitz gotischer Landherren eingenommen und die Bauern in ähnlicher Hörigkeit gehalten wie jene. Später ist das Kalifat wieder stärker geworden, zuletzt aber zerfiel es in Splitterstaaten, die einem zu lehenartiger halber Selbständigkeit gelangenden Hochadel anheimfielen, während an der Spitze die Krone dazu noch durch ein selbstbewußtes Hausmeiertum geschwächt war. Das entscheidende Merkmal der Stufe verleugnet sich aber nie: das Vorhandensein eines zahlreichen niederen Adels, der, ritterlichen Waffenund Geistesspielen ergeben, mehr als man heute annimmt für seine germanisch-romanischen Standesgenossen Muster und Vorbild gewesen sein mag. Fragt man nach den wirtschaftlichen Ergänzungen dieses Stufenbilde«, so wird in der indischen und japanischen Geschichte die Begleiterscheinung langsamen Aufwachsens städtisch-bürgerlichen Wesens und also auch berufsmäßig abgesonderten Handels und Gewerbes nicht zu leugnen sein. Entsinnt man sich aber, daß die gewaltigen Altertumsstaaten fast aller Erdteile — China, Ägypten, Babylonien — dieses Wachstum dann, wenn sie nur lange genug dauerten, auch hervorgebracht haben, so wird man darauf nicht den entscheidenden Ton legen dürfen. Die klassengeschichtlichen Kennzeichen überwiegen durchaus. Läßt man vergleichende Blicke in die Bezirke des geistigen Lebens schweifen, so mag das Schaffen der Künste, der redenden wie der bildendeh, auch hier als grenzbildend nachzuweisen sein. Vielleicht dürfen als Merkmale wirklich oder annähernd mittelalterlicher Wegstrecken für die Dichtung die höhere Ausbildung des Heldensänges, die Entstehung des Liedes, in Fällen seltener Reife auch die des Schauspiels, für die Baukunst eine erregtere, leidenschaftlichere, seelisch und sinnlich bewegtere Weise, als sie die Starrheit des Altertums und seiner großen Königsbauten kannte, angenommen werden. An einer Stelle bietet sich aber auch für diese Stufe die Hilfe sicherer geistesgeschichtlicher Grenzmarken an: im Reich des Glaubens. Es gibt eine 4 Der Stufenbau der Weltgeschichte
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Form gläubiger Erregung, die den Mittelaltern der Weltgeschichte eigentümlich ist. Mehr als wahrscheinlich ist, daß schon die Entwicklung polynesischer Glaubensvorstellungen als eine Keim- und Vorform dieser Mittelaltergläubigkeit aufzufassen ist. Den klassengeschichtlichen Tatsachen würde es entsprechen; denn es scheint, als sei in den von der Natur zur Kleinheit bestimmten Inselreichen der Samoaner, der Tonganer und einiger anderer Völker des Stillen Ozeans auf eine Zeit stärkeren Königtums eine andere weitverzweigten und gegliederten Adelswesens gefolgt. Auch die gesteigerte Ausbildung der redenden Künste, die unendlich umfangreichen Heldensänge der Maori würden dieser Annahme entsprechen. Wunderbar schwimmen in den Glaubenssagen der Inselländer die farbig-einfältige Märchenwelt der Urzeitgötter, die stärkere Bildung von höheren Göttern und eine neue Mystik ineinander, die man als mittelalterlich zu empfinden große Neigung spürt. Nicht selten knüpfen sich diese verschiedenen Vorstellungsweisen an dieselben Götternamen; aber wie viele andere Erfahrungen der Glaubensgeschichte lehren nicht, daran keinen Anstoß zu nehmen? Derselbe Taaroa, von dem es auf Raiatla heißt, er sei, in eine eiförmige Muschel gehüllt, in der Luft umhergefahren, wird doch auch als der Unerschaffene, der von der Zeit der Nacht her Lebende, als All, als Himmel selbst verehrt. Und die starken Priesterschaften Hawaiis, der Tonganer, der Neuseeländer haben überwirkliche Glaubensgedanken ausgesponnen, die sich mit den hier wurzelnden Vorstellungen von Allbeseelung der Natur seltsam treffen. Zu märchenhafter Schönheit mischen sich da schon die Erzeugnisse grübelnder Ahnung mit denen der bildhaften Vorstellungskraft der alten Zeiten. Die Maori lassen alles Sein mit der Nacht beginnen. Nachdem sie undenklich lange Zeit geherrscht hatten, erwacht das Sehnen, dann das Fühlen. Auf den ersten Atemzug des Lebens folgt die Geburt des Gedankens, des Geistes. Dann wird die Begierde geboren, die sich auf das heilige Geheimnis, auf das große Rätsel des Lebens richtet. Nach ihr entstehen aus der Zeugungskraft des Leibes die Lust am Dasein, die freudvolle Wollust. Zuietzt flutet Atua im Raum: das Weltall; und indem es sich in Mann und Weib scheidet, entstehen Himmel und Erde. Atua aber bedeutet von jeher Geist, See.e, Schatten, Gespenst, Gott und vergötterter Mensch. Man sieht, es sind geistige Gebilde, die nichts mehr von der Kindhaftigkeit und Naturgeborenheit des Urzeitglaubens an sich haben, die vielmehr in bewußter Mischung mit den Naturkräften abgezogene Begriffe als Gottheiten oder gottähnliche Gewalten auftreten lassen, deren Verstandesmäßigkeit sie nahe neben des spätmittelalterlichen Hesiodos' Glaubensvorstellungen rückt.
Mittelalterglauben der Polynesier, Chinesen, Inder
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Die chinesisch-mittelalterlichen Glaubensvorstellungen sind weit höher gediehen, aber entsprechend dem nüchternen, überaus verstandesmäßigen Geist der Mongolen hatten sie auch in der Zeit ihrer höchsten Blüte, die durchaus mit der Zeit der entwickeltsten gesellschaftsgeschichtlichen Mittelalterlichkeit zusammenfällt, eher den Grundzug wissenschaftlich-begrifflicher als gläubig-ahnender Weltanschauung; dabei fehlte ihnen das ungewiß Dämmernde, Phantastische nicht ganz, das recht eigentlich Merkmal und Wesen mittelalterlicher Gläubigkeit auszeichnet. Laotse, der von Sagen umschleierte Gründer dieser ganz wissenschaftlichen Mystik des sechsten Jahrhunderts, lehrte das Tao, von dem er sagt: es war unbestimmt und vollkommen vorhanden vor Himmel und Erde ; ruhig war es und nicht greifbar, allein und unwandelbar, alles erfüllend und unerschöpflich, die Mutter aller Dinge; ich weiß seinen Namen nicht und ich nenne es das Tao; groß fließt es immerdar; es entfernt sich und kehrt zurück; darum ist das Tao groß. Diese Mischung erkennender und ahnender Beschauung der Welt hat lange Zeit hindurch die feineren Köpfe, die stilleren Geister beherrscht. Aber sie ist später in Zeichendeuterei und Scheidekunst untergegangen und hat, bezeichnend für die überwiegende Nüchternheit der Mongolen, nicht standgehalten gegen die prosaische Nützlichkeits- und Sittenlehre des Konfntse, der etwas später, gegen Ende des sechsten Jahrhunderts, dem Taoismus ebenso gegenübertrat wie dem nach China übergreifenden Buddhismus und beiden das juste milieu seiner Bürgermoral entgegenhielt. Vielleicht ist dieser Abstieg der einzigen tiefen Lehre von Welt und Sein, die je von Mongolen erdacht worden ist, Sinnbild und Zeichen dafür, daß China sich auch in den Ordnungen des Staates nicht auf Mittelalterhöhe halten konnte. Die Japaner aber, deren Geistigkeit sich zu der chinesischen verhält wie die der Römer zur griechischen, haben überhaupt keinen solchen Aufschwung ihres Glaubens aufzubringen vermocht. Die größte Schöpferkraft haben in diesen Dingen die Inder bewiesen, von denen zu sagen ist, daß bei ihnen, trotz Jesus und Mohammed, der tiefste Bronn gläubigen Ahnens erflossen ist, von dem die Weltgeschichte weiß. Nur bedeutet nicht eigentlich der Buddhismus, sondern die Lehre der Brahmanen den Gipfel dieser Entwicklung. Wem es um eine Rechtfertigung allen Priestertums auf Erden zu tun ist, er findet sie hier so stark wie nirgend sonst. Die selbst unter den Glaubensformen der Altertumsstufe nicht eben hoch stehenden Göttervorstellungen der älteren Inder haben sich erst vertieft, seit nicht mehr jeder Hausvater sein eigener Geistlicher war, sondern Priesterschaften walteten, die durch verwickelte Dienste und Bräuche die Alleinherrschaft im Bereich der heiligen Dinge an sich gezogen hatten, Ä*
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Außereuropäische Mittelalter
Und was sie schufen, war wirklich das abgründigste Denken über Gott und Welt, der umfassendste All-Gottesglaube, der je in Menschenhirnen geboren wurde. Das Brahman, ursprünglich das Gebet, also der Glauben selbst, zuletzt Weltseele und All zugleich, ist ohne Anfang, ohne Ende, zunächst seiner selbst nicht bewußt, unpersönlich. Erst als in ihm der Drang zum Tätigsein erwachte, wurde es zum persönlichen All-Vollbringer und schuf als solcher die Welt. Alle Götter, alle Menschen, alle Tiere bis zum Wurm herab sind Ausflüsse dieses All-Wesens. Neben sich, unter sich duldete dieser All-Gottesgedanke wie in mildem Verzeihen die bunte Götterwelt der Väter. Der christlichen Gottesvorstellung fehlt die Unbegreiflichkeit der ganz ins All verschwimmenden Gottanschauung der Brahmanen. So menschlich schön die Gedankenkreise des Neuen Testaments sind, so rein und väterlich die Stellung ist, die diesem liebenden Gott zugewiesen ist, sie erscheint ins Traulich-Kleine zusammengezogen neben dem unendlichen All-Einen der Inder. Er ist nicht zu klein für all die Vorstellungen unserer erfahrenden Wissenschaft von der Unermeßlichkeit unseres Sonnensternbereiches und von der Kleinheit wieder dieses Bereiches im Vergleich zu den niederschmetternden Fernen der dem bewaffneten Auge noch erreichbaren Sternwelten. Der jüdisch-christliche Gott dagegen trägt viele Spuren des sehr begrenzten Umkreises, in dem sein Bild entstand. Und mag man ihn noch so hoch steigern, er erscheint doch immer nur dem Schöpfergott gleichgestellt, den die Brahmanen als eine späte Verirdischung, Vermenschlichung der All-Gottheit empfanden. Noch eine Vertiefung erfuhr der Glaube bei den Indern, die von kaum absehbaren Nachwirkungen sein sollte. Sie fanden den Leidgedanken und prägten ihn ihrer Gottesanschauung ein. Sie fanden den leidenden Gott, den leidenden Menschen. Sie fanden den Gedanken der Erlösung, des Erlösungsbedürfnisses. Eben indem das All-Wesen sich verkörperlicht, zum All-Schöpfer, zu Göttern, zu Menschen, zur sichtbaren Welt wird, beginnt es seinen ursprünglich seligen Zustand zu verlassen, tätig — das heißt: unselig — zu werden. Und das eherne Gesetz der Ursachenverkettung aller Dinge — auch dieses fanden die indischen Glaubensweisen so viele Jahrhunderte vor den griechischen Weltweisen — läßt jedes Tun immer neues Tun gebären. Den Einzelnen aber peinigt diese nie aufhörende Rastlosigkeit des Geschehens in Gestalt der Seelenwanderung, die ihn fort und fort von Tode zu Tode, von Wiederkunft zu Wiederkunft in immer neue Wesen treibt. Offenbar hat an der Wiege dieses Gedankens die Ruheseligkeit des Ostens, des fast tropischen Südens gestanden. Aber er selbst ist im Grunde das Leidenschaftlichste, Seelenbewegteste, was Menschendichten geschaffen hat. Leid nimmt nicht etwa darum die Seelen
Brahmanenlehre • Der Leidgedanke • Buddha • Semitische Mystik
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der Menschen nachhaltig gefangen, weil es an sich Lust bereitet, die Wollust des Schmerzes, sondern weil es am tiefsten in die Seele greift, weil es am meisten bewegt. Denn so unlöschbar ist der Durst des Menschen nach Veränderung, nach Erneuerung, nach Erleben, daß er da, wo er selbst nicht mehr tätig sein kann, doch wenigstens am stärksten geschüttelt, erschüttert, bewegt sein will, bewegt im eigentlichsten, sinnlichsten Verstände des Wortes. Leid ist die mächtigste, tiefste, ergreifendste — deshalb auch in den äußeren leiblichen Anzeichen künstlerisch stärkste, menschlich schönste — Gefühlserregung, die uns überhaupt zu erleben verstattet ist. Als in Indien hoher Glaube und Leid zum erstenmal sich vermählten, geschah es, daß die beiden stärksten Mächte auf Erden sich verbanden. An Steigerungen, Auswüchsen fehlte es nicht: Askese, Einsiedlertum, mönchisches Wesen, Höllenstrafen, sie sind hier und damals ersonnen worden. Sie paarten sich mit dem starrsten Klassenhochmut, den je eine Glaubensform zu weihen gewagt hat. Und jene Entdeckungen im dunklen Land der Seele sollten noch folgenreich genug werden. Der Buddhismus wuchs aus dem Brahmanentum hervor. Aber er kann als Glaube nicht als dessen Aufhöhung angesehen werden, denn er war gottleer, gottlos. Er verzichtete selbst darauf, von den letzten Ursachen alles Wirklichen und überwirklichen zu sprechen. Er war in gewissem Sinn unmystischer, unmittelalterlicher als das Brahmanentum. Uber Indien hinaus, über die Welt hin haben diese Entdeckungen gläubigen Ahnens gewirkt. Die Zusammenhänge indischer und christlicher Glaubensüberlieferung werden heute von der peinlichsten, vorsichtigsten Einzelforschung in hundert kleinen Zügen nachgewiesen. Und Vielleicht kommt einmal der Tag, wo anerkannt wird, daß einige der allerwesentlichsten Bestandteile des christlichen Glaubensbesitzes selbst auf Indien zurückgeführt werden können. Daß die Vorstellung eines leidenden Gottes, die in der Überlieferung von Jesu Tode so unbeschreiblich mächtig wurde, von Grund aus unjüdisch war, scheint mir sicher. Auch Semiten haben Mystik und Mittelalter in ihrer Glaubensentwicklung erlebt. Aber der schiitischen Bewegung, die im Mohammedanertum diesen Gipfel erklomm, scheint persisch-arische Einwirkung beigemischt. Und die tiefen Glaubensgedanken, die spanische Araber, spanische Juden gefaßt haben, können an Wucht und Geheimnis doch nicht mit dem Grübeln indischer Glaubensformer verglichen werden und sind überdies wahrscheinlich aus unmittelbaren, öfter noch mittelbaren indischen Quellen gespeist. Nur die seltenere starke, traumvoll verdüsterte Spätmystik der galizischen und der podolischen Juden reicht in die Nähe jener indischen Glaubenstiefen.
Vierter Abschnitt: DIE V Ö L K E R G R U P P E N DER H Ö C H S T E N STUFEN Erstes S t ü c k VERGLEICH DER A N F Ä N G E DER ALT- U N D DER NEUE U R O P Ä I S C H E N GESCHICHTE Der Vorrang der europäischen Geschichte beider Weltalter vor der aller anderen Erdteile und Völkergruppen beruht darauf, daß hier allein die beiden höchsten Staffeln der Stufenreihe erklommen worden sind. Die Europäer, die Doppelgruppe der griechischen und italienischen und der germanisch-romanisch-slawischen Stämme, die die asiatischen Indogermanen nach Europa entsandt haben, sonst entwicklungsgeschichtlich so viel höher gedrungen als alle, ausnahmslos alle außereuropäischen Völker, werden durch ein Zwischenglied mit den anderen, so weit hinter ihnen zurückbleibenden Geschichtseinheiten der Menschheit verbunden: durch die Kelten. Sie waren von den großen Völkerstämmen dieser kaukasisch-indogermanischen Welle, die sich nordwärts wandten, die erste Heeressäule, die sich weithin ausgebreitet hat. Und sie nehmen im- geschichtsmechanischen Sinne insofern eine Mittelstellung zwischen den Gräko-Italern und Germanen einerseits und den hochgediehenen Völkergruppen außerhalb Europas andererseits ein, als sie kaum über die Altertumsstufe fortgedrungen sind. Sie sind unter den großen Völkerstämmen Europas der mindest glückliche gewesen. Daß die Kelten früh aus deutschen Ländern, aus Oberitalien, Gallien, Belgien, England verdrängt wurden, daß sie heute nur in einem Teil von Irland staatliche Unabhängigkeit sich erkämpft haben, daß sie in Hochschottland, Wales, Cornwallis und in der Bretagne nur ein provinziales Eigenleben im Geist führen, ist nicht von ungefähr. Sie waren der schwächste unter den vier Brüdern der indogermanischen Völkerfamilie. Da sie zugleich auch eigens langsam in ihrer Entwicklung waren, so kann nicht wundernehmen, daß ihr gesellschaftlich-staatlicher Zustand sich nicht nur in ihren Anfängen, nein noch lange nachher ganz tief in die Ordnungen der Urzeit, insonderheit in ihre Geschlechterverfassung eingebettet zeigt. In Irland hat man zur Zeit der Römerherrschaft in Britannien 184 Clane, Großgeschlechter, gezählt, die in Geschlechter von etwa je 16 Sonderfamilien zerfielen. Die Geschlechter waren, wie bei den Südslawen oder den Nordostamerikanern, den
Kelten • Urzeit v o n Germanen und Griechen • Stufen-Zeittafel
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Eskimos, große Haus- und ganz im urkommunistischen Sinn Wirtschaftsgemeinschaften; die schottischen Clane haben sich mit ihrem Personalzusammenhang und —• als spätere Schicht der Vereinheitlichung — mit den Grenzen ihres Landbesitzes bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten; sie haben wenigstens noch in dem Namen Haus für die Geschlechter die Erinnerung an die alte Wohngemeinschaft bewahrt. Die Einzelherrschaft hat sich schon innerhalb der Clane auf dem Grund der Geschlechterverfassung, das heißt im Erbgang bei einer bevorzugten Sonderfamilie ausgebildet; aus den Verwandten der Häuptlinge hat sich ein Adel bevorzugter Sonderfamilien innerhalb der Geschlechter entwickelt. In Irland haben sich die Clane zu fünf Clanbünden mit einem Oberhäuptling an der Spitze vereinigt, und die fünf Bünde haben sich zu einem lockeren, ganz Irland umfassenden Gesamtbunde zusammengeschlossen. Die Schotten haben ein wirkliches Königreich gegründet. Die keltischen Gallier in Frankreich sind ähnliche Entwicklungswege gegangen, nur mit der ganz stark sich heraushebenden Eigentümlichkeit, daß der Geschlechteradel, der entsprechend der japanischen Form aus den dem Häuptlingshaus verwandten Sonderfamilien hervorgegangen war, der karthagischen Entwicklung ähnlich und wie in einer Vorwegnahme mittelalterlicher Adelsentfaltung die Einzelherrschaft sei es sich unterordnete, sei es sie ganz abschaffte und durch einen jährlich wählbaren Richter, den Vergobretus, den Rechtswirker, ersetzte. Vorübergehend haben Bünde eine große Anzahl Clane zusammengefaßt mit Bundestagen und Kriegsherzogen an der Spitze. Unter den west- und mitteleuropäischen Indogermanen läßt sich sonst nur für die Germanen durch den glücklichen Zufall Tacitus einiges über die Urzeitstufe aussagen. Man hat wohl getadelt, daß eine solche Ansicht des Stufenbaus der europäischen Geschichte, wie sie hier verfochten werden soll, zu Anfang mit mehreren Lücken einsetze 1 ). 1) Eine Tafel zeigt die hier angenommene Stufenteilung am besten: Entwicklungsstufen
Griechenland Athen
Germanischromanische Völker
bis 410 Urzeit . . . . . bis 1800v.Chr bis 753 v.Chr. 410— 911 Altertum . . . 1800—1000 753—510 911—1144 Frühes Mittelalter 1000— 750 510—330 1144—1494 Spätes Mittelalter 750— 510 330—133 1494—1789 Neuere Zeit . . 510— 404 seit 1789 Neueste Zeit . . 404v.Chr.—27 n.Chr. 133 v.—476n.Chr. Ich wiederhole diese Zahlen absichtlich im Texte nicht. Sie müssen deshalb in dieser übersichtlichen Form auch später im Auge behalten werden,
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Völker höchster Stufen • Vergleich der Anfänge
Denn selbst vom griechischen Altertum ist nur halbe, Von der römischen Entwicklung noch kaum für das frühe Mittelalter einige Kunde zu gewinnen. Die Gesamtanschauung der Gleichläufigkeit der griechischen, der römischen und der germanisch-romanischen Entwicklungen aber kann dadurch um so weniger erschüttert sein, als nach allgemeiner Erfahrung alle früheren Stufen viel weniger Verschiedenheiten und Eigentümlichkeiten der Völker und Völkergruppen aufweisen als die späteren und reiferen. Läßt sich für diese zumeist Ähnlichkeit, hier und da gar Gleichheit nachweisen, so braucht man an jenen weißen Flecken nicht Anstoß zu nehmen, überdies sind die meisten Merkmale des gesellschaftlichen Zustandes, die sich von der germanischen Urzeit mit Bestimmtheit aussagen lassen so beschaffen, daß sie sehr wohl als Wurzel auch der späteren Entwicklungsstufen wenigstens bei den Griechen angenommen werden können. So die Zerspaltung des Volksganzen in zahllöse kleine Verbände, so die noch an keinen bestimmten Landbesitz gefesselte Wanderlust dieser Stämme, so die Volksherrschaft bei geringer Ausbildung der Königsmacht als Kennzeichen der Verfassung, so eine ursprünglich-rohe Gemeinwirtschaft, so gewisse Reste der Geschlechterverfassung neben der in der Hauptsache schon zum Durchbruch gekommenen Sonderfamilie, ja Einehe, so die Anfänge einer Standesbildung in Adel und Leibeigenschaft. In den Bauformen des Geschlechterstaats erweisen sich die germanischen Ordnungen eigens nahe an die keltischen angelagert. Vorzüglich fällt in die Augen, daß die gleiche Weise des Hervorganges des Königtums aus dem Geschlechterbau hier zu beobachten ist wie bei den Kelten, etwa den Gälen in Schottland oder den Galliern in Frankreich. Die eine Wendung, die Tacitus braucht, zwar nicht in der Germania, wohl aber in seinen Annalen, bekundet hier alles aufs beste: stirps regia nennt er diesen bevorrechteten Blutsverband, das heißt doch wohl das Geschlecht, dessen Vormänner Kuninge, Geschlechtsmänner oder Fürsten, d. h. Erste heißen. Sie stellen einen Geschlechteradel dar, aus dem im Kriegsfall auch die Herzoge — je einer oder, ganz urzeitmäßig, je zwei — hervorgehen und aus dem etwas später das Königtum selbst hervorgewachsen sein muß. Für die vergleichende Universalgeschichte des Urzeitstaates ist diese Schilderung von gar nicht zu übertreffendem Wert, da sie ihre aufhellenden Strahlen nach allen Seiten wirft. Der Geschlechteradel — eben die Edelsippe, deren Vormänner ein so hohes Recht besaßen — als gemeinsame Mutterbildung für Adel und Königtum läßt deutlich vermuten, wieso die gallischen Kelten so oft nur Adel hatten: vielleicht hat ein diesem germanischen Edelgeschlecht entsprechender Adel die Einzelherrschaft nicht erst nach ihrem Entstehen zurückdrängen müssen, sondern hat sie erst gar nicht aufkommen lassen.
Staats- und Adelsbildung • Altertum • Frühes Mittelalter
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Zugleich wird von hier aus verständlich, wie bei den Karthagern ein Geschlechterstaat ohne jeden Durchgang durch ein Königtum zu einer Adelsherrschaft hat werden können. Das japanische o-umi als Adelsgeschlecht, als stirps regia, wird ebenfalls in ein anderes Licht gerückt: möglich, daß das Großkönigsgeschlecht auch hier erst ein Adelsgeschlecht war, ehe es ein Königsgeschlecht wurde, so daß also nicht selten im Geschlechterstaat eher ein Adel als ein Königtum emporgekommen wäre. Und noch bis zu den Geschlechterstaaten der Nordostamerikaner und ihrem klassischen Fall, dem irokesischen, dringen diese aufhellenden Strahlen, die in Wahrheit über die Erde fortzucken: nur in dem Sinne freilich, daß ersichtlich wird, was in diesen Geschlechterstaaten, die das Königtum nicht haben aufkommen lassen, hat vermieden werden müssen, um eine solche Entwicklung abzuwehren. Keine stirps regia, keine Edelsippe, das heißt kein bevorrechtetes Geschlecht ist unter den achtundvierzig Geschlechtern der Irokesen zu finden; ihre Sachem, von denen auf jedes Geschlecht einer kommt, gehen aus je einer Sonderfamilie, natürlich in Mutterfolge, hervor; es ist eine nur auf die Sonderfamilie beschränkte Form der Vererbung des Häuptlingtums, um die es sich handelt, nicht aber die Form, aus der im Geschlechterstaat am ehesten ein Adel entstehen kann: die stirps regia, die Edelsippe. Das Altertum der Germanen ist schon durch eine reiche Uberlieferung beleuchtet. Es ist bei ihnen ausgezeichnet durch den Übergang vom Wandern zu fest angesiedelten Staaten, durch die Zusammenballung größerer Staatswesen in der äußeren, durch starke Vermehrung der Königsmacht in der inneren Staatsgeschichte. In der Volkswirtschaft bringt es die Entstehung des Sondereigentums des Einzelnen an Grund und Boden, die ersten durchgreifenden Verbesserungen stetigen Ackerbaus, die Anfänge eines etwas geregelteren Handels mit sich. Vom griechischen Altertum dämmern nur einige leise Umrisse durch den leider allzu dichten Nebel fast völliger Uberlieferungslosigkeit; aber keiner von ihnen widerspricht jenem Bilde. Gewaltige Königsburgen, weite Straßennetze kündigen das Dasein starken Königtums, vielleicht auch etwas umfangreicherer, jedenfalls aber seßhafter Staatsgebilde an. Für das frühe Mittelalter ist man schon so glücklich, neben die germanische Entwicklung dank den homerischen Gedichten auch ein einigermaßen zureichendes Bild der griechischen stellen zu können. Die Ähnlichkeiten der Hauptzüge sind schlagend. Der wichtigste ist beiden gemeinsam: das Vordringen des Adels in Gesellschaft und Staat gegenüber der Königsmacht. Es ist in der nun in immer mehr Teilentwicklungen sich spaltenden Geschichte des germanischen
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Völker höchster Stufen • Vergleich der Anfänge
Europas unverkennbar: der im Altertum dort noch straff zusammengehaltene Adel sprengt oder bedroht wenigstens fast überall Staatseinheit und Königtum. In Griechenland aber ist diesem Zeitalter der gleiche Stempel dadurch aufgeprägt, daß es mit einem Zusammenbruch der Königsherrschaft endet, ein Merkmal, das die entsprechende; ein Vierteljahrtausend später einsetzende Stufe Roms mit ihm teilt. Die Adelsmacht hat in allen diesen Fällen sehr verschiedene Formen angenommen: schon innerhalb der jüngeren Völkergruppe sind die Gegensätze zwischen dem deutsch-französischen Hochadel und den Ritterschaften Englands und der spanischen Teilstaaten sehr groß. Ein klaffender Unterschied tritt vor allem schon zutage: die eine Adelsform ist auf die vollkommene Lostrennung der einzelnen Adligen vom Staatsganzen bedacht, die andere wünscht als Genossenschaft, als politischer Stand im eigentlichen Sinne des Wortes die Herrschaft im Staate an sich zu reißen. Die griechische wie die römische Entwicklung gehören in die zweite Gruppe; doch fehlt es ihr auch im jüngeren Weltalter nicht an Seitenstücken. Das beweist namentlich die englische Adelsgeschichte. Auch sonst fallen genug Ähnlichkeiten ins Auge: die griechischen Kle'inkönige ist man in Versuchung, den Herzögen und Grafen Deutschlands und Frankreichs an die Seite zu stellen. Vielleicht waren auch sie einst von größeren Herrschern vom Rang der Könige von Tiryns und Mykene abhängig? Leibesübungen und Waffenspiele sind beiden Adelsentwicklungen gemeinsam. Die Gefolgschaften der griechischen Dynasten erinnern durchaus an die Ministerialen; das Burgwesen ist auch in Griechenland nachzuweisen; und ich kenne kein Kriegsunternehmen der Weltgeschichte, das dem Kampf um Troja — was die Vielköpfigkeit der Leitung, den schwachen Oberbefehl, überhaupt die Kriegsverfassung betrifft — besser an die Seite zu stellen wäre als der ebenfalls frühmittelalterliche erste Kreuzzug. Zugleich ein eindrucksvolles Sinnbild für die Verschiedenheit heidnisch-hellenischer und christlich-germanischer Weltanschauung: dort Meerfahrt, Ritterkämpfe und Völkerkrieg um ein schönes Weib, hier um ein düsteres Grab. Ob der trojanische Krieg der Geschichte angehört — was sehr wahrscheinlich ist— oder nicht, ist dabei gleichgültig. Es handelt sich um die Vorstellung, die in den Angehörigen dieses Zeitalters von einem solchen Unternehmen lebte. Der staatliche Zustand dieser Stufe weist in den drei Reihen Abweichungen auf, die durch die sehr verschiedene Größe der in Betracht kommenden Staatsgebilde bedingt sind. Doch gleicht sich bei näherem Zusehen dieser Unterschied insofern wieder aus, als die staatähnlichen Zwerggebiete, die Grafschaften, die noch kleineren Dynastengebiete, in die etwa das Frankreich und Deutschland dieser Zeiten zerfielen, den griechischen Kleinstaaten wohl verglichen werden
Gemeinsamkeiten • Abweichungen • Spätes Mittelalter
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dürfen. Und in beiden Fällenjst der Zustand nach außen hin derselbe; denn das Ganze hat sich damals in Deutschland oder. Frankreich fast ebensowenig Zu wirklichen auswärtigen Kriegen verdichtet wie in Griechenland; die deutsch-italienischen Beziehungen bleiben dabei billig außer acht, denn sie beruhten auf einer Vereinigung zweier Stücke des alten Karolingererbes, nicht aber auf dem Gegensatz zweier Staaten oder Völker. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind insofern ähnlich, als sie in der griechischen wie in der germanischen Entwicklung noch ein vollkommenes überwiegen der Natural- über die Geld-, der Land- über die Stadtwirtschaft, eine geringe Ausbildung von Handel und Gewerbe und somit auch des Bürgertums aufweisen. Im geistigen Leben endlich ist dieses Zeitalter das der Heldendichtung: den homerischen Gesängen wird man die Nibelungen an die Seite stellen dürfen, obwohl erst die um 1144 mit Beginn des späten Mittelalters eintretende höhere Regsamkeit zu ihrer abschließenden Formung führte. Ihr frühmittelalterlicher — zum Teil gar noch früherer — Ursprung kann nicht in Zweifel gezogen werden. Das späte Mittelalter zeigt in der maßgebenden Entwicklungslinie der Verfassungs- und Klassengeschichte einen wiederum überall nachweisbaren Grundzug. auf; es ist die Zeit der höchsten Adelsmacht, aber zugleich auch die Zeit neu aufsteigender gesellschaftlicher Gewalten: eines neuen Standes, des empordringenden Bürgertums und einer zwar nicht ganz neuen, aber in dieser Stärke neuen Form des Verfassungslebens, des erst jetzt zu seinen Jahren gekommenen Staatsgedankens. Jäher, folgerichtiger ist hier die athenische und die römische Entwicklung: sie beginnt auf dieser Stufe mit der vollkommenen Beseitigung des Königtums und seiner Ersetzung durch die Adelsherrschaft. Aber wer wollte das späte Mittelalter Deutschlands nicht als das Zeitalter eines immer weiter fortschreitenden Niederganges der Königsmacht ansehen? Und in Italien wenigstens kommt es auch in dem jüngeren Weltalter zu ihrem Völligen Zusammenbruch. In England und in Frankreich bleibt sie bestehen; aber die parlamentarische Mitregierung, die der englische und zuweilen auch der französische Adel durchsetzen, die Zertrümmerung der Staatseinheit, die wenigstens der französische auf Jahrhunderte herbeiführt, beweisen die Stärke der Adelsströmung auch hier. Gleichzeitig aber vollzieht sich auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Umwälzung, des Übergangs von der Natural- zu einer gemischten Natural- und Geldwirtschaft, des Aufsteigens von Handel und Gewerbe, eine neue und in der Richtung vollkommen entgegengesetzte Bewegung: die Entstehung von Städtewesen und Bürgertum. Auch wo dem Namen nach schon früher Städte bestanden, wie Rom und Athen selbst beweisen, wie in Griechenland aber noch sehr häufig sonst sich
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Völker höchster Stufen • Vergleich der Anfänge
ereignet hat, sind sie doch erst jetzt aus großen, meist aus mehreren Gemeinden zusammengesetzten Marktflecken zu wirklichen Städten emporgewachsen. Zu diesem Vorgang fehlt es in der italienischen, deutschen, französischen, englischen Stadtgeschichte dieser Stufe nicht an den mannigfachsten Seitenstücken, insbesondere da, wo die Reste altrömischer Städte stehengeblieben waren. Aus diesem Emporkommen eines neuen Standes ergab sich sehr häufig als nächste Folge eine Reihe harter Ständekämpfe zwischen Adel und Bürgertum, die überall mit einer halben Niederlage des Adels endeten. Diese städtischen Ständekämpfe haben sich in dem jüngeren Weltalter, wo die. weiten und lockeren Gesamtstaaten viel Spielraum ließen, oft ohne jede Beziehung auf den Staat vollzogen und endeten dort meist mit der Befreiung der neuen, städtischen Gemeinwesen von jeder Adelsherrschaft. In den Stadtstaaten der Alten, wo Stadt und Staat in eines zusammenfielen, konnte davon nicht die Rede sein: der städtische Ständekampf war in Rom, wo er sich in mustergültiger Schärfe abgespielt hat, zugleich ein Kampf um die Staatsgewalt. Er endete auch hier mit einer halben Niederlage des Adels, die nur dadurch schnell genug in ihr Gegenteil verkehrt worden ist, daß der siegreiche Plebejerstand sich bald in Groß- und Kleinbürgertum spaltete, und daß das Großbürgertum sich anschickte, mit dem alten Adel sich zu einem neuen herrschenden Stande zusammenzuschließen. In Athen ist alles minder klar und begriffsmäßig vor sich gegangen; immerhin bedeutet auch hier die solonische Verfassung einen Ubergang zu nur noch halb adligen und schon halb bürgerlichen Staatseinrichtungen. Der leidende Dritte ist überall der Rest der weder einst zum Adel noch jetzt zuin Bürgertum emporgestiegenen Freien, der Bauernstand. Er wird in Rom und Athen vom Adel grausam bedrückt; Schuldknechtschaft und Bauernlegen sind die Plagen, an denen er am meisten zu leiden hat. Bei den germanischen Völkern kehrt ein ähnliches Bild wieder; nur daß die. Hörigkeit, in die der Bauer hier gebracht wird, noch fester ist und daher zu noch gewalttätigeren Gegenbewegungen führt. Das späte Mittelalter ist hier das klassische Alter von Bauernnot und Bauernkriegen,- nur haben diese Umsturzbewegungen, so blutig sie waren, nicht den mindesten Erfolg gehabt. Wahrscheinlich im inneren Zusammenhang mit dem Vordringen des Bürgertums vollzieht sich das des Staatsgedankens. Der Staat beginnt erst jetzt seinen schroffen, entscheidenden Kampf gegen Freiheit und Eigenwüchsigkeit des Einzelnen und der alten Stamm- und Orts- und Geschlechtergemeinschaften. In den beiden gradlinigsten und gesundesten Entwicklungen des älteren und des jüngeren Weltalters, in Rom und in England, vollzieht sich sein Vordringen am unmerkbarsten, gerade deshalb aber am wirksamsten. In Athen kommt es, wie
Städtetum • Innere Kämpfe • Baukunst, Dichtung, Glauben
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noch oft in Griechenland und im neueuropäischen Weltalter wieder in den ganz ähnlich geordneten italienischen Stadtstaaten, zu einer eigentümlichen Ubergangsform der Verfassungsgeschichte, zur Tyrannis. In ihr hat sich gewissermaßen der reine Staatsgedanke vom bürgerlichvolksherrschaftlichen abgespalten, ohne doch seine Herkunft zu verleugnen. Denn dieses Eintagskönigtum ist fast überall die Vorfrucht der Volksherrschaft; wichtiger freilich ist, daß es die Staatsallmacht so stark betont wie keine andere Verfassungsform je zuvor. Das Wiedererstarken der altangestammten Einzelherrschaft in dem spätmittelalterlichen Frankreich und England, in den deutschen Teilstaaten und die Schaffung von tausend neuen Werkzeugen und Waffen der Staatsgewalt entspricht diesem Vorgange durchaus* Der wesentlichste Unterschied der griechischen, der römischen und der germanisch-romanischen Staatsbildungen dieser Stufe, die geringe Ausdehnung jener im Vergleich zu den weiten Reichen dieser, hat sicherlich auch die wichtigste Scheidung der inneren Staatsgeschichte, den Zusammenbruch des alten Königtums dort und sein Fortbestehen hier herbeigeführt. Die Machtmittel selbst der schwächsten dieser Kronen, der deutschen, waren immer noch beträchtlicher als die eines griechischen Zwergkönigreichs. Trotzdem macht sich die Gleichartigkeit der gemeinsamen Entwicklungsstufe geltend, und zum selben Ergebnis führt sogar die äußere Staatsgeschichte. Auch jetzt noch — das ist das höchst bezeichnende Merkmal des späten Mittelalters in der Geschichte des zwischenstaatlichen Verhaltens der neueuropäischen Staatengesellschaft — kommt es nicht zu allzuvielen kriegerischen oder friedlichen Beziehungen zwischen den großen Reichen. Sie sind etwas häufiger als im frühen Mittelalter, aber im Vergleich zur Neueren Zeit noch ganz selten und bis auf wenige Ausnahmen sehr vorübergehender Natur. Dagegen ist im Innern dieser großen Becken alles voll von Unruhe und Gärung, von örtlichen und Gebietskämpfen. Ganz ähnlich in dem alten Italien, dem alten Griechenland dieser Stufe: noch kein einziger Gesamtkrieg, wohl aber eine Fülle von Gebietsfehden, die in Rom, Sparta und zuletzt auch in Athen freilich schon die keimende Neigung zu Unternehmungen größeren Maßstabes aufzeigen. Das geistige Leben dieser Entwicklungsstufe wird, um von der auffälligsten Ähnlichkeit zuerst zu reden, in der griechischen Reihe im selben Maße von Baukunst, Dichtung und Glaubensbewegung beherrscht wie im neuen Europa. Die dorische und ionische Bauweise dort, die gotische hier sind das wesentlichste Erzeugnis der geistigen
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Völker höchster Stufen • Vergleich der Anfänge
Schaffenskraft des Zeitalters in beiden Fällen. Die nordostfranzösischdeutsche erzählende Heldendichtung des neuen Weltalters weist in ihren ersten Anfängen noch viel von der frühmittelalterlichen und, daß ich so sage, homerischen Breite und Schilderungslust auf. Aber vieles Tiefste in ihr bei Chrestien de Troyes und Gottfried von Straßburg und vollends bei dem Meister des hohen Mittelalters, bei Dante, vieles in. den besten Dichtungen der provenzalischen Troubadoure und Walthers von der Vogelweide und in Dantes und Petrarcas Liedern ist ebenso voll von den Entdeckungen neuer Lebens- und Liebeskräfte, ebenso ganz in das eigene Ich zurückgewandt wie im älteren Weltalter die Gedichte der großen Ionier. Jedesmal war die neue Kunst zugleich eine Regung neuen, tieferen, leidenschaftlicheren Erlebens, jedesmal zitterte in ihr die vom Dichter wachgeküßte Seele. Die Vita nuova ist ebensosehr ein Bekenntnis des zu sich selbst gekommenen Ichs wie die Lieder der Sappho und des Archilochos. Die überzeugendsten Beweise für die Richtigkeit all solchen Vergleichens bietet, der Anblick des Glaubenslebens. Das der Hellenen ist durch Abgründe getrennt von dem der germanischen Völker, die das Christentum zwar nicht erzeugt haben, nie auch erzeugt haben würden, ihm aber doch zugefallen sind. Und dennoch zeigen sich gerade auf dieser Stufe bei Griechen wie bei Germanen Glaubensbewegungen, über deren Richtungsähnlichkeit man nicht im Zweifel bleiben kann, Die Mysterien der Orphiker und die Mystik von Franziskus bis zu Tauler sind in Form und Inhalt ihrer Gefühlssteigerungen und ihrer Gedanken einander wahlverwandt. Nie haben Hellenen so schmerzensselige Vorstellungen gehabt, wie da sie die Gestalt des Bacchos zu einem leidenden Gott umschufen; und auch die Germanen, die ehedem den fremden, ihnen von der überlegenen griechisch-römischen Kultur übermittelten Glauben nur kindhaft unselbständig hingenommen hatten, haben gerade damals in dem wunderbar schwimmenden Ineinander höchster Herzenserregung und ganz mächtiger, aber auch ganz unbestimmter Gottesgedanken in der Mystik die erste Form gläubiger Erhebung gefunden, die sie selbst geprägt hatten. Neben dieser innersten und auffälligsten Ähnlichkeit verschwindet eine andere, leisere: der erste Aufschwung forschender, denkender Weltbetrachtung. Hier wird durch das Nacheinander beider Weltalter und durch die Abhängigkeit des jüngeren vom älteren das Vergleichsbild verschoben. Diese Fehlerquelle ist auch sonst vielfach zu berücksichtigen. Die germanische Wissenschaft, im Besitz des reichen Erbes, das sie von den reifsten und letzten Stufen griechischer Geistesentwicklung überkommen hatte, scheint im späteren Mittelalter weiter
Forschung • Neuzeitliche Steigerung des Staatsgedankens
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fortgeschritten zu sein als die griechische gleicher Stufe, wenn man den beiderseitigen Besitzstand in Betracht, zieht. In Wahrheit steht es umgekehrt: die Leistung der ältesten ionischen Denker war unvergleichlich viel größer; aber immerhin ist das hohe Wollen der Scholastik der Geistesgeschichte des Germanentums in Anrechnung zu bringen als der erste Versuch, sich im Gedanken der Welt zu bemächtigen. Daß er so schülerhaft war, ist vielleicht gerade seiner Abhängigkeit von dem Vorbilde der Alten zuzuschreiben; ohne diese würde er minder frühreif, aber vielleicht auch eigenwüchsiger und insofern als Kraftbezeugung stärker ausgefallen sein.
Zweites Stück FORTSETZUNG DES VERGLEICHS DER ALT- UND DER NEUEUROPÄISCHEN GESCHICHTE Die Neue Zeit hebt sich in allen drei Geschichtsreihen am sichersten und schärfsten in Hinsicht auf die staatliche Form der gesellschaftlichen Entwicklung von ihrer Vorgängerin ab. Sie ist, um es mit einem Worte zu sagen, die Stufe der stärksten Steigerung des Staatsgedankens nach innen wie nach außen. Die Geschichte des äußeren Verhaltens der jetzt erst recht staatgewordenen Völker zeigt in allen drei Fällen ein bezeichnendes Gepräge und zugleich eine offensichtliche Ähnlichkeit. Der bis dahin auffälligste Unterschied zwischen der griechischen und der römischen Staatsgeschichte auf der einen, der germanisch-romanischen auf der anderen Seite fällt schon zu Beginn dieses Zeitalters fort: die griechischen Stadt- und Kleingebietsstaaten fließen zu einer zwar nicht staatsrechtlich gefestigten, wohl aber tatsächlich sehr wirksamen Volkseinheit zusammen; Rom bemächtigt sich in den erstpn Jahrzehnten des Zeitalters mit raschen Schlägen fast ganz Italiens. Beide Länder sind damit zu den Großstaatsverhältnissen herangewachsen, die die germanisch-romanischen Flächenstaaten schon in früheren Entwicklungsaitern besessen haben. Da die Staatsgebilde des westasiatisch-nordafrikanischen Orients es auch außerhalb dieser erweiterten Bereiche nicht an Reibungsflächen fehlen ließen, bietet diese Stufe in der griechischen wie in der römischen Geschichte dasselbe ihr ganz eigentümliche Bild außenstaatlichen Verhaltens dar, das auch die germanisch-romanische Neuzeit kennzeichnet, nämlich eine übermächtige, angreifend und erobernd
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Völker höchster Stufen • Fortsetzung des Vergleichs
vorgehende Anspannung des Staatsgedankens nach außen. Griechenland hat sich dazu zuerst nur unter dem Eindruck eines auswärtigen Einfalls aufgeschwungen; aber daß es dann sogleich selbst zum Angriff vorging, daß es später, wieder zerfallend, seine inneren Gegensätze mit so maßloser Wut und Heftigkeit bis zum Verbluten ausfocht, ist bezeichnend. Der Kampf zwischen Sparta und Athen, die beide Großstaatsausdehnung und mehr noch Großstaatskraft gewonnen hatten, fällt in dieselbe Linie, obgleich er nicht auswärtigen Feinden gilt; daß der Peloponnesische Krieg mit den Gebietsfehden des späteren Mittelalters nichts gemein hat, braucht nicht umständlich erwiesen zu werden. Die gewaltige Folgerichtigkeit, die der römischen Entwicklung von jeher eigentümlich war, hat in ihr den artvertretendeft Fall der auswärtigen Staatskunst dieser Stufe sich entfalten lassen: die Eroberung Italiens, die Punischen Kriege und die Schöpfung eines Staates, der schon das Mittelmeer halb umklammert, sind die Ergebnisse dieses Zeitalters. In der germanisch-romanischen Geschichte aber bedarf es nur einer einzigen geschichtsstatistischen Feststellung, um das Gepräge dieses Zeitalters als eines zu maßlosem auswärtigen Umsichgreifen des Staatsgedankens geneigten zu erkennen: man Zähle die Staatskriege zwischen 900 und 1150, dann die von 1250 bis 1500 und die von 1500 bis 1750. Es sind jedesmal zweieinhalb Jahrhunderte und es sind die Zeiträume, die abgerundet dem frühen, dem späten Mittelalter und der Neuzeit entsprechen. Man wird finden, daß es in dem ersten Vierteljahrtausend fast keine, in dem zweiten nur sehr wenige und in dem letzten ungemein viele-— maii ist versucht, zu sagen: kaum je abreißende — Staatskriege gab. Die innere Staatsgeschichte zeigt einige Verschiedenheiten der Verfassungsfonn; dringt man aber zum Kern vor, so ergibt sich hier fast dieselbe Ähnlichkeit. Kein Wunder, denn es handelt sich um dieselbe Grundkraft, nämlich das Ubermächtigwerden des Staatssinnes. Zu all den Verallgemeinerungen, aus denen man sich das Gesamtbild einer in Wahrheit nie dagewesenen Antike aufgebaut hat, gehört auch die Fabel von der Kraft ihres Staatsgedankens. In der Tat ist er in der Verfassungsgeschichte der Römer und der Griechen erst auf dieser Stufe zu voller Röife gekommen: in Rom, wie anzunehmen, mit größerer Folgerichtigkeit. Wie auffällig, daß der Ständekampf diese zwei Jahrhunderte über völlig schweigt 1 Die neue, durch volksherrschaitliehe Einrichtungen halb maskierte Adelsherrschaft leitet den Staat mit unumschränkter Vollmacht, mit wachsender Ausbildung des Amts- und Heereswesens und unter Auflegung der härtesten Opfer an Gut und Blut. Fast ganz ähnlich in Athen, obwohl die minder in Zucht gehaltene Leidenschaftlichkeit der Griechen es zu innerer Ruhe nicht kommen läßt. Die Mischung von Adelsmacht mit volksherrschaftlichen
Innere Staatsgeschichte • Reifezeit des geistigen Lebens
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Schein- und Fassadenzugeständnissen weicht nicht so gar weit von der römischen Entwicklung ab: alle großen Führer von Staat und Heer in den Perserkriegen gehören dem alten Adel an, und auch in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts war es nicht viel anders. Alle volksherrschaftlichen Neuerungen haben jedenfalls auch hier nicht verhindert, daß die straffste Anspannung des Staatsgedankens, die Ausbildung der mannigfachsten neuen Werkzeuge des Gemeinwesens für Krieg und Frieden und ein äußerstes Maß von Hingebung der Bürger an den Staat die entscheidenden Züge des Bildes liefern. Gewiß, in fast allen Staaten der germanisch-romanischen Neuzeit wich die Verfassungsform von der griechisch-römischer Freistaaten weit ab; hier war fast überall die Königsmacht an Stelle des Adels oder einer adlig geleiteten Volksherrschaft der Träger des neuen Staatsgedankens, und sie legte den Bürgern als Zwang auf, was sie in Rom und in Athen in freiwilliger Huldigung darbrachten. Aber erstens bieten England und mancher kleinere Adels- oder Volksstaat Ausnahmen, die in hohem Maße an Rom erinnern: der regierende Adel des Venedig von 1500 oder des England von 1750 weist diese Ähnlichkeit in überraschendem Maße auf. Und dann ist Zweck und Ziel des ganzen Treibens doch auch in den neuen, unumschränkter regierten Königsherrschaften des Festlandes derselbe. Schon die äußeren Merkmale, die Vergrößerung, Gliederung,- Verfeinerung und Steigerung des Beamten- und Heerwesens, sind dieselben, nur noch folgerichtiger zu berufsmäßiger Absonderung und Arbeitsteilung getrieben wie etwa in dem perikleischen Athen, dem Aristoteles sein ungeheures Beamtenheer so scharf nachrechnet. Auch die noch fast tiefer eingreifende Durchdringung des ganzen Lebens und aller Bestrebungen des Einzelnen mit Staatsgedanken ist überall in den Graden verschieden, in der Grundrichtung dieselbe. Die Klassengeschichte dieser Stufe ist in allen drei Entwicklungsreihen minder belebt und erregt als auf irgendeiner früheren oder späteren. Eine grundstürzende Verschiebung des Schwergewichts wenigstens ist nirgends eingetreten. Das Bürgertum wächst überall; aber zu wirklich tiefgreifenden Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem immer noch vorwiegenden Adel kommt es nirgends. Die englischen Bürgerkriege, an die man zu denken geneigt ist, sind kein Klassenkampf. Das Wirtschaftsleben aber weist nun in den drei Entwicklungen ein stetiges Ansteigen der Geldwirtschaft, ein Aufblühen von Handel und Schiffahrt und die ersten Anfänge des Großbetriebes im Gewerbe auf. In den Bezirken des geistigen Lebens ist dieser Zeitabschnitt überall bei Griechen und Germanen — nur wieder nicht bei den barbarischen Römern—dieZeit der Reife. Die reichsteund zugleich leidenschaftlichste 5
Der Stufenbau der Weltgeschichte
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Völker höchster Stufen • Fortsetzung des Vergleichs
aller Dichtgattungen, das Schauspiel, feiert jetzt in der Spanne zwischen Äschylos und Aristophanes, zwischen Shakespeare und dem jungen Goethe seine höchsten Triumphe. Die innere Entwicklungsrichtung ist eine ähnliche, insofern sie von stilstarker zur Wirklichkeitskunst führt. Die letzte Stufe, auf der die griechische Bühnenkunst anlangt, die in sich zerfallene Seelenmalerei des Euripides und die beißende Satire des Aristophanes, hat in ihrer Annäherung an die Wirklichkeit, die innere wie die äußere, und in ihrer sehr starken Schilderungskraft viel Wahlverwandtschaft mit der Stoffkunst der Zeit zwischen 1754 und 1789, mit dem Realismus Rousseaus und des Werther. Die bildende Kunst erlaubt nur sehr viel vorsichtigere Vergleiche, denn eben durch das griechische Vorbild waren die Künstler des germanischen Weltalters gleicher Stufe unvergleichlich weit gefördert. In diesem Wettlauf hat jene Beeinflussung die Bedeutung einer Vorgabe von oft mehr als einem ganzen Zeitalter gehabt. Wo der Einfluß sich nicht allzu stark geltend gemacht hat, wie in der Geschichte der Weltanschauung, stellt sich das Verhältnis gleichen Schritthaltens wieder her: bei Griechen wie bei Germanen ist dieses Zeitalter das Zeitalter der hochfliegenden, bauenden Welt- und Lebensweisheit. Und auch hier ist die Entwicklungsrichtung gemeinsam von den Weltmärchen der Naturphilosophen und Leibnizens, den AllGeistgedanken des Anaxagoras und Spinozas zu der nüchternen Beobachtung der Wirklichkeit bei den Sophisten und den großen Engländern und von dort wieder zu den höchsten Höhen phantasiebeschwingter und doch begriffsstarker Erkenntnis bei Piaton und Kant. Aus der sonst um Sternweiten verschiedenen Glaubensentwicklung sei nur auf den einen gemeinsamen Punkt hingewiesen: auf das gegen Ende des Zeitalters bei den Griechen wie im neuen Europa gleichmäßig nachzuweisende Erkalten des alten Glaubens. In beiden Weltaltern wird der warme Herzschlag, die reine Gefühlsmäßigkeit des Glaubens durch Kühle und Verstandesmäßigkeit abgelöst: die Sophistik und die Renaissance zu Anfang, Sokrates und die Aufklärung zu Ausgang des Zeitalters stehen je am gleichen Ort. Doch an und für sich ausschlaggebend sind solche Einzelheiten nicht. Maßgebend ist und bleibt die gesellschaftlich-staatliche Entwicklung deshalb, weil sie sich in der neueuropäischen Geschichte im wesentlichen unabhängig von der alten vollzogen hat. Für sie aber ist auch auf .der jüngsten Entwicklungsstufe, in der Neuesten Zeit der germanisch-romanischen Geschichte, ein so starkes Maß von Gemeinsamkeiten mit der Geschichte der Alten nachzuweisen, daß man auch für sie noch von einem Parallelismus zu reden berechtigt ist. Die Verfassungsgeschichte lehrt es zunächst am deutlichsten. Das Jahrhundert der Revolutionen, das in Rom dies Zeitalter eröffnet, hat mit der
Umsturzbewegungen • Imperialismus und Demokratismus
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französischen Geschichte des gleichen Entwicklungsabschnittes die aufiälligste Ähnlichkeit: volksherrschaftliche und militärisch-imperialistische Umsturzbewegungen in buntem Wechsel sind das Zeichen der Zeit hier wie dort. Die Verbindung dieser zwei so entgegengesetzten Strebungen des Verfassungsiebens bietet überhaupt das Losungswort zur Erkenntnis dieses Zeitalters. In der hellenischen Geschichte, die sich jetzt zur hellenistischen erweitert, hält sich im vierten Jahrhundert noch die alte, jetzt ganz fett, friedensselig und bourgeois gewordene Volksherrschaft, die nun der frühen adligen Zusätze sich allmählich entkleidet. Eubulos, ein großer Finanzmann, der letzte große Staatslenker Athens: das ist bezeichnend. Dann greift der Imperialismus um sich, leise schon in Griechenland selbst — man gedenke der zweiten syrakusischen Tyrannis —, mit vollem Erfolg, als das Preußen der Griechenweit, als das halbbarbarische Mazedonien sich zum Führer und Alleinherrscher aufwirft. Die Volksherrschaft stirbt nicht aus, die alten Freistaaten von Hellas behalten sie bei; aber sie führen ein gedrücktes, überschattetes, gänzlich glanzloses Dasein unter der Mazedonierherrschaft. Das schnell geschaffene Weltreich zerspaltet sich ebenso rasch, aber für die geschichtliche Betrachtung bleibt es doch das größte Beispiel der zur Welteroberung gesteigerten Staatsausdehnung dieser Stufe, und die aus ihm hervorgegangenen Teilstaaten sind immer noch ungeheuer weite unumschränkte Reiche mit einer stets aufgeregten Weltpolitik. Von einem Imperialismus des inneren Zustandes — das heißt: von der eigentümlichen Mischung absolutistischer und demokratischer Instinkte, die diese modernste Form der Einzelherrschaft auszeichnet •— kann man im Hinblick auf sie nur deshalb sprechen, weil unter den Kronen und einem übermächtigen Beamten- und Heerwesen eine ganz bürgerliche und im gesellschaftlichen Sinne demokratisierte Gesellschaft ihr Wesen treibt. Das Rom der Cäsaren und ihrer Vorläufer seit Tiberius Gracchus hatte nach außen im Welterobern dauerhafteren Erfolg und hat im Inneren den Typus noch schärfer herausgebildet. Die ganz undynastische, fast unmonarchische Unerblichkeit der höchsten Staatsgewalt., der auffälligste, wichtigste, wenn auch von der mikroskopierenden Forschung unserer Tage am wenigsten beachtete Punkt im gesamten Staatsrecht der Kaiserzeit, zeigt sehr deutlich, daß dieser Imperialismus mit mehr als einem Tropfen demokratischen Öls gesalbt war. Die Übermacht des Staatsapparats, militärischer und bürokratischer Einrichtungen ist gegen Ende der Kaiserzeit noch stärker herausgetrieben. Die Ähnlichkeit unserer Neuesten Zeit mit diesen Vorgängerinnen auf der gleichen Entwicklungsstufe braucht nur in leisen Strichen angedeutet zu werden, um sie erweislich zu machen. Imperialismus nach 5a
Der Stufenbau der Weltgeschichte
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Völker höchster Stufen • Fortsetzung des Vergleichs
innen und nach außen war die Losung des beginnenden zwanzigsten noch mehr als des neunzehnten Jahrhunderts. Kolonisieren, Erobern nach außen, militärisch-bürokratische Ausbildung der Staatsgewalt nach innen war selbst im Freistaat Frankreich, im parlamentarischen England das Ziel einer sehr starken Bewegung, von Rußland, Deutschland und anderen Staaten ganz zu schweigen. Selbst die übelste Verfallserscheinung des spätkaiserlichen Rom, die Heraufführung eines künstlichen Mittelalters durch Verzünftelung und Vererblichung ganzer Berufe, das Hinstreben zur Schaffung eines hörigen, an die Scholle gefesselten Bauernstandes blieben in unseren Tagen nicht ganz ohne Seitenstücke. Wesentliche Unterschiede zeigt eher die entgegengesetzte Strömung, der Demokratismus —, doch auch nur Unterschiede der Stärke, nicht der Richtung. Den römischen Großstadtpöbel unserem vierten Stande zu vergleichen, wird niemand bekommen dürfen. Doch gleicht gewiß das Großbürgertum dem hellenistischen und spätrömischen ganz auffällig in seiner Klassenhaltung wie in seinen wirtschaftlichen Erfolgen. Großhandel und Schiffahrt haben in Alexandrien zur Zeit der Ptolemäer, in Rom zur Zeit der Cäsaren nicht so riesenhafte, aber sonst ganz gleich geartete Blüten getrieben wie in London, Hamburg oder New York. Auch unser Geldgeschäft und Großgewerbe haben mehr als einen Vorgänger für ihre Wirtschaftsformen dort zu suchen. Sozialistisch-kommunistische Folgerungen hat auf dem Papier Wenigstens auch Griechenland aus dem Gedanken der Volksherrschaft gezogen; der Tag, an dem in Argos fünfzehnhundert Reiche mit Knütteln erschlagen wurden, und die römischen Sklavenkriege beweisen, daß man zuweilen* auch zu sehr nachdrücklicher Tat überging. Und wenn das soviel schlechtere Gedeihen des griechischen und römischen Proletariats, verglichen mit dem modernen, von dem scharfsinnigsten der Anwälte des historischen Materialismus, von Franz Oppenheimer, auf die Fesselung des vierten Standes durch die Sklaverei zurückgeführt wird, so ist das wohl richtig. Nur wird damit durchaus nicht die Frage nach Lebenskraft und Kräfteverfall der Völker und ganzer Völkergruppen aufgehoben. Denn lebenskräftigere Nationen hätten sich wohl auch von diesem aus Urzeit und Altertum herstammenden Erbstück unreifer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung endlich befreien müssen. Jedenfalls ist festzuhalten, daß auch hier die alt- und die neueuropäische Entwicklung wohl Grad-, aber nicht Richtungsunterschiede aufweist. Das geistige Schaffen dieser Entwicklungsstufe zeigt wieder die schlagendsten Ähnlichkeiten in beiden Kulturreihen. Am auffälligsten ist
Klassenkampf • Geist • Grenzen der Vergleichbarkeit
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in der Wissenschaftsgeschichte: das überwiegen beschreibender und erfahrungsmäßiger Forschungsweisen, das Blühen der Einzelwissenschaften und die verhältnismäßig geringere Beachtung, die man der ehemals fast allein gepflegten Lebensweisheit und Daseinsforschung gönnt, zeichnen die hellenistisch-alexandrinische Zeit ganz ebenso aus wie das neunzehnte Jahrhundert. Die Erfolge der griechischen Naturwissenschaft, an sich große, waren viel geringer als die der modernen, der Gesamtanblick aber ist ein durchaus ähnlicher. In den Bezirken der geschichtlichen Forschungszweige ist das Übergewicht einer sehr genau, aber im höchsten Sinne ganz unselbstherrlich - stoffnah verfahrenden Philologie in beiden Fällen gleich. Die bildende Kunst ist in diesem Zeitalter in Alexandrien zu einem so rücksichtslosen Naturalismus vorgedrungen, daß der Vergleich mit moderner Geistesrichtung sehr naheliegt. Nebenher ging eine historische Kunstübung, die Sich von unserem Klassizismus und seinen bis auf den heutigen Tag noch nicht verhallten, immer dünneren und schwächeren Nachklängen nur durch größere^ Können unterscheidet. Das herrlichste Werk hellenistischer Kunst, die Aphrodite von Melos, ist solchem Nachahmungseifer entsprungen, und der Altar von Pergamon mag sich zu Skopas verhalten wie unser heutiges, freilich unvergleichlich schlechteres Neubarock in Bildnerei und Baukunst zu Michelangelo. Schließlich ist die seltsame Wiederaufwärtsbewegung des Glaubens, in der sich das späteste Heidentum und das neue, vom Orient eingeführte Christentum so auffällig begegneten, die also nicht allein von der neuen Verkündung ausgegangen ist, sondern ein Erzeugnis des Geistes dieser Zeit gewesen sein muß, wiederum nicht ohne Seitenstücke in unserer Neuesten Zeit. Eine erschöpfende Betrachtung des älteren und des neueren Weltalters der europäischen Geschichte kann sich nicht auf die Feststellung der Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten beider Reihen beschränken. Ihre zweite Aufgabe wird immer sein, die tiefen und zarten Besonderheiten zu erkennen, die jeder von beiden eigentümlich sind, und voh denen hier mit voller Absicht niemals die Rede war. Aber auch dieses Amtes wird die Geschichtsforschung nur dann mit Erfolg warten können, wenn sie durch jene Vergleichung erst das gemeinsame Gut ausgeschieden und vor allem durch Herstellung solchen Baues klar voneinander unterschiedener Entwicklungsstufen die Teilstrecken der Kulturwege herausgefunden hat, die in Hinsicht auf Ähnlichkeit und Unähnlichkeit überhaupt verglichen werden dürfen, 5a*
Fünfter Abschnitt: DER Z U S A M M E N S C H L U S S DER ZUR
MENSCHHEIT
GESCHICHTSEINHEIT
Erstes Stück DIE ERWEITERUNG DES GERMANISCH-ROMANISCHEN ZUM EUROPÄISCHEN VÖLKERKREISE Eine der lebenswichtigsten Abweichungen zwischen der alt- und der neueuropäischen Entwicklung findet sich in der Ordnung der außer-, der zwischenstaatlichen Verhältnisse innerhalb der Völkergesellschaft. Die Völkergruppe der germanischen oder, wie die Aufsaugung der alteingesessenen Völker im Westen und Süden Europas es mit sich brachte, der germanisch-romanischen Völker, war ursprünglich nicht größer als die griechisch-römische Gruppe, wie sie sich seit der Einbeziehung Griechenlands in den Bereich der römischen Macht gebildet hatte, und man mag den Gang ihrer Entwicklung, die ja zugleich eine beständige Erweiterung war, noch lange verfolgen, ohne daß ihr Umfang den des Römischen Reiches auf dem Gipfel seiner Ausdehnung übertrifft. Ein Bauunterschied aber ist sehr frühzeitig gegeben. Sobald das dämonisch lockende Vorbild des römischen Kaiserreichs, das noch dem Großkönig der Franken vor Augen gestanden hatte, seine seelische Macht verlor, gaben sich die vier großen Volksstaaten, die Karl unter dem Joch seiner cäsarischen Herrschaft vereinigt hatte, auseinander. Aber daß so eine Mehrzahl von Staaten nebeneinander einen gewissen Grad von Lebensgemeinschaft hatte, wurde noch nicht sogleich eine gesellschaftsgeschichtlich wichtige Tatsache. Denn diese Anzahl der germanisch - romanischen Staaten, durch die angelsächsischen und skandinavischen Reiche vermehrt, war zwar gewiß eine Völkergesell' schaft, d. h. sie war eine Gesittungs-, eine Geistes-, am meisten und verbundensten eine Glaubensgemeinschaft. Aber sie war noch nicht eine Staatengesellschaft; dazu war vornehmlich im frühen, aber auch noch im späten Mittelalter die Zahl der Berührungen, der freundlichen wie der feindlichen, viel zu gering. Auch dies war ein Stufenergebnis:
Bildung und Wachstum der neueuropäischen Staatengesellschaft
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alle diese Jahrhunderte waren erfüllt von Krieg und Kriegsgeschrei; aber in ihnen waren die Völker so sehr mit sich selbst, ihren Stände-, Gebiets-, Stadt- und örtlichen Fehden beschäftigt, daß ihnen nicht Sinn noch Muße für Staatskriege übrigblieb. Mittelalter haben kein starkes Staatsgefühl. Auch als die Neuere Zeit dies alles änderte, als die Zahl der Staatskriege fast bis zur Ununterbrochenheit zunahm und mit den feindlichen sich die freundlichen Berührungen mehrten, die zu Bündnis und Interessengemeinschaft führten, hat sich zwar eine Staatengeseil-' Schaft im technischen Sinne des Wortes gebildet, sie hat sich auch weiter und weiter ausgedehnt, vor allem durch Siedlung über See? aber an Umfang hat sie noch schwerlich das Römische Reich übertroffen. Dennoch ist schon jetzt eine sehr wesentliche Baueigenschaft zu bemerken, für die es in der römischen wie in der griechischen Entwicklung des gleichen Stufenalters nur keimhafte Seitenstücke gibt: sie besteht in dem Nebeneinander von Staaten in einem weiten Verband beständig sich berührender Staatenglieder, die doch ihrerseits unabhängig sind. Rom zur Zeit der Punischen Kriege, Griechenland zur Zeit der Perserkriege zeigen einige Anläufe zu solcher Kombination und Konstellation, aber nur Anläufe. Der neueuropäische Völkerkreis aber erweitert sich schon in diesem Stufenalter, indem jetzt zuerst zu seinen germanisch-romanischen Urmitgliedern solche anderen Blutes von außen herzutreten: vom fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert an Tschechen, Südslawen und Madjaren, alle drei freilich einem Sonderstaat, dem habsburgischen Österreich, einverleibt, vom sechzehnten an Polen, vom achtzehnten an Russen. Namentlich die Einbeziehung Rußlands war eine so enge, daß das neue Glied der Staatengesellschaft schon sehr bald nach seiner Aufnahme dem regierenden Staatenadel der Großmächte, bestehend aus Frankreich, dem Kaiser als Herrn von Österreich, England und seit 1745 Preußen, angehörte. Polen dagegen hat von Anfang der neuen Verbindung an einen mehr leidenden als tätigen Anteil an der Geschichte Europas genommen, hat auch seine Beziehungen nach Mittelalterweise mehr in Einzelberührungen und nachbarlichen Fehden betätigt, als daß es sich dem Körper der west- und mitteleuropäischen Staatengesellschaft wirklich tief eingegliedert hätte. Tschechen, Kroaten, Ungarn sind vollends mehr Objekte als Subjekte der europäischen Staatskunst gewesen: Innerhalb des österreichischen Staatsverbandes, in den sie auf dem unblutigen Wege von Erbgang und Fürstenheirat eingereiht worden sind, haben nur die Madjaren ein etwas höheres Maß von geschichtlicher Selbständigkeit gerettet.
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Zusammenschluß zur Geschiditseinheit • Erweiterung des Kreises
Außer der Nachbarschaft der endgültigen Siedlungsländer der Slawen zu den Ostgrenzen des germanischen Völkerkreises wirkte sich hier auch ihre Stammverwandtschaft aus. Durch das gemeinsame - Blut dieser letzten Heersäule des indogermanischen Völkerzuges nach Europa und durch mancherlei gemeinsame Güter an gesellschaftlicher Gesittung und geistiger Entwicklung war hier die Möglichkeit nahen Anschlusses bis zu einem bestimmten Grade vorbereitet. Schon die Ordnungen der Urzeitgesellschaft bezeugen diese Blutnähe. Noch in den Anfängen der geschichtlich beleuchteten Zeit, in den Zeitabschnitten der Ansiedlung, lebten in Rußland die Sippenverbände in den endgültigen Sitzen zusammen: es lebte ein jeder bei seiner Sippe und an seinem Orte, wie es die „Geschichte vergangener Jahre", die große Chronik dieser Zeiten, so anschaulich sagt. Verörtlichte Blutsverbände also ergeben sich, Geschlechtshäuptlinge an ihrer Spitze und, was für die vergleichende Forschung das Kostbarste ist, auch die stirps regia der Germanen wiederholt sich hier. Jene ehrwürdige Chronik mit dem schönen Namen berichtet, daß nach dem Tode Kijs, des Fürsten der Poljanen, seine Herrschaft im Erbgang bei seinem Geschlecht, also einem regierenden Blutsverband, verblieb. Dieser Zustand, der vom neunten bis zum elften Jahrhundert überliefert ist, entspricht der ältesten Nachricht der Byzantiner über die Russen des siebenten und achten Jahrhunderts, in der auch von Geschlechter- und Völkerschaftsversammlungen die Rede ist. Auch die Fliehburgen, die Herrentürme dienten hier, wie in Schottland, in Böhmen, als Zufluchtsstätten aller Geschlechtsgenossen in Zeiten der Not, nur daß es schlichte Umwallungen waren, nicht hohe Türme oder wirkliche feste Burgen. Den Weg zu immer weiter ausgebreiteter, im Innern immer stärker ausgebauter Königsherrschaft -— nur auf dem Umweg über lange Zeiten von Kleinfürstentum — hat die russische Entwicklung mit der sichersten Entschlossenheit verfolgt; doch ist sie nie zu einem Mittelalter gelangt. Rußland hat die Staatsform des alten, starren, selbstherrlichen Königtums in all jenen Jahrhunderten nie abschütteln können, und wenn es nicht nur, wie selbstverständlich, in seiner äußeren sondern fast ebensosehr in seiner inneren Staatsgeschichte durch die auf höhere Stufen gelangten Glieder der germanisch-romanischen Völkergruppe beeinflußt worden ist, so hat es doch eigentlich nur aus den seiner überstarken Königsherrschaft wahlverwandten Entwicklungsaitern der westeuropäischen Verfassungsgeschichte Anregungen entnommen: so aus dem achtzehnten JahYhundert, der Zeit des unumschränkten Königtums, so aus dem von Napoleon heraufqeführten, vom Imperialismus unserer Tage abgelösten Kaiser- und Weltreichsgedanken des neunzehnten Jahrhunderts. Die Strömungen der
Stufenentwicklung Rußlands • Beeinflussungen • Polen
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Adelsherrschaft des Mittelalters, der Volksherrschaft der beginnenden und des Sozialismus der reifenden Neuesten Zeiten hatten seine Entwicklung bis 1905 nicht in ein neues Stufenalter vorwärts zu führen vermocht. Daß geistig in vielen Stücken ein Anschluß an die stufenhöhere Entwicklung des germanisch-romanischen Westens erreicht wurde, kann hieran nicht irre machen; solche Bewirkungen finden sich auch in der Geschichte der außereuropäischen Völker. Es war 1904 leicht Vorauszusagen, daß diese Beeinflussungen letztlich zu einer raschen Aufwärtsbewegung Rußlands führen würden, zu einem Uberspringen vielleicht gar mehrerer Stufen, wofür es an einem alten und erlauchten Beispiel nicht fehlt: Mazedonien hat sich in seiner Verbindung mit Griechenland zu den Zeiten Philipps und Alexanders in einem großen Aufschwung von der Stufe des Altertumskönigtums zu der des Kaiser- und Weltxeichsgedankens der Neuesten Zeit erhoben. Bis 1905 aber bietet Rußland das Gesamtbild eines Übergangszustandes, der es im geistigen Leben schon fast ganz in die Neueste Zeit der germanischen Völkergruppe einbezogen erscheinen läßt, während sein Staat von ihr nur die Werkzeuge entliehen, im Kern aber das Wesen einer Einzelherrschaft, wie.sie damals nur in der Türkei und in Asien fortbestand, beibehalten hat. Wie stark dieser Kern seines Wesens bis zum Ausgang des Zarismus war, zeigte die uns Westländer so sehr abschrekkende Brutalität seiner Regierungsweise, die zu schlechthin orientalisch-despotischen Formen der Unterdrückung mißliebiger Strömungen im Volk, zu ebenso gewaltsamen höfischen wie volksmäßigen Gegenstößen gegen verhaßte Herrscher führte. Deutlich wurde diese Gewalt auch in dem Einfluß, den Rußland auf die Völker des mittleren, wenn nicht auch des westlichen Europa ausübte. Wie ein bleiernes Schwergewicht hängte es sich an die Nachbarn. Noch jede beim Alten beharrende oder gar rückwärts strebende Regierungsweise bei ihnen hat ihren starken Rückhalt in Rußland gefunden. Dies Verhältnis läßt sich nicht besser vergleichen als mit der Anziehungskraft, die ein sehr großer Planet auf seine minder gewichtigen Nachbarn ausübt. Die auf ererbter Macht und auf den Zuständen viel früherer Zeiten beruhenden Gewalten der germanisch-romanischen Länder wußten sehr wohl, warum sie die archaische Verfassungsform Rußlands unterstützten; es ist der gleiche Grund, der überall die Klassen und Parteien mit Zielen neueren Ursprungs zu ihrem abgründigen Haß gegen das Zarentum bewegt hat. Die Kluft zwischen den Athenern des fünften Jahrhunderts und dem persischen GroBkönig war nicht größer, sondern eher geringer. Polen bot dazu ein eigentümliches Seitenstück, denn es hatte zwar schon seit langem die Altertumsstufe überwunden, war aber bis zum
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Zusammenschluß zur Geschichtseinheit • Der Weltvölkerkreis
Ende seiner staatlichen Selbständigkeit nicht über die nächsthöhere Stufe hinaus gediehen. Gibt es doch kaum einen so ausgeprägten Fall vollkommener mittelalterlicher Adelsherrschaft wie die polnische Verfassung dicht vor dem Zusammenbruch des Reichs. Die Versuche der Polen, die alte Selbständigkeit wieder zu erringen, wurden vielleicht durch nichts so sehr gehemmt wie durch einen Klassenzustand, der bis in die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts über seinem geistig und seelisch noch immer gedrückten Bauerntum nur einen ehrgeizigen, aber noch immer nicht durch wirklichen Staatssinn geschulten Adel aufwies, doch ein kräftiges Bürgertum erst in jüngster Vergangenheit hat erstehen lassen. Daß die Polen seit geraumer Zeit mit ihrem geistigen Schaffen fast völlig in den Bannkreis der germanisch-romanischen Völker hineingezogen waren, brachte in das Bild nur dieselbe Zwiespältigkeit, denselben Gegensatz zwischen gesellschaftlicher und geistiger Entwicklung, wie ihn Rußland zeigte Immerfprt waren auch hier Einflüsse am Werk, um durch Einführung von Volksherrschafts-oder sozialistischen Gedanken ein Uberspringen der Entwicklung auf die vom heutigen Westeuropa erreichte Stufe herb eizuführen.
Zweites Stück DIE ENTSTEHUNG DES WELTVÖLKERKREISES Ubersieht man den Bau der neueuropäischen, das heißt der germanisch-romanisch-slawischen Staatengesellschaft, wie er sich etwa an der Grenze zwischen Neuerer und Neuester Zeit darstellt, so bedarf es schon fast einer eigenen Formenlehre, um die groben und feinen Unterschiede zu buchen, die sich in dem Verhältnis der neu aufgenommenen Glieder zu dem Urgc