Der Staat - eine Hieroglyphe der Vernunft. Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1. ed.] 9783832944506


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German Pages 272 [271] Year 2009

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Der Staat - eine Hieroglyphe der Vernunft. Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1. ed.]
 9783832944506

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Giancarlo Corsi, Modena-Reggio Emilia Yehezkel Dror, Jerusalem Wolfgang Kersting, Kiel Ernesto Martinez Diaz de Guereñu, Bilbao Herfried Münkler, Berlin ~ Paulo Marcelo Neves, Sao Henning Ottmann, München Stanley L. Paulson, St. Louis Ryuichiro Usui, Tokyo

Staatsverständnisse Herausgegeben von Prof. Dr. Rüdiger Voigt Band 22

Walter Pauly (Hrsg.)

Der Staat – eine Hieroglyphe der Vernunft

Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Nomos

Titelbild: Dr. Martin Siebinger

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-4450-6

1. Auflage 2009 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2009. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache –

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mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Mit dem Forum Staatsverständnisse wird Interessierten zudem ein Diskussionsforum auf der Website www.staatswissenschaft.de eröffnet, um sich mit eigenen Beiträgen an der Staatsdiskussion zu beteiligen. Hier können z.B. Fragen zu der Reihe Staatsverständnisse oder zu einzelnen Bänden der Reihe gestellt werden. Als Reihenherausgeber werde ich mich um die Beantwortung jeder Frage bemühen. Soweit sich dies anbietet, werde ich von Fall zu Fall bestimmte Fragen aber auch an die HerausgeberInnen der Einzelbände weiterleiten.

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Vorwort

In Hegel begegnet ein Klassiker der politischen Philosophie von äußerster Wirkmächtigkeit, der nach wie vor in Lager der Zustimmung wie der Ablehnung spaltet. Zugleich handelt es sich um einen äußerst schwer zugänglichen Autor, dessen Studium das Überwinden sprachlicher Barrieren sowie das Erlernen eigensinniger Begriffsbelegungen erfordert. Mit seinen Analysen der basalen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft und deren Abhängigkeit vom politischen Staat hat Hegel Grundbausteine des modernen Staatsverständnisses gelegt. Angesichts des beträchtlichen Analyse- und Lernpotentials seiner Methode und Theoriebildung bleibt die Auseinandersetzung mit Hegel für das Studium der Staats- und Gesellschaftswissenschaften, einschließlich der Rechts- und Staatsphilosophie, unverzichtbar. Hierbei den Zugang zu erleichtern und zentrale staatswissenschaftliche Theoreme Hegels aufzubereiten sowie die Hegelkritik wie -rezeption darzustellen, liegt in der Absicht dieses Buches. Dass die Herausgabe des Werkes eine Freude war, lag an der guten Zusammenarbeit mit den Autoren und einem umsichtig arbeitenden Lehrstuhlteam, in dem unter der Anleitung meines wissenschaftlichen Mitarbeiters Gunter Heiß die studentischen Hilfskräfte Carolin Böhm, Nora Jedlitschka und Friedemann Larsen an der technischen Entstehung der Schrift beteiligt waren. Das Projekt hilfreich begleitet hat zudem mein wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Martin Siebinger. Die Anregung und Ermunterung zum Buch hat Herr Prof. Dr. Rüdiger Voigt gegeben, umfassende Unterstützung der Nomos-Verlag, namentlich Frau Beate Bernstein. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Jena, im Dezember 2008

Walter Pauly

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Inhalt

Einleitung Walter Pauly Hegels Beitrag zur Theorie des modernen Verfassungsstaates

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I. Vernunft und Wirklichkeit in Hegels politischer Philosophie Christoph Binkelmann Hegel in der Tradition des politischen Denkens

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Thomas Sören Hoffmann Freiheit, Anerkennung und Geist als Grundkoordinaten der Hegelschen Staatsphilosophie

49

Elisabeth Weisser-Lohmann Der Staat als Gestalt der „Sittlichkeit“

71

II. Hegels Theorie des modernen Staates Michael Henkel Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft

93

Oliver W. Lembcke Staat und Verfassung bei Hegel

113

Thomas Petersen Staat als politischer Organismus Hegels Verständnis der institutionellen Struktur des modernen Staates

137

Uwe Volkmann Freiheit in Bindungen Beobachtungen zur Stellung des Einzelnen in Hegels Staat

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III. Hegels Konzeption der internationalen Beziehungen

10

Sergio Dellavalle Hegels äußeres Staatsrecht: Souveränität und Kriegsrecht Über eine schwierige Verortung zwischen universaler Vernunft und einzelstaatlichem Ethos

177

Steffen Schmidt Weltgeschichte als Weltgericht in Hegels Geschichtskonzeption

199

IV. Rezeption und Wirkung Tilman Reitz Die vernünftigen Institutionen und ihre Feinde Zur Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie

221

Jean-Christophe Merle Hegels „freie Gesellschaft“ und der heutige Liberalismus

243

Literatur

257

Autoren

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Einleitung

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Walter Pauly

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Hegels Beitrag zur Theorie des modernen Verfassungsstaates

Degradiert zum preußischen Hofphilosophen und der Staatsvergottung bezichtigt,1 blieb Hegel anders als Kant lange Zeit die Aufnahme in den Klassikerhimmel verfassungsstaatlichen Denkens verwehrt. Entsprechend liberale Rezeptionsmöglichkeiten sollten nicht zuletzt auf Grund der bald nach Hegels Tod einsetzenden Aufsplitterung seiner Anhänger in Rechts- und Linkshegelianer weitgehend ungenutzt bleiben, abgesehen von zunächst wenig beachteten Interpretationsansätzen einer sog. Hegelschen Mitte, in deren Tradition Hegel inzwischen verstärkt als „gemäßigter Liberaler“ sowie „Verfechter des modernen Verfassungsstaates“2 begriffen wird. Immerhin geht es in Hegels Rechts- und Staatsphilosophie um das Recht als das „Dasein des freien Willens“ (7/80, § 29),3 der „den freien Willen will“ (7/79, § 27), und um ein Verständnis des Staates als „das an und für sich Vernünftige“, in dem „die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt“ (7/399, § 258). Da aber die Freiheitlichkeit und Vernünftigkeit der geschichtlichen Staaten, zumal in der Epoche der Restauration, in der Hegels „Rechtsphilosophie“ erscheint, keineswegs auf der Hand liegt, nennt er den Staat „eine Hieroglyphe der Vernunft, die sich in der Wirklichkeit darstellt“ (7/449, § 279 Z),4 um seine widerständige Entschlüsselung als Institution verwirklichter Freiheit zu versinnbildlichen. Mag die Metapher auch auf einen für 1 2

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Maßgeblich für die einseitige, teils verketzernde Rezeption Haym 1857, S. 357 ff. und 372 f.; prominent Popper 2003, S. 59 f.; ferner etwa Topitsch 1981, S. 69 ff.; Kiesewetter 1995, S. 3 ff. So jüngst Rawls 2002b, S. 454 und 426; zur „Apologie des modernen freiheitlichen Rechtsstaats durch die Hegelsche Mitte“ vgl. Ottmann 1977, S. 224 ff., der auch auf die „Hegelapologetik“ der Ritterschule sowie die liberalen Hegel-Interpretationen französischer und angelsächsischer Autoren eingeht (Ottmann 1977, S. 261 ff. und 299 ff.). Zum Rechts- und Linkshegelianismus vgl. etwa Losurdo 1998, S. 265 ff. Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz. Die Entzifferung des Steins von Rosetta und somit cum grano salis der Hieroglyphenschrift war J.-F. Champollion 1822 gelungen, eine Sensation, die die zeitgenössische Kulturwelt außerordentlich beschäftigte und eine entsprechende Metapher nahe legte. Die Zusätze hat nach Hegels Tod sein Schüler Eduard Gans freigiebig aus Vorlesungsnachschriften und im Nachlass befindlichen Aufzeichnungen zusammengestellt und den jeweiligen Paragraphen der Rechtsphilosophie in der Ausgabe von 1833 hinzugefügt. Die Hieroglyphenmetapher stammt aus der Vorlesungsnachschrift von Hegel 1824/25, S. 670.

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die Vernunft letztlich unentzifferbaren Bestandteil jedweder konkreten Erscheinung des Kulturrätsels „Staat“ hindeuten,5 im Zentrum steht die prinzipielle intellektuelle Begreifbarkeit der sich in der politischen Form entfaltenden Vernunft, wie sie auch in Hegels nicht minder enigmatischer Formel aus der Vorrede zur „Rechtsphilosophie“ zum Ausdruck kommt: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (7/24). Die vielfach als brüskierend empfundene Beschwörung der Vernünftigkeit der Wirklichkeit verweist vornehmlich auf eine einsichtige Erklärbarkeit der sozialen Realität, die sich deswegen allerdings noch nicht in allen ihren Erscheinungen als vernünftig rechtfertigt. Auf der einen Seite steht der „Kern“ des Vernünftigen, die Idee, die nach Realisierung drängt, auf der anderen die „bunte Rinde“, die ungeheure Mannigfaltigkeit an Gestaltungen, in der man den „inneren Puls“ immer noch spürt, so wie selbst im mängelbehafteten Staat die „Idee des Staates“ noch immer lebendig und begreifbar ist (7/25; 7/403 f., § 258 Z). Die in einer Vorlesungsnachschrift nachweisbare Formulierung, „was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig“6, akzentuiert stärker die historische Verwirklichungstendenz der Vernunft im Fortgang der Geschichte. Weder geht es schlicht um Akkomodation an gegebene Verhältnisse oder gar blanken Faktenpositivismus, noch um ein abstraktes unhistorisches Vernünfteln und präskriptives Entwerfen des „richtigen“ Geschichtsverlaufs, sondern um das „Ergründen des Vernünftigen“ durch „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ (7/24) – in der Tat eine brisante Mischung zwischen normativem Konzept und Realitätsverschreibung.7

1. Freiheitsphilosophischer Ausgangspunkt und Systemaufbau Hegels optimistisches Programm einer Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (12/32), sowie sein Verständnis des Staates als „Verwirklichung der Freiheit“ (7/403, § 258 Z), gründen auf dem Willen, „welcher frei ist“ (7/46, § 4). Freiheit umfasst dabei sowohl die mentale Aufhebung jedweder Beschränkung als auch das Setzen von Willensinhalten, das heißt ein Treffen positiver Bestimmungen, und führt in der Verbindung beider Momente zu selbstbewussten und reflektierten konkreten Entscheidungen, zu einem Sich-Wiederfinden im Anderen als dem doch eigenen. Bei Hegel prallt nicht schrankenlose Willkür unvermittelt auf äußere 5 6 7

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Symbolisierung des unauflösbaren „enigmatischen Charakters jeglicher Staatlichkeit“, auch im Sinne eines Unvermögens der Vernunft in Ansehung der politischen Form, die „archaischen Geheimnisse ihrer selbst nicht lesen“ zu können, urteilt Gehring 2000, S. 50 und 56 ff. Hegel 1983a, S. 51. Das Konzept einer „Fortschrittsgeschichte“ verortet Siep 1997b, S. 19, letztlich in der Tradition der Aufklärung. Vgl. Hösle 1998, S. 422 f.

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Grenzziehungen, sondern ist der sich selbst wollende freie Wille von vornherein mit den namentlich auch intersubjektiven Bedingungen seiner Verwirklichung vermittelt.8 Neben subjektiver Innerlichkeit gehört zur Hegelschen Freiheit immer auch ihre Überführung und Objektivierung in Institutionen wie Recht und Staat, die keine Hindernisse, sondern Voraussetzungen von Freiheit darstellen. In diesem Sinne ordnet Hegel seine Rechtsphilosophie der Sphäre des objektiven Geistes zu. Das Recht als das „Dasein des freien Willens“ (7/80, § 29), als „Reich der verwirklichten Freiheit“ (7/46, § 4), umfasst daher nicht nur das „beschränkte juristische Recht“, sondern in eminent ausgreifender Weite das „Dasein aller Bestimmungen der Freiheit“ (10/304, § 486), also die Summe derjenigen „gesellschaftlichen Voraussetzungen, die sich als notwendig für die Verwirklichung des ‚freien Willens’ jedes einzelnen Subjekts erweisen“.9 Nach ihrem Aufbau präsentieren die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ die Objektivierungen von Freiheit auf den Stufen des abstrakten Rechts, der Moralität und schließlich der Sittlichkeit. In der Sphäre des auf die äußeren Handlungen zentrierten „abstrakten Rechts“ steht die formell anerkannte Person, nicht die jeweils besondere, im Vordergrund, die man selbst zu sein hat und als solche man die anderen respektieren soll (7/95, § 36).10 Mit Persönlichkeit ist die bloße und gleiche Rechtsfähigkeit bezeichnet, aber auch ein absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen verbunden, da sich die Person eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben muss. Eigentum kraft gemeinsamen Willens zu haben, führt zum Vertrag, seine Verletzung zum Unrecht, wogegen sich das Recht durch Negation dieser seiner Negation, wie dann auch in der Strafe, wieder herstellt. In der „Moralität“ wird die Person zum Subjekt, weil sie nicht mehr bloß allgemein an sich seiender Wille, sondern für sich seiende Identität ist, die sich im Modus des Sollens selbstbestimmend auf den Willen bezieht. Diese Stufe ist für Hegel unverzichtbar, da „nur im Willen, als subjektivem, […] Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich“ sein könne (7/204, § 106). Die als Entdeckung des Christentums und Kennzeichen der modernen Welt herausgestellte Besonderheit des Subjekts kann allerdings kein Recht im Widerspruch zur eigenen „substantiellen Grundlage“, ein „Freies“ zu sein, behaupten und sieht sich damit selbst in Beziehung auf das Allgemeine, darunter das Wohl aller, gesetzt (7/233, § 124; 7/236, §§ 125 f.). Das Gute als das erfüllte Allgemeine, die realisierte Freiheit zu wissen, beansprucht das Gewissen von einem formellen Standpunkt des Subjekts aus und gilt Hegel von daher als „ein Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre“ (7/255, § 137 A), obschon es vom Staat als Form 8 9 10

Hierzu Honneth 2001, S. 18 und 22 ff. Honneth 2001, S. 31. Knapper Abriss des Werkes bei Jaeschke 2003, S. 364 ff.

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rein subjektiver Reflexion in der Sache keine Anerkennung erfahren kann. Immer auf dem Sprung, ins Böse umzuschlagen, indem die eigene Besonderheit über das Allgemeine erhoben wird, bedarf die Moralität Hegel zufolge des Übergangs zur „Sittlichkeit“ als der „konkreten Identität des Guten und des subjektiven Willens“ (7/286, § 141).11 Unmittelbar erfolgt diese Synthese in der Familie, die ihre Mitglieder durch Liebe zur Einheit bringt, sich jedoch mit der Volljährigkeit der Kinder auflöst, die sie in die bürgerliche Gesellschaft entlässt. In dieser „Erscheinungswelt des Sittlichen“ ist sich jede Person „als besondere Zweck“ und verfolgt damit letztlich rein egoistische Ziele, erfährt aber nur vermittelst anderer besonderer Personen, insofern doch in „Form der Allgemeinheit“, eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse (7/338 f., §§ 181 f.). Dieses „System allseitiger Abhängigkeit“ auf der Basis gesellschaftlicher Arbeitsteilung bedarf stabilisierender Institutionen wie der Rechtspflege, der Polizei und der Korporationen, kann sich dennoch als unerbittlicher Kampfplatz der Individualinteressen, als reiner „Not- und Verstandesstaat“ (7/340, § 183), nicht aus sich heraus vor der Selbstzerstörung bewahren. Hierfür bedarf es laut Hegel des Staates als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, der als „das an und für sich Vernünftige“ dem Allgemeinen Wirklichkeit verschafft, was zugleich der politischen Gesinnung der Individuen entspricht und darin Rückhalt und Wirksamkeit findet (7/398 f., §§ 257 f.).12 Es geht Hegel hierbei um eine idealiter gedachte, keineswegs in jedem Staat vorfindliche institutionelle Objektivierung von Freiheit, die nicht von einem besonderen Standpunkt aus überboten oder instrumentalisiert werden kann. Untereinander verharren die souveränen Staaten mangels „Prätor“ Hegel zufolge im „Naturzustand“ und können ihren Streit letztlich nur durch Krieg entscheiden (7/499 f., §§ 332 ff.).13 Aus den Volksgeistern bringt sich der „allgemeine Geist“, der „Geist der Welt“ hervor, der an ihnen und den sie verkörpernden Staaten „Weltgericht“ in der „Weltgeschichte“ hält (7/503, § 340). Der Realismus dieser durchaus entwicklungsoffenen Deskription mündet nicht in die befriedende Vision eines Kantischen Staatenbundes, steht jedoch unter dem Anspruch einer weltgeschichtlichen Verwirklichung von Freiheit.

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Zum spezifischen Sittlichkeitsbegriff bei Hegel knapp Kervégan 2005, S. 162 ff.; hilfreich, wie überhaupt im Umgang mit der Hegelschen Terminologie, auch Cobben 2006, S. 408 ff. Rekonstruktion bei Maihofer 1975, S. 361 ff., und Avineri 1976, S. 211 ff., und jüngst Koslowski 2008, S. 86 ff. Zu Hegels Lehre von den internationalen Beziehungen vgl. Linser 2007, S. 277 ff., sowie Bubner/Mesch 2001.

2. Biographischer und werkgeschichtlicher Hintergrund

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Seit Jugendtagen vom welthistorischen Ereignis der Französischen Revolution fasziniert, soll der 1770 in Stuttgart geborene Georg Wilhelm Friedrich Hegel zeitlebens am 14. Juli auf die Erstürmung der Bastille angestoßen haben.14 Im Tübinger Stift (1788-93), das den Studenten der Theologie und Philosophie mit Hölderlin und Schelling zusammenbringt, galt Hegel als einer der „überzeugtesten Revolutionsfreunde“15. In Jena, wo er nach Hofmeisterjahren in Bern (1793-96) und Frankfurt (1797-1800) sich 1801 habilitiert und zunächst als Privatdozent und dann auf Vermittlung Goethes als außerordentlicher Professor (1805) lehrt, stellt er seine „Phänomenologie des Geistes“ fertig, die den mit der Revolution einhergehenden Terror im Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ (3/431 ff.). kritisch reflektiert. Spiegelverkehrt zur griechischen Polis, in der sich die Freiheit des Einzelnen aus dem Ganzen ergibt und sich demselben fügt, sehen sich die Einzelnen als die Schöpfer des sozialen Weltganzen unter dem jeweiligen Anspruch allgemeiner Freiheit, finden aber nicht zu einem dauerhaften institutionellen Zusammenschluss, sondern enden in der „Furie des Verschwindens“ (3/436). In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ bilanzierte Hegel das System Robespierre nüchtern: „[D]ie subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich“ (12/533). Auch Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ (1796) und Kants „Metaphysik der Sitten“ (1797) hatte Hegel als im rein Formellen verharrende Ansätze kritisiert und in seinem Jenaer Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ (1802/03) auf eine mit der Geschichte vermittelte praktische Vernunft gesetzt, die den Gedanken einer „absoluten Sittlichkeit“ entfaltet, zunächst gebunden an die organische Totalität des ständisch gegliederten Volkes (2/480 f.).16 In den Jenaer Systementwürfen aus den Jahren 1805/06 erfolgt die Umstellung des Bezugspunktes der sich in einem geistig-begrifflichen Prozess der Selbstbewusstwerdung entwickelnden Sittlichkeit vom Volk auf den Staat, wobei sich der allgemeine Wille nun „zuerst aus dem Willen der Einzelnen zu konstituieren“ hat und die Einzelnen sich „zum allgemeinen zu machen“ haben.17 Dass Staat und Verfassung auch für die Theorie nur so heißen, wenn sie „wirklich“ sind, hatte Hegel bereits in seiner „Verfassungsschrift“, einem erst posthum publizierten, 1802 fertig gestellten Manuskript, betont (1/473). Schon hier geht es Hegel um das „Verstehen dessen, was ist“, und „was nicht mehr begriffen werden 14 15 16 17

Vgl. Rawls 2002b, S. 426 Anm. 2 m.w.Nw. Vgl. Althaus 1992, S. 40; weiterführend Weisser-Lohmann/Köhler 2000; zu Hegels Verfassungsverständnis vgl. auch Lucas/Pöggeler 1986. Vgl. auch Hegel 2002, S. 47 ff. Hegel 1987, S. 234.

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kann, ist nicht mehr“ (1/461, 463). Der berühmte provokante Einleitungssatz „Deutschland ist kein Staat mehr“, rechtfertigt sich für Hegel denn auch daraus, dass sich eine „Menschenmenge“ nur dann einen Staat nennen dürfe, wenn sie „eine gemeinsame Wehre und Staatsgewalt bilde“ (1/472 f.), wovon bei dem im Inneren verfallenen und nach außen wehrlosen Reich keine Rede sein könne. Ein „Urbarium von den verschiedensten der nach Art des Privatrechts erworbenen Staatsrechte“ kennzeichne die innere Verfassung, was wegen der Verwechslung von Staats- mit Privatrecht zu einer misslichen Orientierung an Partikularinteressen führe, wohingegen Hegel das „System der Repräsentation“ als das „System aller neueren europäischen Staaten“ herausstellt und auch die Rolle der Fürsten entsprechend interpretiert (1/466, 533 f). „Prinzip der modernen Staaten“ sei es nach der Zerreißung der älteren Gemeinwesen im Gefolge der Religionsspaltung überdies gewesen, eine Verbindung „über äußere Dinge“ herbeizuführen und die Staatsgewalt „als reines Staatsrecht“ von der „religiösen Gewalt und ihrem Recht zu sondern“ (1/479, 521). Durchaus gleichsinnig sollte Hegel die Vertauschung von Staats- und Privatrecht in seiner sog. „Landstände-Schrift“ rügen, die er 1817 von seinem Heidelberger Lehrstuhl für Philosophie aus anonym veröffentlichte, auf den er ein Jahr zuvor nach einem Intermezzo als Schriftleiter der Bamberger Zeitung (1807-08) und langen Jahren als Direktor des Nürnberger Aegydiengymnasiums (1808-16) gelangt war. Anfang 1815 hatte der württembergische König dem Landtag zur Festigung des in seinem Umfang verdoppelten und zu einem souveränen Staat aufgerückten “neuen Württemberg“ eine Repräsentativverfassung vorgelegt, gegen die die Landstände eine erbitterte Opposition entfachten, da sie zur altständischen Verfassung zurückkehren wollten. Hegel sah hierin nur den Versuch, sich die Fortdauer von Privilegien zu sichern, indem man positivrechtlich mit alten Rechten vom „Standpunkt des Privatrechts“ aus argumentiere (4/508). Die Landstände hätten „nichts vergessen und nichts gelernt“ und schienen die „letzten 25 Jahre, die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns lehrreichsten, weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören, verschlafen zu haben“ (4/507).

Die überkommenen Rechtsbegriffe sieht Hegel, der sich auf die Seite des sich zum Konstitutionalismus bekennenden Königs stellt, im Zuge der Französischen Revolution zerstampft. Insbesondere die Berufung auf einen den Fürsten bindenden „Staatsvertrag“ weist Hegel als verfehlte Bemühung einer Kategorie des Privatrechts zurück.18 Gleichgerichtet begründet er die Ablehnung des Kontraktualismus mit der Bindung an die „Willkür“ der einzelnen später in seinen „Grundlinien der Philoso-

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Vgl. 4/505.

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phie des Rechts“ (7/400, § 258 A),19 die im Oktober 1820 erscheinen, nachdem Hegel 1818 an die erst knapp ein Jahrzehnt zuvor gegründete Berliner Universität gewechselt war. Für die Interpretation dieses sozial-, rechts- und staatsphilosophischen Schlüsselwerkes sind die aus der Zeit vor und nach der von Hegel selbst veröffentlichten Fassung vorliegenden Vorlesungsnachschriften20 ebenso zentral wie der Abriss der Philosophie des objektiven Geistes in der als VorlesungsKompendium angelegten „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, die 1830, ein Jahr vor Hegels Tod, in dritter Auflage erschien (10/303365, §§ 483-552). Noch in seiner letzten, von ihm selbst zur Veröffentlichung gebrachten Schrift „Über die englische Reformbill“, die im Frühjahr 1831 in drei Teilen anonym in der „Allgemeinen Preußischen Staatszeitung“ erscheint, während der vierte Teil aus außenpolitischer Rücksichtnahme in einen Privatdruck ausweichen muss, kommt Hegel auf das Problem einer privatrechtlichen Ausgestaltung eigentlich öffentlichrechtlicher Verhältnisse zurück. In England seien die Staatsrechte „bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprungs und damit bei der Zufälligkeit ihres Inhalts stehen geblieben“ und hätten „noch nicht die Entwicklung und Umbildung erfahren, welche bei den zivilisierten Staaten des Kontinents durchgeführt worden“ seien (11/89).21 Aus diesem Grund regierten hier Privilegien und Privateigennutz, so dass eine halbherzige Wahlrechtsreform nicht zwangsläufig die Revolutionsgefahr mindere oder banne, sondern ebenso gut steigern könne. Die Schrift entspringt nicht zuletzt Hegels Unmut gegenüber der Pariser Juli-Revolution wie der belgischen Revolution von 1830, die ihm den erreichten konstitutionellen Entwicklungsstand zu gefährden schienen. Im November 1831 stirbt Hegel in Berlin vermutlich an der Cholera, nachdem er drei Tage zuvor der Nachschrift David Friedrich Strauß’ zufolge in der Vorlesung zur „Philosophie des Rechts“ mit dem Satz geendet hatte: „Die Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, dass der ganze Bau der geistigen Welt hervor steigt.“22

19 20 21 22

Zu „Hegels Kampf gegen die Vertragstheorie“ vgl. Adam 1999, S. 251 ff. Vgl. Hegel 1973 f.; vgl. weiter Hegel 1983a; Hegel 1983b; Hegel 1999; Hegel 2005. Hierzu Jamme/Weisser-Lohmann 1995. Hegel 1831, S. 925.

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3. Staats- und verfassungstheoretische Impulse

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3.1. Hegel und die politische Moderne Der besondere Reiz, Hegel in heutigen sozialphilosophischen Debatten zu reaktualisieren, liegt in seiner Abkehr von den atomistischen Freiheitskonzeptionen des Naturrechts zugunsten einer Einbeziehung der „intersubjektiven Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung“23. Indem Hegel die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ sowohl in die „persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen“ als auch in deren Übergang „in das Interesse des Allgemeinen“ (7/406 f., § 260) verlegt, hat er die verfassungsstaatlich elementare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Voraussetzung subjektiver Freiheit begründet.24 Das „Prinzip der modernen Staaten“ hat für ihn denn auch die „ungeheure Stärke und Tiefe“, das „Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten“ (7/407, § 260).25 Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren widerstreitenden Einzelinteressen bedarf dabei des Staates, der ihre Einseitigkeit und das daraus folgende Ungenügen ausgleicht und überwindet, der sich nicht mit der Rolle eines rein funktionalen „Not- und Verstandesstaats“, eines letztlich nur partikularen Egoismen dienenden „äußeren“ Staates, bescheidet, sondern der „das allgemeine Interesse“ zum Zweck hat (7/340, § 183; 7/415, § 270),26 das die gefilterten besondern Interessen enthält. Der Einzelne rückt in eine Subjektstellung ein, die ihn grundsätzlich, wie auch immer vermittelt, zur Mitgestaltung berechtigt.27 Erschien der Einzelne in der bürgerlichen Gesellschaft noch als Gefangener seiner 23 24 25

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Honneth 2001, S. 16; zur Rekonstruktion der politischen Philosophie Hegels und der zugrunde liegenden „synthetischen Freiheitsauffassung“ aus dem Begriff der Intersubjektivität Dellavalle 1998, S. 36 ff. u. passim. Böckenförde 1973, S. 10, nennt dies die „klassische Formulierung und Feststellung“. Im Zusatz erläutert Hegel (7/407, § 260 Z), das „Wesen der neuen Staaten“ sei die Verbindung des Allgemeinen „mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen“; die „Allgemeinheit des Zwecks“ könne also nicht ohne „das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muss, fortschreiten“. Das Allgemeine müsse „also betätigt“ sein, „aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, dass beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen.“ Im Einzelnen und zum Folgenden Pauly 2000, S. 381 ff. Unter anderem darin, dass Hegels Rechtsbegriff alle „Generationen“ der Grundrechte umfasse, erblickt Siep 2003, S. 191 und 196 ff. in seinem gleichnamigen Aufsatz die „Aktualität der praktischen Philosophie Hegels“; in der fehlenden institutionellen Absicherung der Individualrechte sieht Schnädelbach 2000, S. 343, „ein Defizit des Hegelschen Entwurfs“; insgesamt betrachtet Schnädelbach die Hegelsche Staatslehre jedoch als „eine Variante moderner Staatskonzeptionen“ (Schnädelbach 2000, S. 300).

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zufälligen Bedürfnisse, so befreit er sich im Staat zu einem allgemeinen Dasein, das seinem geistigen Potential entspricht. Der Staat wird Sache des Bürgers, der ihn versteht und nicht mehr als rein äußere Instanz ansieht. Unverzichtbar ist dabei die Anerkennung eines objektiven Geltungsanspruchs, der den allgemeinen Standpunkt gegenüber Partikularinteressen auszeichnet. Adäquat verstanden präsentiert sich der Staat als eine Stufe neuer Qualität, die sich ihrerseits als agierendes Subjekt begreifen lässt, das sich selbst will. Die Wirklichkeit des staatlichen Organismus hängt für Hegel hierbei immer auch an der entsprechenden Gesinnung und Leistung je Einzelner, die die Perspektive des Allgemeinen internalisiert haben. Für Hegel war der Halt entscheidend, den der Staat in einem realen Einzelwillen fand, der zwar nicht den Inhalt des staatlichen Willensaktes zu bestimmen, aber die Einheit der staatlichen Gewalten zu symbolisieren hatte. Den Ruf eines preußischen Staatsphilosophen hat Hegel insbesondere die Affirmation der konstitutionellen Monarchie eingetragen, die den Monarchen als Spitze formellen Entscheidens im souveränen staatlichen Organismus sieht, ihn aber mit der Rolle bescheidet, den „Punkt auf das I“ zu setzen (7/451, § 280 Z). Hegels zeitgebundene Rekonstruktion und zum Teil reformorientierte frühkonstitutionelle Überformung des preußischen Staatsrechts seiner Zeit lässt sich allerdings, wie die Hegel-Forschung mehrfach betont hat,28 durchaus in demokratischer Richtung fortschreiben.29 Sein Bild der bürgerlichen Gesellschaft hat Hegel alles andere als national konzipiert. Im Gegenteil gilt für ihn der Mensch in der Gesellschaft, weil er Mensch und „nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“ (7/360, § 209 A).30 Da ihm zufolge die bürgerliche Gesellschaft zudem zur Expansion und Kolonisation neigt, steht sein Ansatz dem Konzept einer Weltgesellschaft keineswegs fern, wird aber dennoch begrenzt durch die nationalstaatliche Perspektive, der Hegel seinem Grundkonzept entsprechend, die Vernünftigkeit einer gegebenen Wirklichkeit zu begreifen, verpflichtet sein musste. In Hegels geschichtlicher Welt war der Nationalstaat Ausgangs- und Zuordnungspunkt gesellschaftlicher Aktivität. Die gedankliche Vorgängigkeit des Staates im Verhältnis zur Gesellschaft beruht bei Hegel auf der Annahme, dass die Gesellschaft in der sozialen Wirklichkeit keinen Bestand haben kann, wenn sie nicht zugleich an einen staatlichen Funktionszusammenhang zurückgebunden ist. Auch eine einzelstaatlichen Hegungen entwachsene 28 29 30

Vgl. Hartmann 1976, S. 185 ff.; Maluschke 1982, S. 256 ff. und 281 ff.; und Petersen 1992, S. 207 ff. Dass die „moderne Massendemokratie Hegels Ansprüchen wohl kaum genügt hätte“, betont Thiele 2008, S. 10, demzufolge für Hegel der „liberale Rechtsstaat“ und nicht die Demokratie den „Zielpunkt der bisherigen Verfassungsgeschichte“ bildet (Thiele 2008, S. 10). Der potentiellen Universalität der bürgerlichen Gesellschaft entspricht Ritter 1965, S. 62 ff., zufolge deren geschichtslose Abstraktheit.

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Weltgesellschaft bedürfte auf Grund der von Hegel formulierten prinzipiellen Defizienz bürgerlicher Gesellschaft der politischen Überformung, auf welcher Organisationsebene auch immer. Die hiermit verbundenen Grundfragen bleiben, auch nachdem jene historische Formation abgedankt hat, deren immanente Vernünftigkeit Hegel zu erfassen suchte.

3.2. Die einzelnen Beiträge Die Fundamente des Hegelschen Staats- und Verfassungsverständnisses untersucht ein erster Abschnitt „Vernunft und Wirklichkeit in Hegels politischer Philosophie“ zunächst im Rekurs auf die politische Ideengeschichte. Dabei zeigt Christoph Binkelmanns Beitrag „Hegel in der Tradition des politischen Denkens“ einen Entwicklungsstrang auf, der seinen Ausgang bei der platonischen Analogie zwischen Seelenund Polisverfassung wie der antiken Zentriertheit des Einzelnen auf die Polis nimmt. Diese noch natürliche Identität wird durch die Aufnahme des im Christentum entwickelten Prinzips subjektiver Freiheit, jedoch unter Absage an Hobbes’ vertragstheoretische Akzentuierung des Individuums, zur reflektierten Einheit von Bürger und Staat ausgeformt. Stark beeinflusst durch Rousseaus Konstruktion des Staates mittels der Figur eines über den partikularen Egoismen angesiedelten allgemeinen Willens und unter gleichzeitiger Rezeption wie Überwindung des sphärenabgrenzenden kantischen Autonomiekonzepts gelangt Hegel zu einer komplexen Synthese, die dem staatlichen Ganzen einen gewissen Primat vor dessen Teilen einräumt. Die subjektive Freiheit der Einzelnen hängt dabei zwar von der Objektivität des Ganzen ab, bestimmt deren Gestalt jedoch nicht unwesentlich mit. Von Fichte übernimmt Hegel das Anerkennungstheorem, wahrt aber gegenüber dessen polizeistaatlichen wie dann im Spätwerk herrschaftsüberwindenden Extrempositionen Distanz. Dass sich Selbstbewusstsein bei Hegel maßgeblich in Beziehung auf den Anderen konstituiert und deswegen intersubjektive Anerkennung die Basis von Gemeinschaftsbildung ausmacht, stellt Thomas Sören Hoffmann in seinem Aufsatz „Freiheit, Anerkennung und Geist als Grundkoordinaten der Hegelschen Staatsphilosophie“ heraus. Die damit einhergehenden spezifischen Strukturen von Geistigkeit exemplifiziert Hoffman am Staat als Emanation des objektiven Geistes, dessen vorgängige Existenz Hegel zufolge nicht mittels kontraktualistischen Atomismus eingeholt werden könne. Daß es Hegel um objektive Handlungstypen und die ganzheitliche Perspektive des staatlichen Organismus geht, illustriert schließlich Elisatbeth WeisserLohmann in ihrem Beitrag „Der Staat als Gestalt der ‚Sittlichkeit’“ anhand der gedanklichen Architektur der Hegelschen Rechtsphilosophie. Im zweiten Abschnitt „Hegels Theorie des modernen Staates“ bilden die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, die Begriffe von Staat und Verfassung, die staatlichen 22

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Institutionen und die Stellung des Einzelnen den Gegenstand der Untersuchung. Michael Henkel erörtert „Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft“ als entwicklungsoffenen Entwurf, an den Denker bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein konstruktiv anknüpfen konnten. Als Entdecker des modernen Gesellschaftsbegriffs ist Hegel von überdauernder Aktualität, nicht zuletzt gegenüber neoliberalen Profilierungen einer vom Staat abgelösten Gesellschaft. Henkel erkennt in Hegels bürgerlicher Gesellschaft im Grunde die Weltgesellschaft, die mangels eines „Menschheitsallgemeinen“ an das konkret Allgemeine einer lokal geerdeten Staatenwelt angebunden bleibt. Die mit der Globalisierung einhergehende Ausbildung internationaler Regime entspräche systematisch dem in Hinsicht der Freiheit defizitären Hegelschen Not- und Verstandesstaat. Behandelt wird ebenfalls die im Marxismus anzutreffende Auflösung der von Hegel entwickelten Verbindung von Staat und Gesellschaft, indem sich in letzter Instanz die kommunistische Gesellschaft ohne Staat präsentiert. Demgegenüber habe Lorenz von Stein auf die Integrationskraft des modernen Staates gesetzt, der in dieser Linie, wie dann namentlich bei Hermann Heller, zum freiheitlichen Sozialstaat fortentwickelt worden sei. Dass es sich bei Hegel um einen Theoretiker des klassischen Rechtstaatsprinzips handele, begründet Henkel aus dessen Abhandlung der Rechtspflege. Den Grundbegriffen „Staat und Verfassung bei Hegel“ widmet sich im Anschluß Oliver W. Lembcke, der das in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ ausgeformte Begriffssystem in seinen Anfängen in Hegels Verfassungsschrift nachzeichnet. Deutlich wird erneut insbesondere, wie wenig Hegel auf das nationalistische Projekt abzielte und stattdessen einen Patriotismus favorisierte, der auf ein Zutrauen baute, dass die eigenen besonderen Interessen auf der Ebene des Allgemeinen berücksichtigt und aufgehoben sind. Um der Selbstversklavung zu entgehen, müsse der in elementarer Sozialität befangene Einzelne in den Staat eintreten, der in diesem Sinne als ein „Zustand freiheitlichen Zusammenlebens“, als „spezifischer Modus des gesellschaftlichen Lebens“ überhaupt erscheint. Der spezifischen Selbstausdifferenzierung des Staates gilt ein zweiter Staatsbegriff, der unter dem Anspruch von Einheit und Differenz als politischer Organismus gefasst wird. Die Perspektive des Allgemeinen erheischt dabei eine Objektivität, die allererst als Referenzpunkt aller Subjektivismen konstituiert werden muss und zwar jenseits der Willkürlichkeit eines Staatsvertrages. Der „Staat als politischer Organismus“ lässt Thomas Petersen zufolge weder einen vom Staat separierten pouvoir constituant zu noch eine Souveränität von Monarch oder Volk, die über deren rein organschaftliche Stellung hinausführen könnte. Die Struktur des sich selbst erhaltenden Organismus ergibt sich aus den Begriffsmomenten der Allgemeinheit in Form der gesetzgebenden Gewalt, der Besonderheit in Form der Regierungsgewalt und der Einzelheit in Form der fürstlichen Gewalt, die durch konfliktlösendes Entscheiden die Einheit des Staates zu wahren vermöge. Einen allgemeinen 23

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Willen, den sich alle zueigen machen könnten, in deren Selbstbewusstsein und Willen der Staat doch letztlich existiere, vermöge nur die gesetzgebende Gewalt auszubilden – unter Einbeziehung der zunächst zufälligen und unaufgeklärten öffentlichen Meinung, die erst durch die öffentlich beratende Ständeversammlung geläutert werde. In „Freiheit in Bindungen“ untersucht Uwe Volkmann die Bedeutung des Einzelnen in Hegels Staat und sieht die Sicherung der individuellen Rechte dabei dem positiven Recht zugewiesen, wobei Hegel zu einer „spezifisch grund- oder gar menschenrechtlichen Absicherung“ oder auch zu Kontrollinstanzen, an die sich der Bürger richten könnte, nicht vorgedrungen sei. Da der Gesetzgeber bei Hegel jedoch Rücksicht auf die historisch vorgefundene und mental tief verankerte konkrete Lebensordnung nehmen müsse, stelle sich das Problem, zu dessen Lösung es klagbarer Grundrechte bedürfte, erst gar nicht. Das Fehlen individuell radizierter Mitwirkungsrechte sei vergleichsweise gravierender. Diskutiert wird die immer wieder beschworene Gefahr, bei Hegel werde der Einzelne letztlich zum Funktionär des Allgemeinen herabgestuft, demgegenüber jedoch die Abschirmung eines Refugiums persönlichen Gewissens und menschlicher Freiheit auch gegenüber staatlichem Zwang hervorgehoben. Entgegen gegenwartsmächtigen Entwürfen eines normativen Individualismus betont Volkmann die Hegelsche lebensweltliche Verankerung von Freiheit und findet insoweit Verbindungslinien zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nicht zuletzt zu der im Lüth-Urteil profilierten Wertordnungslehre. Anders als Hegel will Volkmann das für Staatlichkeit unverzichtbare Minimum gemeinsamer Wertorientierung „heute stärker prozedural und dynamisch als inhaltlich-erfüllt und statisch“ gedacht sehen, wobei die angesichts der zu verarbeitenden gesellschaftlichen Differenz und Pluralität geforderte kommunikative Offenheit möglicherweise bereits im Begriffshorizont des hegelschen sittlich Allgemeinen liegt. Der dritte Abschnitt über „Hegels Konzeption der internationalen Beziehungen“ bringt mit Sergio Dellavalles Beitrag „Hegels äußeres Staatsrecht: Souveränität und Kriegsrecht“ geradezu eine Ausdeutung von Hegel als Wegbereiter eines „kommunikativen Ordnungsparadigmas“, das allerdings durch eine subjektphilosophische Geisterontologie und Staatsfixierung überlagert sei. Nachgezeichnet wird eine Entwicklung der Ordnungsparadigmen internationaler Beziehungen ausgehend vom antiken holistischen Partikularismus über den holistischen Universalismus christlicher Provenienz zum universalistischen Individualismus der politischen Moderne, wie ihn Hegel in Form von Kants Entwurf zum ewigen Frieden explizit zurückweise. Gleichwohl könne Hegel nicht schlicht als holistischer Partikularist verbucht werden, da sich bei ihm auch eine universalistische Komponente zeige, wenn sich die universale Vernunft in der Weltgeschichte zur Geltung bringe und sich die Staaten als ihre endemischen Repräsentanten erwiesen. Ihmzufolge eignet auch dem 24

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Völkerrecht Normativität, wenngleich eine schwache angesichts der mangelnden Effektivität seiner Durchsetzung. Anders als Carl Schmitt begreife Hegel Politik nicht primär als existentielle Selbstbehauptung und Krieg nicht als existentiellen Kampf zwischen „quasi-natürlichen Entitäten“. In seinem Beitrag „Weltgeschichte als Weltgericht in Hegels Geschichtskonzeption“ räumt Steffen Schmidt das Mißverständnis sowohl einer geschichtsentscheidenden physischen Stärke als auch einer obskuren Vorsehung oder blinden Schicksals aus. Philosophie der Weltgeschichte als Grenzphänomen zwischen objektivem und absolutem Geist kennzeichnet vielmehr die Selbstauslegung des sich seiner Freiheit bewusst werdenden und zur Selbstverwirklichung drängenden Geistes. Menschliche Freiheit als Ziel und Motor von Geschichte, die damit immer auch ein Werk des Menschen ist, steht dabei grosso modo für Fortschritt, lässt aber Raum für Gelingen wie Scheitern. Der vierte und letzte Abschnitt gilt der „Rezeption und Wirkung“ der politischen Philosophie Hegels und nimmt sich im Beitrag von Tilmann Reitz „Die vernünftigen Institutionen und ihre Feinde“ vornehmlich der Kritikgeschichte an. Dabei präsentiert sich die Kritik als ebenso inhomogen wie die bis in die Gegenwart gesuchten Anschlüsse, nachdrücklich etwa bei Axel Honneth. Der Vorwurf reaktionärer Anbequemung findet sich bereits in den ersten zeitgenössischen Reaktionen auf die „Grundlinien“, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen politischen Lagern Widerspruch ernten. Die prominente Kritik des jungen Marx zielt auf eine „Genitivverkehrung“, die durch Vertauschung von Subjekt und Prädikat insbesondere den Staat als Entfremdungszustand seines logischen-spekulativen Vorrangs vor der Gesellschaft enthebt. Das Diskussionsfeld wird dabei auf Louis Althusser, Antonio Gramsci und Theodor Adorno erstreckt und reicht über die verzeichnende Etikettierung Hegels als Feind der offenen Gesellschaft bei Karl Popper bis hin zu poststrukturalistischen Demontagen bei Jacques Derrida. Im letzten Beitrag des Bandes analysiert Jean-Christophe Merle die erstaunliche Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen politischen Philosophie sowohl Kommunitaristen wie namentlich Alasdair McIntyre und Charles Taylor als auch Vertreter des Liberalismus wie John Rawls maßgeblich auf Hegel berufen, mehr auf seine Gesellschafts- als denn seine Staatstheorie. Auf ihre Weise verzeichneten beide Seiten Hegel, der auf kommunitaristischer Seite mobilisiert werde, um den universalistischen Liberalismus zu kritisieren. Dabei werde der Staat aber entweder als Gemeinschaft in die Gesellschaft verlagert (McIntyre) oder ihr als Ideal (Taylor) entrückt. Auf der liberalen Seite finde sich Hegel in Ermangelung einer überzeugenden zivil-religiösen Integration als Lieferant eines gesellschaftlichen Bindemittels bemüht. Zugleich vermerkt Rawls selbst, daß sich das Hegelsche Modell monistischer politischer Zwecksetzung nicht problemlos in ein Konzept liberaler und pluralistischer Legitimität einarbeiten läßt. Rawls Bezugnahme verfehle Hegels Staatstheorie und verschenke zugleich 25

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Potentiale der Rawlschen Gerechtigkeitstheorie. Nicht zuletzt in solchen Transformationsversuchen bleibt Hegel aktuell.

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I. Vernunft und Wirklichkeit in Hegels politischer Philosophie

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Christoph Binkelmann

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Hegel in der Tradition des politischen Denkens

1. Einleitung: Hegel und das politische Denken seiner Zeit Die philosophische Staatswissenschaft bestimmt Hegel in der Vorrede seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) als „Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ (7/26).1 Ihr Gegenstand, der Staat, befindet sich weder in der Vergangenheit (Tradition) noch der Zukunft (Utopie); ihre Methode besteht insofern darin, „ihre Zeit in Gedanken“ zu erfassen (7/26). In dieser Hinsicht verwundert es keineswegs, dass sich Hegel in der besagten Schrift nicht vordergründig mit dem politischen Denken der Tradition von Platon bis Fichte, sondern vorwiegend mit den kontemporären Theorien auseinandersetzt. Zu den prominenten Richtungen seiner Zeit zählt Hegel die restaurative Staatslehre von Carl Ludwig von Haller, die historische Rechtsschule um Friedrich Carl von Savigny und Gustav von Hugo sowie den von Kant beeinflussten politischen Denker Jakob Friedrich Fries. Das gemeinsame Vergehen dieser drei Positionen gründet Hegel zufolge im „Hass gegen alle Gesetze, Gesetzgebung, alles förmlich und gesetzlich bestimmte Recht“, obzwar sie jeweils aus unterschiedlichen Motivationen zu dieser Einstellung gelangen (7/402, § 258; 7/20).2 Wogegen sie sich gemeinsam wenden, ist die rationalistische Tradition, dergemäß der Staat, das Recht und die Gesetze aus der menschlichen Vernunft zu konstruieren und zu begründen sind. Dem setzt von Haller eine „naturalistische“ Theorie entgegen,3 wonach Recht und Herrschaft durch die Überlegenheit des Stärkeren über die Schwächeren entstehe und erhalten bleibe. Er verwirft insbesondere die Theorie des Gesellschaftsvertrags als Chimäre, welche die vertragliche Zustimmung aller Bürger zur notwendigen Staatslegitimierung erklärt. Eine gleichermaßen antikonstruktivistische Haltung nimmt die historische Schule an, wiewohl sie nicht eine natürliche als vielmehr eine kulturgeschichtliche Entstehungsgeschichte des Staates vertritt, die sich an Montesquieus Konzept des Natio1 2 3

Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung. Zu Fries. Haller 1964. Für Haller gehorcht die Natur der ewigen Ordnung Gottes, insofern ist die Rede von einem Naturalismus zu relativieren.

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nalgeistes (esprit des nations) anschließt. Danach entspringen Gesetzgebung und Verfassung eines Volkes keiner willkürlichen oder auch rein vernünftigen Festlegung, sondern empirischen Bedingungen wie Klima, geographische Lage, Sitten und Bräuche. Die Frage nach Recht und Gesetz muss sich folglich nicht an eine (abstrakte) Vernunft, sondern an die konkrete geschichtliche Genese wenden.4 Profilieren sich die beiden angeführten staatswissenschaftlichen und -rechtlichen Positionen durch ihre Kritik an der Aufklärung, insbesondere an der Kantischen Philosophie, so steht die Philosophie Fries’ in deren Denktradition. Für Hegel ist sie die „vollendete Verseichtigung der Kantischen“ Philosophie (7/67, § 15). Wie schon die beiden genannten Positionen ist auch Fries in Hegels Augen vom „Hass gegen das Gesetz“ geleitet. Indes rührt dieser Hass nicht aus einer naturalistischen oder historistischen Hinwendung zur Wirklichkeit. Fries verlegt das Kriterium des Rechten und Sittlichen in das Gefühl und Gewissen des Einzelnen. Hegel vergleicht ihn deshalb mit den Sophisten zu Platons Zeiten,

„welche das, was Recht ist, auf die subjektiven Zwecke und Meinungen, auf das subjektive Gefühl und die partikuläre Überzeugung stellen, – Prinzipien, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens […] als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgt“ (7/21 f.).5

Allen drei Positionen attestiert Hegel die „Verkennung des vernünftigen Standpunktes“, welcher notwendig ist für die „an und für sich gültige Rechtfertigung“ der staatlichen Gewalt und deren Gesetze (7/44, § 3 A; 7/36, § 3). Doch was meint Hegel mit dieser notwendigen Vernünftigkeit? Wozu und für wen bedarf es ihrer? Der Aufweis der Vernunft im Staat und den Gesetzen ist Hegel zufolge notwendig sowohl für die Staatswissenschaft als auch für die Bürger. Die „Systematisierung und Rationalisierung“6 ist einerseits Aufgabe der Wissenschaft, andererseits aber auch der Politik, damit die Gesetze und Rechte eine normativ-bindende Kraft für die Bürger ausüben, die nicht bloß autoritär ist. Denn was vernünftig ist, dem kann jeder aus eigener Einsicht zustimmen. Die Möglichkeit dieser Einsicht vereitelt die naturalistische oder historistische Erklärung des Staates durch ihren rein deskriptiven Zugang zum Gegenstand. Ebenso wenig ist sie für Hegel dadurch wissenschaftlich, weil sie lediglich eine Darstellung von Fakten betreibt. Das Wirkliche muss in seiner Vernünftigkeit begriffen werden können. Gleichermaßen unwissenschaftlich ist die Position von Fries, wenn sie Wahrheit und Gerechtigkeit auf Gefühl und subjektive Überzeugung gründet. Denn diese 4 5 6

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Savigny 1967. Hegel stellt Fries an den Anfang der Kausalkette, die von dessen Rede auf dem Wartburgfest (1817) zur Ermordung des Dichters Kotzebue und zu den Karlsbader Beschlüssen führte (1819). Zur geschichtlichen Situation vgl. Koselleck 1967. Schnädelbach 2000, S. 200.

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Instanzen liefern keinen allgemeingültigen Maßstab für die politische Realität. Das Gefühl ist wankelmütig und instabil, seine Inhalte variieren von Mensch zu Mensch und von Zeit zu Zeit. Was die Menschen für richtig halten, muss in stabilen Institutionen und Gesetzen wirklich werden, das heißt wirken können. Das Vernünftige muss wirklich sein. Diese beiden Aspekte vereinigt Hegel in dem bekannten, stark pointierten Ausspruch: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (7/24). Die Identität von Vernunft und Wirklichkeit betrifft also sowohl die Staatswissenschaft und ihren Gegenstand als auch das Verhältnis des Bürgers zum Staat. „Das Politische“ ist für Hegel gerade diese Identität, die freilich nicht im Sinne eines statischen Zusammenfallens, sondern als eine dynamischgeschichtliche Entwicklung verstanden werden muss: Als eine Zunahme an Vernünftigkeit des einzelnen Menschen, des Staates und der Staatswissenschaft. Aus eben diesen Gründen wird es dann doch für Hegel notwendig, das politische Denken von Platon bis zu seiner Zeit in dieser Hinsicht, nämlich als ideelle Durchdringung und Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Zeit, nachzuvollziehen. Denn will man die Gegenwart auf vernünftige Weise erklären, muss man deren Genese sowie die Genese von deren wissenschaftlicher Reflexion begreifen. Dadurch wird sich klären, welche Form von Vernunft und Wirklichkeit das Politische zur stabilen Identität führen kann.7

2. Die Entstehung des politischen Denkens bei den Griechen: Platon – Aristoteles Eine Beschäftigung mit dem politischen Denken Hegels verlangt die Hinwendung zur Antike. Schon der Begriff des Politischen verlangt diesen Rekurs: Er stammt bekanntlich vom griechischen Wort Polis, der Bezeichnung für den griechischen Stadtstaat. In diesem Kontext entwickelte sich – so die bekannte These des Historikers Christian Meier – das „Politische“, verstanden als Raum öffentlichen Handelns und bürgerlicher Mitbestimmung. Im Gegensatz etwa zu autoritär organisierten Großreichen (wie z.B. Persien) ging mit dieser seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. „demokratischen“ Praxis auch ein öffentlicher Diskurs über politische Themen wie Gerechtigkeit und Verfassung einher.8 Dabei scheint es, als markiere der Höhepunkt 7

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Die folgende Auswahl der politischen Denker ergibt sich weitestgehend aus Hegels eigener Einschätzung ihrer Relevanz für den Gegenstand, wie sie vielen seiner Schriften zu entnehmen ist; z.B. der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Aus diesem Grund wird das politische Denken im Mittelalter ausgeklammert; dabei soll nicht behauptet werden, dass ein Vergleich unangemessen ist. Vgl. Hindler 1979. Zu diesem Thema: Meier 1983.

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dieses politischen Denkens zugleich den Anfang vom Ende der griechischen Polis: „[D]ie Eule der Minerva [das heißt die Theorie] beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (7/28). Dieser Ansicht verleiht Hegel Ausdruck, wenn er die Politeia von Platon (427347 v. Chr.), die häufig als utopischer Entwurf eines Idealstaates gelesen wird, vielmehr als letzten Konservierungsversuch der damaligen Polis gegen ihren Zerfall deutet (7/24).9 Für Hegel glich die Polis einem kollektiven Organismus, in welchem jeder Bürger nur durch seine Stellung im politischen Ganzen bestimmt war, das heißt, indem er darin „das Seinige tut“.10 Mit dem Aufkommen der Sophisten, aber zum gewissen Teil auch mit Sokrates, Platons Lehrer, bricht der griechische Kollektivismus auf; es entsteht ein für den Fortbestand der Polis gefährlicher Individualismus.11 Das

„Prinzip der griechischen Sittlichkeit [...] ist, dass [...] das Sittliche das Verhältnis des Substantiellen habe [...]. Die Bestimmung, die diesem entgegensteht – diesem substantiellen Verhältnis der Individuen zur Sitte –, ist die subjektive Willkür der Individuen, die Moral; dass die Individuen nicht aus Achtung, Ehrfurcht für die Institutionen des Staats, des Vaterlandes aus sich heraus handeln, sondern aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen Überlegung einen Entschluss aus sich fassen, sich danach bestimmen. Dies Prinzip der subjektiven Freiheit ist ein späteres, ist das Prinzip der modernen, ausgebildeten Zeit. Dies Prinzip ist in die griechische Welt auch gekommen, aber als Prinzip des Verderbens der griechischen Staaten, des griechischen Lebens“ (19/113 f).

Die bedeutendste Einsicht Platons, wodurch alle späteren politischen Theorien nur wie „Fußnoten zu Platon“ (A.N. Whitehead) wirken, besteht in einem methodischen Kunstgriff zur Erklärung der Gerechtigkeit: die Seele-Staat-Analogie.12 Um zu erkennen, was einen gerechten Menschen auszeichnet, empfiehlt sich die Konstruktion einer gerechten Polis. „Vielleicht also ist wohl mehr Gerechtigkeit in dem Größeren und leichter zu erkennen“.13 Dieser Kunstgriff bedeutet – wie im Verlauf des Dialoges deutlich wird – mehr als eine methodische Abkürzung: Die Unterteilung der gerechten Polis in drei Stände – die Gewerbetreibenden bzw. Handwerker, die Wächter und die Herrscher – führt Platon zur hierarchischen Organisation der menschlichen Seele in Begierde, Affekte und Vernunft mit den jeweiligen Tugenden: Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit. Gerechtigkeit bedeutet dann, dass jeder 9 10 11

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Zu diesem Zweck muss Platon offensichtlich auch auf neuartige bis utopische Konstrukte zurückgreifen, wie z.B. die berüchtigte Frauen- und Gütergemeinschaft. Platon 2002, S. 333 (433 a). Vgl. dazu Bubner 2002, S. 61 ff. Die Nähe von Sokrates zu den Sophisten macht der Komödiendichter Aristophanes in Die Wolken deutlich. Daraus erklärt sich ebenso die ambivalente Position Platons – einerseits Verfechter der alten Ordnung, andererseits selbst vom sophistischen Gedankengut „infiziert“ zu sein. Zu dieser Idee bei Platon, Kant und Schiller: Baumanns 2007. Platon 2002, S. 259 (368 e).

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Seelenteil sowie jeder Stand die ihm angemessene Tugend ausbilde („das Seinige tue“) und sich der Gesamtorganisation füge. Die Harmonie der Seele, Thema der Ethik, sowie die Harmonie des Staates, Thema der Politik, bezeichnen für Platon zugleich die Harmonie von Seele und Staat. In Platons Politeia sind beide Disziplinen nicht sinnvollerweise voneinander zu trennen. Einsicht und Konstituierung dieser Einheit obliegt gemäß der Konzeption der Vernunft bzw. den Herrschern. Daraus folgt nicht nur die bekannte These Platons vom Philosophenkönig, sondern ebenso die Abwertung des Wissensmomentes bei den unteren Ständen – deren Tugenden bestehen in der Besonnenheit bzw. der Tapferkeit, nicht aber in der Vernunft. Allein der Philosophenkönig besitzt einen Einblick in die Natur des gerechten Menschen und Staates. Die feste, in der Natur der Sache begründete Dreiteilung von Seele und Staat bei Platon wehrt sich offensichtlich gegen die Korrosionserscheinungen der Polis durch den Subjektivismus der Sophisten, der den Menschen zum Maß aller Dinge (Protagoras) macht und einen ursprünglichen Egalitarismus und Konventionalismus (Antiphon) vertritt, der jede sich auf Tradition berufende Ordnung gefährdet. Mit weniger geschichtlichem Feingefühl kann man Platon deshalb einen totalitären Staatsbegriff vorwerfen, der sich mit liberalen Vorstellungen nicht vereinbaren lässt (so Popper). Weitaus sachlicher konstatiert Hegel in Platons Politeia den Mangel an subjektiver Freiheit, die sich erst im Verlauf des europäischen Christentums und der neuzeitlichen Aufklärung hat entwickeln müssen. Doch gewinnbringend scheint demgegenüber die Einsicht, dass zum Fortbestand des Staates die Möglichkeit einer Identifizierung der Bürger mit dem Staat offengehalten werden muss, die sich in einer strukturellen Isomorphie beider (Seele-Staat-Analogie) manifestiert; selbst wenn die inhaltliche Bestimmung dieser Analogie bei Platon letztlich totalitär anmutet. Vom Schüler Platons, Aristoteles (384-322 v. Chr.), kann man behaupten, dass er „gegen Platon die Wahrheit der sophistischen Reflexionsphilosophie eingeklagt hat“.14 Der sich schon in Platons Denken abzeichnende Aufbruch des griechischen Poliskosmos durch die sophistische Kritik und Politik entwickelt sich bei Aristoteles weiter. Als ein aus Stageira stammender Einwohner Athens (ein so genannter Metöke) besaß er keine Bürgerrechte und als Lehrer von Alexander dem Großen stand er in Kontakt mit dem makedonischen Großreich, das später durch kriegerische Expansion endgültig die politische Autarkie der Stadtstaaten zerstören wird. So warf er wohl einen distanzierteren Blick auf die Polis als Platon. Im Gegensatz zu Platons „Philosophie von oben“ nimmt Aristoteles den Ausgang „von unten“: In seiner Politik hebt die Frage nach dem Staat deshalb mit dem einzelnen Menschen (anthropos) an und entwickelt eine politische Anthropologie. 14

Bien 1973, S. 16.

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Aristoteles kritisiert an Platon den zu starken Einheitsgedanken im Staatsbegriff, der die Rechte des Einzelnen z.B. in der Güter- und Frauengemeinschaft radikal beschneidet.15 Dagegen beginnt Aristoteles mit den Bedürfnissen des Einzelnen. Der Grund der Gemeinschaftsbildung unter den Menschen liegt neben dem natürlichen Trieb nach Fortpflanzung maßgeblich im genuin menschlichen Streben nach Glückseligkeit (eudaimonia), die laut der Nikomachischen Ethik das höchste Ziel menschlichen Handelns darstellt. Daraus leitet Aristoteles die Einrichtung der familiären Hausgemeinschaft (oikos), von Dörfern und schließlich der sie umfassenden Polis ab. Aus dieser Gliederung ergibt sich die bis zu Hegel geläufige Einteilung der praktischen Philosophie in Ethik, Ökonomie (im Sinne der Hauswirtschaftslehre) und Politik. Weil erst in einer autarken Polis das in der menschlichen Natur liegende Verlangen nach Glückseligkeit und gutem Leben (im Unterschied zum bloßen Leben) nachhaltig befriedigt werden kann, ist für Aristoteles der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen (zoon politikon). Ebenso heißt dies, dass der Zweck des Staates im glückseligen Leben seiner Bürger bestehen muss.16 Schon die ethischen Untersuchungen über das glückselige Leben ergeben am Ende die Notwendigkeit einer staatlichen Erziehung, die (wie der Staat überhaupt) nicht autoritär, sondern durch vernünftige Gesetze geregelt sein muss.17 Wie für Platon gibt es für Aristoteles den sittlichen und glückseligen Menschen nur in einer (gerechten) Polis. „Losgerissen von Gesetz und Recht“ ist der Mensch das schlimmste Lebewesen von allen. Die Gerechtigkeit aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft.18 „Das Politische ist also, wie beim Platon, das prius“ (19/227).19 Die oberste Staatsgewalt muss den vernünftigen Gesetzen zukommen, wohingegen der Herrscher nur dann die Gewalt übertragen bekommt, wenn die Gesetze in einem bestimmten Fall nicht eindeutig sind.20 Aristoteles entwirft im Gegensatz zu Platon keine ideale Verfassung des Staates, weil er der politischen Realität ein zu großes Gewicht beimisst. Doch ein wichtiges Kriterium des gerechten Staates ist die Glückseligkeit wie auch die Herrschaft vernünftiger Gesetze, die beide aus der Natur des Menschen hervorgehen. Denn als wesentliche Eigenschaft des Menschen nennt Aristoteles die Fähigkeit zum rationalen Abwägen (zoon logon echon), die jeden Menschen durch geeignete Erziehung zum Maßstab des Gerechten werden lässt. 15 16 17 18 19 20

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Aristoteles 1995c, S. 32 ff. (1261 a 17 ff.). Aristoteles 1995c, S. 94 (1279 b 29 f.). Aristoteles 1995b, S. 257 (1180 a 22 ff.). Aristoteles 1995c, S. 5 f. (1253 a 32 ff.). Vgl. Aristoteles 1995c, S. 5 (1253 a 20 f.). Aristoteles 1995c, S. 101 (1282 b 1 ff.).

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Diese Ausrichtung auf die subjektive Reflexion stiftet wohl trotz aller Unterschiede Aristoteles’ Nähe zu den Sophisten. Zentral für Hegel im Hinblick auf das antike politische Denken ist die Vorstellung, dass das Ganze vor den Teilen sei. Daraus lassen sich mindestens zwei zentrale Ideen gewinnen, welche nach Hegels Einschätzung in der Neuzeit verloren gehen. Erstens wird der Staat als Organismus betrachtet, worin die einzelnen Bürger leben, und nicht als äußerlicher Herrschaftsapparat; er ist eine Lebensform des Menschen. Zweitens können die anthropologischen und ethischen Fragen nach dem Wesen des Menschen nur im Rahmen der politischen Wirklichkeit erörtert werden – denn abstrahiert davon bleibt pointiert formuliert nichts übrig:

„Jeder findet den Staat vor. Er ist schon längst im Staat erzogen, hat seine Muttermilch in sich aufgenommen, ohne dass er es noch weiß. Er kann sein ganzes Leben vielleicht nicht dazu kommen, dass er weiß, er lebt im Staat. Er kann immer den Staat hassen, dann hasst er seine eigenste Natur, und er kann nicht aus der Haut herausfahren“.21

3. Die eschatologische Wurzel des Politischen: Augustinus und das Christentum Nach einer bekannten These des Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger gibt es drei Wurzeln des Politischen, die er jeweils mit einem Denker der Geschichte verbindet: Politologik (Aristoteles), Eschatologik (Augustinus) und Dämonologik (Machiavelli).22 Die zweite Wurzel, die Augustinus (354-430) und das politische Denken des christlichen Mittelalters umfasst, besitzt auch für Hegel eine große Bedeutung. In der Schrift De civitate Dei entwickelt Augustinus die Idee eines linearen Geschichtsverlaufs als christliches Heilsgeschehen. Bedeutsam dafür ist die Unterscheidung eines göttlichen vom irdischen Staat, die jeweils durch ein bestimmtes Prinzip charakterisiert werden: Im Gottesstaat vereinigen sich die Menschen, die von reiner Gottesliebe beseelt sind, während die Menschen im weltlichen Staat von der egoistischen Selbstliebe getrieben werden. Grundlage dieser Unterscheidung bildet die christliche Kirche als Manifestation des Gottesstaates und das irdischheidnische römische Reich zu Augustinus’ Zeit. Am Ende der Geschichte wird das göttliche Gericht über beide Staaten richten. Auch wenn Hegel diese Idee von der religiösen Vorstellung befreien wird, behält für ihn die Weltgeschichte als Weltgericht über das Schicksal der Staaten eine teleologisch-eschatologische Funktion.

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Hegel 2005, S. 233. Sternberger 1984.

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Ohne explizit auf Augustinus einzugehen,23 deutet Hegel die eschatologische Idee des Christentums als wesentlichen Fortschritt in der (Ideen-)Geschichte. Der Kerngedanke besteht in der Versöhnung von Gott und Welt bzw. Mensch. Im Gegensatz zur „natürlichen“, das heißt unmittelbaren Einheit beider in älteren Religionen, ist der christliche Mensch aufgefordert, aus seiner Natürlichkeit herauszutreten, um diese Einheit herzustellen: „Die erste Natürlichkeit soll aufgehoben werden. Dies ist die Idee des Christentums überhaupt“ (19/494). Die Geschichte wird zu einer Bildungs- oder Erziehungsgeschichte der Menschheit, wobei jeder einzelne Mensch als Individuum angesprochen ist:

„[J]edes Subjekt, der Mensch als Mensch hat einen unendlichen Wert, ist dazu bestimmt, dass der göttliche Geist in ihm wohne, dass sein Geist vereinigt sei mit dem göttlichen Geist; und dieser ist Gott. Der Mensch ist zur Freiheit bestimmt, er ist hier anerkannt als an sich frei“ (19/500).

Das Prinzip der subjektiven Freiheit, das im antiken Denken nur mangelhaft ausgeprägt war, erhält nun volle Gültigkeit; dies impliziert im Politischen die Abschaffung von Sklaverei und Tyrannei. Ein weiterer, damit zusammenhängender Aspekt des Christentums ist die Nähe zur Vernunft. Die geforderte Einheit von Gott und Welt vollzieht sich dadurch, dass die Welt als Erscheinung Gottes vom Menschen vernünftig gestaltet werden muss: „Mit anderen Worten, die Gesetze, Sitten, Staatsverfassungen […] soll[en] vernünftig werden“ (19/501). An bekannter Stelle heißt es: „[E]s ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“ (7/403, § 258). Das politische Denken der Neuzeit hält an diesen Überzeugungen fest, wonach der subjektive Wille des Einzelnen sowie die Vernünftigkeit des Staates unzerstörbare Elemente der politischen Wirklichkeit sind. Doch unterliegt die inhaltliche Bestimmung von Wille, Vernunft und Staat beträchtlichen Schwankungen.

4. Die politische Welt als Wille und Vernunft: Von Hobbes bis Fichte. Thomas Hobbes’ (1588-1679) philosophisches wie politisches Denken speist sich aus einer umgreifenden Kritik an demjenigen Weltbild, das unter Berufung auf Aristoteles die gesamte Schultradition prägte. In zweierlei Hinsicht verlangt er eine radikale Abwendung davon: Erstens setzt er anstelle des teleologischen Naturverständnisses, wonach jedes Seiende seiner ihm von Natur aus eigentümlichen Bestimmung zustrebe, das in den Naturwissenschaften seiner Zeit sich durchsetzende mechanisti23

36

In den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie und auch sonst erwähnt ihn Hegel kaum.

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sche Erklärungsmodell. Ein ganzheitliches Modell weicht einer Betrachtung der Bewegung von Körperelementen. Zweitens verwirft er auch in der Politik die Vorstellung, dass das Ganze vor seinen Teilen sei, und begründet damit den neuzeitlichen Individualismus. Allgemein wird für diese Wende die neuzeitliche Legitimationskrise des Staates verantwortlich gemacht. Politisches Denken befasst sich nicht länger mit der Frage, wie die richtige Herrschaftsform beschaffen ist, sondern sie stellt die radikalere Frage, ob und wie Herrschaft überhaupt zu rechtfertigen ist. Fokus dieser Rechtfertigungsstrategie ist der einzelne Mensch:

„Vorher wurden Ideale aufgestellt, oder Schrift oder positives Recht; Hobbes hat den Staatsverband, die Natur der Staatsgewalt auf Prinzipien zurückzuführen versucht, die in uns selbst liegen, die wir als unsere eigenen anerkennen“ (20/226).

Wie Aristoteles geht Hobbes in seinem politischen Hauptwerk Leviathan vom einzelnen Menschen aus, den er indes nicht als ein von Natur aus zur Gemeinschaft bestimmtes Lebewesen verstanden wissen will. War die Polis für Aristoteles noch eine natürliche Lebensform des Menschen, so wird der Staat bei Hobbes zu einem künstlichen Konstrukt. Im Gegenzug kann man den Menschen in einem vorpolitischen Zustand, dem Naturzustand, beschreiben. Hobbes entwirft ein Bild der natürlichen Verhältnisse unter den Menschen auf der Grundlage eines mechanizistischen Materialismus der Ruhe und Bewegung. Der natürliche, das heißt vorpolitische Mensch ist getrieben von einem Streben nach Selbsterhaltung, Macht und Ehre, das ihn in einen Krieg aller gegen alle verstrickt: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man against every man“.24

Jeder Mensch ist dem anderen ein Wolf (homo homini lupus) – wie es nach einer anderen bekannten Formulierung heißt. Es herrscht ein Zustand allgemeinen Egoismus, worin jeder von seiner natürlichen Freiheit, seinem Recht auf alles, Gebrauch machen kann. Die Vernunft treibt dabei den Menschen zu immer größerer Macht, da sie ihn zum Vergleich mit anderen anstiftet. Für Hobbes ist die den Menschen auszeichnende Fähigkeit der Vernunft nicht mehr als ein kalkulierendes Vermögen zur richtigen Mittelwahl, die den höchsten Zielen wie Selbsterhaltung und Glückseligkeit untersteht.25 Mehrere Gründe – so z.B., dass im Naturzustand jeder den anderen jederzeit umbringen kann,26 oder auch das allgemeine Streben nach Frieden (Ruhe) – veranlassen

24 25 26

Hobbes 1994, S. 71. Hobbes 1994, S. 40. Darin besteht für Hobbes die natürliche Gleichheit unter den Menschen (Hobbes 1994, S. 69). Vgl. 7/152.

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den Übergang in den gesellschaftlichen Zustand. Dieser Schritt verlangt die Zustimmung aller oder den Gesellschaftsvertrag, den Hobbes in folgende Formel fasst:

„I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorise all his Actions in like manner“.27

Dies ist die Geburtsstunde des Leviathans, ursprünglich ein biblisch-mythologisches Seeungeheuer, das Hobbes als Sinnbild für den Staatssouverän, dem sich alle Bürger durch Vertrag unterwerfen, annimmt.28 Trotz aller inhaltlichen Unterschiede besteht – wie schon bei Platon – auch bei Hobbes eine gewisse Analogie zwischen Mensch und Staat: Der mechanistisch konzipierte Mensch, dessen von Natur aus freier Wille nach Selbsterhaltung und individuellem Glück strebt, unterwirft sich der künstlich geschaffenen Staatsmaschine, an deren Spitze die Willkür des Monarchen (oder einer Versammlung) steht und für die Selbsterhaltung des Ganzen Sorge trägt. Wie Hegel kritisch anfügt, steht in Hobbes’ Staatsentwurf durchgehend das Individuum im Mittelpunkt; der Staat entspringt dem aggregativen Zusammenschluss menschlicher Atome zu einem künstlichen Ganzen. Auch die Vernunft, welche die Menschen zu diesem Übergang treibt, ist eine den individuellen Vorteil berechnende Instanz. Für Hegel wird spätestens mit Hobbes der subjektiven Freiheit im politischen Denken Rechnung getragen. Ihre Überbewertung führt jedoch zu einem folgenschweren Widerspruch: Im Ausgang von der subjektiven Freiheit wird ein Staat gefordert, der zugunsten des Friedens eine radikale Einschränkung, wenn nicht gar Vernichtung der subjektiven Freiheit initiiert: Staat bedeutet Unterwerfung und nicht Freiheit. Dennoch weist Hegel der Theorie vom Naturzustand ein gewisses Recht als logische Fiktion zu. Im berühmten Kapitel „Selbstbewusstsein“ der Phänomenologie des Geistes kann man unschwer eine Würdigung Hobbes’ erkennen. Dort schildert Hegel, wie das von der Begierde getriebene Subjekt den Kampf auf Leben und Tod mit den anderen und seine permanente Furcht vor dem Tod durch eine vertragsähnliche gegenseitige Anerkennung aller Vernunftwesen überwindet. Daraus entsteht indes für Hegel kein Staat. Der Machtkampf der Individuen um die eigene Glückseligkeit ist Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt des innerstaatlichen Wirtschaftssystems. Hobbes entwirft mithin eine bürgerliche Philosophie, die nicht bis zu den wahren Wurzeln staatlicher Gemeinschaft – dem Ganzen vor den Teilen – vordringt.

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38

Hobbes 1994, S. 100. Dieser für die Moderne zentrale Begriff der Souveränität wird für gewöhnlich auf Jean Bodin (1529-1596) zurückgeführt (Bodin 1983).

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Ein weiterer wichtiger Theoretiker des Gesellschaftsvertrags ist John Locke (1632-1704). Obzwar Hegel betont, dass Lockes Staatsrecht lediglich von historischem Interesse sei (20/221), finden sich bei ihm einige Einflüsse von Locke. Dies betrifft insbesondere den zentralen Stellenwert von Freiheit und Eigentum, wie er in der Zweiten Abhandlung über die Regierung entfaltet wird.29 Auch wenn Lockes Theorie des Gesellschaftsvertrags gern mit Hobbes in die Reihe eines (atomaren) Individualismus gestellt wird, bestehen gewaltige Unterschiede bereits in der Konzeption des Naturzustandes. Einer ungebändigten und deshalb auch gefährlichen Freiheit aller Menschen bei Hobbes, die sich im Recht auf alles manifestiert, steht ein durch Naturgesetze geregeltes Leben bei Locke gegenüber, in welchem sich eine allen Menschen gemeinsame Vernunft widerspiegelt. Vernunft ist eben nicht wie bei Hobbes ein Instrument zum individellen Nutzenkalkül: „The state of nature has a law of nature to govern it, which obliges every one: and reason, which is that law, teaches all mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his life, health, liberty, or possessions“.30

Der Naturzustand ähnelt eher einem friedvollen und geregelten Zusammenleben unter den Menschen, deren Gleichheit nicht die Tatsache, dass jeder jeden umbringen kann, sondern das für alle geltende Naturgesetz, nämlich die Vernunft, ausmacht, woraus die Gleichheit angesichts der Grundrechte auf Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum hervorgeht. Dennoch gibt es auch für Locke einen überzeugenden Grund für einen vertraglich vereinbarten Übergang in den Gesellschaftszustand. Der friedvolle Naturzustand ist stets bedroht, in einen Kriegszustand überzugehen. Auslöser dessen könnte ein Handeln wider das Naturgesetz der Vernunft sein, das heißt ein Unrecht unter den Personen in Form des Eingreifens in das Leben, die Freiheit oder das Eigentum eines Anderen. Unrecht lässt sich generell als Eingriff in die Eigentumssphäre bestimmen; denn unter Eigentum versteht Locke die eigene Person und die zu ihrem Fortbestand wichtigen Güter, die neben Tausch und Erwerb durch Geld vorwiegend durch die eigene Arbeitskraft angeeignet werden. Ein Eingriff ist insofern ein Unrecht, das bei Fehlen einer juristischen Instanz zur Selbstjustiz und möglicherweise zum Kriegszustand führen kann. Zur besseren Bewahrung der Gleichheit und deshalb im Interesse aller Beteiligten ist der vertragliche Zusammenschluss zu einem politischen Körper. Der Staat dient somit vorwiegend dem Eigentumsschutz sowie der Regelung der ökonomischen Verhältnisse unter den Menschen. Mit dieser liberalistischen Staats29 30

Vor allem über Kant erklärt sich Hegels Übernahme Lockescher Ideen (vgl. Siep 1992, S. 81 ff.). Locke 1970, S. 289. Die Formulierung und Begründung von Grundrechten bei Locke hatte Einfluss auf die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten. Auch im Hinblick auf Menschenrechte ist Locke ein wichtiger Vorreiter.

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theorie leistet Locke eine wichtige Vorarbeit für die Staatsökonomen Adam Smith (1723-1790), Jean-Baptiste Say (1767-1832) und David Ricardo (1772-1823), die wiederum Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich beeinflusst haben. Welcher Staat eignet sich für die vernünftige Natur des Menschen? Welchen Staat fordert die Seele-Staat-Analogie bei Locke? Während der Leviathan bei Hobbes absolute Macht über die Individuen ausübt, bleibt die Regierung bei Locke durch die Gesetze der menschlichen Natur gebunden. Dem Staat obliegt es demnach das Wohlergehen und die Freiheit seiner Bürger zu sichern und sich an Recht und Gesetz zu binden. Zu diesem Zweck führt Locke noch vor Montesquieu (1669-1755) eine Gewaltendreiteilung ein, die Machtmissbrauch vorbeugen soll. Allerdings setzt er neben der legislativen und der exekutiven eine föderative Gewalt ein, welche über außenpolitische Beziehungen (Bündnisse, Krieg) entscheidet. Eine weitere Maßnahme, welche demonstriert, dass Locke im Gegensatz zu Hobbes nicht die völlige Unterwerfung der Bürger unter den Staat verlangt, ist das Widerstandsrecht: Bei Verstößen der Staatsgewalt gegen das Naturgesetz sind die Menschen zur Revolution berechtigt. Selbst wenn die im Gesellschaftsvertrag getroffene Wahl der Staatsform auf die Monarchie oder Oligarchie fällt, bleibt für Locke die endgültige Souveränität beim Volk oder besser: bei der menschlichen Natur. Es gehört zu den Entwicklungen neuzeitlichen Staatsverständnisses, dass der einzelne Mensch dem Staat gegenüber äußerlich ist. So lautet zumindest Hegels Kritik am liberalen Modell des Verstandes- bzw. Notstaates, das er von Hobbes bis zu Fichte wirksam sieht.31 Grundlage dieses Verständnisses ist die Ausrichtung der Staatskonzeption an Natur und Interessen des Einzelnen. Dies entspricht aber Hegel zufolge nicht dem Staat, sondern dem ökonomischen Abhängigkeitssystem der bürgerlichen Gesellschaft. „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein“ (7/399, § 258).

Gegen diesen Minimalstaat, der zum bloßen Mittel verkommt, setzt Hegel aber nicht nur die antike Auffassung der Polis als kosmosähnlicher Totalität, welche den Individuen vorausgeht und ihre Lebensform ermöglicht. Bereits im neuzeitlichen Denken vor Hegel gibt es eine Tendenz, Mensch und Staat inniger zu versöhnen. Darunter fasst Hegel Rousseau, Kant und Fichte (7/400, § 258).

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Später wird Ferdinand Lassalle (1825–1864) dafür die Bezeichnung „Nachtwächterstaat“ prägen. Darunter ist ein Ultraminimalstaat (R. Nozick) zu verstehen, der nur noch zur Regelung des reibungslosen Ablaufs der gesellschaftlichen Interessenverfolgung zuständig ist.

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Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) politisches Denken bewegt sich zwischen Fortführung und vehementer Kritik des Fortschrittsoptimismus der Aufklärung. Insbesondere in seinen beiden kulturkritischen Abhandlungen vertritt Rousseau eine fortschrittsfeindliche Position, die den Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand im Sinne einer Dekadenzgeschichte schildert.32 Als falsch verwirft er das Bild, das Hugo Grotius (1583-1645), Samuel von Pufendorf (1632-1694) und Thomas Hobbes vom Naturzustand zeichneten: „[I]ls parlaient de l’homme sauvage, et ils peignaient l’homme civil“.33 Alle drei machen sich schuldig, ihren Naturmenschen mit Fähigkeiten und Vorstellungen ausgestattet zu haben, die allererst dem Gesellschaftsmenschen zukommen wie Rechte, Eigentum und Herrschaft. Anders als für Hobbes stellt Rousseaus Naturmensch keine Gefahr für die anderen Menschen dar; er ist von natürlicher Güte (bonté naturelle), lebt isoliert und kennt insofern nicht den gesellschaftlichen Konkurrenz- und Machtkampf. Solange er gemäß seiner Natur lebt, bleibt er von gesellschaftlichen „Krankheiten“ wie Ehrgeiz, Ruhmsucht und Eitelkeit verschont. Durch zufällige Begebenheit wie Naturkatastrophen oder steigender Bevölkerung wird auch Rousseaus Naturmensch schließlich zur Preisgabe seines paradiesischen Erdenlebens gezwungen. In dieser Krisensituation beginnt die Ausbildung der menschlichen Vernunft (in deren Gefolge: Wissenschaften und Künste): „[L]’état de réflexion est un état contre nature, et […] l’homme qui médite est un animal dépravé“.34 Den eigentlichen Übergang markiert jedoch die Erfindung des Eigentums: „Le premier qui ayant enclos un terrain s’avisa de dire, Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile“.35 Obzwar gegen Pufendorf gerichtet, lässt sich diese Passage auch gegen Locke und dessen These von der „Natürlichkeit“ der Vernunft und des Eigentums lesen. Rousseau zufolge besteht im Naturzustand keine Notwendigkeit des Eigentums, da die Natur allen Menschen ausreichend Mittel zum Leben darreicht. Eigentum ist eine gesellschaftlich vermittelte Vorstellung, die Konkurrenz, Feindschaft und letztlich auch Kriege nach sich zieht. Umso dringlicher stellt sich für Rousseau die Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung; denn er glaubt keineswegs an das ihm schon zu seiner Zeit unterstellte „Zurück zur Natur“. Vielmehr muss die Vernunft auf künstliche Weise errichten, was die Natur von selbst getan hat.36 Die Vorgaben dieser Konstruktion fließen in seinem politischen Hauptwerk Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des 32 33 34 35 36

Rousseau 1995b. Rousseau 1995b, S. 78. Rousseau 1995b, S. 98. Rousseau 1995b, S. 190. Rousseau 1995b, S. 73.

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Staatsrechts ein. Dessen Kernstück ist die Theorie des Willens als moralischpolitischer Instanz, mit der sich Rousseau zu einem der wichtigsten Vorreiter für den Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Hegel) macht.37 Durch die Vergesellschaftung des Menschen kommt es zur Ausbildung konfligierender partikulärer Interessen (volonté particulière). Der durch Vertrag zu konstituierende Staat soll nun weder die Rolle übernehmen, ausschließlich diese Interessen zu regeln wie bei Locke, noch soll er sie als Souverän gänzlich unterdrücken. Der Gesellschaftsvertrag sowie die darin festzusetzenden bürgerlichen Gesetze sollen vielmehr Ausdruck des allgemeinen Willens (volonté générale) aller „Vertragspartner“ sein. Für Rousseau ist der Staat keine äußerliche Regierung für die Bürger, sondern der Zusammenschluss derselben, deren gemeinsames Ich (moi commun). Deshalb ist das Volk selbst Souverän und gesetzgebende Gewalt.38 Rousseau wehrt sich gegen die Idee einer repräsentativen Gewalt; jeder Bürger verfügt über einen Willen, der nicht bloß egoistische Ziele, sondern qua Vernunft auch allgemeine Interessen verfolgt. Dieser allgemeine Wille stiftet die Identität von Bürger und Staat; er ist jedoch vom Willen aller (volonté de tous), im Sinne einer faktischen Gemeinsamkeit aller Bürger, zu unterscheiden. Er ist eine Norm, ein Ideal. Der Gesellschaftsvertrag lautet: „Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen“.39

Rousseaus politische Theorie hat mit zwei schwerwiegenden Problemen zu kämpfen: die Auslegung des allgemeinen Willens sowie der moderne Staat. Die Kritik der neuzeitlichen Trennung von Mensch und Staat (als Regierung) gründet bei Rousseau auf der antiken Vorstellung der Polis als Lebensform der Bürger. Insofern stellt sich die Frage, ob dieses auf eine kleine Gemeinschaft zugeschnittene Modell überhaupt übertragbar auf größere Nationen sei. Rousseau tritt deshalb für ein förderatives System von Kleinstaaten ein, was aber de facto zu seiner Zeit nur sehr begrenzt anwendbar ist.40 Des Weiteren verlangt die Unterscheidung von allgemeinem Willen und Willen aller allgemeingültige Kriterien, die zu Gesetzen führen; doch wer ist in der Lage, diese zu finden und anzuwenden? Rousseaus Misstrauen in das Volk als ganzes zwingt ihn letztlich dazu, die nahezu mythisch anmutende Person des législateur einzuführen, die stark an Platons Philosophenkönig erinnert. In dieser Hinsicht ist auch die Kritik Hegels zu verstehen, der zunächst lobt, dass Rousseau als erster „den Willen als Prinzip des Staats aufgestellt“ habe (7/400, § 258). Diese Instanz ermöglicht eine freie Identifizierung des Bürgers mit dem 37 38 39 40

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Rousseaus Bedeutung für Hegel schildert Neuhouser 2000. Rousseau 1995a, S. 95 ff. Rousseau 1995a, S. 74. Rousseau 1995a, S. 120; 127.

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Staat, die deren neuzeitliche Entfremdung (Äußerlichkeit) voneinander im Sinne der christlichen Versöhnungsidee zu überwinden verspricht. Doch letztlich scheitert Rousseau an der Frage, was unter der Allgemeinheit des Willens zu verstehen ist. Im Gefolge von Hobbes und Locke geht auch Rousseau vom einzelnen Menschen aus. Dies widerspricht nicht nur der antiken Vorstellung vom Vorrang des Ganzen vor den Teilen; es ist vielmehr ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, weil für Hegel der Staat eine höhere Würde und Existenzform als die Menge seiner Bürger besitzt. Er ist „der Gang Gottes in der Welt“, das heißt nicht von den einzelnen Bürgern geschaffen. Desiderat bei Rousseau bleibt eine konkrete Beschreibung des allgemeinen Willens: Wie vermag man zu entscheiden, was Inhalt dieses Willens ist und auf welche Weise lässt er sich in einem politischen Gemeinwesen verwirklichen? In diese Kerbe schlagen Immanuel Kant (1724-1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). So gründet Kants gesamte praktische Philosophie auf dem Begriff der Willensfreiheit. Wahrhaft frei ist derjenige Wille, der sich dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, dem kategorischen Imperativ, verschreibt; darin gibt er sich selbst ein Gesetz seines Handelns und ist autonom. Erfolgt die Motivation des Willens allein aus der gebotenen Pflicht um ihrer selbst willen, dann widersteht der Mensch den partikulären Interessen sinnlicher Provenienz und verfolgt das allgemeine Vernunftinteresse. Diese Abwendung von der Sinnenwelt und Hinwendung zur moralischen Selbstbestimmung ist für Kant auch in der politischen Philosophie bestimmend.41 Höchste Wirklichkeit besitzt nicht die phänomenale, sondern die intelligible Welt der praktischen Vernunft: „[H]ier gilt sich die Vernunft als das Wirkliche“ (20/365). In Kants politischer Philosophie setzt sich die Vorstellung fort, dass die Gesetzmäßigkeit die Allgemeinheit des Willens konstituiert. Da es nunmehr nicht länger um die innere Einstellung des Willens, sondern die Regelung der äußeren Handlungen unter den Menschen geht, sind die Gesetze anderer Art: Politische Philosophie ist bei Kant Rechtsphilosophie. Grundsätzlicher Orientierungspunkt ist weiterhin die menschliche Willensfreiheit, aber nicht, um an den Willen moralische Forderungen zu stellen, sondern um den nötigen Freiraum für moralische Selbstbestimmung zu schaffen und zu bewahren. Kein Mensch darf von anderen zu Handlungen gezwungen werden. „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne.“42 Für Kant fordert die reine praktische 41 42

„Die Rousseausche Bestimmung, dass der Wille an und für sich frei ist, hat Kant aufgestellt. […] Der Wille bestimmt sich in sich, auf Freiheit beruht alles Rechtliche und Sittliche“ (20/365). Kant 1968, Bd. 8, S. 338.

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Vernunft (das Sittengesetz) – und nicht empirisch-pragmatische Gründe wie Existenzsicherung oder Glückseligkeit – den Übergang in den Rechtszustand und die Staatsgründung. Aber gerade um moralische Selbstbestimmung zu gewährleisten, muss ein Rechtssystem etabliert werden, das an seine Mitglieder keine moralischen Forderungen erhebt, also auch für ein „Volk von Teufeln“ funktioniert. Die Verbreitung von Rechtszuständen vollzieht sich, wie Kant in seiner bis heute wirkmächtigsten politischen Schrift Zum ewigen Frieden erörtert, auf den drei Ebenen des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts. Es ist nicht die bewusste Absicht des Menschen, die „zu Begünstigung seiner moralischen Absicht“ führe, sondern die Natur, „aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen. […] Die Natur will unwiderstehlich, dass das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte“.43

In der Gesellschaft herrscht nach Kant ein Antagonismus („ungesellige Geselligkeit“), der schließlich die Rechtsordnung hervorruft. Im Staat ist dies durch eine republikanische Verfassung möglich, welche Freiheit und Mitbestimmung der Bürger durch Gewaltenteilung sichert; dabei optiert Kant für eine repräsentative Demokratie. Zentral ist die Unterordnung aller unter das den allgemeinen Willen verkörpernde Gesetz. Auf internationaler Ebene fordert Kant einen Föderalismus der Völker, der die Autonomie der Staaten erhält. Nationale wie internationale Politik schaffen im Verlaufe der Geschichte einen Möglichkeitsraum für Moralität unter den Bürgern, ohne doch diese bewirken zu können. Obzwar Kant mit dem kategorischen Imperativ und dem allgemeinen Rechtsgesetz eine Art Dechiffrierung des allgemein-vernünftigen Willens geleistet hat, bleibt eine Kluft zwischen Vernunft und geschichtlicher Wirklichkeit, zwischen selbstbestimmter Moral und durch Natur bewirktem Recht. Dieser Dualismus erinnert nicht von ungefähr an Augustinus’ Unterscheidung von Gottes- und Erdenstaat. Auch Kant insistiert auf die Etablierung einer ethischen Gemeinschaft, die niemals politisch, vielmehr nur in der Kirche, verwirklicht werden kann.44 Auf diese Weise ist aber eine vollständige aktive, das heißt willentlich vollzogene Identifizierung des Bürgers mit dem Staat unmöglich; es bleibt eine Entfremdungssituation gegenüber dem „Notstaat“, nur die Kirche verspricht Versöhnung. Zwei Alternativen stehen offen, um diesen „Missstand“ zu beheben: Während die erste die Einschränkung der Moralität und Umdeutung des allgemeinen Willens im Sinne eines „patriotischen“ Willens betreibt, forciert die andere den Primat der Mo43 44

44

Kant 1968, Bd. 11, S. 217 und 225. Zur Geschichtstheorie und dem Verhältnis von Moral und Recht bei Kant vgl. Binkelmann 2009. Kant 1968, Bd. 8, S. 757 ff.

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ralität, was letztlich zur Abschaffung des Staates als äußerer Zwangsanstalt führen soll. Diese revolutionär-anarchistische Alternative wählt der junge Fichte unter dem Eindruck der Französischen Revolution. Auch Fichte verankert das Recht in der Freiheit und Vernunftnatur des Menschen; dies geschieht durch die Theorie der Anerkennung, die Hegel früh in seine Philosophie integrierte. Danach gewinnt jeder Mensch erst dadurch ein Selbstbewusstsein von sich als vernünftigem Wesen, dass ein anderer Mensch ihn zu einer vernünftigen Handlung auffordert. Dieser Vorgang, den man empirisch in der Kindeserziehung verorten kann, impliziert die gegenseitige Anerkennung beider Seiten als vernünftiger Wesen und damit den ursprünglichen Schöpfungsakt eines Rechtszustandes: „Ich muss das freie Wesen außer mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken“.45 Diese Anerkennung ist die Keimzelle eines Gesellschaftsvertrags, woraus als logische Implikationen Eigentums-, Schutz-, Unterwerfungs- und Vereinigungsvertrag folgen. Um aus diesen Verträgen, die jeder Mensch befolgen muss, insofern er als vernünftiges und freies Wesen gelten will, einen stabilen Rechtszustand zu schaffen, fordert Fichte eine konsequente Anwendung („mit mechanischer Notwendigkeit“) der abgeleiteten Gesetze durch Staat und Polizei, die Hegel letztlich dazu verleiten wird, Fichtes Staat als „Polizeistaat“ zu verurteilen. Doch mehr noch als bei Kant dient Fichte ein vor Eigeninteressen und Machtkämpfen gesicherter Rechtszustand als Mittel zur Verwirklichung der moralischen Autonomie der Bürger. Auch wenn Fichte dazu ähnlich wie Kant einen Gegensatz zwischen moralischer Kirchengemeinschaft und politischer Zwangsanstalt aufstellt, gibt er als höchstes Ziel der Kultur die Moralisierung aller Bürger an. Sobald alle Bürger den allgemeinen moralischen Willen frei übernehmen, was nur in unendlicher Annäherung möglich ist, bedarf es keiner äußeren Zwänge mehr; sämtliche Institutionen fallen hinweg: „Es fällt weg Kirche und Staat. Alle haben die gleichen Überzeugungen, und die Überzeugung eines jeden ist die Überzeugung Aller. Es fällt weg der Staat, als gesetzgebende und zwingende Macht. Der Wille eines jeden ist wirklich allgemeines Gesetz, weil alle anderen dasselbe wollen: und es bedarf keines Zwanges, weil jeder schon von sich selbst will, was er soll“.46

Fichte entwirft den idealen Zustand einer Gemeinschaft, in welcher jedes Individuum den allgemeinen Willen in seiner Person vollkommen realisiert und sich deshalb mit dem Ganzen identifiziert. Dieser Wille ist Ausdruck und Vollendung von Fichtes Theorie des absoluten Ich, das an Rousseaus moi commun erinnert. Hegel übernimmt viel von Fichtes Willenskonzeption, insbesondere die Vorstellung, dass die menschliche Willensstruktur mit der Realität des Kollektivs übereinstimmen 45 46

Fichte 1991, S. 52. Fichte 1969, S. 250.

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muss, weil nur so der Mensch seine vollkommene Zustimmung zu dieser Realität als Manifestation seines Willens geben kann.47 Doch ist Fichtes Idealzustand einer moralischen Gemeinschaft kein realer politischer Zustand, dessen Bestandteil wie Gesetze, Institutionen und Regierung stellen sich für Fichte als eine abzuschaffende Realität dar, welche der menschlichen Freiheit letztlich widerspricht. Mit der staatlichen Wirklichkeit vermag sich der Fichtesche Mensch nicht zu versöhnen.

5. Zusammenfassung Das politische Denken von Platon bis Hegel ist – ob explizit oder nicht – von der Analogie von Bürger und Staat geleitet. Diese reicht von einer natürlichen Einheit von Seelen- und Polisverfassung bei Platon bis zur vom Bürger bewusst gewollten und tätig vollzogenen Identifizierung. Diesen geschichtlichen Prozess deutet Hegel als einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Das dem antiken Denken fremde Moment der subjektiven Freiheit hat sich im Ausgang des Christentums insbesondere im neuzeitlichen Denken bis zur Transzendentalphilosophie im Selbstverständnis der Menschen durchgesetzt. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich für Hegel die Theorie der Subjektivität in den romantischen Positionen wie bei Fries ad absurdum geführt; dort ist der subjektive Wille jeglicher Vernünftigkeit entkleidet. Dagegen ist es wichtig, die Tradition von Rousseau bis Fichte und damit ihre Idee eines allgemeinen, vernünftig-gesetzmäßigen Willens zu rehabilitieren. Dennoch insistiert Hegel gleichermaßen auf die Errungenschaften antiken Denkens, wenn er die Tragweite subjektiver Freiheit einschränkt. Nicht der einzelne Bürger bestimmt über den Staat, vielmehr ist letzterer eine Lebensform, in welcher der Bürger erst zu dem heranwächst, was er ist und will: Das Ganze ist vor seinen Teilen. In dieser Erkenntnis, die in historistischer Relativierung auch die Rechtsschule um Savigny vertritt, steht nicht so sehr der Wille nach subjektiver Selbstbestimmung an höchster Stelle. Vielmehr muss dem Bürger die Erhaltung dieser Lebensform, seines Staates, am wichtigsten sein. Der allgemeine Wille manifestiert sich daher im Patriotismus. Indes folgt Hegel nicht dem Hass der Gesetze und der Vernunft seiner Zeit: Auch der patriotische Wille ist als geschichtliche Konsequenz vernünftig verfasst; nur so vermag er seine subjektive Freiheit zu erhalten. Der moderne Staat besitzt eine vernünftige Konstitution, die sich notwendigerweise in der Geschichte durchgesetzt hat, weil nur so eine stabile Identität von Bürger und Staat, die das Wesen des Politischen darstellt, auf Dauer bestehen kann. Bürger und Staat 47

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Die ausführliche Darstellung dieser Parallele in der praktischen Philosophie von Fichte und Hegel in: Binkelmann 2007.

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sind dann nur noch zwei Seiten einer Einheit, die zugleich wirklich und vernünftig ist:

„Die Notwendigkeit in der Idealität ist die Entwicklung der Idee innerhalb ihrer selbst; sie ist als subjektive Substantialität die politische Gesinnung, als objektive in Unterscheidung von jener der Organismus des Staats, der eigentlich politische Staat und seine Verfassung“ (7/412 f., § 267).

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Thomas Sören Hoffmann

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Freiheit, Anerkennung und Geist als Grundkoordinaten der Hegelschen Staatsphilosophie

Hegels in den Grundlinien der Philosophie des Rechts1 von 1821 niedergelegte Rechtsphilosophie zählt unbestritten zu den Hauptwerken des Vollenders des Deutschen Idealismus – und dabei in jedem Fall zu jenen Werken, denen eine Verbreitung und markante Wirkung weit über Philosophenzirkel hinaus beschieden war.2 In der Tat hat Hegel, wenn mit einem Buch, dann mit diesem, regelrecht Geschichte gemacht: mit einem Buch, das, was heute oftmals vergessen ist, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlage eines vielfach höchst erfolgreichen politischen Wirkens von Hegelianern in zahlreichen Ländern abgeben konnte – in Italien etwa oder in Finnland, in Russland oder in Nordamerika.3 In einer Wirkung wie dieser spiegeln sich dabei durchaus Hegelsche Intentionen, hat Hegel seine Philosophie doch von einer kritischen Zeitgenossenschaft her verstanden, deren Sinn es stets war, einen substantiellen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (wie die Formel der Hegelschen Geschichtsphilosophie lautet) theoretisch wie praktisch zu fördern. Gerade für diese Zielsetzung aber ist die Rechtsphilosophie von besonderer Bedeutung: geht es doch gerade hier, beim Recht, um den Kreuzungspunkt zwischen dem subjektiven Selbstbewusstsein der Einzelnen und den objektiven „Strukturen“, die diesem Selbstbewusstsein entsprechen. „Recht“ steht bei Hegel immer auf der Grenze zwischen individuellem und kollektivem Selbstbewusstsein, und ein konkretes, historisches Recht zu verstehen, heißt eben deshalb zugleich, etwas über die 1 2

3

Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts werden als Rechtsphilosophie nach der Ausgabe Hegel 1955 ohne weitere Namensnennung mit ‚Seitenzahl, Paragraph’ zitiert; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz. In gleichem oder noch größerem Maße weite Kreise gezogen haben dann Hegels inhaltlich auf die Rechtsphilosophie aufbauende Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die dann freilich auch das (etwas einseitige) Bild von Hegel als „Geschichtsphilosophen“ geprägt haben. Für Italien und seine nationale Einigung sei hier exemplarisch auf die beiden Brüder Bertrando und Silvio Spaventa verwiesen, von denen der letztere u.a. als Minister des neuen Nationalstaats Italien den Hegelschen Gedanken des „sittlichen Staates“ umzusetzen suchte. Für Finnland ist Johan Vilhelm Snellman, der „Vater des finnischen politischen Selbstbewusstseins“ (Eino Leino), als ausgewiesener Hegelianer zu nennen, für Russland sei nur an Alexander Herzen erinnert. In Nordamerika schließlich hat der Kreis der Hegelianer von St. Louis mindestens bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen kaum zu überschätzenden gesellschafts- und kulturpolitischen Einfluss entwickelt.

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äußere wie die innere Verfassung konkreter Menschen und ihrer Lebenswelten zu erkennen. Nicht zu vergessen, dass nach Hegel das, was „Recht“ ist, zugleich den entscheidenden Motor geschichtlicher Prozesse bezeichnet, die ihrerseits wieder Prozesse der sich selber in ihrer Realisierung suchenden Freiheit sind. Die höchste Form innergeschichtlich realisierbarer Freiheit ist dabei nach Hegel die Rechts- qua Anerkennungsordnung des Staates. Der konkrete Staat ist, wenn man so will, das Sinngebilde, an und in dem der Fluss der Geschichte an einen Punkt der Vollendung gelangt, der zwar kein absoluter Endpunkt in dem Sinne ist, dass die Staaten geschichtsenthobene Gebilde wären, der aber ein Knotenpunkt sich stabilisierender Freiheit ist, an dessen Existenz für das Individuum wie für die Gemeinschaft sehr vieles, was mit Freiheitsverwirklichung überhaupt zu tun hat, hängt. Viele der immer noch verbreiteten Missverständnisse der Hegel’schen Staatslehre rühren schon daher, dass man eben diesen Sinn einer konkreten Freiheitsstabilisierung, den Hegel aller Staatlichkeit beilegt, verkannt und den Staat weder aus seiner eigenen Genese aus der Freiheit heraus noch auch seiner inneren Qualität als Anerkennungsgarant nach, dass man ihn vielmehr nur als äußere Objektivität, als Machtstaat verstanden hat. Es empfiehlt sich umso mehr, die folgenden Überlegungen an die drei Leitbegriffe „Freiheit“, „Anerkennung“ und „Geist“ zu knüpfen, mit denen wir in der Tat die zentralen Koordinaten des Hegelschen Rechts- und Staatsdenkens vor Augen haben. Wir beginnen zunächst mit einigen Vorbemerkungen, die den Zugang zu Hegels Ansatz, gerade auch angesichts mancher irritierender Vormeinungen, erleichtern sollen.

1. Recht als schon wirkliche Vernunft: Vorbemerkungen zum Verständnis des Hegelschen Rechts- und Staatsdenkens Hegelinterpreten haben immer wieder den Umstand herausgestrichen, dass die ausgearbeitete Rechtsphilosophie in gewisser Weise Hegels praktische Philosophie insgesamt vertritt. Und in der Tat: eine eigene „Ethik“, „Moral“ oder „Sittenlehre“, wie noch Kant oder Fichte sie vorgelegt hatten, gibt es aus Hegels Feder nicht. Stattdessen enthält Hegels Rechtsphilosophie in ihrer klassischen Gestalt4 jeweils selbst einen Teil mit dem Titel „Die Moralität“, der in die Lehre vom Recht in sei4

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Also in jener Version, die wir sowohl in den Grundlinien wie auch in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in ihren drei verschiedenen Auflagen (zuletzt 1830) antreffen. Hier sei nur kurz erwähnt, dass Hegel in seinem ersten Klassiker, der Phänomenologie des Geistes, eine alternative Perspektive auf das Verhältnis von Recht und Moral entfaltet, insofern hier nämlich die „Moralität“ als Abschlussgestalt der Philosophie des (objektiven) Geistes erscheint.

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nen verschiedenen Gestalten eingebettet ist. Dem Fehlen einer selbstständigen Ethik bei Hegel korrespondiert dabei durchaus, dass Hegel gegenüber dem moralischen Pathos Kants, Fichtes und ihrer Nachfolger deutlich in der Reserve bleibt und, wo jene zu einer rationalen „Konstruktion“ der menschlichen Welt aufrufen, eher die gewachsenen Institutionen, darunter vor allem den Staat, in ihrer die Moralität übersteigenden Dimension entdeckt. Hegel bringt mit dieser Entdeckung die unhintergehbare historische Dimension menschlicher Praxis methodisch zur Geltung, die jetzt nicht länger als unmittelbarer Ausdruck einer „reinen“ praktischen Vernunft erscheint, dennoch aber nicht einfach für unvernünftig gehalten werden darf. Auf eine kurze Formel gebracht: Wenn für Kant und Fichte menschliche Praxis vom Anspruch der Autonomie des Subjekts her zu verstehen ist, weist Hegel darauf hin, dass diese Autonomie, so sehr sich mit ihr ein unverzichtbares normatives Motiv verbindet, nicht einfach in spontaner Unmittelbarkeit gegeben ist, sondern eine Genesis hat, die uns auf die Sphäre des „objektiven Geistes“, auf den Bereich des geschichtlich, sprachlich und kulturell immer schon vor der Moral existierenden Rechtes verweist. Schlagwortartig hat man in diesem Zusammenhang gerne davon gesprochen, dass Hegel mit seinem Ansatz beim Recht als dem eigentlichen Fokus der menschlichen Praxis ein der Sache nach aristotelisches Modell substantieller Sittlichkeit wiedergewinnt – ein Modell, von dem dann nicht wenige Hegelkritiker meinten, dass mit ihm das Reflexionsniveau der Moderne auf riskante Weise unterboten würde.5 Die Dinge liegen freilich so ganz einfach nicht; im Gegenteil muss bei Hegel schon früh, spätestens aber in seiner Jenaer Zeit, dort vor allem dokumentiert im Naturrechtsaufsatz, davon ausgegangen werden, dass er umgekehrt, von den Aporien einer reflexionsphilosophischen Begründung des Ethischen herkommend, in einem integrativen ethischen Ansatz, der, modern gesprochen, menschliche Praxis nicht an der menschlichen Lebenswelt vorbei zu denken versucht, eine tragfähige Lösung für bei Kant und Fichte offen gebliebene Fragen fand.6 Tatsächlich führt Hegel, was man nie übersehen sollte, in der entwickelten Gestalt seiner Rechtsphilosophie einen Mehrfrontenkampf: Hegels schroffe Absagen ergehen nicht minder an die soeben Oberwasser gewinnende historische Rechtsschule wie an restaurative 5 6

Statt vieler anderer verweise ich hier nur auf Ilting 1973, der auch einen Überblick über die frühe Hegel-Rezeption bietet. Zur Korrektur mancher ungerechtfertigter Unterstellungen, die Ilting gegenüber Hegel vorbringt, vgl. im übrigen Lucas/Rameil 1980. Dass es auch später nicht einfach um eine romantische Verklärung voraufgeklärter Zustände ging, zeigt übrigens schon die Anekdote, dass Hegel im Sommer 1820, drei Wochen nach Abschluss des Manuskripts der Rechtsphilosophie, bei einem Besuch in Dresden, Elbwein verweigernd, das Champagnerglas auf den 14. Juli erhob, während zugleich die Gesellschaft, in der er dies tat, zunächst gar nicht wusste, was es mit dem Datum – dem Tag der Erstürmung der Bastille – auf sich hatte; vgl. Nicolin 1970, S. 213 f. (berichtet von Friedrich Förster).

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Tendenzen im Sinne Carl Ludwig von Hallers, nicht weniger an die überfliegenden politischen Konstruktionen der Fichte-Schule wie an den Liberalismus, der den Staat nur als äußere Notveranstaltung, hingegen nicht als von einer inneren Identifikation seiner Bürger mit ihm getragen versteht. Hegels eigener Grundgedanke ist dabei nach all diesen Seiten hin entschieden vernunftrechtlicher Natur.7 Er zielt dabei auf ein Vernunftrecht, das nicht – moralisch oder rational-konstruktiv – als ein abstraktes Sollen über den Dingen schwebt, ein Recht, das Freiheit nicht nur verheißt, sondern sie als in der Zeit existent aufweist, sie zugleich anregt und in jedem Fall auch erfahrbar macht. Gerade im Rechtsbegriff dürfen nach Hegel das apriorische und das empirische Moment nicht auseinander fallen, beide sind in ihm als ihrer lebendigen Einheit zu denken, und das Recht bezeichnet in der Tat solange eine existierende Ausprägung von Vernunft, wie in ihm das notwendig immer überempirische Freiheitsmoment als ein normativer Vernunftanspruch und die reellen Bedürfnisse eines Lebens in ganz konkreten Verhältnissen zusammenfinden. Der berühmte „Doppelsatz“ aus der Vorrede, der da lautet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (14), besagt in genau diesem Sinne in der Tat nichts anderes, als dass Recht eben nur insofern Recht ist, als es nicht nur eine abstrakte „Sollbestimmung“ meint. Vielmehr ist nach Hegel das Recht (als Ausdruck von Vernunft) selbst eine Wirklichkeit, ein „Sein“, es ist ein „gesolltes Sein“ und „seiendes Sollen“, das (insoweit in Analogie zum alten Naturrecht) schon da ist und das Leben der Menschen ganz objektiv bestimmt. Man hat den zitierten „Doppelsatz“ trotz dieses an sich sehr klaren Sinns, den er bei Hegel hat, leider immer wieder als einen der ‚Anbiederungsversuche’ Hegels verstanden, so als wolle er eigentlich sagen: „Was die preußische Staatsregierung faktisch tut, ist per se schon vernünftig“. Aber der „Doppelsatz“ enthält keine nur empirischen Botschaften dieser Art, er drückt vielmehr in abgewandelter Form die für Hegel auch sonst gültige parmenideische Grundlage alles Philosophierens, die Identität von Denken und Sein,8 aus. Es war schon von daher verfehlt, als man, im Anschluss an Karl-Heinz Ilting und scheinbar mit Rückhalt am Wortlaut von Hegels Vorlesungen, versucht hat, den 7

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Nicht zu vergessen ist, dass Hegel seine Rechtsphilosophie mit vollem Titel „Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grindrisse“ nennt. Er knüpft insoweit bei der Tradition des überpositiven Rechtes an, wie sie in der Naturrechtslehre Gestalt gewonnen hatte, tut dies jedoch so, dass dabei im Sinne der Kantischen Revolutionierung auch des Rechtsdenkens eine metaphysische, theologische oder sonst dogmatische Begründung des „Naturrechts“ nicht mehr in Betracht kommen kann. Hegel entfaltet den Rechtsgedanken vielmehr als den Gedanken einer reflexiven Ordnung des sich in seiner Empirie selbst suchenden und sich seiner selbst bewusst werdenden freien Willens: es geht im Recht um die erscheinende Vernünftigkeit der Freiheit, weshalb man den Begriff „Naturrecht“ bei Hegel auch mit „Vernunftrecht“ wiedergeben kann. Im Sinne des berühmten Fragments 3 des Denkers von Elea: „Dasselbe sind Denken und Sein“.

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„Doppelsatz“ dahin zu entschärfen, dass er nur noch besagte: „Was vernünftig ist, wird wirklich“, in ihm also nichts weiter als einen aufgeklärten Fortschrittsglauben und ein wenig Prinzip Hoffnung erkennen wollte. Aber genau das heißt, die Pointe des Hegelschen Rationalismus opfern, demzufolge die Vernunft niemals nur blasse und bloße Form, sondern sich selbst Wirklichkeit gebende „absolute Form“ oder reale „Idee“ ist. Es bedarf dann kaum noch des Hinweises, dass die erwähnte Entschärfung auch philologisch keinen rechten Anhalt bei Hegel hat; ich verweise dazu hier nur auf die im Jahre 2000 publizierte Nachschrift der Berliner Rechtsphilosophie-Vorlesung von 1819/20, in der es wörtlich heißt: „Was vernünftig ist, ist wirklich und umgekehrt, aber nicht in der Einzelheit und dem Besonderen, das sich verwirren kann“.9 Zur Erläuterung des Rechts als realer Idee mag man dabei auch die folgenden Ausführungen hinzunehmen: „Die wahrhafte Idee ist substantiell, der innere Begriff selbst – keine leere Vorstellung, sondern das Stärkste, das allein Machthabende. Es wäre eine leere, irreligiöse Vorstellung, das Göttliche sei nicht mächtig genug, sich Existenz zu verschaffen, das Wahre sei nur jenseits des blauen Himmels oder im subjektiven Gedanken, im Innern. [...] Indem wir in der Philosophie die Idee erkennen, so erkennen wir das Wirkliche selbst, das, was ist, nicht das, was nicht ist“.10

Die Rechtsphilosophie hat nach Hegel den objektiven Geist, die schon daseiende Vernunft, die es als erstes zu erkennen gilt, zum Thema. Es geht ihr weder um eine positivistische Bestandsaufnahme dessen, was – kontingenterweise – vorhanden ist noch um letztlich immer leicht zu erdenkende Utopien. Im Recht und so auch in der Lehre vom Staat als existierendem Recht geht es, wie gesagt, um die bereits gelebte und sich geschichtlich weitergebende Freiheit, die sich zumal in ihm ihrer eigenen Vernünftigkeit bewusst wird.

2. Freiheit als Rechtsursprung, Staat als objektivierte Freiheit Die Frage, worum es im Recht eigentlich geht, hat Hegel im Paragraphen 1 der Rechtsphilosophie in klassischer Formulierung wie folgt beantwortet: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung, zum Gegenstande“ (19, § 1). Die philosophische Rechtslehre geht auf die (reale) Idee des Rechts: Das bedeutet, sie thematisiert die Urkonstitution des Rechts, das „es“ nicht gibt, sondern das „sich gibt“ – in dem Sinne nämlich, wie alle Vernunftrechtslehre das Recht als notwendig zu habenden Gedanken denkt, als einen Gedanken, der sich der praktischen Vernunft durch sich selbst erschließt. 9 10

Hegel 2000, S. 8. Hegel 2000, S. 6.

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Die philosophische Betrachtung bezieht sich dabei auf den „Begriff“ des Rechts wie ebenso auf dessen „Verwirklichung“: auf Recht als in sich klare, sinnhafte Form wie ebenso auf Recht als äußere, gelebte Wirklichkeit, die die empirische Seite unserer Existenz mit umfasst. Die Rechtswirklichkeit ist so gerade nicht das prinzipiell Irrationale, das neben dem rationalen Rechtsbegriff stünde, und es ist auch keineswegs so, dass die Rechtsausgestaltung als Frage historisch kontingenter Dezisionen neben der allgemeinen Rechtsidee stünde und mit dieser allenfalls faktisch vermittelt wäre. Das Recht ist nach Hegel überhaupt der Gedanke, dass Freiheit um ihrer selbst willen existiere, dass sie da sein soll und schon da ist, und die Rechtsidee ist, wenn man so will, insofern der Schluss, der das überempirische Sollen der Freiheit mit der unmittelbaren Welt zusammenbindet. Das Recht hat den Sinn, Freiheit sozusagen zu materialisieren, und es ist nach Hegel die eigentliche Bedeutung der Rechtsinstitutionen, insbesondere des Staates, daseiende, objektiv gewordene Freiheit zu sein. In der rechtlich verfassten Welt lebt der Mensch dann nicht mehr nur in einer natürlichen Umwelt, sondern in einer zweiten, der Freiheit verdankten Welt, die er über der Naturwelt errichtet hat. Im Paragraphen 4 der Rechtsphilosophie heißt es: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine [des Rechts] Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist“ (28, § 4).

Diese zweite Welt ist zwar immer noch auch eine empirische, auch eine äußere Welt, aber sie ist, wenn man so will, eine freiheitlich umgewendete oder umgedeutete, eine geistig-empirische Welt. In ihr ist beispielsweise der Naturgegenstand nicht mehr einfach nur äußeres Objekt, er ist statt dessen in der Bestimmung des Eigentums Mittel einer geistig-zweckgerichteten Existenz geworden; in ihr ist so auch der andere nicht einfach nur ein natürliches Individuum, sondern Person, d. h. er ist als existierender freier Wille anerkannt, durch welche Anerkennung jedem anderen freien Willen unmittelbar wiederum eine Grenze gezogen, so aber auch ein Verhältnis der verschiedenen freien Willen zueinander gestiftet ist, das Hegel, wie wir noch näher sehen werden, als ein Verhältnis der Anerkennung näher qualifiziert; in ihr ist zuletzt auch der Lebensprozess der einzelnen und der Gattung überhaupt nicht einfach nur eine Naturtatsache, sondern, vor allem im Leben des Staates, zu einer Gestalt des Lebens selbstbewusster Freiheit geworden, für die weder die natürliche Lebendigkeit noch auch die Vernünftigkeit der Einzelsubjekte je alleine aufkommen können, sondern die es einzig auf die Weise des sich rechtlich selbst bestimmenden Willens zur Freiheit gibt. Mit diesem Rückgang auf Freiheit nun als den eigentlichen Grund von Recht fundiert Hegel das Recht und den Aufbau der Rechtswirklichkeit bis hin zum Staat zunächst – gut nachkantisch – in der Subjektivität, im Ich überhaupt. Das Recht konstituiert sich, indem der freie Wille seine auch äußere, seine ihn mit den anderen 54

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Freien vermittelnde Freiheit und darin sich selber will. Hegel unterscheidet sich gerade durch die Berufung auf die Freiheit als elementares Rechtsprinzip grundsätzlich von aller nur dogmatischen, aller utilitaristischen oder gar machttheoretischen Rechtsbegründung. Wenn eine solche Berufung auf die Freiheit als oberstes Rechtsprinzip ein erst nach Kant denkbares (und von Kant auch als erstem vollzogenes) Novum ist, so bleibt sie in der Sache stets „riskant“: wagt ein solcher Versuch es doch, Sozialität überhaupt aus einem, wie es zunächst scheint, rein negativen und gestaltlosen Prinzip zu begründen, aus einem Prinzip, von dem vor allem nicht klar zu sein scheint, wie damit zuletzt noch der „Staat“, also eine stabile innergeschichtliche Ordnung, etabliert werden können soll. Hegel weiß, dass das Ich, in welchem die Freiheit zu Selbstbewusstsein gelangt, zunächst auch die anarchische Macht der „absoluten Abstraktion“ ist (30, § 5), die das ihm Fremde negiert, sodass Freiheit hier als „Furie des Zerstörens“ auftreten kann (31, § 5 A), was Hegel selbst am Beispiel der Französischen Revolution schon früh zu illustrieren gewusst hat.11 Allerdings ist das Ich, in dem alles Freiheitsbewusstsein seinen Anfang nimmt, stets auch endliches oder besonderes Ich, dem es eben um seiner Besonderheit willen auch um konkrete Selbstbestimmung, das heißt nicht einfach nur um negative Freiheit, sondern um qualifizierte Freiheit eines vernünftigen Daseinkönnens geht. Der Anspruch des freien Willens auf eine objektiv vermittelte Existenz ist dabei der Anspruch, die äußere Welt den eigenen Zwecken, genauer: der eigenen Selbstzweckhaftigkeit, gemäß erfahren und gestalten zu können. Der entsprechende Zweck der „Einbildung“ der eigenen Subjektivität in die äußere Welt, der Zweck der eigenen „Objektivwerdung“, die mit dem Eigentumserwerb beginnt und nach Hegel in dem Rechtsverhältnis kulminiert, in dem ich „mein Staat“ geworden bin, das heißt als freies Wesen einen konkreten, innergeschichtlichen Schauplatz betrete, den ich zugleich als meinen Identitätsraum erfahren kann, ist der zentrale Zweck des freien Willens, der sich mit diesem Zweck, wie gesagt, selbst will und ergreift und insofern auch selbstbewusster freier Wille ist. Die Freiheit des Willens ist dabei wesentlich die, einerseits überhaupt „beschließen“, das heißt etwas wollen und dieses Wollen auch realisieren zu können, zum anderen aber, sich in dem Wollen von „etwas“ auch „entschließen“, das heißt sich öffnen und auf eine freiheitsaffine Welt auch einlassen zu können.12 Dieses Sich-Entschließen ist der eigentliche Akt, durch den das Indivi11 12

Vgl. die Wendung von der „allgemeine[n] Freiheit“ als der „Furie des Verschwindens“ in GW Bd. 9, S. 319 (das Zitat entstammt dem Kapitel über die „Absolute Freiheit und den Schrecken“ in der Phänomenologie des Geistes). Vgl. dazu die Bemerkung Hegels in 36, § 12 A: „Statt etwas beschließen, d.h. die Unbestimmtheit, in welcher der eine sowohl als der andere Inhalt zunächst nur ein möglicher ist, aufheben, hat unsere Sprache auch den Ausdruck: sich entschließen, indem die Unbestimmtheit des Willens selbst, als das Neutrale, aber unendlich befruchtete, der Urkeim alles Daseins, in sich die Bestimmungen und Zwecke enthält und sie nur aus sich hervorbringt.“

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duum als besonderes und in seiner Besonderheit Wirkliches die Bühne des konkreten Lebens betritt; „ein Wille, der nichts beschließt“, sagt Hegel, „ist kein wirklicher Wille; der Charakterlose kommt nie zum Beschließen“.13 Hegel spricht, fast so als hätte er Musils Mann ohne Eigenschaften vor Augen, von „einer Zärtlichkeit des Gemüts [...], welches weiß, dass im Bestimmen es sich mit der Endlichkeit einlässt, sich eine Schranke setzt und die Unendlichkeit aufgibt: es will aber nicht der Totalität entsagen [...]“, und er fügt hinzu: „Ein solches Gemüt ist ein totes, wenn es auch ein schönes sein will“.14

Tot ist es insbesondere für die Welt des Rechts, die immer das sich wirklich darstellende, sich konkret zeigende Individuum voraussetzt. Die Konkretion aber durch diesen bestimmten Zweck, dieses Interesse, diese Handlung, mit der ich mich exponiere, ist in Wahrheit nicht ein Verlust, sondern ein Zugewinn an Freiheit. Denn erst im wirklichen Handeln, im Sich-Darstellen und Sich-Entschließen, wird der zunächst nur an sich freie Wille der auch für sich freie Wille, der Wille, der sich gerade auch in der Bestimmtheit und im Äußeren nicht verliert, sondern diese zum Medium seiner vernünftigen Existenz macht. Hegel spricht von der „aktualen Unendlichkeit“, die von der formellen oder schlechten Unendlichkeit des Möglichkeitsmenschen grundsätzlich unterschieden ist. Sie besteht darin, den Hiat zwischen Innerem und Äußerem, Subjektivem und Objektivem wirklich zu überbrücken, sie besteht in der Erfahrung, dass ich sozusagen den Fuß auf diese Erde setzen kann, ohne mich darum schon zu verlieren, das heißt sie besteht in der Erfahrung, dass Freiheit da sein, dass sie als äußere Wirklichkeit, die auch den Gesetzen äußerer Wirklichkeit folgt, aber dennoch als meine Freiheit, existieren kann. Genau das ist jedoch wiederum der konkrete Begriff des Rechts: Die praktische Darstellung der äußeren Welt als meiner überhaupt, oder, wie es im Paragraphen 29 der Rechtsphilosophie heißt: „Dies, dass ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“ (45, § 29). Hegels Rechtslehre ist von daher dann durchgängig eine allgemeine Freiheitslehre, sie ist, in Hegels eigenen Worten, die Betrachtung „der Entwicklung der Idee der Freiheit“, die verschiedene „Stufen“ durchläuft (46, § 30 A). Das beginnt (wie übrigens auch bei Kant oder Fichte) in der Tat mit dem abstrakten Eigentumsverhältnis, schließt aber, wie erwähnt, auch die moralische Existenz als so oder anders urteilendes Subjekt ein, wie es ebenso die unmittelbare Wirklichkeit des Einzelnen als Familienmitglied, Mitglied der Gesellschaft oder zuletzt als Staatsbürger thematisiert. Nach Hegels allgemeiner Einteilung der Rechtsphilosophie geht es zunächst, unter dem Titel „abstraktes“ oder „formelles“ Recht, um die dingliche Beziehung des 13 14

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MM 7/64, § 13 Z. MM 7/64, § 13 Z.

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Willens auf eine „unmittelbare äußerliche Sache“; sodann, unter dem Titel der Moralität, um die unmittelbare Selbstbeziehung des Willens und damit um „das Recht des subjektiven Willens“; schließlich aber, in der Sittlichkeit, um die „Einheit und Wahrheit“ beider abstrakter Momente, also um den Begriff einer äußeren Welt, in der zugleich der Wille sich als mit sich eins wissen kann.15 Wir müssen hier darauf verzichten, diese drei Stufen in extenso zu betrachten – so wichtig das in ihnen Entfaltete für ein angemessenes Verständnis des Staates als einer Ordnung der objektivierten Freiheit auch ist. Wir werfen hier nur einen knappen Blick auf die Einordnung der Staatslehre im dritten Teil der Rechtsphilosophie, der von der Sittlichkeit handelt. Der Teil, um den es hier geht, enthält einige der wichtigsten Neuerungen, die Hegel in der nachkantischen Rechtsphilosophie eingeführt hat, so etwa die klare Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, so aber auch die Durchführung des Konzepts „substantieller Sittlichkeit“, das bei Hegel wiederum auf frühere Phasen der Systementwicklung zurückverweist und zugleich für das Verständnis, insbesondere seines Begriffs der Familie als selbständiger sittlicher Größe wie dann auch des Staates, von Bedeutung ist. Wir stoßen hier auf ein Konzept, das Hegel bereits in dem schon einmal erwähnten Naturrechtsaufsatz von 1802/03 oder in dem in etwa zeitgleich entstandenen, jedoch unveröffentlicht gebliebenem System der Sittlichkeit voraussetzt, das aber ebenso in der Phänomenologie des Geistes, dort zu Beginn des Geistkapitels im Rückgriff auf die „sittliche Welt“, begegnet.16 Der (objektive) Geist macht sich als solcher durch den Rückgriff auf ein überpersonales Gelten, zunächst das „göttliche Gesetz“, dessen Repräsentantin im Kontext Antigone ist, bemerklich, und erst in der Auseinandersetzung mit diesem überindividuellen Anspruch, wie er im Konflikt mit der menschlichen Setzung, für die ein Potentat wie Kreon steht, entwickelt sich dann das Selbstbewusstsein des Rechts, das zuletzt in den „Rechtszustand“ mündet, der wesentlich durch die Anerkennung einer gleichen Personalität aller Rechtssubjekte gekennzeichnet ist. Mit dem Begriff der „substantiellen Sittlichkeit“ reaktiviert Hegel hier den Gedanken eines die einzelnen Rechtsgenossen tragenden Ethos, das als Ganzes ihrer sittlichen Welt immer mehr ist als die Summe der Einzelwillen und -meinungen, die zunächst nur subjektiv bleiben und tatsächlich auch ein verlässliches Anerkanntsein der Einzelnen als Personen nicht hervorbringen können. Hegel fragt hier im Allgemeinen zunächst nach der integrativen Funktion des Rechts überhaupt – eine Frage, die im 20. Jahrhundert die Verfassungsrechtler,17 aber auch die Kommunitaristen18 neu beschäftigt hat. Im 15 16 17

Vgl. 48 ff., § 33. Vgl. GW Bd. 9, S. 240 ff.; zum Naturrechtsaufsatz und dessen Versuch, den Begriff des Rechts mit dem des Lebens als umfassender Totalität abzugleichen, Hoffmann 2007. Ich verweise hier nur auf Smend 1955.

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Besonderen aber fragt Hegel nach der Struktur einer lebendigen und entsprechend auch „lebbaren“ Totalität, die einen subjektiven Willen in sich aufnehmen, tragen und mit anderen subjektiven Willen vermitteln kann. Es geht um eine Einheit von Subjektivität und Interpersonalität, in welcher beide einander nicht aufheben, sondern einander gerade erst möglich machen, und es geht um diese Einheit im Zeichen des objektiven Geistes, also des „lebensweltlichen“ Übergewichts des Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen, jedoch so, dass der Einzelne doch auch die Möglichkeit gewinnt, sich mit diesem Allgemeinen zu identifizieren, an ihm zu partizipieren, in ihm bei sich selbst zu sein. Die (substantielle, nicht erst aus einer subjektiven Moralität heraus begründete) Sittlichkeit, zunächst das substantielle und ganz unmittelbar gelebte Ethos, bezeichnet dann das erfüllte Dasein der Freiheit überhaupt, den bruchlosen Einklang mit der geistigen Welt, der sich freilich auch wieder verlieren und eine Entfremdung durchlaufen muss, um am Ende zu sich selbst als einer Existenz in bewusster Konkordanz mit der äußeren Welt zu finden. Die drei Bestimmungen der Sittlichkeit, die zugleich diesen Weg der ursprünglichen unreflektierten Übereinstimmung, der Entfremdung und dann der Wiederherstellung einer Konkordanz zwischen Individuum und Gemeinschaft bezeichnen, sind nach Hegel die Familie, die Gesellschaft und der Staat. In die Familie hineingeboren, weiß sich der als Individuum existierende Geist unmittelbar als bejahter Geist; die Familie ist nach Hegel substantiell daseiende Freiheit, wirkliche Freiheit, die das Individuum nicht erst schaffen und erwirken muss, sondern als seine (auch äußere) Voraussetzung erfährt. Aristoteles hat in der Politik davon gesprochen, dass das Haus allen anderen Formen der Vergemeinschaftung voraus liegt; so liegt auch bei Hegel die natürliche und sittliche Personeneinheit der Familie und der an sie geknüpften Generationenfolge wie auch der nachfolgenden Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung in einem Staat voraus. Gleichzeitig hat das Familienmitglied sein Selbstbewusstsein aber noch außer sich, es hat es in einem unmittelbaren Gemein- oder Gruppengeist, ist also noch nicht vollständig individualisiert, oder, wie man auch sagen kann, seine Subjektivität ist ihm noch „exzentrisch“. Die Entfremdung von der Familie, so sehr diese erst die Grundlagen für ein Sich-AnerkanntWissen legt, ist deshalb dann auch die Voraussetzung für eine vollständige Individualisierung bzw. Subjektivierung, für den Gewinn einer selbstbewussten Freiheit. Die erste Begegnung mit einem „öffentlichen Allgemeinen“, die das Familienmitglied in der Bildung, gewöhnlich in der Schule erfährt, enthält deshalb schon einen Bruch mit der bisher gelebten besonderen Unmittelbarkeit; der allgemeine Raum dieser Entfremdung ist der der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher jetzt Subjektivität 18

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Von denen einige – wie etwa Ch. Taylor – bewusst bei Hegel angeknüpft haben; vgl. Taylor 1983 und 1995.

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gegen Subjektivität, partikulares gegen anderes partikulares Interesse steht und daher beispielsweise auch das Parteienwesen seinen Platz hat. Hegel sieht dabei scharf, dass der Standpunkt der Subjektivierung, der Individualisierung, ja der Atomisierung derjenige der neueren Zeit ist, und er erkennt auch die Gefahren, die in ihm liegen; kaum jemand zuvor hat wie er auf die Gefahren von Entwurzelung und Verelendung hingewiesen, wie sie durch das System der atomisierten Gesellschaft, die zugleich unter dem Diktat der Rationalisierung steht, zwangsläufig entstehen. In der Vorlesung von 1819/20 etwa spricht er davon, dass sich die Armen durch die bürgerliche Gesellschaft regelrecht „verhöhnt“ finden.19 Denn die bürgerliche Gesellschaft ist der Raum der Ausbildung des Selbstbewusstseins als Individuum, für den Armen aber ist sie die Herbeiführung einer Not, die nicht etwa eine „Naturnot“, sondern eine gesellschaftliche Veranstaltung ist. Der Arme sieht, dass die bürgerliche Gesellschaft um ihn herum Reichtum aufhäuft, dessen Aufhäufung nur durch ihr System möglich ist, und er sieht sich zugleich davon ausgeschlossen; er sieht, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft die Institutionen der Rechtspflege gibt, aber er sieht zugleich keine Möglichkeit, sich diese Institutionen seiner Sache annehmen zu lassen. Das alles erzeugt einen „Zwiespalt des Gemütes gegen die Gesellschaft“ und es führt zu der Entstehung eines Bewusstseins, das eben, weil es keine Rechte als die seinen erkennt, auch keine Pflichten mehr anerkennt; es führt zur Entstehung des „Pöbels“, wie Hegel gesagt hat, des „Proletariats“, wie Marx etwas gelehrter sagte. Wir erwähnen diese ungeschönte Zeitdiagnose deshalb, weil sie aufzeigt, welche Aporien des rein gesellschaftlichen Standpunkts der Staat zu lösen hat. Solche Aporien stehen auch hinter Hegels Warnung, dass es in der Logik der bürgerlichen Gesellschaft liege, sich zum Polizeistaat zu entwickeln, der sich auch „in das Innere der Familien mischt“, das heißt vor den Haustüren seiner Mitglieder nicht mehr halt macht und ihr gesamtes Leben zu vergesellschaften sucht.20 Die Logik der bürgerlichen Gesellschaft ist dabei die des Not- und Verstandesstaates, der angesichts einer unüberschaubaren und ungegliederten Masse von anonym und vereinzelt nebeneinanderher existierenden Individuen nur dafür sorgen soll, dass diese Existenz möglichst kollisionsfrei, das heißt bei bestimmten Mindeststandards der Rechtssicherheit und der Bedürfnisbefriedigung stattfinden kann. Dieser Not- und Verstandesstaat bietet indes keine Möglichkeit, sich mit ihm wirklich zu identifizieren. Er ist nicht der freie Staat, der wesentlich davon lebt, dass sich seine Bürger als Freie in ihm auch finden können. Dieser Staat ist erst mit der nächsten Stufe, mit dem Staat im eigentlichen Sinne, erreicht.

19 20

Hegel 2000, S. 146; für das Folgende vgl. S. 144 ff. Hegel 2000, S. 142.

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Der Staat im eigentlichen Sinne ist nach Hegels Verständnis die „substantielle Freiheit“ des „Selbstbewusstseins des Einzelnen“, das in ihm sein „Wesen“, seinen „Zweck“ und das „[Produkt] seiner Tätigkeit“ findet (208, § 257). Das Moment der „substantiellen Freiheit“ meint in dem bereits entwickelten Sinne, dass das Individuum am Staat einen Identifikationsraum findet, in dem ihm ein stabiles Bei-sichselbst-Sein auch ohne sein eigenes Zutun bereits gewährleistet ist. Kein Kind, das unter Bedingungen reeller Staatlichkeit geboren wird, muss um sein Sein-Dürfen kämpfen; es kommt als „anerkanntes“ zur Welt und findet sich in einem Freiheitsraum vor, der in jedem Fall größer ist als es selbst. Der Staat, wie Hegel ihn hier als „substantielle Freiheit“ einführt, ist dabei nicht einfach nur eine äußere Personenassoziation, sondern er lebt davon, dass sich eine Totalität von Personen als Gemeinschaft, also mehr als nur eine Gesellschaft, weiß.21 Nach Hegel beruht der Staat – dem in der Neuzeit vorherrschenden Modell entgegen – so denn auch nicht etwa auf einem aus „Einsicht“ geschlossenen Vertrag, ebenso wenig aber auf äußerem Zwang, der die ihrer Natur nach auseinanderstrebenden Individuen durch Sanktionen in einen Verbund zu treten nötigen könnte. Er beruht vielmehr darauf, dass sich die Individuen im Staat als einer Raum und Zeit übergreifenden Einheit, einer „Gesamtperson“, wiederfinden, zu der sie mit elementarem Zutrauen verbunden sind und die sie als die ihnen gemeinschaftliche Lebenssphäre erkennen. Der Staat stützt sich nach Hegel daher auch nicht auf eine Gesellschaft, eine „Bevölkerung“ von mehr oder weniger zur „Homogenität“ bereiten Subjekten, sondern auf ein Volk, das heißt auf eine Art „volonté générale“, einen überindividuellen, nichtpartikularen und objektiven Willen zur freien Darstellung einer besonderen, vor allem sprachlich, geschichtlich und kulturell verbundenen Einheit. Hegel schreibt in der Enzyklopädie: „Der Staat ist die selbstbewusste sittliche Substanz, – die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft; dieselbe Einheit, welche in der Familie als Gefühl der Liebe ist, ist sein Wesen, das aber zugleich durch das zweite Prinzip des wissenden und aus sich tätigen Wollens die Form gewusster Allgemeinheit erhält, welche so wie deren im Wissen sich entwickelnde Bestimmungen die wissende Subjektivität zum Inhalte und absoluten Zwecke hat, d.i. für sich das Vernünftige will“.22

Der Staat existiert nur insofern, als seine Bürger sich in ihm wiedererkennen: Nicht unbedingt in dem Sinne, dass er als die Projektion ihrer Einzelmeinungen ins Allgemeine erscheint, wohl aber in dem anderen, dass sie in ihm ihren Freiheitsraum überhaupt erkennen und in den Bestand dieses Raumes ein überschießendes Zutrauen haben, das nicht einfach als die Summe ihrer Interessen gewertet werden kann. 21 22

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Von Hegel her ist die heute bisweilen in Zweifel gezogene Unterscheidung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ als konträrer Sozialisationsformen, wie vor allem F. Tönnies 1887 sie eingeführt hat, durchaus legitim. GW Bd. 20, S. 507, § 535.

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Gefährlicher als jeder äußere Feind ist für den Staat so denn auch die Erosion dieses Zutrauens, der Zweifel daran, ob der Staat in der Tat noch „objektiv-reflexiv“ auf seine Bürger bezogen ist und ihrer freiheitlichen Identität Ausdruck verleiht. Im Idealfall soll, wie man sagen darf, jeder Bürger von seinem Staat sagen können: „L’État c’est moi“,23 der Staat ist mein eigenes, erweitertes Ich, ich wäre ohne ihn weniger, als ich mit ihm bin, vor allen Dingen weniger frei im Sinne qualifizierter Freiheit und objektiver Vernunft. Der Staat leistet seiner Idee nach generell, wozu das Recht überhaupt da ist, nämlich Welt als meine Welt aufzuschließen und umgekehrt mich als Weltwesen allererst freizusetzen. Er tut dies, wie wir schon wissen, in räumlicher und zeitlicher, das heißt historischer Beschränkung, er tut dies als Darstellung eines „Volksgeistes“, wie Hegel mit Montesquieu und Herder sagt. Staaten sind in diesem Sinne das je und je individuierte Recht, womit sie notwendig auch eine Seite der Endlichkeit haben. Die Geschichte, von der ebenfalls schon die Rede war, ist dann der Raum, in dem sozusagen Recht auf Recht prallt, ohne dass es (zunächst) noch einmal ein umgreifendes Recht gäbe, das diesen Rechtskonflikt, der der Motor aller geschichtlichen Bewegung ist, eigentlich rechtlich schlichten könnte. Man kann zwar sagen, dass das Völkerrecht, verstanden als zwischenstaatliches Recht, diesen Konflikt aufzufangen bestimmt ist. Aber das Grundproblem des Völkerrechts ist bekanntlich, dass seine Reichweite je begrenzt ist durch den Willen der Staaten, die es im Einzelfall garantieren. Schon als Kandidaten für die Völkerrechtsgarantie kommen bei weitem nicht einfach alle Staaten in Betracht, auch nicht ohne weiteres die Großmächte, die Carl Schmitt als geborene Völkerrechtsgaranten ansehen wollte. Der geschichtliche Ausgleich der konkurrierenden Rechte, das heißt der individuierten Anerkennungssysteme der Staaten erfolgt Hegel zufolge deshalb nur durch den Gang der Geschichte selbst, insofern dieser als Gang des objektiven Geistes verstanden werden kann. Wenn die Staaten- und Weltgeschichte dabei trotz allem wesentlich durch einen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ gekennzeichnet sein soll, dann ist auch klar, dass die in ihr erfolgende „Abarbeitung“ der Endlichkeit der jeweiligen Rechtsstandpunkte wiederum auf den freien Geist, also den Grund des Rechts, zurückführen muss. Eben damit aber ist der freie Geist als das jetzt auch objektive Ziel der Geschichte bestimmt. Der freie Geist weiß sich darin schon innergeschichtlich, nicht erst in den immer auch „zeitenthobenen“ Sphären des absoluten Geistes, dazu bestimmt, maximale Wirklichkeit seiner selbst zu werden. Aber er weiß auch, dass er dies je nur von einem bestimmten Standpunkt aus, je nur unter Voraussetzung bestimmter Staatlichkeit wird sein können.

23

So schon Gentile 1932, S. 128.

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3. Die Entdeckung von Anerkennung als innerer Norm von Recht und Staatlichkeit und die Dimension des Geistes

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Qualifizierte Freiheit als Ursprung des Rechts meint, wie wir gesehen haben, den Willen zu einem Dasein der Freiheit als beständiger objektiver Wirklichkeit. Im Recht in allen seinen Dimensionen wird dabei qualifizierte Freiheit als Koexistenzordnung freier Willen konkret – dies freilich nicht auf die Weise einer beliebigen Koexistenzordnung, sondern so, dass diese Koexistenz von einer wechselseitigen Anerkennung der freien Willen in ihrem Recht, sich objektive Wirklichkeit zu geben, her gedacht ist. Hegel teilt den entsprechenden Ansatz bei der Anerkennung als innerem Rechtsprinzip mit Fichte, der ihn in seinem Naturrecht bereits entwickelt und vorgestellt hatte.24 Er greift das Motiv zunächst in den Jenaer Systementwürfen von 1803/1804 und 1805/1806, dann jedoch vor allem in seinem erstem Klassiker, der Phänomenologie des Geistes, auf. Schon die unveröffentlichten Texte aus Jena sind dabei von schwer zu überschätzender Bedeutung, etwa insofern sie die Dialektik der Anerkennung, in der es immer um eine Einheit zugleich unterschiedener Bewusstseine geht, herausarbeiten.25 Ebenso wird hier bereits der Zusammenhang von „Anerkanntsein“ und „Personalität“ klar herausgestellt: „Das Anerkanntsein ist unmittelbare Wirklichkeit, und in ihrem Elemente die Person, zuerst als Fürsichsein überhaupt“ – so lesen wir in der Lehre vom „Wirklichen Geist“ des dritten Systemzyklus’.26 Wirkungsgeschichtlich freilich am wichtigsten wurde dann das Kapitel über „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“ der Phänomenologie.27 Hegel hat in diesem, nicht zuletzt dank seiner marxistischen Interpreten berühmt gewordenen Kapitel,28 den „Kampf des Anerkennens“ (nicht: „um Anerkennung“!)29 geschildert, aus dem heraus erst kon24 25

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Vgl. Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1796, dort vor allem die §§ 6 und 12 (Fichte 1991). Vgl. zu dieser Dialektik des Anerkennens, die später auch in dem „Kampf des Anerkennens“ von Herr und Knecht wiederkehrt, hier nur das Frg. 22 aus dem ersten Jenenser Systemzyklus, dort etwa die Passage: „Dies Anerkennen der einzelnen ist also absoluter Widerspruch in ihm selbst. Das Anerkennen ist nur das Sein des Bewusstseins als einer Totalität in einem anderen Bewusstsein, aber indem es wirklich wird, hebt es das andere Bewusstsein auf, hiemit hebt sich das Anerkennen selbst auf; es realisiert sich nicht, sondern hört vielmehr auf zu sein, indem es ist. Und doch ist zugleich das Bewusstsein nur als ein Anerkanntwerden von einem andern […]“ (GW Bd. 6, S. 312). GW Bd. 8, S. 223. Im Zusammenhang werden dann auch die Rechtsbegriffe „Vertrag“ und „Verbrechen und Strafe“ aus dem Verhältnis des Anerkanntseins entwickelt. Vgl. GW Bd. 9, S. 109-116. Die größte Wirkung hatte dabei wohl Kojève 1947. Vgl. dazu nur die eindeutigen Formulierungen „Prozeß des Anerkennens“ (MM 10/219, § 430) und „Kampf des Anerkennens“ (MM 10/221, § 432) in der Enzyklopädie. Die unhegelische Formulierung „Kampf um Anerkennung“ suggeriert, dass „Anerkennung“ ein

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krete moralische und auch rechtliche Verhältnisse entstehen. Die Pointe bei Hegel ist dabei, dass Anerkennung wesentlich nicht erst das Resultat eines Antagonimus’ konkurrierender Freiheitsansprüche ist, auch wenn dieser Antagonismus einen Prozess der Bewusstmachung von sozialen als Anerkennungsverhältnissen auslöst und deshalb in den entwickelten „Rechtszustand“ mündet, mit dem das Selbstbewusstsein sein eigenes Verankertsein in einem größeren, geistphilosophisch zu fassenden Kontext begreift. Die Pointe ist vielmehr, dass bereits der Kampf selbst als Form der Beziehung ein wechselseitiges Anerkennen der Kontrahenten enthält, die insoweit von vornherein umeinander als Freiheitswesen wissen: Der „Kampf des Anerkennens“ findet nicht zwischen einem Subjekt und einem Objekt, sondern von vornherein zwischen Subjekt und Subjekt statt, wobei gewusst ist, dass beider Beziehung „ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Andern ist“.30 Damit aber ist auch schon gewusst, dass beide ihrem Ursprung nach gleich, nämlich beide sich selbst bestimmende Wesen sind. Das heißt dann auch, dass der faktisch ungleiche Wert, den die Freiheit oder das Anerkanntsein des einen gegenüber der Freiheit oder dem Anerkanntsein des anderen hat, nicht einfach einen „objektiven“ Grund hat, sondern ohne Selbstbestimmung zu dem jeweiligen Wert – auch ohne Selbstbestimmung zur Objektivität, wie sie der Knecht zunächst vollzieht – nicht zu denken ist; Herrschaft und Knechtschaft meinen nach Hegel Selbstverhältnisse des Selbstbewusstseins, nicht einfach „äußere“ Strukturen, die, man weiß nicht woher, über die Menschheit von außen gekommen wären. Beide, Herr und Knecht, selbständiges und unselbständiges Selbstbewusstsein, sind, was sie sind, indem sie Glieder oder Momente eines interpersonalen Verhältnisses sind, das sich zunächst asymmetrisch zeigt, dessen Wahrheit aber ist, dass sie beide ein und derselben Wirklichkeit des Anerkennens angehören, die sich hier nur in eine sozusagen aktive und eine sozusagen passive oder potentielle Seite der Anerkennung disjungiert – so freilich, dass, wie sich in der Dialektik des Anerkennens des Anderen bald zeigt, die „aktive“ Seite, der Herr, der den Knecht unterwirft, doch auch wieder die passive Seite ist – denn der Herr ist, was er ist, indem er durch den Knecht anerkannt wird und dieses Anerkanntsein nur empfängt oder genießt; ebenso ist die „passive“ Seite, der Knecht, doch auch wieder die aktive, denn der Knecht erkennt, zunächst unter Preisgabe seines Fürsichseins, den Herrn an und „arbeitet“ im Dienst des Herrn, worin er sich zuletzt als der Herr des Herrn, wie der Herr selbst als der Knecht des Knechts, erweist.

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dierbares Objekt und Ziel sei, während sie stets eine aktuale interpersonale Relation meint. Die irreführende Formulierung findet sich leider auch in der akademischen Literatur immer wieder, so bei Siep 1974. GW Bd. 9, S. 110.

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Hegel hatte bereits am Ende des Vorspanns zum Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie davon gesprochen, dass hier, mit dem Auftreten der Dimension Selbstbewusstsein, „schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden“ sei und, was er mit „Geist“ hier meint, in der Formulierung konkretisiert: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“.31 Das Selbstbewusstsein ist, wie es im gleichen Kontext heißt, der „Wendungspunkt“, auf dem das Bewusstsein, das sich bisher an den „farbigten Schein des sinnlichen Daseins“ wie auch an die „leere Nacht des übersinnlichen Jenseits“ verloren hatte, „in den geistigen Tag der Gegenwart“ stellt, 32 was zunächst ganz einfach heißt, dass es sich eine Welt, einen Raum der Präsenz gibt. „Geistig“ ist dieser Tag oder Raum, weil er grundsätzlich, wenn auch vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar, ein Raum der wechselseitigen Partizipation oder der in Anerkennungsrelationen immer auch aufgehobenen Subjektivität ist. „Aufgehoben“ ist die Subjektivität in die Anerkennung hinein, insofern sie im Sinne des objektiven Geistes, des die Individuen übergreifenden Lebenszusammenhangs ein substantielles, das heißt nicht einfach unter der Botmäßigkeit eines Subjekts stehendes Verhältnis meint. Wir halten hier noch einmal fest, dass die entsprechende Objektivierung der Anerkennung als „geistiger“, das heißt überindividuell verpflichtender Realität und Macht auch dann, wenn sie aus der Perspektive des Selbstbewusstseins in seiner Einzelheit in zunächst asymmetrischer Weise erfolgt, einen selbstbewussten Urakt der Anerkennung einschließt, der in dem Anderen einen an sich Gleichen weiß, ihm also Freiheit schon zuspricht, und das auch dann, wenn er ihm diese um der eigenen Freiheit willen zunächst verweigert. Die Verweigerung besagt hier, dass die Positivität oder die Tatsächlichkeit der Freiheit noch einseitig als ausschließlich meine Freiheit, also subjektiv verstanden wird, so wie wir den Herrn in der Hegelschen Erzählung vom Ursprung des Selbstbewusstseins auch das „subjektive“, den Knecht das „objektive“ Selbstbewusstsein nennen können. Wenn im Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft so ein subjektives und ein objektives Ich auseinander treten, treten sie doch nur auf der Basis einer gemeinsamen oder geteilten Ichheit auseinander. Im Urakt der Anerkennung, in der Urbegegnung von Ich und Ich, von Ich mit sich selbst, liegt dann aber auch eine Bestimmung auf vollendete Freiheit hin, wie zugleich ein mittelbares Gerechtigkeitspostulat, ein Postulat der Symmetrie, dem die positiv-rechtliche Asymmetrie auf Dauer nicht standhält. Sie hält nicht stand, weil sie keines der beiden Momente das sein lässt, was es seiner Freiheitsnatur nach ist, nämlich Selbstbestimmung und lebendiges Dasein in einem. Die Symmetrie tritt hingegen genau dann ein, wenn beide Seiten des Selbstbewusstseins ihr Dasein als Grenze gegeneinander und in dieser Grenze das Recht als den Garanten 31 32

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GW Bd. 9, S. 108. GW Bd. 9, S. 109.

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einer objektiven Freiheitswelt erkennen und respektieren – genau dann also, wenn die zunächst nur ansichseiende Anerkennung selbst gesetzt, wenn sie objektive Rechtstatsache geworden ist. Nach Hegel ist dies historisch vor allem mit der Schaffung des Personbegriffs im römischen Recht geschehen, durch den einerseits eine Egalisierung der Individualitäten andererseits eine Entnaturalisierung des Verhältnisses der Subjekte zueinander eingesetzt hat. Der Andere, der im Rechtssinne Person ist, ist entsprechend für das Rechtsbewusstsein nicht mehr wie für das Selbstbewusstsein das Objekt eines Kampfes auf Leben und Tod, ist nicht mehr das Schaf, das der Mensch als des Menschen Wolf zu reißen versucht. In seinem Personstatus ist der Andere unmittelbar die Erinnerung an die rechtliche Vermitteltheit unserer Begegnung, oder er ist die unmittelbare Evokation der Rechtsordnung als ganzer. Die Anerkennung des Anderen ergibt sich so nicht unmittelbar aus der „horizontalen“ Beziehung, sondern aus der Anerkennung des Rechts selbst als der umgreifenden Totalität und des geistigen Grundes dieser Beziehung. Insofern die Rechtsgrenze in diesem Sinne die Objektivität der Freiheit verbürgt, ist sie dann auch eine gegenüber der unmittelbar anarchischen Freiheit, dem reinen Elan der Selbstbestimmung, zwingende bzw. zwangsbewehrte Größe, doch handelt es sich dabei um einen Zwang, in dessen Legitimität ich gleichsam durch den Urakt der Anerkennung anderer Freiheit und den sich darin aussprechenden Willen, freiheitliche Koexistenz freiheitserhaltend zu gestalten, schon eingewilligt habe. Hobbes hätte davon gesprochen, dass eine prinzipielle Nichtanerkennung des Rechtszwangs nicht etwa mehr Freiheit schafft, sondern die Rückkehr in den Naturzustand bedeutet. Was bei Hobbes dabei noch die einfache Rechnung ist, dass im chaotischen „Kampf aller gegen alle“ weniger Freiheit gelebt werden kann als nach dem Eintritt aller in den bürgerlich-gesetzlichen Zustand unter dem Souverän, ist in Hegelscher Hinsicht als die Erkenntnis festzuhalten, dass ein eigentliches und konkretes Selbstbewusstsein der Freiheit nur über ihre Verobjektivierung, nur durch ihre objektive Darstellung und damit auch nur durch einen Umschlag in das scheinbare Gegenteil, nämlich die harte „Gegenständlichkeit“ von Freiheit hindurch zu haben ist. Erst in der Einsicht, dass Freiheit nur über ihre Grenze an anderer Freiheit und so überhaupt nur zwingend dasein, dass sie nur so bestimmtes Profil besitzen und sich über bloße Willkürfreiheit hinaus qualifizieren kann, erst in dieser Einsicht ist das ursprüngliche und anarchische Recht der Selbstbestimmung eine integrative Rechtstatsache geworden, die durch unmittelbare Selbstbestimmung nicht einfach mehr aufzuheben ist. Vielmehr ist jetzt klar, dass zu den Bedingungen der Möglichkeit konkreter Selbstbestimmung gehört, dass ich mich durch das Recht selbst bestimmt weiß (was auch wiederum meint: dass ich mich ihm gegenüber passiv verhalte und seinen Zwang auf mich anerkenne) und dieses nicht etwa als Hindernis, sondern als den Boden meiner empirisch gelebten Freiheit verstehe. Die Idee des Rechts ist hier gerade darin real, dass 65

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die Gesetze des erscheinenden Zusammenlebens der Menschen, so sehr sie stets Zwangsgesetze sind, doch zugleich Freiheitsgesetze sind33 und insoweit die empirische Welt zu einer von Freiheitswesen bewohnbaren Welt machen. Wenn wir nun fragen, worin die fundamentalen Einsichten des gerade rekapitulierten Textes gerade auch in staatsphilosophischer Hinsicht bestehen, stoßen wir vor allem auf einen Aspekt, der die (geistphilosophische) Überwindung des neuzeitlichen gesellschaftstheoretischen Atomismus betrifft. Bei dieser Überwindung geht es um eine fundamentale Kritik des gerade durch den Kontraktualismus populär gewordenen Versuchs, die Formen des Gemeinschaftslebens und der Vergesellschaftung als aus ursprünglich beziehungslos nebeneinander bestehenden Subjekten zusammengesetzt zu denken. Auf diese Weise hat, um ihn ein weiteres Mal zu bemühen, Hobbes die staatliche Souveränität zu erklären versucht – nämlich so, dass die zunächst als „autark“ nebeneinander her existierend gedachten Individuen sich in einem zweiten Schritt „entschließen“, eine übergeordnete, sie alle umfassende Einheit zu bilden. Bezüglich der Beschaffenheit dieser Einheit kann man durchaus an das berühmte Titelkupfer des Hobbesschen Hauptwerks denken, das sehr sinnfällig genau den „additiven“ bzw. aggregativen Aspekt des Hobbesschen Einheitsmodells zum Ausdruck bringt, aber damit zugleich die Frage entstehen lässt, was dies für eine Art von Einheit sein mag, die sich auf diese Weise „synthetisch“, durch Zusammensetzung von Selbständigkeiten ergeben soll. Der Verdacht, dass es sich hier zuletzt immer um eine auf Gewalt gestützte Einheit handeln wird, ist bekanntlich schon bei Hobbes nicht ohne Grund. Aber Hobbes ist dafür zugleich nicht der einzige in Betracht kommende Autor; auch die anderen Gesellschaftsvertragstheoretiker von Locke und Rousseau über Kant bis hin zu Rawls folgen im Grunde genau dem Modell, dass am Anfang eigentlich für sich seiende Individuen stehen, die sich dann, in einem zweiten Schritt, auch zur Sozialität (zu einem „pactum unionis“) entschließen, weil und insofern sie sich von den Vorteilen eines geregelten Zusammenlebens überzeugen lassen. Am Anfang steht hier also eine wesentlich autark verfasste Subjektivität, die im Prinzip auch für sich alleine ihr Dasein fristen könnte, steht ein cartesisch identisches Ich, das sich logisch wie physisch durch sich selbst in seinem Subjektsein erhält. Genau gegen ein solches Modell von Staatlichkeit, das nach Hegel notwendig in die Aporie führt, ist das Anerkennungstheorem, ist die Hegelsche Geistphilosophie im Ganzen gerichtet. Zum einen gilt hier: das Soziale, mithin die Formen der Vergemeinschaftung bis hin zum Staat, verdanken sich niemals nur einem Kalkül, nur einer Kosten-Nutzen-Abwägung oder sonst irgendeiner strategischen Überlegung 33

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Das, was Zwang auf mich ausübt, ist hier nicht die Natur, sondern die Freiheit selbst in ihrer Disjunktion in die eine und die andere Freiheit, in die Freiheit der Anerkannten.

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von fürsichseienden Subjekten, die sich grundsätzlich aus der Anerkennungsrelation auch herausstellen könnten. Nach Hegel kann vielmehr nicht davon die Rede sein, dass das Individuum die Wahl hätte, sich zu „vergemeinschaften“ oder auch nicht. Denn ein Selbstbewusstsein zu sein, heißt schon, auf das andere Selbstbewusstsein bezogen und von ihm her zu sein, heißt, sich selbst in anderen wieder zu erkennen – heißt, nochmals abstrakter: Es gibt hier kein Fürsichsein ohne Füranderessein, beide Seiten stehen in strenger Wechselbeziehung und Interdependenz. Der gesellschaftstheoretische Atomismus, gegen den Hegel hier Stellung nimmt, würde seine Analogie in der Vorstellung von zunächst autonomen Sprechern finden können, die sich dann entschlössen, eine gemeinsame Sprache zu haben und sich auf deren Grammatik, Lexikon usw. einigten.34 Aber so wenig es „Sprecher“ ohne schon vorausgesetzte Sprache gibt, so wenig gibt es auch Subjektatome, die sich dann auf eine erst zu schaffende „Intersubjektivität“ hin verständigten. Selbstbewusste Subjekte gibt es wie wirkliche Sprecher einer Sprache nur schon innerhalb eines „Wir, das Ich ist“ und ebenso nur schon als ein „Ich, das Wir“ ist, das heißt nur im unmittelbaren Gegenüber gegen das andere Subjekt oder in der „repulsiven“, mich auf mich am Ich zurückwerfenden Beziehung der Anerkennung. Wir müssen in diesem Sinne auch klar sehen, dass in allen atomistischen Ansätzen von Hobbes bis Rawls der Andere primär nur als Mittel für die eigenen Zwecke wahrgenommen zu werden vermag, nicht dagegen als ursprünglich-konstitutives Gegenüber, nicht als wesentlich immer schon Anerkannter. Bei Hegel dagegen ist die Beziehung auf den Anderen integrales Moment der Selbstkonstitution des Selbstbewusstseins, und zumal ein praktisches Bewusstsein, das als Bewusstsein der Zwecke immer schon Selbstbewusstsein voraussetzt, kann es nach Hegel gerade nicht geben. In den objektiv-geistigen Verhältnissen aber, in denen das Bewusstsein als konkretes Selbstbewusstsein erwacht, ist insoweit auch Praxis schon objektiv geworden, existieren die Zwecke der Sitte, des Rechts und der Freiheit. Die stabile Gestalt dieser Existenz aber ist der Staat. Es empfiehlt sich, für diesen Zusammenhang abschließend auf eine Stelle zu verweisen, an der bei aller terminologischen Dichte doch die entscheidende Funktion des Anerkennens für die Konstitution des sozialen Raumes deutlich hervortritt. Wir lesen: „Die Mitte [dieser ganzen Bewegung des Anerkennens] ist das Selbstbewusstsein, welches sich in die Extreme zersetzt; und jedes Extrem ist diese Austauschung seiner Bestimmtheit und absoluter Übergang in das entgegengesetzte. Als Bewusstsein aber kommt es wohl außer sich; jedoch ist es in seinem Außersichsein zugleich in sich zurückgehalten, für sich, und sein Außersich ist für es. Es ist für es, dass es unmittelbar anderes Bewusstsein ist und nicht ist; und ebenso, dass dies Andere nur für sich ist, indem es sich als Fürsichseiendes aufhebt und nur im 34

Zu den bei Hegel elementaren Korrespondenzen zwischen Sprache und Recht vgl. im Übrigen Liebrucks 1966.

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Fürsichsein des Anderen für sich ist. Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend“.35

Diese Stelle macht unmissverständlich klar, in welchem Sinne nach Hegel überindividuelle, soziale Einheiten, die notwendig immer als Formen der Anerkennung bzw. des objektiven Anerkanntseins oder des daseienden Geistes existieren, in einer Beziehung der Selbstunterscheidung der Individuen begründet sind, wobei nur wiederum dieses Sich-Unterscheiden zugleich das Sich-Konstituieren der Individuen ist. Die Individuen sind in ihrer „selbstkonstitutiven Praxis“ nach Hegel viel elementarer aufeinander angewiesen, als es uns etwa eine Anthropologie des „Mängelwesens“ Mensch nahe bringen kann. So, vom Ausgleich der Mängel der Einzelnen her, ist die Sache noch bei Fichte gedacht, in dessen Naturrecht der Staat unter anderem nach einer Art „Assekuranzmodell“ dargestellt ist: Die Subjekte schließen nach Fichte miteinander einen „Schutzvertrag“, das heißt eine Vereinbarung über künftige vorkommende Fälle, in denen die Gemeinschaft, das heißt die jeweils anderen einzelnen, sich zur Hilfeleistung verpflichten, und zwar auf den hauptsächlichen Grund hin, dass jeder einzelne sich vorstellt, gegebenenfalls hilfsbedürftig zu sein und auf den Schutzvertrag zurückgreifen zu müssen.36 Von all dem ist bei Hegel nicht die Rede; es gibt hier keine Ableitung der menschlichen Vergemeinschaftung aus hypothetischen und zukünftigen Risiken oder auch anderen zu erwartenden positiven Wirkungen. Vielmehr ist – noch einmal – der Horizont aller Vergemeinschaftung alleine die in dem schon existierenden Geist gegründete Tatsache, dass es ein bewusstes Selbstsein ohne Füranderessein, dass es ein Sich-Erkennen ohne ein Anerkennen nicht gibt. Der Horizont aller Vergemeinschaftung ist so zum einen von der Logik des Selbstbewusstseins und seiner konstitutiven inneren Dualität her zu verstehen. Zum anderen bezeugt sie die Gegenwart des Geistes, dessen „Funktion“ das konkrete Selbstbewusstsein in geschichtlicher oder auch kultureller Hinsicht immer ist. Der Staat als wichtigste Instanz des objektiven Geistes korrespondiert insoweit mit seiner Verfassung immer der Verfassung des Selbstbewusstseins, das sich auch empirisch je in bestimmter Relation auf ihn hin konstituiert. Übrigens wird damit das Subjekt so wenig vom Staat absorbiert wie dieser im Sinne eines subjektiven Liberalismus von jenem; insbesondere die Instanzen des absoluten Geistes – Kunst, Religion und Wissenschaft – verhindern bei Hegel ihrer inneren Logik nach den totalitären Staat, den sie auf den Raum der geschichtlichen Existenz beschränken. Aber es werden Bedingtheiten der existierenden Subjektivität sichtbar, die nicht nur 35 36

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GW Bd. 9, S. 110. Zu Fichtes Staatsphilosophie und ihre entscheidenden Differenzpunkte zu Hegel vgl. Hoffmann 2004.

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diese an ihre Endlichkeit erinnern, sondern zugleich den Sinn des Rechts, Freiheit unter Bedingungen der Endlichkeit wirklich werden zu lassen, noch einmal unterstreichen. Es empfiehlt sich, Hegels Staatslehre insgesamt, auch in ihren hier nicht thematischen Details, unter diesem Vorzeichen zu lesen – und dabei ihre ungebrochene Aktualität zu entdecken.

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Elisabeth Weisser-Lohmann

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Der Staat als Gestalt der „Sittlichkeit“

1. Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Hegelschen Staatskonzeption Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts von 18201 gehören wie Platons Politeia, die Politik des Aristoteles, der Leviathan von Hobbes und Rousseaus Contrat social zu den Hauptwerken der abendländischen politischen Philosophie. Schon früh sind allerdings Zweifel geäußert worden, ob Hegels Werk dem literarischen Rang der genannten Werke genüge. Als Kompendium war die Rechtsphilosophie darauf angelegt, in den Vorlesungen an der Berliner Universität erläutert zu werden. Ob Hegels Darstellung von „Naturrecht und Staatswissenschaft“ ohne diese Erläuterungen der Vorlesung ein eigenständiger Rang zukommt, schien daher fraglich.2 Neben der literarischen Gestaltung war schon früh die politische Option Hegels ins Visier der Kritiker geraten. Von Beginn an haftet Hegels publizierten politischen Werken der Bannspruch des „Reaktionären“ an,3 mit Blick auf die Rechtsphilosophie wird im 19. Jahrhundert der Vorwurf der Staatsvergottung erhoben, gefolgt von der Anklage wegen Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Erst in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg setzt eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit den tradierten Texten neue Impulse. Ihr folgt das Bemühen, Hegel für eine „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ fruchtbar zu machen.4 Auf dieser Grundlage ist in jüngerer Zeit vielfach eine Neubewertung der Grundlinien und auch des Hegelschen Staatsverständnisses versucht worden.5 Dabei ist insbesondere Hegels Auseinandersetzung mit der Verfassungsdiskussion seiner Zeit ins Zentrum gerückt. Die tagespolitische 1 2

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Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf Hegel 1955. Zitierung erfolgt nach ‚Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung. Vielfach wurden die Anmerkungen, die Eduard Gans für die zweite Auflage der Grundlinien auf der Basis von Vorlesungsnachschriften erstellte und dem Hegelschen Text hinzufügte, als für das Verständnis des Hegelschen Textes hilfreiche Erläuterung begrüßt. Vgl. Gans 1833. Als „mündliche Zusätze“ wurden die Gansschen Ergänzungen auch in die Ausgabe MM 7 aufgenommen. So klagt Hegel anlässlich der Veröffentlichung seiner Besprechung der Verhandlungen der württembergischen Landstände, ihm werde das Kompliment gemacht, er verteidige „eine schlimme Sache mit Geist“. Hoffmeister 1953, S. 175. Vgl. etwa die Sammelbände Riedel 1972 und 1974b. Weil 1950, Ritter 1965, Habermas 1963.

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Schriften belegen, dass Hegel sich nicht erst seit dem Übergang nach Berlin mit den verfassungspolitischen Problemen der Zeit auseinandersetzt.6 Diese Auseinandersetzung beginnt bereits in Bern und währt bis in die späten Berliner Jahre.7 Die Lektüre dieser Arbeiten macht darüber hinaus klar, die These, Preußen sei das Modell für Hegels politische Philosophie, muss zu den Akten gelegt werden. Diese Neubewertung der Grundlinien vor dem Hintergrund der politischen Schriften kann allerdings nur dann überzeugen, wenn auch einige bislang von der Forschung vernachlässigte bzw. falsch gedeutete Lehrstücke in ein neues Licht gestellt werden. In diesem Zusammenhang müssen die systematischen Fragen nach der Beziehung der Realphilosophien (d.i. Natur- und Geistphilosophie) zur Wissenschaft der Logik als reiner Wissenschaft und nach dem Verhältnis der Lehre vom ‚subjektiven’, ‚objektiven’ und ‚absoluten’ Geist geklärt werden. Mit Blick auf diese Fragen steht etwa der Vorwurf im Raum, die Gestalten des objektiven Geistes, etwa die Geltung des Staates werde in den Gestalten des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, relativiert.

1.1. Hegels Wissenschaftskonzeption Hegels Wissenschaftsverständnis basiert auf Kants Kopernikanischer Wende, das heißt die Gegenstände unseres Erkennens sind als Erscheinungen Produkte des sie verstehenden Verstandes. Die Grundbegriffe oder Kategorien des Verstandes sind zusammen mit den Anschauungsformen (Raum und Zeit) für unsere Erkenntnis der Welt bestimmend. Diese Einsicht Kants führt Hegel weiter, indem er zeigt, dass unser Erkennen keineswegs punktuell an der Erfahrung einzelner Gegenstände rekonstruiert werden kann. Vielmehr müssen wir unser Weltverständnis als ein komplexes Werden begreifen, dessen Struktur als Prozess zugänglich gemacht werden kann. Hegels Logik fragt nach den Bedingungen dieses Werdens unserer Weltkonstitution. Für Hegel führt erst das Durchlaufen unterschiedlicher Stufungen und Gestalten zur Wahrheit. Dabei wird die wissenschaftliche Darstellung eines Gegenstandes als doppelte Bewegung vollzogen: einmal als Fortgang von niederen und einfachen zu komplexeren Bestimmungen, zum anderen als Rückgang zu den Anfangsbestimmungen. Für die Rechtsphilosophie bildet das „Abstrakte Recht“, mit der Bestimmung des Menschen als Person, den Anfang der Entwicklung. Auf dieser Bestimmung des Menschen als Person baut die Bestimmung des Menschen als handelndem 6 7

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Vgl. Weisser-Lohmann 2006. Vgl. etwa die Auseinandersetzung mit der englischen Reformbill, aus der die 1831 veröffentlichte Abhandlung Über die englische Reformbill (GW 16/323-419) hervorging.

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Subjekt auf. Am Ende der Darstellung, in den Bestimmungen der Sittlichkeit des Staates, zeigt sich, dass dieses Ende zugleich den Anfang, den Grund der gesamten Darstellung bildet: Auf der Grundlage der rekonstruierten Sittlichkeit des Staates kann die Bestimmung des Personseins als das Ergebnis unseres objektiven Weltverhältnisses begriffen werden.

1.2. „Logik“ und Rechtsphilosophie In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts setzt sich Hegel das Ziel, die Idee des Rechts als das Dasein der Freiheit zur Darstellung zu bringen. Diese Darstellung beruht, wie Hegel betont, auf den in der Wissenschaft der Logik und der Enzyklopädie entwickelten logischen Kategorien. Vielfach ist Hegels Hinweis so verstanden worden, als konstruiere Hegel am Leitfaden dieser logischen Prinzipien seine Darstellung des Rechts. Keineswegs allerdings kommen die logischen Kategorien8 in den Realphilosophien9 unvermittelt zum Einsatz. Diese Anwendung steht vielmehr unter ganz bestimmten Bedingungen. Diese Bedingungen reflektiert Hegel mittels zusätzlich eingeführter Bestimmungen. Erst diese Bestimmungen gestatten eine Anwendung der logischen Kategorien auf die Phänomene der Realphilosophien. Die Zusatzbestimmungen für die Anwendung der logischen Prinzipien expliziert Hegel für die Rechtsphilosophie am Begriff des Willens, der durch Weiterbestimmungen aus dem Begriff des Selbstbewusstseins gewonnen wird.

1.3. Die Lehre vom „objektiven Geist“ Hegels Philosophie des Rechts ist kein isoliertes Lehrstück, sondern steht in einem systematischen Zusammenhang mit den anderen Sphären der Geistphilosophie. Die Lehre von den Gestalten des objektiven Geistes basiert auf dem Resultat der Sphäre des subjektiven Geistes, das heißt jenen Bestimmungen, die den freien Willen als unmittelbare Einzelheit kennzeichnen. Die einzelnen Individuen sind selbstbewusste 8

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In seiner Logikkonzeption schließt Hegel an die klassische Disziplin an. Seit der Antike setzt sich diese Disziplin mit der Frage nach der allgemeinen Bedeutung von Begriffen auseinander. Dabei steht die Frage nach der Methode der Analyse gegebener Inhalte im Zentrum. Die Aufgabe der Logik ist nicht auf die Formulierung formaler Bedeutungsregeln für Wörter wie „und“, „nicht“, „es gibt“ beschränkt. Gegenüber einem formalen Verständnis der Logik sind die Analysen der klassischen Logik durch eine größere Reichweite und ein breiteres Methodenverständnis definiert. Vgl. zu Hegels Logik Stekeler-Weithofer 1992. Die Naturphilosophie umfasst Mathematik, Physik, Chemie und Biologie, die Geistphilosophie teilt Hegel auf in die Lehre vom subjektiven (Anthropologie, Psychologie), objektiven (Recht, Moralität, Sittlichkeit) und absoluten (Kunst, Religion und Philosophie) Geist.

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Wesen, die, obwohl von einander verschieden, sich dennoch gegenseitig anerkennen. Hegel zeigt, wie durch das gegenseitige Anerkennen, Selbstbewusstsein entsteht. Die Anerkennung des anderen ist allerdings hier auf das Selbstbewusstsein als einer logischen Bestimmung beschränkt.10 Die Anerkennung zwischen konkreten Menschen ist Thema erst im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Gestalten des objektiven Geistes. Gemeinsames Merkmal der objektiven Interaktionsformen ist deren Ablösbarkeit vom subjektiven Vollzug. Aus dem Personsein des Menschen entsteht die Forderung: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ (52, § 36). Diese Anerkennung erfolgt im Abstrakten Recht über eine äußerliche Sache, den Vertragsgegenstand. Hegel rekonstruiert den Vertrag als vom individuellen Vollzug ablösbare Vergegenständlichung (Verobjektivierung) der Anerkennung als Person. Hegels Staatslehre ist keine Beschreibungen eines empirischen Staates, sondern eine wissenschaftliche – von der Philosophie als einer Wissensgestalt des absoluten Geistes – erarbeitete Rekonstruktion der vernünftigen Bestimmungen. Was heißt hier aber vernünftig? Wenn Hegel von den Gestalten der Sittlichkeit, Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat sagt, von allen diesen Gestalten gelte, „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ so ist das keine unkritische Legitimation des Bestehenden. Vielmehr erweisen sich in der philosophischen Rekonstruktion jene Bestimmungen als „vernünftig“, die aus der Vielfalt der historisch überlieferten Bestimmungen des Rechts als konsistente und durchgängige Bestimmungen gewonnen werden. Gegenüber den empirischen Bestimmungen bezeichnet Hegel diese rekonstruktiv gewonnenen vernünftigen Bestimmungen als ‚Wirklichkeit’. Hegel erläutert die Aufgabe der Philosophie in Abgrenzung von der historischen Darstellung des Staates:

„Welches nun aber der historische Ursprung des Staates überhaupt, oder vielmehr jedes besonderen Staates, seiner Rechte und Bestimmungen sei oder gewesen sei, ob er zuerst aus patriarchalischen Verhältnissen, aus Furcht oder Zutrauen, aus der Korporation u.s.f. hervorgegangen, und wie sich das, worauf sich solche Rechte gründen, im Bewußtsein als göttliches, positives Recht oder Vertrag, Gewohnheit und so fort gefaßt und befestigt habe, geht die Idee des Staates selbst nicht, sondern ist in Rücksicht auf das wissenschaftliche Erkennen, von dem hier allein die Rede ist, als die Erscheinung eine historische Sache. [...] Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem Inwendigen von allem diesem, dem gedachten Begriffe zu tun“ (209, § 258 A).

Hegel bezeichnet sein rechtsphilosophisches Programm daher – abgrenzend von der historischen Aufarbeitung dieses Stoffes – als Darstellung der „Idee des Rechts“ 10

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Der Konflikt um den Status der Anerkennung im Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes bestimmt die Interpretation des Kapitels „Herr und Knecht“. Vgl. Pöggeler 1993, S. 170 ff.

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bzw. der „Idee des Staates“. Dass „Idee“ hier nicht etwas von der Wirklichkeit Abgelöstes meint, macht Hegel im ersten Paragraphen der Grundlinien deutlich, wenn er ‚Idee’ als „Einheit des Begriffs und dessen Verwirklichung“ bestimmt.

2. Der Staat als sittliche Gestalt Im Aufbau der Grundlinien gehen der Darstellung der „Sittlichkeit“ die Abschnitte „Abstraktes Recht“ und „Moralität“ voran. Um Hegels Konzeption des „Staates“ zu verstehen, ist eine Klärung des systematischen Zusammenhangs dieser Abschnitte unabdingbar. Im Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt („Moralität“ zur „Sittlichkeit“) erklärt Hegel, dass bislang mit dem Recht der Person und dem Recht des Subjekts lediglich mögliche Rechtsbegriffe rekonstruiert worden sind. Die Wirklichkeit dieser Begriffe soll im dritten Abschnitt an drei exemplarischen Gestalten veranschaulicht werden: „Familie“, „bürgerlicher Gesellschaft“ und „Staat“ zeigen, welche Handlungsformen als Verwirklichung der nur abstrakten Rechtsbegriffe „Person“ und „Subjekt“ zu verstehen sind.

2.1. „Abstraktes Recht“, „Moralität“ und „Sittlichkeit“ Mit dieser Darstellungsform (von möglichen Formen zu wirklichen Gestalten) unterscheidet sich die Darstellung des Staates in den Grundlinien von Hegels früher (Jenaer) Konzeption der Sittlichkeit. „Ehe“, „Familie“ und „Staat“ waren dort im Rahmen einer Bildungsgeschichte des Selbstbewusstseins als Stufen eines Anerkennungsprozesses entwickelt worden.11 Für die Rekonstruktion der sittlichen Gestalten als Rechtsgestalten greift Hegel auf die Grundbestimmungen der Jenaer Sittlichkeitskonzeption zurück, ohne allerdings den Darstellungsleitfaden, das Prinzip der Anerkennung, zu übernehmen. Der Verzicht auf diesen Rekonstruktionsleitfaden erweckt den Eindruck, die Sittlichkeitskonzeption der Grundlinien vollziehe einen Bruch mit dem früheren Ansatz. Gegenüber der früheren Konzeption, so der Vorwurf, werte Hegel die Stellung des Subjekts zugunsten der objektiv-rechtlichen Funktion der Institutionen des Staates ab. Die in Jena entwickelte Bildungsgeschichte des Bewusstseins rekonstruiert die sittlichen Gestalten am Leitfaden ihrer Entstehung im Bewusstsein der Individuen. Die Grundfrage, wie das Recht als allgemein anerkanntes Recht, als objektive Instanz, deren Geltung auch bei verweigerter Anerkennung bestehen bleibt, ist mit einer Bildungsgeschichte des Bewusstseins nicht zu 11

Vgl. zu diesem Programm Siep 1978.

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beantworten. Hegel hat diesen Zwiespalt als Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis des Bewusstseins beschrieben. Zum einen ist die Handlung (d.i. der Herr) Handlung erst durch das Subjekt. Andererseits macht die Handlung als das Allgemeine das Subjekt (d.i. den Knecht) erst zum Subjekt. Versucht das Subjekt sich losgelöst von jedem Handlungsvollzug zu bestimmen, so bleiben dem Subjekt allein seine Vermögen, die aber nicht anschaulich und konkret werden. Letztlich bleibt das Subjekt ohne Handlung leer und unbestimmt. Allerdings vermag auch die Identifikation mit dem Resultat der Handlung nicht zu befriedigen, denn in dieser Identifikation wird das Vermögen des handelnden Subjekts nicht erfasst, vielmehr steht das im Handeln entstandene Objekt dem Subjekt fremd gegenüber. Hegel sucht die Lösung für dieses Dilemma in der Rekonstruktion von Handlungstypen, in denen das Vermögen des Subjekts in das Handlungsresultat eingeht, und die als Handlungsresultat zugleich losgelöst von individuellen Handlungsvollzügen bestand haben, ohne eine Bedrohung für die individuelle Selbstbestimmung zu sein. Dieser Handlungstyp liegt dort vor, wo das Subjekt im Vollzug dieser allgemeinen Handlungen ‚objektiv’ bestehende Differenzen zum eigenen Selbstverständnis zu überwinden vermag, und im Gegenzug das „Selbst“ seines „Selbstseins“ sichert. Es ist die Aufgabe dieser objektiv vorhandenen Handlungstypen (Institutionen), dem Subjekt die Wirklichkeit des Subjektseins zu verleihen. Die Vermögen, ‚Person’ bzw. ‚Subjekt’ zu sein, sind nicht länger bloße Möglichkeit, sondern werden in und durch die Institutionen verwirklicht. Diese spezifische Gattungsqualität institutioneller Handlungen ist im Rahmen einer Bildungsgeschichte des Bewusstseins nicht zu entwickeln. Für die Rekonstruktion der Sittlichkeit als Rechtsgestalt geht es um die Rechtfertigung der Geltung eines losgelöst von der subjektiven Intention gesicherten „objektiven“ Handlungstyps, der gleichwohl den Individuen nicht fremd gegenübersteht, vielmehr deren Subjekt- bzw. Personsein erst verwirklicht. Diese Aufgabe will Hegel mit der Philosophie des Rechts lösen. Dabei benutzt Hegel die in Jena am Leitfaden der Anerkennung rekonstruierten Gestalten der Sittlichkeit. Gegenüber dem Jenaer Ansatz unterzieht Hegels Rekonstruktion die aus Bedürfnis, Arbeit und Intersubjektivität hervorgegangenen Handlungstypen (Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat) einer Reflexion, die die Rechtsförmigkeit dieser Gestalten demonstriert.12 12

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Als Verfahren kam „Rekonstruktion“ bereits bei der Konzeption der Sittlichkeit im Jenaer System der Sittlichkeit zum Einsatz: „[D]as sittliche ist an und für sich seinem Wesen nach, ein Zurücknehmen der Differenz in sich, die Reconstruction; die Identität geht von Differenz aus, ist ihrem Wesen nach negativ; daß sie diß seye, geht vorher, daß dasjenige was sie vernichtet sey.“ Negativ ist die Rekonstruktion mit Blick auf die bestehenden Differenzen, die ‚zurückgenommen werden’ und zur Konstitution einer neuen sittlichen Einheit führen – einer Einheit, die gerade das Sein, die Wirklichkeit der vorher bloß in der Differenz bestehenden Bestimmungen, verwirklicht. Für die Rekonstruktion dieser Einheit geht Hegel von der im subjektiven Bewusstsein bestehenden Differenz zwischen Subjekt und Handlung aus: Was das Subjekt ist, kann aus

2.2. Der Aufbau des Sittlichkeitskapitels: Familie, Bürgerliche Gesellschaft, Staat

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Hegel unterscheidet im Rahmen der Sittlichkeit zwischen der Sittlichkeit der Familie, der Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und der Sittlichkeit des Staates. Diese Unterscheidung darf nicht als genetische Konstitution des Staates verstanden werden, so als ob die historische Entwicklung des modernen Staates ausgehend vom Familienverband als der ursprünglichen Gemeinschaftsform, über die Weiterentwicklung ökonomisch bestimmter Verhältnisse, schließlich zu staatlich geregelten Weisen des Zusammenlebens führt. Für Hegel sind die genannten Gestalten der Sittlichkeit vielmehr Ausdifferenzierungen der „Sittlichkeit“. Die genannten Unterscheidungen bilden keine historische Entwicklung ab, sondern reflektieren die historischen Gestalten unter dem Gesichtspunkt, welche der tradierten sittlichen Lebensformen den Ansprüchen des modernen Rechtssubjekts zu genügen vermögen. Diese Lebensformen genügen nur dann der Forderung, Teil der Wirklichkeit zu sein, wenn das Person- und Subjektsein der Individuen zu den konstitutiven Prinzipien dieser Lebensformen gehört. „Familie“, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“ sind exemplarische Gestalten eines sittlichen Ganzen. Dieses sittlich Ganze will Hegel über die Darstellung dieser Gestalten rekonstruieren. Das heißt, die Untergliederung der Sittlichkeit ist unverzichtbar, wenn gezeigt werden soll, dass es so etwas wie sittliche Lebensformen in der Moderne gibt. Dass diese Gestalten letztlich eine Einheit bilden, sucht Hegel durch den Hinweis, die ‚Familien’ seien die erste, die ‚Korporationen’ seien die zweite Wurzel des Staates, zu verdeutlichen. Auf der anderen Seite sind Familie und bürgerliche Gesellschaft auf die Ordnungsregeln und Zweckbestimmung des Staates als Rahmenbedingung ihrer Existenz angewiesen.

2.2.1. Die Familie als sittliche Gestalt Vehement polemisiert Hegel gegen Kants Konzeption der Ehe als einer Vertragsgemeinschaft. Kants juristisches Verständnis der Ehe geht für Hegel auf ein rein individualistisches (römisches) Rechtsverständnis zurück: Dahinter steht die Vorstellung von der unbeschränkten Machtfülle des Familienvaters über die Mitglieder der Familie. Diese Machtfülle zeigt sich im römischen Erbrecht insbesondere dort, wo das der verfolgten Absicht, dem angestrebten Guten, nicht bestimmt werden. Die Bestimmung des Subjekts erfordert vielmehr die Handlung des Subjekts: Das handelnde Subjekt erfährt sich erst in der Handlung als Subjekt. Die Handlung setzt ihrerseits ein wie immer geartetes Subjekt voraus, um Handlung sein zu können. (GW 5/280).

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Vermögen der Familie durch die Testierfreiheit zur vollständigen Disposition des Familienvaters steht. Mit der Bestimmung der Familie als erster Gestalt der Sittlichkeit bezieht Hegel nicht nur gegen die Vertragskonzeption Stellung. Er macht auch klar, die Familie ist nicht ein Staat im Kleinen, sondern muss von der Sittlichkeit des Staates unterschieden werden. Die „unmittelbare“ Sittlichkeit der Familie bestimmt Hegel am Leitfaden dreier Darstellungsgesichtspunkte: dem Begriff der Familie (d.i. die Ehe), dem äußerlichen Dasein der Familie (Eigentum und Gut) und der Erziehung der Kinder. Das Sittliche der Ehe besteht für Hegel in dem Bewusstsein der Gemeinsamkeit der ganzen individuellen Existenz. An die Stelle der zufälligen Leidenschaften und des Beliebens tritt das geistige Band, dessen Wohl ein gemeinsames ist. Äußerlichen Bestand hat dieses geistige Band im Eigentum der Familie. Das eheliche Güterrecht wird von Hegel als gemeinsames Eigentum bestimmt, das heißt keinem Mitglied der Familie steht ein besonderes Eigentum zu. Diese Einheit der Familie hat nicht nur im Eigentum einen äußeren (objektiven) Bestand. Diese Einheit erhält in den Kindern darüber hinaus eine „für sich seiende Existenz“. Die Erziehung der Kinder zu freien, selbstbestimmten Personen bereitet den Weg für deren Verlassen der Familie und den Übergang in die bürgerliche Gesellschaft.

2.2.2. Die Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft Den Ausgangspunkt für die Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft als einer sittlichen Gestalt bildet das System der Bedürfnisse und die arbeitsteilige Produktion, die für die Befriedigung der Bedürfnisse eintritt. Die Konkurrenz des Marktes erzeugt sowohl die natürlichen Bedürfnisse als auch die Mittel zu ihrer Befriedigung. Indem hier kein gemeinsames, sondern das individuelle Wohl verfolgt wird, löst dieses System die unmittelbare Sittlichkeit eines gemeinsamen Wohles auf. Die hier bestimmende Konkurrenz führt gegenüber der Familie zu einem Verlust von Sittlichkeit. Dieser Verlust bedeutet allerdings nicht, dass hier der Krieg aller gegen alle herrscht. Hegel beruft sich auf die Lehren der klassischen Nationalökonomen Smith, Say und Ricardo, wenn er erklärt, dieses System sei wesentlich durch „ein Umschlagen der subjektiven Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen“ gekennzeichnet. Hegels Rekonstruktion macht deutlich, die Befriedigung dieses Systems der Bedürfnisse setzt Institutionen voraus, die das Handeln der egoistischen Individuen koordinieren und in ein Ganzes integrieren. Die erste Institution, die diese Aufgabe erfüllt, ist die Rechtspflege der bürgerlichen Gesellschaft. Eine weitere Voraussetzung für die Befriedigung der Bedürfnisse ist neben dem Rechtssystem das Wirken von ‚Polizei’ und ‚Korporationen’. Die Polizei sichert durch die Bereitstellung einer Infrastruktur, durch öffentliche Ordnung, durch Marktkontrolle und Gewerbeaufsicht, die Voraussetzungen für die Teilnahme aller 78

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am System der Bedürfnisse. In den Korporationen sind die unterschiedlichen Zweige des Produktionssystems organisiert. Ihre Pflicht ist die Ausbildung der in ihnen organisierten Berufsstände und die Fürsorge für das Wohl der Mitglieder bei Krankheit. Wie in der Familie geht es in den Korporationen nicht vorrangig um das individuelle Wohl, sondern um das gemeinsame Wohl der Korporationsmitglieder. Dieses Wohl ist ein nur beschränkt allgemeines, denn die einzelnen Zweige des Produktionssystems stehen sich in den verschiedenen Korporationen noch gegenüber.

3. Verfassungslehre und Sittlichkeit: Die Einheit des Staates Hegels Verfahren, ein Ganzes über Differenzierungen als Einheit zu rekonstruieren, kommt auch bei der Darstellung des Staates zum Tragen. Hegel untergliedert den Abschnitt „Staat“ in die Momente „Innere Verfassung“, „Äußeres Staatsrecht“ und „Weltgeschichte“. Mit der Unterscheidung zwischen innerer Verfassung und äußerem Staatsrecht folgt Hegel der Tradition, die Abhandlung der Weltgeschichte im Kontext einer Darstellung des Staates löst allerdings bereits bei den Zeitgenossen Verwunderung aus.13 Neben Kritik gibt es aber auch positive Resonanzen. Eduard Gans, ein Schüler Hegels und Herausgeber der zweiten Auflage der Grundlinien, zählt es zu den großen Vorzügen der Grundlinien, dass die Hegelsche Darstellung des Staates in eine geschichtliche Darstellung mündet. Für das „Innere Staatsrecht“ greift Hegel auf die zeitgenössischen Verfassungslehren zurück, wenn er zwischen „fürstlicher Gewalt“, „Regierungsgewalt“ und „gesetzgebender Gewalt“ unterscheidet. Diese Verfassungslehre des „Inneren Staatsrechts“ trug Hegel erstmals 1817/18 in Heidelberg vor. Seine Darstellung führt insofern frühere Überlegungen fort, als Hegel die Kritik an der „Abstraktheit“ der klassischen Gewaltenteilungslehre beibehält. In der klassischen Lehre stehen die einzelnen Gewalten isoliert nebeneinander, der Staat als Integrator und Organisator der Einheit rückt in den Hintergrund. Für Hegel stehen der Zusammenhang der Gewalten untereinander sowie ihr Bezug zur Einheit des Staates im Zentrum der Gewaltenteilungslehre.14 Wenn Hegel diese Einheit mit dem Begriff des „Organismus“ expliziert, so rückt seine Darstellung des Staates in die Nähe zeitgenössischer, organizistischer Verfassungskonzeptionen. Die Kritiker, die Hegel ein organizistisches Verfassungsmodell vorwerfen, übersehen allerdings, dass ‚Organismus’ hier als Modell einer Einheitsbildung fungiert. Wenn Hegel die Verfassung des Staates als 13 14

Der Jurist Gustav Hugo geht 1821 in seiner Rezension der Grundlinien in den Göttingischen gelehrten Anzeigen auf diese Frage ein. Der Text ist unter Riedel 1975c, S. 67-71 abgedruckt. Vgl. Siep 1986, S. 392. Zur Heidelberger Verfassungskonzeption Hegels vgl. WeisserLohmann 1993.

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„Organismus“ fasst, so bedeutet dies nicht, dass der Staat als zweite Natur die erste Natur aufnimmt. Den Begriff „Organismus“ verwendet Hegel nicht nur, hierauf hat L. Siep verwiesen, in naturphilosophischen Zusammenhängen. „Organismus“ ist bei Hegel auch ein Terminus der Begriffslogik. Dort führt Hegel den Begriff im Kontext der Idee des Lebens ein. Siep plädiert dafür, Hegels Lehre vom Staat nach dieser begriffslogischen Bestimmung des „Organismus“ als eine „logische Metapher zu verstehen“.15 Der Rekurs auf den Organismusbegriff im begriffslogischen Sinn zielt auf eine umfassende, die Gesamtheit aller Bestimmungen erfassende Perspektive. Mit der begriffslogischen Bestimmung erreicht Hegel eine Perspektive, die in Beziehung auf den Einzelnen nicht dessen Leiblichkeit, sondern alle realen Möglichkeiten des Lebens und Handelns erfasst. In diesem Sinne meint die begrifflogische Bestimmung des Staates als „Organismus“, dass hier alle das Handeln betreffenden Möglichkeiten thematisiert werden.16 Mit Blick auf diese Ganzheit dient der Begriff ‚Organismus’ dazu, den Staat über die Verfassung seiner Glieder als Einheit alles politischen Handelns auszuweisen. Hegels Konzeption der politischen Verfassung am Leitfaden des logischen Organismusbegriffs unterscheidet sich von den klassischen Gewaltenteilungslehren dadurch, dass hier die einzelnen Gewalten am Leitfaden der Momente von ‚Selbstbestimmung’ und ‚Selbstwissen’ rekonstruiert werden. Unklar und in der Forschung kontrovers ist die Frage, wie Hegel von den unterschiedenen Gewalten zur Einheit des Staates kommt.17 Ob ‚Familie’ und die Institutionen der bürgerlicher Gesellschaft für die Einheit des Staates konstitutiv sind, ist strittig. Für Franz Rosenzweig etwa sind nicht die Strukturprinzipien der Gesellschaft für die Verfassung des Staates konstitutiv, vielmehr bildet die Gesinnung der Einzelnen die Grundlage des Staates.18 Diese Lesart lässt den Rahmen der Hegelschen Staatskonzeption unberück15 16 17

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Vgl. GW 6/476 und Siep 1992, S. 256. Vgl. Stekeler-Weithofer 1992, S. 407. R. Hočevar vertritt die These, die Bestimmung der Einheit des Staates sei für Hegel letztlich nur über die Konzeption der Erbmonarchie zu gewinnen. Die politische Einheit des Staates wird in der Identifikation der Individuen mit dem Monarchen vollzogen. Die Stände haben in einer solchen Konzeption keine Bedeutung für die politische Einheit. „Das Volksganze wird durch den Monarchen repräsentiert.“ Hočevar 1968, S. 44. Rosenzweig 1920: „Unter Verfassung hatte Hegel anfangs nach dem Sprachgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts verstanden die soziale Gliederung, wie sie der Regierung als Stoff vorliegt; schon bei den ersten Ausführungen darüber hatte sich ihm die neue revolutionäre Bedeutung des Wortes, nach der es das über allen Regierungshandlungen stehende ‚Stück Papier’ bezeichnet, eingemengt, und dieser Doppelsinn des Wortes hatte ihn veranlaßt, es so allgemein zu fassen, daß es die alte wie die neue Bedeutung umschloß. [...] Jene Klärung aber des Staatsbegriffs, die 1820 zum Begriff des Staatsbürgers und seiner Gesinnung, des „Patriotismus“, führte, [...] gab auch dem Verfassungsbegriff einen neuen, nun dem modernen Sprachgebrauch wesentlich nähergerückten Sinn. Er bedeutet nun [...] die Einheit von Mensch und Staat, Gesinnung und Institution.“ Rosenzweig 1920, Bd. 2, S. 134 f.

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sichtigt: Der „Staat“ ist für Hegel eine von drei Gestalten der Sittlichkeit. Der Zusammenhang mit den anderen Gestalten darf nicht ignoriert werden: Hegels Konstruktion der Institutionen „Familie“ und „Bürgerliche Gesellschaft“ arbeitet deren für die Einheit des Staates konstitutive Rolle heraus. So spricht Hegel von der Familie als der ersten, von den Korporationen als der zweiten Wurzel des Staates. „Familie“ und „Bürgerliche Gesellschaft“ sind keineswegs vollständig voneinander isolierte Sphären der Sittlichkeit. Hegel veranschaulicht den Zusammenhang zwischen den sittlichen Gestalten am Begriff des ‚Vermögens’. ‚Vermögen’ sind Eigentümer dort, wo sie dem langfristigen Erhalt eines gemeinsamen Zweckes dienen. Zum allgemeinen Vermögen der bürgerlichen Gesellschaft gehören auch jene Familienvermögen, die, wie der Großgrundbesitz, die Subsistenz der Bewohner auf Dauer sichern. Die ‚Eigentümer’ dieses Vermögens bilden den substantiellen Stand und sind Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Aus der Perspektive von „Bedürfnis und Arbeit“ erweisen sich „Familie“ und „Bürgerliche Gesellschaft“ keineswegs als isolierte Sphären. Fragt man nach den für die Sittlichkeit relevanten Momenten, so wird deutlich, dass beide über ein eigenes für die Sittlichkeit konstitutives Prinzip verfügen. Jede Sphäre verfolgt einen Zweck, dessen Realisierung ein gemeinsames Handeln der Individuen fordert. Das Prinzip „Liebe“ und der Wille, „[e]ine Person zu sein“, begründet die Sittlichkeit der Familie. „Reflexion“ auf die eigene, durch das Allgemeine bedingte Existenz, begründet die Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. In beiden „Institutionen“ haben die Individuen ihr wesentliches Selbstbewusstsein, zugleich sind sie über ihre konstitutiven Prinzipien (Einheit und reflexive vermittelte Einheit) mit der Sittlichkeit des Staates verbunden.

3.1. Die innere Verfassung des Staates Hegels logische Verwendung des Organismusbegriffs zeigt, die Verfassung des Staates folgt nicht aus naturgegebenen Strukturen, vielmehr muss die Philosophie die begrifflichen Grundlagen der vernünftigen Verfassung explizieren. So wie die Untergliederung der bürgerlichen Gesellschaft in Stände keinen naturgegebenen Vorgaben folgt, so entwickelt Hegel auch die Gliederung im Staat nicht als das Produkt naturhafter Vorgaben, sondern als eine Gliederung, die aus der Zweckbestimmung des politischen Handelns resultiert. ‚Politisch’ heißen diejenigen Zweckbestimmungen des Handelns, die die Realisierung der Freiheit zum Ziel haben.19 Hegels Verfassungskonzeption zeigt, wie das Dasein der Freiheit in der Verfassung der 19

Wobei Hegel allerdings auf die Inanspruchnahme des Begriffs „politisch“ oder „Politik“ weitgehend verzichtet. Zu sehr steht dieser Begriff für eine Tradition politischer Philosophie, die Hegel überwinden möchte.

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konstitutionellen Monarchie aus den wesentlichen Kräften der arbeitsteiligen bürgerlichen Gesellschaft und der Familie hervorgeht. Als Glieder des Staates realisieren sie das allgemein Gute als ihren höchsten Zweck. Die Staatswissenschaft als philosophische Wissenschaft zeigt, dass die Verfassung des Staates die Wirklichkeit der Rechte von Person und Subjekt sicherstellt. Gelingt dieser Nachweis, so sind nicht nur diese Rechte sichergestellt, die Pflicht, Bürger zu sein, ist damit verbindlich gemacht. Hegel beginnt die Darstellung des inneren Staatsrechts mit der Bestimmung der monarchischen Gewalt, gefolgt von der Regierungsgewalt, den Schlussstein bildet die gesetzgebende Gewalt. Schon 1802 hatte Hegel gegenüber der Kantischen Aufteilung, in der die richterliche Gewalt das dritte Verfassungsmoment stellt, die exekutive Macht stark gemacht. Diese Kritik an Kant hält Hegel bei, wenn er die richterliche Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft ansiedelt, bzw. der Regierungsgewalt zuordnet, nicht aber zu einem Moment der Sittlichkeit des Staates macht. Mit seiner Lehre von der fürstlichen Gewalt hat sich Hegel die schärfste Kritik eingehandelt.20 Insbesondere die Behandlung der fürstlichen Gewalt an erster Stelle, vor der Regierungsgewalt und der gesetzgebenden Gewalt, hat dazu geführt, dass Hegel vorgeworfen wurde, er passe sich an das politisch Erwünschte an.21 Für Schnädelbach erweckt der Aufbau der „Inneren Verfassung“ den Eindruck, Hegel wolle dem durch den begrifflichen Gang der Dinge nahe liegenden Anschein entgegentreten, „die fürstliche Gewalt könne ein Resultat der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt sein, was z.B. eine Wahlmonarchie oder sogar eine Präsidialverfassung rechtfertigen könnte“.22 Gegen den Vorwurf, Hegels Darstellung weiche dem politischen Druck und biete eine Umorientierung in der Verfassungslehre, muss 20

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Ebenso wie die Behandlung der Souveränitätslehre im Abschnitt über die Monarchie heftige Kritik auslöste, so stieß auch die Lehre von der Erblichkeit der Monarchie auf heftigen Widerstand. Die Erblichkeit der Monarchie sollte für Hegel bereits in Jena die Einheit der Verfassungskräfte auch im größten Konfliktfall gewährleisten. Das politisch unsichere Terrain im Umfeld der Karlsbader Beschlüsse könnte Hegel 1819/20 dazu veranlasst haben, verstärkt „organizistische“ Argumente ins Feld zu führen. Nur wenigen Hörern der Vorlesung 1819/20 waren wohl die begriffslogischen Differenzierungen zum Organismusbegriff präsent, als Hegel in diesem Semester – wie die Nachschrift Ringier belegt – naturhaft-organizistische Argumente für die Erbfolge in den Vordergrund rückt. Die Nachschrift setzt die Natürlichkeit des Erbfolgeprinzips als Kontrapunkt zur geistigen durch Handeln geschaffenen Welt. Vgl. Hegel 2000. Hösle wirft Hegel hier einen Begriffsfehler vor: Da die monarchische Gewalt der logischen Bestimmtheit der Einzelnheit angehört, ist diese erst nach der Allgemeinheit (Gesetzgebende Gewalt) und Besonderheit (Regierungsgewalt) abzuhandeln. Weder schreibt aber die Logik die Reihenfolge der einzelnen Kategorien zwingend vor, noch würde die Änderung der Darstellungsabfolge an den inhaltlichen Bestimmungen der einzelnen Verfassungsmomente etwas ändern. Hösle 1998, S. 201. Schnädelbach 1997, S. 250.

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geltend gemacht werden, dass Hegel für die Darstellung der Verfassung auf die Handlungslehre des Moralitätskapitels zurückgreift. Die Reihenfolge der Darstellung folgt der logischen Struktur des im Moralitätskapitel entwickelten Handlungsmodells: Das Subjekt als Akteur bildet den Anfang der Handlungsbestimmung. Die nähere Bestimmung („Zwecksetzung“ und „Vollzug“) setzt ein bestimmendes und wollendes Subjekt voraus. Die Verwendung der logischen Kategorien steht in der „Sittlichkeit“ unter spezifischen Bedingungen. Diese Bedingungen hat Hegel im Begriff des Willens als Handlung expliziert. Dieser Zusammenhang zwischen Handlungsstruktur und Verfassung des Staates führt dazu, dass Hegel von dem für jede Handlung notwendigen, wollenden Subjekt ausgeht, um in einem zweiten und dritten Schritt den Zweck und den Vollzug der Handlung zu behandeln. Darüber hinaus lässt die Funktion, die Hegel der fürstlichen Gewalt zuschreibt, Zweifel an der Berechtigung der gemachten Vorwürfe aufkommen. Zum einen schränkt Hegel die Funktion des Monarchen auf das Selbstbestimmen, die letzte Entscheidung ein. Zum anderen macht Hegel deutlich, dass die von den Gewalten ausgeübten Funktionen, Funktionen nicht der ausübenden Individuen, sondern Funktionen des Staates sind. Die „besonderen Geschäfte und Wirksamkeiten des Staats“ sind dem Staat eigen. Den Individuen aber, „durch welche sie gehandhabt und bestätigt werden“, sind diese Gewalten nur äußerlich und zufällig verbunden (240, § 277). Weder sind diese Gewalten für sich selbständig und autark, noch sind sie mit den sie ausübenden Individuen unlösbar verknüpft. Die Gewalten des Staates sind weder für sich selbständig, noch sind sie in dem besonderen Willen von Individuen selbständig. In dieser Unselbständigkeit der Gewalten zeigt sich für Hegel die „Souveränität des Staates“. Hegel bestimmt die Souveränität als die „Idealität“ aller besonderen Berechtigungen. „Diese Idealität kommt auf die gedoppelte Weise zur Erscheinung. – Im friedlichen Zustande gehen die besonderen Sphären und Geschäfte den Gang der Befriedigung ihrer besonderen Geschäfte und Zwecke fort, und es ist teils nur die Weise der bewußtlosen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag zur gegenseitigen Erhaltung und zur Erhaltung des Ganzen umschlägt [...], teils aber ist es die direkte Einwirkung von oben, wodurch sie sowohl zu dem Zwecke des Ganzen fortdauernd zurückgeführt und danach beschränkt [...] als angehalten werden, zu dieser Erhaltung direkte Leistungen zu machen; im Zustande der Not aber, es sei innerer oder äußerlicher, ist es die Souveränetät, in deren einfachen Begriff der dort in seinen Besonderheiten bestehende Organismus zusammengeht, und welcher die Rettung des Staats mit Aufopferung dieses sonst Berechtigten anvertraut ist“ (242, § 278 A).

Die Souveränitätslehre ermöglicht es, die Teile nicht als Teile, sondern als organische Glieder des Ganzen zu entwickeln. Die Verfassungslehre stellt nicht nur die Funktionen der einzelnen Gewalten dar, sondern hat wesentlich die Aufgabe, diese Souveränität als Idealität der besonderen Berechtigungen herauszuarbeiten. Erst in ihrer „Idealität“ zeigen die Gewalten ihre Verbundenheit mit dem Staatsganzen. In der Lehre von der „Souveränetät des Staates“ zeigt Hegel, dass die Teile der Inneren 83

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Verfassung von einem gemeinsamen Zwecke, d.i. vom Zwecke des Ganzen (dem Wohl des Staates) bestimmt und abhängig sind. „Souveränetät“ als der „Idealismus“ des Politischen ist das Bewusstsein dieses gemeinsamen Zwecks in den besonderen Organen des Ganzen.23 Hegel unterscheidet die „Souveränetät nach innen“ von der „Souveränetät nach außen“. Die ehemalige Feudalmonarchie war für Hegel wohl nach außen, nicht aber nach innen souverän. Die Gründe für die fehlende innere Souveränität der Feudalmonarchie liegen in der mangelnden Verbundenheit der einzelnen Glieder. Fürstliche Spitze, Stände und andere Berechtigungen waren größtenteils selbständige Teile des Staates, die nicht durch einen gemeinsamen Zweck an das Ganze gebunden waren.24 Die Souveränität nach innen ist zum einen von der ‚Despotie’ zum anderen von der Volkssouveränität zu unterscheiden. ‚Despotie’ steht für Gesetzlosigkeit: Die Gewalten stehen als Glieder der Verfassung in keinem gesetzmäßig verfassten Ganzen. Gegen den Gedanken der Volkssouveränität wendet Hegel ein, dass das Volk seine Souveränität erst durch die Organisation des Staates erhalte. Losgelöst von dieser Organisation kann es für Hegel keine Souveränität geben. Den Gedanken einer Volkssouveränität kritisiert Hegel als „verworren“, insofern ihm „die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt“ (245, § 279 A). Zwar gehört „Volk“ seit den frühen Schriften zu den Grundbegriffen der praktischen Philosophie Hegels. „Volk“ ist aber bei Hegel immer das „sittlich und politisch“ gegliederte und „verfaßte Volk“ und eben nicht das „unbestimmte Abstraktum [...] das in der bloß allgemeinen Vorstellung Volk heißt“ (245, § 279 A).25 Mit der Lehre von der Verfassung des Staates als „Idealität des Politischen“ zeigt Hegel, wie „Volk“ in der Moderne als eine bewusst gesetzte Einheit zu begreifen ist.26 Dies kann aber nur auf der Basis einer bestehenden Differenzierung, wie sie die Ständelehre der bürgerlichen Gesellschaft bereitstellt, geschehen. Für die Explikation seiner Konzeption der Souveränität greift Hegel auf die Organismus-Metaphorik zurück: Dass der Organismusbegriff hier metaphorisch zu verstehen ist, wird deutlich, wenn Hegel auf den „Idealismus“ hinweist, der hier

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Fraglich ist, ob der systematische Ort, an dem Hegel sein Souveränitätskonzept den Lesern vorstellt, korrekt ist. Da sich diese Lehre auf alle Gewalten, keineswegs allein auf die fürstliche Gewalt bezieht, müsste diese Abhandlung einleitend zur Verfassungslehre vorgetragen werden. In seiner Kritik an der Verfassung Deutschlands formuliert Hegel auf dieser Grundlage die These „Deutschland ist kein Staat mehr“. Vgl. Hegel 2002b. Schnädelbach 2000, S. 314. Mit der Ablösung des Volksbegriffs durch den Staatsbegriff wird Hegel nicht nur dem Titel der angekündigten Vorlesung „Naturrecht und Staatswissenschaft“ gerecht, er grenzt sich damit auch deutlich von der Inanspruchnahme des Volksbegriffs durch die politische Romantik ab.

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bestimmend ist. Damit die verschiedenen Gewalten der Verfassung nicht bloße Teile, sondern als Glieder mit dem Ganzen verbunden sind, sind Integrationsstrukturen notwendig, die Hegel wiederum am Leitfaden der Untergliederung in verschiedene Bestimmungsmomente entwickelt. Die fürstliche Gewalt weist zum einen das Moment der Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze auf, zum zweiten das Moment der Beratung als Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine, und drittens das „Moment der letzten Entscheidung, als der Selbstbestimmung, in welche alles übrige zurückgeht, und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt“ (240, § 275). Mit diesen drei Momenten wiederholt die fürstliche Gewalt die charakteristischen Merkmale der beiden anderen Gewalten: Die fürstliche Spitze steht in Beziehung zum bestehenden Gesetz und geht auf die Bearbeitung der Einzelheiten durch die Beamten ein. Die Verbindung zur ausübenden Gewalt besteht in der Befugnis des Fürsten, die hier bestehenden Beamtenstellen zu besetzen. Gegenüber dem Allgemeinen der Verfassung und den Gesetzen bildet die fürstliche Gewalt das „Gewissen“. Mit der „Regierungsgewalt“ führt Hegel eine gegenüber Montesquieus ‚Judikative’ neue Gewalt ein. Unter „Regierungsgewalt“ versteht Hegel die staatliche Exekutive insgesamt. Ihr Geschäft ist die Subsumtion des Besonderen des gesellschaftlichen Lebens unter das allgemeine Interesse. Da durch die gesetzgebende Gewalt die Rahmenbedingungen für das Regierungshandeln vorgegeben sind, könnte Hegel zu der Überzeugung gelangt sein, dass eine ‚Judikative’ als eigenständige Macht verzichtbar ist Mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen exekutiven Handelns ist die Unabhängigkeit der Rechtsprechung bereits gesichert. Rosenzweig hat darauf verwiesen, dass der Begriff der „Regierung“ im achtzehnten Jahrhundert allgemein für die Verwaltungsgeschäfte benutzt wurde.27 Gegenüber dieser früheren Verwendung, die wesentlich durch die Vorstellung des Beamten als einem fürstlichen Diener geprägt war, insistiert Hegel auf der politischen Bedeutung des Beamtentums und gibt damit der Regierungsgewalt einen neuen eigenständigen Sinn. Im Zentrum der „Regierungsgewalt“ steht für Hegel die Selbstverwaltung. Die gemeinschaftlichen besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft haben „ihre Verwaltung in den Korporationen der Gemeinden und sonstigen Gewerbe und Stände“ (253, § 288).28 Die Verwaltungsaufgaben des modernen Staates sind ohne eine arbeitsteilig organisierte Selbstverwaltung nicht zu bewältigen. Die Selbstverwaltung der Gemeinden, Korporationen und berufständischen Organisationen wird in Hegels Verfassungs27 28

Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 2, S. 147 ff. Diese Angelegenheiten sind einerseits Interessen der besonderen Sphären, etwa der Gemeinden, andererseits müssen diese Sphären den „höheren Interessen des Staates“ untergeordnet sein. Für die Besetzung der Beamtenstellen sieht Hegel auf dieser Ebene ein Wahlverfahren durch die Betroffenen vor und Bestätigung dieser Wahl durch eine übergeordnete Behörde.

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konzeption ergänzt durch das staatliche Beamtentum.29 Die Ernennung der Staatsbediensteten erfolgt durch den Fürst. Für die Besetzung der Stellen ist nicht die Herkunft eines Kandidaten, sondern ausschließlich seine Befähigung ausschlaggebend. Das Dienstrecht und die Bindung an die Gesetze schaffen für das Beamtentum Unabhängigkeit von der ersten Gewalt des Staates. Das Amtsverhältnis der Beamten ist auch kein Vertragsverhältnis. Die Staatsbediensteten werden nicht für eine einzelne zufällige Dienstleistung berufen, wie der Mandatarius, vielmehr wird von den Beamten erwartet, dass Sie das Hauptinteresse ihrer geistigen und besonderen Existenz in das Dienstverhältnis legen. Hegel erklärt daher die Bildung der Beamten zur zentralen Aufgabe des Staates. Mit der Bestimmung der dritten Gewalt als der gesetzgebenden, bleibt Hegel im Rahmen der Locke-Montesquieuschen Lehre. Die Funktion der gesetzgebenden Gewalt als Volkvertretung hatte Hegel 1817 in der Enzyklopädie mit den Worten erläutert, dass hier die Macht des Staates sich durch den Willen ergänze. Die Rechtsphilosophie von 1820 verteilt die Vereinigung von Macht und Willen dagegen auf alle drei Gewalten der Verfassung des Staates. Die vormalige herausgehobene Stellung der gesetzgebenden Gewalt wird allerdings insofern beibehalten, als Hegel erklärt, die gesetzgebende Gewalt sei selbst ein Teil der Verfassung. Die Verfassung ist einerseits Voraussetzung der gesetzgebenden Gewalt, zum anderen wird die Verfassung durch die Arbeit der gesetzgebenden Gewalt weiterentwickelt. Die dritte Gewalt, die Hegel auch als das ständische Element bezeichnet, hat insofern eine herausgehobene Stellung. Allerdings darf die Bedeutung des ständischen Elements nicht überbewertet werden. Keineswegs weiß das Volk für Hegel am besten, was es will. Vielmehr kommt in den Ständen „das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit“, so wie es in der bürgerlichen Gesellschaft auftritt, in Beziehung auf den Staat. Die Verhandlungen der gesetzgebenden Gewalt sind daher ein bedeutendes Bildungsmittel. Der öffentliche Zugang zu diesen Versammlungen muss daher gewährleistet werden. Diese Verhandlungen zeigen für Hegel das Werden der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat. Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft sind für Hegel nicht einfach mit dem Volk zu identifizieren, vielmehr sind die Stände eine Vermittlungsinstanz zwischen dem Volk und der Regierung. Sie müssen, wie Hegel schreibt, „den Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung“ verbinden mit den „Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen“. Diese Aufgabe können die Stände nur erfüllen, wenn sie nicht unmittelbar Repräsentanten des Vol29

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Hegels Konzeption der exekutiven Gewalt entspricht in diesem Punkt im wesentlichen den preußischen Verhältnissen. In Preußen wird die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden durch das staatliche Beamtentum ergänzt. Mitte der zwanziger Jahre, als Bemühungen einsetzen diese Strukturen zu verändern, setzt sich Hegel intensiv mit der Debatte um die preußische Städteordnung auseinander. Vgl. Weisser-Lohmann 1995.

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kes sind, sondern die Gesellschaft repräsentieren. Nur als Repräsentanten der Gesellschaft können sie jener Polarisierung entgegenwirken, die die Masse des Volkes gegen die Regierung stellt. Die gesetzgebende Gewalt entscheidet über Steuern und Abgaben. Eine Aufgabe, bei der die Interessenkonflikte zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat offen zu Tage treten. Diese Aufgabe darf daher nicht in die Hände eines Staatsrates, einer ministeriellen Behörde oder einer Regierungskommission gelegt werden. Diese Aufgabe ist nur durch eine ständische Vertretung zu lösen. Allerdings soll die Initiative zu neuen Gesetzen zumindest formell von der fürstlichen Gewalt ausgehen. Die Ständeversammlung muss sich wegen des förmlichen Vorschlags an den Monarchen wenden. „Die Gesetze, das was als allgemeiner Wille festgesetzt wird“, soll „nicht nur zufällig und an sich, sondern auch für sich, mit tätigem Anteil und mit selbstbewußtem Zutrauen der allgemeinen Bürgerschaft und mit Notwendigkeit“ erwachsen.30 Dieser Anforderung genügt in erster Linie die Ständeversammlung, denn in ihrem „Begriff“, d.i. in ihrer philosophisch entwickelten Bestimmung, wird deutlich, wie diese politischen Institutionen den allgemeinen Willen realisieren: Die Ständeversammlung repräsentiert das Volk vermittelt über die spezifischen Interessen der Stände. In ihrem Wirken suchen die Stände den Ausgleich zwischen dem Volk und den allgemeinen Interessen. „Repräsentation“ des Volkes ist für Hegel an gemeinsame Interessen gebunden. Diese „gemeinsamen Interessen“ sind die Grundlage der politischen Willensbildung. Jede der drei Verfassungsgewalten bildet für sich ein Ganzes, insofern jede die Momente der anderen enthält. Gleichwohl ist jede der drei Gewalten zugleich Glied einer Gesamthandlung. Die monarchische als die entscheidende Gewalt ist sowohl auf die Ausführung der Regierungsgewalt wie auf die rechtlichen Bestimmungen der gesetzgebenden Gewalt angewiesen. In der Realisierung des allgemein Guten sind alle drei Gewalten der Verfassung miteinander verknüpft. Hegel beginnt die Darstellung des inneren Staatsrechts mit dem Moment der Entscheidung, „als der Selbstbestimmung“ (240, § 275), weil in diesem Moment der „Anfang der Wirklichkeit“ liegt. Ohne den Entschluss, die Entscheidung zur Handlung, bleiben die Zweckbestimmungen der gesetzlichen Bestimmungen und der ausführenden Gewalt unbestimmt. Dies macht die spezifische politische Stellung des Monarchen im Staat aus. Wenn Hegel im Paragraphen 275 das Enthaltensein der „drei Momente der Totalität“ in der fürstlichen Gewalt behandelt, so ist diese Bestimmung mit der komplementären These des Paragraphen 272 zusammen zu lesen: „Jede dieser Gewalten“ ist „selbst in sich die Totalität dadurch [...], daß sie die anderen Momente in sich wirksam hat und enthält“ (233, § 272). „Selbstsein“ bzw. „Individuum-Sein“ ist für 30

Hegel 1983b, S. 221.

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alle drei Momenten der „Inneren Verfassung“ zusammen mit dem Bewusstsein der Idealität, der Verbundenheit durch den gemeinsamen Zweck des allgemein Guten, bestimmend. „Selbstsein“ heißt hier Wissen um die Notwendigkeit der anderen Momente. Erst dieses Wissen ermöglicht ein Handeln im Sinne des Ganzen. In der Bestimmung der „Souveränetät“ als Idealität will Hegel den Gesichtspunkt, dass die Souveränität als solche keine Machtusurpation, sondern eine gerechtfertigte Machtkonstellation ist, verdeutlichen. Indem Hegel die Funktion der fürstlichen Gewalt auf das die Beratung abschließende „Ich will“ beschränkt, bleibt – auch wenn er dies in den Grundlinien nicht ausdrücklich erwähnt –, die Verpflichtung des Fürsten auf Verfassung und Gesetz gültig:31 „Verfassung und Gesetz machen“, so Hegel in der Heidelberger Vorlesung, „die Grundlage der fürstlichen Gewalt aus; danach muß der Fürst regieren“.32 Für die Bewertung der Stellung des Monarchen sind die Souveränitätslehre des Staates sowie der Versuch Hegels, den Staat als Rechtsgestalt des Willens zu entwickeln, von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird der Monarch als das letzte Selbst des Staatswillens bestimmt. Die im Moralitätskapitel entwickelte Handlungsstruktur bildet den Leitfaden für die Darstellung der Verfassungslehre des Staates. Handeln setzt die Entscheidung zu Wollen ebenso voraus, wie das Vermögen der Ausführung und der Ziel- und Zweckbestimmung. Diese Vermögen werden durch die Stände der bürgerlichen Gesellschaft bereitgestellt. Hegel beschränkt die Bestimmung von „Familie“ und „Bürgerlicher Gesellschaft“ nicht darauf, dass sie in der Rekonstruktion dem Staat vorausgehen. Indem Hegel deren konstitutive Prinzipien (substantielle und reflektierte Sittlichkeit) herausarbeitet, veranschaulicht er ihre Bedeutung für das Ganze. Sie sind nicht mehr nur die unbewussten Wurzeln der geschichtlichen Genese, sondern erlangen in der institutionellen Zuordnung zur gesetzgebenden Gewalt politisches Bewusstsein von ihrer Verpflichtung auf das allgemeine Wohl. Die Ständelehre (die freie Berufswahl zur Voraussetzung hat) und die Lehre von den Korporationen verbinden die berufsständisch gegliederte Gesellschaft über ein repräsentatives Verfassungsmodell mit der Einheit des Staates. Hegels Verfassungskonzeption ist damit den „frühkonstitutionellen Verfassungskonzeptionen“ zuzurechnen. Leitbild frühkonstitutioneller Verfassungen ist die Charte der französischen Restaurationsmonarchie von 1814. Der Fürst ist hier im Besitz der gesamten Staatsgewalt, das Parlament hat eine partielle Teilhabe an der monarchi-

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Für Schnädelbach ist diese Stellung des Monarchen in Hegels Verfassungskonzeption durchaus mit der Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz der Bundesrepublik vergleichbar. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 314. Hegel 1983b, S. 221.

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schen Gewalt.33 „Repräsentativ“ wird diese Verfassung, so H. Brandt, wenn ihr eine „Vergesellschaftung des Staates“ vorausliegt:

„Eine repräsentative Verfassung ist in ihrer Grundstruktur einem Gemeinwesen zugeordnet, das nicht mittels einer monarchischen Spitze, sondern durch die in ihm wirkenden gesellschaftlichen Kräfte selbst zu seiner staatlichen Integration findet“.34

Dieser Verfassungskonzeption folgend erarbeitet Hegel an der bürgerlichen Gesellschaft die für die Konstitution der politischen Einheit entscheidenden Momente heraus.

3.2. Die äußere Souveränität: Der Staat im Kriegsfall Hegel behandelt den Aspekt der äußeren Souveränität nicht in einem eigenständigen Abschnitt, sondern innerhalb des „Inneren Staatsrechts“. Die äußere Souveränität wird somit als Verfassungsfrage behandelt. Hier geht es um den Fall, dass die Souveränität, wie im Kriegsfall, in Gefahr ist. Für diese Situation genügen die entwickelten Organe der inneren Verfassung nicht. Eine Militärverfassung ist gefordert, die ein „stehendes Heer“ zusammen mit der allgemeinen Wehrpflicht, festschreibt.

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Boldt 1969, S. 642. Brandt 1968, S. 7.

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II. Hegels Theorie des modernen Staates

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Michael Henkel

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Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft

1. Staat und Gesellschaft in der politischen Auseinandersetzung der Moderne Die Grundpositionen der politischen Auseinandersetzung sind seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wesentlich geprägt von der jeweiligen Auffassung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft. Für liberale Positionen ist prinzipiell die Auffassung charakteristisch, dass die Gesellschaft diejenige Sphäre darstellt, in der sich die als frei und rational vorgestellten Individuen in der Verfolgung ihrer persönlichen Interessen frei zu entfalten vermögen. Werden dem entsprechenden Handeln der Einzelnen keine Barrieren – etwa in Form rechtlicher Ungleichbehandlung – in den Weg gelegt, so führt die individuelle Interessenverfolgung im Ergebnis zugleich zur Beförderung des Wohles der Gesamtheit. Eigenwohl und Gemeinwohl stellen sich so als Resultat einer wohlgeordneten, das heißt in ihrer „Eigenlogik“ möglichst unbeeinträchtigten Gesellschaft dar. Dieses liberale Ideal verzichtet keineswegs auf den Staat, fordert aber von ihm ein bestimmtes Handeln: Der Staat habe im Innern das bürgerliche Recht sowie das Strafrecht, und damit die gesellschaftliche Sicherheit und Ordnung zu garantieren, sich ansonsten aber aus den gesellschaftlichen Beziehungen herauszuhalten.1 Da indes der Staat und seine Repräsentanten regelmäßig eigene Interessen verfolgen, die dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte oft zuwiderlaufen, erweist sich der Staat in den Augen liberaler Positionen prinzipiell als Bedrohung gesellschaftlicher Freiheit. So bleibt das liberale Verhältnis gegenüber dem Staat ambivalent: Obgleich der Liberalismus aus seiner individualistischen Perspektive den Staat als freiheitsgefährdende Institution ansieht, anerkennt er ihn zugleich als ein „notwendiges Übel“.2 Im Ausgang vom Liberalismus sehen auch sozialistische Positionen, namentlich die kommunistische Position marxistischer Provenienz, die Gesellschaft als den Bereich der Freiheit an – woher der Sozialismus seinen Namen hat. Die wahre Freiheit verwirklicht sich demzufolge in der Gesellschaft, und zwar erst dann, wenn diese sich gänzlich vom Staat emanzipiert hat. Die Emanzipation vom freiheitsver1 2

Im Übrigen obliegen dem Staat aus liberaler Perspektive Schutz und Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft auch in den außenpolitischen Beziehungen. Vom Staat als notwendigem Übel spricht ausdrücklich z.B. Popper 2003, S. 152. Zur liberalen Sicht auf Staat und Gesellschaft siehe Koslowski 1982, S. 165-292 und Taylor 1993b.

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hindernden Staat erfolgt durch eine gesellschaftliche Revolution. Ebenso bekannt wie paradigmatisch ist die auf diese Zusammenhänge gemünzte Aussage von Friedrich Engels, dass der Staat nach der Revolution im Kommunismus „absterben“ werde.3 Wie und von welcher Instanz aber nach dem Verschwinden des Staates die für eine Gesellschaft unabdingbaren Aufgaben und Herausforderungen – etwa die Rechtsprechung – bewältigt werden, bleibt hier allerdings überaus unklar, was sich in der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Gesellschaftsbegriffes bei Marx und Engels widerspiegelt.4 Dem entspricht auf der anderen Seite ein ungeklärter und ungenügender Staatsbegriff. Allerdings blieb diese Position innerhalb der sozialistischen Theoriedebatte nicht unwidersprochen. So traten neben den staatsfeindlichen Sozialismus der Marxisten Positionen, die der Vorstellung entgegentraten, dass eine staatsfreie Gesellschaft denkbar sei. Von solchen Überlegungen aus wurden dezidiert sozialistische Staatskonzeptionen entworfen, beispielsweise (in einer idealistischen Variante) von Ferdinand Lassalle oder später (in einer wirklichkeitswissenschaftlichen Variante) von Hermann Heller. Es ist alles andere als ein Zufall, dass sich sowohl Lassalle als auch Heller affirmativ in die Tradition des von Marx kritisierten und verworfenen Hegelschen Staatsdenkens stellten und von dort aus liberale wie sozialistische Staatsangst zurückwiesen: Dass eine freiheitliche Gesellschaft auf den Staat angewiesen sei, und zwar um der Freiheit (und um des Sozialismus’) willen, blieb für sie unzweifelhaft. Hier trafen sich die sozialistischen Staatsdenker mit einem liberal-konservativen Gelehrten wie Lorenz von Stein, der ebenfalls an Hegel anknüpfte und den Staat als unentbehrlich für die Verwirklichung moderner Freiheit auswies. In einer gewissen Umkehrung der liberalen und der marxistischen Vorstellungen und ganz in Übereinstimmung mit Hegel hob Stein hervor, dass sich die bürgerliche Gesellschaft jenseits des Staates und entgegen ihrem Anspruch und ihren Grundlagen als die Sphäre der Unfreiheit und Ungleichheit herausstellt. Eine Leistung Steins war es dabei gerade, die Gesellschaft gleichwohl als Triebkraft moderner Freiheit nicht allein anzuerkennen, sondern sie im Anschluss an Hegel als einer der ersten Theoretiker zugleich in ihrer Eigenart und Dynamik zu erforschen.5 Für konservative Positionen wurde dagegen eine gegenüber der Gesellschaft allgemeine und prinzipielle Skepsis charakteristisch. Diese wuchs sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Fortentwicklung der industriellen Gesellschaft zu einer gewissen Feindschaft gegenüber der Gesellschaft aus. Entsprechende Positionen stellten der Gesellschaft meist die Nation oder den Staat – oder beides – als die 3 4 5

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Siehe Engels 1877/78, S. 262. Siehe dazu die Diskussion bei Heller 1992a, S. 384-388; Heller 1992c, S. 482-485. Stein kann insoweit als einer der ersten Soziologen in Deutschland gelten; siehe dazu Freyer 1931, S. 69-74; Pankoke 1970, S. 126-134.

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freiheitlichen öffentlichen Lebensordnungen gegenüber und befürchteten eine Zerstörung dieser Ordnungen durch das Ausgreifen der individualistisch ausgerichteten Gesellschaft, insbesondere durch ein Eindringen der Gesellschaft in den Staat. Von daher speist sich etwa die Kritik Carl Schmitts am modernen Pluralismus, durch den der Staat zur Beute gesellschaftlicher Partikularinteressen werde.6

2. Staat und Gesellschaft zwischen Trennung und dialektischer Unterscheidung Mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zeigt sich in idealtypischer Vereinfachung, dass die oben skizzierten Positionen des Liberalismus’, des staatsfeindlichen Sozialismus’ und des Konservativismus’ im Grunde eine Trennung und damit eine Trennbarkeit beider Sphären voraussetzen. Demgegenüber beziehen die beiden zum modernen Sozialstaat führenden Richtungen, nämlich der staatsbejahende Sozialismus und der hier so genannte liberale Konservativismus, Staat und Gesellschaft sub specie libertatis von vornherein aufeinander, sie erkennen die Sphären also nicht als voneinander trennbar. Gerade damit stehen letztere Positionen in der Tradition der praktischen Philosophie Hegels, die von den hier paradigmatisch genannten Denkern – Lassalle, Heller, Stein – auch ausdrücklich aufgegriffen wird. Für Hegel nämlich, dem gelegentlich nachgesagt wird, er habe die theoretische „Trennung“ von Staat und Gesellschaft eingeführt,7 sind diese, bzw. genauer: der politische Staat und die bürgerliche Gesellschaft, zwei notwendig aufeinander verweisende, also gerade nicht voneinander trennbare Aspekte eines umfassenden praktischen Freiheitszusammenhanges,8 der Sittlichkeit. Schon aus methodologischer Perspektive können Staat und Gesellschaft in Hegels Ansatz nicht voneinander getrennt begriffen werden: Das Signum der Hegelschen Philosophie ist bekanntlich die Dialektik, das heißt das Denken in und von Zusammenhängen eines Ganzen, in dem zwar einzelne Elemente und Momente zu differenzieren, die aber als solche nur im Zusammenhang des Ganzen zu denken sind und die daher gar nicht angemessen als („analytisch“) isolierte und getrennte Einzelne verständlich gemacht werden können.

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Siehe Schmitt 1994, S. 154 f. Es war charakteristischerweise Karl Marx, der behauptete, dass Hegel „von der Trennung des ‚Staats’ und der ‚bürgerlichen’ Gesellschaft“ (Marx 1971b, S. 58) ausgehe; siehe ferner etwa Heidt 1998, S. 391 („Sphärentrennung“). „Gesellschaft und Staat sind die Zustände, in welchen die Freiheit [...] verwirklicht wird“ (12/59). Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die TheorieWerkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz.

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Ein Verständnis, das Staat und Gesellschaft voneinander getrennt bestimmen zu können meint und das dann in der Theorie oder in der Praxis die Gesellschaft gegen den Staat oder den Staat gegen die Gesellschaft auszuspielen unternimmt, bleibt defizitär, weil es wesentliche Aspekte beider, die sich aus ihrem Zusammenhang ergeben, verkennen muss: Weder existiert der geschichtliche Staat unabhängig von der Gesellschaft, noch vermag die Gesellschaft ohne den Staat, jenseits also eines politischen status, zu bestehen. Vor dreißig Jahren konnte festgestellt werden, dass die Auffassung von einer Trennung der beiden Sphären im Sinne eines strikten Dualismus’ kaum noch explizit vertreten werde.9 Indes gewann die Auffassung von der Trennung seit den 1980er Jahren international wieder theoretische und praktisch-politische Bedeutung: Die Politik Margaret Thatchers gab das herausragende praktische Beispiel für Vorstellungen einer vom Staat unabhängigen Gesellschaft,10 und diese Vorstellungen stehen seither ausgesprochen oder implizit häufig im Hintergrund derjenigen neueren Ansätze, die man pauschalisierend als „neo-liberal“ bezeichnet. Schon aus dieser Perspektive ist es sinnvoll, sich der Zusammenhänge des Unterschiedenen neu zu vergewissern.

3. Der Ort der bürgerlichen Gesellschaft im Zusammenhang der Hegelschen Staatstheorie 3.1. Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft Hegel qualifiziert die bürgerliche Gesellschaft als eine der Sphären der modernen Sittlichkeit – neben Familie und Staat. Die moderne Sittlichkeit ist dabei ein umfassender Freiheitszusammenhang, für den im Unterschied zur antiken Sittlichkeit die besondere Freiheit des Einzelnen konstitutiv ist.11 In der modernen Sittlichkeit aufgehoben sind das abstrakte Recht und die Moralität, denen der erste und der zweite Teil der Darstellung in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) – Hegels

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Siehe so Böckenförde 1976, S. XIV f. Dieses Beispiel greift Taylor 1993b, S. 120 auf. In diesem Sinne heißt es auch: „Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren lässt“ (7/339, § 182 Z); siehe dazu auch 7/233, § 124 A; 7/341-343, § 185 mit A und Z; sowie das Beispiel des Kynikers Diogenes in 7/351, § 195 Z. Zur Sittlichkeit siehe aus der Literatur Rameil 1981; Wang 2004; sowie die Beiträge in Kimmerle/Lefèvre/Meyer 1987.

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politiktheoretischem Hauptwerk – gewidmet ist.12 Die bürgerliche Gesellschaft als solche wird Hegel zufolge von zwei Prinzipien bestimmt:

„Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so dass jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt“ (7/339, § 182).

Wenn Hegel hier die konkrete Person als mit „Willkür“ begabt bezeichnet, so meint er die Freiheit der Person. Diese ist also einerseits bestimmt durch die Naturnotwendigkeiten, andererseits durch ihre Freiheit. Die „Vermischung“ beider Aspekte prägt die menschliche Bedürfnisstruktur. Die konkrete Person vermag ihre Bedürfnisse nur dadurch geltend zu machen und zu befriedigen, dass sie mit anderen in Beziehung tritt. Daher bleibt sie in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse auf die anderen angewiesen. Indem dies für alle gleichermaßen gilt, erhält die Besonderheit in der bürgerlichen Gesellschaft „die Form der Allgemeinheit“. „Form der Allgemeinheit“ bedeutet, dass das Zusammenleben in der bürgerlichen Gesellschaft allen gemeinsamen Regeln folgen muss, ohne aber dass zugleich der Wille zum Allgemeinen dieses Zusammenleben bestimmt. Es bleibt vielmehr dabei, dass sich „in der bürgerlichen Gesellschaft [...] jeder [...] Zweck, alles andere [ihm] nichts“ ist. Dadurch werden die Anderen zwar Mittel zum Zweck des Besonderen, „aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt“ (7/339 f., § 182 Z).13

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Hegels Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft deren sittlichen Gehalt klar herausarbeitet: Obgleich sich nämlich jeder selbst Zweck ist, mithin aufgeklärte Egozentrik das Verhalten bestimmt, kann man in der bürgerlichen Gesellschaft nur effektiv egozentrisch handeln, indem man den anderen gerecht wird, selbst wo im besonderen Handeln keine an sich guten Zwecke angestrebt werden. Aufgeklärt egozentrisches Verhalten hat hier also durchaus einen ethischen Effekt. 12 13

Zum abstrakten Recht und zur Moralität bei Hegel siehe den Überblick bei Henkel 2000a, S. 238-245. Weiter heißt es: „Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung, wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich frei machen, wo die Wellen aller Leidenschaften ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft regiert werden. Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert“.

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Des ungeachtet erweist sich die bürgerliche Gesellschaft als ein „System allseitiger Abhängigkeit“, weil die allgemeine, selbstsüchtige Verfolgung der besonderen Zwecke deren Verwirklichung davon bedingt sein lässt, dass sie „in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhang wirklich und gesichert ist“ (7/340, § 183). Dieses System aber bleibt die Bühne, auf der sich die Subjektivität der Besonderheit „nach allen Seiten“ entfalten darf und auch jeder beliebige subjektive Zweck verwirklicht werden kann, solange er in seiner Realisierung das Recht beachtet. So ist die bürgerliche Gesellschaft auch „das System der in sich verlorenen Sittlichkeit“. Besonderheit und Allgemeinheit fallen eigentümlich auseinander, indem sich die Besonderheit völlig abstrakt entwickeln, gewissermaßen jeder seinen Einfällen, wie irrational und bizarr sie auch sein mögen, folgen darf – und dabei nur an die formale, nicht an eine substanzielle Allgemeinheit gebunden ist. Die Allgemeinheit erweist sich als die „notwendige Form der Besonderheit sowie als die Macht über sie und ihren letzten Zweck“ (7/340, § 184), der in der bürgerlichen Gesellschaft als solcher aber nicht gewollt wird. Sind Besonderheit und Allgemeinheit in der bürgerlichen Gesellschaft derart entzweit, so bleiben sie doch aufeinander verwiesen:

„Indem das eine gerade das dem andern Entgegengesetzte zu tun scheint und nur sein zu können vermeint, indem es sich das andere vom Leibe hält, hat jedes das andere doch zu seiner Bedingung“ (7/341, § 184 Z).14

Näheres Hinsehen zeigt, dass das Auseinanderfallen und die gleichzeitige Verwiesenheit von Besonderheit und Allgemeinheit Hegels bürgerliche Gesellschaft genau in der Weise bestimmt, in der Thomas Hobbes den Staat konzipiert hat.15 Der Eingangsparagraph in dem Abschnitt der Grundlinien, der die bürgerliche Gesellschaft behandelt (7/339 ff., § 182), umschreibt mit der Bestimmung der beiden Prinzipien genau das theoretische Problem, um das es auch Hobbes in seiner Staatstheorie zu tun war, nämlich die Frage, wie die allgemeine Macht des Staates als Resultat der besonderen Einzelwillen der Individuen gedacht werden kann.16 Das Hobbes14

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Als Beispiel nennt Hegel das Zahlen von Steuern bzw. Abgaben, das etwa dem Erhalt der Infrastruktur und der Aufrechterhaltung der Rechtspflege dient. Er führt aus: „So sehen die meisten z.B. die Bezahlung von Abgaben für ein Verletzen ihrer Besonderheit an, für ein ihnen Feindseliges, das ihren Zweck verkümmert, aber so wahr dies scheint, so kann doch die Besonderheit des Zwecks nicht befriedigt werden ohne das Allgemeine, und ein Land, worin keine Abgaben bezahlt werden, dürfte sich auch nicht durch die Erkräftigung der Besonderheit auszeichnen“ (7/341, § 184 Z). Siehe Rohrmoser 1964, S. 395. Dass Hegel bei seinem Nachdenken über die bürgerliche Gesellschaft unter anderem Hobbes’ Theorie vor Augen stand, geht auch aus der Formulierung hervor, dass „die bürgerliche Gesellschaft der Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle ist“ (7/458, § 289 Z). Damit entspricht die wirkliche bürgerliche Gesellschaft dem hypothetischen Naturzustand bei Hobbes; siehe dazu Jaeschke 2003, S. 387.

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sche Vertragskonzept führt dann zu der Lösung, dass der Vertrag eines jeden mit jedem eine allgemeine Macht hervorbringt, der die Individuen als vereinzelte gegenüberstehen, den Leviathanstaat.17 In diesem Modell konzentriert sich die staatlichpolitische Sphäre (die Allgemeinheit) im Leviathan – das ist letztlich der Herrscher –, dem die unpolitisch-gesellschaftliche Sphäre (die Besonderheit) gegenübersteht. Aber in Hobbes’ Staatslehre sind, ebenso wie in Hegels bürgerlicher Gesellschaft, beide Bereiche aufeinander verwiesen und nicht unabhängig voneinander zu denken. Entscheidend allerdings ist, dass der Leviathanstaat des Hobbes allein über Wohl und Wehe der öffentlichen Angelegenheiten befindet, den Bürgern aber, die hier als bourgeois gedacht werden, nur verbleibt, im Rahmen der Gesetze dem privaten Handel und Wandel zu folgen. Den Bürgern steht daher der Staat als etwas ihnen äußerliches gegenüber – was ja eine Richtung der Kritik an Hobbes motiviert hat. Gerade im Lichte des Vergleichs der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat des Thomas Hobbes wird deutlich, warum Hegel die bürgerliche Gesellschaft ausdrücklich auch als „den äußeren Staat, – Not- und Verstandesstaat“ bezeichnet (7/340, § 183). Tatsächlich hat also die bürgerliche Gesellschaft bereits in sich einen staatlichen Charakter. Aber als Staat bleibt sie Notstaat, weil dieser als Bedingung der aufgeklärten Egozentrik notwendig bzw. weil die Allgemeinheit notwendige Form der Besonderheit ist; und er bleibt Verstandesstaat, weil er vom aufgeklärt egozentrischen Verstand um der Verfolgung der besonderen Zwecke willen gefordert wird. Es ist eben dieser Not- und Verstandesstaat, dessen Begriff den liberalen Theorien (und den meisten staatsfeindlichen sozialistischen Ansätzen) zugrunde liegt, denen zufolge der Staat ein notwendiges Übel sei. In diesen Theorien bleibt der Staat den Individuen gegenüber äußerlich, begegnet ihnen als Zwangs- und nicht zuerst als Freiheitsordnung. Aber während dies für jene liberalen Theorien das letzte Wort ist, geht Hegel hierüber hinaus, indem er zeigen kann, dass dieses Verständnis des Staates als Not- und Verstandesstaat gar nicht zum politischen Staat, zum Vernunftstaat vordringt, also defizitär bleibt. Denn der äußere Staat ist zwar notwendig und vom Verstand gefordert, er ist aber noch nicht vernünftig eingesehen, nicht aus Vernunft gewusst und gewollt,18 damit noch nicht aus objektiver Freiheit begründet. Erst indem die bürgerliche Gesellschaft als Not- und Verstandesstaat sich zum politischen Staat erhebt, wird dies geleistet.

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Siehe zu Hobbes’ Staatstheorie nur etwa die einführenden Darstellungen von Münkler 2001, bes. S. 107-131; Henkel 2000b; Kersting 1994, S. 59-108. Hegel hat sich schon früh mit Hobbes auseinandergesetzt und dessen Staatstheorie kritisiert; namentlich die Konzeption eines sog. Gesellschaftsvertrages muss Hegel von seinem Ansatz aus zurückweisen. „Sie [die Einzelnen; MH] sind aufeinander bezogen wider ihr Wissen und wider ihren Willen“ (Hegel 1983a, S. 147).

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Bevor aber der entsprechende Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft in den Vernunftstaat dargelegt wird, ist der Blick auf die innere Differenzierung der bürgerlichen Gesellschaft zu richten.

3.2. Die Momente der bürgerlichen Gesellschaft Die beiden von Hegel in Paragraph 182 der Grundlinien festgestellten Prinzipien entfalten sich in die drei Momente der bürgerlichen Gesellschaft. Es sind dies: „A. Die Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen, – das System der Bedürfnisse. B. Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege. C. Die Vorsorge gegen die in jenen Systemen zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen, durch die Polizei und Korporation“ (7/346, § 188).

3.2.1. Das System der Bedürfnisse Mit dem System der Bedürfnisse thematisiert Hegel die Eigenart der Marktwirtschaft. Dabei greift er aus kritischer Perspektive auf die Einsichten der klassischen Nationalökonomie insbesondere von Adam Smith, Jean Baptiste Say und David Ricardo zurück, die er auch namentlich erwähnt. Daneben sind es Einsichten der überkommenen Kameralistik bzw. Polizeiwissenschaft, die Hegel hier rezipiert. Dabei entwickelt er nicht so sehr eine eigene wirtschaftswissenschaftliche Theorie, als dass er vielmehr die wirtschaftswissenschaftlichen Lehren seiner Zeit mit Blick auf die Idee – also Begriff und Wirklichkeit19 – der Freiheit aufgreift.20 Die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse erfolgt allererst durch Arbeit. In dieser Perspektive erweist sich die bürgerliche Gesellschaft als eine Arbeitsgesellschaft.21 Es ist eines ihrer herausragenden Charakteristika, dass der Einzelne seine

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Generell meint bei Hegel Idee den Begriff und seine Verwirklichung. So heißt es gleich am Anfang der Einleitung in den Grundlinien, dass „die philosophische Rechtswissenschaft [...] die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande“ habe (7/29, § 1). Hegel gibt seiner Bewunderung für die neuere Wirtschaftswissenschaft Ausdruck in: 7/346 f., § 186 A und Z. Über Hegels ökonomische Vorstellungen und über sein Verhältnis zur Wirtschaftslehre seiner Zeit informiert grundlegend Priddat 1990; siehe ferner Diesing 1999, S. 87-94. Hegel setzte sich gründlich mit dem Begriff der Arbeit auseinander, so namentlich in der Phänomenolgie des Geistes von 1807. Entscheidend ist, dass Arbeit für Hegel einen

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eigenen Bedürfnisse nicht so sehr durch seine persönliche Arbeit befriedigt, als vielmehr dadurch, dass er vermittels der Arbeitsteilung die Arbeit der anderen für seine eigene Bedürfnisbefriedigung nutzen kann: Die Arbeit wird unter modernen Bedingungen abstrakt, und ebendies bewirkt eine „Spezifizierung der Mittel und Bedürfnisse“ ebenso wie der Produktion und bringt die Teilung der Arbeit hervor. Arbeitsteilung bedeutet unter anderem Produktivitätssteigerung, hat aber zugleich auch zur Folge, dass die „Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen“ (7/352, § 198) um der Bedürfnisbefriedigung willen zunimmt, sich zur Notwendigkeit auswächst.22 Mithin ist in dieser Form für die ökonomische Sphäre das der bürgerlichen Gesellschaft charakteristische Verhältnis von Besonderheit und Allgemeinheit wirksam. Die Bedürfnisse selbst qualifiziert Hegel als spezifisch menschliche im Unterschied zu tierischen Bedürfnissen. Die menschlichen Bedürfnisse sind geistig, das heißt auch: sozial vermittelte Bedürfnisse – selbst dort wo es sich um sog. natürliche Bedürfnisse handelt. Der geistige Aspekt menschlicher Bedürfnisse besteht in den Vorstellungen, die sich die Menschen von den begehrten Dingen machen. Und genau darin sieht Hegel eine – wenn auch formell bleibende23 – Befreiung von der strengen Naturnotwendigkeit. Anstatt zu unmittelbar natürlichen Bedürfnissen verhält sich der Mensch „zu seiner, und zwar einer allgemeinen Meinung und einer nur selbst gemachten Notwendigkeit, statt nur zu äußerlicher, zu innerer Zufälligkeit, zur Willkür“ (7/350, § 194). Gerade ob ihrer meinungshaften und insoweit künstlichen Natur ist es den menschlichen Bedürfnissen eigentümlich, im Grunde unendlich zu sein, und tatsächlich vervielfältigen sie sich im marktwirtschaftlichen System ebenso wie die Mittel zu ihrer Befriedigung ins Unabsehbare.24 Gerade dies vermehrt umgekehrt auch die „Abhängigkeit und Not“, die sich so als eine andere Seite der Steigerung der „Bedürfnisse, Mittel und Genüsse“ (7/351, § 195) erweisen. Die Arbeitsgesellschaft bringt den gesellschaftlichen Reichtum hervor, das von Hegel so genannte allgemeine Vermögen: In der „Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um, –

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den und befreienden Charakter hat; siehe dazu Schmidt am Busch 2002; Avineri 1976, S. 112118. Klar steht Hegel vor Augen, dass das Prinzip der Arbeitsteilung auch zur Simplifizierung, Mechanisierung und Technisierung der Arbeit führt. Die „Befreiung ist formell, indem die Besonderheit der Zwecke der zugrunde liegende Inhalt bleibt“ (7/350, § 195). Hegels Konzept des Bedürfnisses zeigt, dass Bedürfnisse nicht einfach gegeben sind, sondern künstlich erzeugt werden, und zwar besonders durch Gewinnstreben; so heißt es: „Es wird ein Bedürfnis [...] nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen“ (7/349, § 191 Z).

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in die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so dass, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuss der Übrigen produziert und erwirbt. Diese Notwendigkeit, die in der allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller liegt, ist nunmehr für jeden das allgemeine, bleibende Vermögen [...], das für ihn die Möglichkeit enthält, durch seine Bildung und Geschicklichkeit daran teilzunehmen, um für seine Subsistenz gesichert zu sein, – so wie dieser durch seine Arbeit vermittelte Erwerb das allgemeine Vermögen erhält und vermehrt“ (7/353, § 199).

Die Möglichkeit, am allgemeinen Vermögen teilzuhaben, ist die des besonderen Vermögens der Individuen bzw. der Familien.25 Das besondere Vermögen ist innerhalb des Systems der Bedürfnisse bedingt durch das Verfügen über Kapital sowie über die „Geschicklichkeit“.26 Diese wiederum weiß Hegel nicht zuletzt „durch die zufälligen Umstände“ (7/353, § 200) bedingt. Geschicklichkeit und Zufall führen daher zu gesellschaftlicher, namentlich zu ökonomischer Ungleichheit. Ökonomische Ungleichheit ist so für Hegel ein – im Übrigen nicht prinzipiell überwindbares – Signum der bürgerlichen Gesellschaft. Zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Vermögen vermitteln innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die Stände. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind in diesen Ständen organisiert, die ihre Eigenart von ihrer Stellung im Prozess der Bedürfnisbefriedigung erhalten.27 Hegel unterscheidet dabei den substantiellen Stand, der durch ein unmittelbares Verhältnis zur Natur geprägt ist und namentlich die Landwirtschaft umfasst, dann den formellen Stand des Gewerbes und des Handels, der durch ein mittelbares Verhältnis zur Natur geprägt ist und schließlich den allgemeinen Stand, der auf das Funktionieren des Prozesses der Bedürfnisbefriedigung als solchen gerichtet ist und die staatliche Beamtenschaft umfasst. Anders als die heutige Wirtschaftswissenschaft, die in ihrer Lehre von den drei Wirtschaftssektoren lediglich auf die ökonomische Funktion der Bereiche Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (primärer Sektor), Bergbau und verarbeitendes Gewerbe (sekundärer Sektor) sowie Handel und öffentliche wie private Dienstleistungen (tertiärer Sektor) abhebt, geht es Hegel in der Ständekonzeption um die ethischen Aspekte der unterschiedlichen Verhältnisse zum Produktions- und Verteilungsprozess. Die Stände sind daher nicht nur als ökonomische Sektoren qualifiziert, sondern als spezifische Lebensformen. So ist die Mitgliedschaft im substanziellen Stand gekennzeichnet durch eine traditionsorientierte – agrarische und ländliche – Lebensweise, während der formelle Stand die freie städtische Lebensweise prägt und der allgemeine Stand dem Staatsethos, nicht etwa dem Profitstreben, verpflichtet ist. 25 26 27

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Siehe 7/323, § 170. Zur Kapitaltheorie Hegels siehe Priddat 1990, S. 139-156. Siehe 7/354, § 201.

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Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass Hegels Ständelehre beispielsweise als Grundlage zur Erklärung moderner politischer Konfliktlinien ebenso geeignet ist wie zur Erläuterung des besonderen Status’ der Beamtenrechtsverhältnisse im modernen Staat. Ferner dürfte klar sein, dass Hegels Ständelehre weder auf eine Restauration der Ständegesellschaft abhebt noch irgendetwas mit Vorstellungen von einem sog. Ständestaat gemein hat, wie sie auf der antidemokratischen Rechten in der Zeit zwischen den Weltkriegen propagiert wurden.

3.2.2. Die Rechtspflege Die Marktökonomie und die ihr entsprechende Wirtschaftsgesellschaft, die Hegel als System der Bedürfnisse beschreibt, bleiben auf eine funktionierende und gesicherte Rechtsordnung, namentlich auf die Garantie des Eigentumsrechtes angewiesen. Den entsprechenden Zusammenhängen widmet sich Hegel unter dem Stichwort der Rechtspflege.28 Es geht ihm hier nicht mehr um die Existenz des Rechts im freien Willen, wovon der erste Teil der Grundlinien handelt. Vielmehr thematisiert Hegel nun das „Dasein“ des Rechts „als allgemein Anerkanntes, Gewusstes und Gewolltes“ (7/360, § 209), mithin die positive Rechtsordnung und ihre Institutionalisierung. Die positive Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft qualifiziert Hegel zunächst als Ausdruck einer zivilisatorischen Entwicklung, die Bildung hervorgebracht hat, das heißt ein „Denken als Bewusstsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit“ das das „Ich als allgemeine Person“ aufzufassen vermag, „worin Alle identisch sind“ (7/360, § 209 A). Mithin basiert die bürgerliche Rechtsordnung auf dem Bewusstsein der Gleichheit aller in der Freiheit bzw. der gleichen Freiheit aller – als Rechtssubjekte. In offenkundiger Anlehnung an eine Stelle im Paulusbrief an die Galater (Gal 3, 28) schreibt Hegel: „Der Mensch gilt [in der bürgerlichen Gesellschaft; MH] so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“ (7/360, § 209 A). Die für die bürgerliche Gesellschaft unabdingbare Rechtssicherheit erwächst Hegel zufolge aus drei Faktoren: Aus der Gesetzesförmigkeit des Rechts, aus dem positiven Charakter des Rechts, das heißt daraus, dass das Recht in Akten der Gesetzgebung ausdrücklich und öffentlich erlassen wird, und schließlich aus einer durch unabhängige Gerichte vorgenommenen Rechtsprechung.

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Wenn man die spezifische Differenz zwischen (positivem) Recht und Politik außer Betracht lässt, mag es auf den ersten Blick überraschen, dass Hegel die Rechtspflege der bürgerlichen Gesellschaft und nicht dem politischen Staat zuordnet. Gerade auf jene Differenz kommt es aber an; siehe dazu auch Jaeschke 2003, S. 388 f.

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Die Darstellung der Rechtspflege weist Hegel unzweifelhaft als Theoretiker des klassischen Rechtsstaatsprinzips aus. Wie Immanuel Kant – der herausragende Vordenker des liberalen Rechtsstaates in Deutschland – in der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 hebt Hegel nicht zuletzt die Bedeutung der Öffentlichkeit für eine freiheitliche Ordnung hervor:29 Wie Kant betont er, dass die Öffentlichkeit des Rechts auch zur Gerechtigkeit der öffentlichen Ordnung beitrage.30 Wenn sich Hegel in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch für die Kodifizierung des Rechts ausspricht, nimmt er zugleich Stellung gegen die Auffassung, dass das Recht nicht künstlich gemacht und von gesetzgebenden Organen in Rechtsbüchern festgeschrieben werden solle, sondern dass es gewissermaßen dem Volksgeist abzulauschen und als lebendiges Recht von den Richtern und der Rechtswissenschaft zu verwalten sei. Diese Frage war im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aktuell im so genannten Kodifikationsstreit, in dem sich Carl Friedrich von Savigny auf den Standpunkt stellte, dass die Zeit für eine kodifizierende Gesetzgebung noch nicht reif sei. Auf der Gegenseite forderte namentlich Anton Friedrich Justus Thibaut die Kodifizierung des bürgerlichen Rechts in einem allgemeinen Gesetzbuch. Hier war die Einsicht leitend, dass eine Zusammenfassung des Rechts in Gesetzbüchern die Berechenbarkeit und Sicherheit, die Rationalität des Rechts steigere.31 Eben diese Auffassung vertrat auch Hegel, der sie mit seiner Konzeption der Rechtsprechung verknüpfte. Über „das Gericht“ heißt es prinzipiell: „Das Recht, in der Form des Gesetzes in das Dasein getreten, ist für sich, steht dem besonderen Wollen und Meinen vom Rechte selbständig gegenüber und hat sich als allgemeines geltend zu machen. Diese Erkenntnis und Verwirklichung des Rechts im besonderen Falle, ohne die subjektive Empfindung des besonderen Interesses, kommt einer öffentlichen Macht, dem Gerichte, zu“ (7/373, § 219).

Im ersten dieser Sätze spricht Hegel aus, dass es verschiedene konfligierende Rechtsmeinungen gibt, das Recht insoweit strittig ist, andererseits aber einen allgemeinen und objektiven Anspruch erhebt, und deshalb mit verbindlicher Geltung entschieden werden muss. Der zweite Satz konstatiert, dass eben diese Entscheidung dem nicht im Rechtsstreit befangenen, insoweit unparteiischen Gericht obliegt, das vom Recht selbst ebenso gefordert wird wie die Rechtmäßigkeit des Gerichtsverfahrens. Diese Sicht auf das Rechtssystem bestätigt unzweideutig die Modernität der Hegelschen Rechtsstaatstheorie.

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Siehe Kant 1984, S. 49-56. Siehe 7/368, § 215 A. Siehe Hassemer 1994, S. 252; zum Kodifikationsstreit siehe Thibaut/Savigny 1973; Senn 2007, S. 333-338.

3.2.3. Polizei und Korporation

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Das System der Bedürfnisse ermöglicht die Subsistenz und das (ökonomisch fundierte) Wohl des Einzelnen. Individuelle Subsistenzsicherung und subjektives Wohl sind dabei aber abhängig vom objektiven System des Marktmechanismus’ sowie von persönlichem Geschick und zufälligen Umständen. Dass diese Faktoren wiederum für die besondere Subistenz und das besondere Wohl nutzbar gemacht werden können, gewährleistet die Rechtspflege mit ihrem Eigentums- und Persönlichkeitsschutz (in Zivil- und Strafrecht). Die so umschriebenen formalen Möglichkeiten bedürfen aber zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer tatsächlichen Realisierung weiterer Institutionen, die die einzelnen Wirtschaftsbürger gegen allgemeine Wechselfälle und Risiken absichern: „Im System der Bedürfnisse ist die Subsistenz und das Wohl jedes Einzelnen als eine Möglichkeit, deren Wirklichkeit durch seine Willkür und natürliche Besonderheit ebenso als durch das objektive System der Bedürfnisse bedingt ist; durch die Rechtspflege wird die Verletzung des Eigentums und der Persönlichkeit getilgt. Das in der Besonderheit wirkliche Recht enthält aber sowohl, dass die Zufälligkeiten gegen den einen und den anderen Zweck aufgehoben seien und die ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums bewirkt [sei], als dass die Sicherung der Subsistenz und des Wohls der Einzelnen, – dass das besondere Wohl als Recht behandelt und verwirklicht sei“ (7/382, § 230).

Die Gewährleistung der tatsächlichen Sicherheit von Person und Eigentum obliegt der Polizei, während die Absicherung der individuellen Subsistenz und des Wohls des Einzelnen Sinn der Korporation ist. Hegels Polizeibegriff entspricht nicht dem eng gefassten Polizeiverständnis des heutigen Polizeirechts, wonach die Aufgabe der Polizei in der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht. Vielmehr entspricht sein Verständnis dem überkommenen, weiter gefassten Polizeibegriff, demzufolge unter Polizei allgemein die öffentliche (Sicherheits- und Wohlfahrts-) Verwaltung zu verstehen war.32 Neben der ebenfalls kurz abgehandelten Sicherheitsverwaltung richtet Hegel sein Augenmerk vor allem auf die Wohlfahrtsverwaltung. Deren Unabdingbarkeit für die bürgerliche Gesellschaft leitet er von der Überlegung ab, dass diese Gesellschaft zwar auf dem Prinzip der individuellen Bedürfnisbefriedigung beruht, dass aber die individuelle Bedürfnisbefriedigung für alle gleichermaßen von gemeinsamen Institutionen abhängt, ohne die das Ganze des unendlich verschränkten und vernetzten Marktsystems nicht bestehen könnte. Die entsprechenden Institu32

Siehe dazu nur Knemeyer 1978. Das ältere Verständnis klingt heute noch nach, wenn beispielsweise von bau- oder von feuerpolizeilichen Maßnahmen die Rede ist. Etymologisch geht das Wort „Polizei“ auf das griechische Wort „politeia“ (= Republik, Staat) zurück, was auf den engen Zusammenhang von Polizei und Politik verweist. Dem alten Polizeiverständnis entsprach die Polizeiwissenschaft.

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tionen beruhen insoweit auf einem gemeinsamen Interesse, und dementsprechend fordern „diese allgemeinen Geschäfte und gemeinnützigen Veranstaltungen [...] die Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht“ (7/384, § 235) – die Polizei. Ihrem Begriff entsprechend leistet die Polizei neben der Sicherung der öffentlichen Ordnung die Bereitstellung einer Infrastruktur (Hegel nennt exemplarisch Straßenbeleuchtung und den Bau von Brücken), Gewerbe- und Marktaufsicht (zu denken wäre etwa an Kartellgesetzgebung, die Durchsetzung von Standards zur Arbeitsplatzsicherheit oder die Verhinderung von Schwarzmärkten), Prüfung der Warenqualität, Bereitstellung einer Gesundheitsinfrastruktur (etwa durch Errichtung öffentlicher Krankenhäuser oder Einstellung von Amtsärzten), öffentlicher Erziehungs- und Bildungseinrichtungen oder auch von Armenhäusern. Bleibt die Polizei eine „äußere Ordnung und Veranstaltung zum Schutz und Sicherheit der Massen von besonderen Zwecken und Interessen“ (7/392, § 249), so sorgt die Korporation (bzw.: die Korporationen, denn es sind dieser notwendigerweise mehrere) für eine gewissermaßen innere Ordnung zu jenem Schutz und jener Sicherheit, indem sie nämlich dem Individuum seine bürgerliche Ehre vermitteln, durch die es sich als etwas weiß, und zwar – in heutiger Sprache – als eigenständiger Leistungsträger der Gesellschaft. Eine entsprechende Vermittlung kann nur institutionell erfolgen, und so stellen sich Korporationen als Berufsgenossenschaften dar. Diese gibt es nur für den Stand des Gewerbes und sie erweisen sich insoweit als spezifisch moderne Institutionen, die zwar in ethischer Hinsicht den Zünften der vormodernen Zeit vergleichbar sind, dennoch aber durch die Eigenart der modernen Arbeitswelt qualifiziert werden. Korporationen sind intermediäre Instanzen zwischen dem Individuum und dem Ganzen, und es ist diese Mittelstellung, auf die es ankommt: Einerseits leisten die als Korporationen organisierten Berufszweige einen Beitrag zum allgemeinen Vermögen, andererseits organisieren sie die Fähigkeiten des seine eigenen Zwecke verfolgenden Individuums in den Prozess jenes Ganzen hinein und geben dem Individuum erst seinen Ort im geordneten oder strukturierten Ganzen des Wirtschaftsprozesses. Ebendeshalb weiß sich das Individuum als Mitglied der Korporation in seiner Besonderheit allgemein anerkannt. Die Zwecke der Korporation als solcher schließlich sind nur im allgemeinen Zweck des Ganzen realisierbar und verweisen insoweit auf diesen allgemeinen Zweck des Ganzen, das heißt des politischen Staates, für den sie gewissermaßen einen Transmissionsriemen gesellschaftlicher Interessen darstellen.33 So stellt Hegel in den Grundlinien die Korporation neben der 33

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Der Staat hat daher umgekehrt auch die Aufsicht über die Korporationen, um zu verhindern, dass diese in ihrer Selbstbezogenheit erstarren und sich wie die mittelalterlichen Zünfte zu geschlossenen Gesellschaften wandeln: „Freilich muss über dieser [Korporation; MH] die höhere Aufsicht des Staates sein, weil sie sonst verknöchern, sich in sich verhausen und zu

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Polizei als den Ausgangspunkt des Überganges von der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat vor:

„Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit – sowie die in der polizeilichen äußerlichen Anordnung vorhandene Trennung und deren relative Identität – in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über“ (7/397, § 256).

3.3. Der Übergang der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat Tatsächlich lässt sich der Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat von Hegels Verständnis der Polizei und der Korporationen ausgehend gut plausibel machen.34 Dazu ist zuerst zu bedenken, dass Polizei und Korporationen als öffentliche Institutionen der liberalen Marktgesellschaft dienen und nicht etwa dazu eingeführt werden, um den vormodernen, bevormundenden Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus’ zu restaurieren, der mit den freiheitlichen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft für Hegel so wenig wie etwa für Kant zu vereinbaren ist. Worauf es allerdings ankommt ist, dass der Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, dem Wohl des Individuums zu dienen und allein das aufgeklärte Selbstinteresse gelten zu lassen, ohne jene öffentlichen und allgemeinen Institutionen gar nicht eingelöst werden kann. Das heißt aber, dass die bürgerliche Gesellschaft etwas voraussetzt, das nicht aus der aufgeklärten Egozentrik hervorgebracht werden kann, da diese eben nur auf die Realisierung des besonderen Interesses ausgerichtet ist. Indem aber die aufgeklärte Egozentrik als allgemeines Prinzip gilt, weist die bürgerliche Gesellschaft insoweit über sich hinaus, als dieses Allgemeine vorhanden, nicht aber als solches gewusst und gewollt ist. Von einem etwas anderen Blickwinkel aus kann man diese Zusammenhänge auch so formulieren: Die Allgemeinheit des besonderen Strebens nach individueller Bedürfnisbefriedigung lässt bereits gemeinsame Interessen entstehen, und deshalb bereiten Polizei und Korporationen als Repräsentanten dieser Allgemeinheit den Übergang der bür-

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einem elenden Zunftwesen herabsinken würde. Aber an und für sich ist die Korporation keine geschlossene Zunft: sie ist vielmehr die Versittlichung des einzelnstehenden Gewerbes und sein Hinaufnehmen in einen Kreis, in dem es Stärke und Ehre gewinnt“ (7/367, § 255 Z); siehe Avineri 1976, S. 133. Im Vergleich zu anderen Aspekten der Hegelschen Gesellschaftstheorie kann die Korporationslehre auf den ersten Blick als am wenigsten aktuell erscheinen. Blickt man allerdings auf die Funktion, die Hegel den Korporationen beimisst, wird sogleich deutlich, dass auch die Gegenwartsgesellschaft ohne Hegelsche „Korporationen“ nicht auskommt: Ihre Funktion wird heute erfüllt namentlich von politischen Parteien, öffentlichen Bildungseinrichtungen und Interessenverbänden (unter denen sich nach wie vor Berufsgenossenschaften finden). Zum Übergang siehe auch Pauly 2000, S. 387-392; Petersen 1992, S. 118-121.

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gerlichen Gesellschaft in den politischen Staat vor. Im politischen Staat stellt sich dann das gemeinsame Interesse nicht mehr lediglich hinter dem Rücken des individuellen Interesses objektiv ein und erscheint nicht mehr lediglich als Notwendigkeit und Zwang, sondern in ihm wird das gemeinsame Interesse als solches gewusst und gewollt. Und erst durch das Wissen und Wollen kann es frei, also nicht mehr nur als Notwendigkeit und Zwang, verwirklicht werden. Indem also die allgemeine Freiheit als solche gewusst und gewollt wird, vermag Freiheit als Ganze Wirklichkeit zu werden. Diese wirkliche Freiheit umfasst nicht nur die individuelle, sondern auch die allgemeine und ebendeshalb politische Freiheit. Mit der Erläuterung dieser Zusammenhänge leitet Hegel in Paragraph 257 der Grundlinien den Abschnitt über den politischen Staat ein. Die Gestalt des politischen Wissens und Wollens, das den Staat hervorbringt, ist hier ebenso wenig auseinanderzulegen wie die Einzelheiten des Konzeptes des Verfassungsstaates, als den Hegel den politischen Staat ausbuchstabiert.35

3.4. Armut im Reichtum und der Weg zum freiheitlichen Sozialstaat Der Verfassungsstaat sah sich im 19. Jahrhundert mit der aufkommenden Industriegesellschaft Problemen gegenüber, die man bald unter den Titel der sozialen Frage fasste:36 Anders als es die optimistischen Perspektiven der liberalen Wirtschaftstheorien eines Adam Smith oder David Ricardo nahe legten,37 erzeugte die Marktökonomie der bürgerlichen Gesellschaft bald ein vorher unbekanntes und zunächst erheblich zunehmendes Ausmaß an gesellschaftlicher Armut, an Not, Elend und Ausbeutung derjenigen, die von ihrer Arbeit leben mussten. Das Freiheits- und Gleichheitsversprechen der modernen Gesellschaft erwies sich für die arbeitenden Klassen vielfach als eine Illusion: So sehr die Industriegesellschaft Reichtum und Wohlstand produzierte und durch technische Entwicklungen die Lebensführung zu erleichtern vermochte, so sehr war der Anteil derjenigen, die in den Genuss dieser Fortschritte kamen, zunächst relativ gering, während ein erheblicher Teil der an-

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Siehe zu Hegels Staatsbegriff die Beiträge von Lembcke und Pertersen in diesem Band; ferner zum Verfassungskonzept (7/406-490, §§ 260-320): Hösle 1998, S. 561-579; Petersen 1992, S. 134-143; Schnädelbach 1997. Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts präsentierte sich zunächst und bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen als Arbeiterfrage. Durchaus im Sinne der Hegelschen Sichtweise hält Marx über Smith und Ricardo fest, dass das Elend, das die bürgerliche Produktionsweise hervorbringe, „in ihren Augen nur der Schmerz“ sei, „der jede Geburt begleitet in der Natur wie in der Industrie“ (Marx 1971a, S. 512).

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wachsenden Arbeiterschaft einen Kampf um das tägliche Überleben führen musste.38 Hegel konnte die Herausbildung der Industriegesellschaft (am Beispiel Englands) lediglich in ihren frühen Anfängen verfolgen und ihre weitere Entwicklung noch kaum voraussehen. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurde die Eigenart der Industriegesellschaft deutlich erkennbar. Gleichwohl hat Hegel in der theoretischen Durchdringung des Systems der Bedürfnisse die grundlegenden Tendenzen, die die widersprüchliche Dynamik der bürgerlichen Industriegesellschaft später prägen sollten, bereits klar erfasst. Die wichtigsten seiner vielzitierten Ausführungen zu dieser Problematik seien auch hier wiedergegeben:

„Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. – Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer [...] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt“ (7/389, § 243).

Und weiter: „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt“ (7/389, § 244).

Im Ganzen erweise sich die bürgerliche Gesellschaft trotz ihres Reichtums als „nicht reich genug“, sie besitze „an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug [...], dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (7/390, § 245). Hegel qualifiziert hier die relative Exklusion eines Teils der Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Vermögen als ein Strukturmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft, die für ihn durch Überproduktionskrisen gekennzeichnet ist, denen die Gesellschaft von sich aus deshalb nicht beizukommen vermag, weil direkte oder indirekte öffentliche Hilfsmaßnahmen gegen ihre Freiheitsprinzipien verstießen: Arbeitslose Transfereinkommen etwa würden zwar die Subsistenz der Bedürftigen sichern, dies aber geschähe ohne dass diese Bedürftigen arbeiteten, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft verstoße und den Individuen verwehre, ihre Selbständigkeit und Ehre durch eigene Arbeit zu gewinnen. Ein öffentliches Arbeitsangebot an die Be38

Siehe dazu nur etwa Nipperdey 1998a, S. 219-248; Nipperdey 1998b, S. 335-373.

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dürftigen vergrößerte indes nur die Produktion, der keine „selbst produktiven Konsumenten“ (7/390, § 245) gegenüberstünden, was das Problem nur verschärfe.39 Andere Möglichkeiten der Abhilfe – nämlich Export, Auswanderung und Koloniengründung – mögen zwar vorübergehend die Überproduktionskrisen linderen können, sind aber außerstande, das Strukturproblem prinzipiell zu überwinden, da die Erde letztlich endlich ist und auch eine auf den Globus ausgedehnte bürgerliche Gesellschaft mit ihnen belastet sein wird. Hegel belässt es mithin bei der Beschreibung des gesellschaftlichen Strukturproblems der Armut, für das er keine prinzipielle Lösung sieht. Er geht mithin davon aus, dass die moderne Gesellschaft mit den entsprechenden Dilemmata leben muss, und dass im übrigen die Integrationskraft des politischen Staates stark genug ist, um die derart instabile Gesellschaft jedenfalls auf seinem geographischen Gebiet zusammenzuhalten. Mit dieser Sicht der Dinge war namentlich Karl Marx nicht zufrieden. Marx rühmte Hegel für seine Einsichten in jene Strukturprobleme der bürgerlichen Gesellschaft, setzte aber nicht etwa auf die Integrationskraft des Staates, sondern hielt – wie oben angesprochen – dafür, dass der Staat gerade ein Teil des Problems sei: Die voll entwickelte, ihre Widersprüche voll entfaltende bürgerliche Gesellschaft werde sich nämlich aus sich selbst heraus befreien, und zwar nicht zuletzt, indem sie den Staat und die von ihm repräsentierte bürgerliche Eigentumsordnung in einer Revolution überwinde, die schließlich die vollkommene, die kommunistische Gesellschaft aus sich entlasse. Dieser durchaus von Hegel ausgehenden Sicht Marxens steht ein Entwurf gegenüber, der ebenfalls an Hegel anknüpft, dessen Theorie jedoch im Angesicht der Eigenart der Industriegesellschaft konstruktiv weiterentwickelt. Es ist dies der Entwurf Lorenz von Steins. Stein zeigt auf, wie der Staat zwar die Antinomien der zur Industriegesellschaft gewandelten bürgerlichen Gesellschaft nicht aus der Welt schaffen kann, wie er aber den (nicht zuletzt in Armut und Elend begründeten) freiheitsbedrohenden Konsequenzen der Gesellschaft begegnen kann – nämlich dadurch, dass der Verfassungsstaat sich zum freiheitlichen Sozialstaat fortentwickelt. Mit seiner Theorie wurde Stein im Anschluss insbesondere an Hegel zum Begründer der Theorie des modernen Sozialstaates.40 Dem von Stein eingeschlagenen Hegelschen Weg folgte insoweit namentlich Hermann Heller.41 So erwies sich Hegels Theorie

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Siehe dazu Priddat 1990, S. 171-175. Siehe dazu nur Böckenförde 1972; Huber 1972; Koslowski 1989. Siehe Heller 1992b. Wie oben bemerkt, hielt im Unterschied zu Marx auch der Hegelbewunderer Lassalle am Staat fest. Sein Konzept eines in die Gesellschaft eingreifenden, insoweit sozial tätigen Staates unterscheidet sich aber in entscheidenden Punkten sowohl von Hegels

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als entwicklungsoffener Entwurf, an den zum Verständnis der sich fortentwickelnden modernen Gesellschaft noch ein Jahrhundert nach Hegels Tod angeknüpft werden konnte.

4. Hegels Erbe und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft heute Seit Hegel seine Theorie des Staates und der Gesellschaft ausarbeitete, sind rund 200 Jahre vergangen. In dieser Zeit haben sich die soziale und politische Welt in vielfacher Weise und zum Teil erheblich gewandelt. Man kann sich angesichts dessen die Frage vorlegen, ob das begriffliche Instrumentarium und die Einsichten der Hegelschen Theorie auch für unsere Welt der Gegenwart noch Geltung beanspruchen können. Eine einfache Antwort auf diese Frage ist selbstverständlich nicht möglich.42 Zunächst bleibt festzuhalten, dass Hegel mit der Entdeckung des modernen Gesellschaftsbegriffs ein Paradigma geprägt hat, durch das er ein Wegbereiter der modernen Soziologie wurde.43 Wer nach Hegel ernsthaft über Gesellschaft nachzudenken unternimmt, kommt nicht umhin, sich mit Hegels Entwurf auseinanderzusetzen. Schon deshalb wurde seine Theorie immer wieder aktualisiert, sei es in affirmativer oder in kritischer Weise.44 Immer wieder aufs Neue erwies Hegels Denken die Fähigkeit, „sich mit ihm auf den Stand einer veränderten Erfahrung zu bringen“.45 So kann es nicht wundern, dass auch namhafte politische Denker, Staats- und Gesellschaftstheoretiker des 20. und frühen 21. Jahrhunderts – in je unterschiedlicher Weise – konstruktiv an Hegel anknüpf(t)en, und zwar nicht nur in Deutschland. Genannt seien der bereits erwähnte Heller, sodann Theodor Litt, Eduard Spranger, Hans Freyer, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gerd Roellecke, Niklas Luhmann, Günter Rohrmoser, Rüdiger Bubner, Axel Honneth, Vittorio Hösle, Benedetto Croce, Michael Oakeshott, Charles Taylor, Shlomo Avineri oder Robert P. Pippin. Im Werk

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Theorie wie auch von den Ansätzen Steins und Hellers; siehe in dieser Hinsicht zum Verhältnis Lassalles, Hegels und Marxens Ramm 2004, S. 47, 176-178. Immer wieder wurde und wird nach der Aktualität Hegels gefragt, siehe etwa Negt 1970; Taylor 1979, S. 125-134, 166-169; Quante/Rósza 2001. Dass Hegels Gesellschaftsbegriff einen „Neubeginn“ darstellt und Hegel der erste war, der einen kritischen Gesellschaftsbegriff vorformulierte, hebt Riedel in seinen wichtigen Arbeiten hervor (Riedel 1975a, S. 779; Riedel 1975b, S. 836, 857; Riedel 1974a, Sp. 472; Riedel 1976); siehe ferner Freyer 1931, S. 63-69; Klages 1969, S. 60, 65; Siemek 1996; Jaeschke 2003, S. 387. Siehe dazu Riedel 1975a, S. 781 f. Rohrmoser 1983, S. 375.

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dieser und zahlreicher anderer Gelehrter erweist sich „Hegels Erbe“46 als überaus lebendig. Möglich ist dies mit Blick auf Staat und Gesellschaft deshalb, weil die Gesellschaft der Gegenwart in ihren Prinzipien und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft Hegels noch immer weitgehend entspricht, und zwar ungeachtet aller seit Hegel festzustellenden Wandlungen: Arbeit, Eigentum, Kapital und Bildung stehen hinter der Dynamik auch der heutigen Wirtschaftsgesellschaft. Und dass diese nunmehr die Gestalt einer sich globalisierenden Gesellschaft, einer Weltgesellschaft annimmt, entspricht ganz der Hegelschen Konzeption, kennt doch das System der Bedürfnisse an sich keine Grenzen, seien diese politischer oder ethnischer Natur. Indem ferner die Individuen in Hegels bürgerlicher Gesellschaft ihr Leben als Menschen leben, wird in ihr auf eine universelle Kategorie rekurriert, ist Hegels bürgerliche Gesellschaft von vornherein prinzipiell und potentiell Weltgesellschaft.47 Mit Hegel lässt sich aber dann auch begreifen, warum eine globalisierte Wirtschaftsgesellschaft einer politischen Organisation nicht entraten kann, die auch heute noch der Staat ist, weil ein konkretes Allgemeines, das als solches gewusst und gewollt werden kann, sich nach wie vor allein in geschichtlich überlieferten, an bestimmte geographische Gebiete gebundenen Formen präsentiert, ein „Menschheitsallgemeines“ aber nirgendwo auszumachen ist. Während die gesellschaftliche und namentlich die ökonomische Ordnung sich heute zunehmend als global erweist, besteht die politische Ordnung der Weltgesellschaft nach wie vor im Pluriversum der Staaten. Das hindert nicht, dass sich beispielsweise internationale Regime in der Weltgesellschaft ausbilden – sie erweisen sich aus Hegelscher Perspektive als Varianten des Not- und Verstandesstaates und bleiben in politischer Hinsicht – das heißt in Hinsicht auf die Freiheit – defizitär. Es darf also von einer Aktualität der Hegelschen Theorie des Staates und der Gesellschaft auch am Beginn des 21. Jahrhunderts gesprochen werden. Dies kann nicht bedeuten, Hegels Ansichten einfach unkritisch hinzunehmen und zu übernehmen; es beinhaltet aber die Forderung, sich von Hegels Problembewusstsein und seiner Sicht anregen zu lassen und sein Angebot anzunehmen, der Frage nach Staat und Gesellschaft auf den Grund zu gehen.

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Siehe Halbig/Quante/Siep 2004; Gadamer 1979. „Hegel war der erste, der die der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft zugrundeliegenden Prinzipien und Strukturen als die einer potentiellen Weltgesellschaft in ihrer abstraktungeschichtlichen Universalität und Homogenität zu Ende gedacht und die Probleme auf den Begriff gebracht hat, die sich aus ihrer Verwirklichung in der Gestalt einer weltumspannenden industriellen Zivilisation ergeben müssen“ (Rohrmoser 1983, S. 376).

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Oliver W. Lembcke

Staat und Verfassung bei Hegel

„Die Menschen müßten schon vor den Gesetzen das sein, was sie durch sie erst werden sollen“ (Rousseau, Contrat social II/7).

Das Urteil aus der Schrift über die Reichsverfassung ist bekannt: „Deutschland ist kein Staat mehr“ (1/461).1 Ähnlich wie vor ihm andere Interpreten des Deutschen Reiches – prominent ist Pufendorfs Wort vom „Monstrum“ – beklagt auch Hegel die mangelnde Einheit des Staatsgebäudes. Es existiert für ihn im Grunde nur noch dem Namen nach, tatsächlich aber herrscht „Anarchie“ (z.B. 1/452). Daher lautet das Gebot der Stunde, einen Staat (wieder-) zu erlangen, der diesen Namen auch verdient. Von den „Menschenfreunden und Moralisten“ soll man sich dabei nicht irre machen lassen (1/540); ein Staat ist vornehmlich ein Gebilde der Tat, in der Geschlossenheit und Entschlossenheit die obersten Maximen sind. Man muss ihn erkämpfen, im Zweifel erobern: „Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden“; und wenn man schon Literatur zu Rate ziehen will, so ist das Buch der Wahl Machiavellis „Fürst“, denn er lehrt, die Realitäten zu sehen, wie sie sind (1/544 f.). Diese wenigen Hinweise deuten bereits an, dass sich die Verfassungsschrift als Fundgrube für alle diejenigen Kritiker Hegels erweist, die in ihm einen Exponenten des preußischen Machtstaates sehen. Man gewinnt den Eindruck, als ob hier klar gesagt wird, was Hegel späterhin, etwa in seiner Rechtsphilosophie, vielleicht nicht so deutlich zum Ausdruck bringen wollte, nämlich den Vorrang des nationalen Interesses vor der politischen Moral. Zumal Hegel keinen Hehl daraus macht, dass er den Moralismus von „seinwollenden Philosophen und Menschheitsrechtslehrern“ für blutleeres Geschwätz hält (1/479). Mit diesem Urteil verbindet sich aufs Beste Hegels Auffassung, worum es bei der Philosophie eigentlich geht, nämlich um das „Verstehen dessen, was ist“. Und er fügt hinzu: „erkennen wir aber, daß es ist wie es sein muß, d.h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll“ (1/463). Ein Satz, der zweifelsohne das Diktum über die vernünftige Wirklich1

Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz.

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keit in der Vorrede der Rechtsphilosophie vorweg nimmt (7/24), mit dem Hegel so viele Kritiker gegen sich aufgebracht hat.2 Und schließlich scheint auch sein nicht anders denn als Zustimmung zu verstehender Verweis auf Machiavelli, eine polemische Wendung gegen Kants Machiavelli-Kritik, zu belegen, worum es Hegel geht: ewiger Fürst statt „Ewiger Frieden“. Ist also Hegels Staatstheorie im Kern eine Theorie der Staatsräson? Dass sich Hegels Staatstheorie darin nicht erschöpft, sondern vom Begriff der Freiheit her zu verstehen ist, bestimmt die folgenden Ausführungen. Eine kurze Skizze von Hegels Freiheitsverständnis, seine Sicht auf die historischen Stadien der politischen Freiheit und seine Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution veranschaulichen, in welcher Weise er den modernen Staat als Lösung jenes Problems zu konzipieren versucht, vor das die Moderne seit dem Jahr 1789 gestellt ist (2.). Diese Perspektive ist in systematischer Hinsicht zu entfalten, um die verschiedenen Begriffe des Staates, die bei Hegel Verwendung finden, in ihrem Zusammenhang darzustellen (3.). Auf dieser Grundlage lässt sich dann auch sein Verfassungsverständnis einordnen, der „Schlußstein“3 des Theoriegebäudes (4.), dessen Aktualität abschließend zum Gegenstand einiger weiterführender Bemerkungen gemacht werden soll (5.). Den Ausgangspunkt bildet jedoch die von der Verfassungsschrift aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Macht und Recht des Staates (1.).

1. Machtstaat und Rechtsstaat In Hegels Sicht hat die Handlungsunfähigkeit des Reiches zwei Gründe. Der erste Grund zeigt sich äußerlich im wahllosen Nebeneinander und Durcheinander der rechtlichen Fundamente des Staates, eine Summe von einzelnen Regelungen, denen das Ganze fehle (1/454 f.). In dem „Urbarium von den verschiedensten der Art nach des Privatrechts erworbenen Staatsrechte“ (1/468) wird die Auszehrung der Verfassungssubstanz anschaulich, denn sie ist im wesentlichen das Ergebnis einer politischen Kompromisslogik, mit der eine allgemeine Staatsgewalt im Ergebnis verhindert wurde. Stets hat sich das Reich als zu schwach erwiesen, seine Ansprüche durchzusetzen; immer wieder ist es zur Beute von Sonderinteressen innerhalb und außerhalb der deutschen Lande geworden. In Hegels Augen ist der Staat damit zu einer Art Restgröße verkommen, geringer als ein gemeinsamer Nenner, und aus eigener Kraft nie in der Lage, zu einer eigenen Handlungsmacht zu erstarken, da man von interessierter Seite „sorgsam darüber wacht, dass dem Staat keine Gewalt 2 3

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Vgl. Hegels eigene Stellungnahme: 8/47 f., § 6 mit Verweis auf 8/279-306, §§ 142-159. Weisser-Lohmann 2000, S. 165.

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übrig bleibt“ (1/469). Dass dieser Staat keine Zukunft hat, liegt auf der Hand. Vermutlich ist der zweite Grund für die „Hilflosigkeit des Staats“ (1/469), der sich auf die inneren Verfallsprozesse bezieht, für Hegel jedoch noch gravierender: Abzulesen sind sie am Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit rechtlicher Regelungen. „[W]enn alles anders geht als die Gesetze“ (1/464), dann wird der Staat von keinem lebendigen Geist mehr getragen. Es ist diese Spreizung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, die aus dem alten Reich ein substanzloses Staatsgebäude macht. „Die Allgemeinheit ist deswegen nur noch als Gedanke, nicht als Wirklichkeit mehr vorhanden“ (1/459). Vergangen ist die Geschichte „der alten deutschen Freiheit“ (1/466), die im Einklang des Einzelnen mit seiner Familien- und Stammesgemeinschaft gelebt wurde. Diese Einheit ist mit der Zeit abgetragen worden, in Hegels Sicht vor allem durch die Reformation und den Aufstieg des Bürgertums: Während die Glaubensspaltung zumindest auf Seiten des Protestantismus die (moralische) Innerlichkeit verstärkt hat, sind durch die sich ausweitenden Marktmechanismen die (ökonomischen) Interessen zu einem maßgeblichen Lebensinhalt der Menschen geworden; und zusammen haben beide Entwicklungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die individuelle Freiheit befördert, eine Freiheit der „Trennung und Vereinzelung“ (1/517). So treffend diese Diagnose auch sein mag, es stellt sich die Frage, „worauf sich Hegels Vertrauen in die Gegenwart der Vernunft stützen will“, wenn doch „aller Geist aus dem kranken Reich geflohen war und dieses nur noch dem Namen nach ein Staat zu nennen war“4 – und wenn, ließe sich hinzusetzen, Hegel sich doch nicht mit Sollensforderungen begnügen will, sondern in der Wirklichkeit die Vernünftigkeit zu entdecken beansprucht.

1.1. Macht der Gesetze Um den elenden Zustand der „Anarchie“ zu überwinden, ist es Hegel zufolge entscheidend, „die Wahrheit“ zu erkennen, „daß Freiheit nur in der gesetzlichen Verbindung eines Volkes zu einem Staat möglich sei“ (1/555). Die staatliche Einheit muss mit Macht errungen werden, daran lässt Hegel keinen Zweifel; und kaum ein Preis erscheint ihm dafür zu hoch. Er bedient sich einer kompromisslosen, mitunter martialischen Sprache, beschwört die Heldentaten eines Theseus, der „durch die Gewalt des Eroberers“ das Volk „in eine Masse versammelt“ (1/579) – und beruft sich bei alledem, wie bereits erwähnt, auf Machiavelli. Anders als Machiavelli geht es Hegel jedoch nicht um eine Reflexion politischer Praxis, sondern um eine politische Philosophie der Freiheit. Sein Thema ist die Handlungsfähigkeit des Staates als 4

Ottmann 2002, S. 167.

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Voraussetzung für ein rechtlich geordnetes Zusammenleben – und nur in dieser Weise ist für ihn die Frage nach der politischen Macht von Relevanz.5 Von Machiavelli (und Spinoza) übernimmt Hegel jedoch die Einsicht, dass politische Macht nicht gegen die Menge, sondern nur aus ihr heraus entstehen kann und sich dort bildet, wo sich die Vernunft in institutionellen Kontexten manifestiert.6 Viele der prima facie anstößig klingenden Formulierungen sind letztlich eine konsequente Fortführung des Gedankens, dass die staatliche Einheit auf nichts anderem beruht als auf dem Willen zur Einheit, die sich in der Geschlossenheit nach außen zeigt. In den zwischenstaatlichen Beziehungen spiegelt sich diese Sichtweise im klassischen Souveränitätsdogma wider. Mangels verbindlicher internationaler Regelungen und durchsetzungsfähiger Sanktionsmacht (außerhalb der Staaten selbst) sind die vertraglichen Beziehungen in der Staatenwelt abhängig von dem jeweiligen Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Staaten oder ihren Allianzen. Im Binnenverhältnis liegen die Dinge anders: Der Verfall des alten Reiches zeigt für Hegel, dass Deutschland als Staat nur ein Rechtsstaat sein kann: „Wenn diese Gesetze ihr altes Leben verloren haben, so hat sich die jetzige Lebendigkeit nicht in Gesetze zu fassen gewußt; jede ist ihren eigenen Weg gegangen, hat sich für sich festgesetzt, und das Ganze [ist] zerfallen, der Staat ist nicht mehr“ (1/465).

Hegel plädiert nicht für die Staatsräson, sondern für eine lebendige „Macht der Gesetze“ (1/597), die von zweierlei Voraussetzungen abhängt, die sich wechselseitig bedingen: einem handlungsfähigen Staat, der seine Gesetze auch durchsetzen kann, und einem Volk, das in den Bahnen der Gesetze auch tatsächlich lebt. Der moderne Staat erwächst Hegel zufolge aus eben diesem Verhältnis; es ist für ihn Ausdruck des allgemeinen Willens, der die Einheit des Staates schafft und trägt.

1.2. Wechselseitiges Zutrauen Eine Pointe der Argumentation, die in besonderer Weise in der Verfassungsschrift zum Tragen kommt, liegt darin, dass der Zusammenhalt des Staates bei Hegel nicht substantiell gedacht wird. Darin besteht der zentrale Unterschied zwischen dem alten Reich und dem modernen Staat. Zweifellos sind für Hegel Religion, Sprache und Sitte „mächtigste Elemente“ (1/478), die den Charakter eines Staates prägen und seinen Zusammenhalt gegebenenfalls fördern können; sie müssen es aber nicht: „In unseren Zeiten mag unter den Gliedern ein ebenso loser oder gar kein Zusammen-

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Das hat Hegels Zuordnung zum Machiavellismus nicht verhindert. Allgemein zu den Rezeptionsproblemen im Umgang mit Hegels politischer Philosophie Ottmann 1979. Eingehende Erörterung des Machtbegriffs Hegels bei Zenkert 1995.

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hang stattfinden in Rücksicht auf Sitten, Bildung und Sprache; und die Identität derselben, dieser ehemalige Grundpfeiler der Verbindung eines Volks, ist jetzt zu den Zufälligkeiten zu zählen, deren Beschaffenheit eine Menge nicht hindert, eine Staatsgewalt auszumachen“ (1/477). Statt ein Hindernis zu sein, erweist sich der gesellschaftliche Pluralismus für Hegel vielmehr als „ein notwendiges Produkt sowie eine notwendige Bedingung, daß moderne Staaten bestehen“ (1/478). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Hegel mit den nationalistischen Strömungen seiner Zeit wenig gemein hat.7 Er redet vom Patriotismus – nicht vom Nationalismus – und versteht darunter ein „Zutrauen“, dass die eigenen Interessen in den allgemeinen Belangen aufgehoben sind (7/413, § 268). Es ist ein zur „Gesinnung“ verfestigtes Bewusstsein, noch keine „gebildete Einsicht“,8 aber auch keine überhitzte Bereitschaft zur Gefolgschaft. Nicht das heiße Herz, das sich zur „Aufopferung“ bereitfindet, macht diese Gesinnung aus, sondern eher das beständige Gefühl, dass die Dinge ihre Ordnung haben (7/413 f., § 268 A). Eine solche „politische Gesinnung“ kann sich aber, so Hegel, nicht in einem Staat entwickeln, der von oben nach unten versucht, das Leben seiner Bürger durchgreifend zu regulieren: „Die mechanistische, höchstverständige und edlen Zwecken gewidmete Hierarchie erweist in nichts ihren Bürgern Zutrauen, kann also auch keines von ihnen erwarten“ (1/483). Anders gewendet: Nur in einem freiheitlichen Staat kann das Zutrauen wechselseitig sein. Die Voraussetzungen dafür, dass der Staat „auch [auf] die freie Anhänglichkeit, das Selbstgefühl und das eigene Bestreben des Volks zählen kann“ (1/484), setzt ihrerseits voraus, den Bürgern Raum für eigene Entscheidungen zu lassen. Wenn jedoch – wie im Falle absolutistischer Monarchien, aber auch im republikanischen Frankreich nach der Revolution – eine „Pedanterie des Herrschens“ den Zeitgeist bestimmt, so erzeugt dies ein „ledernes, geistloses Leben“ (1/484). Ein solcher Stumpfsinn wäre für Hegel das Gegenteil einer „politischen Gesinnung“, die er Patriotismus nennt.

1.3. Gliederung des modernen Staates Eine – modern gesprochen – „entgegenkommende“ politische Kultur9 verlangt vom Staat selbst ein Entgegenkommen. Für Hegel zeichnet sich der moderne Staat im Gegensatz zum alten Reich darin aus, die modernen Freiheitsformen nicht auszuschließen oder zu unterdrücken, sondern sie zu integrieren. Sie müssen selbst zum 7 8 9

Hierzu Avineri 1996. Zu einer solchen, dann als politische Tugend zu verstehenden Einstellung kann sich diese Art der Gesinnung gleichwohl entwickeln. Habermas 1992, z.B. S. 434.

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Leben des Staates beitragen, ohne diesen in Frage zu stellen. Diese Einsicht, die in der Rechtsphilosophie mit der Unterscheidung zwischen dem (politischen) Staat und der (bürgerlichen) Gesellschaft entfaltet wird, findet in der Verfassungsschrift durch die Bestimmung der „Sphäre des Notwendigen“ und jener des „Zufalls“ (1/474) ihren Ausdruck. Notwendig in diesem Sinne ist Hegel zufolge vor allem die Staatsbildung selbst, mit der eine „gemeinschaftliche Gewalt“ geschaffen wird. Denn „daß eine Menge ein Volk ist, ohne zugleich ein Staat zu sein“, ist für Hegel ein „Zustand der Barbarei“ (1/597). Notwendig ist überdies ein „Mittelpunkt“ der Staatsgewalt (z.B. 1/469); hingegen gehört die „Art und Weise […], wie die gesamte Staatsgewalt in einem obersten Vereinigungspunkte existiert“ (1/474) der Sphäre des Zufalls an. Das gilt nicht nur für die Regierungsform, sondern auch für die konkrete Ausgestaltung der Rechtsprechung und der Verwaltung sowie für weitere Gebiete staatlicher Politik wie etwa der Steuergesetzgebung (1/475 f.). Selbst die Rechtsgleichheit ist kein Prinzip, das sich ohne Ansehen der geschichtlichen Lage einfach postulieren ließe. In eine Formel gebracht, ist es neben der Vereinigung der politischen Macht die Gliederung dieser Macht, die Hegel für zwingend hält, weil nur dadurch politische Freiheit in einem Staat verwirklicht werden kann. Dieses Prinzip der Staatsorganisation nennt Hegel das „System der Repräsentation“ (1/533). Hegel zufolge ist die Repräsentation eng verbunden mit dem Lehnswesen und gehört demnach zur Geschichte der germanischen Völker (1/536). Sie ist daher älter als der moderne Staat, bleibt aber für diesen gleichwohl strukturgebend. Ihre Bedeutung veranschaulicht Hegel im europäischen Vergleich, in dem er die Entwicklungen in England, Frankreich und Deutschland knapp skizziert und zum Schluss kommt, dass „die Deutschen“ zwar „diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes geboren“ haben, es aber gerade ihnen nicht gelungen ist, diese Gestalt mit Leben zu erfüllen (1/537). Es hat den Anschein, als ob die Gründe für die überragende Rolle der Repräsentation Hegel so deutlich vor Augen stehen, dass er keinen Bedarf sieht, sie auszuführen. Die Dinge werden klarer, wenn man die dritte Gestalt des Weltgeistes mit den beiden anderen vergleicht: dem „orientalischen Despotismus“ und „der Herrschaft einer Republik“ (1/533). Ordnet man dem Despotismus die Einheit der Staatsgewalt zu und der Republik die Freiheit, so scheint die Repräsentation für Hegel die vermittelnde Figur zwischen den beiden anderen zu sein, die zudem ohne diese Vermittlung zur „Ausartung“ (1/537) tendieren: hier Unterdrückung, dort „Freiheitsraserei“ (1/555). Diesen vermittelnden Sinn legt Hegel auch der Sphärenunterscheidung bei, mit der Folge, „Spielraum“ (1/474) für Bürger und Beamte zu eröffnen. Ein Staat, der sich auf das Notwendige besinnt, kann sein eigenes Handeln organisieren und delegieren, indem er der Auswahl seiner (beamteten) Vertreter und deren Kompetenz 118

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vertraut und einen Großteil des Alltagsbetriebs der routinierten Erledigung überlässt (1/479). In ähnlicher Weise kann ein „souveräner“ Staat auch gegenüber den Bürgern auf die „pedantische Sicht“ verzichten, „alles Detail zu bestimmen, die unfreie Eifersucht auf eigenes Anordnen und Verwalten“ (1/481). Je klarer der Staat selbst die Sphären trennt, desto mehr darf er darauf vertrauen, dass auch seine Bürger die Konturen des staatlichen Handelns erkennen. Werden die beiden Sphären hingegen vermengt, wächst die Gefahr, dass die im Staat eingehegte politische Macht ins Extreme gerät. Ein Staat, der die Grenzen der Gesellschaft nicht respektiert, wird despotisch; ein Volk, das vom Staat mehr fordert, als er kann, greift zur Revolution. Beide Extreme in ihrer freiheitsvernichtenden Wirkung standen Hegel zu seiner Zeit deutlich vor Augen.

2. Freiheit im Staat Nicht nur der einzelne Mensch kann seine Freiheit missbrauchen und sich selbst versklaven, auch eine moderne Gesellschaft ist nicht davor gefeit, eine Republik, die im Namen der Freiheit errichtet wird, in eine despotische Herrschaftsform zu verwandeln, obwohl – oder gerade weil – jeder Einzelne im Selbstbewusstsein lebt, frei zu sein. Das Anschauungsbeispiel dafür liefert in Hegels Augen die Französische Revolution, deren Ausbruch, wie man weiß, den Jüngling begeistert hat und die für ihn auch in seinem späteren Gelehrtenleben noch stets der „herrliche Sonnenaufgang“ (12/529) einer neuen Epoche geblieben ist. Die Auseinandersetzung mit der Revolution und ihrem Scheitern hatte maßgeblichen Einfluss auf Hegels Staatstheorie und bestärkte ihn in der Auffassung, dass allein der moderne Staat diejenige Gemeinschaftsform darstellt, in der das freiheitliche Zusammenleben der Menschen gelingen kann. Er ist in Hegels Sicht die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (7/406, § 260), indem er zwei wesentliche Integrationsleistungen erbringt: Erstens verhindert die innere Gliederung des modernen Staates, dass die Bedürfnisnatur des Menschen von seinem Freiheitsvermögen getrennt wird, vielmehr erhalten beide Dimensionen des Menschlichen ihr „Recht“. Zweitens werden die historische Entwicklung menschlicher Gemeinschaften, ihre kulturellen Errungenschaften vom modernen Staat als ein zukunftsoffener Bildungsprozess – in dem spezifischen Sinne Hegels – „aufgehoben“10. Diese beiden Integrationsleistungen, die Hegel dem Staat zuschreibt, sind nicht nur für die Praxis staatlichen Handelns voraussetzungsreich, sie sind es auch in theoretischer Hinsicht. Auf einige zentrale Aspekte ist daher 10

Zum dreifachen Sinn des Begriffs „Aufhebung“ – „erheben“, „vernichten“ und „bewahren“ – siehe (unter dem Stichwort „sublation“) zusammenfassend Inwood 1992, S. 283-285.

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näher einzugehen, bevor im nächsten Abschnitt die systematische Beziehung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat als politische Einheit dargestellt werden kann.

2.1. Freiheit des Menschseins Der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola hat den Menschen mit einem Chamäleon verglichen; des Menschen Wesen sei die Wandelbarkeit, die Fähigkeit, aus sich selbst zu machen, was er will. Er könne zum Vieh herabsinken oder sich zum Göttlichen erheben; es bleibt immer sein eigenes Leben, über das er selbst entscheidet. Mit diesem Freiheitsverständnis resümiert Pico die philosophische Tradition, soweit sie den freien menschlichen Willen als Ausdruck der personalen Unabhängigkeit und als Vermögen zur Selbstbestimmung auffasst. Seine Innovation gegenüber der Tradition liegt vor allem darin, den Gedanken der Selbstbestimmung mit der Annahme einer grundsätzlich offenen Zukunft zu verbinden.11 Hegel, der in seiner Geschichte der Philosophie der Renaissance im Ganzen wenig „Frischheit“ abgewinnen konnte,12 würde ein solches Freiheitsverständnis nicht prinzipiell verwerfen: „Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist“ (7/46, § 4 Z). Aber er würde doch den Einwand erheben, dass die Selbstbestimmung in nicht unerheblicher Weise von den sozialen und kulturellen Umständen abhängt, in denen der Mensch lebt. Wer glaube, davon in freiheitlicher Absicht unter Verweis auf die Vernunft abstrahieren zu können, scheidet damit seine eigene Vernunft von jener, die sich in den Institutionen der sozialen Welt abgelagert hat; ein Vorgehen, das in der Diktion Hegels eher die Sache des Verstandes als der Vernunft ist, denn das Abstrahieren, Scheiden und Feststellen gehört zur Verstandeskraft (8/169 ff., § 80). Ein solches Freiheitsverständnis ist jedoch nicht allein in begrifflicher Hinsicht defizitär. Es ist auch praktisch betrachtet „unvernünftig“, nicht „den Sitten seines Volks gemäß zu leben“, wie es die „weisesten Männer des Altertums“ raten – und Hegel mit ihnen (3/266). Denn zur Freiheit gehört, dass der Mensch „in der Welt zuhause“ ist. Und dies kann ihm nur gelingen, wenn er „sie kennt, noch mehr, wenn e[r] sie begriffen hat“ (7/47, § 4 Z).13 Nur dann kann er wirklich wissen, was er will, sich selbst bestimmen – im Gegensatz zur Umwelt – und damit die Voraussetzungen schaffen, bei sich selbst zu sein. Dieses „Beisichselbstsein“ macht Hegel zufolge den Gehalt des Freiheitsbegriffs aus (12/30; 7/307, § 157 N), dessen Verwandtschaft 11 12 13

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Zu Picos Freiheitsverständnis siehe u.a. Lembcke 2008. Lembcke 2008, S. 178. Vgl. hierzu wie auch zur aristotelischen Grundlage des Freiheitsbegriffs Ritter 1965, S. 25 f.

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zum aristotelischen Begriff mit Händen zu greifen ist.14 Dieser Traditionslinie entsprechend ist Freiheit für Hegel kein Ausdruck von Solipsismus, sondern von Sozialität. Der Unterschied zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft ist nicht als starrer Gegensatz zu begreifen, sondern als ein dynamisches (und dialektisches) Verhältnis, in dem die Bestimmung des Gegensatzes nur ein Moment des Verhältnisses selbst darstellt. Wird es (das Moment) isoliert und fürs Ganze genommen, führt dies zu Widersprüchen, die der Sache unangemessen sind; so auch im Falle des Freiheitsbegriffs: Denn die Vernunft weigert sich in Hegels Augen, bei dem „widersprüchlichen“ Gegensatz des Individuums zur Gemeinschaft zu verharren, und verlangt für die Wirklichkeit des Beisichselbstseins nach einem Leben im Einklang mit den „Sitten seines Volks“. Strukturanalog ist auch der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit, der bereits implizit mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft angesprochen ist, dialektisch zu denken (z.B. 12/41 ff.)15 – mit dem Ergebnis, dass die Freiheit mit der Einsicht in die Notwendigkeit wächst. Aber das bedeutet gerade nicht, dass der freie Wille schwindet, sondern nur – wenn man so sagen darf –, dass ich erkenne, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, und mir aus diesem Bewusstsein heraus auch klar darüber werde, wer ich bin und was ich will (7/47, § 4 Z). Dass es sich hierbei nicht um einen einmaligen Denk- und Willensakt handelt, liegt auf der Hand. Freiheit als Beisichselbstsein verstanden ist ein Prozess des Menschseins, der reflektierten Selbstverwirklichung und kulturellen Selbstbildung, die ihre Objektivierung im Staat erfährt.

2.2. Entwicklungsstadien der Freiheit Die Entwicklung und die Entwicklungspotentiale der menschlichen Freiheit werden bei Hegel in verschiedener Weise, teils systematisch, teils historisch dargestellt.16 Beide Formen der Darstellung hängen aber insoweit miteinander zusammen, als sie sich wechselseitig voraussetzen: Dem Gang durch die Weltgeschichte unterliegt die Idee der „Einheit von Freiheit und Menschsein“, mit der Hegel das Material ordnet: „Geschichte [wird] dann zur Weltgeschichte, wenn sie den Menschen im Sinne des Menschseins zu ihrem Subjekt hat. Wo es den Menschen nicht gibt, da gehört die Geschichte, so viel sie sonst bedeuten mag, nicht zur Weltgeschichte“.17 Die syste14 15 16 17

Frei ist der Mensch, „der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist“; Met. I/2 982 b, zitiert nach Aristoteles 1995d, S. 6 f. Zur Bewegung der Dialektik von der Bestimmung (Verstand) über den Widerspruch (negative Vernunft) zur Bejahung (positive oder spekulative Vernunft): v.a. 8/168-179, §§ 79-82. Eine kritische Diskussion der (Dis-) Kontinuitäten in der politischen Philosophie Hegels bietet v.a. Roth 1989, S. 262-268; vgl. zum Staat auch Roth 1989, S. 186 f. Ritter 1965, S. 27.

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matische Darstellung der Struktur eines freiheitlichen politischen Systems anhand der logischen Figuren des freien Willens – wie sie die Rechtsphilosophie zum Gegenstand hat – lebt von der Anschauung durch die historischen Paradigmen, in denen sich der „Entwicklungsgang der sich zu verwirklichenden Idee […] der Freiheit“ widerspiegelt (12/539). Zu den Paradigmen, die Hegel zur Veranschaulichung des Entwicklungsganges auswählt, gehören vor allem das alte Griechenland, das Römische Reich, das Christentum und die Französische Revolution.

2.2.1. Die Freiheit der Griechen ist entstanden aus dem Bewusstsein, dass die Polis den Boden für ein selbstbestimmtes Leben der Bürgerschaft ermöglicht. Ihre paradigmatische Bedeutung liegt für Hegel in der Selbstzweckhaftigkeit dieser Vereinigung, die den Kern der Sittlichkeit darstellt. Dieses Moment der Sittlichkeit überdauert die antike Welt, indem es die nachfolgenden Momente der Freiheit integriert und sich auf diese Weise selbst zur Voraussetzung freiheitlicher Staatlichkeit erneuert (7/399, § 258). Im alten Griechenland ist diese wechselseitige Beziehung noch eine unmittelbare Identität und keine differenzierte Einheit. Es mangelt an „Gegensatz und Bildung“, der die Unmittelbarkeit auflöst und dem Einzelnen, dessen Wille immer schon allgemeiner Wille ist, ein eigenes Gewissen ermöglicht (7/296, § 147 N). Ein Bewusstsein dafür, dass es über die Selbstbestimmung der Bürgerschaft hinaus zur Natur des Menschen gehört, frei zu sein, hat erst das Christentum ausgebildet (7/343, § 185 Z). 2.2.2. Das Prinzip der „subjektiven Innerlichkeit“ findet sich bereits bei den Römern (12/341), und zwar in dem Maße, indem sich die Einzelnen im Gegensatz zu den anderen Einzelnen setzten. Dieses Freiheitsbewusstsein erschöpft sich jedoch im Gegenstand, auf den sich der einzelne Wille richtet, nämlich in den eigenen Rechten – Person zu sein und Eigentum zu haben (7/93 ff., 102, §§ 35, 41). Hegel nennt diese Rechtspositionen „abstraktes Recht“; es verschafft dem Einzelnen im Wege der Bestimmung und Trennung von Ansprüchen Freiräume, ohne dass es dabei „auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl […] – ebensowenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht“ – ankäme (7/96, § 37). Bleiben diese Inhalte des besonderen Willens unterentwickelt, so sind die sozialen Beziehungen größtenteils Rechtsbeziehungen, die ihrerseits eine abstrakte Allgemeinheit als Pendant hervorbringen, die in der Herrschaftsform für den Zusammenhalt sorgen muss (12/342). 2.2.3. Mit dem Christentum gewinnt der Gedanke der gleichen Freiheit an Macht. Die Sklaverei, die in der Antike nicht nur Alltag war, sondern diesen auch in vielerlei Weise erst ermöglichte, verbietet sich hiernach (12/403). Und im Lichte der 122

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lichen Existenz kann der Mensch auch den Mut fassen, sich selbst als alleinige Entscheidungsinstanz bewusst zu werden, die keines Orakels oder sonstigen Aberglaubens bedarf. Von nun an ist der freie Wille sich selbst genug; er will, was er selbst will und er „weiß sich als frei“ (7/203, § 105 N). Der besondere Wille kennzeichnet die Moderne, in der die Einzelnen ihre eigenen Ziele auf eigenen Wegen verfolgen,18 und besitzt aus diesem Grund für Hegel sein eigenes Recht. Aber es bleibt Hegel zufolge eine Illusion, dass sich vom moralischen Standpunkt die Grundlagen eines freiheitlichen Zusammenlebens bestimmen lassen. Denn der moralische Wille ist auch dann, wenn er das Allgemeine will, nicht fähig, das Gute wie auch die Pflicht allgemein zu bestimmen. Ebensowenig hilft die Berufung auf das Gewissen weiter, das sich nie gegen (Selbst-) Täuschung versichern kann, zumal es, um das Gute zu erkennen, immer auch das Böse kennen und seine Möglichkeit notwendig anerkennen muss (7/260 ff., §§ 139 f.). Ohne Halt der Sittlichkeit droht der moralische Standpunkt zur „absoluten Abstraktion“ zu werden, die keine anderen Vorgaben mehr kennt als die eigenen, eine „Freiheit der Leere“ (7/49 f., § 5 und A).19 2.2.4. Dass eine solche Leere sich bis zur Raserei steigern kann, ist die Lehre, die Hegel aus der Französischen Revolution zieht. Sie ist für ihn „welthistorisch“ (12/529), weil sie den Menschen zum Subjekt der politischen Ordnung macht; aber sie ist zugleich eine „Furie des Verschwindens“ (3/346), die mit ihrem Werk permanenter Zerstörung der Welt vor Augen führt, dass revolutionäre Gewalt immer in der Gefahr steht, zum Selbstzweck zu werden und im Terror die eigenen Ideale zu verraten. Beide „Wirklichkeiten“ der Französischen Revolution hat Hegel in seiner Staatsphilosophie verarbeitet. Ihre Errungenschaft sieht er darin, dass „mit einem Male“ die Freiheit als Grund des Staates in einer Verfassung des Rechts sichtbar wird (12/529). Dem hat das auf Privilegien und Hierarchien beruhende Ancien Régime nichts entgegen zu setzen, vielmehr steht es dem „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ im Wege (12/32). Aber das Anliegen der Revolutionäre scheitert, so Hegels Analyse, weil deren Nützlichkeitsdenken, hervorgegangen aus dem „Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben“ (3/400), das Freiheitsbewusstsein befeuert und als „neue Gestalt“ die – verderbliche – „absolute Freiheit“ hervorbringt (3/431). Ihr ist nichts heilig, sie kennt kein Halten und fordert ihre eigene unmittelbare Wirksamkeit im Umgang mit der „realen Welt“, deren „reale Wesen“ sie nach Maßgabe der Nützlichkeit in Abstraktionen zerlegt und Stück für Stück zerstört. So löst sich unter ihrer Herrschaft die Gliederung einer überkommenen Gesellschaft auf, 18 19

10/298, § 475: „Es kommt daher nichts ohne Interesse zustande“. Vgl. auch Petersen 1992, S. 82.

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aber mit ihr das Prinzip der Gliederung selbst (3/435 f.). Übrig bleibt der allgemeine Wille, allerdings in einer identitären und damit despotischen Form.20 In der Transformation der Gesellschaft hatten die Revolutionäre von 1789 keinen Sinn für die freiheitsverbürgende Kraft gesellschaftlicher Organisationen und vermittelnder Institutionen, die zusammengenommen jenen politischen Willensbildungsprozess ermöglichen, in dem sich die individuellen Interessen vom allgemeinen Willen unterscheiden und sich erst dadurch sinnvoll aufeinander beziehen lassen.21 So bleibt die Aufgabe weiterhin bestehen, von der die Revolutionäre glaubten, sie gelöst zu haben, nämlich „die Rechtsform der Freiheit zu finden und d.h. eine Rechtsordnung auszubilden, die der Freiheit des Selbstseins angemessen ist“.22 Hegel hat diese Aufgabe zum Gegenstand seiner Philosophie gemacht; sie soll die Strukturen offenlegen, durch die das Prinzip der Weltgeschichte, die Einheit von Freiheit und Menschsein, hindurch wirkt und im Begriff des Staates das Handeln der Akteure überdauert.23

3. Begriff(e) des Staates Hegels Beschreibungen des Staates betonen vor allem die „Wirklichkeit“: der „sittlichen Idee“ (7/398, § 257), „des an und für sich Vernünftigen“ (7/399, § 258) und des „Gang[s] Gottes in der Welt“ (7/403, § 258 Z). Diese, für moderne Ohren unzeitgemäß klingenden Formulierungen scheinen auf den ersten Blick dem Bild vom Staat zu widersprechen, das Hegel in der Verfassungsschrift gezeichnet hat. Dort ist der Staat als eine Art „schlanker“ Staat vorgestellt worden, der zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen unterscheidet und mithin um seine eigenen Grenzen weiß. Ihn hingegen „wie ein Irdisch-Göttliches [zu] verehren“ (7/434, § 272 Z), erweckt den Eindruck einer überzogenen Erwartungshaltung gegenüber dem Staat, der in die Rolle eines Heilsbringers gerät.

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Weisser-Lohmann 2000, S. 138. Zur politiktheoretischen Dimension der Analyse Hegels Siep 2000, S. 203; in diesem Sinne auch Habermas 1992, S. 446 unter Bezug auf Hannah Arendt. Ritter 1965, S. 27. Hegels philosophisches Leben im Bann der Französischen Revolution – sein „Hoffen und Fürchten“ – sowie sein Bestreben, ihre paradigmatische Bedeutung für die Menschheitsgeschichte in der Ordnung des freiheitlichen Verfassungsstaates aufzuheben, haben Ritter (1965, S. 18 f.) dazu veranlasst, Hegels politische Philosophie als eine „Philosophie der Revolution“ zu charakterisieren. Halb „ergänzend“, halb kritisierend hat Habermas (1993, S. 128-147) dazu die Auffassung vertreten, dass Hegels Staatsphilosophie den Versuch darstellt, das revolutionäre Bewusstsein – und mit ihm die jeder Kritik innewohnende Kontingenz – aus der Geschichte zu verabschieden. Bei der Beurteilung dieser These, die letztlich das Verhältnis von Vernunft und Geschichte betrifft, hängt viel davon ab, wieviel Eigenrecht man vor allem der Subjektivität und dem Volksgeist in Hegels Philosophie zuspricht.

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Hegels Sicht der Dinge wird klarer, wenn man sich die metaphysischen Grundlagen seines Staatsverständnisses vor Augen führt, wonach sich zwei Begriffe des Staates voneinander unterscheiden lassen: Staat verstanden als Totalität, als angemessene Existenz der sittlichen Idee (3.1.), sowie Staat als die Verwirklichung dieser Totalität im Wege der inneren Selbstdifferenzierung (3.2.). Mit dem ersten Begriff unterscheidet Hegel den „wirklichen“, d.h. der Idee der Sittlichkeit angemessenen Staat von anderen – und in dieser Hinsicht ungenügenden und daher „unwirklichen“ – Erscheinungsformen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, die er bekanntlich als „äußeren Not- und Verstandesstaat“ bezeichnet (7/339, § 183). Mit dem zweiten Begriff fasst Hegel die für das „lebendige Gute“ (7/292, § 142) erforderliche Binnengliederung des Staates, seine Organisation als organische Einheit, die mit sich selbst identisch ist und dabei doch unterschiedliche Sphären zulässt, um dem menschlichen Leben in seiner Komplexität gerecht zu werden. Darüber hinaus bezeichnet Hegel auch die „real-existierenden“ Staaten als Staaten, jedenfalls soweit sie einander wechselseitig als solche anerkannt haben (7/498, § 331).24 Diese Anerkennung im Bereich der internationalen Politik kennzeichnet – unbeachtlich der möglichen Feindschaft untereinander – die Besonderheit des einzelnen Staates und damit zugleich die Einheit eines Volkes im Staat als Ausdruck eines allgemeinen Lebens.25

3.1. Totalität des Staates „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie“ (7/26). Nicht das Zufällige ist ihr Metier; sie hat es mit dem Ewigen und Wahren zu tun, mit dem Göttlichen, das sie im Gegenwärtigen auffindet. Die Wirklichkeit, von der Hegel spricht, ist mithin nicht das Hier und Jetzt, sondern sind die Strukturen jener Vernunft, die vom Göttlichen herrühren und die es zu vergegenwärtigen gilt. Dieses Sein und diese Wirklichkeit hat die Philosophie zu ergründen; und weil sie dazu berufen ist, hat sie selbst Anteil an jenem Geist, der um das Absolute kreist (10/387 ff., §§ 572577). Die Bildung des absoluten Geistes ist selbst aber nur denkbar, weil sich der Mensch nicht auf seine Bedürfnisnatur reduzieren lässt. Seine Vernunftbegabung und die daraus resultierende Freiheit sind Bestandteile jenes Verhältnisses zum Ewigen – und der Staat gibt diesem Verhältnis einen lebendigen Ausdruck, indem er 24 25

Es hängt mithin von der Perspektive ab, ob man von zwei, drei oder mehr Staatsbegriffen Hegels ausgeht; vgl. z.B. Bourgeois 1997 und Roth 1989, S. 185. Ob ein solcher Staat auch tatsächlich als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ anzusehen sei, bliebe dann einer eigenständigen Betrachtung im jeweiligen Falle vorbehalten; vgl. Siep 1991, S. 361-375, v.a. S. 374. Ein Beispiel dafür liefert die Verfassungsschrift.

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dem Menschen ermöglicht, „bei sich selbst“ zu sein und damit ein Leben als Mensch zu führen. Soweit man angesichts der Selbstzweckhaftigkeit des Staates überhaupt von einer Staatsaufgabe sprechen kann, so besteht sie darin, zur innerweltlichen Verwirklichung der sittlichen Ordnung beizutragen, in der das menschliche Dasein nicht nur ein Leben im „System der Bedürfnisse“ ist, sondern eben ein aus der Verbindung von Vernunft und Freiheit hervorgehendes sittliches Leben. Einer solchen Gemeinschaft als Mitglied anzugehören, ist daher aus der Warte der Vernunft „die höchste Pflicht“ des Einzelnen (7/339, § 258). Wie anders kann er sonst ein freiheitliches Leben führen? Auf den Staat zu verzichten, hieße für Hegel folglich, sich selbst zu versklaven. Zu einem solchen Verständnis des Staates kann aber keine Theorie vordringen, die in ihm eine Treuhand der natürlichen Rechte des Menschen sieht, wie dies etwa bei John Locke der Fall ist. Der Idee der Sittlichkeit entspricht es zweifelsohne, die Rechte der Personen zu verteidigen (7/95, § 36), nur lässt sich der Sinn eines Staates bereits deswegen nicht darauf beschränken, weil eine Kollision zwischen den Rechten und dem „Wohl“ der Menschen nicht auszuschließen ist.26 Und das Recht selbst ist in Form seiner Rechte abstrakt: Es ermöglicht Rückschlüsse über die Rechtskultur eines Staates, kann aber den vernünftigen Umgang mit ihnen – als die andere Seite der Rechtskultur – weder präjudizieren noch ersetzen. Ein solcher Umgang hängt in letzter Konsequenz von den staatlichen Institutionen ab, deren Funktionsfähigkeit zwar üblicherweise im Interesse der Bürger liegt, nicht aber das Ergebnis ihrer Vorstellungen sein kann, mit denen sie ihre Interessen verfolgen. In ganz ähnlicher Weise hält Hegel den Gedanken für verfehlt, den Staat auf einen Vertrag seiner Bürger zu gründen. Der Vertrag ist Ausdruck eines gemeinsamen Interesses, das aus unterschiedlichen Motiven der Einzelnen heraus entsteht. Sein Wesen ist daher die Willkür, zusammengehalten durch die wechselseitige Übereinstimmung (7/157 ff., §§ 75 f.). Wer sich vertraglich bindet, schuldet seinen Teil am Erfolg und hat daher sein Handeln stets am Zweck des Vertrages auszurichten. Den Staat auf diese Weise an einen bestimmten Erfolg binden zu wollen, vernichtet damit aber gerade das, was ihn auszeichnet: nicht die Gemeinsamkeit besonderer Vorstellungen, sondern die Allgemeinheit seiner „selbstzwecklichen“ Zwecklosigkeit. Gerade weil er keine bestimmten Zwecke verfolgt, kann er die Pluralität von Zwecken und die daraus resultierenden Interessenkollisionen integrieren. Der „wirkliche“ Staat ist ein Zustand freiheitlichen Zusammenlebens und auf diese Weise ein spezifischer Modus des gesellschaftlichen Lebens an sich:

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Zu Hegels Behandlung grundlegender Rechte u.a. Siep 1991, S. 369 ff.

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„Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate“ (7/399, § 258 Z).

Über das Band der Sittlichkeit ist der Staat mit der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. Sie bilden Hegel zufolge als Momente zusammengenommen die Einheit der Sittlichkeit, die aber nur der Staat als „Totalität“ (8/99, § 30 Z) vollständig und umfassend zur Geltung bringt. In der Familie ist der sittliche Geist auf natürliche Weise vorhanden und wird in Form der Liebe erlebt, im Gefühl der Einheit mit den anderen. In der sozialen Welt der bürgerlichen Gesellschaft löst sich dieses Gefühl auf: An die Stelle der „Einigkeit in Liebe“ (7/293, § 142 N ) tritt die Differenz der individuellen Interessen; das unmittelbare Erleben der sittlichen Familiengemeinschaft verliert sich – und damit, so „scheint“ es, ist die Sache selbst verloren (7/338, § 181 Z). Aber dieser Schein trügt, denn je mehr die Einzelnen ihre eigenen Interessen durchzusetzen versuchen, desto stärker sind sie auf ihre Umwelt angewiesen: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen“ (7/339, § 182 Z). Es sind Gegensätze dieser Art, mit denen Hegel die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert und die ihn zu dem Schluss führen, dass das Besondere der ungebundenen Subjektivität notwendig das Allgemeine in Form des Staates voraussetzt (7/343, § 186): Der Egoismus führt in ein „System allseitiger Abhängigkeit“, das nur auf der Grundlage umfassender Arbeitsteilung funktionieren kann, der Eigennutz befördert über die Logik des Marktes das Gemeinwohl, die Maßlosigkeit individueller Bedürfnisse verlangt nach staatlicher Einhegung (7/340 ff., §§ 183, 184 Z, 185 Z). „Es ist das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“ (7/340, § 184), die der Einzelne für sich jedoch dadurch zurückgewinnen kann, indem er sich durch „harte Arbeit“ zu einem „gebildeten“ Menschen kultiviert, der sich nicht seinen Begierden und Empfindungen überlässt, sondern seine Besonderheit zu „glätten“ weiss (7/344 f., § 187 Z). Im Gegensatz zu dieser produktiven Bildung des sittlichen Geistes in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft „offenbart“ sich dieser im Staat als sich selbst erschaffender Geist, „der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt“ (7/389, § 257). Der Staat beruht mithin weder auf dem erlebten Gefühl der liebenden Familiengemeinschaft noch auf den notdürftigen und zugleich verallgemeinerbaren Interessen am Funktionieren all jener Voraussetzungen, die ein Leben in der bürgerlichen Gesellschaft erst ermöglichen. Vielmehr kommt im staatlichen Handeln selbst das Bewusstsein zum Ausdruck, um die allgemeinen Belange zu wissen und diese Belange – und nicht partikuläre Sonderinteressen – zum Gegenstand seiner allgemein verbindlichen Entscheidungen zu machen. Als wirklicher Staat weiss er dabei nicht nur um die Sitten und Gebräuche seiner Landsleute oder, 127

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anders gesagt, um die spezifischen Anforderungen des Adressatenkreises seiner Entscheidungen. Er setzt diese voraus und bezieht sie ebenso ein wie die zahlreichen und ganz unterschiedlichen Interessen der Bevölkerung, die in Form von Erwartungen und Resonanz gegenüber seinen Entscheidungen laut werden. Die Sittlichkeit des Hegelschen Staates äußert sich in dem bewussten Bezug auf die von ihm unterschiedenen und durch ihn weiterhin zu unterscheidenden anderen Sphären. Darin findet seine „organische Totalität“ ihren adäquaten Ausdruck (7/398, § 256).

3.2. Selbstdifferenzierung des Staates Seine eigene Handlungsfähigkeit erlangt der Staat wiederum durch eine Gliederung. Erst diese Selbstdifferenzierung lässt ihn zum Subjekt der eigenen politischen Entscheidungen werden, weshalb Hegel vom „politischen Staat“ spricht (7/413, § 267). Er ist der sich selbst organisierende Staat, der sich in seinen Organen ausdifferenziert, in ihrem Zusammenspiel jedoch die Einheit seines Handelns herstellt. Diesen Zusammenhang von Einheit und Differenz des politischen Staates begreift Hegel als „Organismus“: „das heißt der Geist ist ein Prozeß in sich selbst, gliedert sich in sich, setzt Unterschiede in sich, durch die er seinen Kreislauf macht“ (7/413, § 267 Z).27 Eine dynamische Abfolge von drei Momenten kennzeichnet diesen Kreislauf des Organismus: In dem ersten Moment verfolgen die Einzelnen ihre Ziele, nutzen dafür den Staat (der ihnen als ein „Mittel scheint“) und „glätten“ dabei ihre Besonderheiten. In dem zweiten Moment „bildet“ sich daraus eine politische Gesinnung, ein Habitus, der den – modern gesprochen – Boden einer politischen Kultur bereitet. Auf diesem Boden kann in einem dritten Moment eine lebendige Wirklichkeit eines freiheitlichen Staates erwachsen, in dem Freiheit in Frieden dadurch möglich ist, dass die Einzelinteressen von dem politischen Prozess grundsätzlich ins Allgemeine aufgehoben werden können und nicht ihrerseits die – ebenfalls von Hegel bereits zutreffend beobachteten – Entfremdungs- und Entzweiungsprozesse in der bürgerlichen Gesellschaft befördern. In dieser Sicht ist der staatliche Organismus Ausgangsund Endpunkt des Kreislaufs, in dem die Vernunft produziert und ablagert wird; und dieser Prozess geschieht um seiner selbst „willen“. Die Gewalten als Glieder dieses Organismus besitzen dabei keinen anderen Zweck, als seinen Kreislauf zu ermöglichen. Sie haben darauf ihre Funktionen auszurichten – und diese entsprechen dabei den verschiedenen Momenten des organischen Kreislaufs, d.h. den unterschiedlichen Perspektiven auf den Staat: Die Regie27

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Gegen jeden Verdacht der „Biologisierung des Politischen“, der im Kontext des Organismusbegriffs schnell erhoben wird: Schnädelbach 1997, S. 247.

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rung als ausführende Gewalt hat ihren Bezugspunkt in der „Verfassung im Besonderen“. Die Gesetzgebung bezieht sich auf den Staat in seiner „abstrakten Wirklichkeit“. Die fürstliche Gewalt schließlich verkörpert den „politischen Staat“ selbst.28 Aus dieser Zuordnung ergeben sich Folgerungen grundsätzlicher Art für das Funktionsverständnis der politischen Organe in der Selbstdifferenzierung des Staates: In der Sicht Hegels stehen nicht die Handlungslogiken der Gewalten im Vordergrund; die Zuordnung erfolgt nicht ausschließlich, nicht einmal hauptsächlich nach dem Gesichtspunkt, dass der Gesetzgeber das Allgemeine festlegt und die Regierung darunter das Besondere ihres Handelns zu subsumieren hat. Eine solche Sichtweise hatte Hegel bereits im System der Sittlichkeit als abstrakt und „leer“ abgetan.29 Ihm ist es um eine inhaltliche Bestimmung der Funktionen zu tun – und dafür liefert sein Staatsverständnis, insbesondere die Unterscheidung der verschiedenen Sphären der Sittlichkeit einige Anhaltspunkte: Eine Schlüsselfunktion kommt der Regierung zweifelsohne in der Integration der zur Desorganisation tendierenden bürgerlichen Gesellschaft zu (7/458, § 289 A). Hingegen muss sich die Gesetzgebung bei ihrer Bestimmung des Allgemeinen daran messen lassen, inwieweit sie in der Lage ist, das Allgemeine aus den in der bürgerlichen Gesellschaft vorfindbaren Einzelinteressen herauszufiltern und zum Gegenstand einer Bestimmung zu machen, und zwar derart, dass die „politische Gesinnung“ des Volkes befördert wird.30

4. Verfassung und Vernünftigkeit Mit der „politischen Gesinnung“ ist bereits die eine Seite des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat angesprochen, das dem Verfassungsbegriff Hegels zugrunde liegt. Ausschlaggebend für dieses Verhältnis ist nicht die staatliche Gewalt oder der Zwangscharakter des Rechts, sondern die vernünftige Ordnung, die als solche von den Individuen verinnerlicht wird: „Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben“ (7/414, § 268 Z). Das Wesen der Verfassung ist für Hegel mithin „die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit“ (7/412, § 265); sie ist Ausdruck einer geistigen Beziehung zwischen dem Staat, dem objektiven Geist, und „den Individuen der Menge“, die ihrerseits „geistige Naturen“ sind (7/411, § 264). Der Kern der Hegelschen Verfassungstheorie besteht darin, diese Beziehung aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben und diese Perspektivenvielfalt als Begriffsmomente in ein umfassendes Verfassungsverständnis zu integrieren. Ein 28 29 30

Ausführlicher dazu Lembcke 2002, S. 106-111. Vgl. Hegel 1967, S. 74. Siehe zu dieser Schrift grundlegend Schmidt 2007, v.a. S. 240 ff. Dazu Petersen 1992, S. 156-168.

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solches Vorgehen wie auch Hegels allgemeine Bestimmung der Verfassung als „entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit“ legen es nahe, die Verfassung zugleich als Zustand und als Prozess zu betrachten.31 Als Zustand liegt das Augenmerk auf der Vernunft, als Prozess auf der Entwicklung und Verwirklichung. Dieser Gesichtspunkt ist ausführlicher darzustellen, und zwar sowohl für die von Hegel so genannte Verfassung „im Besonderen“ (7/412, § 265) – d.h. die bürgerliche Gesellschaft als Bereich der besonderen Zwecke – als auch für die im eigentlichen Sinne politische Verfassung des Staates (7/431, § 271).32

4.1. Verfassung des bürgerlichen Lebens Der Prozesscharakter des Verfassungsbegriffs bei Hegel ergibt sich bereits aus dem immer möglichen Oszillieren des Einzelnen zwischen seinen privaten Interessen einerseits und den allgemeinen Belangen andererseits, die sich jedermann zu eigen machen kann. Aber diese Strukturaussage ist insoweit selbst eine Abstraktion, als sie sich auf die abstrakte Person und nicht auf die Persönlichkeit des Einzelnen bezieht. Dessen Charakterbildung verringert ein erratisches Hin- und Herschwanken zwischen unterschiedlichen Interessenlagen weitgehend und sorgt damit für die Voraussetzung, dass sich der Einzelne beizeiten über sein Verhältnis zum Staat klar werden kann. Zu einer solchen „Aufklärung“ wie auch zur Verfestigung von Bewusstseinszuständen tragen in der Regel Institutionen bei – und auf diese Wirkung kommt es Hegel in besonderer Weise an. Er betont die Notwendigkeit der „Festigkeit des Ganzen“, gerade weil alles im Fluss ist und weil ohne eine Verinnerlichung und Verankerung im Denken und Handeln der Einzelnen „der Staat in der Luft [stehe]“ (7/412, § 265 Z). Diese Art der Festigkeit ist im wesentlichen das Resultat eines gelingenden Ausgleichs zwischen besonderen Zwecken und allgemeinem Anliegen. Einen solchen Ausgleich zu bewirken, darin besteht die institutionelle Aufgabe, die weniger durch einen rationalen Abgleich der Interessenlagen auf unmittelbarem Wege erreicht wird, als vielmehr durch Prozesse der Gewöhnung und Glättung, in denen sich die Institutionen als unverzichtbar erweisen. Gerade jene Institutionen, die der bürgerlichen Gesellschaft selbst entstammen, können zu einer freiheitlichen Lebensführung einen wesentlichen Beitrag leisten, indem sie die Handlungsfelder für die individuellen Zielsetzungen vorstrukturieren und zudem von den basalen Vorausset-

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Vgl. zu diesem weiten Verfassungsverständnis Hegels Siep 1991, S. 363. Zur werkgeschichtlichen Entwicklung des Verfassungsbegriffs bei Hegel vgl. WeisserLohmann 2000, S. 138 ff.; zur Systematik u.a. Schnädelbach 1997.

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zungen, die individuelles Handeln immer auch hemmen können, „entlasten“33: In dieser Sicht wird der Einzelne durch Institutionen überhaupt erst frei, selbständig zu handeln. Institutionen, in denen und mit denen Freiheit „realisiert“ wird, wie Hegel formuliert (7/412, § 265), sind geeignet, das „Zutrauen“ und die „Gesinnung“ der einzelnen Bürger zu stärken mit der Folge, dass sich im Wechselspiel zwischen Individuum und Institution die Verfassung „im Besonderen“ als eine „feste Basis des Staats“ (7/412, § 265) herausbildet. Hegel erwähnt in diesem Zusammenhang namentlich die Ehe sowie die Korporationen, aber im Grunde gehören hierzu alle Institutionen, die aus dem bürgerlichen Leben heraus entstanden sind und ihrerseits den „sittlichen“ Umgang der Bürger miteinander befördern (7/412, §§ 264, 265). Die Tragfähigkeit dieser Basis hängt vom Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft ab: Je eigenständiger der Ausgleich zwischen den allgemeinen Belangen und den individuellen Interessenlagen bereits im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft gelingt, desto stärker sind die kulturellen Voraussetzungen, von denen ein freiheitlicher Staat lebt.34 Gleichwohl ist dieser Zusammenhang – in Hegels Augen – „nur“ eine lebensweltliche Erscheinungsform (7/412, § 266) und nur in dieser Perspektive stellt sich das Voraussetzungsverhältnis als asymmetrisch zugunsten der bürgerlichen Institutionen dar. Aber so wenig der Staat auf dem endlichen Willen der Einzelnen beruht, ist auch die Verfassung des bürgerlichen Lebens bestimmend für das Verfassungsverständnis. Sie ist nur eine Seite des Ganzen, und zwar aus der Warte der besonderen Zwecke betrachtet. Aus deren Kongruenz mit den Gemeinwohlbelangen speist sich zwar der Bestand des Staates, seine „Festigkeit“, doch die Allgemeinheit des Willens, aufgehoben im objektiven Geist, ist nicht die Resultante subjektiver Interessen. Ihre Realisierung steht vielmehr unter der Voraussetzung und dem Vorbehalt der Allgemeinheit. Aus diesem Grund ist das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Staat noch einmal zu betrachten, diesmal aus der Warte der Allgemeinheit.

4.2. Verfassung der politischen Institutionen Der Perspektivenwechsel findet seinen Ausdruck im Begriff der „Idealität“ der Verfassung (7/412 f., §§ 266 f.), auf die Hegel gegenüber der Realität der Verfassung „im Besonderen“ abhebt. Da Idealität in der Philosophie typischerweise den Gegensatz zur Realität bezeichnet, könnte der Eindruck entstehen, als ob Hegels Verfas33 34

Gehlen (1980) hat im Rahmen seiner soziologischen Institutionentheorie die Figur der Hintergrunderfüllung – in kritischer Auseinandersetzung mit Hegels Geistphilosophie – entfaltet. Zu Hegels Beitrag einer modernen Institutionentheorie Roth 1989, v.a. S. 226. Die Nähe zum bekannten Diktum Böckenfördes (1991a, S. 112) ist nicht zu übersehen.

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sungsverständnis in der (heute gängigen) Unterscheidung zwischen einem normativen (bezogen auf die normativen Standards einer geschriebenen Verfassungsurkunde) und einem empirischen (bezogen auf die politische Kultur einer Gesellschaft) Begriff der Verfassung aufgehe.35 Aber die Dinge liegen bei Hegel anders: In Hegels Verwendungsweise bezieht sich der Begriff weniger auf das Ideal (Muster) als auf die Idee; und die Eigenart der Idee in Hegels System besteht gerade darin, „die Einheit des Ideellen und Reellen“ (7/370, § 214) zu bezeichnen. Das „Ideelle“ der Idealität erinnert gegenüber der Realität an das Allgemeine, das sich nicht auf seine Erscheinung in der Realität beschränkt, sondern darüber hinaus als ein eigenständiges Moment des Ganzen der Realität vorausgeht und ihr zugrunde liegt. Auf die Hegelsche Verfassungslehre übertragen, folgen daraus zwei Einsichten: (a) Das Allgemeine hat im Staat seine eigene Verfassung, d.h. seine eigene „entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit“. Sie ist „die Grundlage, der Boden, auf dem alles geschieht. Die Verfassung muss daher als eine ewige Gurndlage angesehen werden, nicht als etwas Gemachtes.“36 Aus Sicht der besonderen Interessen hingegen ist die Identität mit dem Allgemeinen ebenso notwendig wie zufällig. Notwendig ist sie, weil nur auf diese Weise die eigenen Ziele erlangt werden können; zufällig wiederum, weil die Allgemeinheit als Produkt subjektiver Interessen „erscheint“. Aber das Allgemeine ist immer schon als etwas Objektives vorauszusetzen, weil andernfalls subjektive Referenzen an das Allgemeine gar nicht denkbar wären:37 „Die Einheit der sich wollenden und wissenden Freiheit ist zunächst als Notwendigkeit. Das Substantielle ist nun hier als subjektive Existenz der Individuen; die andere Weise der Notwendigkeit ist aber der Organismus […]“ (7/413 § 267 Z). Der Organismusbegriff unterstreicht die Idealität der politischen Verfassung insofern, als er – wie ausgeführt – die Selbstbeziehung des Staates ausdrückt (7/247, § 259): In diesem eigenen Kreislauf des Organismus sind die politischen Institutionen miteinander verbunden und unterscheiden sich dadurch von jenen der bürgerlichen Gesellschaft. (b) Diese Unterscheidung löst das Band zur bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht auf. Das Ziel der Hegelschen Verfassungslehre richtet sich ja gerade auf die Verbindung der politischen Institutionenordnung mit der Gesellschaftsordnung,38 und zwar aus Gründen der Freiheit. Denn Hegels Freiheitsbegriff vereint die allgemeine Freiheit mit dem besonderen Willen, beide sind notwendig aufeinander bezo35 36 37 38

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Ausführlicher zu den verschiedenen Verfassungsbegriffen Grimm 1991, S. 11 f. Hegel 1983b, S. 190, § 134. Die Verfassung „ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist“ (7/439, § 273 A). Weisser-Lohmann 2000, S. 166.

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gen, aber nur der allgemeine Wille, der allein im Staat zur Wirklichkeit gelangt, kann den besonderen auch enthalten. Die Idealität der politischen Verfassung ist daher einerseits als Differenz zur Realität der Verfassung „im Besonderen“ zu verstehen, andererseits hat sie im Drang, selbst zur Realität der allgemeinen Freiheit zu werden, den besonderen Willen „aufzuheben“. Diese Aufhebung vollzieht sich auf drei Wegen: erstens, indem die bürgerliche Gesellschaft (mit ihren Konflikten) selbst zum Inhalt des allgemeinen Willens wird; zweitens, indem der Kreislauf der staatlichen Institutionenordnung angeschlossen bleibt an die „politische Gesinnung“, in der sich die „Substantialität“ des allgemeinen Willens neuerlich in der Form der „Subjektivität“ der Gesinnungsträger zu präsentieren hat (7/413, § 267 Z); drittens schließlich, indem der Staat selbst als individueller Staat zur „Besonderheit der Geschichte“ wird (7/405, § 259 Z). Zur Realisierung der konkreten Freiheit im Staat hat dieser selbst zum handlungsfähigen Subjekt zu werden, und zwar durch die Gliederung seiner selbst in Staatsorgane nach innen und durch die Sonderung gegenüber anderen Staaten nach außen. Das Binnenverhältnis betrifft die institutionelle Struktur des Staates, das Außenverhältnis die durch Souveränität und Kriegsrecht geformte Pluralität der Staatenwelt.

5. Zur Aktualität der Staatstheorie Hegels Der Staat gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich selbst über seine wahren Interessen und Ziele klar zu werden. Der Einzelne kann sich von dem, was ihn unmittelbar umtreibt, distanzieren und dadurch zu sich selbst eine reflektierte Haltung beziehen, die in seinem Handeln einen angemessenen Ausdruck findet.39 Mit dieser Konzeption hat Hegel die individuelle mit der politischen Freiheit verbunden – und damit die moderne Welt mit der Antike zusammengebracht. So verstanden löst sich die Freiheit nicht in einzelnen juridischen Freiheiten auf, sondern ist die Integration einer (notwendigen) Unterscheidung mit den „Momenten“ Interesse, Verwirklichung und Selbstbewusstsein. Diese Integration vollzieht sich nach Hegel im kleinen Kreis der Individuen wie im großen Kreis der Gesellschaft, die einander bedingen und nur in dieser wechselseitigen Verwiesenheit begriffen werden können. Als politische Steuerung wäre dieser Integrationsprozess missverstanden und um seine freiheitliche Dimension verkürzt; er ist vielmehr ein emergentes Phänomen, das aus dem Wechselspiel zwischen den Institutionen und den Individuen entsteht: Die Freiheit erwächst aus dem Umgang mit sich selbst, bildet vernünftige Formen dieses

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Pippin 2004, S. 295-297.

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Umgangs aus und gewinnt erst in diesen Formen ihre Wirklichkeit, deren Einheit für Hegel der Staat ist. Hegel hat mit seiner Verschränkung der beiden Phänomene Freiheit und Integration, die seine Staatstheorie bestimmt, nicht nur die moderne politische Philosophie nachhaltig beeinflusst – ablesbar beispielsweise an der sogenannten LiberalismusKommunitarismus-Debatte –, sondern ebenso die sozialwissenschaftliche Theoriebildung. Eine Rezeption Hegels erweist sich jedoch stets als „sperrig“, weil sich seine Philosophie einer simplen Vereinnahmung für „Errungenschaften“ – frei von Ambivalenzen – entzieht. Von dieser Kraft zur Negation und „Negation der Negation“ lebt Hegels Staatstheorie. Sein Anliegen ist es, den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (12/32) innerhalb der mannigfaltigen sozialen Welt zu erfassen. Daher wäre es für ihn auch ein absurdes Unterfangen, sich gegen die Prozesse der Globalisierung stemmen zu wollen. Vergegenwärtigt man sich seine Einsichten über die abstrakte Freiheit und das „System der Bedürfnisse“, wird vielmehr die Logik der modernen Gesellschaft einsichtig, die an keine nationalen Grenzen gebunden ist und sich eben deswegen – mittlerweile in rasanter Weise – zur Weltgesellschaft entwickelt.40 Und mit Hegel lassen sich überdies die Herausforderungen und Probeme einer solchen Entwicklung beschreiben: Die Globalisierungsprozesse, vor allem der Wirtschaft, werden von schwach ausgeprägten institutionellen Strukturen umfasst, die ihren Ausdruck in Ansätzen der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung durch internationale und supranationale Organisationen finden, zusammengenommen aber (noch) keinen funktionierenden Rechtspflegestaat im Hegelschen Sinne repräsentieren. Vielmehr dokumentieren die Folgen dieser Strukturschwächen das immer mögliche „Elend“ und „Verderben“ in der bürgerlichen Gesellschaft (7/341, § 185). Ob ein allgemeines Menschenrechtsethos, dessen Bildung unverkennbar ist, die Kraft zur Überwindung solcher Problemlagen entfalten wird, bleibt zum gegenwärtigen Stand der Dinge offen. Aber liegt es nicht ohnehin näher, mit Hegel die Vermittlungspotentiale zu beobachten, die in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit sozialen Verwerfungen entstehen? Auf diese Weise kommt weniger eine „Neue Weltordnung“ in den Blick, die den Maßstab der liberalen Demokratie ins weltweite wendet, sondern eine unterhalb der globalisierten Strukturen regional organisierte Staatenwelt.41 Deren Beitrag zum freiheitlichen Zusammenleben wird maßgeblich davon abhängen, ob sie selbst die Fähigkeit zur inneren Gliederung aufbringen, die einen freiheitlichen Staat Hegel zufolge auszeichnet. Sein Projekt war die Einheit der Differenz einer modernen Gesellschaft in einem modernen Staat.42 Auf der

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Vgl. Pauly 2000, S. 393. Ausführlicher Lembcke 2009 (i.E.). Zu Hegels „doppelten Staatsbegriff“ Luhmann 1996, S. 554.

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Weltkarte findet sich eine Reihe von Staaten, in denen dieses Projekt noch keine Wirklichkeit erlangt hat.

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Thomas Petersen

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Staat als politischer Organismus. Hegels Verständnis der institutionellen Struktur des modernen Staates

Hegels Staatsphilosophie steht in einem zweideutigen Ruf. Sieht der Philosoph Joachim Ritter sie wie keine andere Philosophie der neuzeitlichen Revolution verpflichtet, so konnte sie ebenso als reaktionär oder sogar totalitär wahrgenommen werden. Ein Grund für diese widersprüchlichen Perspektiven auf Hegels politische Philosophie scheint nun gerade darin zu liegen, dass diese den Staat als einen Organismus begreift. Die Rede vom Staat als Organismus kann reaktionäre Assoziationen wecken, insofern sich damit die Vorstellung von einem harmonischen Zusammenwirken nicht nur der einzelnen Staatsgewalten, sondern auch der Staatsbürger, der gesellschaftlichen Kräfte und Interessen verbindet. Die politische Idee des Organismus scheint daher den Pluralismus und die Gegensätze zu leugnen oder zu überspielen, wie sie für moderne Gesellschaften und Staaten typisch sind. Unangemessen scheint diese Idee im Besonderen dem ökonomischen Konfliktpotential der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu sein, das Hegel ja selbst eindrucksvoll beschrieben hatte. Der staatstheoretische Organismusbegriff scheint daher eine Nähe Hegels zu zeitgenössischen Ideen der Romantik anzuzeigen, die nun tatsächlich reaktionäre und rückwärts gewandte Züge tragen. Hier dominieren „Ganzheitsvorstellungen“, und an die Stelle des neuzeitlichen staatstheoretischen Individualismus, wie er in der Gesellschaftsvertragslehre zum Ausdruck kommt, treten „bergende Einbindungen in vorgegebene Gemeinschaftsordnungen“.1 Die romantische Vorstellung des politischen Organismus steht vor allem „gegen die Ordnungsideen der Französischen Revolution und die daraus hervorgehende Wirklichkeit“. Die Romantik verwirft „die Ordnung des willkürlich Gemachten und Gesetzten“ und den „Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft, die allesamt als mechanistisch erscheinen“.2 Mit der Opposition, in die die Romantik den Organismus gegen den Mechanismus rückt, ist freilich eine wichtige Gemeinsamkeit mit Hegel angesprochen. Auch Hegel hatte die mechanistische Auffassung des Staates explizit abgelehnt, nach der

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Böckenförde 1978, S. 602. Böckenförde 1978, S. 602, Hervorhebung im Zitat.

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„ein Staat Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt“.3 Scheint so auf der Seite Hegels „staatstheoretischer Organizismus“4 einer reaktionären politischen Romantik nahe zu stehen,5 so gibt es auf der anderen auch Bezüge zum deutschen Frühkonstitutionalismus, der eine organisch gegliederte Verfassung als Alternative sowohl zum Absolutismus wie zur Volkssouveränität befürwortete.6 Schließlich aber darf man nicht außer Acht lassen, dass der politische Gebrauch des Begriffes „Organismus“ zu Hegels Zeit eng mit dem Begriff der Organisation verbunden war. Der Begriff der Organisation hatte aber gerade durch die Französische Revolution eine gewisse Prominenz erlangt. Sieyes hatte in seiner programmatischen Schrift Qu’est-ce que le tiers état? die Organisation als zweckmäßige Einrichtung eines Staates bezeichnet und sie mit dessen Konstitution identifiziert.7 Diese Zusammenhänge sind Hegel zweifellos präsent gewesen. Und vermutlich ist er in seiner Wahrnehmung von Kant beeinflusst, der bereits einen Zusammenhang von Organismus und revolutionärer Staatsumgestaltung herstellt. Kant hatte noch in seiner kleinen Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ eines sich selbst aufklärenden „Publikums“ mit einer absoluten monarchischen Staatsgewalt in Einklang gesehen. Denn in jedem Gemeinwesen sei „ein gewisser Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden“.8

Die Perspektive auf den Staat als Mechanismus wandelt sich in der Kritik der Urteilskraft. Hier bringt Kant den Begriff der Organisation und die Idee des Organismus ins Spiel: „So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u.s.w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der

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Hegel, Die Verfassung Deutschlands, zit. nach Böckenförde 1978, S. 585. Doch kennt Hegel anders als die Romantik durchaus mechanische Verhältnisse im Staat selbst und mehr noch im Verhältnis des Staates zur Gesellschaft. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Wolff 1984. Siehe dazu Schmitt 1968. Böckenförde 1978, S. 595. Böckenförde 1978, S. 568. Kant 1983, Bd. 5, S. 55.

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Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein.“ 9

Bei Kant finden sich schon alle Elemente versammelt, die auch in Hegels Staatsbegriff eine wichtige Rolle spielen: die Seite des Mechanismus in der Durchsetzung staatlicher Zwecke, aber auch die Begriffe der Organisation und des „organisierten Wesens“10, und schließlich der Gedanke vom Glied oder Organ des Staatsganzen, das nicht nur Mittel, sondern zugleich auch Zweck sein soll. Der engen Beziehung Hegels zu Kant, die weniger in der konkreten Analyse der staatlichen Gewalten als im rein Begrifflichen liegt, will ich mich im ersten Teil dieses Aufsatzes zuwenden. In Teil 2 wird es darum gehen, was der Staat als Organismus eigentlich ist und wie man die Selbsterhaltung des Staatsorganismus näher zu qualifizieren hat. Teil 3 wendet sich schließlich den einzelnen Staatsgewalten, den Gliedern des Organismus des Staats und deren Beziehung untereinander zu.

1. Mechanismus, Teleologie und Organismus bei Kant und Hegel Den Staat nennt Hegel „eine Hieroglyphe der Vernunft“ (7/449, § 279 Z) oder auch „das an und für sich Vernünftige“ (7/399, § 258).11 Vernunft ist für Hegel das Denken selbst, wenn es nämlich eine wirkliche Einheit Unterschiedener zu denken vermag, und das nicht in verschiedenen Hinsichten, sondern in ein und derselben. Solches Denken nennt Hegel spekulativ, es „faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf“ (8/176, § 82). Dagegen bleibt „das Denken als Verstand [...] bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend“ (8/169, § 80). Die gedankliche Struktur, in der sich eine solche Einheit entgegengesetzter Bestimmungen denken lässt, nennt Hegel den Begriff, mit seinen Momenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit; im Begriff ist insbesondere das unter das Allgemeine befasste Einzelne selbst „der ganze Begriff“. Der Begriff als solcher ist aber noch abstrakt, nämlich bloß „subjektiv“. Das Vernünftige ist er erst dann, wenn er eine ganz von ihm durchdrungene Objektivität hat. Der Begriff, der sich in der Objektivität realisiert, ist der Zweck. Als Strukturen der Objektivität des Begriffes

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Kant 1983, Bd. 5, S. 487. Kant 1983, Bd. 5, S. 483. Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz.

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diskutiert Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ den Mechanismus und die Teleologie. Der Organismus ist eine teleologische Denkfigur. Vernunft und Organismus, wie Hegel sie begreift, tragen für den gewöhnlichen Verstand paradoxe Züge. Die Art dieser Paradoxie findet sich treffend beschrieben in einem Werk, das namentlich weder mit Hegel noch mit Kant etwas im Sinn hat und auch nicht zur im engeren Sinne philosophischen Literatur gehört. In C.S. Lewis’ Dienstanweisung für einen Unterteufel setzt der Oberteufel Screwtape dem Unterteufel Wormwood die unterschiedlichen Prinzipien der Hölle auf der einen und des „Feindes“, nämlich Gottes, auf der anderen Seite auseinander. Er sagt:

„Die ganze Philosophie der Hölle beruht auf der Anerkennung des Grundsatzes, daß eine Sache nicht eine andere ist, und im besonderen, daß ein Ich nicht ein anderes Ich ist. Mein Eigentum ist mein Eigentum, und dein Eigentum ist dein Eigentum. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Sogar ein lebloser Gegenstand ist das, was er ist, dadurch, daß er alle andern Gegenstände davon ausschließt, den Raum einzunehmen, den er einnimmt. Wenn er sich ausdehnt, so geschieht es, indem er andere Gegenstände beiseite schiebt oder in sich aufnimmt. [...] Nun ist aber die ganze Philosophie des Feindes nichts mehr und nichts weniger als ein fortwährender Versuch, dieser ganzen selbstverständlichen Wahrheit auszuweichen. Er zielt auf einen Widerspruch. Es sollen viele Dinge sein und doch irgendwie nur eines. Das Gut des einen Ich soll auch das Gut des anderen Ich sein. [...] Deshalb ist Er, ja Er selbst, nicht zufrieden damit, eine reine arithmetische Einheit zu bilden; Er behauptet nämlich, Drei so gut wie Einer zu sein [...]. Am andern Ende der Stufenleiter führt Er in der Materie jene abgeschmackte Erfindung, den Organismus, ein, in dem die Teile ihrer natürlichen Bestimmung der gegenseitigen Konkurrenz entfremdet und auf Zusammenarbeit angelegt sind.“12

Was Screwtape für die Hölle reklamiert, ist die Ansicht des gesunden Menschenverstandes; nach dieser Ansicht sind alle Gegenstände voneinander verschieden und können nicht zugleich am selben Ort sein. Sie können sich nur gegenseitig „beiseite schieben oder in sich aufnehmen“. Gegenstände sind Objekte, die nur äußerlich aufeinander einwirken und eine Einheit nur als „Aggregat“ bilden können. Das aber ist gerade das, was für Hegel den Mechanismus als solchen ausmacht (8/352, § 195). Als eine Objektivität des Begriffs ist der Mechanismus jedoch nicht durch reine Zufälligkeit und Äußerlichkeit bestimmt. Die logisch-begriffliche Struktur des Mechanismus ist vielmehr das Gesetz, dem die mechanischen, gegeneinander selbständigen und äußerlichen Gegenstände unterliegen. Das Gesetz bestimmt im so genannten „absoluten Mechanismus“ die Bewegung der einzelnen Objekte vollkommen (8/355, § 197). Ein absoluter Mechanismus ist das Planetensystem wie auch der Staat selbst, und zwar in dessen Verhältnis zu den Individuen, die ihn bilden (8/356, § 198 A; vgl. auch 7/347, § 189 Z).

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Lewis 1992, S. 77 f.

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Wie der zitierte Grundsatz der Philosophie der Hölle ist für Hegel der Mechanismus eine Gedankenbestimmung und kein eigentümliches Prinzip der Natur oder der Naturwissenschaft. Deswegen ist auch der Staat im eigentlichen und nicht im bloß metaphorischen Sinn ein absoluter Mechanismus, wie es überhaupt mechanische Beziehungen im Geistigen gibt – nämlich zwischen Interessen, Rechten und Eigentumssphären. Für den Begriff des Organismus gilt dasselbe. Auch er ist keineswegs ein genuiner Begriff der Natur oder Naturwissenschaft, selbst wenn Kant diesen Begriff in einer Reflexion über kontingente Gegebenheiten der Natur entwickelt. Dass Kant nicht vom Organismus, sondern vom „Naturzweck“ spricht, verdankt sich diesem Umstand. In jedem Falle aber bildet das Phänomen der organischen Lebewesen den Angelpunkt des gesamten zweiten Teils der Kritik der Urteilskraft, der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Es ist allein die Existenz dieser Wesen, die uns dazu berechtigt, die Natur als den „Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung“ in irgendeiner Weise teleologisch zu beurteilen. Denn die Lebwesen sind es, die eine solche Beurteilung erfordern. Das Lebewesen nämlich hat „die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird“. Eine solche Ursache ist eine Zweckursache. Denn ein „Zweck [ist] der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird“.13 Das von einer Zweckursache Hervorgebrachte ist in seiner „Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich“.14 Das Lebewesen, beispielsweise ein Baum, ist kein artifizielles Produkt. Es ist vielmehr „von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung“.15 „In zwiefachem Sinne“ meint: als causa efficiens und als causa finalis; das Lebewesen bringt sich selbst als es selbst hervor. „Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen.“16 Drei Charakteristika des Naturzwecks stellt Kant heraus. 1) Die Teile eines Naturzwecks sind „(ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich“. 2) Sie verbinden sich „dadurch zur Einheit eines Ganzen, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“. 3) Schließlich wird „in einem solchen Produkte der Natur [...] ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als 13 14 15 16

Kant 1983, Bd. 5, S. 298 f. Kant 1983, Bd. 5, S. 480 f. Kant 1983, Bd. 5, S. 482. Kant 1983, Bd. 5, S. 487.

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Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ“. Der Naturzweck ist daher ein „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“; er hat anders als eine Maschine nicht nur bewegende, sondern „in sich bildende Kraft“.17

Kant gibt uns vom Naturzweck die folgende Definition: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“18

Kants Begriff des Naturzwecks (oder Organismus) ist eine spekulative Gedankenfigur. Er ist eins und irgendwie doch mehrere. Die Teile des Organismus sind sie selbst nur als Teile des Ganzen. Und zugleich sind diese Teile des Organismus in gewisser Weise das Ganze selbst, weil sie als Organe die Bestimmung des Ganzen an sich haben und dieses Ganze auch hervorbringen. Dass im Organismus schließlich „nichts umsonst, zwecklos“ ist, bedeutet, da das Wesen des Zwecks der Begriff ist: Der Begriff bestimmt den Organismus vollkommen und nicht nur äußerlich. Deshalb ist die Zweckmäßigkeit des Organismus eine innere Zweckmäßigkeit. Die unorganische Natur können wir nämlich nur nach einer äußeren oder relativen Zweckmäßigkeit beurteilen;19 Dinge erweisen sich als „nutzbar“ oder brauchbar für unsere Zwecke oder als zuträglich für Lebewesen, die nicht der Vernunft teilhaftig sind. „So ist kein Boden den Fichten gedeihlicher, als ein Sandboden“, und „wenn einmal Rindvieh, Schafe, Pferde u.s.w. in der Welt sein sollten, so mußte Gras auf Erden [...] wachsen“.20 Diese Rücksichten sind dem Sandboden und dem Gras als solchem aber ganz äußerlich und relativ. Denn der Sandboden ist nicht dazu bestimmt, Fichten wachsen zu lassen, und das Gras nicht dazu, von Schafen oder Pferden gefressen zu werden. Beide sind nur Mittel in Relation zu etwas anderem und haben zugleich eine von dieser Relation ganz unabhängige Seite. Bei der inneren Zweckmäßigkeit gibt es eine solche unabhängige Seite gegen den Zweck nicht. Das hat Hegel besonders herausgestellt, der den Terminus „innere Zweckmäßigkeit“ von Kant übernimmt. Die Bestimmungen der äußeren und inneren Zweckmäßigkeit nuanciert Hegel aber anders. Beide werden als Selbstobjektivierung des Begriffs betrachtet. Diese Selbstobjektivierung ist in der äußeren Zweckmäßigkeit noch unvollkommen: Hier objektiviert sich ein subjektiver Zweck durch ein Mittel in einem ausgeführten Zweck. Der ausgeführte Zweck und das Mittel sind dabei voneinander verschieden (der Zweck ist nicht das Mittel und umgekehrt) und haben beide eine von dem subjektiven Zweck, der die ganze Bewegung bestimmt, 17 18 19 20

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Kant 1983, Bd. 5, S. 485 f. Kant 1983, Bd. 5, S. 488. Kant 1983, Bd. 5, S. 477. Kant 1983, Bd. 5, S. 478.

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unabhängige Seite; darin bleiben sie dem Zweck und der Zweck ihnen äußerlich. In der inneren Zweckmäßigkeit dagegen sind subjektiver Zweck, Mittel und ausgeführter Zweck miteinander identisch. Deshalb ist die vollkommene Selbstobjektivation des Begriffs der Organismus. Den Organismus führt Hegel im Kontext der „Idee des Lebens“ ein:

„Diese Objektivität des Lebendigen ist Organismus; sie ist das Mittel und Werkzeug des Zwecks, vollkommen zweckmäßig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber eben deswegen ist dies Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck, in welchem der subjektive Zweck insofern unmittelbar mit sich selbst zusammengeschlossen ist. Nach der Äußerlichkeit des Organismus ist er ein Vielfaches nicht von Teilen, sondern von Gliedern“ (6/476).21

Der Organismus bringt sich selbst als solcher hervor, und zwar nach einer „Kausalität nach Zwecken“; deshalb ist jeder Organismus immer ein Selbstzweck, mag er auch von anderem als Mittel angesehen oder gebraucht werden. Zwei Aspekte des Organismus, die Kant expliziter als Hegel bestimmt, müssen wir abschließend noch erörtern. Der eine betrifft das Verhältnis der spezifischen inneren Zweckmäßigkeit des Organismus zum Mechanismus (1.1.), der andere den Status des Organismusbegriffs (1.2.). 1.1. Kant macht darauf aufmerksam, dass der „Naturforscher“ zunächst einmal „auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte“ ausgehen wird.22 Er orientiert sich also am Mechanismus der Natur. Doch muss er „in Beurteilung der Dinge, deren Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgend eine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst benutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuen Gestalten [...] zu entwickeln“.23

Das heißt: Der Mechanismus der Natur muss der teleologischen Beurteilung notwendig untergeordnet werden, aber diese teleologische Beurteilung macht das Erklärungsprinzip des Mechanismus nicht entbehrlich. Erforderlich ist deshalb eine „Beigesellung des Mechanismus, zum teleologischen Prinzip in der Erklärung eines Naturzwecks als Naturprodukts“. Denn es „langt eben [...] der bloße teleologische Grund eines solchen Wesens [nicht] hin, es zugleich als ein Produkt der Natur zu betrachten und zu beurteilen, wenn nicht der Mechanism der letzteren dem ersteren beigesellt wird, gleichsam als das Werkzeug einer absichtlich wirkenden

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„[S]ie [die Teile] sind trennbar, insofern sie äußerliche sind und an dieser Äußerlichkeit gefaßt werden können; aber insofern sie getrennt werden, kehren sie unter die mechanischen und chemischen Verhältnisse der gemeinen Objektivität zurück“ (6/476). Kant 1983, Bd. 5, S. 537. Kant 1983, Bd. 5, S. 537, Hervorhebung von mir.

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Ursache, deren Zwecke die Natur in ihren mechanischen Gesetzen gleichwohl untergeordnet ist“.24

Der Organismus organisiert sich selbst in und aus dem unorganischen Material, und deswegen realisiert er sich durch den Mechanismus, dem dieses Material selbst unterliegt. Der Mechanismus ist selbst für die innere Zweckmäßigkeit des Organismus ein „Werkzeug“, ein Mittel, und das heißt, dass die Beziehung des Organismus zu seinem unorganischen Material eine Beziehung der äußeren Zweckmäßigkeit ist. 1.2. In Paragraph 79 der Kritik der Urteilskraft stellt sich Kant die Frage, „[o]b die Teleologie, als zur Naturlehre gehörend, abgehandelt werden müsse“.25 Gehört also der Begriff des Organismus in die Naturwissenschaft? Kant verneint diese Frage, weil die innere Zweckmäßigkeit des Naturzwecks nur ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft sein könne. Für Hegel, der die Kantische Unterscheidung der menschlichen Erkenntnisvermögen in der „Wissenschaft der Logik“ zu einem Ganzen integriert, folgt daraus, dass Teleologie und Organismusbegriff nicht in den Bereich der Natur und damit der Realphilosophie, sondern zu den reinen Denkbestimmungen gehören, mit denen sich die Logik beschäftigt. Deshalb gebrauchen Kant und Hegel die Begriffe Organisation und Organismus nicht analog oder metaphorisch, wenn sie vom Staat sprechen. Der Staat ist nicht weniger Organismus als jedes natürliche Lebewesen.

2. Staat und Organismusbegriff – allgemeine Vorüberlegungen 2.1 Der Staat ist als Organismus ein sich selbst produzierendes Ganzes. Er übertrifft zugleich den natürlichen Organismus an Komplexität, weil er eine Gestalt des Geistes ist, nämlich des objektiven Geistes, dessen Grundbegriff der Wille ist. Den Willen konzipiert Hegel als das Sich-Entschließen einer selbstbewussten Intelligenz. Der Wille schließt deshalb das Wissen dessen, was er will, ein. Der Wille kann im eigentlichen Sinne niemals ein blinder Wille – wie dann bei Schopenhauer und auch schon bei Schelling26 – sein. Der Staat selbst wird als eine Gestalt dieses Willens aufgefasst. Von ihm heißt es deshalb, er sei der „sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt.“ (7/398, § 257) Dieser von Hegel angegebene Begriff des Staates scheint den Staat, als eine Organisation, zu

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Kant 1983, Bd. 5, S. 542. Kant 1983, Bd. 5, S. 535. Vgl. Schelling 1997, S. 31 f. und 35.

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einem selbstbewussten Subjekt zu hypostasieren, ihn zu einem falschen Gott zu machen.27 Aus einer mechanistischen Perspektive ist der Staat eine künstliche Einrichtung, eine Art Maschine. So begreift ihn Thomas Hobbes. Etwas wollen können in diesem Staat nur seine einzelnen Mitglieder. Womöglich sorgt die Einrichtung der Staatsmaschine dafür, dass sich diese Einzelwillen am Ende auf einen einzigen geltenden Willen, eine verbindliche Entscheidung reduzieren, so dass aus dem Staat dann so etwas wie ein ‚künstlicher großer Mensch’ wird.28 Aber man wird auch dann nicht sagen können, dass es der Staat sei, der etwas will, oder gar etwas denkt und weiß. Wie ist also Hegels Behauptung zu verstehen, der Staat sei selbst das Subjekt eines Denkens, Wissens und Wollens, und er sei dies Subjekt als ein Organismus (7/414, § 269)? Zunächst ist damit gesagt, der Staat habe eine bestimmte Unabhängigkeit von den Individuen, die ihn bilden, und er habe als solcher Macht über sie, oder besser: eine Macht, die er durch sie realisiert. Die Auffassung des Staates als eines Organismus scheint damit geeignet, Einsichten der modernen Institutionenund Organisationstheorie aufzunehmen. Denn dort wird die Fähigkeit von Institutionen und Organisationen betont, bei ihren Mitgliedern bestimmte Einstellungen, Haltungen, Dispositionen und Handlungen zu formen und sogar hervorzurufen. Der Soziologe Arnold Gehlen bezeichnet dies als eine Tendenz zur Verselbständigung, die Institutionen unabhängig macht von den Zwecken, zu denen sie ins Leben gerufen wurden. Hegel freilich würde sagen, dass der Staat nichts ist, was sich erst verselbständigen muss; als Organismus ist er selbständig von Anfang an. Die These vom Staatsorganismus besagt dann, dass es in einem solchen Staat ein Wissen, Wollen und Tun seiner Mitglieder gibt, das sinnvoll nur als das Wissen, Wollen und Tun eines Ganzen beschrieben werden kann. Und dabei mag es sich durchaus so verhalten, dass dieses Wissen und Wollen des Ganzen von keinem einzelnen Individuum vollkommen geteilt wird. Das Wollen der Einzelnen kann sich sogar widersprechen. Und trotzdem würde Hegel sagen, dass gerade in solchen vordergründigen Widersprüchen ein einziger und einiger, und sogar ein wesentlich vernünftiger Wille zum Ausdruck kommt – ein Wille nämlich wie die volonté générale Jean-Jacques Rousseaus, die unter dem „Gesetz der Vernunft“ stehe, weil dieser allgemeine Wille nichts anderes wollen könne als Freiheit und Gleichheit.29 Dass sich das „Wissen und Wollen des allgemeinen Zwecks“ primär nur dem gegliederten Staatsorganismus zusprechen lässt, hat zwei wichtige Konsequenzen. 27 28 29

In Hegels mündlichen Ausführungen zum Paragraphen 258 finden sich Formulierungen, die diesen Verdacht anscheinend erhärten. So etwa: „[E]s ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“ (7/403, § 258 Z). Vgl. Hobbes 1973, S. 1. Rousseau 1964, S. 373 und 391.

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1) Der Staat und seine Verfassung gehen nicht auf einen pouvoir constituant zurück, den man vom Staat noch einmal unterscheiden könnte, also etwa auf eine vorstaatliche Nation. Daher ist die Frage, „wer die Verfassung machen soll“, „sinnlos“. Vielmehr „ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obwohl in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde“ (7/439, § 273). Das Machen kann „nur eine Veränderung“ bedeuten, und diese Veränderung kann „nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen“. 2) Wie es keinen vom Staat als solchen unterschiedenen pouvoir constituant geben kann, so kann auch keine Person oder Gruppe von Personen den Staat beherrschen oder der Souverän sein – weder der Monarch, noch eine parlamentarische Versammlung wie der Nationalkonvent während der Französischen Revolution, noch gar das Volk.30 Monarchische Gewalt oder Parlament können immer nur Organe des staatlichen Ganzen sein. 2.2 Die Komplexität des geistigen Organismus des Staates hat einen weiteren Aspekt. Der natürliche Organismus ist im Verhältnis zum Staat etwas Einfaches. Der Baum ist eben das Ganze aus Stamm, Wurzeln, Rinde, Ästen, Zweigen und Blättern, und sein „Zweck“ ist es, sich als dieses Ganze zu erhalten. Das Ganze des Baumes ist vollständig äußerlich wahrnehmbar, wie denn die Äußerlichkeit die Grundbestimmung der Natur überhaupt ist (9/24, § 247). Wenn wir den Baum als sich selbst produzierenden Organismus beschreiben, der aus den genannten Teilen besteht, dann haben wir den Baum vollständig bestimmt. Der Baum hat gegen diese auf äußere, materielle Elemente zielende Beschreibung nicht noch einmal eine innere Seite. Eine solche innere Seite hat jedoch der Staat. Der Staat ist nicht vollständig bestimmt, wenn wir ihn als einen Organismus aus Staatsgewalten oder -organen definieren. Hier müssen wir fragen: Was ist, und als was erhält und produziert sich der Staat? Was will der Staat und was ist sein Zweck? Auf diese Fragen nach der Identität des Staates sind drei Antworten möglich und sie alle spielen auch in Hegels Rechtsphilosophie eine Rolle: a) In einer Hobbesschen Perspektive kann man das Wesen des Staates darin sehen, dass er eine Friedens- oder Rechtsordnung garantiert und „bindende Entscheidungen“ fällt und durchsetzt.31 Mit Immanuel Kant kann man b) den Staat vernunftrechtlich interpretieren. Er wird damit nicht wie bei Hobbes durch seine faktische Ordnungsleistung charakteri-

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Zur „souveränen Diktatur“ des Nationalkonvents siehe Schmitt 1964, S. 147-152. Hobbes 1973, vgl. Luhmann 1974, S. 159.

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siert, sondern als Zustand einer „öffentlichen Gerechtigkeit“ angesehen, worin „allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“.32 Eine dritte Möglichkeit liegt c) in der Idee des Staates als einer „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ zu einem allgemeinen Willen, der einen vernünftigen Zweck wie das allgemeine Wohl, das Recht oder die Freiheit zum Inhalt hat.33 Diese Idee geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück. Der allgemeine Wille ist der Wille des Souveräns und insofern jeder mit seinem eigenen Willen mit diesem allgemeinen Willen übereinstimmt ist er Teil des Souveräns. Auf diesen Gedanken gründet Rousseau die Doktrin der Volkssouveränität. Die Übereinstimmung von einzelnem und allgemeinem Willen hat zwei Seiten. Einmal muss der Einzelne den allgemeinen Willen wirklich zu seinem eigenen machen und darf nicht den privaten Sonderwillen über diesen allgemeinen Willen stellen. Andererseits muss der Einzelne, der Bürger, aber in der Lage sein, überhaupt zu wissen und zu begreifen, was das in der Regel komplexe allgemeine oder das Staatsinteresse ist. Hegel ist anders als Rousseau im Contrat Social keineswegs der Meinung, der allgemeine Wille sei etwas ganz Einfaches, das alle fühlen und dann einer ausspricht.34 Nur durch eine gewisse Einsicht etwa in Fragen des Steuerrechts, der Verwaltung etc. ist der Einzelne fähig, sich an der öffentlichen Willensbildung zu beteiligen und den allgemeinen Willen zu dem seinen zu machen. Es zeigt sich bei näherem Hinsehen bald, dass Hegel den Hauptakzent auf den letzten Punkt c) legt. So heißt es im Paragraphen 258 der Grundlinien, der Staat sei „das an und für sich Vernünftige“, und zwar als die „Wirklichkeit des substantiellen [d.i. allgemeinen] Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat“ (7/399, § 258). Mit anderen Worten: der Staat existiert primär im Selbstbewusstsein und Willen seiner Mitglieder, das zu seiner, des Staates, „Allgemeinheit erhoben“ ist. Dieses Wirklichwerden des allgemeinen Willens – oder: sein Hervorbringen – im Willen der Staatsbürger ist die Hegel eigentlich interessierende Frage, unter der er den Organismus der Staatsgewalten betrachtet. Die unter a) und b) genannten Aspekte finden dabei zwar auch Beachtung, doch sind sie niemals dominant. Die Lösung des Hobbesschen Ordnungsproblem (a) und die Verwirklichung des Rechts als Schutz individueller Freiheitsrechte (b) ergeben sich als Folge vernünftig gestalteter und gegliederter Institutionen (7/412 f., § 265). Beides ist aber vor allem eine Voraussetzung für den eigentlichen Zweck des Staates. Darauf spielt Hegel an, wenn er es die „ungeheure Stärke und Tiefe“ des „Prinzips der modernen Staaten“ nennt, „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen

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Kant 1983, Bd. 4, S. 423. Kant 1983, Bd. 4, S. 431. Rousseau 1964, S. 437.

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Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen“ (7/407, § 260).

3. Der Organismus des Staates und seine Gliederung Im Vergleich zum natürlichen Organismus ist der Staat ein Organismus im eigentlicheren Sinn vor allem deswegen, weil seine Struktur nicht zufällig, sondern durch den Begriff in seinen Momenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit bestimmt ist. Der Wille, der Grundbegriff der Rechtsphilosophie Hegels, ist dieser Begriff in der Bestimmung der Einzelheit. Er enthält die Allgemeinheit des Denkens, das sich jeden Inhalt zueigen machen kann, und die Möglichkeit, „besondere Inhalte zu setzen“. Der Wille selbst ist „die Einheit dieser beiden Momente“ (7/54, § 7), indem er sich zu einem bestimmten Inhalt entschließt und doch frei bleibt, weil er an diesen Inhalt nicht gebunden ist. Das nennt Hegel „Einzelheit“; und der Wille ist diese Einzelheit, weil er nur Wille ist, wenn er tatsächlich etwas Bestimmtes will. Den Momenten des Willens entsprechen die einzelnen Staatsgewalten, die Organe des Staates. Das Allgemeine ist hier die gesetzgebende Gewalt, das Besondere die Regierungsgewalt oder die ausführende Gewalt. Die Stelle der Einzelheit, die unter den Willensmomenten der Wille selbst ist, nimmt die fürstliche Gewalt ein, die den Staat und die Souveränität, die eine Souveränität des Staates ist, in besonderer Weise verkörpert. Diese Gliederung weicht von der geläufigen in Legislative, Exekutive und Judikative, wie sie sich auch schon in Kants Rechtsphilosophie findet, ab, entspricht aber derjenigen, die Locke und Montesquieu skizzieren.35 In der Person des Fürsten liegt „das letzte Selbst des Staatswillens“ (7/449, § 280); alles, was im Staat geschieht, ist der Wille des Fürsten. In seiner „Majestät“ liegt daher „die wirkliche Einheit des Staats“ (7/452, § 281), so wie im tatsächlichen Entschluss die Einheit des Willens. Das verträgt sich aber durchaus damit, dass der tatsächliche Einfluss des Fürsten auf die besonderen Staatsgeschäfte gering ist (7/451 § 280 Z; 453, § 281 Z). Diese Staatsgeschäfte sind Sache der Regierungsgewalt. Diese Gewalt führt eigentlich nur das „bereits Entschiedene“ aus (7/457, § 287). Erst die Regierungsgewalt, „worunter ebenso die richterlichen und polizeilichen Gewalten begriffen sind“, hat es mit konkreten Angelegenheiten zu tun, die „auf das Besondere der bürgerlichen Gesellschaft Beziehung haben“ (7/457, § 287). Hegel lässt im übrigen kaum einen Zweifel daran, das die eigentliche Macht im modernen Staat, die durchaus

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Locke 1983, S. 111-113; Montesquieu 1979, S. 294.

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problematische Züge annehmen kann, hier, also bei der Regierung und Verwaltung liegt (7/463, § 295). Das Moment der Allgemeinheit bestimmt die gesetzgebende Gewalt. Allgemein sind einmal die Gesetze, weil sie sich stets auf das Ganze des Staates beziehen. Wichtiger aber ist, dass in der gesetzgebenden Gewalt das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren „großen Interessen“ (7/480, § 311 A) zur Geltung und weiter „das öffentliche Bewußtsein als empirische Allgemeinheit der Ansichten und Gedanken der Vielen […] zur Existenz“ kommen (7/469, § 301). Die gesetzgebende Gewalt ist allgemein, weil in ihr das Ganze des Staates und der Gesellschaft sowie die Gesamtheit der Staatsbürger präsent sind. Das Verhältnis der Gewalten untereinander ist nun in der Tat das von Organen. Jede der Gewalten ist in bestimmter Weise das Ganze des Staates, weil sie die anderen in sich enthält (vgl. z.B. 7/455, § 283; 7/455 f., § 285).36 Zudem sind sie in funktionaler Weise aufeinander bezogen und verwirklichen in ihrem Zusammenwirken den allgemeinen Zweck des Staates, so wie dieser sich durch die Gewalten selbst erhält. Auch die fürstliche Gewalt hat darin mehr als eine bloß formelle oder repräsentative Funktion. Sie trifft als eine Art pouvoir neutre37 eine wirkliche Entscheidung in einem Konflikt der anderen Staatsgewalten miteinander oder im Zustande innerer oder äußerer Not und wahrt so die Einheit des Staates.38 An dieser Funktion der fürstlichen Gewalt wird deutlich, dass Hegel das Verhältnis der Gewalten keineswegs als konfliktfrei denkt. Zwar polemisiert er gegen die „Einseitigkeit, ihr [der Staatsgewalten] Verhältnis zueinander als ein Negatives, als gegenseitige Beschränkung aufzufassen“, und spottet über das Bemühen, „pfiffigerweise Dämme auszuklügeln“, weil dadurch sich zwar „ein allgemeines Gleichgewicht, aber nicht eine lebendige Einheit“ der Staatsgewalten denken lasse (7/433, § 272 A). Doch als Glieder des Organismus haben die Staatsgewalten immer noch „die mechanischen und chemischen Verhältnisse der gemeinen Objektivität“ an sich und sind in dieser ihrer „Äußerlichkeit […] der negativen Einheit der lebendigen Individualität entgegen“ (6/476). Im Organismus ist der Mechanismus, worin sich die Gegenstände wechselseitig beschränken, zwar aufgehoben, aber nicht verschwunden. Das zeigt sich besonders an der Regierungsgewalt. Diese Gewalt hat wegen des großen Wissens ihrer Beamten (7/464, § 297) und der dort konzentrierten

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So enthält die fürstliche Gewalt die Besonderheit in Gestalt der „obersten beratenden Stellen“ (7/455, § 283) und die Allgemeinheit „in subjektiver Rücksicht in dem Gewissen des Monarchen, in objektiver Rücksicht im Ganzen der Verfassung“ (7/455 f., § 285). An der gesetzgebenden Gewalt sind fürstliche Gewalt und Regierungsgewalt beteiligt, wobei dem Fürsten, wie Hegel in Vorlesungen bemerkt, die Gesetzesinitiative zukommen soll. Vgl. Lembcke 2002. Vgl. Petersen 1992, S. 149.

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„konkreten Kenntnis und Übersicht des Ganzen in seinen vielfachen Seiten“ (7/468, § 300) eine unverhältnismäßig große Macht. Deshalb stellt der „Mißbrauch der Gewalt von seiten der Behörden und ihrer Beamten“ eine Gefahr dar, wogegen die „Sicherung des Staats und der Regierten“ erforderlich ist (7/463, § 295). Wenn es um diese „Sicherung“ geht, gebraucht Hegel nun durchaus „mechanistisches“ Vokabular und spricht davon, dass „die den Beamten anvertraute Gewalt für sich gehemmt“ werden müsse (7/463, § 295, Hervorhebung von mir). Diese Hemmung ist freilich nichts anderes als das arrêter in Montesquieus Diktum „Pour qu'on ne puisse abuser du pouvoir, il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir“.39 Fürstliche Gewalt und Regierungsgewalt bewältigen in je besonderer Weise zwei der eingangs genannten Aufgaben des Staatsorganismus. Während die Majestät des Monarchen die Integrität und Souveränität des Staates garantiert (a), ist durch die in der Regierungsgewalt institutionalisierte „Kontrolle von oben und unten“, die der Fürst auf der einen und die „Gemeinden, Korporationen“ auf der anderen Seite über die Exekutivgewalt ausüben (7/463, § 295), der Schutz individueller Rechte gewährleistet (b). Die gesetzgebende Gewalt hingegen ist ganz auf die in Hegels Augen zentrale Funktion des Staatsorganismus bezogen, dem „substantiellen Willen“ eine vernünftige Wirklichkeit zu geben, nämlich eine Übereinstimmung von einzelnem und allgemeinem Willen hervorzubringen. Die Gesetzgebung als solche handelt Hegel nämlich eher beiläufig ab; er widmet ihr gerade einmal zwei von insgesamt 23 Paragraphen. Die übrigen 21 befassen sich mit der Zusammensetzung der gesetzgebenden Kammern, der „Ständeversammlungen“, mit der Öffentlichkeit der Verhandlungen in den Kammern und mit der öffentlichen Meinung. Den allgemeinen, substantiellen Willen des Staates spricht Hegel zwar auch dem Monarchen und den Staatsbeamten zu. Doch der Monarch hat diesen Willen nur in einem formalen Sinne. Denn es kommt auf seinen Charakter und seine Überzeugungen gar nicht wirklich an (7/450, § 280 Z). Die Staatsbeamten haben zwar eine besondere Kenntnis der allgemeinen Angelegenheiten, stehen jedoch in der Gefahr, daraus ein elitäres Sonderbewusstsein zu entwickeln und sich zu einer „Herrenschaft“ (7/464, § 297) aufzuschwingen. Ein allgemeiner Wille, den sich alle zueigen machen können, bildet sich dagegen nur in der gesetzgebenden Gewalt. Die gesetzgebende Gewalt ist das inklusivste Organ des Staates; sie besteht aus zwei Kammern, an deren Tätigkeit einerseits die fürstliche und die Regierungsgewalt mitwirken, an der andererseits durch Öffentlichkeit und öffentliche Meinung potentiell alle Staatsbürger partizipieren. Hegels Hauptinteresse richtet sich dabei auf die zweite Kammer, das „Unterhaus“ der Repräsentanten der bürgerlichen Ge39

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Montesquieu 1979, S. 293.

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sellschaft bzw. „ihrer großen Interessen“ (7/479, § 310 A). Diese Repräsentanten sollten sich bereits „in obrigkeitlichen oder Staatsämtern“ bewährt haben und sich durch einen „erprobten obrigkeitlichen und Sinn des Staats“ auszeichnen (7/479, § 310). Als Repräsentanten sind sie nicht „kommittierte oder Instruktionen überbringende Mandatarien“, und die Kammer ist so „eine lebendige, sich gegenseitig unterrichtende und überzeugende, gemeinsam beratende Versammlung“ (7/478, § 309). Weil ihre Mitglieder einen Sinn des Staats haben, kompetent sind und frei beraten und entscheiden können, ist die Ständeversammlung fähig und willens, den allgemeinen Zweck des Staates zu verfolgen. Zugleich übt sie eine „Zensur Vieler, und zwar eine öffentliche Zensur“ über die Staatsbeamten aus, was diese dazu „nötigt“, „schon im voraus die beste Einsicht auf die Geschäfte und vorzulegenden Entwürfe zu verwenden und sie nur den reinsten Motiven gemäß einzurichten“ (7/470, § 301 A). Große Bedeutung misst Hegel schließlich der Öffentlichkeit der Ständeversammlung bei. Denn die „Öffentlichkeit [ist] das größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt. In einem Volke, wo diese stattfindet, zeigt sich eine ganz andere Lebendigkeit in Beziehung auf den Staat als da, wo die Ständeversammlung fehlt oder nicht öffentlich ist“ (7/483, § 315 Z).

Die Öffentlichkeit der Ständeversammlung hat eine entscheidende Wirkung auf die öffentliche Meinung. Die öffentliche Meinung ist die Erscheinung der subjektiven Freiheit, also des eigenen Urteilens der Einzelnen „über die allgemeinen Angelegenheiten“ (7/483, § 316). Diese öffentliche Meinung ist zugleich „eine große Macht“ (7/483, § 316 Z) und Hegel hätte David Humes Behauptung, dass jede Regierung auf Meinung beruht, nicht widersprochen.40 Für den Organismus des Staates ist die öffentliche Meinung deshalb eine Herausforderung. Denn sie ist die „unorganische Weise, wie sich das, was ein Volk will und meint, zu erkennen gibt“ (7/483, § 316 Z). In ihr ist nämlich das „an und für sich Allgemeine“ mit dem zufälligen „Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen, verknüpft“ (7/483, § 316). Diese unorganische öffentliche Meinung muss der Staatsorganismus in irgendeiner Weise integrieren, und das geschieht eben durch die Öffentlichkeit der Ständeversammlung. Die Öffentlichkeit gibt der öffentlichen Meinung die Möglichkeit, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, indem sie Einfluss auf die Beratungen der Ständeversammlung nimmt. Auch bildet sie gleichsam ein informelles Forum, auf dem sich die Regierung rechtfertigen muss. Diese Macht der öffentlichen Meinung, die ihr durch die Öffentlichkeit der Beratungen der Ständeversammlung zuwächst, hat indes zwei gegenläufige Aspekte. Nicht nur beeinflusst die öf40

Vgl. Petersen 1992, S. 168.

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fentliche Meinung den politischen Prozess innerhalb des Organismus der Staatsgewalten, sondern dieser umgekehrt auch sie selbst. Einmal nämlich fördert das öffentliche „Räsonnement“ die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen deswegen, weil durch die Kundgabe ihrer Meinung alle irgendwie an dieser Entscheidung beteiligt sind (7/483 f., § 317 Z) und sie deshalb auch als die ihre ansehen. Zum anderen wird die öffentliche Meinung durch die Ständeversammlung erst zu einer gebildeten Meinung. Denn sie kommt „erst dadurch zu wahrhaften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber vernünftiger zu urteilen“ (7/482, § 315). Die öffentliche Meinung

„enthält daher in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes, als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage“ (7/483 f., § 317).

Zugleich enthält sie aber ebenso die „Zufälligkeit des Meinens“. Die öffentliche Meinung hat in sich keinen Maßstab des Richtigen und Falschen, doch durch den politischen Prozess im Staatsorganismus zeigt sich, wie Hegel denkt, die „wahre öffentliche Meinung“ oder das, was das Volk in Wahrheit meint und will. Diese „wahre öffentliche Meinung“ ist indessen eine wirkliche Gestalt des allgemeinen Willens, der primär ein Wille des Staates und nicht der Einzelnen als solcher ist. Indem er diesen Willen als einen wirklichen hervorbringt, hätte der Organismus des Staates in Wahrheit seinen eigentlichen Zweck erreicht. Es ist nicht ohne Reiz, die Würdigung der öffentlichen Meinung in Hegels Rechtsphilosophie mit dem Publikum in Kants schon erwähnter vorrevolutionärer Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zu vergleichen. Denn der Träger der öffentlichen Meinung ist eben dieses öffentlich die Vernunft gebrauchende Publikum. Nach Kant ist das Publikum in der Lage, sich selbst aufzuklären, und bewirkt dadurch, dass das Volk „der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird“.41 Auf den „Mechanism“ des Staates, nämlich auf „die Grundsätze der Regierung“, hat dieses Publikum aber allenfalls einen indirekten Einfluss. In der Rechtsphilosophie Hegels dagegen ist die öffentliche Meinung selbst das Unorganische, das in gewissem Sinne Mechanische, insofern darin die „Zufälligkeit des Meinens“ (7/484, § 317) herrscht. Das die öffentliche Meinung bildende Publikum kann sich unabhängig vom Organismus des Staates nicht selbst aufklären, weil die öffentliche Meinung erst durch die öffentlich beratende Ständeversammlung zu „wahrhaften Gedanken“ kommt. Durch diese Integration in den organischen Staat aber hat die öffentliche Meinung eine Stellung in der politischen Willensbildung, die 41

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Kant 1983, Bd. 6, S. 54 und 61.

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dem Kantischen Publikum fehlt. Deshalb lässt nur sie sich als eine Gestalt des allgemeinen Willens ansehen.

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Uwe Volkmann

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Freiheit in Bindungen Beobachtungen zur Stellung des Einzelnen in Hegels Staat

Die Bewertung der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie sowie ihre Brauchbarkeit für unsere Zeit steht und fällt mit der Bedeutung, die dem Individuum und seiner Freiheit darin zukommt. Das Individuum, der einzelne Mensch, ist die Grundeinheit der heutigen Rechtsordnung, seine Freiheit das sie von innen her konstituierende Prinzip, und keine Rechts-, keine Staatsphilosophie kann heute ein mehr als bloß historisches Interesse auf sich ziehen, die ihm nicht den gebührenden Platz einräumt.1 Gegen Hegel werden in diesem Zusammenhang traditionell drei Einwände erhoben, die seine Auffassung von Recht und Staat insgesamt diskreditieren könnten. Nach dem Grad ihrer Allgemeinheit geordnet, lassen sie sich etwa wie folgt zusammenfassen: – Der erste und allgemeinste dieser Einwände knüpft an die Hegelsche Philosophie des Geistes an, wie sie insbesondere in der „Phänomenologie des Geistes“ und der „Wissenschaft der Logik“ ausgeführt und für das gesamte Werk grundlegend ist. Der „Geist“ und der „freie Wille“ als seine wesentliche Äußerungsform erscheinen darin nach der eigenwilligen Sprache und dem Gang der Darstellung – ob auch nach ihrem Inhalt, sei hier dahingestellt – nicht als Resultat menschlicher Denktätigkeit, also etwas von den Menschen selbst in ihrem gesammelten individuellen und überindividuellen Wissen, Empfinden und Handeln Hervorgebrachtes, sondern als eine eigenständige, ihnen im Ausgang entgegengesetzte Kraft, die die Welt aus sich heraus erschaffen hat. Von einem solchen ontologischen Verständnis des Geistes aus erscheint der Einzelne dann als bloßes Vollzugsorgan oder Vermittler eines von ihm unabhängigen, nicht zu beeinflussenden Willens, der sich selbst zu setzen und zu verwirklichen imstande ist,2 und es ist diese Ontologisierung, die, wenn wir nicht versuchen, sie religiös auf einen Schöpfergott zu projizieren oder bloß bildlich-

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Zu dieser „Grundeinheit“ Böckenförde 1991a, S. 58 f.; ferner Pfordten 2005, S. 1069 ff. Im Grundgesetz zeigt sich diese Vorordnung in der zentralen Rolle der Menschenwürdegarantie: als unmittelbares „Gegenprogramm zur totalitären Missachtung des Individuums“, Dreier 2004, Art. 1, Rn. 40. Klassisch Ranke 1959, S. 7 f.: der einzelne Mensch als „Marionette“ des allgemeinen Geistes.

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metaphorisch zu interpretieren, Hegel uns Heutigen weitgehend unverständlich, wenn nicht ungenießbar gemacht hat.3 – Darauf aufsetzend wird Hegel, zweitens, eine Begründung und Rechtfertigung des Staates zum Verhängnis, die nicht wie heute weithin üblich vom Einzelnen und seinen Interessen, sondern vom Kollektiv und der Gemeinschaft her erfolgt, die jenem dann auch im Ergebnis vorgeordnet werden; beispielhaft dafür steht Hegels entschiedene Ablehnung der Lehren vom Gesellschaftsvertrag, des Grundmusters einer individualistischen Staatsbegründung.4 – Drittens schließlich, als der konkreteste und am leichtesten festzumachende Einwand, wird Hegel die Parteinahme gegen Volkssouveränität und Demokratie einerseits und das Plädoyer für einen ständisch gegliederten, monarchisch regierten und in alledem noch sittlich überhöhten Staat andererseits vorgehalten, mit dem er sein Werk ausklingen lässt; auch dies, so wird geltend gemacht, zeige oder führe jedenfalls im Ergebnis dazu, dass die individuellen Freiheitsrechte der staatlichen Autorität geopfert werden.5 Zusammengenommen mündet all dies in den klassisch von Karl Popper formulierten Vorwurf, Hegel habe ebenso wie vor ihm Platon eine Staatslehre vorgestellt, deren Quintessenz in dem Satz zusammengefasst werden könne, „dass der Staat alles ist und das Individuum nichts“;6 ein Vorwurf, dem Hegel selbst durch zahlreiche ebenso berühmte wie berüchtigte Sätze wie „Der Staat ist […] das an und für sich Vernünftige“, „Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist“ oder „Man muss daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren“ kräftig Vorschub geleistet hat.7 Demgegenüber wird von Hegels Verteidigern geltend gemacht, dass sein gesamtes Werk ganz zentral um die Idee der „Freiheit“ kreist, die von immer 3

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Honneth 2001, S. 12 f.; die Ontologisierung ist anschaulich nachgezeichnet bei Taylor 1983, S. 488 f., 506, 706. Die derzeitigen Versuche einer Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie – wie etwa der von Honneth 2001 – blenden diesen Teil, also die Philosophie des Geistes, deshalb meist aus; ausdrücklich die Verbindung suchend dagegen Haase 2004, S. 233 ff.; siehe ferner zum Zusammenhang der Rechtsphilosophie mit dem Prinzip des freien Willens Pippin 1997. Die Wendung gegen den Gesellschaftsvertrag bei Hegel 7/399 ff., § 258 (Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz.); zum Gegensatz zu klassischen individualistischen Staatsbegründungen Ilting 1975, S. 61 ff.; Horster 1992, S. 484 f. Vgl. Honneth 2001, S. 11; die Hinwendung zum Korporatismus bei Hegel 7/397 ff., §§ 250 ff., das Plädoyer für die konstitutionelle Monarchie bei Hegel 7/435 ff., §§ 273, 275 ff. Popper 2003, S. 39 f. Ferner etwa: „Diese substanzielle Einheit [des Staates] ist absoluter unbewegter Selbstzweck.“ – Es ist deshalb die „höchste Pflicht“ der Einzelnen, „Mitglieder des Staats zu sein“. etc.; sämtliche Zitate aus 7/399 ff., § 258 mit A und 7/432 ff., § 272 Z, allerdings hier isoliert und jeweils aus dem Zusammenhang gerissen.

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neuen Orten aus aufgesucht wird; es ist gerade die Rechts- und Staatsphilosophie, die von der Freiheit aus entworfen wird und hier ihren gedanklichen Mittelpunkt hat. Vom Recht sagt Hegel in diesem Sinne, es sei das „Dasein des freien Willens“, vom Rechtssystem in seiner Gesamtheit, es sei „das Reich der verwirklichten Freiheit“, vom Staat schließlich, er sei die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“.8 Doch kann das beides zusammengehen, die Überhöhung, wenn nicht Vergötterung des Staates und des Kollektivs einerseits und die mindestens ebenso emphatische Betonung der Freiheit andererseits? Die Erklärung muss wesentlich im Begriff der „Freiheit“ gesucht werden, also darin, wie Hegel ihn verstand und in seinen vielfältigen Verzweigungen entfaltete. Geschieht dies, so wäre in einem ersten Schritt zu fragen, in einer Weise, die auch den Einzelnen in sein Recht setzt, seine Individualität respektiert, so wie es dem heute weithin maßgeblichen Verständnis entspricht? Wie erklärt es sich – zweiter Schritt – dann, dass Hegel auf der gegenüberliegenden Seite auch dem Staat eine so überragende Bedeutung zuspricht, wenn doch historisch gesehen die individuelle Freiheit und ihre rechtliche Sicherung gegen diesen erst erkämpft werden musste? Und bleibt, so wäre abschließend in einem dritten, kürzeren Schritt zu klären, Hegels Versuch, beide Seiten miteinander zu vermitteln, den Bedingungen ihrer Zeit, also der konkret vorgefundenen politischen Ordnung, verhaftet oder reicht er über diese hinaus, erweist sich von bleibender Aktualität, vielleicht sogar Modernität? Heranzuziehen sind dafür in erster Linie die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821 als das rechts- und staatsphilosophische Hauptwerk; ergänzend und erläuternd ist auf weitere Schriften wie vor allem die „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ und die von Hegel selbst als Leitfaden und Begleitlektüre für seine sonstigen Vorlesungen konzipierte „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ von 1830 zurückzugreifen.

1. Status des Einzelnen Wenn Hegel von „Freiheit“ und vom Rechtssystem als „Reich der verwirklichten Freiheit“ spricht, hat er von vornherein nicht einen subjektiven, auf das einzelne Individuum bezogenen und beschränkten, sondern einen objektiven, umfassenderen Begriff im Auge, der auf die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft, eines Staates, einer Lebensordnung als das Insgesamt ihrer rechtlichen und geistigen Verfasstheit zielt.9 8 9

In der Reihenfolge: 7/80, § 29; 7/46, § 4; 7/406, § 260. Der Begriff der objektiven Freiheit etwa in 10/331, § 538: Gesetze als „Inhaltsbestimmungen der objektiven Freiheit“, das heißt als eine objektive Struktur, auf deren Grundlage sich Freiheit allgemein entfalten kann, vgl. dazu noch unten 1.3. Auf die weitere Verbindung dieses

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Darin soll aber auch der Einzelne mit seinen Interessen, Bedürfnissen und Neigungen in sein Recht gesetzt werden, wie Hegel in entschiedener Abgrenzung gegen die Polis-Philosophie der Antike, insbesondere gegen Platon und Aristoteles, nicht müde wird hervorzuheben. Diese Philosophie, so analysiert er, kannte nur das Allgemeine und das Ganze und sah den Einzelnen nur als Glied dieses Allgemeinen, während das Prinzip der subjektiven Freiheit gar nicht vorkam, noch ganz außerhalb der Vorstellungskraft stand. Dass demgegenüber Menschen „aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen Überlegung einen Entschluss aus sich fassen, sich danach bestimmen“, dass „Freiheit des Gewissens herrscht“ und „jedes Individuum“ fordern kann, „für seine Interessen sich ergehen zu können“, dass überhaupt der Einzelne „im formalen Recht“ der Allgemeinheit des Staates entgegenstehen kann: diese Erkenntnis sieht Hegel erst in späterer Zeit und namentlich durch das Christentum in die Welt gebracht.10 In dem daraus resultierenden „Mangel der Subjektivität“ sieht Hegel dementsprechend den entscheidenden Mangel der griechischen Philosophie überhaupt.11 Im Unterschied dazu hat seine eigene Philosophie die subjektive Freiheit, verstanden als die „Besonderheit des Subjekts“ und ihr Recht, „sich befriedigt zu finden“, zu ihrem Fundament und ihrem Ausgangspunkt.12 Was konstituiert aber diese subjektive Freiheit, wie ist sie näherhin ausgestaltet? 1.1. Die Rolle und den Status des Einzelnen entfaltet Hegel in verschiedenen, die Kapiteleinteilung der Rechtsphilosophie übergreifenden Zusammenhängen. Jene Einteilung ist dem dialektischen Grundansatz geschuldet, wie er in der Logik entwi-

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Freiheitsbegriffs zur Hegelschen Philosophie des Geistes kann demgegenüber im Folgenden nur andeutungsweise eingegangen werden; für eine ausführliche Darstellung siehe jetzt Binkelmann 2007, S. 181 ff., 193 ff. 19/113 ff.; ferner u.a. 7/ 341, § 185; 7/406, § 260; 7/ 410, § 262 Z; 10/301, § 482 A; speziell zum Verhältnis von Staatsidee und christlicher Religion bei Hegel Böckenförde 1991a, S. 121 ff. – Ob und inwieweit, wie darin anklingt, die moderne Freiheitsidee wie auch die Menschenrechte auf christliches Gedankengut oder gar die biblische Offenbarung zurückzuführen sind, ist eine alte, hier nicht näher zu diskutierende Streitfrage, vgl. dazu nur Dreier 2004, Vorb. Art. 1, Rn. 3 ff. m.w.N.; immerhin hätte es, wie man etwas ketzerisch angemerken kann, dann nahezu 2000 Jahre gedauert, bis man die Menschenrechte aus dieser Offenbarung herausgelesen hätte. Hegel selbst zeigt sich in der Rückführung der Freiheitsidee auf das Christentum aber eben nicht nur als Philosoph, sondern wesentlich auch als der Theologe, der er von Hause aus auch war, vgl. – diesen Gesichtspunkt stark hervorhebend – Röd 1996, Bd. 2, S. 247 ff. 19/129. Diese als eine von vielen Definitionen in: 7/233, § 124 A, dort auch als „Prinzip der Besonderheit“ und erneut auf das Christentum zurückgeführt. Der Begriff des Subjekts wird bei Hegel daneben auch noch in einer spezielleren Bedeutung verwendet, die auf den einzelnen als moralisches Wesen zu beziehen ist, vgl. dazu 7/348, § 190 A; er ist aber an der zitierten Stelle, wie die unmittelbar nachfolgenden Zeilen zeigen, in der allgemeinen, auch heute üblichen Verwendung zugrundegelegt.

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ckelt wurde und auch für die Rechtsphilosophie zugrunde gelegt ist; er zielt innerhalb der Rechtsphilosophie auf die Darstellung der Entwicklung des freien Willens hin zu einer objektiven, all ihre Momente und Gegensätze in sich vereinigenden Freiheit. In diesem Sinne können die beiden ersten Kapitel „Recht“ und „Moralität“ gelesen werden als Hegels Auseinandersetzung mit zwei zu seiner Zeit bereits machtvoll entwickelten Freiheitskonzepten, deren erstes den Menschen in erster Linie als Träger von Rechten, also als abstrakte, aller Individualität entkleidete Rechtsperson erfasst, während das zweite ihn als moralisches, nach seinen je individuellen Vorstellungen über das Richtige und Falsche handelndes Wesen in den Blick nimmt. Beide werden dann zum Ausgleich gebracht und aufgehoben in der menschlichen Gemeinschaft, die Hegel als eine Stufenfolge von Familie – bürgerlicher Gesellschaft – Staat entfaltet; dies geschieht im Abschnitt über die „Sittlichkeit“, dem dritten Teil und der Synthese des Ganzen.13 Vom Recht des Einzelnen ist in allen diesen Zusammenhängen die Rede, so dass es auch nur in deren Zusammenschau erschlossen werden kann, und zwar als ein Bündel von Ansprüchen und Bezügen, in denen sich die individuelle „Besonderheit“ als zusammenfassende Bezeichnung dieses Rechts entfalten darf. In diesem Sinne sind umfasst und eingeschlossen: die – zu Hegels Zeit keineswegs selbstverständliche – allgemeine Rechtsfähigkeit aller Menschen, die in diesem Sinne als „Personen“ anzuerkennen sind;14 daneben, als „äußere Sphäre der Freiheit“, die Rechte des Habens und Besitzergreifens von Gegenständen einschließlich des eigenen Körpers, der Arbeitskraft, geistiger Leistungen etc., die von Hegel unter den Sammelbegriff des „Eigentums“ gefasst werden;15 an diese Stellung als Eigentümer anknüpfend die Möglichkeit, mit anderen in Beziehung zu treten und mit ihnen Verträge zu schließen, als zentrale Kategorie des Privatrechts;16 sodann das – allerdings durch die Forderung nach Objektivierbarkeit in sich vielfältig eingeschränkte und zurückgenommene – Recht, „nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe“ als das „höchste Recht des Subjekts“, in heutiger Terminologie also eine zumindest basale Glaubens- und

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Hegel selbst erläutert diesen Aufbau in Paragraph 33 der Rechtsphilosophie, vgl. 7/87, § 33; die obige Deutung lehnt sich an Ilting 1975, S. 54 und S. 60 sowie Honneth 2001, S. 35 ff. an, die beide allerdings ansonsten den Zusammenhang zur „Logik“ zu vermeiden suchen. 7/93 ff., § 35 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Hegels Eintreten für die Emanzipation der Juden: „Das dagegen erhobene Geschrei“ übersehe, „daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist (§ 209 Anm.) […]“ (7/421 Fn., § 270 A). 7/102 ff., §§ 41 ff.; zur Ausweitung des Sachenbegriffs 7/104, § 43; zur Ausweitung des Eigentumsbegriffs z.B. 7/122, § 57: Durch „die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes“ nimmt sich der Mensch „in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere“; zusammenfassend zu diesem Hegelschen Eigentumsbegriff Ritter 1969, S. 256 ff. 7/152 ff., §§ 71 ff.; siehe dazu etwa Landau 1975.

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Gewissensfreiheit;17 ferner die Freiwilligkeit der Gründung von Ehe und Familie sowie des Beitritts zu den Korporationen;18 schließlich die Freiheit des Marktbürgers als Möglichkeit der Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr, wie sie in der als „System der Bedürfnisse“ vorgestellten bürgerlichen Gesellschaft näher entwickelt und ausformuliert ist.19 Hier, im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft, ist auch der Ort, an dem Hegel die verschiedenen Auffächerungen der individuellen Freiheit erstmals zusammenfasst und zugleich in ihrer wechselseitigen Verflochtenheit und der Abhängigkeit von den Freiheiten anderer Personen sichtbar macht. In diesem Sinne gehört es zu den konstituierenden Momenten der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie „der Besonderheit das Recht [erteilt], sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen“, und ihren Bürger dadurch den Status als „Privatpersonen“ gibt, „welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zweck haben“.20 Im Ergebnis macht dann erst die Vielzahl seiner Rollen und Bedürfnisse den ganzen Menschen aus, wie Hegel in Paragraph 190 seiner Rechtsphilosophie resümierend feststellt: „Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois)“, als welches er ein Recht auf Entfaltung hat.21 Abgerundet wird diese umfassende Rechtsstellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft schließlich durch einen Anspruch auf „Sicherung der Subsistenz“, den das Individuum als ein „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“ gegen diese hat und der sich bei unverschuldeter Armut aktualisiert: In diesem Falle hat, wie Hegel schreibt, die „allgemeine Macht“ die „Stelle der Familie“ zu übernehmen und sowohl helfend als auch beaufsichtigend einzugreifen22 – ein frühes, von Liberalen des 19. Jahrhunderts oft als sozialistisch kritisiertes Plädoyer für eine soziale Grundsicherung, an die ein späte-

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7/245, § 132; die Einschränkungen in 7/254 ff., § 137 f., diese wieder abgemildert durch die Forderung nach Toleranz im religiösen Bereich, vgl. 7/415 ff., § 270 A; dazu instruktiv Böckenförde 1991a, S. 135 ff. Vgl. 7/310 f., § 162; zu den Korporationen 7/410, § 262 Z und 7/464, § 297; siehe ferner noch unten 2.3. 7/339 ff., §§ 182 ff. 7/340, § 184 und 7/343, § 187; zur weiter darin angesprochenen Vermittlung mit der Allgemeinheit siehe unten 2.2. 7/348, § 190 A. Die Zitate aus Hegel 7/382, § 230 ; 7/386, § 238; 7/388, § 241; der Gesamtkomplex in 7/387 ff., §§ 240 ff. In der Sache mischen sich hier ein individuell-karitatives und ein politisch-instrumentelles Motiv; gedacht ist die Forderung nach „Subsistenz“ insbesondere als Vorbeugung gegen die Entstehung des „Pöbels“, bei dem zur materiellen die geistige Armut als Verlust der Selbstachtung und der Identifikation mit der Gemeinschaft hinzutritt, vgl. 7/389, § 244. Schwer vereinbar damit aber der Hinweis auf das Vorbild in Schottland, „die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und auf den öffentlichen Bettel anzuweisen“ (7/390 f., § 245 A).

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rer Theoretiker des Sozialstaats wie Lorenz von Stein anknüpfen sollte, indem er die Lösung der sozialen Frage zur Überlebensfrage des Staates überhaupt erhob.23 1.2. Als Teil, wenn auch nicht das Ganze der umfassenderen Idee der Freiheit, gehört die so aufgefächerte und in sich nach ihren verschiedenen Bezugspunkten gegliederte subjektive Freiheit wie diese selbst der geistigen Sphäre, der VernunftWelt oder Vernunft-Wahrheit, an. Sie bedarf daher der Verwirklichung, ihrer Entfaltung in die Zeit und in die gegenständliche Welt hinein, so wie es dem von Hegel angenommenen inneren Zusammenhang von Begriff, Existenz und Idee entspricht. 24 Der Begriff meint danach das wahre, vernünftige Wesen der Wirklichkeit, das von sich aus darauf drängt, in dieser Gestalt anzunehmen, und beides, der Begriff einerseits und seine Verwirklichung andererseits, bildet das, was Hegel als „Idee“ bezeichnet. Das Recht der Individuen, „sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen“, kann daher der Wirklichkeit nicht als eine abstrakte Forderung gegenüber gestellt werden, sondern muss in den Verhältnissen selbst, als Ausdruck der vernünftigen Wirklichkeit, eine Stütze finden, darin abgesichert und enthalten sein. Dies geschieht zunächst dort, wo die jeweiligen Rechte ihren Ort haben, also in den konkreten Lebensordnungen der bürgerlichen Gesellschaft, in der Familie, den Ständen und dem Gewerbe, in den Sitten und Gebräuchen, in die sie immer schon institutionell eingelassen sind. Es geschieht aber wesentlich auch durch das Recht, die Gerichte und – ergänzend – die Verwaltung, wie Hegel in den Abschnitten über die „Rechtspflege“ und die „Polizei- und Korporation“ darlegt.25 Vor allem dem Recht kommt dabei die Funktion zu, den Freiheitsraum des Subjekts nach seinen verschiedenen Richtungen hin abzustecken und innerhalb der äußeren Welt zu befestigen: indem es etwa das Eigentum und die Persönlichkeit schützt, Handlungsformen für den Verkehr der Individuen untereinander bereitstellt, die Möglichkeit gibt, die Gerichte anzurufen;26 insbesondere die als System der Bedürfnisse konstituierte bürgerliche Gesellschaft könne, schreibt Hegel, im Ergebnis „gar nicht bestehen ohne das Recht“.27 Dazu darf das Recht nicht lediglich als Gewohnheits- oder Juristenrecht existieren, sondern muss als positives Recht förmlich gesetzt und öf23 24 25 26 27

Stein 1959, Bd. 3, S. 37 ff., insb. S. 41, ferner S. 195 ff.; zu dieser Verbindungslinie Schnädelbach 2000, S. 344; stärker die Unentschiedenheit des Hegelschen Ansatzes betonend dagegen Hösle 1998, S. 550 ff.; Avineri 1976, S. 183 f. Gedrängte Zusammenfassung: 7/29, § 1 A. 7/360 ff., §§ 209 ff.; 7/382, §§ 230 ff. Wobei der ältere Begriff der „Polizei“ als Synonym für die gesamte innere Verwaltung steht. 7/360, § 208, 7/371, § 218 und 7/382, § 230: Schutz von Eigentum und Persönlichkeit; 7/375, § 221: Rechtsschutz vor Gericht. Hegel 1983a, S. 168; anschaulich zur Funktion des Rechts als Sicherung der individuellen Freiheit Bogdandy 1989, S. 67 ff.

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fentlich bekannt gemacht sein.28 Hegel distanziert sich hier von der zu seiner Zeit einflussreichen, von Savigny angeführten Historischen Rechtsschule, die dem Gesetzgeber die Befugnis zu eigenständiger Formung des Rechts absprach, und stellt sich im sogenannten Kodifikationsstreit ausdrücklich auf die Seite derer, die wie Thibaut ein bürgerliches Gesetzbuch für Deutschland forderten, so wie es Frankreich mit dem Code civil vorgemacht hatte: In der rationalen, transparenten Ordnung der Kodifikation sah Hegel die beste Voraussetzung für die Verwirklichung der philosophisch entwickelten Rechtsinstitute.29 Verbindlichkeit gewinnt das Gesetz so erst durch den Akt seiner Setzung, durch den es überhaupt erst von den Bürgern als gültig gewusst werden kann, und nur in diesem allgemeinen Gewusstwerden kann das Recht seiner Aufgabe, die Freiheit der Einzelnen zu realisieren, gerecht werden. 1.3. Wenn Hegel die Sicherung der individuellen Rechte in dieser Weise dem positiven, gesetzten Recht zuweist, ist damit nach heutiger Terminologie nur das einfache Recht gemeint, also etwa das bürgerliche Recht, das Handelsrecht, das Strafrecht, das Polizei- und Gewerberecht. Zu einer spezifisch grund- oder gar menschenrechtlichen Absicherung im modernen Sinne dringt Hegel dagegen nicht vor, ebensowenig wie er sich die Forderung nach einer geschriebenen Verfassung zu eigen macht, an die alle staatliche Gewalt gebunden sein soll.30 Zwar weist er an verschiedenen Stellen durchaus auf die Gefahren hin, die etwa aus einem Hang der Verwaltung zu Perfektionismus und Überregulierung resultieren können; auch die Möglichkeit von Willkür durch die Mächtigen wird nicht ausgeblendet.31 Aber es gibt in seinem Staat keine Instanz, an die sich der Bürger wenden könnte, um einen solchen Machtmissbrauch abzuwehren, und schon gar nicht können Akte des Gesetzgebers selbst darauf kontrolliert werden, ob sie mit der individuellen Freiheit vereinbar sind. Dies ist oft als ein Defizit des Hegelschen Entwurfs kritisiert worden.32 Demgegenüber ist allerdings zu sehen, dass sich innerhalb dieses Entwurfs das Problem, auf das ein System einklagbarer Grundrechte zu reagieren hätte, erst gar nicht stellte. Denn wenn Hegel auch – gegen Savigny und die Historische Rechtsschule – darauf be28 29

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7/361, §§ 211 ff. Hegels Stellungnahme ist – ohne die namentliche Erwähnung der Antipoden Savigny und Thibaut – enthalten in: 7/361 ff., § 211 A und 7/368, § 215 f. Die Grundpositionen als solche finden sich in den Schriften „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“ von A.F. Thibaut und „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ von F.C. Savigny, beide jetzt in Thibaut/Savigny 1973. Vgl. 7/432, § 272 ff. Vgl. 7/383 f., § 234 Z: „Durch diese Seiten der Zufälligkeit und willkürlichen Persönlichkeit erhält die Polizei etwas Gehässiges. […] Sie kann bei sehr gebildeter Reflexion die Richtung nehmen, alles Mögliche in ihr Bereich zu ziehen, denn in allem lässt sich eine Beziehung finden, durch die etwas schädlich werden könnte.“ Siep 1992, S. 305; Schnädelbach 1997, S. 260 f.; Schnädelbach 2000, S. 343.

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harrte, dass das Recht, um wirksam zu werden, gesetzt sein müsse, so bedeutet das andererseits nicht, dass der Gesetzgeber darüber beliebig verfügen könnte.33 Das Recht gründet vielmehr in den vorgefundenen gesellschaftlichen Strukturen, auf die der Gesetzgeber Rücksicht nehmen muss und denen er seine Gesetze anzupassen hat, Strukturen, wie sie sich aus dem jeweiligen Nationalcharakter, der Stufe der geschichtlichen Entwicklung und den vernünftigen Verhältnissen ergeben.34 Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, wie Hegel sie beschrieb, waren diese Strukturen wesentlich durch das Prinzip der Freiheit und ihre verschiedenen Entfaltungsweisen geprägt, also durch Rechtspersönlichkeit, Eigentum, marktförmige Beziehungen, das Streben nach dem je eigenen Glück, und die Gesetze legen davon Zeugnis ab, müssen dies auch tun, wenn sie nicht bloß Ausdruck von Gewalt und Tyrannei sein wollen.35 In Recht spiegelt sich so eine Vernünftigkeit, die in den Verhältnissen selbst angelegt war. Gesichert waren die Rechte des Einzelnen dann vor allem durch ihre Einbettung in die je und je vorhandene, geschichtlich gewachsene und in den Überzeugungen der Bürger verankerte konkrete Lebensordnung, als die insgesamt freiheitlichen Verfasstheit einer Gesellschaft insgesamt; diese Sicherung hielt Hegel für wirksamer als den Schutz durch eine für ihn abstrakt bleibende Kategorie der Grund- und Menschenrechte.36 Schwerer ins Gewicht fällt demgegenüber aus heutiger Sicht das weitgehende Fehlen demokratischer Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte in Hegels Entwurf, wie es aus seiner Ablehnung der Idee der Volkssouveränität und seinem Votum für die konstitutionelle Monarchie als beste aller Staatsformen resultiert. Solche Mitwirkungsrechte bestehen für den Einzelnen nur vermittelt über seine Zugehörigkeit zu einem Stand im Rahmen der an der Gesetzgebung beteiligten Ständeversammlung, dagegen nicht als Individuum.37 Aber auch dies bedeutet in Hegels Vorstellung vom Recht keine Fremdbestimmung, weil die Gesetze, die der subjektiven Freiheit Schranken setzen, als „Inhaltsbestimmungen der objektiven Freiheit“ selber nur die Art und Weise in sich aufnehmen, in der die Bürger in freie Beziehungen zueinander treten, und insofern nicht zuletzt durch „alle Tätigkeit und

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Zutreffend Bogdandy 1989, S. 110. 7/34, § 3. Vgl. 7/34 f., § 3 A: „Dass Gewalt und Tyrannei ein Element des positiven Rechts sein kann, ist demselben zufällig und geht seine Natur nicht an.“ Das Problem liegt dann eher darin, dass Hegel zusammen mit dem Fehlen eines einklagbaren Systems der Grundrechte keine „Konflikttheorie“ für den Fall präsentiert, dass die Gesetze den von ihm formulierten Anforderungen nicht entsprechen, vgl. erneut Bogdandy 1989, S. 91 f. Vgl. 7/468 ff., § 301 f. Dass sich Hegels Entwurf durchaus in eine demokratische Richtung fortschreiben lässt und bereits von der Anlage her der Einzelne nicht nur „Objekt instrumentaler Staatsgestaltung“ ist, sondern tendenziell in eine „Subjektstellung“ einrückt, betont Pauly 2000, S. 391 m.w.N.

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Privatsorge der Einzelnen hervorgebracht“ sind.38 Sie sind so gesehen lediglich die Reflexionsformen der Handlungen dieser Einzelnen, in denen diese sich mit ihren grundlegenden Freiheitsinteressen aufgehoben fühlen dürfen.

2. Rolle des Staates Mit diesen Überlegungen ist zugleich der Grund betreten für die Entfaltung der Rolle und Bedeutung, die dem Staat im Verhältnis zum Einzelnen in Hegels Philosophie zukommt. Sie liegt zunächst ganz allgemein darin, dass sich die so konstituierte und inhaltlich bestimmte Subjektivität nach Hegels fester Überzeugung nur im Staat und den durch ihn rechtlich geordneten Verhältnissen entfalten kann, überhaupt ohne ihn gar nicht existiert. In diesem Ausgangspunkt unterscheidet sich Hegel markant von den Naturrechtslehren vorausgegangener Epochen, die im Menschen ein von Natur aus freies Wesen und im gesellschaftlichen bzw. staatlichen Zustand folgerichtig nur eine Beschränkung seiner Freiheit erblickt hatten, die dann gegenüber einem imaginären Naturzustand zu rechtfertigen war.39 Ihm selbst erscheint dieser Naturzustand demgegenüber geradezu als das Gegenteil der Freiheit, weil in ihm an deren Stelle das Recht des Stärkeren getreten ist; es sei, schreibt er, „ein Zustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts, von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als dass aus ihm herauszugehen ist“.40 Die Freiheit könne deshalb erst im Staat erworben und gewonnen werden, der den Trieben, der Begierde und der individuellen Willkür zu diesem Zweck Schranken setze; eine solche Beschränkung sei überhaupt erst die „Bedingung, aus welcher die Befreiung hervorgeht“.41 Der Staat selbst ist darin für Hegel allerdings nicht nur ein äußerer Rahmen der Freiheit, als ein Apparat und Organisationsgefüge, mit dessen Hilfe die verschiedenen individuellen Freiheiten koordiniert und in ein geordnetes, formales Nebeneinander gebracht werden, wie sein ewiger Widersacher Kant angenommen hatte.42 Über einen solchen Rahmen hinaus zielt seine eigene Vorstellung vom Staat

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10/331, § 538. Klassisch etwa Rousseau 1995a, S. 61: „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen sein, und ist ein größerer Sklave als sie. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen?“ 10/312 § 502 A. 12/58 f. Vgl. Kant 1968, Bd. 8, S. 431: Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“; S. 337: das Recht seinerseits als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. Hegel selbst beschreibt – allerdings ohne direkte

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vielmehr auf eine tiefere Verschränkung von Einzelnem und Allgemeinem, von subjektiver und objektiver Freiheit, wie sie in seiner Formel vom Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ zum Ausdruck gebracht ist.43 Was führt Hegel zu dieser Verschränkung, und wie stellt sie sich in ihren Wirkungen für die individuelle Freiheit dar?

2.1. Für Hegel ist die Idee der Freiheit nicht vollständig verstanden, wenn sie nur auf den subjektiven Willen, die Willkür im Sinne eines freien Beliebens, zurückgeführt wird und diesen zum Prinzip hat. Als solcher bleibt der Wille formal, äußerlich, ohne haltende Orientierung im Geistigen; er ist „eine ganz formelle Bestimmung, in der gar nicht liegt, was er will“.44 Eine Gesellschaft und ein Staat, die darauf – und nur darauf – gründen, öffnen sich damit ganz dem individuellen Zweckkalkül ihrer Mitglieder, das sich indessen wahllos in verschiedene Richtungen wenden kann, so wie auch sie selbst nicht als Verbindend-Gemeinsames begriffen werden, sondern nur als Mittel zur Verfolgung des je eigenen Interesses, von dem man sich abkehrt, wenn man dieses Interesse anderweitig besser aufgehoben sieht: Es ist dann „etwas Beliebiges […], Mitglied des Staates zu sein“.45 Ein solches Gebilde bleibt deshalb für Hegel notwendig instabil, beständig in Gefahr, in Anarchie abzugleiten, und der äußeren wie inneren Desintegration ausgesetzt. Die äußere Desintegration sieht Hegel, die Analysen von Karl Marx vorwegnehmend, dabei in der wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheit angelegt, die aus der Verfolgung der je individuellen Interessen angesichts ungleicher Ausgangsbedingungen resultiert. Die Gesellschaft spaltet sich dadurch in Arm und Reich, in die Klassen der Besitzenden und Nichtbesitzenden, von denen die einen immer weitere Reichtümer anhäufen, die anderen in Abhängigkeit und Not fallen; beide verlieren dabei auf ihre Weise das Gefühl für Recht und Rechtlichkeit.46 Die äußere geht so gleitend über in eine innere Desintegration, die durch zwei weitere, auch als selbständige Tendenzen hervortretenden Defizite eines abstrakt bleibenden individuellen Freiheitsverständnisses noch verstärkt wird. Zum einen tendiert ein solches Verständnis von sich aus dazu, alle sozialen Beziehungen in den Kategorien von Rechtsansprüchen zu erfassen, die dann, je stärker man auf ihnen beharrt, von sich aus die Bande der Sympathie, der Zuneigung oder der Freundschaft unter den Menschen unterminieren.47 Im Recht sind so

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zugnahme auf Kant – dieses System als den „äußeren Staat“ bzw. „Not- und Verstandesstaat“ (7/340, § 183), vgl. noch unten 2.2. 7/398, § 257; 7/406, § 260. 12/67. 7/399, § 258 A; ähnlich 7/338, § 181; 7/343, § 187. 7/389, § 243 f.; ferner 7/341, § 185. Vgl. 7/96, § 37 Z; ferner in der Kritik am Vertragsmodell der Ehe 7/157, § 75; 7/313, § 163; hier in der Deutung von Honneth 2001, S. 58 ff.

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alle Beziehungen versachlicht und entpersonalisiert, damit aber auch ihrer verbindenden Kraft entkleidet.48 Zum anderen ist es gerade die vollständige Inhalts- und Sinnleere der Freiheit, die der Desintegration Vorschub leistet, weil sie zugleich bedeutet, dass es an jeder Vorgabe für den richtigen und angemessenen Gebrauch dieser Freiheit fehlt; ohne inneres Regulativ bleibt die Freiheit in der Folge ohne Richtung und Ziel, beständig in Gefahr, sich im Entlegenen und Abseitigen zu verlieren.49 In der bloß individuellen Freiheit sind so verschiedene Pathologien angelegt, die am Ende die gesellschaftliche und staatliche Ordnung zerstören könnten, auf die sie zu ihrer Entfaltung angewiesen ist.50

2.2. Soll die individuelle Freiheit ihren Pathologien nicht erliegen, muss sie für Hegel rückverankert sein in sozialen, intersubjektiven Strukturen und Praktiken, aus denen erst die Maßstäbe für ihre Ausübung gewonnen werden können. Zu diesen Strukturen gehören auf der untersten Stufe Ehe und Familie als das erste „unmittelbare sittliche Verhältnis“, sodann die marktförmigen Austauschverhältnisse der bürgerlichen Verkehrsgesellschaft, in denen jeder einzelne für die Verfolgung seiner Zwecke auf andere angewiesen ist, schließlich die Stände und Korporationen, in die die bürgerliche Gesellschaft gegliedert sein muss und in denen sich der Einzelne als Glied einer Gemeinschaft, als Teil eines höheren Ganzen erfährt.51 In all diesen Sphären bleibt aber nach Hegels Auffassung die geistig-ethische Orientierung aus je verschiedenen Gründen noch defizitär oder unvollständig: in den Familien und den Korporationen, weil diese zuletzt doch nur auf sich selbst bezogen, damit aber in ihrer Orientierung auf das Allgemeine unvollkommen bleiben; in den Austauschbeziehungen der bürgerlichen Marktgesellschaft, weil hier die Koordination auf der Stufe des Äußerlich-Zweckrationalen verharrt, von den Beteiligten nur instrumentell oder strategisch gedacht ist.52 Es bedarf deshalb einer weitergehenden Integration, in der sich das individuelle Nutzenkalkül mit einem Sinn für das Allgemeine, das Subjektive mit dem Objektiven verbindet. Dies geschieht in der Sphäre der „Sittlichkeit“, die für Hegel mit dem Staat gewonnen ist. In ihm soll nun „die Freiheit zu ihrem höchsten Recht“ kommen, und zwar gerade dadurch, dass er einerseits der 48 49 50 51 52

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Zu dieser Versachlichung Ritter 1969, S. 266 ff. (insb. Ziff. 7). Das ist die Quintessenz der Hegelschen Kritik an der Morallehre Kants, wie sie erstmals in 2/460 ff. ausgearbeitet ist; wiederholt etwa in 7/252 f., § 135 A und Z. Zusammenfassend zu diesen „Pathologien“ Honneth 2001, S. 49 ff., der in einer gelungenen Wendung von einem „Leiden an Unbestimmtheit“ spricht. 7/309 ff., §§ 161 ff.; 7/339 ff., §§ 182 ff.; 7/354 ff., §§ 201 ff.; 7/393 ff., §§ 250 ff.; die spezifisch „sittliche Wurzel des Staats“ sieht Hegel dabei allein in der Familie und der Korporation, vgl. Hegel 7/396, § 255. Vgl. 7/396 ff., §§ 255 f. (zur Familie und den Korporationen); ferner 7/339 ff., §§ 182 ff., (zur bürgerlichen Gesellschaft).

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Subjektivität und Besonderheit der Einzelnen Raum gibt, andererseits diese Subjektivität und Besonderheit in einer gemeinsamen Lebens- und Daseinsform rückbindet und darin erhält.53 Der Begriff des „Staates“ muss dafür aus seiner juristischtechnischen Beschränkung auf den bloßen Ämter- und Herrschaftsapparat – den, wie Hegel sagt, „äußeren Staat“ bzw. „Not- und Verstandesstaat“54 – gelöst und in einem weiteren Sinne verstanden werden; er ist nichts anderes als der Inbegriff dieser Lebens- und Daseinsform, die die gesamte geistige, moralische und kulturelle Existenz eines Volkes umfasst: kein äußeres, den Bürgern in einzelnen Ge- und Verboten gegenübertretendes Gebilde, sondern der innerliche oder geistige Anerkennungs-, Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang dieser Bürger selbst; ein Ensemble von historisch gewachsenen, rational geprägten Handlungsgewohnheiten, Welthaltungen und Lebensstilen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind und als gemeinsames Grundgefühl intuitiv und gewohnheitsmäßig gewusst werden. Erst diese Rückbindung in einem übergreifenden lebensweltlichen Zusammenhang, wie er im „Staat“ zusammengefasst ist, bietet die Gewähr dafür, dass auch die individuelle Freiheit auf Dauer bewahrt werden kann: „Das Prinzip der modernen Staaten“, heißt es zusammenfassend, „hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten“.55 2.3. Im Hegelschen Staat durchdringt sich so das Besondere mit dem Allgemeinen; es gehört zu seinem Wesen, dass das Allgemeine „betätigt sein, aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden“ muss, wie Hegel in zahllosen, nur geringfügig variierten Wendungen nicht müde wird zu betonen.56 Demgegenüber bleibt jedoch die Frage zurück, ob das Individuum in dieser Zusammenführung am Ende nicht doch Gefahr läuft, auf einen bloßen Funktionsträger des sittlich Allgemeinen reduziert zu werden, von dessen Freiheit dann wenig übrig bleibt, wie es Hegel bis heute vorgeworfen wird.57 Sie ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits finden sich bei Hegel neben der gebetsmühlenhaften Beschwörung der Subjektivität auch eine Reihe von Aussagen, die eher in die entgegengesetzte Richtung weisen und durchaus den Eindruck erwecken, als bestimme nicht der Einzelne selbst über den Inhalt seiner Freiheit, sondern als werde dieser Inhalt umge53 54 55 56 57

7/399, § 258 mit A; ferner 7/406 f., § 260. 7/340, § 183. 7/406, § 260. 7/407, § 260 Z; vgl. ferner 7/407 ff., § 261; 7/411 f., § 264; 7/412, § 265 mit Z; 7/413 f., § 268, 7/415 ff., § 270 etc. Statt vieler Schnädelbach 2000, S. 346; für die Gegenposition Haase 2004, S. 301 ff.

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kehrt von den Anforderungen der Allgemeinheit her bestimmt, so dass die Beschwörung als solche etwas Formelhaftes bekommt. „Die Hauptsache ist, dass die Freiheit, wie sie durch den Begriff bestimmt wird, nicht den subjektiven Willen und die Willkür zum Prinzip hat, sondern die Einsicht des allgemeinen Willens“, heißt es in diesem Sinne etwa in der Philosophie der Geschichte.58 Auch die von Hegel als notwendig angesehene ständisch-korporative Gliederung des Staates sowie seine verschiedenen Stellungnahmen zu den politischen Freiheiten – etwa zur Pressefreiheit – sind nicht eben dazu angetan, die dadurch genährten Befürchtungen zu zerstreuen.59 Andererseits verdient Beachtung, dass Hegel bei allem, was er schreibt, an der Vorstellung eines Innenraums der menschlichen Freiheit festhält, den der einzelne ganz für sich hat und in den durch äußeren Zwang nicht eingegriffen werden darf. Auch der Anspruch des Staates als Verkörperung der „Sittlichkeit“ findet hier seine Grenze. Es scheint dies geradezu ein Grundzug des Hegelschen Denkens zu sein, der in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder hervorgeholt wird. Er tritt bereits in der Frage der Zugehörigkeit zu den Ständen und Korporationen hervor, für die nicht wie vordem Geburt und Abkunft, sondern das Prinzip der individuellen, von niemandem zu beeinflussenden Wahl bestimmend sein soll.60 Er durchzieht daneben die Auffassung vom Sinn des staatlichen Strafens, die in ihrem heute oft als alttestamentarisch empfundenen Beharren auf der Vergeltung von Hegel gerade damit begründet wird, dass nur diese den Täter als Person achtet, seine in der Tat zum Ausdruck gebrachte Freiheit ernst nimmt: In der Vergeltung seiner Tat wird der Verbrecher „als Vernünftiges geehrt“, wohingegen in den verschiedenen Verhütungs-, Abschreckungs- und Besserungstheorien „der Mensch […] nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt“ wird, gegen den man den Stock erhebt.61 Und auch für das positive, formelle Gesetz hält Hegel ebenso wie vor ihm Kant daran fest, dass es nur das äußere Verhalten regeln darf und die individuelle Moral, überhaupt „das Innerliche“ seinem Zugriff ganz entzogen ist.62 Es bleibt so 58 59 60 61 62

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12/67; ähnlich: „Notwendig ist das Vernünftige als das Substantielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unseres eigenen Wesens folgen“ (12/57). Vgl. zur Pressefreiheit 7/486 ff., § 319, in eigenartiger Unentschiedenheit, jedenfalls aber in Absage an ein Verständnis als „Freiheit, zu reden und zu schreiben, was man will“. Vgl. 7/358, § 206; 7/410, § 262 Z; dazu Haase 2004, S. 331 f.; zusammenfassend Avineri 1976, S. 187 f.: Das Gesellschaftsbild ist die „offene, mobile Gesellschaft […], in der Unterschiede Fähigkeiten zum Ausdruck bringen und nicht ererbte Privilegien“. 7/178 ff., §§ 90 ff.; die Zitate aus 7/191, § 100 A; 7/190, § 99 Z; vgl. dazu Mohr 1997, S. 111 f. 7/366, § 213 Z; für Religions- und Gewissensfreiheit 7/422, § 270 A: „Sphäre der Innerlichkeit, die als solche nicht das Gebiet des Staates ausmacht“. Das entspricht der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität bzw. von Rechts- und Tugendpflichten, vgl. Kant 1968, Bd. 8, S. 324 und S. 347.

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zuletzt auch in seinem Staat ein Raum der persönlichen Gesinnung, der Bildung des Gewissens und der Überzeugungen, in dem der Einzelne ganz für sich ist und zu dem niemand Zutritt haben soll als er selbst.

3. Hegels Anfrage Die beiden Momente des Hegelschen Staates, die individuelle Besonderheit und die vernünftige Allgemeinheit, werden so zuletzt voneinander abgegrenzt und in ihr je eigenes Recht gesetzt; zugleich bleiben sie in sich aufeinander bezogen und angewiesen. Die Freiheit des Einzelnen erscheint in dieser wechselseitigen Zuordnung als eine vielfältig eingebettete und eingehegte Freiheit, eine Freiheit, die sich in bestimmten Bindungen erzeugt und in diese Bindungen hinein entfaltet: in den Beziehungen zu anderen, in einer entgegenkommenden Kultur und sozialen Praxis, in gemeinschaftlichen Lebensbezügen und auf dem Fundament bestimmter ethischmoralischer Hintergrundüberzeugungen. Gegen den heute vorherrschenden normativen Individualismus, der Staat und Gesellschaft vom isoliert gedachten Einzelnen und seiner Freiheit her entwirft,63 weist Hegel damit auf die Notwendigkeit einer lebensweltlichen Verankerung der Freiheit hin, die diese Freiheit einerseits erst ermöglicht, andererseits ihren Gebrauch auch inhaltlich vorprägt, ihr Richtung und Maß gibt.64 Die damit anvisierte Synthese von Freiheit und Bindung ist andeutungsweise erfasst und zugleich ihrerseits ins Normative gewendet in der bekannten Menschenbildformel des Bundesverfassungsgerichts, wenn es dort heißt, das Grundgesetz einschließlich der Grundrechte ziele nicht auf „das selbstherrliche Individuum“, sondern auf die „in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit“.65 Gerade diese Synthese ist allerdings seit geraumer Zeit von verschiedenen Seiten einem Belastungstest unterworfen, mit dem auch der Hegelsche Lösungsvorschlag wieder auf die Tagesordnung gesetzt ist. Dieser selbst erhält dadurch im Ergebnis den Charakter einer permanenten Anfrage an den normativen Individualismus, ob mit ihm die Stellung des Einzelnen im und zum Staat angemessen begriffen ist, und es ist diese Anfrage, der die Hegelsche Philosophie ihre bleibende Aktualität verdankt. Im vorliegenden Zusammenhang müssen dazu einige kursorische Bemerkungen genügen. 63 64

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Pfordten 2005, S. 1069 ff. Markant in diesem Sinne 7/298, § 150 A: „Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist.“ BVerfGE 45, 187 (227 f.); ähnlich die Formel aus BVerfGE 4, 7 (15 f.); seitdem st. Rspr.

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3.1. Eine erste Anfrage betrifft den Begriff und den Inhalt der Freiheit, der unserer Rechtsordnung zugrundeliegt. Ist diese Freiheit, wie es einem normativindividualistischen Ansatz entspräche, allein von ihrem einzelnen Träger und seinen subjektiven Zielen, Wünschen und Neigungen her zu verstehen, als ein formales, inhaltlich offenes Belieben, das nur diesen je wechselnden Zielen, Wünschen und Neigungen unterworfen ist? Oder wäre die Freiheit eingebunden in einen übergreifenden, objektiven Ordnungszusammenhang, auf den sie dann wie auch immer hinzuordnen wäre und aus dem sie dann auch inhaltliche Orientierung empfinge, wie es näher an Hegel läge? Für beide Deutungen finden sich Anknüpfungspunkte sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch in der sie begleitenden rechtswissenschaftlichen Diskussion. Einem Verständnis der Freiheit als subjektiver, inhaltlich entleerter Freiheit entspricht vor allem die Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit, also als das Recht, zu tun und zu lassen, was man will, dem gegenüber die im Text immerhin auch enthaltenen Vorbehalte des Sittengesetzes und der Rechte anderer praktisch bedeutungslos geworden sind.66 Beschränkungen können dann nur von außen an diese Freiheit herangetragen werden, durch das freiheitsbeschränkende Gesetz, aber sie gehen nicht in den Inhalt der Freiheit ein, bestimmen sie sachlich nicht mit. In diesem Sinne ist die Freiheit auch von allen weitergehenden Sozialitäts- und Rücksichtnahmepflichten entlastet; im Gegenteil kann von ihr gesagt werden, es mache gerade ihr Wesen aus, dass der Einzelne sich in einer Weise verhalten dürfe, die er selber als gedachter Teil der Allgemeinheit missbilligen würde.67 Für eine objektive, inhaltlich erfüllte Freiheit streitet demgegenüber vor allem die Deutung der Grundrechte als „Wertordnung“ oder „objektive Ordnung“, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil im Anschluss an die Verfassungslehre Rudolf Smends entwickelt hat.68 Die Freiheit erscheint darin als die Wertgrundlage des staatlichen Gemeinwesens, die die einzelnen als Teil eines geistigen Gesamtzusammenhangs in ihrer Ausübung realisieren und aktualisieren, ähnlich wie nach Hegel das Individuum seine Freiheit wesentlich hat und genießt, „indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist“.69 Sie wäre in diesem Sinne auf das Allgemeine hingeordnet und empfinge dann zumindest zum Teil auch von ihm her seine Bestimmung, so dass sie weitergehend vom Einzelnen als beherrschende Ordnungsidee auch innerlich anzuerkennen wä-

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Grundlegend BVerfGE 6, 32 ff. – Elfes; die Gegenposition im Minderheitsvotum Grimm, BVerfGE 80, 164 ff.; zur heutigen Bedeutungslosigkeit der Schranke des Sittengesetzes Dreier 2004, Art. 2 I Rn. 53 und 60. Isensee 1999, § 115 Rn. 224. BVerfGE 7, 198 ff.; Smend 1955, S. 260 ff. 12/55; vgl. parallel dazu Smend 1955, S. 136 u. 138.

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re.70 Dem entspricht, wie hier nur beiläufig notiert werden soll, eine Ebene tiefer heute eine praktische Politik, die in einem weit über Hegel hinausgehenden Ausmaß bestrebt ist, mit den Mitteln des Rechts auch dieses Innere der Bürger, ihre Einstellungen und Gesinnungen, zu erreichen und auf sie einzuwirken: im Akt des staatlichen Strafens, der den Täter wieder auf den rechten Pfad zurückführen soll, ihn also gleichsam von innen her neu programmieren soll; in der Schule und sonstigen Bildungseinrichtungen, die auch dazu da sind, das staatliche Wertesystem einschließlich solcher Werte wie Solidarität, Verantwortung oder Toleranz in den Köpfen zu verankern; im Umweltrecht, mit dessen Hilfe auch das Umweltbewusstsein der Bürger gefördert werden soll etc.

3.2. Die zweite kritische Anfrage an den normativen Individualismus ist gewissermaßen nur die Fortsetzung dieser ersten; sie betrifft nun den Staat, innerhalb dessen sich die so bestimmte Freiheit entfalten soll. Auch in Bezug auf ihn konkurrieren bis heute zwei unterschiedliche Deutungen, deren Verhältnis zueinander nicht als wirklich geklärt gelten kann. Vom Standpunkt eines normativen Individualismus aus erscheint der Staat als loser Zweckverband voneinander isoliert gedachter Einzelner, deren Freiheitsentfaltung er den äußeren Rahmen verbürgt; als solcher ist er nur das Mittel und notwendige Übel, um diesen die Verfolgung ihrer je individuellen Interessen zu ermöglichen: der „Not- und Verstandesstaat“ im Hegelschen Sinne; zusammengehalten nur durch „die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse“, wie Karl Marx ihn später beschrieben hat.71 Damit ist nicht notwendig geleugnet, dass der Staat auch auf einem weitergehenden Ethos, einem Mindestmaß an Bürger- oder Gemeinsinn oder überhaupt einer verbindenden Wertorientierung aufruhen kann, vielleicht sogar muss. Aber diese Orientierung geht erneut nicht in den Begriff des Staates ein; sie bildet vielmehr allenfalls eine äußere Voraussetzung seines Fortbestandes, zu der er sich nicht in irgendeiner Weise verhalten kann; er lebt dann eben nach dem bekannten Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, wenn er nicht seine Freiheitlichkeit aufgeben will.72 Demgegenüber sieht die andere Deutung im Staat nach wie vor und gerade unter der Geltung des Freiheitsprinzips ein irgendwie gemeinsames Unternehmen seiner Bürger, eine verbindende Lebens- und Daseinsform im Sinne eines geistigen Gesamtzusammenhanges, der gerade auf einem Bewusstsein der Zugehö-

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Vgl. statt vieler nur die klassische Analyse bei Böckenförde 1991b, S. 129 ff. In diesem Sinne setzt etwa die Einbürgerung, also die Aufnahme in den Staatsverband, heute ein Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung voraus, vgl. §§ 8, 10 StAG. Marx 1844, S. 366 f. Böckenförde 1991a, S. 112 f.

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rigkeit gründet.73 Gestellt ist damit die Frage nach den Grundlagen des staatlichen Zusammenhalts, der in den letzten Jahren durch die Vorgänge der Individualisierung, Fragmentierung und Ökonomisierung prekär geworden ist. Traditionelle vergemeinschaftende Milieus und Sozialformen – Ehe, Familie, Nachbarschaft, Kirche, Stand etc. – verlieren infolge dieser Vorgänge an Bedeutung, während gleichzeitig die verschiedenen Wertewelten ethischer, religiöser oder kultureller Art immer weiter auseinanderdriften; stattdessen setzen sich unter dem Eindruck eines globalen Standortwettbewerbs zusehends die Imperative einer wirtschaftlichen Rechenhaftigkeit durch, die auch dem Einzelnen immer mehr Mobilität und Flexibilität abverlangen. Zusammengenommen haben alle diese Entwicklungen wieder eine intensive Debatte über die geistig-moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft ausgelöst, in der im Grunde nur die alte Anfrage Hegels an den normativen Individualismus in neuformulierter Gestalt hervorgeholt wird.74 Sie könnte in Zukunft noch deshalb an Schärfe gewinnen, weil infolge der anhaltenden wirtschaftlichen Krise und im Kampf um zunehmend knappere Ressourcen auch in der Bundesrepublik in den letzten Jahren neue Interessengegensätze – Arm gegen Reich, Alt gegen Jung, Gesunde gegen Kranke, Männer gegen Frauen, Osten gegen Westen etc. – aufgebrochen sind, hinter denen immer wieder die Suche nach der verbleibenden, die Differenzen überwölbenden Gemeinsamkeit auftaucht. 3.3. Das Problem liegt dementsprechend aus heutiger Sicht weniger in der Hegelschen Frage; diese hat er schärfer formuliert als fast alle Denker vor ihm und die meisten nach ihm. Es liegt vielmehr in der Antwort, die er auf sie gegeben hat. Was Hegel unter dem Begriff der Sittlichkeit als innere, verbindende Substanz des Staates beschrieb, lag diesem im Wesentlichen als ein gegebenes Fundament voraus;75 es ergab sich aus den vorgefundenen, unverrückbar erscheinenden Ordnungsvorstellungen, tradierten und weitgehend intakten Sozialformen wie Familie und Stand, einem eingelebten, als natürlich empfundenen Patriotismus und einer weitgehenden ethnischen, religiösen und kulturellen Homogenität; möglicherweise war es auch die christliche Religion selbst, aus der Hegels Staat seinen letzten, ihn haltenden Grund bezog.76 All dies fand Hegel zu seiner Zeit in den Verhältnissen noch vor; es war fraglos gegeben und lag seinem eigenen Philosophieren so selbstverständlich 73 74 75 76

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Siehe etwa – ausdrücklich an Hegel anknüpfend – Pauly 2000; ferner Smend 1955. In diesen Zusammenhang gehören ferner die Auffassungen der amerikanischen Kommunitarier, hierzulande etwa die an Smend orientierte Verfassungslehre Peter Häberles etc. Siehe etwa die Beiträge in Honneth 1993; Teufel 1997; Lammert 2006; die Stichworte heißen Kommunitarismus, Leitkultur, Patriotismus etc., siehe dazu sogleich im Text. Vgl. Bogdandy 1991, S. 521: „vorausliegendes Einigsein der Individuen“; Horster 1992, S. 488. Dies die These von Böckenförde 1991a, S. 115 ff.

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zugrunde, dass es gar nicht näher ausgeführt zu werden brauchte, weil jeder wusste, wovon die Rede war. Es ist allerdings, wenn die Zeichen nicht trügen, gerade diese verbindende Substanz, die in Vorgängen der Individualisierung, Fragmentierung, Globalisierung und Ökonomisierung in Auflösung begriffen ist und heute weniger vorausgesetzt werden kann denn je zuvor. Es macht deshalb auch keinen Sinn, sie – als „Leitkultur“, als „Patriotismus“ oder was auch immer – von nun an einfach zu postulieren; schon gar nicht könnte das einigende Band der Gesellschaft unter den Bedingungen ethnisch-religiöser Pluralität künftig noch einmal in der Rückbesinnung auf die – christliche oder eine andere – Religion gefunden werden. Das Mindestmaß an gemeinsamen Wertorientierungen, auf die der Staat auch künftig angewiesen sein dürfte, müsste stattdessen heute stärker prozedural und dynamisch als inhaltlich-erfüllt und statisch gedacht werden: nicht als etwas immer schon fraglos Vorhandenes, sondern als eine Gemeinsamkeit, die gerade auf Pluralität und Differenz gründet und sich doch in Vorgängen wechselseitiger Freiheitsausübung und Akten kommunikativer Verständigung immer erst herstellt, zu der vielleicht auch wieder stärker – in der Schule, in den sonstigen öffentlichen Bildungseinrichtungen – erzogen werden muss. Auch in den Prozessen demokratischer Willensbildung könnten möglicherweise größere Potentiale für Gemeinschaftsbildung erschlossen werden, als es heute geschieht, und zwar insofern, als sich der Einzelne darin als Teil eines größeren Zusammenhangs, möglicherweise auch als Mitwirkender in einem gemeinsamen Projekt erfahren kann. Mit den verschiedenen Kommunikations- und Diskurstheorien, den Anregungen eines liberalen Kommunitarismus oder neueren Gerechtigkeits- und Intersubjektivitätskonzepten liegen dafür jeweils verschiedene Bausteine bereit, auf die hier zurückgegriffen werden könnte.77 Mit ihnen sind indes die Grundannahmen der Hegelschen Zuordnung von Einzelnem und Staat überschritten.78

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Vgl. etwa Habermas 1992; Brugger 1999, insb. S. 253 ff.; der Versuch einer Neubegründung von Intersubjektivität gerade im Anschluss an Hegel bei Hösle 1988 und Siep 1992. Vgl. insoweit auch Honneth 2001, S. 102 ff., der das Problem Hegels heute in einer „Überinstitutionalisierung der Sittlichkeit“ sieht.

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III. Hegels Konzeption der internationalen Beziehungen

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Sergio Dellavalle

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Hegels äußeres Staatsrecht: Souveränität und Kriegsrecht Über eine schwierige Verortung zwischen universaler Vernunft und einzelstaatlichem Ethos

1. Einleitung In einer Stellungnahme gegen den nationalstaatlich geprägten Widerstand gegenüber dem normativen Vorrang supranationalen Rechts ortet Christian Tomuschat eine solche Ablehnung als spätes Resultat von „längst für überwunden geglaubte[n] Theorien des 19. Jahrhunderts, die in der Nachfolge Hegel’scher Gedanken das Völkerrecht für ‚äußeres Staatsrecht’ hielten“.1 So gesehen erscheint Hegel als der Wendepunkt, der vom Projekt des „ewigen Friedens“ zum Vorrang des Nationalstaates führte. Unbestreitbar ist in der Tat, dass zwischen Immanuel Kant und Adolf Lasson – um nur einen, allerdings besonders prominenten und dezidierten Vertreter der nationalstaatlich zentrierten Rechtstheorie zu nennen – eine Zäsur stattgefunden hat. Diese betrifft, genau gesehen, nicht nur den Übergang des Völkerrechts von seiner ursprünglichen naturrechtlichen Grundlage zu einer positiv-rechtlichen Ausformung.2 Was sich geändert hat, ist vielmehr die Position des Völkerrechts im gesamten Rechts- und Sozialsystem und daher auch seine Funktion und sein Ziel. So schrieb Kant noch, dass „für Staaten, im Verhältnisse unter einander, [...] es nach der Vernunft keine andere Art geben [kann], aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden“.3

Diametral entgegengesetzt ist die Position von Lasson: „Nein, dieser Traum von einer Rechtsordnung über und zwischen den Staaten ist ein wüster und widersinniger Traum, aus der Feigheit und Sentimentalität geboren und nur durch den

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Tomuschat 1997, S. 73. Dieser Aspekt ist von Heinhard Steiger hervorgehoben worden. Vgl. Steiger 1997, S. 45. Kant 1968, Bd. 11, S. 212.

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Missbrauch der Werte und durch schwebende unklare Vorstellungen mit einem Schein von Realisierbarkeit und Vernünftigkeit umkleidet.“4

Umstritten bleibt allerdings die Rolle, die Hegel bei dieser Zäsur tatsächlich gespielt haben soll. Ist er wirklich – wie Tomuschat zu vermuten scheint – der Ziehvater der post-illuministischen Wende, die sich letztlich zu jenem systematischen Vorrang des Staatsrechts über das Völkerrecht und zu der beinahen „Annektierung“ des zweiten durch das erste entwickelte, welche das Rechts- und politische Denken bis zu der von Hans Kelsen herbeigeführten Revolution entscheidend prägte? Oder bleibt Hegel nicht vielmehr, einer Janus-Gestalt gleich, zwei Richtungen zugewandt, einerseits der Universalität der Aufklärung und andererseits deren Überwindung durch die Singularität des Staates? Ist seine Staatsauffassung tatsächlich so eng verwandt mit dem romantischen Gedanken des Nationalstaates? Oder entspricht sie nicht eher dem Versuch, die Unzulänglichkeiten des aufklärerischen Staats- und Völkerrechtsbegriffs aufzuheben, wenn auch in eine Richtung, die das Problem eher hypostasiert als löst?5 Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen wird Hegels Souveränitätsund Völkerrechtsverständnis hier nicht rein rechtswissenschaftlich, sondern als Teil einer breiteren Konzeption staatlicher und überstaatlicher Ordnung erfasst. Aus der Perspektive einer interdisziplinären Theorie sozialer Ordnung, zu der politische Philosophie und Rechtsphilosophie sowie Rechtswissenschaft und Politologie beitragen und in der sie sich auf Augenhöhe begegnen, werden Hegels Deutungen von Souveränität und Völkerrecht in seine allgemeine Sicht hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen eines geordneten Zusammenlebens sowohl innerhalb des Staates als auch in den Beziehungen zwischen den Gemeinwesen eingebettet. Dies vorausgesetzt, wird der erste Schritt der Untersuchung darin bestehen, die relevantesten Ordnungsauffassungen zu rekonstruieren, die vor seiner Zeit entwickelt wurden und deshalb das ideengeschichtlich tradierte Material darstellten, mit dem er sich mit seiner Philosophie und seinem eigenen Vorschlag auseinanderzusetzen hatte (2.). In einem zweiten Schritt wird dann Hegels eigene Auffassung untersucht. Dabei werden die wichtigsten Elemente seiner Theorie der „Souveränität nach außen“ und des „äußeren Staatsrechts“ herausgearbeitet und im Kontext seiner Werke sowohl synchronisch als auch diachronisch analysiert (3.). Im letzten Paragraphen werden schließlich sowohl Hegels Position bezüglich der tradierten Ordnungsauffassungen als auch seine Wirkung hinsichtlich der Entwick-

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Lasson 1871, S. 26. Zur Zweideutigkeit von Hegels Auffassung der internationalen Beziehungen siehe Smith 1983. Für eine Verortung von Hegels Völkerrechtskonzeption im Rahmen der Theorien seiner Zeit vgl. Jaeschke 2008.

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lung und Konsolidierung neuer Ordnungskonzeptionen im 19. Jahrhundert und darüber hinaus dargelegt und gewertet (4.).

2. Der Acquis der Ordnungsparadigmen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Drei Paradigmen sozialer Ordnung hatten sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts konsolidiert. Bevor man zur kurzen Darlegung dieser Grundkonzeptionen gesellschaftlichen Zusammenlebens übergeht, welche den Ausgangspunkt auch von Hegels Verständnis interstaatlicher Beziehungen darstellten, ist aber zunächst nötig zu klären, was hier unter „Paradigmen sozialer Ordnung“ zu verstehen ist. Dabei ist einerseits hervorzuheben, dass jede funktionsfähige Gesellschaft Regeln braucht, deren Aufgabe in der Garantie besteht, dass die Interaktion zwischen gesellschaftlichen Akteuren friedlich bzw. fair sowie möglicherweise – wenn auch nicht immer explizit und reflexiv –6 kooperativ verläuft. Soziale Ordnung ist daher jener Zustand, in dem Konflikt zwar nicht beseitigt, jedoch durch institutionalisierte Verfahren so abgefangen wird, dass er seine ursprüngliche destruktive Wirkung weitgehend verliert. Andererseits bezeichnet „Paradigma“ den Zusammenhang von begrifflichen Voraussetzungen von Wissen und Handeln, die den theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch in einer bestimmten Gesellschaft und mit Bezug auf einen spezifischen Bereich der Erkenntnis bzw. des Handelns entscheidend prägen.7 Paradigmen bilden daher die konzeptuelle Grundlage, auf der Theorien zur Interpretation von Phänomenen und/oder zur Handlungsanleitung aufgestellt werden. Sie differenzieren sich synchronisch mit Verweis auf die Spezifizität des theoretischen und praktischen Bereichs: So entwickelt jede Disziplin im Rahmen einer bestimmten Gesellschaft eigene, den jeweils ausschlaggebenden Erkenntnis- und praktischen Interessen entsprechende Paradigmen als Grundgerüst disziplinspezifischer Theorien. Genauso differenzieren sich die Paradigmen aber auch diachronisch, insofern als jede Disziplin im Laufe ihrer Geschichte, meistens in Folge einer komplexen Mischung von interner Diskursentwicklung und Anpassung an geänderte gesamtgesellschaftliche Verhältnisse, paradigmatische Revolutionen durchläuft. Bringt man die angeführten Definitionen von „Ordnung“ und „Paradigma“ zusammen, lässt sich besser erklären, was unter „Ordnungsparadigmen“ verstanden

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So ist die Kooperation in der Interaktion im Wirtschaftsbereich insofern nicht „explizit“ und „reflexiv“, als sich der kollektive Vorteil beinahe „naturwüchsig“ – das heißt spontan bei Prozessen der Verfolgung von Eigeninteressen von Seiten der beteiligten Akteure – einstellt. Die hier verwendete Definition von „Paradigma“ geht, wenn auch sehr vermittelt, auf die Arbeiten von Thomas Kuhn zurück: Kuhn 1996a, S. 186 bzw. Kuhn 1996b, S. 174).

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wird.8 Ein „Paradigma der Ordnung“ ist nämlich – wenn man unter Ordnung „soziale Ordnung“ versteht – ein Zusammenhang von Begriffen, auf dessen Basis Theorien zum Verständnis und zur Gestaltung gelingender, das heißt friedlicher und kooperativer gesellschaftlicher Interaktion verfasst werden. Genauer betrachtet, muss jedes Ordnungsparadigma, um seiner theorie-poietischen Funktion bezüglich der Phänomene gesellschaftlicher Interaktion gerecht zu werden, zwei Aussagen enthalten. Die erste betrifft die mögliche Reichweite der Ordnung, das heißt wie weit eine geordnete Gesellschaft inklusiv sein kann: Auf der einen Seite haben wir hier jene Theorien, die davon ausgehen, dass eine geordnete Gesellschaft immer nur begrenzt und weitgehend homogen sein kann; auf der anderen Seite steht hingegen die Auffassung, dass eine weltweite Ordnung im Prinzip nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich ist. Die zweite Aussage betrifft dann die ontologische Struktur der Ordnung, indem sie eine bestimmte Entität – sei diese das Individuum oder die Familie, die Nation oder die Menschheit – als die Grundlage der Ordnung, nämlich als deren Ausgangs- und Fluchtpunkt, definiert. Dementsprechend ist jedes Paradigma sozialer Ordnung dadurch gekennzeichnet, dass in seiner Grundbegrifflichkeit eine bestimmte und unverwechselbare Stellungnahme in Bezug sowohl auf die Grenzen der Ordnung, bzw. eventuell auf das Fehlen dieser Grenzen, als auch auf die Entität, deren ontologische Qualität für die erfolgreiche Bildung gesellschaftlicher Ordnung bürgen soll, enthalten ist. Auf Grund dieser kombinierten Stellungnahme ist in jedem Ordnungsparadigma eine Interpretation von Voraussetzungen, konkreter Gestaltung, Möglichkeiten und Beschränkung der Ordnung im inner- sowie im interstaatlichen Bereich vorhanden. Anhand des Bezugs auf die Ordnungsparadigmen kann auch Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts besser sowohl auf seine gesamte Gesellschaftstheorie als auch auf konkurrierende Auffassungen zurückgeführt werden. Diese begriffliche Klärung vorausgesetzt, können wir uns nun der Darstellung der Ordnungsparadigmen zuwenden, die als Bezugspunkte der Hegelschen Auffassung gelten.

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Der Begriff des „Ordnungsparadigmas“ ist im Rahmen eines Forschungsprojekts des MaxPlanck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht entwickelt worden, das von Armin von Bogdandy und mir koordiniert worden ist. Näheres unter: http://www.mpil.de/ww/de/pub/forschung/forschung_im_detail/projekte/voelkerrecht/philoso phie_voelkerrecht.cfm.

2.1. Der holistische Partikularismus als Ordnungsparadigma der Antike

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Das älteste Ordnungsparadigma des Westens9 ist zunächst durch die Behauptung charakterisiert, dass Ordnung ausschließlich innerhalb begrenzter Gemeinschaften möglich ist. Während daher im Bereich der einzelnen Gemeinwesen geordnete Interaktionen zwischen sozialen Akteuren möglich sind, ist in den Beziehungen zwischen den politischen Gemeinschaften selbst nur eine Hegung des Konfliktes im Sinne einer Einschränkung von den destruktivsten Folgen denkbar, die aus nicht institutionalisierbaren, zumeist kriegerischen Auseinandersetzungen wachsen können. Diese Auffassung ist insofern partikularistisch, als die Idee einer weltweiten Ordnung, die über die Grenzen einzelner Gemeinwesen hinaus gilt oder gelten soll, ins Reich der Phantastereien verbannt wird. Der Partikularismus der Ordnungskonzeption verbindet sich, was deren Reichweite betrifft, dann in diesem Paradigma mit einem holistischen Verständnis der Ordnungsstruktur. Die Grundlage der Ordnung ist hier nämlich eine soziale Entität, die nicht nur partikular, weil begrenzt ist, sondern eine Ganzheit darstellt, die intern weitgehend homogen ist und sich in ihrer Besonderheit von allen anderen politischen Einheiten unterscheidet. Im holistischen Partikularismus ist die soziale Totalität, welche die Basis der spezifischen Ordnung jedes einzelnen Gemeinwesens ausmacht, mehr als die bloße Summe ihrer Komponenten: Hier besitzt die Gemeinschaft eine Geltung, die den Interessen und Rechten der Individuen und sozialen Gruppen, aus denen sie besteht, deutlich übergeordnet ist und nicht aus der prozeduralen Partizipation der involvierten Akteure entsteht. Hinsichtlich der angeblich unvermeidbaren Konflikthaftigkeit zwischen den Gemeinwesen wurde diese Ordnungsidee bereits in der Antike,10 nämlich von Thukydides11 so überzeugend ausformuliert, dass seine Grundargumente für die Abweisung der Perspektive einer überstaatlichen Ordnung zum Gemeingut aller „Realisten“ bis weit über Hegels Zeit hinaus wurden.12 Schwieriger und wendungsreicher gestaltete sich die Suche nach einer geeigneten ontologischen Grundlage der partikularen Ordnung in den Grenzen der einzelnen politischen Gemeinschaften. Wenn 9

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Auf Grund des angeführten Materials ist es angebracht, lediglich von „Ordnungsparadigmen des Westens“ in diesem Zusammenhang zu sprechen. Es ist dennoch anzunehmen, dass eine kulturübergreifende Untersuchung ähnliche Ordnungsverständnisse – zumindest bezüglich der zwei ältesten Paradigmen – zu Tage fördern würde. Näheres über die Entstehung des partikularistisch-holistischen Paradigmas in der Antike in: Bogdandy/Dellavalle 2008. Thukydides 2006, Buch V, Rn. 86 ff. Basierend natürlich auf einem signifikant unterschiedlichen Erkenntnisinstrumentarium, lassen sich Thukydides’ Argumente gegen die „Illusion“ einer universalen Ordnung bis in die „realistischen“ und dann „neo-realistischen“ Interpretationen der internationalen Beziehungen von Hans Morgenthau (1948) bis Jack Goldsmith und Eric Posner (2005) wiederfinden.

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die Interaktion zwischen den Gemeinwesen unausweichlich zu einem kaum gebändigten Konflikt führte, stellte sich die Frage, was hingegen garantierte, dass in den Grenzen der Polis bzw. der Republik und später des Territorialstaates halbwegs stabile und geachtete Regeln des sozialen Umgangs gelten konnten. Thukydides schwieg sich diesbezüglich fast gänzlich aus13 und überließ die schwere Suche nach einer Antwort zwei berühmten, wenige Jahrzehnte jüngeren Philosophen. Der erste bedeutende Denker, der sich die Klärung der Faktoren, die den Zusammenhalt der Polis garantieren sollen, explizit zur Aufgabe macht, ist Platon. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts ortet er im Begriff der „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη). Platon definiert allerdings Gerechtigkeit in einer für uns ungewöhnlich gewordenen Art: Für ihn ist sie nämlich jener Zustand, in dem jeder Einzelne nur jenen Geschäften nachgeht, die einerseits dem kollektiven Interesse der Polis dienen und für die er andererseits von Natur aus besonders veranlagt ist.14 Gerechtigkeit beschreibt daher das gelungene soziale Leben in einer organischen Gemeinschaft, in der sich jede Bürgerin und jeder Bürger derart mit deren Zielen identifiziert, dass sie bzw. er bereit ist, das kollektive Gute mit den vorgegebenen Aufgaben für die Einzelnen den eigenen Selbstverwirklichungsvorstellungen vorzuziehen. Eine solche Auffassung stellt ungemein hohe Ansprüche an die Bereitwilligkeit der Einzelnen, sich mit dem Gemeinwesen zu identifizieren, in dem sie leben. Um Zweifel an der Einlösbarkeit dieser Ansprüche aufkommen zu sehen, brauchte man nicht auf die Moderne zu warten.15 Schon Aristoteles – die Zweite der vorher erwähnten philosophischen Größen – hatte sich von seinem Vorgänger distanziert: Erstens entwarf er ein Verständnis von Gerechtigkeit, das unserem wesentlich näher kommt.16 Zweitens bezeichnete er die Glückseligkeit und nicht die Identifikation mit dem Gemeinwesen als das höchste moralische Ziel.17 Drittens maß er dem kontemplativen Leben einen höheren Wert bei als dem politischen Leben.18 Indem er die ethischen Anforderungen an die Einzelnen hinsichtlich ihrer unmittelbaren Leistungsbereitschaft zugunsten des Kollektivs nach unten korrigierte, war Aristoteles aber auch gezwungen, eine neue Grundlage für das weiterhin organischholistische Verständnis des sozialen Lebens zu finden.19 Die Lösung, auf die er kam, erwies sich als außerordentlich erfolgreich und prägte die holistische Konzeption der Politik und insbesondere das partikularistisch-holistische Ordnungsparadigma für 13 14 15 16 17 18 19

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Marginale und eher allgemeine Hinweise finden sich in: Thukydides 2006, Buch III, Rn. 82. Platon 1920, Buch IV, 432b ff. Auf die Unvereinbarkeit des Prinzips der modernen Freiheit des Individuums mit Platons Sichtweise hatte schon Hegel hingewiesen. GW 8, S. 263. Aristoteles 1995b, Buch V, 1129a ff. Aristoteles 1995b, Buch I, 1097a ff. Aristoteles 1995b, Buch X, 1177a. Aristoteles 1995c, Buch IV, 1290b f.; Buch VII, 1328a f.

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beinahe zwei Jahrtausende. Die ontologische Basis der Kohäsion einzelner Gemeinwesen besteht nämlich für Aristoteles in ihrer Interpretation als erweiterte Familien.20 Insofern die politische Gemeinschaft der Familie gleichgestellt wird, bekommt die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger eine quasi-natürliche Dimension, welche ihre Willensleistung nicht zu überfordern braucht. Die gleiche Interpretation der organischen Kohäsion des einzelnen Gemeinwesens als Folge einer naturwüchsigen Familienbindung findet sich durch die Jahrhunderte immer wieder, bis sie besonders prominent im 16. Jahrhundert von Jean Bodin als Voraussetzung seiner Theorie der absolutistischen und souveränen république postuliert wird.21 Er verflocht die Theorie des familistischen Ursprungs der politischen Gemeinschaft jedoch eng mit dem politischen Programm des Absolutismus, zu dessen bedeutendster konzeptueller Stütze sie sogar aufstieg.22 Damit war allerdings ihr Schicksal besiegelt. Ohnehin war die These des politischen Gemeinwesens als erweiterter Familie in einer immer komplexer werdenden modernen Gesellschaft kaum mehr haltbar. Es war aber auch der Sturz absolutistischer Monarchien durch parlamentarische und dann demokratische Revolutionen – von Cromwell über die Glorious Revolution bis zur amerikanischen und dann zur französischen Revolution –, der auch die Ideologie, auf die sich diese Monarchien stützten, in eine unumkehrbare Krise stieß. Am Ende des 18. Jahrhunderts war daher die Auffassung, nach der es keine universale soziale, politische und rechtliche Ordnung geben könne, ihrer holistischen Begründung hinsichtlich der Besonderheit jedes einzelnen Gemeinwesens beraubt. Wer immer noch glaubte, dass zwischen den Gemeinwesen nur Hegung des Konflikts möglich ist, sah sich mit einem bedrohlichen Mangel an überzeugenden Argumenten konfrontiert, weshalb die besondere Gemeinschaft intern zusammenhalten sollte, was sie von anderen sozialen Einheiten unterscheidet. Das 19. Jahrhundert fand darauf eine neue Antwort: Der Unterschied liege begründet in der Spezifizität der Nation.23 Für die Ziele dieser Darstellung der Hegelschen Konzeption der überstaatlichen (Un-)Ordnung ist es deswegen von großer Bedeutung klarzustellen, inwieweit seine Ausführungen über das äußere Staatsrecht den Weg in die neue Zeit vorbereiten oder gar bereits dazu gehörten.

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Aristoteles 1995c, Buch I, 1252a ff. Bodin 1576, I, I, S. 1. Vgl. Filmer 1680. Vgl. Müller 1922, der als erster die paradigmatische Neugründung einführt.

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2.2. Der holistische Universalismus als Ordnungsparadigma des Christentums

Am Ausklang der Antike entwickelte die Stoa zum ersten Mal in der Geschichte des Westens die Idee eines universal geltenden, alles umfassenden Logos. Seine Funktionsprinzipien lenkten nach der stoischen Philosophie das Geschehen nicht nur in der natürlichen, sondern auch in der sozialen und politischen Welt. Infolgedessen wurde es möglich, einen universalen Nomos als Gesetz einer alle Menschen einschließenden civitas maxima über die spezifischen Nomoi der einzelnen politischen Gemeinwesen hinaus zu konzipieren. Der Universalismus der Stoa wurde vom Christentum übernommen und von einem abstrakten philosophischen Prinzip zur Maxime der konkreten, nicht zuletzt politischen Ausgestaltung der communitas christiana erhoben. Neben der Überzeugung, dass eine weltweite Ordnung denkbar und möglich ist, wodurch der Partikularismus des ersten Ordnungsparadigmas umgekehrt wurde, kennzeichnete diese erste Form des westlichen Universalismus dennoch ein weiterhin holistischer Ansatz hinsichtlich der ontologischen Struktur der sich nun über die ganze Welt ausdehnenden geordneten Gesellschaft: Ordnung ist nämlich deshalb in der ganzen Welt realisierbar, weil alle Menschen Mitglieder einer unbegrenzten Gemeinschaft in nuce schon sind und sich dessen nur bewusst werden sollen. So richtet sich die Heilsbotschaft des Christentums an alle Menschen, die dazu aufgerufen sind, eine Friedensordnung im Namen der christlichen Verbrüderung zu konstituieren. Daher ist dieses zweite Ordnungsparadigma des Westens zum einen universalistisch in seiner angestrebten Reichweite, zum anderen holistisch in seiner ontologischen Konzeption. In seiner christlichen Ausformung charakterisierte es zunächst das europäische Mittelalter, um dann in der katholischen Tradition weitgehend ungebrochen weiterzuleben. Indem das Christentum zur herrschenden Religion des Westens wurde, musste das mit ihm verwobene Ordnungsparadigma auch eine konkrete Vorstellung hinsichtlich der Ausgestaltung der politischen Verhältnisse liefern. So nahm die universalistisch-holistische Ordnung zunächst die Form einer Universalmonarchie24 und später die eines jus inter gentes an, in dem die Verhältnisse zwischen unabhängigen Staaten im Sinne der Friedensstiftung und der gegenseitigen Anerkennung auf der Grundlage allgemein geteilter und übergeordneter christlicher Prinzipien geregelt wurden.25

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Die Konzeption einer christlichen Universalmonarchie, die historisch mit dem Schicksal des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eng zusammenhing, fand seine eindringlichste Schilderung, als das Projekt schon längst im geschichtlichen Niedergang begriffen war, in Dante 1989. Suarez 1944a, insb. Bücher I–III.

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Trotz der bahnbrechenden Leistung, die Idee einer internationalen Friedensordnung zum ersten Mal konzipiert zu haben, haftete dem holistischen Universalismus christlicher Prägung von Anfang an ein gravierender Mangel an: Wenn nämlich die Ordnung des Friedens auf einem religiösen Heilsversprechen basiert, müssen all jene Völker und Individuen, die sich nicht zur christlichen Botschaft bekennen, aus dem Genuss der Vorteile einer solchen Ordnung notgedrungen ausgeschlossen werden. Dieser Aspekt macht sich – um bloß zwei prominente Beispiele zu nennen – sowohl in der Theorie des gerechten Krieges des Augustinus26 als auch in der Abhandlung der Rechte und Pflichten von Eroberern und Eroberten in der Neuen Welt durch die spanische Scholastik bemerkbar.27 Durch eine ihrer Intention nach universalistische Ordnungstheorie schimmerte somit teils der Ruf nach dem Kampf gegen die Andersgläubigen, teils die gewundene Rechtfertigung von deren Diskriminierung und Unterjochung hindurch: Der Universalismus geriet dadurch zu einem strukturell nicht einzuhaltenden Versprechen. Teilweise als Reaktion auf diesen Mangel, teilweise aber auch auf Grund innerreligiöser Diskurse, entwickelte sich, vornehmlich auf protestantischer Seite, eine zweite Variante des Paradigmas, welche – wenigstens ihrer Absicht nach – auf die religiöse Begründung der Universalität der Ordnung verzichtete. Ausgehend von Alberico Gentili,28 formten durch die Theologie der Reformation beeinflusste Philosophen und Juristen – von Johannes Althusius29 und Hugo Grotius30 bis, mit Einschränkungen, Samuel Pufendorf31 und Christian Wolff32 – ein Verständnis der internationalen Beziehungen, in dem die Festlegung und Beachtung geteilter Regeln auf der Grundlage der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht basieren. Das Normengeflecht zur Reglementierung des gegenseitigen Verhaltens der Staaten entstand daher aus der Annahme einer natürlichen Geselligkeit, die aber jetzt nicht mehr nur die Mitglieder eines jeweiligen Gemeinwesens, sondern alle Menschen weltweit verbinden sollte. Ist jedoch die Existenz einer derartigen Geselligkeit schon im überschaubaren Rahmen eine schwer zu beweisende Behauptung, gerät die weltweite Ausdehnung der Zusammengehörigkeit leicht in den Verdacht, eine optimistische Mutmaßung mit zumindest teilweise contraintuitiven Aspekten zu sein. Diese Kritik machte sich auch Hegel zu eigen, der schon auf Grund seiner eher pes-

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Augustinus 1600, insb. Buch XV. Vitoria 1952; Suarez 1944b, Buch XIII, V, 7, und Buch XVIII, II, 8. Gentili 1933, I, I, S. 10; I, XV, S. 107. Althusius 1932, Kap. I und Kap. IX. Grotius 1995, Prolegomina, 6, 16, 17. Pufendorf 1995, II, II, VII; II, III, XV. Wolff 1750, IX, I, V und VI.

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simistischen anthropologischen Auffassung von der Vorstellung einer allgemeinen Sozialität klar Abstand nahm.

2.3. Der universalistische Individualismus als Ordnungsparadigma der Moderne Sei es die Polis oder die Republik der Antike, der dynastische Territorialstaat oder gar die alle Einzelnen inkludierende, universale Menschengesellschaft – alle Gemeinwesen, auf denen die soziale Ordnung von den verschiedenen theoretischen Auffassungen gegründet wurde, hatten bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts den Charakter eines holon, nämlich einer Totalität, die mehr zu sein beansprucht als die Summe ihrer Komponenten. Die Lage änderte sich dramatisch am Anfang des modernen Zeitalters. Der Krise des holistischen Weltbildes in Folge einer zunehmenden sozialen Dynamik trug die politische Theorie Rechnung, indem sie das Individuum zum Ausgangs- und Fluchtpunkt gesellschaftlicher Ordnung machte. Die individualistische Revolution im politischen Denken, die von Thomas Hobbes eingeleitet wurde,33 sah zum ersten Mal das Individuum mit seinen Interessen und Rechten im normativen Zentrum der Politik. Somit war das Gemeinwesen mit seinen Institutionen nicht mehr eine Entität, die den Individuen normativ vorausging, sondern vielmehr ein Instrument, das diese mit einem freien Vertrag konstituierten und nur zu dem Zwecke einsetzten, dass ihre Grundrechte bzw. ihr Wohlstand angemessen geschützt wurden. Nun stellt sich die Frage, wie weit die individualistische Gesellschaftsordnung reichen kann bzw. soll, ob sie nämlich an den Grenzen des Territorialstaates Halt macht, oder der Gesellschaftsvertrag zumindest im Prinzip alle Menschen einschließt. Zunächst wurde die Vertragstheorie zum Zwecke einer Neugründung der politischen Macht und deren Legitimation im Geiste der Moderne konzipiert. Da die politische Macht in einem Zeitalter, in dem internationale Organisationen noch gar nicht existierten, mit den Institutionen des Territorialstaats zusammenfiel, fokussierte sich die Vertragstheorie nicht nur bei Hobbes, sondern auch bei anderen von ihm direkt beeinflussten Autoren,34 ausschließlich auf die Neudefinition der Legitimität öffentlicher Macht im Staate. Insofern von den Beziehungen zwischen den Staaten die Rede war, wurden diese als Naturzustand beschrieben.35 Ungeachtet dieser anfänglichen Einschränkung war das Prinzip des Individualismus im Ansatz universa33 34 35

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Vgl. Hobbes 1951; Hobbes 1973. Vgl. insbesondere Locke 1970; Spinoza 1924b; Spinoza 1924c; Rousseau 1995a. Hobbes 1973, S. XXX; Spinoza 1924b, S. XVI; Spinoza 1924c, S. III; Locke 1970, S. 294 f. (II, 2, 14) und S. 408 f. (II, 16, 183).

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listisch: Wurde das Individuum zum Mittelpunkt sozialer Ordnung erhoben, schwand nämlich auf Grund der transzendentalen Gleichheit aller Individuen jenseits jeglicher durch dieses Paradigma überwundenen, vorreflexiven und spezifischen Zugehörigkeitsform jedes Argument zugunsten einer kontextuellen Begrenzung dahin. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis der Individualismus zu seinen universalistischen Potentialitäten fand. Dieser epochale Schritt wurde von Immanuel Kant unternommen. In seinen Werken sieht das öffentliche Recht zum ersten Mal explizit drei Ebenen vor: das „Staatsrecht“, das „Völkerrecht“ und das „weltbürgerliche Recht“.36 Somit war eine Ebene konturiert, auf der als Rechtsadressaten die Individuen nicht qua Bürger oder Bürgerinnen eines Staates, sondern qua Akteure einer weltweiten Interaktion vorkommen. Darüber hinaus wurde die Friedensordnung unter den Staaten auf der Grundlage allgemeingültiger positiver Normen von Kant als eine politische Notwendigkeit sowie auch als eine moralische Pflicht angesehen. Obwohl Kant hinsichtlich der Institutionen, die eine solche Friedensordnung hätten garantieren sollen, zweideutig bleibt,37 geht sein Projekt zum ewigen Frieden im Geiste des universalistischen Individualismus deutlich über die vorigen Formen des Universalismus holistischer Prägung hinaus. Insbesondere verzichtet er auf jegliche religiöse oder metaphysische Annahme bezüglich der angeblichen natürlichen Sozialität des Menschen. Infolgedessen verbindet er eine eher pessimistische Anthropologie, in der der Konflikt als unauslöschbares Element menschlicher Sozialität anerkannt wird, mit der festen Überzeugung, dass die Menschen auf Grund ihrer Vernunft doch fähig sind, ihn in prozedurale Bahnen zu lenken und sich zu diesem Zweck frei gewählten sowie universal geltenden Gesetzen zu unterstellen. Freilich wurde diese herausragende geistige Leistung nicht ohne Kosten erkauft: Die metaphysisch voraussetzungsfreie, transzendentale Aufstellung einer normativen Sphäre des weltweiten Schutzes der Individuen ging nämlich mit einer radikalen historischen und sozialen Dekontextualisierung der konkreten Individualitäten einher. Kants universale Friedensordnung freier Individuen war somit bar einer adäquaten gesellschaftlichen Verortung.

3. Hegels Theorie der Souveränität nach außen und des äußeren Staatsrechts Hegel erläutert seine Theorie der internationalen Beziehungen gegen Ende seiner Rechtsphilosophie, und zwar unmittelbar vor dem letzten, der Weltgeschichte ge36 37

Kant 1968, Bd. 11, S. 203. Kant 1968, Bd. 11, S. 212 f.; Kant 1968, Bd. 8, S. 467, § 54; Kant 1968, Bd. 8, S. 474 f., § 61.

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widmeten Abschnitt. Insgesamt ist die Darstellung recht konzise und umfasst in der von Hegel selbst veröffentlichten Fassung der Rechtsphilosophie nämlich in den Grundlinien, zwanzig eher kurze Paragraphen, von Paragraphen 321 bis einschließlich Paragraphen 340 (7/490 ff.).38 In sich ist die Abhandlung noch einmal zweigeteilt: Der erste Teil, der den Titel „Die Souveränität gegen außen“ trägt, ist noch dem „inneren Staatsrecht“ zugeordnet, während der zweite, das eigentliche „äußere Staatsrecht“, ein eigenes Kapitel, nämlich das zweite – zwischen „innerem Staatsrecht“ und „Weltgeschichte“ – der Hegelschen Analyse der Staatslehre bildet. Neben der Abhandlung des Stoffes in den offiziell 1821, aber eigentlich schon im Oktober des Jahres zuvor veröffentlichten Grundlinien verfügen wir auch über weitere Schilderungen von Hegels Theorie der internationalen Beziehungen, die von den Vorlesungen über Rechtsphilosophie stammen, die er zwischen 1817 und 1831 zunächst in Heidelberg (1817/18) und dann in Berlin hielt.39 Dabei handelt es sich um Nachschriften, die von Kursteilnehmern nach jeweils eigenen Kriterien angefertigt wurden. Sie behandeln das Thema unterschiedlich ausführlich – in einer der Nachschriften wird die Thematik gar gänzlich übergangen –40 und setzen von Mal zu Mal Akzente, die in den anderen Nachschriften bzw. in den Grundlinien anders ausfallen oder gelegentlich fehlen. Bis auf vereinzelte Ausnahmen, von denen nur eine für unsere Untersuchung relevant ist,41 sind die Ausführungen in den Vorlesungsnachschriften insgesamt mit der Darstellung des Stoffes in den Grundlinien gänzlich kohärent. Im Folgenden werden die drei Hauptmerkmale von Hegels Konzeption der internationalen Beziehungen kurz erläutert.

3.1. Die Souveränität des Staates Eine der bedeutendsten Besonderheiten von Hegels Staatsauffassung – und sicherlich die wichtigste für sein Verständnis der internationalen Beziehungen – ist die Souveränität. Im Begriff der Staatssouveränität drückt sich laut Hegel das Spezifikum der Verwirklichung des Geistes im Bereich des Sozialen und Politischen aus. Als das – nach der Logik des Denkens und nach der Natur – eigentlich Menschliche unter den Dimensionen der Welt und deren Erkenntnisformen realisiert sich der 38 39 40 41

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Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung. Vgl. Hegel 1983b, S. 246 ff., §§ 159 ff.; Hegel 1818/19, S. 338 ff., §§ 130 ff.; Hegel 2000, S. 197 ff.; Hegel 1822/23, S. 827 ff.; Hegel 1824/25, S. 731 ff. Hegel 2005. Siehe unten Fn. 55.

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Geist in der Wirklichkeit, indem er nach Hegels Verständnis verschiedene Formen annimmt. Diese gehen vom so genannten „abstrakten Recht“ aus (7/92 ff., §§ 34 ff.), schließen die Moralität (7/203 ff., §§ 105 ff.) und die niederen Gestalten der Sittlichkeit wie Familie (7/307 ff., §§ 158 ff.) und bürgerliche Gesellschaft ein (7/339 ff., §§ 182 ff.), um dann im Staat zu gipfeln (7/398 ff., §§ 257 ff.). Der Staat ist daher „der Geist, der in der Welt steht, der sich in der Welt realisiert“,42 in ihm konkretisiert sich die Freiheit als die höchste Bestimmung des Menschlichen, allerdings nicht als epistemisch originäre Entscheidungsfähigkeit der Einzelnen, sondern als deren Bereitschaft, sich geteilte – und in Hegels Sichtweise weitgehend vorgegebene – Werte und Interessen des Gemeinwesens zu eigen zu machen. Ungeachtet dessen, wie akzeptabel – oder eher inakzeptabel – ein solcher Freiheitsbegriff aus liberaler und demokratischer Sicht sein mag, steht allerdings für Hegel fest, dass der Staat die höchste Form darstellt, die das Menschliche im Bereich der Sozialität und des Politischen und daher auch in der Dimension der sozialen Ordnung annehmen kann. Dennoch ist der Staat mit einem Merkmal behaftet, das selbst aus Hegels Perspektive einen gewissen Mangel darstellt: Indem sich hier der Geist in die Wirklichkeit entäußert, verliert die ihm innewohnende Universalität ihre Evidenz – wie immer in Hegels System, wenn die Universalität der Idee sich eine wirkliche Gestalt gibt und daher Kompromisse mit der Materialität der Welt eingehen muss. Wie die Universalität der Idee sich hinter den mannigfaltigen Erscheinungen der Natur versteckt, so konkretisiert sich die Allgemeingültigkeit des Geistes in der Pluralität der Staaten und derer Verfassungen, büßt aber dabei auch ihre unvermittelte Wahrnehmbarkeit ein. Auf Grund der Materialität der Welt bilden die Staaten nach Hegel ein Pluriversum: Nie können sie zu einem Universum zusammenwachsen. Die Realisierung des Geistes in der Welt geschieht somit auf Kosten einer Entfremdung, die nur dadurch behoben werden kann, dass der Geist die Sphären der staatlichen Pluralität überwinden muss, um seine explizite Universalität zurückzugewinnen. Die unmittelbare Folge dieser Entäußerung des Geistes in die Pluralität der politischen Wirklichkeit besteht darin, dass der Staat für Hegel „Individualität“ hat (7/490, § 321). In der Welt der Mannigfaltigkeit ist jede Erscheinung des Geistes insofern „individuell“, als sie sich prioritär auf sich selbst bezieht, wobei die Rationalität des Ganzen eher als invisible hand oder – hegelianisch – als „List der Vernunft“ zum Zuge kommt. Nach der Übertragung der klassischen Kategorien der Subjektphilosophie, die auch Hegel übernimmt, ins Politische ist darüber hinaus jede „individuelle“ politische Einheit, die sich in ihrem Handeln zumindest nach ihrer

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Hegel 1824/25, S. 632, § 258.

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bewussten Wahrnehmung prioritär oder ausschließlich auf sich selbst bezieht, per definitionem „souverän“. Die Theorie des Staates als souveräne Individualität hat drei Konsequenzen in Hegels Auffassung. Die erste besteht darin, dass der Staat das Recht besitzt, die Eigenständigkeit der konkreten Individualitäten auf seinem Gebiet unter bestimmten Bedingungen aufzuheben. Faktisch bedeutet dies, dass das souveräne Gemeinwesen zum Zwecke der Behauptung seiner Individualität im konfliktreichen Pluriversum der Staaten autorisiert ist, das Vermögen privater Personen einzusetzen, oder von ihnen im extremen Fall sogar verlangen kann, ihr Leben zu opfern (7/442 ff., § 278). Im übermenschengroßen Ganzen der staatlichen Individualität versinken somit die privaten Interessen der Einzelnen im Namen der Aufrechterhaltung der Totalität. Die zweite Konsequenz ist, dass jeder Staat gegenüber anderen politischen Gemeinwesen in sich geschlossen ist und ihnen notwendigerweise entgegensteht. Jede staatliche Individualität ist nämlich – schreibt der Philosoph – „wesentlich Für-sichSein, das den bestehenden Unterschied in sich aufgenommen hat und damit ausschließend ist“ (7/490, § 321). Die dritte Konsequenz ist schließlich, dass die Außenpolitik im Kompetenzbereich der fürstlichen Gewalt angesiedelt wird: Wenn der Staat nach außen ein Individuum ist, so soll er in diesem Rahmen von seiner verkörperten Individualität repräsentiert werden. Zu den Kompetenzen, die dem Monarchen damit zufallen, zählt Hegel „die bewaffnete Macht zu befehligen, die Verhältnisse mit den anderen Staaten durch Gesandte usf. zu unterhalten, Krieg und Frieden und andere Traktate zu schließen“ (7/497, § 329).

3.2. Die Welt der internationalen Beziehungen als Pluriversum Aus dem Begriff der Staatssouveränität ergibt sich Hegels Auffassung der internationalen Beziehungen. Im Verhältnis zu anderen politischen Gemeinwesen ist jeder Staat nämlich, als souveräne und ausschließende Individualität, „selbständig und gegen die anderen“ (7/490, § 322). In der internationalen Arena stehen sich daher die Staaten gegenüber wie Individuum gegen Individuum. Die Aussage impliziert allerdings nicht, dass dieser Zustand von ständigen Auseinandersetzungen und Kämpfen geprägt wäre. Vielmehr will Hegel hiermit betonen, dass im Bereich der Beziehungen unter den Staaten die Eigenart eines jeden einzelnen Priorität besitzt. Daraus ergibt sich die Unrealisierbarkeit einer stabilen überstaatlichen Ordnung und deswegen die allgegenwärtige Möglichkeit des Konflikts. Dennoch geht die

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mentation Hegels – anders als z. B. die Carl Schmitts –43 von der unhintergehbaren Identität des einzelnen Gemeinwesens aus, und nur in zweiter Instanz kommt das Element des Konflikts, der daraus leicht und ohne effektive Prävention entflammen kann, zum Vorschein. Die gelegentlich feindliche Gegenüberstellung von politischen Entitäten ist deswegen bei Hegel die manchmal unvermeidbare Folge der Behauptung unreduzierbarer Identitäten (7/491, § 323) eher als der ursprüngliche existentielle Inhalt des Politischen, aus dessen Grundlage sich kollektive Individualitäten formen lassen. Für Hegel ist nämlich Politik im Wesentlichen Organisation des Sittlichen und nicht existentielle Selbstbehauptung. Freilich ist Hegel daher kein Befürworter ante litteram des Freund-FeindSchemas als Wesen des Politischen. Nichtsdestotrotz finden wir auch bei ihm die These, dass die Hervorhebung der staatlichen Individualität gegenüber den „anderen“ und noch mehr der Konflikt gegen „außen“ die innere Stabilität fördern, indem sie „innere Unruhen [verhindern] und die innere Staatsmacht [befestigen]“ (7/493, § 324). Darüber hinaus wird dem Krieg als einer ständigen Möglichkeit, die den vorigen Prämissen notwendigerweise entwächst, durchaus auch ein „sittliches Moment“ beigemessen (7/492, § 324 A). Dies bestehe laut Hegel darin, dass im Kriege alles Äußerliche und Zufällige, welches dem Individuum gehört, darunter Besitz und das Leben selbst, sich in seiner Nichtigkeit gegenüber den bleibenden Institutionen der Sittlichkeit oder gar in Anbetracht des welthistorischen Ganges zeigt. Gegenüber dem Ganzen erfährt das einzelne Individuum am deutlichsten im Kriege seine Marginalität. Hegel nimmt explizit Abstand von der Theorie des gerechten Krieges (7/500, § 334): In einer internationalen Arena, in der keine anerkannten und effektiven überstaatlichen Normen gelten und keine überstaatlichen Organisationen die letzte Kompetenz bei Konflikten besitzen, ist jeder einzelne Staat schlussendlich Schiedsrichter in eigener Sache. Wenn die Wahrnehmung des eigenen Interesses dazu rät, wird ein Grund für die militärische Auseinandersetzung gefunden: So können ein Bruch der Verträge oder die „Verletzung der Anerkennung und Ehre“ erklärt werden (7/500, § 334); in keinem Fall wird es aber eine unabhängige Instanz geben, die in der Lage wäre, die Berechtigung der Anschuldigungen zu überprüfen. Der Krieg wird damit zum legitimen Mittel zur Klärung der Interessenunterschiede zwischen den Staaten: „Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden.“ (7/500, § 334) In Anbetracht der dramatischen Entscheidung über Krieg und Frieden soll dann laut Hegel die Staatsräson als die Orientierung am konkreten Wohl des einzelnen Staates (7/501, § 336) und nicht „ein allgemeiner (philanthropischer) Gedanke“ oder ein abstraktes 43

Schmitt 1963.

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„moralisches Gebot“ die Hand von Monarchen und Regierung lenken (7/501 f., § 337). Hinsichtlich der Organisation des Militärs hebt Hegel die Notwendigkeit stehender Heere hervor, wobei für Zeiten besonderer Not die allgemeine Wehrpflicht als notwendig erachtet wird (7/494 f., § 326). An dieser Aussage zeigt sich allerdings, dass Hegel der Kriegsauffassung des 18. Jahrhunderts weitgehend – wenn auch nicht vollständig – verbunden blieb und den unumkehrbaren Prozess der sozialen Mobilmachung in Folge der napoleonischen Kriege nur partiell durchschaute. Offensichtlich fehlgeschlagen – und den weiteren historischen Erfahrungen Hohn sprechend – ist dann seine Einschätzung, dass die Kriege auf Grund von deren Technologisierung zunehmend menschlicher und für den Einzelnen in Folge der Marginalisierung des Nahkampfes trotz bleibender Lebensgefahr weniger brutal würden (7/496, § 328).

3.3. Die schwache Normativität des Völkerrechts Auf dem Boden des Gesagten kann nur ein Völkerrecht von bescheidener Effektivität und daher auch von geringem normativem Gehalt entstehen. Indem die Staaten selbständig sind, sind Übereinkommen zwischen ihnen immer vom souveränen, am eigenen Wohl orientierten Willen eines jeden einzelnen von ihnen abhängig. So sind solche Übereinkommen außerordentlich fragil und bilden, da sie in keiner konkreten Sittlichkeit wurzeln können, welche im internationalen Bereich gar nicht existiert oder existieren kann, ein Normensystem als reines „Sollen“ (7/497 f., § 330). Dabei ist hervorzuheben, dass bei Hegel der normative Gehalt eines Normensystems immer eng an seine soziale Effektivität gekoppelt ist. Aus diesem Grund ist er am höchsten in den „sittlichen“ Sphären innerhalb des Staates, während das Völkerrecht wegen der ihm eigenen Ungewissheit zumindest teilweise in die Nähe der moralischen Pflicht, des „Sollens“ nämlich, gerückt wird. Selbst das höchste Prinzip des Völkerrechts, nach dem die Verträge einzuhalten sind (pacta sunt servanda), ist laut Hegel nichts mehr als eine der konkreten Willkür der Machtverhältnisse überlassene Verpflichtung (7/499 f., § 333). Trotz dieser Einschränkung bildet das Völkerrecht auch nach Hegels Verständnis eine normative Realität, wenn auch von minderer Bedeutung und Effektivität. Unter den Funktionen, die ihm zugewiesen werden, entsteht die erste aus dem Streben der Staaten nach Anerkennung: Indem sie Abkommen untereinander schließen, erkennen sie sich gegenseitig als souveräne Entitäten an (7/498, § 331). Dennoch ist diese Anerkennung rein formal und bezieht sich ausschließlich auf die souveräne Individualität. Sie hat daher keine Wirkung auf die innere Verfassung der einzelnen Staaten, so dass die Legitimität der jeweiligen Regierungsform eine innere 192

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heit bleibt. Eine Ausnahme ist allerdings vorgesehen: Wenn die innere Verfassung eines Staates eine Drohung für andere darstellt, dann dürfen diese die Anerkennung verweigern bzw. fordern, dass die Verfassung geändert wird (7/498, § 331).44 Darüber hinaus hebt der Philosoph hervor, dass eine völkerrechtliche Anerkennung nur unter Staaten möglich ist, welche die ausschließende religiöse Identität zugunsten einer politischen Sittlichkeit überwunden haben (7/499, § 331 A): Nur der politische, wenn auch durch seine Geschichte religiös geprägte, und in seinen Institutionen säkulare Staat kann daher laut Hegel Subjekt des Völkerrechts im vollen Sinne des Wortes sein. Eine weitere Funktion des Völkerrechts besteht dann sinngemäß darin, die zwischenstaatlichen Angelegenheiten, sei es auch in der genannten aleatorischen Weise, durch Verträge zu regeln (7/499, § 332). Dabei wird unterstrichen, dass der Stoff dieser Verträge im Vergleich zu der Fülle an Gehalt, die das Rechtssystem der bürgerlichen Gesellschaft charakterisieren, eher gering sei. Schließlich widmet Hegel einer spezifischen Sparte des Völkerrechts, nämlich dem Kriegsrecht, traditionsgemäß eine spezielle Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang ist der Ton – vor allem für einen Befürworter des Krieges als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte – ausgesprochen mild. So wird gefordert – nicht anders als bei dem sonst kritisierten Kant –, dass der Krieg so geführt wird, dass die Möglichkeit eines anschließenden Friedens immer erhalten bleibt. Dies schließt die Immunität der Gesandten und die Schonung der nicht-militärischen Infrastruktur des Landes sowie des Lebens und Eigentums von Privatpersonen ein (7/502, § 338). Hinsichtlich der Grundlage dieser Hegung der Gewalt im Kriege verweist Hegel auf die „Sitten der Nationen“ (7/502, § 339) bzw., in einer Vorlesungsnachschrift, auf die sittliche „Familie“ der europäischen Nationen.45 Solche Begriffe sind jedoch in seinem System, in dem die Sittlichkeit auf die staatlichen Institutionen beschränkt bleibt, kaum untermauert. Vielleicht können sie eher als Eröffnung einer Perspektive verstanden werden, die aber bei Hegel selbst nicht angemessen erkundet wurde.

44 45

Deutlicher, mit Verweis auf die französische Republik, in: Hegel 1983b, S. 251, § 161. Hegel 1824/25, S. 743 f., § 339.

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4. Hegels Vermächtnis in der Geschichte der Theorien der internationalen Beziehungen

Wendet man sich nun der Frage nach dem Verhältnis Hegels zu den tradierten Ordnungsparadigmen bzw. nach seinem Beitrag zur Entwicklung eines neuen Paradigmas zu, ist zunächst seine Auseinandersetzung mit dem historischen Universalismus von Interesse. Hat man dessen Zurückweisung festgestellt, ist dann zu untersuchen, inwieweit diese bei Hegel mit einer Übernahme des klassischen holistischen Partikularismus zusammenfällt. Angesichts der Unhaltbarkeit auch dieser zweiten Hypothese wird schließlich die These konturiert, dass Hegels Konzeption in nuce eine neue Idee von Ordnung in sich trägt, welche aber zu seinen Zeiten noch weit davon entfernt war, konzeptuell in adäquater Weise entfaltet zu werden.

4.1. Hegels Ablehnung des historisch tradierten Universalismus Beiden Ordnungsparadigmen des historischen Universalismus stand Hegel kritisch gegenüber. Bezüglich des holistischen Universalismus katholischer Prägung kann es kaum verwundern, dass die religiös fundierte Idee einer communitas christiana unter der geistigen Ägide des Heiligen Stuhls dem überzeugten Protestanten zumindest fremd – wenn nicht gar suspekt – war. Im Allgemeinen hielt er sie in Folge des Übergangs zur Neuzeit und der Reformation für überwunden.46 Jedoch auch die im protestantischen Milieu entstandene Theorie einer communitas humana mit gleichen Interessen und Werten wird von Hegel skeptisch beurteilt. Um seine Position zu bezeugen, verfügen wir in diesem Fall nur über Hinweise: Sei es seine Kritik an der Idee einer weltweiten Föderation47 oder an der Vorstellung eines ursprünglich friedlichen und geselligen Naturzustandes (7/350, § 194),48 sein Schweigen über die Theorie der universalen communitas humana und über ihre Vertreter bzw. seine Geringschätzung von Grotius als ihrem vielleicht prominentesten Befürworter (20/224 f.), oder sei es seine Bewunderung für Hobbes’ Auffassung des Naturzustands (20/225 ff.) – in allen Fällen gehen Hegels Sympathien zu Gunsten der Gegenseite. Explizit ist hingegen das negative Urteil über den aus der individualistischen Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie stammenden Universalismus, im Spezifischen 46 47 48

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Siehe Hegels Darstellung des Übergangs des Mittelalters zur Neuzeit in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: Hegel 1996, S. 462 ff. Zu Hegels politisch gefärbtem Protestantismus vgl. Dellavalle 1998, S. 193 ff. Hegel 1983b, S. 253, § 162. Hegel 1822/23, S. 33 ff.

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über Kants Entwurf zum ewigen Frieden. Da es „keinen Prätor [gebe], höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise,“ bedürfe der von Kant angestrebte Friedensbund der Einwilligung der einzelnen Staaten, was wiederum „überhaupt immer auf besonderen souveränen Willen beruhen würde, und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe“ (7/500, § 333 A).

4.2. Das zwiespältige Verhältnis zum holistischen Partikularismus Die Tatsache, dass Hegel von den universalistischen Ordnungsparadigmen deutlich Abstand nimmt, legt die Vermutung nahe, dass er zum holistischen Partikularismus als erstem Ordnungsparadigma zurückkehrte bzw. seine Weiterentwicklung zum Nationen-Begriff vorbereitete und begleitete. In der Tat spricht zweifelsohne einiges für ein „Bekenntnis“ Hegels zu der Hauptbegrifflichkeit des holistischen Partikularismus. Dazu gehört zum einen seine Befürwortung einer holistisch-organizistischen Auffassung des politischen Gemeinwesens (7/414, § 269) und zum anderen die vorher dargestellte Interpretation der internationalen Beziehungen als Arena, die durch endemische Konflikte charakterisiert ist. Somit sind in seinem Denken beide Merkmale des ersten Ordnungsparadigmas vorhanden. Zahlreich und gewichtig sind dennoch die Argumente, die einer Lesart von Hegels politischer Philosophie als Fortsetzung des alten Paradigmas oder als dessen Erneuerung entgegentreten. Bezüglich der Möglichkeit – zunächst –, dass Hegel die alten Kategorien einfach wieder zum Leben erwecken wollte, ist nämlich zum einen anzumerken, dass nicht nur Platons „Gerechtigkeit“ sowie Aristoteles’ „Glückseligkeit“ ohne große Sehnsucht ad acta gelegt werden, sondern auch, dass der Souveränitätsbegriff nicht mehr familistisch angelegt ist und deshalb erheblich anders strukturiert ist als noch bei Bodin. Die organische Einheit des Staates dient bei Hegel keineswegs der Rechtfertigung eines dynastischen Absolutismus, sondern der Hervorhebung der spezifischen kulturellen und politischen Identität eines jeden staatlich verfassten Gemeinwesens. Zum anderen fällt auch seine Konzeption der Beziehungen unter Staaten signifikant anders aus als bei den klassischen Vertretern des partikularistischen Ansatzes wie Thukydides, Machiavelli oder – unter den uns zeitlich näher stehenden Autoren – Carl Schmitt. Obwohl der Krieg bei Hegel berechtigt und endemisch ist, wird er nie als existentieller Überlebenskampf unter quasi-natürlichen Entitäten verstanden. Gegen eine solche Lesart sprechen im Wesentlichen drei Argumente. Erstens hebt er – wie wir in einer Vorlesungsnachschrift lesen können – hervor, was unter echten „Partikularisten“ zumindest verwunderlich wäre, nämlich dass die Staaten durch das Völkerrecht einander „als solche [anerkennen], mit welchen sich in einem

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zustand leben lässt“.49 Somit wird angenommen, dass der Frieden nicht nur eine Unterbrechung der Hostilitäten darstellt, sondern ein mit eigenen Qualitäten versehener Lebenszustand ist, der im Allgemeinen als erstrebenswert zu erachten ist. Zweitens ist der Krieg, von dem Hegel spricht, nicht der zügellose Selbstbehauptungskampf eines Volkes oder einer Nation, sondern vielmehr „die Bewegung der Winde“, welche „die See vor der Fäulnis bewahrt“ (7/493, § 324 A). Der Krieg ist daher das politische Ereignis, das eine abgeschlaffte und in ihren Mängeln ruhende Gesellschaft wachrüttelt.50 Diese Vorstellung mag uns heute aus guten Gründen befremden. Sie war aber zu Hegels Zeiten nicht nur weit verbreitet, sondern auch von Autoren vertreten, die keineswegs als rückwärtsgewandt anzusehen sind: In ihren Augen stellte der Krieg den immer schmerzhaften, aber manchmal notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte dar.51 Drittens ist die Tatsache, dass Krieg für Hegel nie die unvermittelte Folge dezisionistischer Handlung sein darf, durch die Rolle belegt, die er den Ständen bei der Kriegserklärung zuweist.52 Hinsichtlich des Verhältnisses Hegels zum holistischen Partikularismus bleibt jetzt noch die Frage zu klären, ob er die Wende dieses Ordnungsparadigmas zum Nationen-Begriff des 19. Jahrhunderts nicht mit vorbereitet hätte. In diesem Fall wäre er sozusagen ein Weggefährte Adam Müllers gewesen. Jedoch sind die Belege in diese Richtung trotz mancher einflussreicher Interpretation53 spärlich.54 Zwar findet man in einer Vorlesungsnachschrift einen Hinweis auf die Nation als anthropologische Grundlage der Individualität des Staates.55 Diese Lesart bleibt jedoch weitgehend isoliert: Im Allgemeinen ist die Nation bei Hegel jene soziale Gruppe, die eben noch „natürlich“ ist, das heißt noch nicht die höhere Gestalt eines staatlich verfassten Volkes angenommen hat (10/350, § 549). Die Basis eines staatlich organisierten Volkes ist hingegen die Sittlichkeit, das heißt jene sozial und historisch 49 50 51

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53 54 55

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Hegel 1983b, S. 250, § 161. Interessant ist dabei das trotz der politischen Lage seiner Zeit distanzierte Urteil Hegels über die Heilige Allianz. Vgl. Hegel 1822/23, S. 835. In dieser Hinsicht darf nicht vergessen werden, dass die Projekte zum ewigen Frieden nicht immer den politisch und sozial progressiven Inhalt hatten, den wir aus den Texten von Rousseau, Penn oder Kant kennen. In manchen anderen Fällen dienten sie nämlich primär der Erhaltung des Status quo sowie der sozialen Ungerechtigkeit und des politischen Despotismus, die diesen kennzeichneten. Besonders deutlich erscheint der Konservatismus bei Crucé 1623. Vorhanden, wenn auch in nicht so evidenter Weise, ist er aber auch bei Saint-Pierre 1713. Hegel 1824/25, S. 738, § 329: Auf Grund der Bedeutung der Stände kann in England „kein unpopulärer Krieg geführt werden“. Die Beteiligung des Volkes kann aber auch – präzisiert Hegel – insofern negative Folgen haben, als sie einen schwer zu zügelnden und unzweckmäßigen Kriegsenthusiasmus hervorruft. Vgl. Meinecke 1922. Vgl. Bogdandy 1991. Hegel 1983b, S. 246 f., § 159.

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vermittelte, spezifische Form seiner gesellschaftlichen und politischen Interaktionen, die das Stadium der Natürlichkeit weit hinter sich gelassen hat. Als Fazit kann man also feststellen, dass Hegel trotz einiger Affinitäten nicht zum Kreis der Wiederentdecker des holistisch-partikularistischen Ordnungsparadigmas gezählt werden kann. Zu prägnant ist dafür die universalistische Komponente seines Denkens. Selbst der Staat wird, obwohl individuell verfasst, als Statthalter der allgemeinen Vernunft in der politischen Welt dargestellt. Hinzu kommt, dass sich in Hegels Werken eine Dimension über die Arena der Staaten wölbt, die in ihrem Anspruch nach Allgemeingültigkeit den genuinen Partikularisten völlig fremd ist: Es handelt sich um die Weltgeschichte, welche die Partikularität der Staaten aufhebt und die universale Vernunft zur Geltung bringt (7/503, § 340). Somit hat die Universalität der menschlichen Interaktion zwar nicht die Form einer verbrüderten und geselligen Menschheit und auch nicht jene eines weltweiten Gesellschaftsvertrages, sie wird jedoch nicht getilgt: In der Gestalt eines hypostasierten Weltgerichts und eines absoluten Geistes, der über die Dimension des Sozialen und Politischen hinausgeht, lebt sie nämlich weiter, wenn auch in einer von den konkreten Individualitäten entfremdeten Sphäre.

4.3. Die Auffassung der Sittlichkeit als Vorstufe eines kommunikativen Ordnungsparadigmas Abschließend kann man feststellen, dass Hegels Theorie der internationalen Beziehungen seine eigenständige Position im Rahmen der Ordnungskonzeptionen beweist. Substantiell fremd den historisch tradierten Ordnungsparadigmen gegenüberstehend, antizipiert er einige Aspekte einer Auffassung – nämlich des kommunikativen Ordnungsparadigmas –, die erst viel später ausbuchstabiert wurde.56 Der Schlüssel zu dieser Wegbereiterrolle ist die Bedeutung, die Hegel dem Begriff des Geistes in seiner Verwirklichung im Rahmen der Sittlichkeit zuweist: Hier ist die Idee einer historisch und sozial situierten Kommunikationsgemeinschaft auf eine Weise angelegt, die seinesgleichen in der früheren Philosophiegeschichte sucht. Jenseits sowohl vom traditionellen Individualismus als auch vom klassischen Holismus wird hier die Gesellschaft als ein Ort verschiedenartiger Interaktionen verstanden, wobei die Einheit immer die Pluralität in sich trägt und aus dieser entsteht. Jedoch sind die Potentialitäten dieser bahnbrechenden Intuition bei Hegel durch mindestens zwei Mängel eingeschränkt. Zum einen wird die gesellschaftliche Dy56

Das kommunikative Ordnungsparadigma geht hauptsächlich auf Werke von Jürgen Habermas zurück. Für eine Darstellung der Thematik siehe Bogdandy/Dellavalle 2009.

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namik durch deren Rückführung auf einen subjektphilosophisch geprägten Geistesbegriff ontologisch überlagert, wodurch Hegels Sozialphilosophie die Kraft zur Darstellung konkreter Interaktionsphänomene teilweise einbüßt und in einem konzeptuellen Korsett erstarrt. Zum anderen wird aus seinen Ausführungen nicht gänzlich ersichtlich, warum die Verwirklichung des Geistes in reflexiven sozialen Verhältnissen an den Pforten der Staaten Halt machen sollte. Darüber hinaus realisiert sich der Geist nur noch außerhalb der sozialen Verhältnisse – als absoluter Geist – oder jenseits des reflexiven Bewusstseins konkreter Akteure in der List der Vernunft der Weltgeschichte. Mit anderen Worten ist nicht einleuchtend, weshalb der Geist des Politischen als Begriff einer durch Werte und Institutionen gebundenen Interaktion nicht auch den Bereich der internationalen Beziehungen kennzeichnen könnte. Der Verweis auf die unvermeidbare Mangelhaftigkeit der konkreten politischen Welt scheint eher ein bewusstseinstheoretisch beeinflusstes Vorurteil zu sein und vermag dadurch nicht zu überzeugen. Versuche, den Begriff des Geistes auf den Bereich der internationalen Beziehungen auszudehnen, gab es schon im 19. Jahrhundert.57 Für eine intersubjektive Theorie der internationalen Beziehungen, in der nicht nur Hegels Ordnungsvorstellung die staatliche Zentrierung überwindet, sondern auch seine Intuition einer sozialen und politischen Einheit aus gesellschaftlicher Interaktion expliziert und mit Rekurs auf eine post-subjektivistische Begrifflichkeit untermauert wird, musste man jedoch bis zum Übergang zum nächsten Jahrtausend warten.

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Vgl. Trendelenburg 1868, S. 564 ff. In Ansätzen ist die Idee einer Erweiterung von Hegels Begriff des sittlichen Geistes jenseits der staatlichen Sphäre, wenn auch eher konfus vorgetragen, bereits bei Johannes Fallati vorhanden: Fallati 1844. Vgl. auch Steiger 1997, S. 66 ff.

Steffen Schmidt

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Weltgeschichte als Weltgericht in Hegels Geschichtskonzeption

1. Vorbemerkung zu einem geläufigen Missverständnis Wenn irgend möglich, vermied Hegel es, mit einer Negativ-Bestimmung zu beginnen. Bei dem hier zu behandelnden Thema der „Weltgeschichte als Weltgericht“ ist es aber – auch angesichts des großen zeitlichen Abstands – wohl dennoch hilfreich, zunächst einmal festzuhalten, was damit nicht gemeint ist. Ansonsten besteht die akute Gefahr, dass man sich ohne nähere Beschäftigung vorschnell von der irgendwie skandalös und sehr fern oder gar brutal klingenden Formulierung abwendet und damit die enthaltene und ggf. wichtige Sachaussage verpasst.1 In unseren Zeiten und im allgemeinen Sprachgebrauch (also nicht unter Fachleuten, erst recht nicht unter Historikern) assoziiert man bei „Weltgeschichte“ offenbar eher dicke Bücher, in denen „alles Wichtige“ im Sinne einer Universalgeschichte gesammelt und zusammengefasst ist oder meint auch gleich die Realgeschichte (im Sinne des vergangenen faktischen Geschehens) selbst. Der Ausdruck „Weltgericht“ hat in der heutigen als „säkularisiert“ (neuerdings auch schon als „postsäkular“) beschriebenen Gesellschaft vielleicht einen noch geringeren Verbreitungsgrad; die biblischen Quellen, etwa die Vorstellung vom „Jüngsten Gericht“, werden (zumindest von jüngeren Menschen) nur selten mitgedacht. Obwohl dies für sich genommen nicht problematisch ist, wird es unter solchen Voraussetzungen doch schwieriger, Hegels Gedankengang zu entschlüsseln. Bei dem Satz „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“2 denkt die übergroße Anzahl heutiger Hörer (so ein nicht repräsentativer Test unter Studenten) zumeist an einen resignativen bzw. blinden und mitleidslosen Machtpositivismus oder Sozialdarwinismus: Es setze sich in der Geschichte eben letztlich einfach durch, was stärker ist, im Großen und Ganzen nehme die Geschichte einen solchen 1

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Obwohl Hegels Geschichtsphilosophie eine klare Kritik jeglicher metaphysischer Eschatologie darstellt, wird er ironischerweise nach wie vor selbst als Eschatologe verstanden: „Ziel ist gerade das Gegenteil dessen, was die meisten Leser an der Oberfläche des Textes ablesen“ (Stekeler-Weithofer 2001, S. 141). Zu den Fehlinterpretationen von Hegels Geschichtsphilosophie vgl. exemplarisch auch Pinkard 2001 sowie Jaeschke 2003, S. 413 (der von einem geradezu unredlichen Theodizee-Vorwurf spricht), außerdem Fulda 2003, S. 240. Auch hört kaum jemand den Schillerschen Vers mit. Eine ausführliche Interpretation dieser Quelle, einschließlich der Differenzen zu Hegels Diktum, findet sich samt theologischen Einwänden bei Jüngel 2001.

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Verlauf, in ihr zeige sich, was Bestand verdient, es sei eine Art Siegerjustiz, wobei die vielen Opfer, Not und Ungerechtigkeiten schlicht übersehen würden. Und der nächste Gedanke ist dann oft: Und Hegel habe das auch noch gut geheißen (oder es doch immerhin hingenommen). Dazu werden dann womöglich (vornehmlich von gebildeten Hörern) scheinbar bestätigende, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate herausgesucht (es sind übrigens fast immer die gleichen, denen man schon mal irgendwo begegnet ist), wonach die Geschichte dann z.B. laut Hegel eben eine Schlachtbank sei usw. – empfindsame Gemüter wenden sich oft spätestens hier angewidert ab. Aber ist es das, was uns Hegel zu sagen hat oder was er meinte? Gewiss nicht! So berechtigt das Verlangen nach kurzen, klaren Antworten sein mag, so ist doch mit Hegel zu antworten, „daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann“ (3/40).3 Das Hegelsche extrem voraussetzungsvolle Diktum von der Weltgeschichte als Weltgericht schreit förmlich nach Auslegung – und die Interpreten sind sich alles andere als einig. Der folgende Text soll helfen, sich selbst ein Urteil zu bilden über Hegels provozierende Aussage und ihren Sinn oder Unsinn. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag daher allein auf die Interpretation jener berühmten, vielfach als provokant empfundenen These von der „Weltgeschichte als Weltgericht“ mit dem Ziel, sie in ihrem Kontext zu erklären und zu plausibilisieren.4 Hierfür erfolgen überblicksartige Informationen, die im Ergebnis ein Grundverständnis des Hegelschen Gedankengangs ermöglichen sollen. Nachdem Hegels Diktum von der Weltgeschichte als Weltgericht im Kontext seiner eigenen Philosophie und seiner Zeit dargestellt ist, wird abschließend gefragt, unter welchen Gesichtspunkten Hegels Gedanke vielleicht weiterhin Beachtung verdient oder aber als obsolet zurückzuweisen ist.

2. Vernunft in der Geschichte? Pilosophie der Geschichte als Weltgeschichte Möchte man sich Hegels Konzept von Geschichte und Weltgeschichte nähern, muss man zunächst akzeptieren, dass nicht alles, was in der Welt passiert, deshalb schon zur „Weltgeschichte“5 gehört. Überhaupt muss man die doppelte Bedeutung von „Geschichte“ beachten, sie „vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als 3 4 5

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Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚A’ steht für Anmerkung, ‚Z’ für Zusatz. Damit ist klar, dass in diesem Beitrag vieles dem Thema Zugehörige nicht mit der Ausführlichkeit behandelt werden kann, die sachlich wünschenswert wäre. Für Herkunft und einen ersten Überblick bezüglich des Konzepts einer Weltgeschichte vgl. z.B. Löwith 1953.

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subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung“ (12/83). Hegel unterscheidet in seinen Vorlesungen über die Weltgeschichte drei verschiedene Arten der Geschichtsschreibung.6 Er wildert also nicht übereifrig oder leichtfertig in fremden Gebieten (etwa dem der Historiker), Hegel akzeptiert durchaus die sinnvolle und berechtigte Arbeitsteilung, fordert jedoch zugleich auch den philosophischen Zugriff auf die Geschichte ein. Seine erkenntnisoptimistische Grundhaltung lässt dabei kaum Platz für skeptische Vorbehalte oder Skrupel. Es sei nur ein Schein, dass die philosophische, also die denkende Betrachtung der Weltgeschichte noch einer besonderen Rechtfertigung bedürfe: „[D]as Denken einmal können wir nirgend unterlassen. Denn der Mensch ist denkend“ (12/557, vgl. 7/46 ff., § 4 Z und 7/51 f., § 5 Z). Daher könne der Mensch einfach gar nicht bei der bloßen Geschichtsschreibung (der Aufzeichnung des Geschehenen, der Begebenheiten und Taten, dem Sammeln der Fakten usw.) stehen bleiben, er sei vielmehr genötigt zu denken. Natürlich denkt und reflektiert auch der Historiker (wie eben jeder Mensch), dies ist kein Privileg des Philosophen.7 Letzterem aber geht es um die explizit philosophische Betrachtung und Analyse der Geschichte; in einer Philosophie der Weltgeschichte muss es damit unter anderem um die philosophische Rekonstruktion dessen gehen, was überhaupt als Weltgeschichte gelten kann.8 Dabei ist auch das richtige Verhältnis von Gedanken und Geschehenem zu klären. Letztlich geht es darum, „die Idee in der Weltgeschichte zu erkennen“.9 Der Hinweis auf die Idee macht verständlicher, warum es der Philosophie bedarf. Geistiges, eben weil es nichts Natürliches ist, kann nur durch Geist erfasst werden, und die Philosophie ist dafür prinzipiell zuständig (wobei jeder Mensch dem folgen kann, es handelt sich also nicht um einen elitären Philosophiebegriff).10

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Hegel unterscheidet verschiedene Weisen der Geschichtsbetrachtung bzw. -schreibung (die ursprüngliche, die reflektierende und die philosophische). Vgl. 12/11 ff. und 12/543. Zu den Abgrenzungsproblemen von Philosophie und Geschichtswissenschaft und zur Frage, ob die Philosophie der Weltgeschichte eine Metatheorie für letztere sei, vgl. Bauer 2001, S. 141 ff. Zur Besonderheit des philosophischen Zugangs zum Denken und wie sich das philosophische Denken von anderem Denken unterscheidet, vgl. 8/41 ff., § 2. Weltgeschichte ist also eine philosophische Größe, sie ist „ein die Empirie übersteigendes Einheitskonzept der Vernunft, von dem bei aller Skepsis der zeitgenössischen Historiker Wolfgang Mommsen doch einmal erklärt hat, daß die zünftige Alltagsarbeit des Forschers darauf nicht endgültig verzichten könne“ (Bubner 2001, S. 34). Hegel 1966, S. 27. Weltgeschichte hat nur bedingt mit der Naturgeschichte zu tun. Vgl. 10/52, § 392 A: „Die Weltgeschichte hängt nicht mit Revolutionen im Sonnensysteme zusammen, sowenig wie die Schicksale der Einzelnen mit den Stellungen von Planeten“. Vgl. auch: „Ohnehin ist die Natur ein untergeordneterer Schauplatz als die Weltgeschichte. Die Natur ist das Feld, wo die göttliche Idee im Element der Begriffslosigkeit ist; im Geistigen ist sie auf ihrem

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Hegels Philosophie erscheint dem heutigen Bewusstsein meist fremd, und schließlich leben wir tatsächlich in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt.11 So genannte idealistische Systeme gelten derzeit in der Regel als veraltetes Denken. Wir können Hegel daher nicht so einfach und vorbehaltlos folgen, wie es dieser einst von seinen Zuhörern erwartet hatte. Aber wir sollten, sofern wir ihn verstehen wollen und bevor wir über ihn urteilen, auf seine Argumentation achten. Damals hatte er gefordert, man müsse die philosophische Grundeinsicht, dass die „Idee das Wahre, das Ewige, das schlechthin Mächtige ist“ (12/21), also auch die Überzeugung oder den Glauben daran, dass die Vernunft in der Geschichte walte, schlicht mitbringen bzw. als schon bewiesen voraussetzen. Jedoch, und das ist entscheidend, hatte Hegel von seinen Zuhörern nie blindes Vertrauen oder kritiklose Gefolgschaft, sondern Einsicht in den Sachverhalt erwartet. Er wies explizit darauf hin, dass es auch in der Wissenschaft eine Arbeitsteilung gibt. Den eigentlichen „Beweis“, die Erkenntnis der Vernunft habe nicht die Vorlesung zur Weltgeschichte,12 sondern die Philosophie zu erbringen (und das sei bereits getan, folglich könne man sich dort darüber informieren).13 Aber immerhin: In der Weltgeschichte „erweise“ sich die Vernunft doch auch. Und dies sei bei ihrer Rekonstruktion festzuhalten und darzustellen. Daher kann Hegel von der Weltgeschichte konsequenterweise sagen, sie sei „das Bild und die Tat der Vernunft“.14 Oder in ihr „die Erscheinung dieser einen Vernunft, eine der besonderen Gestalten, in denen sie sich offenbart“, erkennen.15 Nicht der Historiker oder Philosoph trägt also die Vernunft erst in die Geschichte hinein (indem er ihr nachträglich vernünftige Tendenzen nur unterstellt), sondern die Vernunft ist in der Geschichte selbst aktiv.16 Fast analog hatte Hegel in der Rechtsphilosophie argumentiert, als er im Paragraphen 31 seine „Methode“17 erläuterte: „Etwas

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chen Boden, und da gerade muß sie erkennbar sein. Bewaffnet mit dem Begriffe der Vernunft, dürfen wir uns nicht vor irgendwelchem Stoffe scheuen“ (Hegel 1966, S. 42). Das ist geradezu hegelkonform: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (7/26). Es dürfe nicht um bloße Behauptungen gehen, erst die vollständige „Abhandlung der Weltgeschichte selbst“ sei schließlich der Beweis der Wahrheit, dass Vernunft auch in der Weltgeschichte sei (Hegel 1966, S. 29). Vgl. 12/21 den Hinweis auf den Beweis der spekulativen Philosophie, inwiefern die Vernunft Substanz, unendliche Macht, sich der unendliche Stoff, unendliche Form usw. sei. Hegel 1966, S. 29. Hegel 1966, S. 30. „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen […]. Dies muß, wie gesagt, das Ergebnis der Geschichte sein“ (12/22). Auch in der Rechtsphilosophie verweist Hegel vielfach darauf, dass seine Methode anderenorts, nämlich in der spekulativen Logik, begründet und ihre Kenntnis hier vorausgesetzt sei. Zur Theorie der Rechtsformen und ihrer Logik vgl. Henrich 1982 und Fulda 1982.

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vernünftig zu betrachten heißt, nicht an den Gegenstand von außen her eine Vernunft hinzubringen und ihn dadurch bearbeiten, sondern der Gegenstand ist für sich selbst vernünftig“; in der Rechtsphilosophie ist der freie Geist die „höchste Spitze der selbstbewußten Vernunft, die sich Wirklichkeit gibt und als existierende Welt erzeugt“ (7/85, § 31 A).18 Für die (philosophische) Wissenschaft bleibt dann „nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein zu bringen“ (7/85, § 31 A). Hegel argumentiert geradezu demutsvoll. Man habe als Wissenschaftler im Grunde nur zuzusehen.19 Und wenn man „richtig“ hinsieht, dann sieht man auch die Vernunft. Diese Haltung hat häufig für Empörung20 gesorgt und brachte Hegel unter anderem den Ruf ein, sich dem preussischen Staat angebiedert zu haben.21 Kommen wir zurück zum Verhältnis von Geschichte und Philosophie. Über den spezifisch philosophischen Zugriff auf die Geschichte sagt Hegel nun:

„Der philosophischen Betrachtung ist es nur angemessen und würdig, die Geschichte da aufzunehmen, wo die Vernünftigkeit in weltliche Existenz zu treten beginnt, nicht wo sie noch erst eine Möglichkeit nur an sich ist, sondern wo ein Zustand vorhanden ist, in dem sie in Bewußtsein, Willen und Tat auftritt“ (12/81).

Den Philosophen als Philosophen hat die Geschichte also erst und nur ab dem Moment zu interessieren, wo die „Vernünftigkeit in weltliche Existenz“ tritt. Die „Vernünftigkeit“ mag es in anderer Gestalt geben, hier (in der philosophischen Geschichtsbetrachtung) zählt allein ihre weltliche Existenz. Anderes fällt damit aus der Geschichte ganz offensichtlich heraus,22 und Hegel spricht auch dezidiert von einer „Vorgeschichte“.23 Erst mit dem Moment des Eintritts der Vernünftigkeit in die 18

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Vgl. 12/417: „Das Staatsleben soll nun mit Bewußtsein, der Vernunft gemäß eingerichtet werden. Sitte, Herkommen gilt nicht mehr; die verschiedenen Rechte müssen sich legitimieren als auf vernünftigen Grundsätzen beruhend. So kommt die Freiheit des Geistes erst zur Realität“. Vgl. Hegels Bekenntnis und Forderung (12/22): „Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren“. Die Liste der Schmähungen und Beschimpfungen ist lang. Über ihre Berechtigung ist hier nicht eigens zu urteilen, doch sollte durch vorliegende Darstellung deutlich werden, dass es sich wenigstens zum Teil nur um Vorurteile handelt. Im letzten Paragraphen der Rechtsphilosophie wird der „Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft“ (7/512, § 360) erklärt, viele Kritiker meinen: verklärt. Doch ist natürlich kein konkreter historisch existierender Staat gemeint. Vgl. Horstmann 1982, S. 71: „[W]as Hegels Geschichtsphilosophie in allen ihren Versionen höchstens legitimiert, ist die Vorstellung des Staates als des allein möglichen realen Ausdrucks der wahren Verfassung des ideellen Substrats aller Wirklichkeit. Dies zu legitimieren, ist aber etwas ganz anderes als irgendeinen bestehenden Staat zur Wirklichkeit der Idee oder des Geistes zu erklären“. Das Zitat geht wie folgt weiter: „Die unorganische Existenz des Geistes, die der Freiheit, d.i. des Guten und des Bösen und damit der Gesetze bewußtlose Stumpfheit oder, wenn man will, Vortrefflichkeit ist selbst nicht Gegenstand der Geschichte“. Z.B. 12/82 f.; vgl. 7/507, § 349.

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Welt wird Geschichte für die Philosophie relevant. Das unterscheidet Hegels Geschichtskonzept von vielen anderen Vorstellungen von Geschichte. Gegenstand der Geschichte sind Hegel zufolge in weltlicher Existenz verortbare Zustände, in denen die Vernünftigkeit aufscheint bzw. anwesend ist.24 Nur und erst durch dieses tatsächliche Vorhandensein kann Vernünftigkeit Gegenstand der Geschichte sein; dass der Mensch schon „an sich“, der Möglichkeit nach, vernünftig und denkend ist, das weiß der Philosoph natürlich vorher, aber in der Geschichte geht es nicht um diese generelle, aber unentfaltete Möglichkeit, sondern deren Zeugnisse und Realisierungen. „Material“ der Geschichte sind also Akte der Vernunft selbst, Äußerungen der Freiheit.25 Hegel nennt dankenswerterweise Beispiele dafür, in welchem „Zustand“ die Vernünftigkeit tatsächlich vorhanden ist (nämlich „in Bewußtsein, Willen und Tat“). Diese Beispiele weisen zugleich auf einen für Hegel typischen Grundgedanken hin: Ohne den Menschen, seine Taten und sein Wissen darum gibt es keine Geschichte. Unmissverständlich sagt Hegel: „Im menschlichen Wissen und Wollen, als im Material, kommt das Vernünftige zu seiner Existenz“ (12/55). Ein solcher Ausdruck der Vernünftigkeit ist auch der Staat (dessen Entwicklungsgang in der Zeit zum bevorzugten Objekt der Weltgeschichte wird): „Der Staat ist die Welt, die der Geist sich gemacht hat“ (7/434, § 272 Z). Im Paragraphen 270 formuliert Hegel noch deutlicher – es ist die „Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet hat“ (7/419, § 270 A).26 Diese Äußerungen dokumentieren nicht nur, dass Vernunft in der realen Welt vorhanden, sondern von den Menschen auch als solche begriffen und gewusst wird.27 Und noch mehr: Ohne menschliche Beteiligung kommt es nicht zu diesem Entfaltungsprozess der Vernunft, menschliches Handeln trägt dazu bei, dass sich weltgeschichtlich gesehen immer mehr Vernunft verwirklicht (kein bloß quantitatives Mehrwerden, sondern als eine „Vertiefung des Geistes“, als Stufen der Bildung durchlaufend gedacht)28, dass sich trotz aller faktischen Rückschläge freiheitsermöglichende und schließlich auch frei-

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Vgl. auch Paragraphen 258: „Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelnheit“ (7/399, § 258 A). Hegel gebraucht auch noch den Ausdruck „das Vernünftige“. Vgl. z.B. 7/75, § 24 A: „Das an und für sich seiende Allgemeine ist überhaupt das, was man das Vernünftige nennt und was nur auf die spekulative Weise gefaßt werden kann“. Vgl. die Gliederung der Einleitung zur Vorlesung über die Weltgeschichte. Vgl. auch das berühmte Zitat aus der Phänomenologie über die „ungeheure Arbeit der Weltgeschichte“ (3/33 f.). Vgl. Hegels Anspruch in der Rechtsphilosophie, „daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte“ (7/24). Hegel 1966, S. 74.

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heitsverbürgende Praxisformen (bzw. das Wissen um ihren Wert) durchsetzen.29 Die Menschen erzeugen ihre eigene Welt also mit, der sie tragende, umhüllende und bestimmende Geist ist nicht anonym oder als ihnen fremder wirksam und tätig, sondern in ihnen lebendig,30 er ist zum Teil Resultat ihres gemeinschaftlichen Tuns, das zu humanen Praktiken,31 Bewertungskriterien und Idealen führt.32 Der weltgeschichtliche Entwicklungsprozess ist damit keine vorherbestimmte (am Beginn festgelegte) schicksalhafte Fügung (kein Fatum), aber auch nicht durch eine zur Verwirklichung drängende Naturanlage (wie etwa bei Kant) determiniert. Bei Hegel ist vielmehr die Idee der Täter.33 Hegel zufolge ist (was in der Philosophie bereits bewiesen worden sei), „die Idee in Wahrheit der Völker- und Weltführer, und der Geist, sein vernünftiger und notwendiger Wille ist es, der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt“ (12/19).34 Den Geist „in dieser Führung kennen zu lernen“ (12/19), bezeichnet Hegel als eigentlichen Zweck der Vorlesungen zur Weltgeschichte. Hegel bindet den Begriff der Geschichte prinzipiell an den Geist.35 Zum Begriff des Geistes gehört, dass er sich auslegt und zu einem Sich-Wissen oder Selbstbewusstsein seiner Freiheit strebt.36 Die Verwirklichung und Auslegung des Geistes

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Vgl. auch Stekeler-Weithofer 2001, S. 154: „Vernunft ‚gibt’ es in der Weltgeschichte nicht etwa deswegen, weil alles, was historisch passiert ist, venünftig gewesen wäre, oder weil es sich aufgrund einer rein a priori postulierten, eben daher transzendenten, List der Vernunft am Ende zum Guten, Besseren, oder zum Fortschritt der Aufklärungszeit gewendet hätte. Vernunft gibt es in der Geschichte, weil es selbst ein Gütekriterium einer rationalen Rekonstruktion einer Entwicklung ‚der Vernunft’, d.h. unserer Urteilskriterien, ist, diese Entwicklung als gemeinsame Tat von Menschen und nicht als Folge einer unsichtbaren Hand Gottes oder einer Naturabsicht darzustellen, welche neben oder hinter dem Zufall der Ereignisse gewirkt hat“. Man vergegenwärtige sich, dass es um lebendige Sittlichkeit geht; die Weltgeschichte wird in der Rechtsphilosophie dem dritten Teil („Sittlichkeit“) zugeordnet. Vgl. Hegel 1824/25, S. 99: „Wenn wir so eine Definition vom Menschen geben, so ist er ein Lebendiges, ein selbstbewußtes Lebendiges, mithin denkendes Lebendiges, mithin freies Lebendiges. Die Notwendigkeit der Freiheit muß also für sich als notwendig gezeigt werden und was hinzuzufügen ist, die Freiheit muß sich realisieren, verwirklichen, sich ihre Welt erschaffen, sich ein System der Freiheit erschaffen, sich äußern, sich Dasein geben“. Stekeler-Weithofer 2001, S. 152. Vgl. Pippin 2001 und ausführlich Pippin 2005. „Die Weltgeschichte ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raume die Idee als Natur auslegt“ (Hegel 1966, S. 154; vgl. 12/96 f.). Die Idee als „wirkliche“ ist Geist. Vgl. z.B. 7/410, § 262. Zur Differenz von Wirklichkeit und Existenz vgl. z.B. 7/428 ff., § 270 Z und die Vorrede der Rechtsphilosophie. Für einen Überblick dieser konstitutiven Beziehung s. Hespe 1998. Vgl. Hegel 1966, S. 153: „Es ist dem Begriffe des Geistes gemäß, daß die Entwicklung der Geschichte in die Zeit fällt“. Zur generellen Konzeption des Geistes vgl. ausführlich und prägnant Fulda 2003, S. 156-265.

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fallen in die Zeit, damit ist der Geist wesentlich geschichtlich.37 Er verwirklicht sich z.B. in menschlichen Taten, Institutionen, Lebens- und Wissensformen – seine Entwicklung (in der Zeit) ist Gegenstand der Geschichte. „Dieser Prozeß, dem Geiste zu seinem Selbst zu seinem Begriffe zu verhelfen, ist die Geschichte.“38 Und als begriffene, also philosophisch betrachtete Geschichte, ist Geschichte für Hegel dann nahezu gleichbedeutend mit Weltgeschichte.39 Weltgeschichte (ebenso wie eigentliche Geschichte) gibt es demnach nicht „einfach so“. Sie ist nichts schlechthin Vorfindliches, nicht identisch mit dem bloßen Geschehen, mit Erzählungen, formeller Prozessualität oder irgendwelchen Ereignisfolgen.40 Sie ist vielmehr auf den „geistigen Boden“ angewiesen.41 Es handelt sich um einen objektiven Zusammenhang, der denkend gestiftet wird. Geschichte wird somit erst durch den Menschen konstituiert. Ihre „Objektivität“ ist jedoch prinzipiell begrenzt, insofern „subjektive“ Vorstellungen notwendig in ihre Konstitution hineinspielen; ohne menschliches Wissen und Vergegenwärtigung der Zusammenhänge des zeitlich Vergangenen, ohne die Erhebung des Geschehens und der Begebenheiten in ein „Werk der Vorstellung“ (12/12 und 12/545) sowie die Selbstverortung im Entwicklungsprozess der Vernunft gibt es gar keine objektive Geschichte.42 Begriffene Geschichte wie überhaupt jegliche Philosophie sind folglich notwendig standpunktgebunden und gehören ihrer jeweiligen Zeit an: „Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit“ (7/26).43 Hegel wird zu Recht als der Denker der „Geschichtlichkeit“ bezeichnet.44

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In gewisser Weise ist er auch räumlich verortbar. Hegel hat auf die natürlichen und geographischen Bedingungen weltgeschichtlicher Entwicklung mehrfach verwiesen, z.B. 7/505, § 346. Hegel 1966, S. 72. Hegel argumentiert dafür, dass Geschichtsschreibung vom Standpunkt der Philosophie nur als begriffene Geschichte, als Weltgeschichte sinnvoll ist. Vgl. Jaeschke 1996 und Bauer 2001, S. 141. Das gilt auch für die Rechtsphilosophie, wo die Weltgeschichte zunächst nur wie eine objektive äußere Staatengeschichte erscheint. Ohne die Vergegenwärtigung des eigenen Orts im Entwicklungsprozess der Vernunft gibt es keine Geschichte. Vgl. Jaeschke 2003, S. 405. „[D]er Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt“ (12/83). Geschichts- und insbesondere Weltgeschichtsschreibung enthalten notwendig zeit- und standpunktgebundene Urteile (vgl. Stekeler-Weithofer 2003, S. 157). Hegel polemisiert auch gegen den Tatsachenfetischismus, man könne nichts „rein“ auffassen, sondern bringe seine Kategorien immer mit. Nur hingewiesen sei auf den Umstand, dass sich Hegel damit gegen eine naiv„objektivistische“ Geschichtsauffassung (z.B. Condorcet, Herder) wendet. Vgl. hierzu sehr informativ Jaeschke 2003, S. 353 und S. 404 ff.

3. Begriff und Einteilung der Weltgeschichte

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Der Ausdruck „Weltgeschichte“ wird von Hegel deutlich erkennbar in einem recht speziellen Sinn verwendet. Hegel hat darüber mehrfach Rechenschaft gegeben und über die Weltgeschichte (und damit ihren Gegenstand) nicht nur und erst in seinen populären Berliner Vorlesungen gesprochen, sondern er hat ihr zuvor in publizierten Texten auch bereits einen systematischen Ort zugewiesen. Für den hiesigen Zweck einer kurzen Übersicht sind daher die Enzyklopädie und vor allem die Rechtsphilosophie relevant.45 Die in letzterer erfolgten Bemerkungen bezeichnet Hegel später (in den Vorlesungen) zwar nur noch als eine Art Einleitung oder Überblick zum Thema (also nicht die Sache oder Ausführung selbst).46 Gerade deshalb eignen sich die relativ kurzen Passagen aber für das Verstehen der Problematik bzw. des Gebiets der Weltgeschichte.47 Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Ausführungen besteht darin, dass sie von Hegel selbst verfasst, mithin auch autorisiert sind. Bei den so genannten Vorlesungen, so wichtig sie für uns sind, handelt es sich zumeist um Nachschriften von Zuhörern, seltener auch um Manuskripte Hegels,48 die als solche jedoch eigentlich nie für eine Publikation vorgesehen waren, deren Inhalt im Vortrag gewöhnlich von Hegel wesentlich erweitert und zusätzlich noch erläutert wurde.49 In der Rechtsphilosophie ist „Weltgeschichte“ der Titel für die abschließenden Ausführungen im letzten Abschnitt zum Staat innerhalb des umfassenderen dritten Teils zur Sittlichkeit (7/503-512, §§ 341-360).50 Diese schließen direkt an das „äußere Staatsrecht“ an. So verhält es sich auch in der Enzyklopädie,51 wo der Abschnitt zur Weltgeschichte unmittelbar auf das äußere Staatsrecht folgt. Diese ziemlich 45 46

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Weltgeist und Weltgeschichte sind für Hegel in seiner philosophischen Entwicklung schon früh von Interesse, man kann daher verschiedene Stadien ihrer Konzeption und Ausarbeitung unterscheiden. Einen Überblick über Stufen und Motive der Wandlung gibt Horstmann 1982. Hegel empfiehlt die Lektüre der Paragraphen 341-360 ausdrücklich für ein erstes Kennenlernen der Problematik einer Philosophie der Weltgeschichte und „de[r] Momente […], auf die es ankommen wird“. In ihr nämlich habe er „bereits den näheren Begriff solcher Weltgeschichte, […] wie auch die Prinzipien und Perioden angegeben, in welche deren Betrachtung zerfällt“ (12/11; vgl. 12/543). Vgl. auch Fuldas Hinweis: „Die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte und die Materialfülle der Ausführung (vor allem in den Vorlesungen) tragen leicht dazu bei, daß man vor Bäumen den Wald nicht sieht“. An Hegels Lösung seien aber vor allem die „großen Linien“ interessant (Fulda 2003, S. 233). Die Einleitung in die Vorlesung 1830/31 ist als Manuskript, nahezu als Reinschrift, erhalten. Hegel hat die Vorlesungen nicht selbst veröffentlicht, doch spielten sie eine große Rolle für die Rezeption seines Werks und verdienen, will man die Wirkungsgeschichte Hegels verstehen, zwingend Beachtung. Vgl. schon 7/87 ff., § 33 als Vorschau, außerdem 7/404 ff., § 259 und 7/435 ff., § 273. Vgl. 10/347 ff., §§ 548 f.; 10/353 ff., § 552.

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einheitliche Positionierung der Weltgeschichte zeugt davon, dass Hegel ihr innerhalb seiner Systemarchitektonik genau diesen Platz zuordnet. In der Rechtsphilosophie wird die Weltgeschichte außerdem ganz deutlich an das prominente Ende des Buchs gestellt. Damit bildet sie schon rein äußerlich den Abschluss, den Schlussstein von Hegels Rechtsphilosophie, mithin – wie man in heutiger Terminologie eher sagen würde – seiner praktischen Philosophie. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Weltgeschichte nahezu überall mit dem Staat „verbunden“ ist. Denn sie gehört für Hegel wie dieser52 zunächst zur Sphäre des objektiven Geistes. Was immer man von Hegels Einteilung auch hält, sie ist konsequent. Gleichzeitig markiert die Philosophie der Weltgeschichte aber auch noch den Übergangspunkt von der Philosophie des objektiven Geistes zu derjenigen des absoluten Geistes, also den Übergang von der praktischen Philosophie hin zu Kunst, Religion und Philosophie.53 Hegel hat in den Vorlesungen mehrfach darauf hingewiesen, dass der Zustand der letzteren signifikant von der je konkret in einem Staat herrschenden Sittlichkeit (mithin vom objektiven Geist; Sittlichkeit ist als Gegenstand praktischer Philosophie zentrales Thema der Rechtsphilosophie) geprägt sei, sie also in Wechselwirkung stünden. Religion, Kunst und Philosophie können eigentlich erst im Staat zur vollen Blüte kommen.54 Walter Jaeschke schlägt angesichts dieser „doppelten“ Stellung der Weltgeschichte vor, zwei Begriffe von Weltgeschichte zu unterscheiden (einen partiellen und einen umfassenden Begriff der Weltgeschichte): Einmal geht Weltgeschichte quasi aus dem Verhältnis der Staaten zu einander hervor (ist innere und äußere Geschichte von Staaten, im Bereich des objektiven Geistes). Andererseits aber bezeichnet Weltgeschichte insgesamt den Prozess und die Bewegung, den Begriff des absoluten Geistes herauszuarbeiten.55 Diese umfassendere Weltgeschichte beinhaltet die Ent-

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Vgl. 7/429, § 270 Z: „Der Staat ist der entwickelte Geist und stellt seine Momente an den Tag des Bewußtseins heraus; dadurch, daß das, was in der Idee liegt, heraus in die Gegenständlichkeit tritt, erscheint der Staat als ein Endliches, und so zeigt sich derselbe als ein Gebiet der Weltlichkeit“. Doch ist zu präzisieren: „[D]aß der weltliche Geist, das heißt der Staat, nur ein endlicher sei, ist eine einseitige Ansicht, denn die Wirklichkeit ist nichts Unvernünftiges. Ein schlechter Staat freilich ist nur weltlich und endlich, aber der vernünftige Staat ist unendlich in sich“ (7/429, § 270 Z). Diesen „Übergang“ hat Eduard Gans früh bemerkt und 1833 als hoch bedeutsam gewürdigt: „Welches ungeheure Schauspiel ist aber diesem Buch als Schluß beigegeben! Von der Höhe der Staaten aus sieht man die einzelnen Staaten als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen, und der kurze Abriß der Entwicklung derselben ist nur die Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen“ (Gans 1833, S. 244). Z.B. Hegel 1966, S. 134 f. Jaeschke 2003, S. 352 und S. 402

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wicklung des Geistes überhaupt, damit auch die Geschichte der Kunst, Religion und Philosophie (also die Geschichte des absoluten Geistes).56 Weltgeschichte impliziert in jedem Falle einen Entwicklungsgang. Der Paragraph 342 gibt diesbezüglich zentrale Auskunft, indem er unterstreicht, dass es sich bei der Weltgeschichte um den Prozess der Selbstauslegung des allgemeinen Geistes als Weltgeist handelt und daher notwendig verschiedene Momente und Stufen zu unterscheiden sind. Die Weltgeschichte ist Hegel zufolge die „notwendige Entwickelung der Momente der Vernunft“, die „Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes“ (7/504, § 342). Das heißt zumindest zweierlei: erstens hat die Vernunft (von deren Gestalten oben schon die Rede war) verschiedene „Momente“, die sich entwickeln bzw. in der Weltgeschichte entwickelt („ausgewickelt“) werden, und zweitens ist diese Entwicklung ihrer Momente nicht zufällig, sondern notwendig.57 Außerdem wird hier eine eine Art Subjekt58 der Weltgeschichte genannt, nämlich der allgemeine Geist, der sich auslegt und verwirklicht, und das nicht irgendwo, sondern in dem sich ereignenden Geschehen der menschlichen Welt. Die Weltgeschichte ist damit die Vergangenheit des zeitlich gegenwärtigen Weltgeistes. Man denke an dieser Stelle an die vielleicht berühmteste inhaltliche Definition der Weltgeschichte: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“ (12/32). Für den Nachweis eines solchen Fortschritts und zum Zwecke des Begreiflichmachens der Etappen dieses Fortschreitens unterscheidet Hegel verschiedene Stufen der Entwicklung des Geistes.59 Hegel stellt klar, dass es sich um einen Wissensgewinn handelt, der sich schrittweise durchgesetzt habe: Dass „die Orientalen nur gewusst haben, daß Einer frei sei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, daß alle Menschen an sich frei, der Mensch als Mensch frei“ ist 56

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Jaeschke 2003, S. 403 thematisiert auch die Spannung zwischen diesen beiden Begriffen von Weltgeschichte: „‚Weltgeschichte’ im partiellen Sinn von Staatengeschichte läßt sich […] nur denken in Wechselbeziehung mit der ‚universellen’ Weltgeschichte des Geistes. Deshalb bindet Hegel Geschichte im emphatischen Sinn an das Auftreten von Staaten. Erst mit der Entstehung der Staaten formieren sich die Gestalten des ‚absoluten Geistes’ und damit diejenigen Formen des Wissens, die eine ‚conditio sine qua non’ nicht allein der ‚Vertiefung’ des Staates darstellen, sondern insbesondere dafür, daß seine Bewegung als Geschichte gewußt wird“. Vgl. z.B. Hegel 1966, S. 151 zum Ausschluss des Zufälligen. „Es geht dabei nicht um die Annahme eines Großsubjekts hinter dem Rücken unseres individuellen und gemeinsamen Handelns. Dies meinen nur diejenigen, welche nominalisierte Titel wie ‚Vernunft’ und ‚Weltgeist’ immer noch als Namen von personenartigen Wesen lesen“ (Stekeler-Weithofer 2001, S. 153). Vgl. Hegel 1966, S. 73: „Der Geist ist frei; und sich dies sein Wesen wirklich zu machen, diesen Vorzug zu erreichen, ist das Bestreben des Weltgeistes in der Weltgeschichte. Sich zu wissen und zu erkennen ist seine Tat, die aber nicht mit einem Male, sondern im Stufengange vollbracht wird. Jeder einzelne neue Volksgeist ist eine neue Stufe in der Eroberung des Weltgeistes, zur Gewinnung seines Bewußtseins, seiner Freiheit“.

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(12/32). Hiermit liegt zugleich die Einteilung der Weltgeschichte vor, die Hegel überall beibehält.60 Die Geschichte des Geistes ereignet sich „in Form des Geschehens, der unmittelbaren natürlichen Wirklichkeit“, so dass die Entwicklungsstufen des Geistes „als unmittelbare natürliche Prinzipien vorhanden“ sind (7/505, § 346). Natürlichkeit meint hier, dass die angesprochenen Prinzipien des gemeinsamen Handelns bzw. der Sittlichkeit als selbstverständlich anerkannt sind. Einem Volke kommt je nur eines derselben zu (7/505, § 346).61 „Dem Volke, dem solches Moment als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen“, es ist dann „in der Weltgeschichte für diese Epoche […] das herrschende“, also der „Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes“ (7/505 f., § 347).62 Der Weltgeist ist tätig, immer in Bewegung; zur präzisen Beschreibung dieser seiner Tätigkeit und um den Weg der schrittweisen Entfaltung des Weltgeistes, seines Zusichkommens und Sichwissens genauer angeben zu können, unterscheidet Hegel exakt vier „Prinzipien der Gestaltungen dieses Selbstbewußtseins in dem Gange seiner Befreiung“ (7/507, § 352). Die Prinzipien nennt Hegel im Paragraphen 353, anschließend ordnet er diesen vier Prinzipien ebenso vier „welthistorische Reiche“ (7/509, § 354) zu: das orientalische, das griechische, das römische und das germanische Reich (7/509-511, §§ 355-358). In den vier Reichen ist jeweils eines der vier genannten Prinzipien dominant, die Aufeinanderfolge der Prinzipien und Perioden in der Zeit ist nach Hegel, so viel sollte jetzt klar sein, nicht kontingent, sondern notwendig, und die Philosophie der Weltgeschichte hat diesen Zusammenhang zu erklären.63 In der Rechtsphilosophie wird nur der Grundriss gegeben (die „Prinzipien“ und „Perioden“ bzw. „Epochen“64 werden lediglich benannt und auf weniger als 60

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„Aufgabe einer philosophischen Weltgeschichte, wie sie sich Hegel vorstellt, ist […] die verbale Explikation der Realentwicklung der Idee der personalen Autonomie und Würde. Dargestellt werden soll diese Idee im Kontext des Realbegriffs der Vernunft und des Fortschritts“ (Stekeler-Weithofer 2001, S. 143). Vgl. zum je besonderen Prinzip schon 7/505, § 344. Wenn Hegel vom Tod eines Volks spricht, ist das nicht wörtlich zu nehmen. Vgl. Hegel 1966, S. 69: „Bei solchem Tode kann sich ein Volk recht gut befinden, obwohl es aus dem Leben der Idee herausgetreten ist. Es dient dann als Material eines höhern Prinzips […]. Das Prinzip aber, zu dem ein Volk gelangt ist, ist ein Wirkliches; auch wenn es in der Gewohnheit seinen Tod findet, so kann es doch als ein Geistiges nicht aussterben, sondern es drängt sich zu einem Höhern durch“. Vgl. Hegel 1966, S. 65: „Der einzelne Volksgeist vollbringt sich, indem er den Übergang zu dem Prinzip eines anderen Volks macht, und so ergibt sich ein Fortgehen, Entstehen, Ablösen der Prinzipien der Völker. Worin der Zusammenhang dieser Bewegung bestehe, das aufzuzeigen, ist die Aufgabe der philosophischen Weltgeschichte“. Herder hatte die Weltgeschichte übrigens in dieselben vier Epochen unterteilt. „Aber nur Hegel hat Prinzipien dafür angegeben und ihre Verbindung mit einer Struktur des allgemeinen Geistes sowie mit einer aus dieser Struktur begreiflichen Hauptzäsur aufgedeckt“ (Fulda 2003, S. 238).

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zehn Druckseiten abgehandelt – die Vorlesungen führen das schließlich ausführlich aus).65 Im Paragraphen 384 der Enzyklopädie erklärt Hegel den Gang der Weltgeschichte darüber hinaus generell aus dem Drang, die höchste Definition des Absoluten (dass es Geist sei) zu finden und deren Inhalt und Sinn zu verstehen:

„[D]ies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen“ (10/29, § 384 A).

4. Die Weltgeschichte als Weltgericht? Wie eingangs erwähnt, stößt das Hegelsche Diktum zumeist auf Unverständnis oder Ablehnung. Und aus dem Zusammenhang gerissen ist es in der Tat kaum verständlich, selbst wenn man theologische, philosophische und historische Vorbildung mitbringt.66 Auch wenn man in etwa weiß, was Hegel unter Weltgeschichte versteht, drängen sich verschiedene skeptische Fragen auf. Wie kann denn die Weltgeschichte überhaupt ein Gericht sein? Und auch noch ein Weltgericht, was heißt hier Welt? Und worüber wird denn überhaupt gerichtet? Was „tut“ ein solches Gericht, wer genau ist Richter, wer Angeklagter, worin besteht das Urteil? Auf welche Weise wird es vollstreckt? Kann das Weltgericht sich irren, wo kann man Berufung einlegen? Diese und andere Fragen entstehen, wenn man den wörtlichen Sinn von Hegels Wendung zu entschlüsseln sucht. Aber sollte man wirklich so vorgehen? Frei nach Aristoteles und Blumenberg kann man jeden Autor widerlegen, sofern man nur seine Metaphern wörtlich nimmt. Ist Hegels Aussage aber überhaupt eine Metapher?67 Ganz sicher ist zunächst nur, dass es sich bei dem Weltgericht nicht um eine empirische Institution handelt.68 Folgen wir besser Hegels Maxime, nämlich einen Autor vor der vorzunehmenden Kritik zunächst einmal erst so stark wie irgend möglich zu 65

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Vgl. z.B. Hegel 1966, S. 143. Hier weist Hegel darauf hin, dass nur bedingt aus der Geschichte zu lernen sei: „Aus der Geschichte kann […] nichts für die gegenwärtige Gestaltung der Staatsverfassung gelernt werden. Das letzte Prinzip der Verfassung, das Prinzip unserer Zeiten, ist in den Verfassungen der frühern welthistorischen Völker nicht enthalten“. Zu einigen der Quellen (und ihren geläufigen Fehlinterpretationen) vgl. Jüngel 2001. Hegel greift beim Thema Weltgeschichte letztlich doch auf verschiedene Metaphern zurück. Er spricht von ihr unter anderem als Welttheater oder als Drama, vom Teppich der Weltgeschichte, dem Gemälde der Weltgeschichte. Es ist also nicht an einen internationalen Gerichtshof (wie in Den Haag) gedacht. Vgl. die prägnante Interpretation von Bubner: „Die vom Dichter entlehnte Formel, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, besagt im Rahmen von Hegels System, daß an einer zentralen Stelle innerhalb der Geschichte Entscheidungen gefällt werden. Diese Entscheidungen sind keine Menschenurteile vor legitimierten oder imaginierten Gerichten. Es sind weltgeschichtliche Entscheidungen“ (Bubner 2001, S. 34).

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machen. Hegel selbst hat die Wendung von der Weltgeschichte als Weltgericht übrigens nicht sehr oft gebraucht, und man könnte daher den Eindruck gewinnen, dass es vielleicht doch eine eher metaphorische Aussage statt eine exakte philosophische Bestimmung sei. Hegel sagt (wenigstens in dem Zitat) ja nicht, die Weltgeschichte sei das Weltgericht (so wie in anderem Zusammenhang Schiller dies tut), sondern er fügt das Wort „als“ ein, was dann ein wenig so klingt, als ob man sich die Weltgeschichte nur eben auch als solches Weltgericht vergegenwärtigen könne, quasi in einer Art Analogie. Doch Vorsicht! Liest man die Rechtsphilosophie genau, ist diese Argumentationsweise nicht mehr zutreffend. Hegel gibt sich nämlich Mühe, das berühmt-berüchtigte Zitat tatsächlich zu rechtfertigen. Es handelt sich bei der Äußerung also gerade nicht um eine versehentlich oder nebenbei geäußerte Analogie, sondern um eine Kernthese Hegels. Das wird einerseits daran ersichtlich, dass er nach der bekannten Äußerung im Paragraphen 340 im Fortgang des Buchs explizit zu erklären sucht, was damit gemeint sei: Im Paragraphen 341 erläutert Hegel, inwiefern und warum die Weltgeschichte ein Gericht ist, im Paragraphen 342 wird gesagt, was unter der Macht des Gerichts zu verstehen ist, und in den Paragraphen 345 sowie 347 erfährt man, was in der Weltgeschichte als „absolutes Recht“ betrachtet wird (wie denn auch die weiteren Ausführungen so zu verstehen sind, dass sich in der Weltgeschichte das Weltgericht vollzieht). Andererseits (und vor allem) aber weisen schon frühere Passagen in der Rechtsphilosophie deutlich darauf hin, dass es sich um eine genau durchdachte Konstruktion handelt. Man betrachte nur den Paragraphen 259, der sich im Vorspann, der Einleitung des dritten Abschnitts (nämlich zum Staat) findet. Hier wird nicht nur angekündigt, dass sich der (Welt)Geist im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit gibt,69 sondern es wird auch das Rätsel um den Richter aufgelöst: „Der alleinige absolute Richter […] ist der an und für sich seiende Geist, der sich als das Allgemeine und als die wirkende Gattung in der Weltgeschichte darstellt“ (7/406, § 259 Z).70 Bevor die Triftigkeit der Hegelschen Aussage eigens diskutiert wird, folgt hier eine knappe Rekonstruktion seines eigenen Argumentationsganges. Die berühmte 69 70

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Vielleicht klingt hier beim Terminus Prozess neben dem vordergründigen immanenten Fortschreiten des Weltgeistes in der Weltgeschichte auch der „juristische“ Aspekt, das Verfahren, an? Wenn man den Aufbau des Buchs verfolgt und betrachtet, wie Hegel das Thema ankündigt, vorbereitet und dann am Ende (relativ kurz) ausführt, erkennt man die Stringenz der Einführung des Begriffs der Weltgeschichte sowie des Weltgerichts. Vgl. z.B. 7/87 ff., § 33 (Stufengang der Entwicklung der Idee führt zur Weltgeschichte); 7/404 ff., § 259 (Geist als absoluter Richter in der Weltgeschichte); 7/415 ff., § 270 (Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet hat); 7/435 ff., § 273 (Ausbildung staatlicher Verfassungen und Gestaltung des sittlichen Lebens als Sache der allgemeinen Weltgeschichte) und dann 7/503-512, §§ 340-360 (Übergang zum Abschnitt Weltgeschichte und deren Ausführung selbst).

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Aussage von „der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte“ findet sich im Paragraphen 340. Und zwar exakt an der Stelle des Übergangs vom Abschnitt des äußeren Staatsrechts zu dem der Weltgeschichte. Der Übergang zur Weltgeschichte ist begriffsnotwendig, und er bezeichnet ein reales Problem. Dieses muss man im Grunde nicht lange suchen, da Hegel es selbst benennt. Die einzelnen Staaten stehen zueinander in einem konkreten Verhältnis, einer realen Beziehung. Sie ringen miteinander um und benötigen wechselseitige Anerkennung (7/498 f., § 331), sie sind überhaupt nur individuelle souveräne Staaten, indem sie sich von anderen Staaten abgrenzen.71 Unübersehbar wird dadurch aber auch eine erhebliche Menge von Konflikten produziert. Es gibt verschiedene Interessen und Bedürfnisse, verschiedene Überzeugungen und Kulturen und daher auch einen „Streit der Staaten“ (7/500, § 334).72 Die große Frage ist, wie mit diesen Konflikten umgegangen wird, ob und wie sie ggf. vertraglich geregelt werden können, wie gewährleistet werden kann, dass nicht mehr Zufall, Willkür oder physische Macht entscheiden. Dabei setzt Hegel voraus: Es gibt in diesem Streit (zunächst) keinen „Prätor“; was es allenfalls gibt, sind „Schiedsrichter und Vermittler zwischen den Staaten“ (7/500, § 333 A; vgl. 7/502 f., § 339 Z), jedoch haben sie alle ihren je besonderen Willen, so dass ihnen etwas Zufälliges und Willkürliches anhaftet. Unter anderem aus diesem Grund der Zufälligkeit lehnt Hegel auch Kants Vorstellung eines den Streit schlichtenden Staatenbundes ab (ebd.). Durch diese Zufälligkeit und Besonderheit der Staaten bei gleichzeitig ihnen zuerkannter Souveränität bleibt nämlich ein generelles Manko bestehen: Jegliche zwischen ihnen geschlossene Vereinbarungen und Traktate behalten lediglich einen Sollenscharakter. Die Verträge und Verbindlichkeiten sollen zwar eingehalten werden, doch herrscht eigentlich weiterhin eine Art Naturzustand (wo also letztlich die Stärke, nicht das Recht zählt): „Weil aber deren [der Staaten] Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit“ (7/499 f., § 333). So sieht die Wirklichkeit aus, und daher werden die Verträge mal eingehalten, mal ignoriert.73 Das ist ein inakzeptabler Zustand, denn damit ist die gesamte Wirklichkeit des

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Das gilt sogar noch im Kriegsfall: „Darin, daß die Staaten sich als solche gegenseitig anerkennen, bleibt auch im Kriege, dem Zustande der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band, in welchem sie an und für sich seiend füreinander gelten, so daß im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist“ (7/502, § 338). Vgl. 7/404, § 258 Z: „Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums“. Vgl. auch Hegels scharfe Kritik an Haller, dass es diesem nicht um die „Macht des Gerechten und Sittlichen, sondern die zufällige Naturgewalt“ (Macht des Stärkeren) gehe (7/403, § 258 Fn. zur A).

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Rechts selbst gefährdet.74 Hegel sieht diese Gefahr und reagiert auf sie noch innerhalb der Rechtsphilosophie. Den abschließenden Abschnitt zur Weltgeschichte kann man als Antwort auf dieses Problem lesen. Im Paragraphen 333 war zu erfahren, warum völkerrechtliche Verträge stets nur ein bloß Gesolltes blieben: Weil ein allgemeiner Wille fehlte, der über die besonderen Staaten Macht hätte.75 Wendet man sich nun dem Übergang zur Weltgeschichte zu, fällt auf, dass sich Hegel hier vor allem dem allgemeinen Geist (in Form des Weltgeistes) widmet, und zwar exakt unter dem oben genannten Gesichtspunkt.76 Im Zusatz zu Paragraphen 339 wird in Erinnerung an obigen Zustand der in Konflikten befindlichen Staaten gleichsam die Lösung präsentiert: „[E]s ist kein Prätor vorhanden, der da schlichtet: der höhere Prätor ist allein der allgemeine an und für sich seiende Geist, der Weltgeist“ (7/503, § 339 Z).77 Das ist im Grunde Hegels zentrale Aussage zu unserem Thema – der Anführer und oberste Richter ist der Weltgeist (so auch im Zusatz von Paragraphen 259). Dieser legt sich in der Weltgeschichte wirksam aus, und insofern ist die Weltgeschichte zugleich das Weltgericht. Kein jenseitiges Weltgericht nach dem Ende aller Zeiten ist also zu erwarten, sondern das Weltgericht ereignet sich bereits in der Weltgeschichte. Eberhard Jüngel hat bei allen aus christlicher Sicht notwendigen Einwänden78 gegen Hegel anerkannt:

„Die alttestamentliche Vorstellung vom Völkergericht rezipierend, ist das Weltgericht für ihn [Hegel] das sich innerhalb der fortschreitenden Weltgeschichte vollziehende Urteil über das, was in dieser Zukunft haben soll. Und das ist allein die Freiheit“.79

Diese Hegelsche Konzeption habe den großen Vorzug, dass die Rede vom Weltgericht ihren drohenden Charakter verliert und mithin nicht mehr „die Funktion hat, Moralität zu erpressen“.80 Dass es sich bei dem höchsten Richter, dem Weltgeist, nicht um eine irgendwie von außen nur dazu kommende Figur oder eine a priori ausgedachte externe Lösung 74

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79 80

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Vgl. Fulda 2003, S. 232: „Gefährdet ist also nicht nur die Durchsetzung von Ansprüchen äußeren Staatsrechts, sondern […] diejenige aller Rechtsansprüche und mit ihr alle Rechtswirklichkeit […], schlechthin alles, was einem Volk des Rechtsschutzes wert erscheinen mag“. Hegel wendet sich insgesamt gegen Theorien, die das Verhältnis der Staaten zueinander als ein privatrechtliches fassen. Aufgrund der jeweiligen Souveränität der Staaten kann es über ihnen kein Gericht (wie es Privatpersonen über sich haben) geben, das das Recht realisiert. Und zum Weltgeist gehört ein Wille: „[S]ein vernünftiger und notwendiger Wille ist es, der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt“ (12/19). Hegel spricht vom „höheren“ Prätor; einen empirischen Schlichter gibt es für ihn nicht. Der richtende Gott und die persönliche Verantwortung vor Gott würden letztlich überflüssig, schon Kierkegaard habe das erkannt: „[Ich] weiß, daß man uns lehren will, daß die Weltgeschichte das Gericht sei; aber ich weiß auch, daß dies eine Erfindung des menschlichen Witzes ist, welcher das Gottesverhältnis abschafft“ (Kierkegaard 1962, S. 174). Jüngel 2001, S. 27. Jüngel 2001, S. 27.

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handelt, wird aus dem Text deutlich. Der Weltgeist ist, wie oben ausgeführt, nichts kompliziert Verstiegenes, auch kein Gespenst: „Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert“.81 Die Welt des Geistes ist der Bereich der Ideen und Formen des gemeinsamen Lebens und Handelns, der sich innerhalb konkreter Kulturen, konkreter Sittlichkeit entwickelt.82 Konsequenterweise lässt Hegel eben diesen Weltgeist im Paragraphen 340 aus der „erscheinende[n] Dialektik der Endlichkeit“ der konkreten Volksgeister selbst hervorgehen.83 Genauer gesagt bringt sich „der allgemeine Geist, der Geist der Welt“ (7/503, § 340), sogar selbst hervor.84 Und das muss er auch, weil er nicht nur allgemeiner Geist ist, sondern allgemeiner Geist „an und für sich“, das heißt sein Wissen von sich, sein Selbstbewusstsein gehören zu ihm. Exakt diesem Weltgeist spricht Hegel im Paragraphen 340 dann das „allerhöchste“ Recht zu, welches dieser an den je besonderen, also endlichen und konkreten Volksgeistern „in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt“ (7/503, § 340).85 Dies ist in etwa der (verkürzte) äußere Rahmen für die Einführung des Gedankens vom Weltgericht, wie man ihn dem Text der Rechtsphilosophie entnehmen kann. Wie sehen nun die einzelnen Argumente aus? Hegel argumentiert in der Rechtsphilosophie begrifflich, philosophisch.86 Die Dialektik der Endlichkeit führt begrifflich über die Völkergeister hinaus zu einem „unbeschränkt“ (7/503, § 340) allgemeinen Geist: Das ist der Weltgeist.87 Das heißt nicht, dass nun die Völkergeister ver81

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Hegel 1966, S. 60. Der allgemeine Geist „heißt Weltgeist, weil seine Allgemeinheit die ganze sittliche Welt umfaßt und weil er sich sogar in der Welt, als einer Sphäre des Zufalls, der Willkür und des Irrtums, realisiert“ (Fulda 2003, S. 234), also nicht nur logisch oder begrifflich entwickelt wird. Vgl. Stekeler-Weithofer 2001, S. 151. Die Heidelberger Enzyklopädie drückt den Zusammenhang von Volksgeist, Weltgeschichte und Weltgericht vielleicht noch klarer aus: „Der bestimmte Volksgeist, da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, ist zuletzt auch in der Zeit und hat eine durch sein besonderes Prinzip bestimmte Entwicklung seiner Wirklichkeit in derselben, – eine Geschichte. Als beschränkter Geist aber geht er in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister, das Weltgericht, darstellt“ (12/559, § 448; vgl. 10/347, § 548). Jaeschke 1996, S. 369 weist darauf hin, dass Hegel das Verhältnis der Weltgeschichte zur Geschichte des absoluten Geistes nirgends explizit geklärt habe. An dieser Stelle geht es um den allgemeinen, nicht den absoluten Geist. Vgl. bezüglich des absoluten Geistes z.B. Hegel 1966, S. 147 und S. 182. Im Paragraphen 345 wird ausgeführt, dass in der Weltgeschichte jeweils „dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht“ erhält (7/505, § 345). Was welthistorisch an der Zeit ist, setzt sich (ohne Rücksicht auf Glück o.ä.) durch. Vgl. für nachfolgende Interpretation ausführlich Fulda 2003, S. 233 ff. Im Paragraphen 341 erläutert Hegel, wie und als was das Dasein des allgemeinen Geistes in der Weltgeschichte zu verstehen sei. Allgemeiner Geist hat Dasein nämlich auch anderenorts (in Kunst, Religion und Philosophie). Während er dort als Anschauung und Bild, Gefühl und

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schwinden oder untergehen (der Weltgeist, folgt man Hegel, ist ja jeweils in einem konkreten Volksgeist „zu hause“). Aber es „gibt“ nun etwas Höheres, das „über“ ihnen als je besondere Geister steht (und gegen dessen Macht, wie Hegel mehrfach betont, sie nichts vermögen). Die Dialektik ist nicht nur eine der Endlichkeit, sondern auch erscheinende Dialektik. Das führt dazu, dass aus ihrer Erscheinung etwas hervorgeht, und zwar ein neues „wesentliches Verhältnis“ des allgemeinen Geistes zu den Objektivationen der Völkergeister: Er (der allgemeine Geist oder auch Weltgeist) ist relativ zu ihnen als Teilen das Ganze, und er besitzt das Vermögen oder die Kraft, an diesen Teilen (also den Völkergeistern) Äußerungen hervorzubringen. Diese Äußerungen lassen sich in den Völkergeistern nachweisen und in der philosophischen Weltgeschichte rekonstruieren.88 Im „Ergebnis“ hat der allgemeine Geist sein Dasein nun nicht mehr allein oder nur in der je konkreten Verfassungswirklichkeit der einzelnen Staaten (ist also von deren möglichen Untergang in Konflikten nicht zwingend betroffen). Der an und für sich seiende allgemeine Geist oder Weltgeist umfasst laut Paragraphen 341 alle objektiv geistige Realität der Völker, „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“ (7/503, § 341). Inwiefern kann die Weltgeschichte als Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes (des Weltgeistes) nun Weltgericht sein? Hegel erklärt im Paragraphen 341, wieso sie ein Gericht ist. Der erste Teil der Antwort lautet: „Sie ist ein Gericht, weil in seiner an und für sich seienden Allgemeinheit das Besondere, die Penaten, die bürgerliche Gesellschaft und die Völkergeister in ihrer bunten Wirklichkeit nur als Ideelles sind“ (7/503, § 341). Der zunächst entscheidende Punkt (zumindest im Vergleich mit den vorangegangenen Paragraphen) ist der Ausschluss materialer Gewalt und militärischer Stärke, dass also die je besonderen Völkergeister „nur als Ideelles sind“. Nur als Ideelles – das meint hier eine andere Ebene der Wirklichkeit, die geistige Ebene, auf der nun verhandelt wird.89 Die reiche, vielfältige und „bunte“ empirische Wirklichkeit der verschiedenen Staaten (samt ihrer internen individuellen Gliederung) wird dafür „überstiegen“. Ihre jeweilige Besonderheit wird zwar anerkannt, doch zählen sie nun „nur“ als je besondere innerhalb eines sie noch umgreifenden allgemeinen Geistes, innerhalb dessen sie Teile oder Momente bilden. Der zweite Teil der Antwort auf die Frage, warum die Weltgeschichte ein

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Vorstellung bzw. reiner, freier Gedanke Dasein hat, verhält es sich in der Weltgeschichte anders. Hier besteht sein Dasein in der „geistige[n] Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“ (7/503, § 341). In der Rechtsphilosophie zeigt Hegel freilich nur die ganz großen Linien (vgl. die Hinweise zu Prinzipien und Perioden der Weltgeschichte sowie zur Kraft des Freiheitsgedankens, der nach und nach wirksam wird und sich ausbreitet). Der Weltgeist hat und entfaltet seine Macht gerade nicht als physische Stärke.

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Gericht sei, bezieht sich auf die Bewegungsform des Weltgeistes (in der Weltgeschichte): Die Weltgeschichte ist ein Gericht, weil sie diese Allgemeinheit des Weltgeistes auch in der wirklichen Welt darstellt und demonstriert (vgl. ebenso 7/405 f., § 259 Z). Der Weltgeist zeigt seine Wirkung im Gang der Geschichte selbst, er demonstriert darin seine Wirksamkeit und Allgemeinheit. Das Weltgericht straft nicht, übt keine Vergeltung, sondern es stellt fest, was letztlich zählt: Und in der Weltgeschichte zählt, was den Fortschritt der Freiheit befördert. Der Paragraph 342 weist dann entschieden darauf hin, dass Weltgeschichte nicht in dem Sinne als ein Gericht zu verstehen sei, als wäre sie „das bloße Gericht seiner [das heißt des allgemeinen Geistes] Macht, d.i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals“ (7/504, § 342). Eben das ist und kann die Weltgeschichte für Hegel nicht sein, von derartigen Schicksalsvorstellungen wie auch verborgenen Naturabsichten grenzt er sie ab: Es geht in ihr vielmehr um das in seiner Selbstauslegung und Verwirklichung zu erwerbende Wissen des Geistes von sich, der eben freier Geist ist.90 Das ist mit Schicksalsvorstellungen gänzlich inkompatibel. Unser „Schicksal“ besteht allenfalls darin, den sich historisch ausbreitenden Forderungen der Autonomie nicht entgehen zu können.91 Die Philosophie der Weltgeschichte hat daher darzustellen und zu enthüllen, dass die geschichtlich gewordene Welt als das Werk der Menschen bzw. der Vernunft zu verstehen ist.92 Das Bewusstsein der Freiheit ist nicht nur Endzweck der Geschichte, sondern es entfaltet bereits in ihr Wirkungen und ist daher als wirkliche Ursache der Geschichte anzusehen. Die Verwirklichung der in den Menschen angelegten Fähigkeit zur Freiheit liegt in deren eigener Verantwortung und ist gerade nicht abhängig von einer Vorsehung oder einem sie blind treffenden Schicksal. In dieser Hinsicht ist die Geschichte offen. Es hängt von uns ab, wie wir damit umgehen. Die Möglichkeit zur Verwirklichung der Freiheit wird von der Menschheit ergriffen – das zeigt unmissverständlich mit allen Folgen Hegels Rekonstruktion der Weltgeschichte. Trotz der insgesamt 90

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Das heißt nicht, dass in der Weltgeschichte alles willentlich und bewusst geschieht. Hegel spricht im Gegenteil sogar von einer „List der Vernunft“ (12/49), dass „sie die Leidenschaften für sich wirken läßt“. Vgl. auch Paragraphen 344, wo die mit bewussten Interessen agierenden Staaten, Völker und Individuen „zugleich bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes inneren Geschäfts sind, worin diese Gestalten vergehen, der Geist an und für sich aber sich den Übergang in seine nächste höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet“ (7/505, § 344). Vgl. Pippin 2001, S. 213. Pippin verweist auf Vorteile des Hegelschen Verständnisses von Freiheit gegenüber „den meisten modernen Standardauffassungen“ und beschreibt sie als interessante Alternative u.a. zu modernen postkantianischen Handlungstheorien: „Da der Geist nichts anderes ist als die Leistung der sozialen Praxis des Rechtfertigens und des zur Rechenschaft Ziehens, vermeidet Hegels Position die inkompatibilistische Annahme einer distinkten Form kausaler Handlungsfähigkeit. Hier liegt mit anderen Worten eine Zustandstheorie der Freiheit und keine Kausaltheorie der Freiheit vor“ (Pippin 2001, S. 215). Vgl. Hespe 1998, S. 91.

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gerichteten (Fortschritts)Bewegung gibt es dabei keinerlei Bestandsgarantie; da es sich um echte Möglichkeiten handelt, ist auch ein Scheitern möglich: Große Kulturen können untergehen, doch der Drang zur Realisierung der Freiheit bleibt erhalten.

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IV. Rezeption und Wirkung

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Tilman Reitz

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Die vernünftigen Institutionen und ihre Feinde Zur Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie

Einleitung „Wann immer Hegel […] im Vordergrund philosophischer Auseinandersetzungen stand, war es“ laut Hermann Klenner „seine Rechtsphilosophie, die der Parteien Hass und Gunst auf ihn lenkte“.1 Das stimmt nicht ganz, da von Schopenhauer bis heute auch Hegels Dialektik häufig Unmut erregt. Zudem dürften die Grundlinien der Philosophie des Rechts mehr Empörung ausgelöst als Gunst gefunden haben. Doch Klenner betont zu Recht, dass es ein Streit der Parteien ist, der sich an Hegels Vorlesungshandbuch entzündet. In einem selbst für Texte der politischen Philosophie ungewohnten Maß gruppieren sich seine Kritiker und Verteidiger entlang politischer Fronten. Dabei hatte Hegel eine Objektivität angestrebt, die dem Streit der „unendlich verschiedenen Meinungen“ (7/14)2 entgeht – weil sie sich an wirkliche Institutionen hält und durch streng wissenschaftliche (bzw. philosophische) Verfahren abgesichert wird. Wie konnte dieser Versuch zum philosophischen Feindbild oder Fetisch von Liberalen und Marxisten, Demokraten und Antidemokraten, Konservativen und Progressiven werden? Hegel hat den Streit um seinen Grundriss mit einer ganzen Reihe von Entscheidungen provoziert. Anstößig wirkte nicht zuletzt sein Objektivitätsanspruch selbst. Das gilt bereits für die angestrebte Wissenschaftlichkeit: Hegels kaum einem Zeitgenossen durchsichtige und bis heute nicht völlig aufgeklärte „begriffliche“ Ableitung von Rechts- und Lebensformen, die dann als garantiert vernünftig gelten sollen,3 steht seit den ersten Rezensionen unter dem Verdacht, vorrangig das zu beweisen, was der Autor gerade beweisen will bzw. empirisch zur Kenntnis nimmt. Dass 1 2 3

Klenner 1982, S. 207. Quellenangaben ohne weitere Namensnennung beziehen sich auf die Theorie-Werkausgabe Hegel 1969 ff. Zitierung erfolgt nach ‚Band/Seitenzahl, Paragraph’; ‚Z’ steht für Zusatz. Wie schwer sich die Hegel-Forschung besonders in diesem Text mit Hegels Vorgehensweise tut, zeigt etwa der gesamte dritte Teil des Tagungsbandes von Henrich und Horstmann 1982. Die hilfreichsten Vorschläge gehen davon aus, dass Hegel zu Beginn mit starken Abstraktionen arbeitet, die er dann kontrolliert zurücknimmt. Für die einen ergibt sich so eine „Phänomenologie des Bewusstseins der Freiheit“ (Ilting 1982), für andere eine „kritische Darstellung des neuzeitlichen Naturrechtsdenkens“ (Theunissen 1982, S. 318).

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er überhaupt historisch-empirische Rekonstruktion und begrifflich-abstrakte Entwicklung zu verbinden versucht, war und ist ein weiterer Stein des Anstoßes. Zumal Hegels pointierter Anspruch, das Vernünftige als „wirklich“ und das Wirkliche als „vernünftig“ auszuweisen (7/24), hat von Beginn an Widerspruch und Empörung ausgelöst. Dazu trägt bei, dass er sich in eine polemische Tradition der Normativitätskritik einreiht. Statt dem ‚Sein’ gleichberechtigt ein ‚Sollen’ gegenüber zu stellen, verwirft Hegel das letztere als Produkt unverbindlichen Wunschdenkens – „eine Welt, wie sie sein soll, […] existiert“ für ihn nur im „Meinen“, „einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden lässt“ (7/26). Doch anders als Machiavelli und Spinoza, die mit verwandten Argumenten Skandal gemacht haben, verleiht Hegel zudem der bestehenden Ordnung die Weihe, im Kern eben nichts anderes zu sein als realisierte Vernunft. Ihr gegenüber, namentlich im Verhältnis zum als höchste sittliche Form begriffenen Staat, erscheinen Ansichten und Eigenheiten der Einzelnen als quantité negligeable. Das musste besonders empörend wirken, wo Hegel den Staat, der ihn selbst als Professor beschäftigte, Preußen im Übergang von der Reform zur Restauration, als vernünftig begriff. In den Paragraphen zum Staatsrecht schien so weniger ein philosophisches System als das gegebene politische den gedanklichen Fluchtpunkt zu bilden, und die bereits zitierte Vorrede enthielt auch eine heftige Polemik gegen Jakob Heinrich Fries als Vertreter der demokratischen Opposition. Mit Angriffen auf die politisch-theoretisch entgegengesetzte Seite, die konservative Staatswissenschaft und die historische Rechtsschule, machte Hegel den Kreis seiner Feinde komplett. Über seine Zeit hinaus hat er vor allem mit dem Schluss provoziert, den er aus der Annahme zieht, dass keine Philosophie „über ihre gegenwärtige Welt hinaus“ gehen könne (7/26): Für Hegel scheint die rechtsstaatliche Realisierung des Geistes in seiner Gegenwart grundsätzlich abgeschlossen zu sein. Die Weigerung, über Zukünftiges zu mutmaßen, verbindet sich hier eng mit dem Anspruch, ein System aller denkbaren Positionen und tragfähigen Institutionen zu erarbeiten.4 Dass dies ein Problem für jedes nachhegelsche „Individuum“ darstellt, das seinerseits als „Sohn seiner Zeit“ (7/26) denken und handeln will, war eigentlich abzusehen. Im Folgenden werden die Kritiken an Hegels Rechtsphilosophie politisch akzentuiert und aus ihrer jeweiligen Entstehungszeit heraus begriffen. Dabei werden zugleich systematische Fragen verhandelt – nicht so systematisch, wie das Hegel für seine eigenen Rekonstruktionen beansprucht hat, aber vielleicht immerhin übersichtlich und einsichtig genug, um die Spuren von Vernunft in dieser Rezeptionsgeschichte erkennbar zu machen. Sie resultieren gerade daraus, dass Hegel zur poli4

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Vgl. für eine andere, auf den Kontext der Restauration bezogene Deutung Ilting 1973, bes. S. 77-82.

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tisch-sozialen Positionierung herausfordert, und geben umgekehrt seinem Entwurf ein schärferes Profil, als er es von sich aus hat. Wichtige Leistungen und Probleme der Rechtsphilosophie werden erst durch ihre negative Rezeption deutlich: Die Auszeichnung sozialer Lebensvollzüge gegenüber bloßen Rechtsansprüchen, die Präferenz für Institutionen gegenüber Individuen, der Versuch, das geschichtlichgesellschaftliche Ganze in den Blick zu nehmen. Recht und Unrecht der HegelKritik werden primär mit Bezug auf diese Sachfragen geprüft. Im Einzelnen diskutiere ich: 1) die liberale, demokratische und konservative Kritik der Grundlinien in der ersten Rezeptionsphase, 2) die Erweiterung der Kritik zum Gegenentwurf bei Marx und die marxistische Hegel-Kritik, 3) die verschärfte liberale Kritik, die Hegel als theoretischen Begründer des Totalitarismus angreift, sowie die poststrukturalistische, die sein Totalitätsdenken als solches ablehnt, 4) die Kritik der Anerkennungstheorie, die Hegel eine Unterbietung seiner eigenen Maßstäbe vorwirft.

1. Wirklichkeit statt Vernunft. Die kritische Rezeption von den Rezensionen bis Haym 1.1. Die 1919 in Karlsbad und Preußen beschlossenen Polizei- und Zensurgesetze, die Hegel vermutlich dazu bewogen haben, seine bereits druckfertige Rechtsphilosophie noch einmal zu überarbeiten und mit einer neuen Vorrede zu versehen,5 prägen auch die ersten Reaktionen auf das im Herbst 1820 publizierte Buch. Einerseits ist Hegels Lob bestehender Institutionen in diesem Kontext besonders schwer erträglich, andererseits kann solche Kritik nicht offen geäußert werden. Stattdessen konzentriert man sich a) auf den Komplex Sollenskritik / Zeitgebundenheit der Philosophie / Vernünftigkeit des Wirklichen, b) Hegels Verbindung begrifflich-konstruktiver und historisch-rekonstruktiver Verfahren sowie c) seinen sittlich unschönen Angriff auf Fries. Im ersten Bereich wird Hegel von Sympathisanten wie Gegnern Begriffsverwirrung vorgeworfen: er habe nicht zureichend ausgewiesen, in welchem Sinn er etwas als ‚wirklich’ begreife. Nötig sei, so der Hegel nahe stehende Rezensent Paulus, eine „Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeit“: „Allerdings hält Rez. […] die sittliche Welt so gut wie der Verf. für vernünftig, für gottbeseelt, auch er weiß, dass der Philosoph diese Welt zu begreifen streben solle, wie sie ist, allein so weit ist er freilich noch nicht mit seiner Spekulation gedrungen, dass er die Überzeugung gewonnen hätte, als seien nun auch die einzelnen Erscheinungen innerhalb der sittlichen Welt (die doch auch sind) überall und ohne Unterschied Wahrheit, Vernunft, Göttlichkeit“.6 5 6

Vgl. Ilting 1973, S. 43-69, sowie kritisch zu dessen Überarbeitungsthese Lucas/Rameil 1980. Paulus 1821, S. 59 und 61.

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Andere Besprechungen werfen Hegel schärfer eine missglückte Verbindung von Spinoza und Kant vor oder erklären, dass praktische Philosophie nun einmal darin bestehe, sich über die Wirklichkeit zu erheben. In Andeutungen kann die Kritik an Hegels Programm schließlich auch politisch werden. So liest ein Rezensent den Satz, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ (7/26), als Lizenz zur Anpassung: „Eine solche Philosophie kann sich freilich nach allem akkomodieren, was gerade an der Tagesordnung ist. Herrschen liberale Grundsätze in der Welt, so wird die Philosophie diese lehren; hat der Despotismus die Oberhand, so muss die Philosophie diesen predigen“.7

Die Kritik an Hegels Kopplung begrifflicher Konstruktion und geschichtlicher Rekonstruktion führt diese Motive weiter. Sie mündet in dem Urteil, dass seine Auszeichnung bestimmter gegebener Wirklichkeiten nicht weniger kontingent ist als eine Konstruktion sein sollender: „Übrigens glaubt Rezens., Hrn. H. bei all seinem Erforschen der Wirklichkeit eben der willkürlichen Staatskonstruktion, die er uns andern vorwirft, […] zeihen zu können. Denn, wie möchte derselbe sonst zu dem Resultate kommen (seine wissenschaftliche Fortbewegung des Gedankens hat uns nicht überzeugt), dass eine konstitutionelle Monarchie eigentlich die einzig wahre und durchaus vernunftgemäße Form des Staats sei […]?“8

Auch in diesem Kontext kommt es freilich nicht zum frontalen Angriff auf Hegels politische Haltung. Allein seine Ansicht, dass der „Seichtigkeit“ und ihrem „Heerführer“ Fries kein Unrecht geschehe, wenn „die Regierungen auf solches Philosophieren endlich die Aufmerksamkeit gerichtet haben“ (7/18, 21), wird offen zurückgewiesen. Neben „absichtlicher Kränkung eines ohnehin gebeugten Mannes“9 wirft man Hegel Denunziation vor: „Der allein unseichte Philosoph vergisst sich soweit, mit der philosophischen eine polizeiliche Funktion zu vermischen“.10 Der Vorwurf, dass sich Hegel politisch reaktionär bzw. opportunistisch zeige, ist aus der Publikationszeit nur brieflich erhalten oder rückblickend überliefert. Fries selbst urteilt, „Hegel’s metaphysischer Pilz“ sei „nicht in den Gärten der Wissenschaft, sondern auf dem Misthaufen der Kriecherei aufgewachsen. Bis 1813 hatte seine Metaphysik die Franzosen, dann wurde sie königlich württembergisch und jetzt küsst sie dem Herrn von Kamptz die Karbatsche“.11

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Z.C. 1822, S. 101 f. Paulus 1821, S. 63. So 1822 der Rezensent der „Allgemeinen Literaturzeitung“ (Riedel 1975c, S. 157). Fries war seine Professur entzogen worden. Paulus 1821, S. 55. Brief vom 6.1.1821, in: Nicolin 1970, S. 221. Karl Albert von Kamptz, zu dieser Zeit leitender Direktor des preußischen Polizeiministeriums, war ein entschiedener Verfolger der ‚Demagogen’.

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Hegels „eifrige[r] Schüler“ Nikolaus von Thaden, dem trotzdem einiges an dessen neuer „Politik missfallen hat“, berichtet ihm: „Sie sind verschrien abwechselnd als royalistischer Philosoph und als philosophischer Royalist – daher ist ein Teil des wackern Buchs eine historisch-philosophische Streitschrift geworden“.12 Und Eduard Gans sieht sich in seiner Vorrede zur Neuausgabe der Grundlinien von 1833 dem fatalen Resultat gegenüber, dass das Werk „nicht allein dem deutschen Publikum […] als ein serviles“ gilt, „von dessen Grundsätzen und Lehren sich jeder freiheitsliebende Mann entfernt halten müsse“.13

1.2. Die politischen Gegenpositionen zu Hegel bilden sich erst ab Beginn der 1830er Jahre, in der konsolidierten Restauration, im Vormärz und nach der Revolution deutlich heraus. Der Abfolge der jeweils führenden Kräfte entsprechend nimmt erst eine konservative, dann eine demokratische und schließlich eine gemäßigt liberale Kritik Gestalt an. Zugleich klären sich die Haltungen zu Hegels konstruktivrekonstruktiver Vorgehensweise – auffälliger Weise zunächst so, dass alle Kritiker für das geschichtlich Konkrete Partei ergreifen. Die konservative Kritik zeigt, sozusagen Gans’ Verteidigung zuarbeitend, dass Hegel auch von rechts angreifbar ist. Ihre Hauptvertreter Friedrich Julius Stahl und Karl Ernst Schubarth monieren vor allem, dass er historisch gewachsene Institutionen (wie die Erbmonarchie) und die konkrete Persönlichkeit (etwa des Monarchen) nicht respektieren kann, weil er sie in allgemeine Kategorien auflöst – und dass seine Staatsbegeisterung keinen Raum für höhere Mächte, namentlich für Gott und Kirche lässt. Schubarths ersten Zweifeln, ob Hegels „Lehre von der konstitutionellen Monarchie“ nicht die „innerste Natur“ und „ganze geschichtliche Stellung“ Preußens untergrabe, ist dieser noch selbst entgegengetreten.14 Den eigentlichen Angriff führt Schubarth jedoch erst acht Jahre nach Hegels Tod, erklärtermaßen „von der politischen Seite her“, „als Preuße und Protestant“.15 Nun bemängelt er ausführlich, dass für Hegel die Persönlichkeit des Monarchen, die „Besonderheit“ seines „Charakters“ bzw. des „regierenden Geschlechts“ insgesamt, keine Rolle spielt, während sie doch die „Substanz des Preußischen Staats, als einer reinen Monarchie“ ausmache.16 Und er bemerkt, dass es in den Grundlinien stattdessen auf staatlich-soziale Strukturen ankommt: „Hegel verfährt ganz folgerecht […], den Fürsten auf [die] bloß formelle Qualität und Funktion des ‚Ja’ sagen zu beschränken, da“ bei ihm „nicht der Fürst die Substanz des Staats ist, 12 13 14 15 16

Brief vom 8.8.1821, in Riedel 1975c, S. 76. Gans 1833, S. 242. Vgl. Die Texte in Riedel 1975c, S. 209-219, hier S. 212. Schubarth 1839, S. 249. Schubarth 1839, S. 255.

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sondern diese durch den Inbegriff der verschiedenen einzelnen organischen Sphären, als der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft nach ihrer Gliederung in den verschiedenen Ständen und Korporationen, der Kammern etc., gebildet wird“.17

Der Zurechnungspunkt von Entscheidungen, auf den sich der Fürst damit reduziert, gleicht für Schubarth antiken Orakeln, und das Prinzip ‚Persönlichkeit’, das er selbst vorzieht, lässt Hegels Institutionalismus zumindest vorreformatorisch aussehen: „Es muss aber für einen Rückschritt […] betrachtet […] werden, wo die Bildung aus einer besonderen, individuellen und persönlichen, eine allgemeine, sachliche und dingliche zu werden beginnt, wo bloße Institutionen, als Mechanismen oder Organismen, sei es weltlicher oder heiliger Art, die Gewalt über die Persönlichkeit gewinnen […] und den eigentlichen und besten Halt für die geschichtliche Entwicklung des Menschen abgeben sollen“.18

Ob Rück- oder Fortschritt – hier ist sicher ein Hauptmotiv Hegels getroffen. Stahl sieht es bereits 1830: „Daher geht durch das ganze System das Interesse und der Vorzug der Unpersönlichkeit, diese ist es, was da sein soll, was die Persönlichkeit als nur vorübergehendes Moment sich gegenüber setzt, bloß um sie wieder aufheben zu können“.19

Anders als Schubarth gewinnt er dieses Motiv aus einer genauen Kritik von Hegels Konstruktion, in der er die „Erschleichung“ oder „Usurpation“ geschichtlicher Gestaltungen durch die „dialektische Methode“ angreift.20 Dagegen setzt Stahl neben der Persönlichkeit auch den Eigenwert konkreter Institutionen (während Hegel „keinem Institute vergönnt, es selbst zu sein, um seines eigenen Inhalts willen Dasein zu haben“) und die „Dissonanz, welche nur zu reell die Welt durchschneidet“.21 Am Ende interessiert ihn freilich nur die „tiefere“ Dissonanz, „dass wir getrennt sind von Gott“,22 und die Hegel-Kritik mündet in einem langen Bekenntnis zum Christentum und zu Schelling. Die Kritik der Junghegelianer an ihrem Schulvater konzentriert sich demgegenüber auf Religion und Geschichte, Selbstbewusstsein und sinnliche Anschauung; die Bezüge auf die Grundlinien bleiben selten und meist abstrakt. Die generelle Kritikrichtung bringt deutlich Edgar Bauer zum Ausdruck, der sich weiter an der Identifikation von Vernünftigem und Wirklichem abarbeitet. Für ihn müsste es richtig heißen, dass das Vernünftige fortgesetzt wirklich wird; „nur das Fortschreiten und Vergehen ist vernünftig berechtigt“.23 Damit ist Bauer, ohne es zu wissen, nahe an dem,

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Schubarth 1839, S. 254. Schubarth 1839, S. 261. Stahl 1830, S. 231. Stahl 1830, S. 225. Stahl 1830, S. 229. Stahl 1830, S. 229. Bauer 1985, S. 635.

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was Hegel im mündlichen Vortrag selbst formuliert hat.24 Seine Folgerungen stehen dessen Rechtslehre jedoch diametral entgegen. Zum einen will Bauer keinen bleibenden Staat akzeptieren: „Die Vernunft einer Staatsform ‚begreifen’ heißt also diese Staatsform für die Vergänglichkeit vorbereiten: denn jene Vernunft ist selbst das Vergängliche.“ Und zum anderen ist für ihn „die freie Kritik“ der denkenden Einzelnen „stets über Staat und Gesetz hinaus“;25 es gelte „das staatliche Bewusstsein dem freien Selbstbewusstsein unterzuordnen“.26 Andere Autoren behandeln die Rechtsphilosophie noch summarischer; so belegt Feuerbach seine Kritik an Hegels System, das „nichts voraussetzen“ und „nichts […] übrig lassen“ soll, knapp damit, „dass sein Naturrecht der reinste spekulative Empirismus ist (z.B. Deduktion selbst der Majoratsherren!)“.27 Die einzige eingehendere Kritik vor Marx stammt von Arnold Ruge. Sie bezieht eine interessante Gegenposition zu den konservativen Angriffen auf Hegel. Während diese ‚Persönlichkeit’ verlangen, polemisiert Ruge gegen „die abstrakte Innerlichkeit des Protestantismus“, die er in Kant verkörpert und noch bei Hegel fortwirken sieht.28 Und während Schubarth und Stahl Gott über dem Staat lassen wollen, kritisiert Ruge Hegel dafür, „Religion“ nicht als Medium politischen Wandels erkannt zu haben. Mit ihr trete das „Pathos der Reformation […] an die Stelle der Hierarchie, das der Revolution an die Stelle des alten Staatsunwesens“.29 Die Stelle verweist auch darauf, dass Ruge Hegel eben von links, als Demokrat entgegentritt. Das gibt er freilich nur mit unspezifischen Begriffen wie „Staatsfreiheit“, „erhöhtes politisches Lebensgefühl“ und „Staatsbürgertum“30 zu erkennen. Und seine Kritik an Hegel konzentriert sich erneut aufs Methodische, das Verhältnis von Theorie und Praxis. „An und für sich ist Hegel kein Feind der politischen Praxis und des reellen Denkens, welches als Wille auftritt und an den Willen sich wendet […]; aber sein Lebensberuf, das System der reinen Einsicht zu gründen und durchzusetzen, wirft ihn auf den einseitig theoretischen Standpunkt“.31

Mit diesen Vorzeichen fordert Ruge schließlich wie Stahl mehr Achtung für das Gegebene: „Der wirkliche Staat und die Existenz seiner Verfassung hat aber dassel-

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Eine Nachschrift der Berliner Vorlesung von 1819/20 hält fest: „Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig.“ Hegel 1983a, S. 51. Bauer 1985, S. 636. Bauer 1985, S. 635. Feuerbach 1982, S. 33. Ruge 1842, S. 333. Ruge 1842, S. 344 f. Ruge 1842, S. 323 f. Ruge 1842, S. 335.

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be Interesse, wie die wirkliche Philosophie, das geschichtliche. […] Diese Wendung der Theorie auf die Existenz fehlt bei Hegel“.32 Alles in allem müssen solche Anschlüsse (samt der noch nicht betrachteten sozialistischen) im Nachmärz unkontrollierbar gewirkt haben – jedenfalls entsteht in den 1850er Jahren eine moderat-liberale Hegelkritik, die die Grundlinien als restaurativ abstempelt, dabei jedoch Argumente fortführt, die von ihren konservativen Kritikern entwickelt wurden.33 Das Hauptzeugnis dieser Richtung bildet Rudolf Hayms Hegel und seine Zeit. Hayms Urteile zur Rechtsphilosophie klingen bekannt, sind aber das erste Mal wirkungsvoll gebündelt: „Das Hegel’sche System wurde zur wissenschaftlichen Behausung des Geistes der preußischen Restauration“; in der Vorrede „machte die Philosophie mit der Polizei gemeinschaftliche Sache“, um dann mit der Kopplung vernünftig-wirklich „die absolute Formel des politischen Conservatismus, Quietismus und Optimismus“ zu prägen; durchgängig spürt man „das Übergewicht des theoretischen über den praktischen […] Geist“ und sieht, wie der Anspruch, das Absolute geschichtlich verwirklicht zu finden, sich selbst erledigt: „Das Vergängliche absolutisiren heißt unmittelbar, sich selbst der Vergänglichkeit unterwerfen.“34 Unter der Oberfläche dieser Schuldsprüche dominieren das Motiv der Persönlichkeit und die Abwehr von Staatsvergötterung. Wie Schubarth und Stahl tadelt Haym an Hegel „die Missachtung, welche […] das Individuelle erfährt“.35 Sogar die relative Ohnmacht des Monarchen legt er negativ aus: „bei Hegel theilt diese Persönlichkeit nur das Schicksal des Persönlichen und Individuellen überhaupt; sie wird dem Harmonismus, dem Ganzen in seiner systematischen Gestaltung […] zum Opfer gebracht“.36

Die „Ueberordnung“ des Staats „über die Religion“37 wird gleichfalls als Verherrlichung des organisierten Ganzen geschildert;38 eine konservative Religions-Apologie fehlt hier. Deutlich ist aber der Gegensatz zu Ruges Auffassung – Haym arbeitet daran, dass die letzten Überzeugungen nicht zum politischen Sprengstoff werden können. Insgesamt hat seine Verurteilung von Hegels Rechtsphilosophie eine manifeste und eine latente Ebene: Er sieht in ihr offenkundig einen autoritären, kritikfeindlichen Etatismus – und bekämpft zugleich ihre subversive Tendenz, etablierte

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Ruge 1842, S. 337 f. So auch die – materialreich belegte, aber stark Hegel-apologetisch vorgetragene – These von Losurdo 1993. Haym 1857, S. 359, 364, 365, 370 und 386. Haym 1857, S. 375. Haym 1857, S. 383. Haym 1857, S. 373. „Kein Attribut der absoluten Idee oder des sich in der Religion und Speculation selbst wissenden Geistes, welches nicht ebenso dem Staate zugewendet würde.“ (Haym 1857, S. 372).

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Werte und private Besitztümer in den politisch-geschichtlichen Prozess hineinzuziehen. Damit sind die möglichen Negativreaktionen auf die politischen Ziele Hegels entwickelt: Man kann ihm eine Verherrlichung des bestehenden Staates, dessen heimliche philosophische Aushöhlung und schließlich mangelnde Konsequenz in der Umwälzungstheorie vorwerfen. Um über diese Lage hinauszukommen, war eine Auseinandersetzung mit seinen strukturellen Neuerungen nötig.

2. Abstraktion und Gesellschaft. Die Marxsche und die marxistische Kritik 2.1. Für die sozialtheoretische Entwicklung von Marx war bekanntlich vor allem ein Element der Hegelschen Rechtsphilosophie wichtig: Die Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft, der „Differenz“, die theoretisch wie geschichtlich „zwischen die Familie und den Staat tritt“ (7/339, § 182 Z). Marx entwickelt diesen Begriff bald weiter. Dient er zunächst dazu, die Unzulänglichkeit bloß politischer Revolutionen angesichts der davon ausgesparten privaten Lebensvollzüge zu kritisieren,39 meint er ab Mitte der 1840er Jahre vorrangig die privatarbeitsteilige Produktion, die Hegel als ‚System der Bedürfnisse’ thematisiert und in der Nationalökonomie behandelt gefunden hatte. Zugleich wird der Gegensatz bourgeois-citoyen von einem Klassenbegriff der Bürger oder Bourgeois abgelöst, die andere arbeiten lassen und sich den Profit aneignen; als ‚bürgerliche Gesellschaft’ gilt jetzt die von ihnen beherrschte Sozialformation. Vor diesem Hintergrund eignet sich Marx ein Hegelsches Motiv an, das die frühe Rezeption nur wenig beachtet hatte: Die Rückführung von Rechtsverhältnissen auf Lebensformen. Wollte Hegel damit ‚abstraktes Recht’ und ‚Moralität’ im konkreten Ganzen von Familienleben, Arbeit und Rechtspflege, Staatsregierung und -verwaltung verankern, erklärt Marx Theorie und Realität des Staates ihrerseits zu bloßen Superstrukturen der ökonomisch-materiellen Verhältnisse. Rückblickend hält er dann als „Ergebnis“ seiner „kritischen Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie“ fest, „dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der so genannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft’ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der Ökonomie zu suchen sei“.40

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So das Programm von Marx 1844. Marx 1859, S. 8.

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Dabei haben sich freilich in die Wiedergabe von Hegels Begriff (der ja den ganzen „Not- und Verstandesstaat“ meint [7/340, § 183]) wie auch in Marx’ Selbstbeschreibung Ungenauigkeiten eingeschlichen. Sein (unvollendetes und unpubliziertes) Manuskript zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts stammt nämlich aus einer Zeit, in der er eine Konzeption ‚materieller Lebensverhältnisse’ wirklich erst sucht.41 Statt sie zu umreißen, setzt er hier politische Akzente, die in der späteren Theorie wegfallen. Zudem verdeckt Marx’ Selbstbeschreibung seinen lebenslangen Versuch, sozialtheoretische Abstraktionen auf eine vertretbare, Hegelsche Fehler vermeidende Weise einzusetzen. Diese beiden Besonderheiten müssen durchdrungen werden, wenn man von Marx’ Rechtsphilosophie-Kritik mehr als ihre Außendarstellung zu Gesicht bekommen will. Politisch konkretisiert Marx den Vorwurf, dass Hegel aus Prinzipien abzuleiten vorgibt, was er eigentlich aus der Realität aufnimmt: Er denkt die Verhältnisse des Zusammenlebens selbst konsequent von unten, aus den kleinen Gegebenheiten und Lebensvollzügen. Das bedeutet zunächst, dass er bürgerliche Gesellschaft und Familie als „Voraussetzungen […] des Staats“ beschreibt: „sie sind die eigentlich Tätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt“.42 Zudem muss ihre Tätigkeit im Gegensatz zur philosophisch beglaubigten nicht zielgerichtet sein: „Der Staat geht auf eine unbewusste […] Weise aus ihnen hervor“.43 Auch verträgt ein- und dieselbe Sozialordnung diverse Staatsformen: „Das Eigentum etc., kurz der ganze Inhalt des Rechts und des Staats, ist mit wenigen Modifikationen in Nordamerika dasselbe wie in Preußen. Dort ist also die Republik eine bloße Staatsform wie hier die Monarchie“.44

In diesem Rahmen wird schließlich zweifelhaft, ob der Staat wirklich sich selbst wollender Geist sein kann bzw. ein ideelles Zentrum hat. In Hegels konkreten Ausführungen entdeckt Marx eher verschiedene Konflikte zwischen den Staatsbürgern und den Beamten, bei denen – als ein Rest lebendiges Mittelalter – soziale und politische Stellung zusammenfallen.45 Sein eigener Lösungsvorschlag für solche Konflikte macht die Richtung von unten nach oben zum Prinzip: Es gilt die verselbständigte Staatsordnung in die bewusste Praxis aller zu überführen. 41

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Die zentralen Konzeptionen sind erst im Manuskript der Deutschen Ideologie aus den Jahren 1845-46 sichtbar. Hier bezeichnet ‚bürgerliche Gesellschaft’ zum einen „die unmittelbar aus der Produktion und dem Verkehr sich entwickelnde gesellschaftliche Organisation, die zu allen Zeiten die Basis des Staats und der sonstigen idealistischen Superstruktur bildet“, zum anderen aber auch diese Struktur in einer bestimmten Periode: „Die bürgerliche Gesellschaft als solche entwickelte sich erst mit der Bourgeoisie“ (Marx/Engels 1845 f., S. 36). Marx 1843, S. 206. Marx 1843, S. 205. Marx 1843, S. 232. Vgl. Marx 1843, S. 274 f.

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„Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt“.46

Marx macht auch klar, dass dies verlangen würde, die moderne Differenz zwischen Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft aufzugeben; er lässt allerdings offen, wie es geschehen soll. Die Trennung selbst wird häufig durch einen Begriff bezeichnet, der den Text insgesamt theoretisch interessant macht: Abstraktion. Wie seine Vorgänger kritisiert Marx damit unter anderem Hegels Begriffsfetischismus. „Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, dass sie staatliche Bestimmungen, sondern dass sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können.“47

Daran knüpft sich eine Reihe oft bemerkter methodologischer Pointen, etwa die von Feuerbach übernommene Idee, Subjekt und Prädikat bzw. Objekt von Hegels Sätzen auszuwechseln, und ein charakteristisches Muster der Genitivumkehrung – nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik sei der Fluchtpunkt der Rechtsphilosophie u.ä. Daneben registriert Marx jedoch Hegels eigenen kritischen Gebrauch des Wortes ‚abstrakt’ und stimmt ihm trotz fortgesetzter Kritik partiell zu: „Hegel entwickelt das Privatrecht und die Moral als […] Abstraktionen, woraus bei ihm nicht folgt, dass der Staat, die Sittlichkeit, die sie zu Voraussetzungen hat, nichts als die Sozietät […] dieser Illusionen sein kann, sondern umgekehrt geschlossen wird, dass sie subalterne Momente dieses sittlichen Lebens sind. […] Man hat Hegel vielfach angegriffen über seine Entwicklung der Moral. Er hat nichts getan als die Moral des modernen Staats und des modernen Privatrechts zu entwickeln“.48

Was Hegel als vernünftige Realität schildert, ist also – traurige Realität. Folgerichtig entwickelt Marx selbst Kategorien des Real-Abstrakten, um die Gesellschaft und Politik seiner Gegenwart zu begreifen. Einige Formulierungen lesen sich dabei wie Hegel selbst: „Da in der modernen Zeit die Staatsidee nicht anders als in der Abstraktion des ‚nur politischen Staates’ oder der Abstraktion der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst, von ihrem wirklichen Zustande, erscheinen konnte, so ist es ein Verdienst der Franzosen, diese abstrakte Wirklichkeit […] produziert […] zu haben“.49

Der Unterschied bleibt, dass Marx die herausgestellten Abstraktionen praktisch zurückzunehmen verlangt, während sie sich für Hegel immer schon selbst aufgeho-

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Marx 1843, S. 231. Marx 1843, S. 216. Marx 1843, S. 313. Marx 1843, S. 319.

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ben haben. Schließlich will dieser nicht „die Entschiedenheit wirklicher Gegensätze, ihre Bildung zu Extremen“ und ihre „Entzündung zur Entscheidung des Kampfes“ zulassen, so dass er stattdessen ggf. die „verselbständigte Abstraktion“ stehen lassen muss.50 Offen bleibt hier, wie mit Abstraktionen umzugehen ist, die Theorie als solche verlangt. Nicht jeder Gebrauch von Abstrakta wie ‚Produktion’, ‚Arbeit’ oder selbst ‚Wert’ führt ja direkt auf praktische Forderungen; als Bezugsgröße sollte außer dem System der Sittlichkeit oder der befreiten Gesellschaft auch eine gegebene Sozialstruktur denkbar sein, die man analysieren will. Marx hat in diesem Sinn später eine weitere Alternative zu Hegel entwickelt: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist […]. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt […]. Hegel geriet daher auf die Illusion das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden […] und aus sich selbst bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst“.51

Eine Marx folgende Hegel-Kritik hat damit ziemlich viel vom Kopf auf die Füße zu stellen: Sie muss zugleich reale Abstraktionen angreifen, ideologische Abstraktionen darauf zurück beziehen und theoretische Abstraktionen unter Kontrolle halten. 2.2. Verschiedene Autoren haben versucht, dieses Programm durchzuführen, nicht wenige mit positivem Bezug auf Hegel – allgemein oder auch direkt an die Rechtsphilosophie geknüpft.52 Die Bandbreite der kritischen Positionen zu seiner Methode wird deutlich, wenn man die weiter auf ‚Dialektik’ verpflichteten Einwände Sidney Hooks mit den strukturalistischen Louis Althussers vergleicht. Hook, der in der Hegel-Forschung durch seine Bekräftigung der Haymschen Vorwürfe bekannt ist,53 hat darüber hinaus in dem Buch From Hegel to Marx sorgfältig rekonstruiert, wie und mit welchen Gründen sich der letztere vom ersteren abstößt. Dabei bildet in der Tat die preußische Ursituation einen Ausgangspunkt, weil Hook an ihr verdeutlichen kann, dass die theoretisch-spekulative Haltung Hegels nicht weniger politische Parteinahme beinhaltet als die praktische von Marx – nur eben eine konservative, „for within a system of teleological metaphysics, all explanation is justification“.54 Hook betont aber auch, was Marx von Hegel übernimmt, und hebt dabei besonders die

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Marx 1843, S. 293. Marx 1857, S. 22. Vgl. Lukács 1970 sowie Marcuse 1989. Vgl. Hook 1970. Hook 1958, S. 25.

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Beziehung abstrakter Bestimmungen zum konkret gegebenen Ganzen bzw. die „Logic of Totality“ hervor: „The development of knowledge, in the language of Hegel and Marx, is from the abstract to the whole. The part is an abstraction, the whole is concrete.“ Damit werden u.a. letzte Gründe verzichtbar: „The nature or essence of the system studied does not exist behind or beyond the appearances but is expressed in them.“55 Und da diese Einsicht wiederum Marx wie Hegel zugeschrieben wird, bleiben, was die Dialektik angeht, wenig Differenzen: Hegel gibt auch hier dem Gedanken zuviel Gewicht, Marx untersucht nicht das Ganze überhaupt, sondern ein bestimmtes Ganzes, und kann auf eine Dialektik der Natur verzichten – sonst aber fand er den Schlüssel zum „social system“56 anscheinend fertig vor. Eben diesen Eindruck, zu dem Marx selbst erheblich beigetragen hat, will Althusser zerstören. Für ihn ist die ‚expressive Totalität’, die sich in allen Erscheinungen realisiert, die zentrale metaphysische Fehlannahme Hegels, und die Pointe des Marxschen Vorgehens gerade ihre Zertrümmerung. Es sind vor allem drei Punkte, an denen Althusser Marx’ Kritik genauer lesen will als üblich: Die Frage, bei welcher Art von Abstraktion Sozial- und Geschichtstheorie ansetzen, die Struktur der konkreten Totalität, in die sie (re-)integriert wird, sowie schließlich das Verständnis der dabei beanspruchten Gegensätze und Widersprüche. Die ersten beiden Punkte sind eng verbunden, da Althusser Hegel vorwirft, im Grunde immer beim abstrakten Anfang, der „Einheit des einfachen Wesens“ zu bleiben. Er erklärt, „dass alle konkreten Unterschiede, die in der Hegelschen Totalität auftreten, auch die ‚sichtbaren Sphären’ in dieser Totalität (die bürgerliche Gesellschaft, der Staat, die Religion, die Philosophie etc.), […] kaum dass sie sich bestätigt haben, geleugnet werden: da sie nichts anderes sind als die ‚Momente’ […] des einfachen, inneren Prinzips der Totalität, das sich vollendet, indem es die entfremdeten Unterschiede, die es setzt, leugnet“.57

Während man den Hegel der Rechtsphilosophie zumeist dafür anklagt, das Bestehende zu fixieren,58 hebt Althusser hervor, dass er auch hier nichts bestehen lässt. Ganz anders bei Marx, wo stattdessen ein „‚schon gegebenes’, komplexes, strukturiertes Ganzes“ mit all seinen Unebenheiten auch „der einfachen Kategorie ihren Sinn gibt“.59 Wichtig für die Struktur sind dann zudem Gegensätze, die einander überlagern, statt einfach ineinander umzuschlagen. Ein zentrales Beispiel bildet Hegels Annahme, dass der Staat die ‚Wahrheit’ der bürgerlichen Gesellschaft ist. 55 56 57 58 59

Hook 1958, S. 63 f. Hook 1958. Althusser 1968, S. 149. So neben den schon zitierten Kritikern sehr deutlich Ernst Bloch: „Obwohl seine [Hegels] Vernunft nur dem Sein als Werden konform sein will, verfiel sie in der Rechtsphilosophie […] dem festen Wirklichsein von heutzutage“ (Bloch 1961, S. 142). Althusser 1968, S. 137 und 141.

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Favorisiert man umgekehrt einfach „das Ökonomische, das das ganze Wesen des Politisch-Ideologischen ausmacht“ (statt die komplexen Verflechtungen beider Bereiche zu analysieren), erhält man nur einen krypto-philosophischen „Ökonomismus“.60 Althusser wirft mithin auch dem nichthegelianischen Marxismus vor, Hegel durch schematische Kritik nur weiter zu folgen. Wo die Konzeption der Grundlinien selbst zur Debatte steht, finden sich freilich oft differenziertere Stellungnahmen. Antonio Gramsci hat eine erfahrungsnahe politische Theorie, wie sie Althusser für den Marxismus fordert (und bei Gramsci auch angelegt sieht), teilweise gerade in Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt. Er kritisiert dessen ‚bürgerliche Gesellschaft’, die er mit „società civile“ übersetzt,61 nicht als eine unentwickelte Konzeption ökonomischer, sondern politischer Zusammenhänge diesseits des Staates. Hegel erkennt laut Gramsci anders als der „reine Konstitutionalismus“, dass der „Konsens der Regierten“ stetig organisiert werden muss, unter anderem in „Vereinigungen“, die auf der „Privatinitiative der führenden Klasse“ beruhen; derart habe er bereits eine Theorie „des parlamentarischen Staates mit seinem Parteienregime“ angebahnt.62 Doch: „Seine Konzeption der Vereinigung ist zwangsläufig noch vage und primitiv, […] der historischen Erfahrung seiner Zeit gemäß, die […] nur ein vollendetes Beispiel von Organisiertheit besaß, das ‚korporative’ (auf die Wirtschaft aufgepfropfte Politik)“.63

Verbreiteter sind Einzelbeobachtungen, die das Bild Hegels als Obrigkeitsstaatsdenker festigen. Während es für Gramsci faktisch zutrifft, dass der „Staat“ auch „erzieht“,64 hebt Bloch die autoritären, „Angst vor dem Demos“ verratenden Ausprägungen dieses Motivs bei Hegel hervor. Der Volksvertretung etwa gebe er „einzig die Aufgabe, das Volk wissen zu lassen, dass es gut regiert wird; sie ist nicht das Instrument des Besserwissenwollens, lediglich die Vermittlungsstelle vom objektiven Geist zum subjektiven Bewusstsein“.65 Ähnliche Beobachtungen hält wiederholt auch Adorno fest. Bei ihm fügen sie sich jedoch in einen Theorierahmen, der das Verhältnis Hegelkritik-Marxrezeption grundsätzlich neu bestimmt. Da Adorno seit der Dialektik der Aufklärung die Entfaltung von Rationalität eng mit der Fortentwicklung von Herrschaft verbunden sieht, kann er Hegel viel rückhaltloser als Marx Recht geben, dabei aber trotzdem kritische Distanz aufrechterhalten: Die „Vormacht des Objektiven über die einzelnen Men60 61 62 63 64 65

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Althusser 1968, S. 75. Bei Bezugnahmen auf Marx und Engels spricht er dagegen von der „società borghese“ (vgl. Markner 1995, S. 390). Gramsci 1991, S. 118. Gramsci 1991, S. 118. Gramsci 1991, S. 118. Bloch 1961, S. 143.

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schen“, die unaufhaltsame „Ausbreitung der bürgerlich rationalen Gesellschaft“ sind nur zu wirklich, aber ein Unheil für alle, die ihnen „unterworfen sind“.66 In der Lektüre der Rechtsphilosophie bewährt sich dieses Muster vor allem, wo Hegel Ansprüche der Individuen abwehrt. Wenn er betont, dass Pflicht und Gesetz „als ein toter, kalter Buchstabe und als eine Fessel empfunden“ werden, „weil das Gesetz die Vernunft der Sache ist, und diese dem Gefühle nicht verstattet, sich an der eigenen Partikularität zu wärmen“ (7/20), beschreibt das für Adorno vor allem einen intolerablen Zustand. „Sieht tatsächlich das individuelle Gewissen die ‚wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen’ als feindselig an, weil es in ihr nicht sich selbst erkennt, so wäre darüber nicht beteuernd hinwegzugleiten. Denn die Hegelsche Dialektik besagt, dass es darin gar nicht anders sich verhalten kann, gar nicht darin sich erkennen kann. Damit konzediert er, dass die Versöhnung, die zu beweisen Inhalt seiner Philosophie ist, nicht stattfand“.67

Neben dem damit verbundenen Leiden scheinen Adorno die von Hegel verlangten Opfer an ‚Partikularität’, Besonderheit oder Individualität auch als solche unzumutbar. Auf der einen Seite herrschen derart weiterhin verselbständigte Abstraktionen. Im Staat „tritt die allgemeine Rationalität unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muss, um allgemein zu werden“.68 Und auf der anderen Seite führt Hegels Geschichtsphilosophie (wie der reale Nationalismus) das Verdrängte in mythisierter Form wieder ein. „Was den Volksgeistern, als Kollektivindividualitäten, von Hegel hypertrophisch zugemessen ward, ist der Individualität, dem menschlichen Einzelwesen entzogen“.69 Hegels Rechtsphilosophie zeigt sich damit als ideales Anwendungsfeld für marxistische Ideologiekritik, von der idealisierten Herrschaft bis zur Pseudokonkretheit. Zugleich trifft diese Kritik bei ihm auf ein sehr spezifisches Problem: Die Frage, inwiefern Strukturen, gegen die man ethisch-politisch aufbegehrt, sich sozialtheoretisch als unausweichlich darstellen. Deutlicher: Ob nicht die individualistischen Standards unserer liberalen Welt nur unter den Bedingungen verselbständigten Zwangs gedeihen, die sie anzuklagen lehren.

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Adorno 1965, S. 295 und 297. Adorno 1965, S. 305. Adorno 1965, S. 312. Adorno 1965, S. 335.

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3. Totalität und Totalitarismus. Von Popper zur Postmoderne

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3.1. Karl Popper hätte diese Fragen nicht sinnvoll gefunden. Für ihn ist man entweder Freund oder Feind der offenen Gesellschaft, und Hegel gehört auf die zweite Seite, in eine Tradition, die mit der Demokratiekritik Platons anfängt und im Nationalsozialismus oder Stalinismus mündet. Er habe mit „intellektueller und später […] sittlicher Verantwortungslosigkeit“ die gegenwärtige „Episode des ewigen Aufstandes gegen die Freiheit und gegen die Vernunft“ eingeleitet: die des „moderne[n] Totalitarismus“.70 Vor allem „[i]n der Politik“ wird Hegel dabei ein „ungeheure[r] Einfluss“ zugeschrieben: Popper nimmt an, „dass sowohl der extreme linke Flügel der Marxisten als auch die konservative Mitte sowie schließlich die faschistische extreme Rechte alle ihre politische Philosophie auf Hegel gründen; der linke Flügel ersetzt den Kampf der Nationen, der im historizistischen Schema Hegels erscheint, durch den Klassenkampf, die extreme Rechte ersetzt ihn durch den Kampf der Rassen, aber beide folgen ihm mehr oder weniger bewusst“.71

Zur Erklärung spitzt Popper, da er den einflussreichen Denker für einen unoriginellen Scharlatan hält, die Haymsche Kritik noch einmal zu: Hegel hat intellektuell nur überlebt, weil er sich vom preußischen Staat funktionalisieren ließ (der dann im Gegenzug seine Schule förderte). „Als die reaktionäre Partei 1815 in Preußen wieder die Macht übernahm, bedurfte sie dringend einer Ideologie. Hegel wurde vom preußischen Staat ernannt, um eben diesem Bedürfnis zu entsprechen.“72

Wie aus dieser Situation der Totalitarismus hervorgehen konnte, schildert Popper mit zwei Akzenten: Allgemein sieht er Hegel an einer Verherrlichung der jeweils stärksten Kräfte arbeiten, spezifisch hat er für ihn den Nationalismus staatsfähig gemacht. Das erste Motiv fasst Popper mit seinem Begriff des ‚Historizismus’. Gemeint ist eine (im Text nicht immer randscharf bestimmte) „Position“, für die erstens „Wissen über soziale Institutionen“ primär dadurch zustande kommt, dass „wir ihre Geschichte […] studieren“, die zweitens ein „historisches Schicksal“ der jeweiligen kollektiven Akteure, etwa der Nationen annimmt und drittens für „gerecht“ erklärt, was immer sich im Gegeneinander dieser Akteure durchsetzt.73 Hegels Rechtsphilosophie zeigt für Popper, dass der damit propagierte „Krieg“ keine Grenzen kennt: „Der Gegenstand des Kampfes ist die Weltherrschaft.“74 Damit ist jedoch nur das 70 71 72 73 74

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Popper 2003, S. 36 und 73. Popper 2003, S. 38. Popper 2003, S. 39. Popper 2003, S. 46 f. Popper 2003, S. 47.

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eine, äußere Extrem der Rechtsphilosophie bezeichnet. Ebenso desaströs sieht es für Popper im Inneren der kämpfenden Staaten aus. Hier bleiben nicht allein die Individuen in letzter Instanz rechtlos, es wird auch jeder demokratische Impuls erstickt. Indem er dies durch allerlei dialektische Verdrehungen begründet,75 erfüllt Hegel seine historische Mission. Der „moderne Nationalismus“ war nämlich „in seiner kurzen Geschichte vor Hegel, seltsam genug, ein liberales und revolutionäres Bekenntnis“.76 Man kämpfte gegen die napoleonische Fremdherrschaft und die Fürsten der deutschen Kleinstaaten. Es gilt also zu sehen, wie „Hegel den Nationalismus in das totalitäre Lager zurückgeführt hat“.77 Die Antwort ist einfach: „Er tat dies, indem er den Nationalisten einredete, dass ihre kollektivistischen Forderungen in einem allmächtigen Staat automatisch erfüllt seien und dass sie nur durch Stärkung der Macht des Staats hilfreich mitzuarbeiten brauchten“.78

Die Energien, die sich auf Selbstregierung richteten, wurden mithin (wie laut Adorno die Ansprüche der ‚Individualität’) auf den Kampf gegen den äußeren Feind um die Weltherrschaft umgelenkt. Popper kann seine Thesen nur teilweise belegen, und er kümmert sich seltsam wenig um historisches Vergleichsmaterial. So muss er zugestehen, dass Hegel den Staat als solchen viel nachdrücklicher verherrlicht als die deutsche Nation, und blendet aus, dass der Gedanke des kämpferischen Machtstaats bei verschiedenen Zeitgenossen noch stärker formuliert ist als bei ihm.79 Darüber hinaus wird die Bezeichnung ‚totalitär’ nicht wirklich transparent. Auf die These, „[f]ast alle wichtigeren Ideen der modernen totalitären Bewegungen“ seien „direkt von Hegel übernommen“, folgt nur eine äußerst unspezifische Belegliste: fünf Stichpunkte zu Krieg, Heroismus und Weltherrschaft, einer zur laut Hegel angeblich erlaubten „Verdrehung der Wahrheit“ durch den Staat und einer zur „schöpferischen Rolle des großen Mannes“80 – mehr nicht. Für eine Theorie totalitärer Ideologie oder Staatlichkeit reicht das kaum aus. Und jede Betrachtung, die etwas stärker deren irrationalistische, fortschrittsfeindliche Züge betont, kann leicht damit unvereinbare Elemente bei Hegel aufweisen, von der Gleichheit aller Menschen bis zur liberalen Wirtschaftstheorie.81 Man kann daher fragen, was Popper außer Übertreibungen zur

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Vgl. Popper 2003, S. 51-60. Popper 2003, S. 62. Popper 2003, S. 63. Popper 2003, S. 69. Vgl. etwa für den Historismus Iggers 1968. Popper 2003, S. 75. In diesem Sinn formuliert Marcuse: „Hegels politische Theorie idealisierte den Staat der Restauration; aber er erblickte in ihm die Verkörperung der bleibenden Errungenschaften des modernen Zeitalters […]. Der totalitäre Staat bezeichnet demgegenüber die historische Stufe,

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Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie beigetragen hat. Ein Verdienst besteht darin, dass er zu genaueren Untersuchungen des Hegelianismus unter Hitler angeregt hat;82 die Gegenseite hat entsprechend die nationalsozialistische HegelAblehnung ins Licht gerückt.83 Darüber hinaus bleibt zu diskutieren, welche Rolle Hegels Rechtsphilosophie in der Ideengeschichte des deutschen Nationalismus insgesamt spielt – und ob nicht ihr dunkelster Punkt tatsächlich ihr geschichtsphilosophischer Abschluss ist.

3.2. Diese Annahme haben besonders poststrukturalistische Autoren ausgeführt, die wie zuvor Althusser jedem homogenen System kritisch gegenüber stehen und sich zudem auf kategorial nicht fassbare Phänomene wie „Überfluss“84 und „Ereignis“85 konzentrieren. Ihre Bezugstexte sind – vermittelt durch Alexandre Kojève – jedoch eher die Phänomenologie des Geistes und die Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte als die Grundlinien. Noch Peter Engelmann, einer der Popularisierer der ‚Postmoderne’ im deutschen Sprachraum, bindet seine These, dass „Hegelsche Politik totalitär sein muss“, an dessen Erkenntnistheorie, die „kein Außen des Systems“ duldet,86 nicht an die Staatskonzeption der Rechtsphilosophie. Es finden sich aber auch direkte Auseinandersetzungen. Die ausführlichste bietet Derrida in Glas. Er lenkt den Blick anders als die meisten Interpreten nicht auf Staat oder bürgerliche Gesellschaft, sondern auf den dritten Bereich des sittlichen Lebens, die Familie, deren (Re-)Konstruktion er von Hegels Jenaer Systementwürfen bis in die Berliner Zeit nachzeichnet. Zugrunde liegt der Vorwurf, dass auch Hegels Ökonomie und Politik eigentlich noch eine Hauswirtschaftslehre sind, eine Strategie, in der systematischen Erfassung des institutionellen und geschichtlichen Universums immer beim Vertrauten, Familiären zu bleiben. „Ökonomie: Gesetz der Familie, des Hauses der Familie, des Besitzes. […] Die Aufhebung [dt. im Original], ökonomisches Gesetz einer absoluten Wiederaneignung des absoluten Verlustes, ist ein familialer Begriff“.87

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auf der eben diese Errungenschaften der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft gefährlich werden.“ (Marcuse 1989, S. 360). Vgl. (weiter im Popper-Gestus) Kiesewetter 1995, S. 261-350. Vgl. summarisch Riedel 1975c, S. 31 f. So einer der anti-hegelschen Begriffe Georges Batailles für das ‚ganz Andere’, das kein System mehr aufheben kann (vgl. Meier 1998, S. 88-94; 123-130). Vgl. für eine nietzscheanische Geschichtstheorie, die die Zusammenhangslosigkeit der Ereignisse betont, Foucault 2002, und für eine, die gegen den Hegelianismus die Unerwartbarkeit künftiger Ereignisse ins Zentrum rückt, Derrida 1995. Engelmann 1998, S. 53. Derrida 2006, S. 150.

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Umgekehrt erlaubt es der Bereich Familie, genauer zu fragen, was übrig bleibt, was also an Gegebenheiten, Strukturen und Ereignissen nicht ins System ‚aufgehoben’ werden kann, selbst wenn es für dieses konstitutiv ist. Derrida kommt auf eine ganze Reihe von Motiven: Schwestern und Brüder (in der Mehrzahl, die Erbfragen aufwirft), Begehren und dessen Hemmung, Inzestverbot – im Grunde alles, was zwischen Natur und Sittlichkeit steht. Sein Ergebnis ist, dass es niemals zu einer „einfachen Entfernung von der Natur“ kommt, „einer einfachen Erhebung über die Animalität in der ontologischen Hierarchie, die mit all den anderen Formen der Negativität homogen ist […]. Aber nichts ist jemals homogen in den verschiedenen Brüchen, Stillständen oder Sprüngen der spekulativen Dialektik“.88

Auf diese Weise kann Derrida einiges an Hegels Methodik demontieren – nutzt dabei aber die Themen der Rechtsphilosophie fast nur als Mittel. Bei ihm und verwandten Hegel-Kritikern wie Deleuze oder Lyotard steht sozusagen die Sache der Anti-Logik über der Struktur der Sache. Eine gewisse Ausnahme bildet Antonio Negri, in dessen radikaldemokratischer Spinoza-Rezeption Hegels Rechtsphilosophie ein Hauptgegner ist. Ihm herrscht darin nicht zu wenig Fremdheit, sondern zu viel „alienazione“; statt die Macht wie Spinoza immer im Tun der vereinigten Menge zu suchen, konzentriere sie Hegel, das Staatsvertragsdenken vollendend, in einer auf „Übertragung (trasferimento)“ beruhenden, abgespaltenen Herrschaft. Die Bürger sind damit nicht mehr „cittadini“, sondern nur noch „sudditti“.89 Auf eine genauere kritische Lektüre lässt sich freilich auch Negri nicht ein. Insgesamt sieht es daher so aus, als hätten die Poststrukturalisten die erheblich feineren Analysemittel, über die sie im Vergleich zu Popper verfügen, nicht genutzt, um Hegel politisch zu kritisieren.

4. Ausblick: Die Anerkennung der Rechtsphilosophie Die geschilderte vehemente Kritik hat nicht verhindert, dass Hegels Rechtsphilosophie von Linken wie Marcuse bis zu Konservativen wie Joachim Ritter und Rüdiger Bubner immer wieder aufgenommen worden ist; in der analytisch geprägten Philosophie erlebt sie durch Autoren wie Robert Pippin und Frederick Neuhouser ein Renaissance. Kritisch werden dabei zumeist Hegels Liberalitäts- und Demokratiedefizite registriert. Systematische Einwände im Rahmen grundsätzlicher Zustimmung zeichnet sich vor allem in der Theorie der Anerkennung ab, die Motive aus Hegels Jenaer Zeit in der Rechtsphilosophie herauszuarbeiten versucht. Sie kann einerseits 88 89

Derrida 2006, S. 221. Negri 1998, S. 323.

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plausibel machen, dass Hegel das ‚abstrakte Recht’ und die individualistische ‚Moralität’ von vornherein darauf anlegt, eine Konzeption intersubjektiver Freiheit dagegen zu setzen – und muss andererseits bemerken, dass seine Theorie sittlicher Institutionen weit hinter diesem Ziel zurückbleibt. Ein erstes Mal ausgeführt hat diesen Ansatz, wohl angeregt durch Habermas’ Lektüre der Jenaer Realphilosophie,90 Michael Theunissen. Für ihn hat Hegel eine individuelle „Freiheit“, die sich erst „in Interaktionen realisiert“,91 tatsächlich anvisiert, aber am Ende gründlich verfehlt. Statt nämlich Wechselverhältnisse der Subjekte zu untersuchen, konstruiere er Selbst- und Fremdbezüge der sittlichen ‚Substanz’. Theunissens Hauptbeispiel ist erneut die Familie, die bei Hegel zwar einige inter- und innersubjektive Verhältnisse ermöglicht, dann aber selbst ein ‚Selbstbewusstsein’ zugesprochen bekommt – wie später auch der Staat. In beiden Fällen gilt: „Zunächst polt Hegel jedes Verhältnis der Individuen zueinander auf ein Verhältnis der Substanz zu diesen Individuen um; und sodann deutet er das angeblich basale Verhältnis als ein Verhältnis der Substanz zu sich selbst“.92

Hinzu kommt schließlich, dass auch noch ein ausgewähltes Glied der substanziellen Ordnung ihr Selbstbewusstsein repräsentiert, der Mann das der Familie, der Monarch dasjenige des Staates, und dass die Untergeordneten ‚Zutrauen’ zum in ihm pseudo-konkretisierten Ganzen entwickeln sollen. Damit deutet sich an, inwiefern Derridas Kritik auf Sachfragen anwendbar wäre. Insgesamt lässt Theunissens Analyse wohl nur einen Einwand zu: die bereits mit Marx formulierbare (und später von Luhmann bejahte) Frage, ob Institutionen und Mechanismen des Zusammenlebens nicht in der Tat ein Selbstverhältnis entwickeln können. Axel Honneth, der den Anerkennungsansatz systematisiert hat – ohne dabei Theunissens Aufsatz zu nennen – sieht zumindest die Möglichkeit, dass die „Sphären“ konkreter Freiheit um je „ein einziges Interaktionsmuster“ organisiert sind:93 Liebe bzw. dichte Bindungen in der Familie, wechselseitig zugestandenes Eigeninteresse in der bürgerlichen Gesellschaft und gemeinsame Zwecksetzungen im Staat. Zugleich kritisiert er, dass Hegel diese Prinzipien nicht klar trennt und erst recht nicht zulässt, in (der Sphäre) „demokratischer Willensbildung“ ihr Verhältnis zu klären.94 Vor allem greift er jedoch eine ‚Überinstitutionalisierung’ der Anerkennung an. Statt auch informelle Beziehungsformen wie Freundschaft vorzusehen, beschränke sich Hegel auf solche, die wie die Familie „an die positive Rechtsset-

90 91 92 93 94

240

Vgl. Habermas 1979. Theunissen 1982, S. 319. Theunissen 1982, S. 328. Honneth 2001, S. 122. Honneth 2001, S. 127.

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zung des Staates zurückgebunden“ bleiben.95 Ob das Hegels Stoßrichtung trifft (der ja ein bloßes Rechtsverständnis der Ehe scharf zurückweist) und ob man viel für die Sache der Freiheit gewinnt, wenn man ihm den Institutionenbegriff Arnold Gehlens entgegensetzt,96 sei hier dahingestellt. In jedem Fall verdeutlicht Honneth, dass die Chancen, die Grundlinien kritisch weiterzuführen, noch lange nicht ausgeschöpft sind. Insgesamt zeigt sich das Panorama der Hegelkritik nicht weniger uneinheitlich als das der positiven Anschlüsse. Interessant wird es dort, wo sich die divergenten Angriffe zu Diagnosen wirklicher Gegensätze verbinden lassen – etwa denen, dass restaurative Politik auch erreichte Fortschritte bestätigen muss, dass der Liberalismus fremdbestimmte Ordnungen ideologisch angreift und praktisch voraussetzt, dass Fremdbestimmung selbst erst erfolgreich ist, wenn die ihr Unterworfenen sich mit den übergeordneten Instanzen identifizieren. Solche Impulse kann man dem „ärgerlichen Buch“97 wohl nur entnehmen, wenn es ärgerlich bleibt. Sobald Hegels Rechtsphilosophie keine Kritik mehr auslöst, wird sie auch nicht mehr lesenswert sein.

95 96 97

Honneth 2001, S. 114. Honneth 2001, S. 113. Theunissen 1982, S. 345.

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Jean-Christophe Merle

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Hegels „freie Gesellschaft“ und der heutige Liberalismus

Bekanntlich galt Hegel zu seiner Lebenszeit als liberal, unter anderem, weil er sich für eine Verfassung und für die Gewaltenteilung einsetzte. Dies wissen zwar die Kommunitaristen; sie inspirieren sich aber dennoch zum Teil von Hegels Philosophie und beziehen daraus ihre Kritik am Liberalismus, weil er wesentliche Elemente des Liberalismus ablehnt, der sowohl von den französischen Revolutionären von 1789 als auch von Repräsentanten des heutigen Liberalismus vertreten wird. Wenig bekannt ist, dass sich auch der heutige Liberalismus auf Hegel bezieht, und zwar nicht wegen der genannten liberalen Bestandteile der Hegelschen Theorie, sondern weil er genauso wie der Kommunitarismus Hegels Gesellschaftstheorie hervorhebt und das Eigentümliche an Hegels Staatstheorie dabei übersieht bzw. herunterspielt. Im Folgenden werde ich deshalb an die Hauptpunkte der kommunitaristischen Hegel-Interpretation erinnern, bevor ich die liberale Hegel-Interpretation untersuche.

1. Die kommunitaristische Hegel-Interpretation Obgleich Charles Taylor nicht der einzige Kommunitarist ist, der sich länger mit der Hegel-Exegese befasst hat, und etwa Alasdair McIntyre zeitgleich Aufsätze über Hegel verfasste,1 war im Kommunitarismus und in seiner Rezeption das Taylorsche Hegel-Bild vorherrschend. Beginnen möchte ich trotzdem mit einem Zitat aus McIntyres bekanntem Aufsatz über Patriotismus. Es geht um die Einwanderer in den Vereinigten Staaten. McIntyre erklärt: „Hegel verwendet eine nützliche Unterscheidung, die er durch die Begriffe ‚Sittlichkeit‘ und ‚Moralität‘ bezeichnet. ‚Sittlichkeit‘ ist die in einer bestimmten Gemeinschaft übliche Moral, die nicht vorgibt, mehr als das zu sein. ‚Moralität‘ herrscht im Reich der rational universalistischen, neutralen Moral, der liberalen Moral, wie ich sie bestimmt habe. Was diesen Immigranten in Wirklichkeit beigebracht wurde, ist, daß sie Länder und Kulturen hinter sich gelassen hatten, wo Sittlichkeit und Moralität von einander getrennt waren und in einem Land und einer Kultur angekommen waren, deren Sittlichkeit nichts weiter als Moralität ist. [...] Wenn die [...] von mir konstruierte Argumentation korrekt ist, konnte die Geschichte dieser Identifizierung nichts anderes sein als eine Geschichte der Konfusion und Inkohärenz. Denn eine Moral parti-

1

Vgl. McIntyre 1976.

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244

kularer Bindungen und Solidaritäten ist mit einer Moral universaler, neutraler und unparteiischer Prinzipien in einer Weise vermischt worden, die zur Inkohärenz führen muss.“2

Taylor hält dagegen das von McIntyre als inkonsistent beurteilte liberale Modell der Vereinigten Staaten als durchaus überlebensfähig. Gegen den Liberalismus erhebt aber Taylor einen anderen Anspruch: Dieses liberale Modell sei nicht das einzige mögliche und es passe nicht zu jeder Gesellschaft. Taylor unterscheidet ein Modell A von einem Modell B für die Gesellschaftsordnung.3 Das Modell A bezeichnet er als prozedural-liberal und atomistisch gedacht. Damit bezeichnet Taylor Modelle wie die Rawlsche Gerechtigkeitstheorie, welche behauptet das zu sein, was nach Taylor per se unmöglich ist: „gegenüber allen möglichen Definitionen des guten Lebens neutral sein [zu] können“4. Das Modell A basiert auf individuellen Rechten und Gleichbehandlung und klagt sie besonders gerne vor den Gerichten ein. In diesem Modell genießt die demokratische Selbstregierung einen zwar wichtigen, jedoch bloß instrumentellen Wert. Das republikanische Modell B, das Taylor vor allem am Beispiel Quebecs darstellt, siedelt dagegen das Wesen einer freien Gesellschaft in der Partizipation der Bürger an der Selbstregierung durch das Volk an. Das Modell B ist zwar nicht prozedural-liberal, jedoch nach Taylor mit dem Liberalismus nicht unvereinbar; Taylor legt nahe, dass es sich um eine andere Art von Liberalismus handelt. Fazit: Die angeblich neutrale prozedural-liberale Gesellschaft ist genauso in einem „gewissen Parochialismus“5 verankert wie die republikanische. Kurz gesagt: Die liberale Gesellschaft, die Anspruch auf universelle Gültigkeit erhebt, ist genauso partikulär wie Gemeinschaften, die sich als kommunitaristisch verfasst verstehen. Allerdings betont Taylor in seinem Hegel-Buch, dass der universalistische Liberalismus Defizite hinsichtlich der „Identifikation der Menschen mit ihrer Gesellschaft“6, der „patriotischen Treue“7 sowie der Würde und Freiheit der Bürger aufweist, auf die ich gleich zurückkommen werde. Nach McIntyre gibt es den (prozedural)-liberalen Staat nicht, denn er wäre nicht haltbar; nach Taylor gibt es die prozedural-liberale Gesellschaft, welche jedoch verglichen mit der republikanischen minderwertig ist. Außerdem untersucht Taylor vor allem Gesellschaften, welche aus einer Vielzahl an Gemeinschaften bestehen; McIntyre sieht die gesamte Gesellschaft vielmehr als eine einzige Gemeinschaft an. Nun ist in der Hegelschen Sittlichkeit mindestens zweierlei enthalten: die bürgerliche Gesellschaft und der Staat. Was genau meint McIntyre, wenn er schreibt: 2 3 4 5 6 7

244

McIntyre 1993, S. 102. Vgl. Taylor 1993a, S. 126 ff. Taylor 1993a, S. 130. Taylor 1993a, S. 130. Taylor 1983, S. 604. Taylor 1993a, S. 130.

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„Denn eine Moral partikularer Bindungen und Solidaritäten ist mit einer Moral universaler, neutraler und unparteiischer Prinzipien in einer Weise vermischt worden, die zur Inkohärenz führen muß“?8

Taylors Analyse betrachtet die Vereinigten Staaten dagegen implizit so, dass sie aus partikularen Gemeinschaften mit ‚partikularen Bindungen und Solidaritäten‘ einerseits, aber auch aus staatlichen Institutionen und einer Öffentlichkeit bestehen‚ deren Moral das Resultat universaler, neutraler und unparteiischer Prinzipien ist. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten steht Quebec nach Taylor als Beispiel für das Modell B, da die dort vorherrschende Gemeinschaft die staatlichen Institutionen und die Öffentlichkeit bestimmt und keine Neutralität, sondern eine partikulare Identität beansprucht. Hier zeigt sich, dass Taylor, anders als McIntyre, den Staat von der Gemeinschaft bzw. von den Gemeinschaften unterscheidet. Taylor nimmt zwar durchaus zur Kenntnis, dass nach Hegel der Staat die Verkörperung des Substantiellen, der eigentliche Zweck der einzelnen Bürger und die „vollkommene und in sich selbst begründete Verwirklichung“ des freien Willens ist, während die bürgerliche Gesellschaft nur „eine Teilverwirklichung der Idee der Sittlichkeit“ bietet.9 Taylors Anliegen bzw. die Inspiration, die er aus Hegels Rechtsphilosophie schöpft, gilt ausschließlich der Hegelschen Gesellschaftsdiagnose bzw. dem Gesellschaftsmodell Hegels. Taylor schätzt bei Hegel vor allem Folgendes: „Hegels Schriften liefern einen der tiefsinnigsten und weiterreichenden Versuche, eine Auffassung von verkörperter Subjektivität (embodied subjectivity), des Denkens und der Freiheit zustande zu bringen, die aus dem Strom des Lebens entsteht, einen Ausdruck in den Formen des Lebens in der Gesellschaft findet und sich im Verhältnis mit der Natur und der Geschichte entdeckt“.10

Taylor lehnt die Neutralität der liberalen Staatstheorien gegenüber den Auffassungen des Guten ab. Solche Theorien sehen Zwecke als gegebene, bloß subjektive Präferenzen an. Damit die Wahlfreiheit einen Wert und der Mensch eine Würde erhält, sollten diese Präferenzen zunächst bewertet und ausgewählt werden, damit die Zwecke genuin bzw. authentisch zum Subjekt gehören. Denn der Mensch kann sich über den Wert seiner Zwecke täuschen und er kann irren. Nach Taylor können Liberale dies zwar einsehen, dennoch halten sie das Individuum selbst für den besten Richter über seine Zwecke, weil sich andere angeblich darüber noch mehr irren würden. Demzufolge gilt die innere Stärke des Gefühls als Kriterium für die Wahl der Zwecke. Taylor ist der Ansicht, dass weder das Individuum selbst noch Fremde seine Zwecke am besten bewerten und auswählen können. Die Festlegung darauf, 8 9 10

McIntyre 1993, S. 102. Taylor 1983, S. 575. Taylor 1979, S. 168.

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woraus ein gelungenes bzw. ein sinnerfülltes Leben besteht und womit ich mich am besten entwickle sowie die Wahl der Zwecke sollten vielmehr im Dialog, d.h. im Austausch der Argumente stattfinden. Authentische Zwecke lassen sich nur im intersubjektiven Horizont finden, welcher wiederum sowohl mit der Geschichte als auch mit der Natur zusammenhängt. Dabei sind die Zwecke von den Menschen abhängig und doch sollten alle im Ganzen der Gesellschaft integriert sein. Damit schließt sich Taylor an Hegels Auffassung an, wonach eine lebensfähige Gesellschaft einer Gliederung bedarf, die Hegel bei Rousseau vermisste. Die Identität des Menschen besteht aus dem richtigen Verhältnis zwischen seiner Partikularität und dem Ganzen der Gesellschaft. Dem Liberalismus fehlt es nach Taylor an dieser Gliederung der Gesellschaft; er ruft vielmehr ein „homogenes, indifferenziertes Leben“11 von Produzenten hervor, das für eine steigende Abhängigkeit in einem weiten, unpersönlichen System sorgt. Anders als Hegel unterscheidet McIntyre den Staat kaum von der bürgerlichen Gesellschaft bzw. von der Gemeinschaft; anders als McIntyre trifft Taylor zwar diese Unterscheidung, sieht aber nicht den Staat im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft als das einzige Ganze, das die letzten Zwecke der Menschen setzt. Auch unterscheidet sich der Status der gesellschaftlichen Integration bei Taylor deutlich von der Integration im Staat bei Hegel. Anders als bei Hegel handelt es sich bei Taylor eindeutig um ein Ideal; man kann sogar von einer kommunitaristischen Utopie sprechen.12 Denn Taylor schreibt: „Wir brauchen gleichzeitig Freiheit und eine nachindustrielle Sittlichkeit. Dieses Problem ist vielleicht ebenso unlösbar wie das Problem, mit dem sich die romantische Generation trug, aber das sollte uns nicht daran hindern, weiterhin nach Lösungen zu suchen. Jedes ernsthafte Bemühen muss die Sprache und Einsichten jener beinhalten, die uns vorausgegangen sind. Unter diesen Vorgängen ist Hegel ein Riese“.13

Taylor und die Kommunitaristen mögen die Sprache Hegels sprechen; seine Einsichten bleiben ihnen dennoch fremd, insbesondere wenn es um den Staat geht.

2. Holismus und gegenseitige Abhängigkeit von Individuum und Staat Noch mehr befremdend wirkt es aber, wenn ein Liberaler wie John Rawls nach längeren Überlegungen über Hegel behauptet, dass „der angebliche Konflikt mit dem Liberalismus […], soweit man das bisher beurteilen kann, gar nicht zu existie-

11 12 13

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Taylor 1983, S. 590. Vgl. Merle 2006. Taylor 1983, S. 604.

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ren“ scheint.14 und wenn Rawls, der zwar der Verfechter einer „politischen, nicht metaphysischen“ Konzeption von Gerechtigkeit, jedoch auch ein guter HegelKenner ist, von vornherein lapidar erklärt: „Bedauerlicherweise sage ich fast nichts über seine Metaphysik. Nach meiner Überzeugung kann der größte Teil seiner Moralphilosophie und seiner politischen Philosophie auf eigenen Füßen stehen“.15 Nicht weniger mag es uns erstaunen, dass sein Kollege aus Harvard Frederick Neuhouser, der Rawls’ Hegel-Interpretation wesentlich beeinflusst hatte,16 in Foundations of Hegel’s Social Theory17 in die gleiche Richtung geht. Obwohl auf diese Weise Hegel wiederholt als ein Freiheitsliberaler (liberal of freedom) bezeichnet wird, widerspricht der Kern von Rawls’ und Neuhousers Argumentation diesem Schluss. Im Folgenden möchte ich versuchen dies zu zeigen und nach dem Grund für diese Diskrepanz suchen. Neuhouser betont erstens, dass bei Hegel die Angehörigkeit der vernünftigen Gesellschaftsordnung (rational social order), das heißt des gesamten Zusammenhangs von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, zur umfassenden (comprehensive) Perspektive einer Theodizee des Universums, jene Gesellschaftsordnung von dieser (Theodizee) nicht abhängig macht – dies sei im Folgenden dahingestellt – und zweitens, dass die Bezeichnung des Staates als eine Substanz keineswegs impliziert, dass nicht das Individuum, sondern nur eine überindividuelle Entität frei wäre,18 was einem Holismus im starken Sinne gleichkäme. Neuhouser schreibt Hegel einen Holismus in einem schwächeren Sinne zu, den Hegel in der Analogie des Verhältnisses des Menschen zur Gesellschaft mit dem organischen Leben ausdrückt: Das Leben können nicht nur gesamte Organismen, sondern auch einzelne Zellen innehaben, jedoch nur wenn sie innerhalb des Organismus mit anderen Zellen verbunden sind. So meint es Neuhouser, wenn er behauptet, dass bei Hegel das Individuum und die gesamte Gesellschaft gleichermaßen frei sind. In diesem Sinne antwortet Neuhouser auf den rhetorischen Einwand, den er gegen seine eigene These erhebt: „auch wenn Hegels Theorie den Mitgliedern der Gesellschaft viel Spielraum überlassen mag, für sich zu bestimmen, welche konkrete Lebensform für sie am besten geeignet ist, beruht die philosophische Rechtfertigung dieser Theorie schließlich auf etwas, was der umfassenden Konzeption des Guten sehr nahe steht, in der nach Rawls und nach zahlreichen anderen Liberalen moderne Individuen unmöglich überstimmen werden bzw. wollen“.19

14 15 16 17 18 19

Rawls 2002b, S. 475. Rawls 2002b, S. 426. Vgl. Rawls 1999, S. 553, FN 43. Neuhouser 2000. Vgl. Neuhouser 2000, S. 17 u. 270. Neuhouser 2000, S. 270.

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Nun lässt aber die genannte Analogie diese Frage völlig unbeantwortet. Da die Zellen ein durch den Organismus vollkommen bestimmtes Leben führen mögen, wären auf der Basis dieser Analogie Individuen denkbar, deren Leben durch die freie Gesellschaft derart vollkommen bestimmt wäre, dass sie nur in dem Sinne frei wären, in dem sie einer freien Gesellschaft angehören würden. Neuhouser behauptet zwar, dass die Individuen „eine mit allen anderen Bürgern geteilte Identität erwerben und lernen, das allgemeine Interesse der Gesellschaft zu erkennen und dadurch motiviert zu werden“; er schränkt jedoch gleich ein: „auch wenn dies mit manchen Interessen kollidieren mag, die sie wegen ihrer individuellen Rolle in der Gesellschaft bzw. wegen der bestimmten Stellung ihrer eigenen Familie haben“.20 Nach Neuhouser sind der Wille der einzelnen Individuen und der (Wille) des Staates voneinander abhängig.21 Diese Ansicht ist aber irreführend, weil die einzelnen Individuen und der Staat nicht auf dieselbe Weise voneinander abhängig sind: Der Staat ist für dessen Verwirklichung auf den Willen der einzelnen Individuen angewiesen; der Wille der einzelnen Individuen ist aber für die Bestimmung seiner Zwecke auf den Staat angewiesen. Die Folge daraus wird von Neuhouser hervorgehoben: Zwar stellen das abstrakte Recht und die Moralität Formen der Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen dar; Hegel „verbindet“ aber auch

„die Familie und die bürgerliche Gesellschaft mit dem Einzelnen, er bezeichnet den Staat als das Allgemeine und er siedelt die Vernünftigkeit der sittlichen Gesellschaft darin an, dass die Sphären des Einzelnen in einem harmonischen und gegenseitigen Verhältnis zur Sphäre des Allgemeinen stehen“.22

Sollte die Hegelsche Staatsauffassung eine umfassende Konzeption sein, so würden also diese Harmonie und dieses Abhängigkeitsverhältnis die Gültigkeit des abstrakten Rechts selbst zu einer umfassenden Konzeption und daher zu einer metaphysischen, nicht politischen Gesellschaftstheorie machen, welche nach Rawlschen Kriterien nur illiberal sein könnte.

3. Beschränkte bzw. falsche Übereinstimmungen Neuhouser zufolge machen die zwei folgenden „Defizite der persönlichen und der moralischen Freiheit“, das heißt des abstrakten Rechts und der Moralität, „die Einführung der sozialen Freiheit“, das heißt der Sittlichkeit nötig. 1. Sowohl die Persönlichkeit im rechtlichen Sinne als auch das moralische Subjekt setzen einen Prozess der moralischen Bildung voraus. 2. „Obwohl die moralischen Subjekte ehrlich wol20 21 22

248

Neuhouser 2000, S. 43. Neuhouser 2000, S. 42. Neuhouser 2000, S 43.

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len mögen, das Gute zustande zu bringen, können sie nicht genau wissen, welche Handlungen ihre Selbstverpflichtung zum Guten von ihnen verlangt, weil sie über keine konkretere Vorstellung der Lebensprojekte und Lebensformen verfügen, die für die Freiheit und die Wohlfahrt Aller – d.h. das Gute – am meisten förderlich sind“.23 Neuhouser und Rawls liefern Bausteine für eine Kritik am Hegelschen Anspruch, diese Defizite beheben zu können. Der erste Baustein betrifft den Status der Hegelschen Theorie. Neuhouser greift frontal eine verbreitete These an, die hierzulande z.B. von Rüdiger Bubner, anderswo etwa von Bernard Bourgeois vertreten worden ist und nach der „Hegels politische Philosophie eine Theorie der wirklichen Politik zu sein beabsichtigt und sich also als eine Kritik an allen Theorien versteht, welche es vorhaben, von außen her der Politik Gesetze vorzuschreiben“.24 Nach Neuhouser stellt die Hegelsche Staatslehre schon deswegen eine „Sozialkritik“ dar, „weil es die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts als ‚wirklich‘ beschriebene und gepriesene Gesellschaftsordnung nirgendwo in der genauen Form gibt, die man bei Hegel findet“25. Neuhouser glaubt bei Hegel „das Ideal“ aufzudecken, „dass jeder für uns verbindliche sittliche Grundsatz‚ erst den Weg durch das Innere des Menschen gemacht haben muss“.26 Kurz gesagt: das Ideal der Identifizierung der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft mit dem allgemeinen Willen. Nach Hegel kann dieses Ideal, so Neuhouser, „durchaus, allerdings nur in der modernen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden“, weil nur sie vernünftig und für die Freiheit förderlich ist. Indem Neuhouser und Rawls die Hegelsche Staatslehre zu einem politischen Ideal machen und ihr den Status einer Rekonstruktion einer wirklichen Gesellschaftsordnung verweigern, stellen beide Autoren diese Staatslehre auf die gleiche Ebene wie die liberalen Theorien der Gerechtigkeit. Genau auf dieser Ebene liefern Neuhouser und Rawls den zweiten Baustein für eine Kritik am Hegelschen Anspruch, die genannten Defizite beheben zu können. Auf dieser Ebene erweist sich, dass der Liberalismus und die Hegelsche Rechts- und Staatsphilosophie einen gemeinsamen Gegner haben: die Art von Theorie, die sich bei Hobbes exemplarisch finden lässt und als Gegenstand der politischen Philosophie die Übereinstimmung von (natur-) gegebenen und nicht durch die Gesellschaft bestimmten Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten betrachtet.27 Neuhouser und

23 24 25 26 27

Neuhouser 2000, S. 32. Bourgeois 1969, S 85. Neuhouser 2000, S. 257. Neuhouser 2000, S. 279, der auf Hegel 1824/25, S. 301 verweist. Vgl. Pinkard 2000, S 484.

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250

Rawls bezeichnen derartige Theorien als atomistisch.28 Diese Gemeinsamkeit zwischen Hegel und Rawls bleibt aber begrenzt. In vielen Punkten weicht die Rawlsche Hegel-Interpretation von Hegels Theorie deutlich ab, beispielsweise an der folgenden Stelle aus Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses:

„Die öffentliche Rolle einer wechselseitig anerkannten Gerechtigkeitskonzeption ist es, einen Standpunkt festzulegen, von dem aus alle Bürger voreinander prüfen können, ob ihre politischen Institutionen gerecht sind oder nicht. [...] Ich nehme an, daß diese Gründe durch die Ideale, Grundsätze und Standards der wechselseitig anerkannten politischen Konzeption bestimmt werden, die, wie schon gesagt, eine moralische Konzeption ist. So wird nicht angenommen, dass politische Institutionen für alle Bürger dadurch gerechtfertigt wären, dass sie eine glückliche Konvergenz von Eigen- oder Gruppeninteressen oder dergleichen herstellen. Diese Konzeption der Rechtfertigung steht im Gegensatz zu der Richtung in der Tradition des modernen Denkens, die sich auf Hobbes zurückführen lässt. Man findet sie in Rousseaus Gesellschaftsvertrag (1762), und sie spielt eine zentrale Rolle in Hegels Philosophie des Rechts (1821)“.29

In der Geschichte der Moralphilosophie bekennt sich Rawls zu Hegels „tiefreichende[r] soziale[n] Verwurzelung der Menschen in einem etablierten Rahmen politischer und sozialer Institutionen. [...] Die Theorie der Gerechtigkeit schließt sich in dieser Hinsicht an Hegel an, wenn sie die Grundstruktur der Gesellschaft als vorrangigen Gegenstand der Gerechtigkeit auffasst“.30

Erstaunlicherweise tut Rawls so, als ob Hegels Alternative zum Hobbeschen Staatsbild nicht die Hegelsche Staatslehre, sondern der Rawlssche politische Liberalismus wäre. Ebenso wunderlich ist Rawls’ und Neuhousers Ansicht, dass Hegel seine Staatslehre nicht ausreichend detailliert entwickelt habe.31 In Wahrheit hat Hegel weder eine verfahrenstheoretische bzw. konstruktivistische noch eine ideale, auf nicht ideale Zustände anzupassende Theorie und auch keine Theorie der Gerechtigkeit anbieten wollen. Ebenso wenig galten in der Hegelschen Perspektive gleiche und freie Individuen als letzte den Staat legitimierende Instanz. Hegel sah im Staat auch keine institutionelle Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft. Alle diese Aspekte der politischen Philosophie Hegels sind allzu offensichtlich und bekannt, dass Rawls sie hätte übersehen können.

28 29 30 31

250

Vgl. Rawls 2002b, S. 455. Rawls 1992, S. 301. Rawls 2002b, S. 471 f. Vgl. Neuhouser 2000, S. 36.

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4. Das Individuum als Bezugspunkt der Legitimität oder die Identifizierung des Individuums mit den spezifischen Zwecken des Staates?

Eines bleibt (aber) in der liberalen Hegel-Interpretation nur implizit. Anders als der heutige Liberalismus begründet Hegel die Legitimität nicht im individualistischen Prinzip der gleichen Berücksichtigung aller Individuen (was natürlich nicht Gleichbehandlung bedeutet)32, welches sich bei Rawls in der philosophischen Form eines Verfahrens zur Wahl der Prinzipien für die Grundstruktur der Gesellschaft hinter dem Schleier der Unwissenheit äußert und einen vereinfachten Ausdruck in Grundsätzen wie one man one vote findet. Im Entscheidungsprozess konsultiert – nach dieser Interpretation – der Hegelsche Staat jedoch die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft – z.B. die (Vertreter) der Korporationen –, welche angeblich vernünftige Interessen vertreten. Nun werden diese Interessen nicht durch die freie Gesellschaft, sondern durch Naturbestimmungen gegeben; der allgemeine Wille (des Staates) integriert sie im Nachhinein und setzt dadurch dem Menschen einen Zweck, der die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft transzendiert. Anders als bei Hegel, der der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre des Einzelnen den Staat als Sphäre des Allgemeinen gegenüberstellt, gestalten die Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien die Grundstruktur der Gesellschaft, bilden aber keine eigene Sphäre außerhalb der Gesellschaft selbst. Davon zeugt die Feststellung, dass Rawls – außer im internationalen Kontext vom Recht der Völker – das Wort „Staat“ beinahe nie verwendet: Er spricht vielmehr von einer gerechten institutionellen Grundstruktur. Aus dieser gerechten Grundstruktur soll eine Gesellschaft resultieren, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten besser im Sinne des Gemeinwohls bestimmt und in ihr das Individuum die Legitimität der Institutionen des Staates mehr erkennt als im Hegelschen Staat. Denn Rawls erklärt: „Unsere Aussichten im Leben beurteilen wir anhand unserer Stellung in der Gesellschaft, und unsere Zwecke und Absichten formulieren wir im Hinblick auf die Mittel und Chancen, mit denen wir realistischerweise rechnen können. Ob wir hoffnungsvoll und optimistisch oder resigniert und apathisch in die Zukunft blicken, hängt sowohl von den mit unserer sozialen Stellung verknüpften Ungleichheiten ab als auch von den öffentlichen Gerechtigkeitsprinzipien, zu denen sich die Gesellschaft nicht nur bekennt, sondern die sie auch mehr oder weniger wirksam benutzt, um die Institutionen der Rahmengerechtigkeit zu regulieren. Daher ist die Grundstruktur eines sozialen und ökonomischen Systems nicht nur eine Ordnung, die gegebene Wünsche und Bestrebungen erfüllt, sondern auch eine Ordnung, von der zusätzlich künftige Wünsche und Bestrebungen geweckt werden“.33

32 33

Vgl. Dworkin 1990, S 370. Rawls 2002b, S 472 f.

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252

Daraus ergibt sich eindeutig, dass die bürgerliche Gesellschaft durch Prinzipien der öffentlichen Gerechtigkeit gestaltet ist, die von einem politischen Willen verabschiedet, verwirklicht und erhalten werden. Für das Gemeinwohl wird also nicht vollkommen in der staatlichen Sphäre gesorgt, sondern in der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, vorausgesetzt dass in der Letzteren keine Übereinstimmung der Interessen, sondern eine gemeinsame Auffassung von Gerechtigkeit herrscht. Hier zeigt sich, dass das Rawlssche Individuum die Legitimität der staatlichen Institutionen mehr als das Hegelsche Individuum erkennen kann, weil es diese Legitimität nicht in einer Sphäre außerhalb der Gesellschaft und ihrer Struktur, sondern in der Gesellschaft selbst findet. Zunächst behauptet Rawls, dass genau dies Hegels Staatslehre sei, weil in ihr „mit Freiheit ein System politischer und sozialer Institutionen gemeint [ist], welche die Grundfreiheiten der Staatsbürger garantieren und ermöglichen“.34 Damit scheint Rawls zu übersehen, dass die Zwecke der politischen Sphäre auch und vor allem diejenigen (Zwecke) sind, welche für diese Sphäre spezifisch sind. Doch dann gesteht er ausgerechnet genau dies:

„Hegel behauptet, was für die Individuen den höchsten Wert habe und ihre Freiheit in besonders hohem Maße verwirkliche, sei nicht das Streben nach ihren eigenen Privatzwecken als solchen, sondern das Streben nach einem allgemeinen oder kollektiven Zweck. Doch dagegen hat die liberale Tradition im Allgemeinen nichts einzuwenden. Was sie bestreitet, ist, daß das höchste Gut der Menschen generell in der Politik zum Tragen kommt, wie es etwa für die Öffentlichkeit der griechischen Polis galt. Vielmehr betont der Liberalismus auch noch andere hohe Kollektivwerte, etwa die der Wissenschaft, der Kunst und der Kultur bzw. die des privaten und persönlichen Lebens sowie die der Zuneigung, der Freundschaft und der Liebe“.35

Nun führt aber nach Hegel keiner dieser kollektiven Werte die Versöhnung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen so durch, wie der Staat, d.h. die Sphäre der von der Gesellschaft unabhängigen politischen Zwecke. Daraus ergeben sich entscheidende Konsequenzen für den moralischen Status der Person. Hegels Anliegen ist die Versöhnung zwischen den beiden Seiten der sozialen Freiheit, sprich zwischen den Institutionen des Staates – der objektiven Seite – und dem Gewissen – der subjektiven Seite. Diese Versöhnung spielt sich aber bei Hegel ganz anders als im Liberalismus ab. Im Liberalismus stützt sich die Versöhnung, d.h. die Legitimität, auf die Idee der Achtung der individuellen Freiheit sowie auf die Forderung nach klaren Grenzen für die Befugnis des Staates, das Verhalten der Bürger zu steuern oder gar zu erzwingen. Nach Neuhouser besteht die Hegelsche Versöhnung in der Einsicht der

34 35

252

Rawls 2002b, S. 454. Rawls 2002b, S. 475.

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„Mitglieder der modernen Gesellschaftsordnung, dass letztere gut und vernünftig ist, so daß die Befolgung von deren Normen und Gesetzen ohne Verletzung vom Ideal moralischer Subjekte erreicht werden kann, derer Handlungen nur durch ihre eigene Vorstellung des Guten bestimmt sind“.36

Hegel ist also kein Verfechter der liberalen Legitimität, welche sich nach der möglichst großen individuellen Freiheit und dem Prinzip der Gleichheit aller in der Gesellschaft richtet. Hegels Legitimität beruht vielmehr auf der Identifizierung des Individuums mit den spezifischen Zwecken der Staatsordnung, welche sich von denjenigen der Gesellschaftsordnung unterscheiden sowie auf der Integration des Individuums in diese Zwecke.

5. Die Zweitrangigkeit der individuellen Rechte in den „achtbaren hierarchischen Gesellschaften“ Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass der Hegelsche Staat alle individuellen Freiheiten sowie jegliche Gleichheit zwischen den Individuen abschaffen würde. Doch erhalten sie bei Hegel nicht den Status einer unentbehrlichen Grundlage einer freien Gesellschaft, wie dies im Liberalismus der Fall ist. Daraus ergibt sich in zweierlei Hinsicht ein bedeutender Unterschied zwischen beiden politischen Theorien, denn bei Hegel erhalten die Äußerung kritischer Ansichten und der Dissens in der Öffentlichkeit allenfalls eine zweitrangige Bedeutung. Neuhouser findet „in den Grundlinien der Philosophie des Rechts keine Stelle, welche die Bedeutung für Gesellschaftsmitglieder von der Freiheit anerkennt, sich an einer gegenüber den Institutionen ihrer Gesellschaft kritischen öffentlichen Debatte zu beteiligen“.37

Neuhouser geht sogar soweit, zu behaupten, dass Hegel die Meinungsfreiheit zu einem bloßen „Zugeständnis an die individuelle Eitelkeit“38 herabsetzt. Es sei hier dahingestellt, ob Hegel die Meinungsfreiheit tatsächlich so verachtend bewertet. Es sollte auch erwähnt sein, dass Hegel niemals allen Bürger die gleiche Lebensweise bzw. die gleichen Tugenden vorschreiben wollte.39 Pluralismus ist durchaus Bestandteil der Hegelschen Gesellschaft und man darf sehr wohl von einem Hegelschen „Gesetz der multikulturellen Gesellschaft“ sprechen.40 Mir kommt es auf den Grund für diesen klaren Unterschied zwischen Hegel und den Liberalismus hinsichtlich der Bedeutung von Dissens an. Der Liberalismus kann auf mindestens zweierlei 36 37 38 39 40

Neuhouser 2000, S. 228. Neuhouser 2000, S. 256; zur selben Feststellung Taylor 1983, S. 582-585. Neuhouser 2000, S. 256. Vgl. Pinkard 2000, S. 487. Vgl. Cobben 2002.

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Weise dem Dissens eine besondere Bedeutung verleihen. Entweder kann Dissens – etwa in John Stuart Mills Über die Freiheit und in Ronald Dworkins Plädoyer zugunsten des zivilen Ungehorsams in Bürgerrechte ernstgenommen – eine heuristische Rolle spielen oder – wie in Rawls Politischer Liberalismus – das Ergebnis einer Diskussion zwischen vernünftigen (im Sinne von reasonnable, das heißt zur Kooperation bereiten) Teilnehmern sein, die sich einander als solche anerkennen. Bei Hegel gehören die Meinungsunterschiede und die unterschiedlichen Überzeugungen zum individuellen Verstand, der sich zur „substantielle[n] Einheit“ und zum „absolute[n] unbewegte[n] Selbstzweck“ (noch) nicht emporheben konnte.41 Damit ist die – wie schon erwähnt – wenig überzeugende Hegelianische Ablehnung jeglicher normativer und überpositiver Gesichtspunkte bezüglich der Politik bzw. jegliches Ideals verbunden. Durch die Bedeutung, welche die Hegelsche Rechtsphilosophie in der Herausbildung der politischen Gemeinschaft dem abstrakten Recht, der Moralität und im Allgemeinen der moralischen persönlichen Subjektivität zuweist, unterscheidet sich diese Rechtsphilosophie zwar deutlich vom Kommunitaristen, der sich doch so gern auf sie beruft. Die „substantielle Einheit“ des Hegelschen Staates ist auch nicht die Gemeinschaft von Menschen mit oft unfreien Bestimmungen, die beim Kommunitarismus im Mittelpunkt steht. Dennoch verlangen sowohl die Kommunitaristen als auch Hegel eine Art von Integration, welche die grundlegende Rolle der kritischen Deliberation, der moralischen Subjektivität und der möglichst großen individuellen Freiheit für eine freie Gesellschaft notwendigerweise verdrängt. Hegel schreibt der Meinung der einzelnen Bürger nur die Rolle zu, von den Vertretern ihrer Korporation konsultiert zu werden.42 Rawls bezeichnet die Hegelsche Gesellschaft als eine „hierarchisch geordnete“ und „traditionale“ Gesellschaft, welche ihre Mitglieder lediglich „konsultiert“. Dass eine solche Gesellschaft einerseits nur die Bürger konsultiert und sich andererseits traditionell und hierarchisch gestaltet, so dass sie dem Fortschritt widerstrebt, ist natürlich kein Zufall: Beide Merkmale hängen miteinander zusammen. Rawls erwähnt zwei weitere nicht liberale Aspekte von Hegels Staatslehre, welche sich aus „Hegels Vorstellung vom Staat als einer geistigen Substanz“ ableiten lassen, „die der Anerkennung seitens anderer Staaten bedarf, die ihrerseits solche Substanzen sind“.43 Der erste Aspekt besteht in der Gefahr immer wiederkehrender Kriege, der zweite in der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen – insbesondere gegen Minderheiten –, welche dem Recht der Völker zufolge unter Umständen einen Grund zu humanitären militärischen Interventionen darstellen kann.44 Beides steht 41 42 43 44

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MM 7/399, § 258. Vgl. Hardimon 1994, S. 255. Rawls 2002b, S. 465. Vgl. Rawls 2002a, S. 118, FN 6.

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der Kantischen Idee eines ewigen Friedens im Weg. Nichtsdestotrotz hält Rawls’ Recht der Völker den Hegelschen Staat, der bei ihm als Beispiel für den „achtbaren (decent) Staat“ gilt, der weder vogelfrei (outlaw) (in der deutschen Ausgabe als „Schurkenstaaten“ bezeichnet) noch liberal ist, im Widerspruch zur Ansicht der Geschichte der Moralphilosophie für grundsätzlich friedfertig.45 Nach Rawls muss eine solche achtbare Gesellschaft „ein hinreichendes Maß an Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit zulassen [...], auch wenn diese Freiheiten nicht in dem Maße ausgedehnt oder gleichermaßen auf alle Mitglieder der achtbaren Gesellschaften verteilt sein mögen, wie es in liberalen Gesellschaften der Fall ist“.46 Denn, obwohl sich der Hegelsche Staat nicht durch die Gewährleistung individueller Freiheiten legitimieren lässt, spielen Letztere doch eine wichtige Rolle im Entstehungsprozess dieses Staates; und in diesem Prozess werden sie dem „absolute[n] unbewegte[n] Selbstzweck“,47 das heißt dem Staat unterworfen. Auf diese Weise kann Rawls behaupten: „Ich sage nicht, dass sie vernünftig seien, sondern vielmehr, dass sie nicht völlig unvernünftig sind“.48 Dafür gibt Rawls ein Beispiel, das der Region der Welt, die Hegel im Auge hatte, sicherlich nicht entspricht und doch für die Rawlssche Hegel-Interpretation einleuchtend ist: „Kazanistan“ ist der von Rawls erfundene Name für eine der zentral-asiatischen Republiken, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit errungen haben. Auf den zu erwartenden Einwand, dass das Modell Kazanistan wenig attraktiv wirkt, erwidert Rawls in der Geschichte der Moralphilosophie, dass es immerhin den Vorteil besitzt, den Einfluss wirtschaftlicher Interessen zugunsten des „allgemeinen Interesse(s) – dem Allgemeinwohl des Staats insgesamt“ sowie den „nicht an Wettbewerb gebundenen Werten“ generell einzuschränken.49 Wird aber diese Aufgabe nicht viel eher von Rawls Theorie der Gerechtigkeit als von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts erfüllt, da die hinter dem Schleier der Unwissenheit angenommenen Gerechtigkeitsprinzipien dem Gemeinwohl dienen und der Pluralismus den Konzeptionen des Guten die Verfolgung von allerlei allgemeinen Zwecken ermöglicht, die zwar nicht der „absolute unbewegte Selbstzweck“ des Staates, jedoch auch keine wirtschaftlichen Zwecke sind? Rawls führt dann ein überraschendes Argument an: Hegels verfassungsstaatliches Modell ist zwar

45 46 47 48 49

Vgl. Rawls 2002a, S. 89 f. Rawls 2002a, S. 90. MM 7/399, § 258. Rawls 2002a, S. 91. Rawls 2002b, S. 460.

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„wenig lehrreich [...] Aber steht eine moderne konstitutionelle Gesellschaft wirklich besser da? Gewiss nicht die Vereinigten Staaten, in denen die Beeinflussung der Legislative durch ‚Sonderinteressen‘ zum Alltag gehört“.50

Anders gesagt steht die Hegelsche Gesellschaftsordnung nicht schlechter da als eine korrupte Gesellschaft! Da sich jede Gesellschaft korrumpieren lassen kann und keine liberale Gesellschaft von Natur aus korrupt ist, verbirgt Rawls’ Lob der Hegelschen Gesellschaft eine versteckte und doch radikale Kritik. Warum meidet denn Rawls die offene Kritik an der Hegelschen Staatslehre? Anders als Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) beansprucht sein Politischer Liberalismus (1993) die Zustimmung mancher nicht liberaler Theorien, und zwar nicht aus strategischen Gründen, sondern aus Überzeugung. Rawls glaubt diese Überzeugung vor allem in vernünftigen (reasonable) Religionen zu finden. Wie mehrere kritische Rawls-Interpreten es aber betont haben, sind sie nicht dazu geeignet, diese Unterstützung aus Überzeugung zu leisten. In der Abwesenheit geeigneter Kandidaten für diese Aufgabe greift Rawls aus Verzweiflung auf Hegels Staat zurück. Rawls’ eigene Hegel-Interpretation beweist aber wider Willen, dass der Liberalismus der Theorie der Gerechtigkeit die einzige mögliche Unterstützung für den Politische[n] Liberalismus bietet. Rawls sollte noch stärker – und womöglich noch überzeugender – für den politischen Liberalismus argumentieren, anstatt Kazanistan zu Hilfe zu rufen und Hegel in ein Modell einzuforcieren, das ihm wirklich fremd gewesen wäre.

50

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Rawls 2002b, S. 460.

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Autoren

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Christoph Binkelmann, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin; Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Ontologie, Transzendentalphilosophie, Hermeneutik, Kultur- und Geschichtsphilosophie, Ästhetik, Philosophische Anthropologie. Sergio Dellavalle, Prof. Dr. phil., Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Turin (Italien) und Forschungsleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, politische Philosophie, Staatstheorie, Grundlagen des Völkerrechts. Michael Henkel, Dr. phil., Lehrstuhlvertretung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Soziologische Theorie, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Sozialpolitik, Friedens- und Gewaltforschung, politische Theorie des Völkerrechts. Thomas Sören Hoffmann, Prof. Dr. phil., apl. Professor für Philosophie an der Universität Bonn; Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Philosophie der Antike, aktuelle Fragen der Ethik und Rechtsphilosophie. Oliver W. Lembcke, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Theorien der Politik und des Rechts, Ideengeschichte des Verfassungsstaates, Politische Ethik internationaler Beziehungen, Politische Institutionen der Regierungssysteme Europas und der USA. Jean-Christophe Merle, Prof. Dr. phil., Professor am Philosophischen Institut der Universität Saarbrücken; Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, politische Philosophie, Kant, deutscher Idealismus. Walter Pauly, Prof. Dr. jur., o. Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, -theorie und -soziologie.

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Thomas Petersen, PD Dr. phil., Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ethik, Deutscher Idealismus, Rationalitätstheorien ökonomischer Provenienz, Philosophie und Ökonomie. Tilman Reitz, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Gesellschaftstheorie, Ästhetik.

Steffen Schmidt, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Transformationsforschung und Theorie sozialen Wandels, Praktische Philosophie, Deutscher Idealismus, Kulturphilosophie. Uwe Volkmann, Prof. Dr. jur., o. Professor am Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Mainz; Forschungsschwerpunkte: Staatslehre, insb. Veränderungen von Staatlichkeit, Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft, Grundrechte, Demokratietheorie, Parteienrecht. Elisabeth Weisser-Lohmann, PD Dr. phil., Privatdozentin am Institut für Philosophie der Fernuniversität Hagen; Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Deutscher Idealismus, Nachidealistische Ästhetik, Geschichte der Philosophie.

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