Der Primat der Gegebenheit: Zur Transformation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion 9783495823736, 9783495487082


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Table of contents :
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Inhalt
Michael Staudigl: Zwischen Häresie und Transformation.
I. Zwischen Tradition und Neubeginn
László Tengelyi: Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie bei Marion
1.
2.
Thomas Alferi: Gegebenheit/Gebung und Descartes?
1. Zum Kontext der Descartes-Studien Marions
2. Sich der Gegebenheit/Gebung widersetzen – Marion liest Descartes’ Regulae
1.1. Eine Wissenschaft- und Seinslehre – der Ausgangspunkt von Marions Doktorarbeit
2.2. Wissenschaft unter dem Joch des menschlichen Geistes (mens)
2.3. Herstellung und Ausdehnung von Gewissheit
2.4. Die Einbindung des Seins in die einfache Natur
2.5. Was bedeutet »graue Ontologie«?
3. Zur Gegebenheit/Gebung aufbrechen – Descartes’ Theologie von 1630
3.1. Die Lehre von der Schöpfung der ewigen Wahrheiten – ein zweifacher Durchbruch
3.2. Analogia und univocitas – mittelalterliches Gottdenken und neuzeitliche Zersetzung
3.3. Schöpfung nach Descartes’ nicht-univoker Theologie
Lilian Alweiss: Von Kant zu Descartes und zurück
1. Das cogito-Argument von Kant und Descartes
2. Der »neue« Descartes
3. Der »neue« Kant
4. Kant und über Kant hinaus: Das Bewusstsein des Selbst
5. Die Antwort Kants
6. Ein Blick zurück auf Descartes
II. Phänomenologische Denkfiguren
Branko Klun: »Sich empfangen aus dem, was sich gibt«
1. Gegen das transzendentale Subjekt
2. Die gesättigten Phänomene und die Umkehrung der Intentionalität
3. Die Subjektivität im Dativ
4. Schlussreflexion
Umkehrung der Intentionalität
Peter Gaitsch: Selbstgegebenheit und Einstellung.
1. Einleitende Bemerkungen
2. Von Husserl zu Marion I: Transzendenz und Selbstgegebenheit
3 Von Husserl zu Marion II: Einstellung des phänomenologisierenden Subjekts und Sich-selbst-Einstellen des Phänomens
3.1 Ausgangspunkt: Eine Phänomenologie ohne Einstellung und eine Phänomenologie in natürlicher Einstellung
3.2 Husserls operative Einstellungslehre
2.3 Das zweideutige Verhältnis zur Einstellung in Marions Phänomenologie der Gegebenheit
III. »Gesättigte Phänomene«
Christina M. Gschwandtner: Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?
I. Können Naturphänomene als gesättigt gegeben werden?
II. Der hermeneutische Kontext von Naturphänomenen
III. Implikationen der Interpretation von Naturphänomenen als gesättigt
IV. Das gesättigte Phänomen des Leibes
Claudia Serban: Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung
1. Überraschung als Enttäuschung
2. Überraschung als Sättigung
3. Sättigung als Überraschung
4. Überraschung und Gegen-Erfahrung
5. Schlussbemerkungen
Alwin Letzkus: Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe
1. Das (Ver-)Schweigen der Liebe in der Philosophie
2. Das Sein unter der schwarzen Sonne der Nichtigkeit
3. Von der Unmöglichkeit, sich selbst zu lieben
4. Das durchkreuzte erotische Phänomen
5. Die erotische Reduktion als radikalisierte Leibwerdung
6. Wa(h)re Liebe?
7. Das Adieu – oder der kommende Dritte
Rolf Kühn: Die Formalität der »Sättigung« im Denken Jean-Luc Marions
1. Die Architektonik der Sättigung als Erfahrungskonzeptualisierung
Topik der Phänomene nach Jean-Luc Marion
1) Einteilungsprinzip Armut/Reichtum der Anschauung
2) Phänomenologische Charaktere als Gegensatz oder Überschuss (Exzess)
2. Inkarnatorische »Sättigung« als Passibilität
3. Vor-ekstatische »Sättigung« in der »Mich«-Passibilität
IV. Die Herausforderung der Hermeneutik
Jean-Luc Marion: Gegebenheit und Hermeneutik
1. Gegebenheit statt Anschauung.
2. Die Gegebenheit gibt niemals Dinge
3. Das Gegebene gibt sich niemals unmittelbar
4. Die Interpretation
5. Vier hermeneutische Momente in der Gegebenheit
Katharina Bauer: Interexplikationen – Entfaltungen einer Phänomenologie der interdonation
1. Von der donation zur interdonation – Das deplatzierte Subjekt
2. Die Phänomenalität interpersonaler Begegnungen – Einander begegnen, einander lieben, einander einen Platz geben
3. Eine weitere Entfaltung: Erfüllung der Phänomenologie der donation als interdonation und ›Inter-Explikation‹
Émilie Tardivel: Welt und Gegebenheit. Eine Revision des vierten Prinzips der Phänomenologie
1. Die dritte Reduktion als Problem
1.1. Die Reduktion auf den reinen Anruf: nur formell?
1.2. Eine Reduktion des Ich: widersprüchlich?
2. Die Gegebenheit: eine Épochè ohne Reduktion
2.1. Die Gegebenheit und die Frage der Welt
2.2. Wie viel Épochè, so viel Gegebenheit
3. Die Welt, der Hingegebene und die Manifestation
3.1. Die Verwandlung des Subjekts zum Hingegebenen
3.2. Die Welt gibt, der Hingegebene manifestiert
V. Der Primat der Gegebenheit und die Frage des inter-religiösen und inter-konfessionellen Diskurses
Marcus Schmücker: Gabe und Erlösung
1. Vom Tausch zur Gabe
2. Reziprozität und ihre Aufhebung
3. Ohne Götter
4. »Ohne Furcht« (abhaya)
5. »Gabe des Selbst« (ātmadāna)
6. »Preisgabe des Selbst« (ātmanikṣepa)
Fazit
Natalie Depraz: Phänomenologie und Apophatizismus
I. Ein erstaunlich gemeinsamer historischer Hintergrund
a) Eine gemeinsame Bezugnahme auf Nietzsches Wort »Gott ist tot« (Die fröhliche Wissenschaft, §125)
b) Der gemeinsame Rahmen von Heideggers Kritik der Onto-theologie
c) Nietzsche mit Heidegger erhellt – Eine gemeinsame Deutung
d) Dionysius Aeropagita als gemeinsamer Schlüsselstützpunkt
II. Der Unterschied zwischen negativer Theologie und Apophatizismus und dessen Wirkung auf die Transformation der Phänomenologie
III. Zum Schluss: Einige wesentliche Treffpunkte
Eine andere Beziehung, eine andere Offenbarung:
1. Einleitung
2. Jean-Luc Marions Äußerungen über »den Islam«
3. Das gesättigte Phänomen und die Universalität von Gegebenheit
4. Blickwechsel: Die Möglichkeit anderer Offenbarungen
5. Zusammenfassung
Annex
Jean-Luc Marion: Das gesättigte Phänomen
1.
2.
3.
4.
5.
7.
8.
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Der Primat der Gegebenheit: Zur Transformation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion
 9783495823736, 9783495487082

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Michael Staudigl (Hg.)

Der Primat der Gegebenheit Zur Transformation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495823736

.

B

Michael Staudigl (Hg.) Der Primat der Gegebenheit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Der Band vereint Studien zum Werk des französischen Phänomenologen Jean-Luc Marion, die die Breite seines Ansatzes in systematischer wie kritischer Hinsicht ausleuchten. Die Schwerpunkte betreffen 1. eine historisch-kritische Verortung von Marions Denken im Kontext von Descartes, Kant und der Phänomenologie; 2. eine inhaltliche Entfaltung des Programms der »Phänomenologie der Gegebenheit« und der daraus resultierenden Implikationen für die Grundbegriffe der Phänomenologie (Welt, Subjekt, Zeit, etc.), 3. exemplarische Studien verschiedener Typen »gesättigter Phänomene«, 4. Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Marions Phänomenologie zur Hermeneutik und 5. schließlich Beiträge zur Diskussion des Paradigmas der Gegebenheit im inter-religiösen Kontext. Der Band enthält zudem zwei Texte Marions, darunter eine Übersetzung der bislang auf Deutsch nicht verfügbaren Studie »Das gesättigte Phänomen«, die historisch als ein Kern der »Phänomenologie der Gegebenheit« anzusehen ist.

Der Herausgeber Michael Staudigl (geb. 1971), PD Dr. habil., Dozent und Projektleiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Studien und Forschungsaufenthalte in Freiburg im Breisgau, Prag, Louvain-la-Neuve und New York. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Sozialphilosophie, politische Philosophie, Religionsphilosophie, Gewaltforschung.

https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Michael Staudigl (Hg.)

Der Primat der Gegebenheit Zur Transformation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Gedruckt mit Förderung der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund FWF I-2785

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48708-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82373-6

https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Inhalt

Michael STAUDIGL: Zwischen Häresie und Transformation: Einleitende Bemerkungen zu Jean-Luc Marions Phänomenologie der Gegebenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

9

Zwischen Tradition und Neubeginn

László TENGELYI (†): Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie bei Marion . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Thomas ALFERI: Gegebenheit/Gebung und Descartes? Marions philosophische Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Lilian ALWEISS: Von Kant zu Descartes und zurück

. . . . . .

79

Branko KLUN: »Sich empfangen aus dem, was sich gibt.« Zur Frage nach der Subjektivität im Dativ . . . . . . . . . . .

115

Karel NOVOTNÝ: Umkehrung der Intentionalität. Zur Neubestimmung der Phänomenalität bei Marion . . . . . .

133

Peter GAITSCH: Selbstgegebenheit und Einstellung. Zur Reichweite einer Phänomenologie der Gegebenheit . . . .

146

II. Phänomenologische Denkfiguren

5 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Inhalt

III. »Gesättigte Phänomene« Christina GSCHWANDTNER: Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden? . . . . . . . . . . . . . . .

183

Claudia SERBAN: Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

216

Alwin LETZKUS: Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe. Die »Logik der Liebe« nach Jean-Luc Marion . . . . . . . . . .

232

Rolf KÜHN: Die Formalität der »Sättigung« im Denken Jean-Luc Marions. Kritische Rückfragen aus radikal- und religionsphänomenologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . .

253

IV. Die Herausforderung der Hermeneutik Jean-Luc MARION: Gegebenheit und Hermeneutik

. . . . . . 283

Katharina BAUER: Interexplikationen – Entfaltungen einer Phänomenologie der interdonation . . . . . . . . . . . . . . .

306

Emilie TARDIVEL: Welt und Gegebenheit. Eine Revision des vierten Prinzips der Phänomenologie . . . . .

332

V. Der Primat der Gegebenheit und die Frage des inter-religiösen und inter-konfessionellen Diskurses Marcus SCHMÜCKER: Gabe und Erlösung. Zum Primat der Gegebenheit im Kontext religiöser Traditionen Indiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

Natalie DEPRAZ: Phänomenologie und Apophatizismus. Jean-Luc Marion und Christos Yannaras im Austausch . . . . .

386

6 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Inhalt

Kadir FILIZ: Eine andere Beziehung – eine andere Offenbarung: Berührungspunkte zwischen Jean-Luc Marion und der islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

398

Annex: Jean-Luc MARION: Das gesättigte Phänomen

. . . . . . . . . 429

7 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Zwischen Häresie und Transformation. Einleitende Bemerkungen zu Jean-Luc Marions Phänomenologie der Gegebenheit Michael Staudigl

Die »phänomenologische Bewegung« speist sich in vielfacher Hinsicht aus den Grundeinsichten ihres Begründers, Edmund Husserl. Nicht nur eine Vielzahl heute noch intensiv diskutierter Themen, sondern auch die zentralen methodischen Grundprinzipien finden sich in Husserls so umfänglichem Werk in der Tat grundgelegt, oft auch in werkgeschichtlich divergierender, mitunter sogar widersprechender Weise. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass die Geschichte der Phänomenologie, wie das schon ältere, oft zitierte Wort Paul Ricœurs lautet, in eins eine »Geschichte der Husserlschen Häresien« 1 ist, insbesondere in methodischer Hinsicht. Ohne diese eben schon zu Husserls Lebzeiten beginnende Geschichte hier en detail nacherzählen zu wollen und ohne auf die Spezifika nachfolgender Generationen von Husserl-Schülerinnen und Schülern hier auch nur ansatzweise eingehen zu können, möchte ich vor diesem Hintergrund für den Zweck dieser Einleitung bloß zwei Konzepte in Erinnerung rufen. Ich wähle diese, da sich an ihnen in der Tat so manches phänomenologische »Ketzertum« entzündet hat und auch heute noch – ja vielleicht heute mehr denn je – entflammt. 2 1 Vgl. P. Ricœur, »Sur la phénoménologie«, in: Esprit 12(1963), 836. Selbst Marion wird später noch zugestehen, wiewohl er ein eigentümlich »französisches Moment« in der Entfaltung der Phänomenologie erkennt, dass es sich bei seiner Explikation der These des »gesättigten Phänomens« »nicht um eine Revolution [handelt], sondern um die schlichte Entwicklung eine der Möglichkeiten, die de jure bereits in die gewöhnliche Definition des Phänomens eingeschrieben sind.« (J. L. Marion, »Die Banalität der Sättigung.«, in: H.-D Gondek, T. N. Klass, & L. Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse, München: Fink 2011, 78–98, hier 78). 2 Wenn man von Ketzertum spricht, darf man nicht verabsäumen, den gewichtigen, wiewohl lange kaum berücksichtigten Beitrag zu erwähnen, den Jan Patočka zu dieser Geschichte der phänomenologischen Bewegung beigesteuert hat. Ähnlich wie Marion später hatte er schon früh einen »dritten Weg« der Phänomenologie im Auge, motiviert nicht nur durch die politischen Herausforderungen einer Geschichte, die sich jeder versöhnenden Vernunftteleologie entzieht (vgl. dazu v. a. Ketzerische Essays

9 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Michael Staudigl

Eben dies freilich kann man nicht zuletzt vom hier diskutierten Werk Jean-Luc Marions behaupten, mit dem die Bedeutung der Phänomenologie für einen sich dezidiert »nachmetaphysisch« verstehenden philosophischen Diskurs zur Diskussion steht. Denn in der Tat wird die von diesem Denker vorgeschlagene Transformation der Phänomenologie von einer Reihe von Kritikern, angefangen bei Dominique Janicaud, oft als verkappte Theologisierung der Phänomenologie kritisiert. So ist bei diesem explizit vom »theologischen Kurswechsel« einer »negativen Phänomenologie die Rede«, die sich dem Erscheinen »abgeleiteter […] und […] umbeschreibbarer Phänomene« 3 verschreibt – und dies durch eine Interpretation der Intentionalität, die Husserls leitende Sorge um die reduktiv erschlossene Sphäre intentionaler Immanenz und den darin begründeten »methodischen Atheismus« (Heidegger) über Bord zu werfen drohe. Führt man sich diese Kritik vor Augen, so wird die Wahl der Konzepte, anhand derer man sich bei einer allgemein verbleiben müssenden Orientierung über dieses Projekt im Rahmen dieser Einleitung orientieren sollte, klar angezeigt: Ich spreche zum einen vom thematischen Grundbegriff der Intentionalität, zum anderen von der methodischen Grundoperation der Reduktion. Beide nämlich sind nicht nur in der historischen Phänomenologie aufs Engste miteinander verbunden, sofern die »Widernatürlichkeit« der phänomenologischen Reduktion, von der Husserl mitunter gesprochen hat, die intentionale Relation explizit ins Thematische zu heben vermag, sondern noch weit drüber hinaus – was ich im Folgenden in einigen Ansätzen zur Anzeige bringen möchte. Im Rahmen seiner sog. »transzendentalen Wende« wird die Verbindung von Intentionalität und Reduktion bekanntlich so begrün-

zur Philosophie der Geschichte, neu übers. v. S. Lehmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010), sondern auch vor dem Hintergrund einer zu seiner Zeit noch kaum registrierten Sensibilität für die neue, »wiederkehrende« Bedeutung der Religion, die einer klassischen phänomenologischen Kritik der Vernunft abverlangt, sich selbst zu transformieren (vgl. L. Hagedorn, »Beyond Myth and Enlightenment. Religion in Patočka’s Thought«, in: E. Abrams, I. Chvatik (Hg.), Jan Patočka and the Heritage of Phenomenology, Dordrecht et al.: Springer 2011, 245–62). Marion selbst hat vor kürzerer Zeit auf die Nähe zu diesem Denken hingewiesen, vgl. den Artikel »La donation, dispense du monde«, Philosophie 118/3(2013):78–90; sowie weiterführend den Beitrag von E. Tardivel im vorliegenden Band. 3 D. Janicaud, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien: Turia + Kant 2014, 95 f. resp. 90.

10 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Zwischen Häresie und Transformation

det, dass phänomenale Gegebenheiten als »Einheiten des Sinnes« 4 begriffen werden, freilich nur, um in einem folgenden Schritt auf ein intentionales, und d. h. hier »sinngebendes Bewusstsein« 5, zurückgeführt zu werden. Die damit angesprochene Konstitutionstheorie, die im Umkreis der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie im Zeichen aktiver, egologisch polarisierter Sinngebung ausdifferenziert wird, wird bei Husserl im Horizont seiner weiterführenden Analysen zu Leiblichkeit, Intersubjektivität, »passiver Synthesis« und der »Wende zur Lebenswelt« in der Folge freilich rasch problematisch. 6 »Grenzprobleme der Phänomenologie« 7 wie Geburt, Tod, Generativität oder auch Fremderfahrung verweisen in diesem Kontext auf Phänomenbereiche resp. phänomenale Konstellationen, in denen die Dynamik der Konstitution entweder ins Leere intuitiver Nichtgegebenheit übergreift oder aber durch herausfordernde Momente überbordender, ungeregelter, ja womöglich entregelter Erfahrungsansprüche aus ihren zunächst und zumeist kategorial gesicherten Bahnen geworfen wird. Mit diesen beiden Leitmotiven von Entzug bzw. Überschuss geraten unmittelbar die Leitprinzipien von Ichreduktion und Horizonteinschreibung, anhand derer Husserl die generischen Wesenszüge intentionaler Sinngenese herauspräpariert hatte, spürbar in ein Ungleichgewicht, ja in eine regelrechte Schieflage. Was sich als Phänomen gibt, ja möglicherweise regelrecht aufdrängt, so ließe sich hier bereits formulieren, gibt sich, indem es sich solcher Evidenz generierender Reduktion (auf ein konstituierendes Ich) und HorizonteinE. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Den Haag: Nijhoff 1976, 120. 5 Ebd. 6 Diese bei Husserl selbst zu findende Erweiterung bzw. Transformation der Phänomenologie im Zeichen vielfältiger Erfahrungen der Passivität wurde von vielen Kommentatoren detailliert nachgezeichnet, je mit unterschiedlicher thematischer Fokussierung. Vgl. bspw. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität, Freiburg/München: Alber 1998; A. Montavont, De la passivité dans la phénoménologie de Husserl, Paris: PUF 1999; S. Micali, Überschüsse der Erfahrung, Dordrecht et al.: Springer 2008. 7 Dass diese Motive nicht extern an Husserl herangetragen wurden, sondern bei diesem selbst zum Teil zumindest schon in Ansätzen analysiert worden sind, zeigen nicht zuletzt neuere Editionen des Husserlschen Werks, allen voran E. Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass (1908–1937), Dordrecht et al.: Springer 2014. 4

11 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Michael Staudigl

schreibung (in vorgegebene Sinnzusammenhänge) zu entziehen, ja möglicherweise zu widersetzen beginnt. Damit zeichnen sich Bruchlinien der Erfahrung ab 8, die sich im Rahmen einer eidetischen Analyse intentionaler Bewusstseins-Erlebnisse nicht angemessen zur Aussprache des ihr eigenen Sinnes bringen lassen. Husserl seinerseits nahm diese Entwicklung jedoch keineswegs zum Anlass, die intentionalanalytisch kalibrierte Architektonik seiner Konstitutionstheorie 9 über Bord zu werfen. In vielfältigen Anläufen vertiefte und ergänzte er sie vielmehr und versuchte darzulegen, wie etwa »passive Synthesen« eine andere Form von (affektiver) Ichbeteiligung ins Spiel bringen, ein sich meldender Überschuss an Intuition (anschaulicher Gegebenheit) zuletzt immer teleologisch abgefedert wird, das Spiel leerhorizonthafter Antizipation oder symbolischer Appräsentation anschauliche Defizienz sinnfällig komplementiert, oder das Fehlen habitueller Sinnhorizonte durch das kreative Spiel sog. »fungierender Intentionalitäten« auf prä-reflexiver Ebene aufgewogen wird – und so wiederum in ein Verhältnis sogenannter Fundierung eingeht. Mit dieser sich bereits bei Husserl selbst anzeigenden Unstetigkeit im intentionalen Dynamismus ist bereits eine entscheidende Konstellation angesprochen, die auch für das Denken Jean-Luc Marions, dem der vorliegende Band gewidmet ist, von grundlegender Bedeutung erscheint. Doch nicht nur Husserls Grundintuitionen und ihre mitunter sich meldende Brüchigkeit sind für Marions Transformation der Phänomenologie von zentraler Bedeutung gewesen. Ebenso relevant erscheinen mir andere, ebenso gewichtige Motive, die mit den phänomenologischen Weiterentwicklungen in Husserls erster Schülergeneration greifbar wurden. Ich möchte in diesem Zusammenhang hier bloß zwei weitere, inhaltlich einander ergänzende Bemerkungen zu den Problemtiteln Intentionalität und Reduktion anführen, die mir für unser Verständnis Marions und der »Sache selbst«, um die es der Phänomenologie ja Husserl zufolge gehen soll, von grundlegender Bedeutung zu sein scheinen. Diese beziehen sich Die wohl eindrucksvollste Darstellung eines wahren Geflechts solcher Bruchlinien, die dabei nicht auf eine einheitliche Konzeption der Phänomenalität zurückleiten möchten, verdanken wir Bernhard Waldenfels’ gleichnamigem Buch Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 9 Vgl. für eine frühe Darstellung des Konstitutionsgedankens bereits R. Sokolowski, The formation of Husserl’s concept of constitution, Den Haag: Nijhoff 1964. 8

12 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Zwischen Häresie und Transformation

auf Einsichten von Merleau-Ponty und Levinas, Denker mithin, die nicht nur im französischen Sprachraum (neben Ricœur vor allem) mit zu den bedeutendsten frühen Vermittlern der Phänomenologie gehörten, sondern fraglos zu ihren eigenständigsten und wirkmächtigsten Protagonisten zu rechnen sind. Entscheidende Denkfiguren, die auf sie zurückzuführen sind, zählen bis heute zu den zentralsten Einsichten, aus denen die Phänomenologie die Dynamik ihrer methodischen Offenheit und mithin ihre ungebrochene denkerische Lebendigkeit bezieht. (1) Von Merleau-Ponty stammt in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Formulierung, dass »die wichtigste Lehre der Reduktion« die der »Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« sei. 10 In der Phänomenologie der Wahrnehmung läuft diese Einsicht bekanntlich darauf hinaus, dass der »gelebte Leib«, jenes »merkwürdig unvollständig konstituierte Ding« im Sinne Husserls 11, es prinzipiell verhindert, dass das konstituierende Bewusstsein je »reiner Selbstbesitz«, transparente Gegenwart bei sich selbst also, werden kann; es »integriert« sich vielmehr, wie Merleau-Ponty formuliert, der aktiven, d. h. leibhaftigen »Bewegung des Ich-bin«. 12 Aus dieser Überlegung resultieren zwei für unseren Zusammenhang überaus bedeutsame Denkfiguren, die Merleau-Ponty in der Folge näher entfalten sollte. Zum einen handelt es sich um die Einsicht, dass die »Kräfte des konstituierenden Bereichs« nicht nur »in einer Richtung« wirken, sondern vielmehr »gegen sich selbst zurück[wirken]« 13. Die Konstitution entpuppt sich hier folglich mehr als ein Geschehen, das wir nie völlig unter Kontrolle haben, denn als eine Methode, die uns in die Richtung einer »intellektuellen Besitznahme der Welt« 14 zu leiten vermöchte. Man wohnt hier geradezu, wie Merleau-Ponty dies in Antizipation seiner Spätwerks Das Sichtbare und das Unsichtbare schon früh registrierte, einem offenen Geschehen der »Ausbreitung, Verschränkung und [des] Übergreifen[s]« bei, in denen sich der prä10 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, 11. 11 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Den Haag: Nijhoff 1954, 152. 12 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 437. 13 M. Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, in ders., Das Auge und der Geist, Hamburg: Meiner 1984, 45–68, hier 59. 14 Ebd., 66.

13 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Michael Staudigl

gende, ja konstituierende Überschuss einer »vollständigen Erfahrung« geltend macht, ohne sich noch auf das »Feld unserer Gedanken« reduzieren zu lassen. 15 Zum Zweiten ist anzumerken, dass der sich hier meldende Überschuss an Sinn im Hinblick auf die leibliche »Naturseite der Subjektivität« (Husserl) und die sog. »Ecceität der Natur« 16 aufleuchtet, uns aber ebenso in den Sinnzusammenhängen, den »symbolischen Stiftungen« der Sozialwelt immer schon generativ vorgegeben ist. 17 Er handelt sich hierbei folglich um keinerlei monologischen Sinn, der sich in der universalen Bauchrednerei einer »vernünftigen Welt« bloß spiegelte. Wie der späte Merleau-Ponty zeigte, drängt er sich dem Subjekt vielmehr von anderswo her auf. Oder anders formuliert: Er gibt dem Subjekt in Form eines »wilden Sinns«, der sich in der Erfahrung selbst erst bildet (le sens se fait), zu denken, ruft so unser Begehren nach einem ihn aneignenden Ausdruck wach und erhält dieses mithin auch weiterhin am Leben. 18 Die von Husserl aufgewiesene phänomenologische Grundkorrelation von intentionalem Erlebnis und intuitiver Erfüllung erweitert sich unter den genannten Vorzeichen also in wahrhaft substantieller Weise. Sie erweitert sich hin auf eine dynamische Korrelation von Erfahrung und Ausdruck, auf ein vielfach anonym anhebendes Sinnbildungsgeschehen also, in dem »der Ausdruck der Erfahrung durch die Erfahrung« 19 selbst – die Erfahrung nämlich eines responsiven Ausdrucksgeschehens, in das wir uns schon verstrickt finden – möglich wird. Ganz gleich, ob es die Fremdheit des Eigenleibes oder später das »Fleisch der Welt«, der Anderen oder gar jenes der Geschichte ist, die uns allesamt in Facetten unseres Existierens ansprechen und so zum Ausdruck drängen – Merleau-Pontys Werk zeigt uns in vielfältigen Hinsichten, wie der vielfach anonyme Sinn, den uns die Erfahrung je zu verstehen gibt, sich nicht mehr restlos auf die intenEbd., 63. Ebd., 51. 17 Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 414 ff. 18 Diesen konstitutiven Zusammenhang von noch »stummer Erfahrung« (Husserl) und »schöpferischem Ausdruck« (Merleau-Ponty) im Zeichen der Gabe, auf den ich mich hier allzu rasch stütze, expliziert in aller Klarheit L. Tengelyi, »Vom Erlebnis zur Erfahrung. Phänomenologie im Umbruch«, in: W. Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Berlin: Akademie 2002, 788–800, hier 797 ff. Vgl. auch die elaborierte Präsentation und Diskussion der hier in nuce exponierten Zusammenhänge in Tengelyis Buch Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern, Dordrecht et al.: Springer 2007. 19 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink 1994, 203. 15 16

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Zwischen Häresie und Transformation

tionalen Akte einer konstituierenden Subjektivität zurückführen lässt. Unsere Erfahrung erschließt sich vielmehr nur vom oft schöpferischen Ausdruck derselben her und zu diesem wiederum gelangen wir nur auf der Grundlage jener »fungierenden Intentionalitäten«, die uns in die »Kommunikation mit der Welt als erster, wesenhaft unausschöpfbarer Stiftung einer Rationalität« immer schon leibhaftig eingeweiht haben: »Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch sie ist nicht mein Besitz, sie ist unausschöpfbar. Nie kann ich von dieser ständigen These des Lebens: ›Es gibt eine Welt‹ oder vielmehr ›es gibt die Welt‹, vollständig Rechenschaft ablegen.« 20 Die Opazitäten und Verschattungen, die sich der phänomenologischen Reduktion im Rückgang auf die »natürliche Welt« oder lebensweltliche Urdoxa also widersetzen und dem philosophischen »Artefakt« des konstituierenden Bewusstseins entgegen wirken, bedeuten in diesem Sinne jedoch keine bloß kontingente Überforderung für die Phänomenologie. Wie Merleau-Ponty zeigt, öffnen sie uns vielmehr für eine »wilde Welt«, »eine unzivilisierte Welt und einen unzivilisierten Geist«, die uns – oft auch wider Willen – in Anspruch nehmen, zu denken geben und nach Ausdruck verlangen. 21 Das Motiv der Gabe, auf dem Marion seine Transformation der Phänomenologie begründen sollte, zeichnet sich im Horizont von Merleau-Pontys Denken also schon ab, zumindest implizit und in manchen Konturen. 22 (2) Die zweite Überlegung, auf die ich in diesem Kontext aufmerksam machen möchte, hat ihren Ursprung bei Levinas. Wenn dieM. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 15 u. 14 (Hvh. M. S.). M. Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, 67. 22 Wenn man zudem festhält, dass die Motive der »wilden Welt« und der »wilden Wesen«, auf die Merleau-Ponty die Phänomenologie hin zu öffnen versuchte, uns, wie Marc Richir später formulierte, in ein wahres Abenteuer der Sinnbildung (so der Titel einer ersten, von J. Trinks besorgten Teilübersetzung der Phänomenologischen Meditationen, Wien: Turia + Kant 2000) verstricken, so deutet sich damit freilich in eins auch schon eine andere Gangart der Phänomenologie an, als Marion sie eingeschlagen hat: eine, die mehr auf die irreduzible Plurivozität und unvorhersehbare Dynamik des Phänomenalisierungsgeschehens den Finger legt, denn auf die Tatsache, dass sich in ihnen ein univoker Grundzug aller Phänomenalität ausspricht. Dieser Vergleich führt für die Zwecke einer Einleitung freilich schon zu weit, siehe aber meine auch vergleichenden Überlegungen unter dem Titel »Marc Richir und die Phänomenologie«, die in einem von A. Schnell edierten Band über Marc Richir erscheinen werden. 20 21

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ser früh schon formulierte, »Phänomenologie, das ist Intentionalität« 23, so zeugt diese Aussage bei näherer Betrachtung von einer grundsätzlichen Ambiguität in Levinas’ eigenstem Selbstverständnis, ja von einer, die vielleicht dem Konzept der Intentionalität selbst eingeschrieben sein könnte. Zum einen nämlich ging es dem Verfasser von Totalität und Unendlichkeit ja darum, dasjenige Aufbrechen (oder Erwachen) des Bewusstseins zu beschreiben, das sich in der Erfahrung der sich dem Subjekt aufdrängenden, unassimilierbaren Wirklichkeit des Anderen ereignet bzw. eine solche Erfahrung überhaupt erst möglich macht. Den Anderen zu erfahren, den anderen zu intendieren, dies bedeutet für Levinas nicht nur, wie Husserl es formulierte, eine implizite, mitwahrgenommene oder appräsentierte Sinngestalt zu erfahren, die letztlich im Horizont der vorgegebenen Welt zugänglich wird, und sei es im Paradox einer »Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit« 24. Es besagt für ihn zunächst vielmehr, die prinzipielle Inadäquation der eigenen Intentionen zu erfahren, d. h. eine kardinale Nicht-Koinzidenz im Herzen des Selbst anzuerkennen, das folglich – um es mit Ricœurs so griffiger Formel auf den Begriff zu bringen 25 – immer auch schon (und letztlich auf irreduzible Weise) ein Anderer ist. Die damit sich in ihrer Vielfältigkeit abzeichnende Erfahrung des Anderen verbleibt bei Levinas dadurch nicht mehr wie noch bei Husserl in den Bahnen einer analogisierenden Konzeption der Fremderfahrung stecken, die an der habituellen Typik der Lebenswelt ihren letzten Anhalt finden muss. Sie vertieft sich vielmehr zu einem radikalen Fremdwerden der Erfahrung selbst, in letzter Instanz zu einer »Kernspaltung« 26 des Bewusstseins, wie es später in Jenseits des Seins heißen sollte. Der Andere (l’autrui) lässt sich also, in Husserlscher Terminologie gesprochen, nicht mehr auf die »sinngebenden IntenE. Levinas, »Der Untergang der Vorstellung«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Alber, 120–39, hier 123. 24 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929–36, Den Haag: Nijhoff 1973, 631. 25 Vgl. entsprechend den Titel von Ricœurs späterem Werk Das Selbst als ein Anderer, München: Fink 1993, inhaltlich v. a. den letzten Abschnitt der abschließenden Abhandlung (382 ff.). 26 Vgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Alber 1988, 120; ders., »Vom Bewusstsein zur Wachheit«, in: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München: Alber 2004, 44–78, hier 64. 23

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tionen« eines konstituierenden Ich (oder auch einen »existenzialen Entwurf« im Sinne Heideggers) reduzieren. Er erscheint vielmehr schon früh als abgründiges »Loch im Horizont« 27. Als ein solches gibt es dem Subjekt gleichwohl (ganz wie Descartes’ »Idee des Unendlichen«) immer mehr zu denken, als dieses je zu denken vermag, ja gibt ihm in der Tat so unmäßig viel zu denken auf, dass dessen Antwort nur darin bestehen kann, seinerseits mehr zu geben, als es hat, d. h. sich unterweisen zu lassen, also zu antworten, ohne je über vorgegebene Antwortregister zu verfügen – d. h. aber sich zu ver-antworten. Mit Blick auf die Entwicklung der Phänomenologie insgesamt und systematisierend gesprochen besagt dies, dass die klassische Korrelation von Intention und Erfüllung, die sich bei Merleau-Ponty bereits auf das Zusammenspiel von Erfahrung und Ausdruck hin verlagert hatte, sich bei Levinas nun auf eine Dynamik von Anspruch und Antwort (appel/réponse) hin transponiert findet. Damit aber kommen nicht nur neuartige Phänomene in den Fokus, sondern die Phänomenologie als solche beginnt ihr Gepräge zu verändern. Denn wenn die klassische Phänomenologie sich über die Intentionalität definiert und versteht, so bedeutet dies streng genommen, dass Levinas vermittels der Thematisierung des Antlitzes, das jedes subjektive Vermögen der Thematisierung, Objektivierung und Vorstellung übersteigt, mit der Phänomenologie aus eben dieser heraustritt: Solches Heraustreten aber ereignet sich im Zeichen der Thematisierung eines Grenzphänomens intentionaler Phänomenologie, dessen Berücksichtigung in eins eine neue Gestalt der Phänomenologie hervortreten lässt. Wenn bei diesem Denker also eine Art »Disqualifikation der Intentionalität« erfolgte, eine gewisse Abkehr von der Phänomenologie mithin, so doch eine, die ihrem Geist vielleicht treuer geblieben ist, als so manche allzu orthodoxe Auslegung der Intentionalität dies von sich behaupten kann. Was diese Gestalt transformierter Phänomenologie nämlich greifbar macht, und dies erscheint für unseren Zusammenhang relevant, ist eine »Öffnung des Spiels der Intentionalität« und eine »Erneuerung des Begriffs des Transzendentalen«, die das Konstitutionsverhältnis umkehrt. So, wie die Horizonte hier nämlich als »transzendentale Sinngeber« eines situierten Subjekts E. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Alber 1990, 103–119, hier 117.

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auftreten, so drängt sich damit des weiteren eine »ethische, d. h. wesentlich den Anderen berücksichtigende Sinngebung« 28 auf. Diese aber, und dies ist entscheidend, nimmt nicht mehr vom Ich ihren Ausgang, sondern setzt dieses in letzter Instanz erst ein, wie Levinas’ Konzept der Substitution oder Stellvertretung es beschreibt. So also, wie das Prinzip der intentionalen Horizonteinschreibung bei Levinas seinen Rang als totalisierendes Konstitutionschema verliert (handle es sich nun um den Horizont der Objektivität, wie bei Husserl, oder um jenen des Seins, wie bei Heidegger), so durchbricht der »Anspruch des Anderen« in eins die egologische Polarisierung der intentionalen Achse. Mit dem Motiv einer »Gegenintentionalität« 29, das sich hier ausspricht, kommt ein gegenläufiges, gleichwohl nicht-fundierendes Prinzip der Sinngebung ins Spiel. Wie dieses interpretiert wird, d. h. ob es lediglich auf die Problematik der Intersubjektivität bezogen wird, oder auf die Entfaltung der Erfahrung und die Genese des Phänomens im Allgemeinen übertragen wird, dies sollte entscheidend dafür werden, wie Phänomenologie nach Levinas verstanden wurde. Die beiden genannten Einsichten und ihre weiteren Implikationen, auf die ich hier nur ansatzweise – etwa mit Blick eben auf die Denkfigur einer »Gegen-Intentionalität« – hindeuten kann, haben das Gepräge der Phänomenologie in der Tat herausgefordert und nachhaltig verändert. Jean-Luc Marions breit angelegtes Unternehmen einer Neubestimmung, ja Neubegründung der Phänomenologie, dessen Tragfähigkeit, Tragweite und kritische Perspektiven der vorliegende Band ausloten möchte, lässt sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklung anschaulich darlegen. Denn wie sich zeigte, kreisen sowohl Merlau-Pontys als auch Levinas’ Überlegungen ja nicht zuletzt auch immer um eine an den »Sachen selbst« orientierte Verhältnisbestimmung von Intentionalität und Reduktion – und so war es denn auch E. Levinas, »Der Untergang der Vorstellung«, 135, 125 u. 138 f. Levinas verwendet m. W. den Begriff nicht, sondern spricht lediglich sachgemäß von einer »Umkehr« (inversion) der Internationalität oder auch von einem »gegenläufigen Bewusstsein« (à contre-courant) (E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 114 f.). Der Begriff findet sich dann aber explizit bei Marion, vgl. Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 1997, 246 (contre-intentionnalité); dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München: Alber 2015, 302 (»entgegen der Intentionalität«).

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exakt diese Frage, an der sich Marions produktive Auseinandersetzung mit der Phänomenologie ursprünglich entzündet hat. Denn obgleich manche seiner früheren Arbeiten (sei es zu Descartes oder zu im engeren Sinne theologischen Fragestellungen) vielfach bereits eine Kenntnis der phänomenologischen Tradition und zentraler phänomenologischer Themen durchblicken ließen, trat erst mit Réduction et donation (1989) eine explizite und systematische Beschäftigung mit der phänomenologischen Methode als solcher auf den Plan. Und in der Tat, mit der Radikalisierung der Reduktion über die eng gesteckten Grenzen einer »transzendentalen« (Husserl) und einer »existenzialen Reduktion« (Heidegger) hinaus, geht es Marion in diesem Buch darum, die grundsätzliche Möglichkeit einer »dritten Reduktion« – die die Festschreibung der Phänomenalität sowohl im Zeichen der Gegenständlichkeit wie auch des Seins hinter sich lässt – ins Feld zu führen. Was sich damit ankündigt, wenn auch erst in Form einer neuen, noch weitgehend unausgeloteten phänomenologischen Denkfigur, ist die »unbedingte Vorrangstellung der Gegebenheit des Phänomens« 30 – der Primat der Gegebenheit also. Das Konzept der Gegebenheit – »Zauberwort« für die einen, »Stein des Anstoßes« für die anderen, wie es bei Heidegger einmal hieß und wie Marion mit Blick auf die Geschichte der »phänomenologischen Bewegung« festhält – wird in Réduction et donation bereits in ersten Ansätzen als übergreifendes Thema fixiert, dabei jedoch zunächst einmal rein programmatisch als allgemeinster Fragehorizont postuliert. 31 Explizit aufgegriffen und inhaltlich abgehandelt wird es dann im bald nachfolgenden, werkgeschichtlich überaus bedeutsamen Artikel »Le phénomène saturé« 32. Marion exponiert es in diesem Kontext erstmals explizit als das verbindende Element, das zwischen dem intentionalen Vermeinen und der Anschauung spielt. 33 Bekanntlich hatte Husserl in den Ideen die »originär gebende Anschauung« J.-L. Marion, Réduction et donation, 53. Ebd., 303 (figures de la donation). 32 J.-L. Marion, »Le phénomène saturé«, in: J.-F. Courtine, Phénoménologie et théologie, Paris: Critérion 1992, 79–128; dt. Übers. im vorliegenden Band. 33 Vgl. L. Tengelyi, H.-D. Gondek, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2011, 155. Es sei darauf hingewiesen, dass wir diesem Buch die bei weitem systematischste Darstellung der Phänomenologie Marions verdanken, die zudem den Vorteil hat, dass sie den zeitgenössischen Kontext französischer Gegenwartphänomenologie umfassend mit reflektiert, ohne den sich Marions Projekt nicht angemessen verstehen lässt. 30 31

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im sog. »Prinzip der Prinzipien« als die »Rechtsquelle der Erkenntnis« postuliert. Wie Marion kritisch aufzeigt, hatte er sie dabei jedoch in eins in den allzu engen, von Husserl selbst klar anerkannten »Schranken, in denen [sie] sich da gibt«, d. h. in denjenigen intentional-kategorialer Bewusstseinsformung, eingeschlossen. 34 Um die solcherart sanktionierte Engführung des Phänomenbegriffs zu überwinden, schickte sich Marion folglich an, zu zeigen, dass der Dynamismus von Bedeutungsintention und anschaulicher Erfüllung keineswegs nur in jenen weithin bekannten Fällen statthat, in denen die Anschauung hinter der Intention entweder in konstitutiver Weise zurückbleibt (»gewöhnliche« Phänomene der alltäglichen Lebenswelt) oder aber sie zu bloß formaler Übereinstimmung gelangen (»arme Phänomene«, wie etwa die formalen Idealitäten der Logik). Marion ging es entsprechend darum, den Nachweis zu erbringen, dass sich gerade auch in einem Übermaß oder einem »freien Spiel« von Intuitionen sinnhafte phänomenale Konstellationen eröffnen, also Phänomene sich geben – und zwar, ohne sich gemäß den Kriterien der Horizonteinschreibung und der Ichreduktion zu zeigen 35: die sog. gesättigten Phänomene. Indem die Gegebenheit auf diese Weise als »letztes Prinzip« eingeführt wird, das die Phänomenologie vom Prinzip des »zureichenden Grundes« befreit, sensibilisiert sie uns Marion zufolge jedoch nicht nur für Modalitäten der Erfahrung, die die konstituierende Instanz des Subjekts in Unruhe versetzen und in Frage stellen, ja in letzter Instanz auch degradieren oder möglicherweise vielleicht sogar allererst einsetzen. Vielmehr noch eröffnet sie so auch, wie Marion es ausdrückt, das Feld für die »von Unmöglichkeit gekennzeichneten Phänomene« 36 – unmöglich, sofern sie sich eben nicht mehr der Horizontstruktur der Intentionalität einschreiben lassen.

E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, 51. 35 Wie Marion sagt, »was sich zeigt, gibt sich zuerst« (Gegeben sei, 10). In Fortführung des in Réduction et donation herausgearbeiteten »vierten Prinzips« der Phänomenologie, »Je mehr Reduktion, desto mehr Gebung« (Réduction et donation, 303), besagt dies nichts anderes, als dass sich auch Phänomene geben, die sich nicht zeigen. 36 J.-L. Marion, »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont, Offenbarung«, in: A. Halder, K. Kienzler, J. Möller (Hg.), Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf: Patmos 1988, 84–103, hier 89. 34

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Werkgeschichtlich besehen ist festzuhalten, dass in besagtem Artikel entsprechend noch eine enge Zweiteilung der »gesättigten Phänomene« propagiert wird, die zwischen den sog. »Ereignissen« einerseits und den »Phänomenen der Offenbarung« (worunter das »Idol«, die »Ikone« und die »Theophanie« gerechnet werden) 37 andererseits unterscheidet. Im nur wenige Jahre später erschienenen Werk Etant donné legte Marion hingegen schon eine umfassendere und elaboriertere Beschreibung verschiedener Haupttypen des »gesättigten Phänomens« vor. Diese stützt sich zum Teil fraglos auf die vorausgegangen Überlegungen, erweitert diese aber auch wesentlich. Neben das Ereignis, das Idol und die Ikone tritt nun v. a. noch der Leib respektive das Fleisch (la chair), wohingegen das (grundsätzlich nur seiner bloßen Möglichkeit nach zu betrachtende) Phänomen der Offenbarung von dieser Viergestalt dadurch radikal abgesetzt wird, dass es Marion zufolge als eine »Sättigung höherer Stufe« verstanden werden muss. Etant donné legt in diesem Sinne eine systematische Analyse dieser Phänomentypen vor, eine sogenannte »Topik der Phänomene« 38. Von Interesse für unseren Zusammenhang erscheint dabei, dass Marion nun weniger im systematischen Rückgriff auf Kant und dessen Kategorienlehre (wie noch im früheren Artikel geschehen) argumentiert, um seinen Entwurf der »gesättigten Phänomene« zu entfalten. Er greift jetzt vielmehr auf eine Reihe geradezu schon als klassisch geltender phänomenologischer Beschreibungen dieser Phänomene zurück, wie sie v. a. von Ricœur, Levinas, Henry und Derrida entwickelt worden waren, um die Hypothese des »gesättigten Phänomens« materialiter zu explizieren. 39 In einer späteren Reflexion nimmt Marion explizit Stellung zu dem in diesem Wechselspiel der Register sich anzeigenden, offenkundig »französischen Moment« der sich selbst zu einer »PhänomenoloJ.-L. Marion, »Das gesättigte Phänomen«, dt. Übers. v. P. Gaitsch, in diesem Band Vgl. Gegeben sei, 374 ff. Es sei noch hinzugesetzt, dass De surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés (Paris: PUF 2001), der dritte Teil jener Trilogie, die der Herausarbeitung der Denkfigur der Gegebenheit im Sinne des »zunächst und zumeist« unscheinbaren Gabecharakters aller Wirklichkeit gilt, die konkretesten phänomenologischen Beschreibungen der »gesättigten Phänomene« darbietet – ohne dass damit freilich Marions letztes Wort hierzu gesprochen wäre, vgl. v. a. die wichtigen Ergänzungen in Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010. Eine übersichtliche Darstellung der genannten »Topik« gibt der Beitrag von Kühn in diesem Band. 39 Vgl. zu dieser Zuordnung und für eine umfassende Darstellung der »gesättigten Phänomene« insgesamt Gondek, Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, 176–206. 37 38

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gie der Gegebenheit« weiter entwickelnden Phänomenologie. Ganz dezidiert formuliert er bei dieser Gelegenheit, es sei nichts anderes als »die Sorge um das Wesentliche« (le souci de l’essentielle), nämlich um die stringente Entfaltung der phänomenologischen Grundmotive als solche, die die (französische) Phänomenologie in diesem Sinne zu guter letzt neu orientiert habe: »In ihrem französischen Moment ist die Phänomenologie weiter fortgeschritten als in anderen, schlicht und einfach weil sie – die Reduktion, die Intentionalität und die Konstitution praktizierend – nicht aufgehört hat, und dies nicht ohne sich Risiken und Gefahren auszusetzen, sich in Gebiete vorzuwagen, die selbst Husserl und Heidegger ignoriert hatten. Ja vielmehr noch, wir hätten nicht entdeckt, dass Husserl und Heidegger diese ignoriert hatten, wenn Levinas und Sartre, Ricœur und Derrida, Merleau-Ponty und Henry und auch andere uns diese nicht eröffnet hätten.« 40

Die radikale Entfaltung der genuin Husserlschen Momente stellt so besehen nicht nur die Dynamik der Phänomenologie sicher, sondern macht vielmehr noch ihre produktive Transformation möglich – und dies im Lichte eines sie letztlich vereinheitlichenden Motivs, das man mitunter vielleicht erahnt hatte, das aber nie explizit herausgearbeitet worden war. Entsprechend heißt es denn auch mit Bezug auf die genannten Proponenten der französischen Phänomenologie: »Man wird sich nicht über diese Annäherungen erstaunen, die von einer Sorge um das Wesentliche autorisiert sind […] Die einzig ernsthafte Frage verbleibt vielmehr, ob sich diese Durchbrüche in einem gemeinsamen Horizont vereinen lassen können (ja ob sie vereint werden sollten), und welcher dies wäre. Es geht bei dieser Frage nicht darum, zu entscheiden, ob eine Wende (tournant) stattfinden kann, wird, oder sollte – sondern zu verstehen, welche stattgefunden hat. […] Und wenn es uns erlaubt ist, hier im eigenen Namen zu sprechen: Als wir es riskiert hatten, die Gegebenheit (donation) als jenen neuen Horizont (ja als die Suspension jeglichen Horizonts) der Phänomenologie zu identifizieren, so bestand der Wagemut nicht darin, […] heimlich irgendeine ›theologische Wende‹ einzuführen, sondern vielmehr darin, einen möglichst präzisen Namen für jenen ganz neuen Raum des Sichtbaren zu fixieren.« 41

Marions systematisierende Analysen in Etant donné zeichnen sich, wie diese retrospektive Einschätzung verdeutlicht, exakt dadurch aus,

J.-L. Marion, »Un moment français de la phénoménologie«, in: Rue Descartes 95 (März 2002), 9–13, hier 11. 41 Ebd., 12. 40

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dass sie das Konzept der Gegebenheit als den angesprochenen, übergreifenden »Horizont« der Phänomenologie herauszuarbeiten antreten. Entsprechend dazu wird das Motiv der Sättigung nicht mehr als ein (vielleicht außergewöhnliches) »Grenzphänomen« unter anderen 42, sondern im Gegenteil als »das Paradigma« 43 des Phänomens als solches, mithin als »die Wahrheit aller Phänomenalität« 44, herausgestellt. Dabei geht es um eine These, die sich bei genauerer Betrachtung auch in Marions sinnfälliger Rede von der »Banalität der Sättigung« 45 ausspricht. Im Kern will dies nichts anderes besagen, als dass sich das »Wesen des Phänomens« 46 in seiner Selbstgebung (bzw. Gabe) verwirklicht, in ihrer Entfaltung (le dépli) 47. Diese Entfaltung lässt sich dabei, wie László Tengelyi in aller Klarheit gezeigt hat, als das »Gabenereignis« eines Sinnanspruchs verstehen, der wiederum erst »in der Antwort«, die auf sein ereignishaftes Widerfahren (advenue) gegeben wird, »verstehbar« 48 bzw. offenbar wird. Aus diesen Überlegungen lässt sich die grundlegende, für Marions Projekt in der Tat kardinale Einsicht ableiten, dass der Antwort ein phänomenologischer Vorrang zukommt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass nicht immer und nicht notwendig geantwortet wird, sondern wenn, dann nur verspätet, dann also, wenn der Anspruch

Zu einer solchen Kritik vgl. z. B. J. Benoist, »L’écart plutôt que l’excédent«, Philosophie 78 (Juni 2003), 77–93; A. J. Steinbock, »The poor phenomenon. Marion and the problem of givenness«, in B. E. Benson & N. Wirzba (Hg), Words of Life: New Theological Turns in French Phenomenology, New York: Fordham University Press 2010, 120–31 43 Marion, Gegeben sei, 368 (französ. Orig., 304). 44 Tengelyi & Gondek, Neue Phänomenologie in Frankreich, 188. 45 Vgl. J.-L. Marion, »Die Banalität der Sättigung«, v. a. 81 ff. 46 Marion, Gegeben sei, 58 (französ. Orig., 41). 47 Vgl. ebd., bes. 119–128 (französ. Orig., 90–102), wobei Alferi m. E. unscharf mit »Zwiefalt« übersetzt; dazu erläuternd Gondel & Tengelyi, Neue Phänomenologie, 161; zuvor schon dt. bei J. L. Marion, »Reduktive Gegen-Methode und -Faltung der Gegebenheit«, in: R. Kühn, M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 125–38. 48 Diese Einsicht findet sich, wie Tengelyi (Neue Phänomenologie, S. 196) in Erinnerung ruft, wörtlich bei Levinas, Jenseits des Seins, S. 327; dem Sinne nach bereits bei Heidegger, später dann wird der Gedanke bei J.-L. Chrétien und im deutschen Sprachraum v. a. bei Waldenfels entfaltet. Voraussetzung für diese Argumentation bleibt der hier nicht weiter zu diskutierende Gedanke, dass die Gegebenheit – oder besser: Selbst-Gebung – des Phänomens in Kategorien des Widerfahrnisses (ein Begriff, der bei Waldenfels zentral ist) zu denken ist, als etwas mithin, das zu antworten gibt. 42

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als ein Anspruch vernommen wird, der dem Subjekt in konstitutiver Weise vorausgegangen ist, es mithin überrascht hat, dadurch regelrecht vorlädt – um es so zuletzt in seiner zentrifugalen Sinngebungsmacht nachhaltig abzusetzen. Aus diesem Gedanken der »Absetzung« ergibt sich in letzter Instanz jedoch nicht nur die (De)Position des Angesprochenen (interloqué), des in Anspruch Genommenen (attributaire), des im Akkusativ Angeklagten, oder auch des Patienten. In letzter Instanz appelliert Marion vielmehr an die Denkfigur eines »hingebungsvollen Subjekts« (l’adonné) im Dativ, das er auf diese Weise aus den »Krisen der Subjektivität« phänomenologisch notwendig hervorgehen sieht. 49 Seiner konstituierenden Potenz beraubt, trägt dieses gleichwohl, wie Marion in der Folge statuiert, gegenüber dem immer überschüssigen Anspruch der sich entfaltenden Gegebenheit – sei dieser nun anonym und bloß formal, personal, oder göttlich 50 – eine abgründige (weder rechtlich noch ethisch zu fassende) Verantwortung: jene nämlich, die Phänomene nicht der Verlassenheit anheim fallen zu lassen. 51 Dieser Anspruch freilich kommt, wenn man es sich recht überlegt, letztlich einem Ansinnen gleich, das aufgrund der Eigenschaften der »gesättigten Phänomene«, nämlich unvorhersehbar, unerträglich, unbedingt und unerblickbar zu sein 52, nicht das einfachste sein kann: »Ohne Sehen/Vision und Vernunft/Gründe«, auf die man sich hier folglich nicht mehr verlassen kann, kündet es von einem in der Tat abgründigen Spielraum der Entscheidung, dem man, wie Marion auch selbst unterstreicht, nicht ohne »dass es einen gruselt« ins Auge zu sehen vermag. Die daraus resultierende Frage, ob man die »›große Vernunft‹ wählen oder ablehnen [könne] – die unbedingte Gegebenheit [sc. den Gabecharakter aller Wirklichkeit, M. S.]« 53, sie dürfte in der Tat darüber entscheiden, ob Vgl. zu dieser Denkfigur und ihrer Problematik den Beitrag von B. Klun im vorliegenden Band. 50 Der Gedanke, dass der Gabecharakter aller Wirklichkeit letztlich auf einer ursprünglichen, »reinen Form« des Anrufs beruhe, wie Marion in Réduction et donation (S. 302) postuliert hat, und mithin gleichermaßen dem »Sein«, dem »Leben« oder »Gott« zugesprochen werden kann, motivierte reichlich Kritik (vgl. zuerst Janicaud, Die theologische Wende, 87 ff.), auf deren Tragweite wie Zielgenauigkeit ich hier gleichwohl nicht weiter eingehen kann. 51 Ebd., 482 f. (405): »Verantwortlichkeit«; von »verlassenen Phänomenen« ist zwar nicht wortwörtlich die Rede, von ihrer »Aufgabe« (l’abandon) jedoch allemal (vgl. ebd., 502 ff.). 52 Zu dieser Qualifizierung vgl. ebd., 381–91. 53 Ebd., 498 f. 49

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wir es hier mit einer Häresie zu tun haben, die den »methodischen Atheismus« (Heidegger) der Phänomenologie – ob still und heimlich, das wäre eine andere Frage – untergräbt, oder mit einer Transformation, die noch die letzten verbliebenen metaphysischen Erblasten, die die klassische Phänomenologie in der Tat mit sich schleppt, zu durchbrechen vermag. Stehen wir hier also vor einem Denken, das den »Mythos des Gegebenen« (Myth of the given) bloß subtil perpetuiert, nur um ihn in letzter Instanz noch in einen Paternalismus der Gabe zu transponieren? 54 Oder sind wir doch mit einem wahren Durchbruch konfrontiert, der noch die letzten metaphysischen Interdikte suspendiert, die auch in der Phänomenologie stets am Werke waren – und sei es, weil diese sich unter dem Vorzeichen jenes viel beschworenen »methodischen Atheismus« der Frage nach dem Unbedingten, Absoluten usw. und seinen Effekten auf das Denken selbst allzu selbstgerecht zu entziehen können vermeint hatte? Diese Fragen betreffen fraglos das heute immer noch weitgehend ungeklärte Verhältnis von Philosophie und Theologie, das unter dem Zeichen beiderseitiger Polemik vielfach unreflektiert verblieb und so einem Stillstand des Denkens Vorschub leistete. 55 Sie betreffen insbesondere die Frage, wie wir dieses Verhältnis im Kontext eines »nachmetaphysischen Denkens« eigentlich neu zu denken hätten, eines Denkens, das sich sowohl dem Paradigma säkularer, d. h. diskursivierter Vernunft verpflichtet weiß, aber auch eine Sensibilität für das Unbehagen kultivieren muss, das ein »ideologischer Säkularismus« ebenso nach sich zieht, wie eine aus der Bahn geratene Moderne (Habermas). Die oft gehörte Rede von einer »Wiederkehr der Religion«, wie wir sie vielerorts im Zeichen des Mahlstroms der Globalisierung etwa registrieren müssen und keineswegs als bloße »Wiederkehr des Verdrängten« abtun dürfen, sollte uns Anlass genug bieten, die allzu einsinnig verfügte Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen aufs Neue zu überdenken 56, anstatt vor solchen Demarkationslinien in einen selbst-reflexiven Starrkrampf zu verfallen, Zur Auseinandersetzung darum vgl. die erhellenden Erläuterungen bei J. Rivera, »The Myth of the Given?«, Philosophy Today 62/1(2018),181–19. 55 Eine neue, bemerkenswerte Stimme in dieser Diskussion, die nachdrücklich dafür plädiert, die Unproduktivität solcher Grabenkämpfe hinter sich zu bringen, erhebt neuerdings E. Falque; vgl. v. a. Passer le Rubicon: Philosophie et théologie. Essai sur les frontières, Paris: Lessius 2013. 56 Vgl. dazu auch Marions eigene Überlegungen in »Foi et raison«, Gespräch mit Laurence Devillairs, in: Études 2014/2(Februar), 67–76. 54

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der sich unter dem Siegel vorgeblicher Radikalität letztlich nur selbst immunisiert – mit verheerenden Folgen insbesondere für eine zeitgenössischen Religions-Philosophie. 57 * * * Da die angezeigten Probleme einer Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie nach wie vor ungeklärt, ja vielfach ungestellt sind, haben sie aufgrund eines vorauseilenden Habitus des Antwortens viel dazu beigetragen, dass Marions Denken im deutschen Sprachraum immer noch allzu wenig bekannt, geschweige denn intellektuell präsent ist. Vielfach verbindet man seine Position allzu rasch, und dies ohne die entsprechende – notwendigerweise natürlich auch kritisch vorzutragende – Rezeption überhaupt nachhaltig betrieben zu haben, mit der genannten »theologischen Wende der französischen Phänomenologie« und rechnet seine Bedeutung eher der (philosophischen) Theologie zu, als einer erneuerten Phänomenologie, die sich ihren Gegenständen in anderer Weise zu nähern vermag 58, – um so letztlich vielleicht auch andere Gegenstände zu entdecken. Der mithin verspäteten, oft allzu einseitig verlaufenden und selten systematisch in Angriff genommenen Rezeption Abhilfe zu schaffen, ist die primäre Intention des vorliegenden Bandes. Dazu möchten nicht nur die einzelnen Beiträge ihren Teil beisteuern, sofern sie eine Reihe relevanter Themenfelder abdecken, sondern auch die dem Band beigefügten Übersetzungen zweier Texte Marions selbst sollen hier Abhilfe leisten. Insbesondere die Tatsache, dass wir Vgl. zu diesem Problemkreis das vom Verf. gem. mit J. W. Alvis lancierte Projekt, das sich der Frage nach einer »post-säkularen Wende« einer entsprechend sensibilisierten Religionsphänomenlogie zuwendet, nicht der Religionsphilosophie im Allgemeinen: M. Staudigl, J. W. Alvis (Hg.), Phenomenology and the Post-Secular Turn: Contemporary Debates on the ›Return of Religion‹, London, New York: Routledge 2018. 58 Für diese Einschätzung spricht auch die Tatsache, dass die meisten im deutschen Sprachraum verfügbaren Monographien in der Theologie zu finden sind, vgl. stellvertretend die substantielle, auch philosophisch tragfähige Auslegung bei T. Specker, Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gotte bei Jean-Luc Marion, Frankfurt/M.: 2002. Vgl. zuletzt aber auch die ausgewogene Diskussion der Sachlage bei B. Liebsch, »Verrat am Versprechen der Phänomenologie? Anmerkungen zur ernüchterten Methodologie Dominique Janicauds«, in: D. Janicaud, Die theologische Wende, 169–203. 57

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Zwischen Häresie und Transformation

hier die erste deutsche Fassung des Textes »Le phénomène saturé« 59 vorlegen können, jenes Beitrags, dem wie gesagt in der Ausdifferenzierung seiner phänomenologischen Position in der Tat eine Schlüsselstellung zukommt, ist diesbezüglich zu unterstreichen. Wenngleich mit der mittlerweile auf Deutsch vorliegenden Übersetzung von Étant donné ja eine weit umfassendere und auch inhaltlich weiter führende Arbeit vorliegt, die die Hypothese des »gesättigten Phänomens« systematisch entfaltet, erscheint dieser frühere Text dennoch immens wichtig: Er bietet uns Leserinnen und Lesern nachhaltig Eindruck in ein Denken in statu nascendi, das sich an der Stoßkraft seiner zentralen Intuition abzuarbeiten beginnt, und erste, in der Folge vielfach auch gewahrte Konturen zur Anzeige bringt. Wenn die hier versammelten Beiträge es sich übergreifend zur Aufgabe setzten, die in diesem Text erstmals klar und deutlich hervortretende Denkfigur der Gegebenheit nicht nur ins Auge zu fassen, sondern den sowohl systematischen wie auch inhaltlichen Primat, der ihr in der Phänomenologie Marions zukommt, kritisch zu diskutieren, so greifen sie fraglos die Grundintuition dieses Denkens auf. Sie tun dies jedoch nicht nur im Rückgang auf eine textimmanent verbleibende Rekonstruktion des Topos der »Sättigung« und im Hinblick auf die Folgen, die dieser für unser Verständnis zentraler phänomenologischer Grundbegriffe hat. Manche greifen das Motiv darüber hinaus auch in seiner historischen Genese auf, andere im Kontext eines Vergleichs mit anderen philosophischen bzw. phänomenologischen Positionen, und wiederum andere wagen sich schließlich anwendungsorientiert an thematisch ausgerichtete Phänomenanalysen, die den Primat der Gegebenheit in einer Reihe von relevanten Kontexten auf die Probe stellen und teils auch erweitern. Dass dabei zuletzt insbesondere die inter-religiöse Anschluss- und Tragfähigkeit von Marions Denkansatz kritisch zur Diskussion und auf die hermeneutische Probe gestellt wird, soll verdeutlichen, welches Potential dieser Denkansatz möglicherweise bereithält, wenn er denn adäquat entfaltet und kritisch angewendet wird. * * * Die Tagung, die diesem Buchprojekt vorausgegangen war, fand bereits im Herbst 2013 statt. Für die fast unerträglich lange Verspätung 59

Aus dem Französischen übersetzt von Peter Gaitsch.

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dieser Publikation zeichnet einzig der Herausgeber verantwortlich. Aus diesem Grunde danke ich allen Beitragenden nicht nur für ihre produktive Mitwirkung an diesem einschlägigen Projekt, sondern auch für ihre immense Geduld, die dabei von meiner Seite in ungehörigem Maße strapaziert wurde. Besonderer Dank gebührt nicht zuletzt Jean-Luc Marion selbst: Er hatte die Tagung nicht nur in thematischer Hinsicht motiviert, sondern wusste sie mit seiner Präsenz und Diskussionsbereitschaft in einer Weise zu inspirieren, die auch in der Ausarbeitung der Beiträge noch deutlich Niederschlag gefunden hat. Für die Bereitschaft, zwei seiner Texte hier auf Deutsch publizieren zu dürfen, schulden wir ihm ebenfalls Dank. * * * László Tengelyi, einer der großartigsten Kenner der französischen Tradition und Vermittler der Phänomenologie, ist während der Vorbereitung dieser Publikation unerwartet verstorben. Er hatte den Text, der in diesen Band eingegangen ist, vor seinem plötzlichen Tod am 19. Juli 2014 noch fertig gestellt. Ich danke seiner Frau, Eva John, ganz herzlich dafür, dass sie uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat. Inga Römer schließlich danke ich für die aufmerksame Durchsicht und editorische Nachbearbeitung des Textes. * * * Der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien sowie dem Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) danke ich schließlich für die Gewährung von Fördermitteln, ohne die nicht nur die Organisation der Konferenz, sondern auch die Drucklegung des Bandes nicht möglich gewesen wäre. Die Arbeit daran wurde im Rahmen des Projekts »Die Rückkehr der Religion als Herausforderung des Denkens« (FWF I-2785) begonnen und im Rahmen des Projekts »Das Unbehagen am Säkularismus« (FWF P-29599) abgeschlossen.

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I. Zwischen Tradition und Neubeginn

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Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie bei Marion László Tengelyi

Jean-Luc Marion schreibt der Phänomenologie die Aufgabe zu, »mit der Philosophie im Zeitalter des Nihilismus neu zu beginnen« 1. In dieser Aufgabenbezeichnung liegt ein Zweifaches: Sie deutet ein Neubeginnenmüssen aber auch ein Neubeginnenkönnen mit der Philosophie im Zeitalter des Nihilismus an. Sie setzt die Einsicht voraus, dass der Bruch der Phänomenologie mit der Tradition einer ontotheologisch angelegten Metaphysik unvermeidbar ist. Diesen Bruch hat Marion im Auge, wenn er in Étant donné behauptet, dass »die Phänomenologie eine Ausnahme von der Metaphysik darstellt«. 2 Zur erwähnten Aufgabenbezeichnung gehört aber weiterhin auch die Überzeugung, dass »die Phänomenologie das gesamte Vorhaben der ›Ersten Philosophie‹ wieder aufgreift (oder einen Anspruch darauf erhebt, es wieder aufzugreifen) und dass sie sich auf diese Weise als eine Philosophie konstituiert, mit der begonnen werden muss […].« 3 Eine Erste Philosophie, die eine Ausnahme von der ontotheologisch angelegten Metaphysik darstellt, nennt Marion eine »andere« Erste Philosophie. 4 In der phänomenologischen Tradition entdeckt er 1 Jean-Luc Marion, »Phénoménologie de la donation et philosophie première«, in: De surcroît, Paris: PUF 2001, S1–34, hier: 18. Ursprünglich wurde diese Schrift unter dem Titel »L’autre philosophie première et la question de donation« in Philosophie, Nr. 49, Paris 1996, veröffentlicht. Es liegt eine deutsche Übersetzung dieser ursprünglichen Textfassung vor: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, übersetzt von Susanne Sandherr und Josef Wohlmuth, in: Jean-Luc Marion und Josef Wohlmuth, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie (Kleine Bonner theologische Reihe), Bonn: Borengässer 2000, 13–34; der zitierte Ausdruck ist in der ursprünglichen Textfassung allerdings nicht enthalten. 2 Jean-Luc Marion, Étant donné, Paris: PUF 1997, 9 (vgl. dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München: Alber 2015, 22) 3 Jean-Luc Marion, »Phénoménologie de la donation et philosophie première«, in: De surcroît, 16. 4 Ebd.

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dazu deutliche Ansätze. So versteht er bereits Edmund Husserls Vorlesungen über Erste Philosophie. 5 Wenn auch nicht ohne Zögern, schreibt er am Ende auch Emmanuel Levinas das Anliegen zu, die Ethik als eine andere Erste Philosophie zu gestalten. 6 Im Folgenden wollen wir der Frage nachgehen, wie sich Marion die Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie vorstellt. Dazu gehört zunächst ein Blick auf das Verhältnis der so verstandenen Phänomenologie zur philosophischen Tradition. Der erste Teil unserer Überlegungen gilt daher einer Bestimmung dieses Verhältnisses. In einem zweiten Teil gehen wir dann auf diejenigen Eigentümlichkeiten von Marions phänomenologischem Ansatz ein, die ihm am deutlichsten das Gepräge einer anderen Ersten Philosophie aufdrücken.

1. Die Idee einer anderen Ersten Philosophie macht es Marion möglich, auch an einen älteren Denker anzuknüpfen, der vielleicht eine noch größere Rolle in seiner philosophischen Besinnung gespielt hat als Husserl oder Levinas. Gemeint ist René Descartes, der seinem Hauptwerk bekanntlich den Titel Meditationen über die Erste Philosophie gegeben hat. In einem seiner Bücher über Descartes zeigt Marion, dass die Wahl dieses Titels selbst dann kein Zufall ist, wenn Descartes sie in der französischen Übersetzung seines ursprünglich lateinisch geschriebenen Werkes nicht mehr geltend macht. Sie zeugt von der Wirkung des Jesuiten Benedito Pereira (Benedictus Pererius), der – anders als die Hauptströmung der peripatetischen Tradition in Antike und Mittelalter, anders sogar als sein einflussreicher Zeit- und Ordensgenosse Francisco Suárez – die Lehre vom Seienden als solchem und im Allgemeinen nicht als Metaphysik, sondern als Erste Philosophie, die Lehre von den ersten und ausgezeichneten Seienden (Gott und den Intelligenzen) dagegen nicht als Erste Philosophie, sondern als Metaphysik bezeichnet hat. In seinem Buch Suárez et le système de la métaphysique hat Jean-François Courtine gezeigt, welche Rolle dieser Umkehrung des Verhältnisses zwischen Erster Philosophie und E. Husserl, Erste Philosophie, 2 Bde. [Hua, Bd. VII-VIII], hg. von Rudolf Boehm, Den Haag: M. Nijhoff 1956. 6 J.-L. Marion, »Phénoménologie de la donation et philosophie première«, in: De surcroît, 17. 5

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Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie bei Marion

Metaphysik in dem Prozess zufiel, in dem bei Autoren der deutschen Schulphilosophie wie Rudolf Göckel (Gocclenius) und Johannes Clauberg eine Lehre vom Seienden als Seiendem unter dem Namen »Ontologie« entstand und sich als metaphysica generalis zunehmend von der metaphysica specialis absonderte. Auch Marion geht auf diesen Prozess ein, um deutlich zu machen, wie der Cartesianismus zur Entstehung einer Ontologie beiträgt, die bei Clemens Timpler und anderen Deutscharistotelikern aus dem 17. Jahrhundert zunehmend den Charakter einer Lehre vom Etwas überhaupt annimmt – vom Etwas überhaupt, das heißt, vom Denkbaren (cogitabile), insofern es nicht gerade nichts ist, selbst wenn es wiederum auch nicht notwendig außerhalb des Geistes existiert. Descartes kann sehr wohl eine Rolle in diesem Prozess zugeschrieben werden, da er das Seiende im »Modus vorgestellter Objektivität« zu betrachten sucht. 7 Damit leistet er einer bereits zur Zeit von Johannes Duns Scotus aufkommenden und auch bei Francisco Suárez spürbaren Tendenz, die Allgemeinwissenschaft vom Seienden als Seiendem auf eine »Tinologie« 8 zu reduzieren, sicherlich Vorschub. Marion versäumt aber nicht, zugleich hervorzuheben, wie wenig sich Descartes überhaupt »um den Gegenstand der metaphysica kümmert – um die Erörterung des Begriffs des Seienden, so wie sie bald schon von der ontologia gefordert werden soll«, 9 wie er vielmehr geradezu »einen Verzicht auf die Philosophie als Ontologie« 10 verlangt, um die Erste Philosophie als eine »epistemische Protologie« 11 oder als eine »allgemeine Protologie der Evidentmachung« 12 zu konzipieren, und wie sein Ansatz ebendeshalb in ein »Nichts von Ontologie« 13 – oder allenfalls in eine »graue Ontologie« – einmündet. 14 Insofern ist bereits Descartes’ Erste Philosophie eine Ausnahme von der Metaphysik, so dass eine andere Erste Philosophie, die betonterweise keine Ontologie sein soll, tatsächlich an sie anknüpfen kann. Jean-Luc Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, Paris: PUF 1986, 85. Der Ausdruck »Tinologie«, der von Jean-François Courtine und Olivier Boulnois oft verwendet wird, stammt ursprünglich von Pierre Aubenque. Siehe Jean-François Courtine, Suárez et le système de la métaphysique, Paris: PUF 1990, 536. 9 Jean-Luc Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, 78. 10 Ebd., 82. 11 Ebd., 55. 12 Ebd., 59. 13 Ebd., 88. 14 Jean-Luc Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes, Paris: Vrin 42000 (11975). 7 8

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Allerdings beschränkt sich die Phänomenologie, so wie Marion sie sich vorstellt, nicht auf die Weiterführung der ontologiefremden Grundtendenz der Meditationen über die Erste Philosophie. Vielmehr »universalisiert sie das Cartesische Ergebnis«, indem sie »nicht allein das Ego in sich und für sich selbst sichert, sondern einer ganzen Welt Gewissheit verleiht«. 15 Die Phänomenologie kann nach Marion das »Cartesische Ergebnis« deshalb auf diese Weise universalisieren, weil sie sich nicht nur auf das Denken und das Gedachte, sondern auch auf das dem Bewusstsein Gegebene stützt. 16 Die Erweiterung der Cartesischen Protologie, ihre Ausdehnung auf eine ganze Welt, gehört wesenhaft zur Andersheit einer »anderen« Ersten Philosophie. Es handelt sich dabei um eine Andersheit, die sich aus dem Gabecharakter des Gegebenen ergibt – oder, besser noch, aus dem Gabenvorgang oder dem Gabenereignis, dem das Gegebene seine Gegebenheit zu verdanken hat. Der Ereignischarakter von Gabe und Gebung erhält in Étant donné auch deshalb eine besondere Bedeutung, weil er es ist, der Marions Phänomenologie am deutlichsten von der Metaphysik als Transzendentalwissenschaft unterscheidet. Gemeint ist damit nicht nur die »Transzendental-Philosophie der Alten«, wie Kant diese ihm von Christian Wolff und Alexander Baumgarten her bekannte Disziplin nennt, 17 sondern auch die erneuerte und verwandelte Transzendentalphilosophie, die Kant selbst in der Kritik der reinen Vernunft entworfen hat. Gemeinsam ist nämlich der alten und der neuen Transzendentalphilosophie nach Marion – trotz aller offensichtlichen Unterschiede – der Ansatz beim Möglichen, der dem Wirklichen vorgreift und ihm im vorhinein Schranken setzt, indem er es als eine bloße Aktualisierung des Möglichen hinstellt. Die in erster Linie von Duns Scotus herbeigeführte Revolution der aristotelischen Tradition in der Hochscholastik, also die so genannte »scotistische Wende«, in der Ludger Honnefelder geradezu den »zweiten Jean-Luc Marion, »Phénoménologie de la donation et philosophie première«, in: De surcroît, 23. 16 Ebd. 17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [Gesammelte Schriften, AkademieAusgabe, Bd. IV: Ausgabe »A«: Berlin: Georg Reimer 1911, 1–252; Bd. III: Ausgabe »B«, Georg Reimer 1904], hier: B 113. Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1970; Giorgio Tonelli, »Das Wiederaufleben der deutsch-aristotelischen Terminologie bei Kant während der Entstehung der KrV«, in: Archiv für Begriffsgeschichte IX (1964), 233–242. 15

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Anfang der Metaphysik« erkannt haben will, 18 führt nach Étienne Gilsons zwar umstrittener, aber dennoch einflussreicher und sicherlich nicht ganz aus der Luft gegriffener Diagnose zu einer transzendentalwissenschaftlich konzipierten Lehre vom Seienden als Seiendem, die alsbald in einen Essentialismus und in eine apriorische Possibilienspekulation, also in eine grüblerische Erforschung von reinen Wesenheiten und bloß möglichen Welten abseits wirklicher Realität einmündet. 19 Was Kant betrifft, so geht es ihm gewiss nicht um bloße Denkmöglichkeiten, sondern vielmehr um die Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. Aber auch der von ihm erneuerten und verwandelten Transzendentalphilosophie kommt es mehr auf das Mögliche als auf das Wirkliche an. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt die mögliche Erfahrung dem Aufkommen der wirklichen Erfahrung die Bedingungen vor. Das gehört zum Sinn der berühmten These: »[…] die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […].« 20 Marion zieht daraus in Étant donné verallgemeinernd den Schluss: »Im Bereich der metaphysischen Denkart (en régime métaphysique) gehört die Möglichkeit des Erscheinens niemals dem Erscheinenden und die Phänomenalität niemals dem Phänomen zu.« 21 Daraus erwächst nach ihm zugleich die Aufgabe der Phänomenologie, das Erscheinen des Erscheinenden als ein Gabenereignis aufzufassen, das, um einen treffenden Ausdruck dafür bei Levinas zu entlehnen, als das Wirkliche »dem Möglichen vorausgeht und es überrascht«. 22 Anders als Gilson stellt Marion diese Kritik traditioneller Möglichkeitsmetaphysik allerdings nicht in den Dienst der thomistischen Wirklichkeitsmetaphysik des ipsum esse und des actus essendi oder Ludger Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert«, in: Jürgen P. Beckelmann et al. (Hg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg: Meiner 1987, 165–186. 19 Etienne Gilson, L’être et l’essence, Paris: Vrin 42000 (11948), 132 f., 136, 157, 165, 172, 178, 182 f. Es gibt auch eine englischsprachige Fassung dieses Werkes: Being and Some Philosophers, Toronto: Pontifical Institute of Medieval Studies 21952 (11949). 20 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 158/B 197. 21 Jean-Luc Marion, Étant donné, 255 (vgl. dt. Übers., 314). 22 Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-délà de l’essence, Édition »Livre de poche«, Dordrecht, Boston und London: Kluwer 1990, 58; dt. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Th. Wiemer, Freiburg/München: K. Alber 1992, 84. 18

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irgendeiner anderen Lehre vom lebendigen Sein im Sinne einer der Essenz vorgeordneten Existenz. Er betont zwar den Ereignischarakter von Gabe und Gebung, aber er ist kein Fürsprecher des »Ereignisses« im Sinne von Heideggers Spätphilosophie, da Heidegger das »Ereignis« dazu verwendet, das »Es« des »Es gibt« wieder nur auf ein Sein zurückzuführen. Tatsächlich heißt es im späten Vortragstext »Zeit und Sein«, der das Ereignisdenken vielleicht in seiner reinsten Gestalt darlegt, ohne eine Überwindung der Metaphysik anzustreben und ohne eine Eschatologie des »anderen Anfangs« zu urgieren: »Im ›Es‹ des ›Es gibt Sein‹ spricht ein Anwesen von solchem, was abwest, also in gewisser Weise ein Sein.« 23 Heidegger fügt hinzu: »Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹, als das Ereignis.« 24 In Étant donné bekämpft Marion diese Gleichsetzung des Es mit dem Ereignis, das in gewisser Weise als ein Sein zu gelten hat. Er folgert daraus: »Heidegger erkennt den Gabenvorgang jenseits oder außerhalb des Seins nur, um ihn sogleich wieder zu verkennen […].« 25 Diese Abweichung von Heidegger hat ohne Zweifel ihr Gewicht. Behauptet Jocelyn Benoist, dass die neuere Phänomenologie in Frankreich eine phénoménologie postheideggérienne, also eine heideggerianische oder allenfalls neuheideggerianische Phänomenologie sei, 26 so ist diese Bezeichnung zwar gewiss nicht ohne Grund und Berechtigung gewählt, aber sie ist in sich selbst dennoch einseitig und daher auch ergänzungsbedürftig. Marions Hinweis auf einen Gabenvorgang »jenseits oder außerhalb des Seins« zeugt eher von einer Nähe zu Levinas als von einer Nähe zu Heidegger. In der französischen Phänomenologie hat ja Levinas als Erster die platonischneuplatonische Formel »ἐπέκεινα τῆς οὐσίας« wieder aufgegriffen. Übrigens hebt auch Benoist hervor, dass die von Dominique Janicaud

23 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens (GA 14), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2007, 23; Einzelausgabe: M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen: M. Niemeyer 31988 (11969), 19. An der letzteren Stelle ist allerdings nicht vom Anwesen dessen, »was abwest«, sondern vom Anwesen dessen, »was anwest«, die Rede. Nach dem Handexemplar von Heidegger handelt es sich dabei jedoch um einen sinnentstellenden Druckfehler (siehe das Nachwort des Herausgebers des 14. Bandes der Gesamtausgabe, 153). 24 Ebd., 24; Einzelausgabe: 20. 25 Jean-Luc Marion, Étant donné, 58 (vgl. dt. Übers., 79). 26 Jocelyn Benoist, »Sur l’état présent de la phénoménologie«, in: L’idée de phénoménologie, Paris: Beauchesne 2001, 1–43, hier 7.

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so sehr betonte »theologische Wende« der französischen Phänomenologie eigentlich eine »levinasianische Wende« sei. 27 Demnach bleibt Heideggers Besinnung auf das Ereignis dem Seinsdenken verhaftet, das von alters her das Markenzeichen von Metaphysik ist. Aber, was wir auch immer von diesem Einwand halten, ob wir ihm voll zustimmen oder doch einen Unterschied zwischen dem Sein als Ereignis und dem Sein der Metaphysik geltend machen, wir müssen auf jeden Fall hinzufügen, dass der Gedanke des Ereignisses bei Heidegger zugleich einen deutlichen Bruch mit dem allzu selbstmächtigen und selbstgenügsamen Ich der neuzeitlichen Philosophie herbeigeführt hat. Ein emblematischer Ausdruck dieses Bruches ist im späten Vortragstext »Zeit und Sein« die Wendung, der Mensch sei nicht der »Geber«, sondern der »Empfänger« der Zeit. 28 Es verhält sich beim späten Heidegger auch nicht allein mit dem Phänomen der Zeit so, sondern so verhält es sich auch mit jedem anderen Phänomen. In dieser Hinsicht darf man in Marions Phänomenologie von Gabe und Gebung durchaus eine Weiterführung der Heidegger’schen Initiative sehen. Auch in ihr gilt ja das philosophierende Subjekt als Empfänger der Phänomene und nicht als deren Geber, auch nicht etwa im Sinne einer »Konstitution« durch das intentionale Bewusstsein. In Étant donné gilt das Erscheinen des Erscheinenden von vornherein als ein Gabenereignis, das dem philosophierenden Subjekt von selbst widerfährt. Die Ich-Rede, die von Heidegger in Sein und Zeit mehrfach erwähnt wird, findet demzufolge gar nicht im Nominativ, sondern im Dativ ihren ursprünglichen Ausdruck. Wie bestimmt aber der Gedanke eines Gabenereignisses, das dem philosophierenden Subjekt von sich aus widerfährt, den Aufbau einer Phänomenologie, die einen Anspruch darauf erhebt, als eine andere Erste Philosophie gelten zu können? Eine Antwort auf diese Frage finden wir weniger in der ansonsten zu Recht berühmt gewordenen Lehre von den gesättigten Phänomenen, der ja nicht allein das vierte Kapitel von Étant donné, sondern auch noch die gesamte Aufsatzsammlung De surcroît gewidmet wurde, als vielmehr in dem ungebührlich vernachlässigten dritten Kapitel von Étant donné, dessen Grundgedanken insbesondere im fünften Kapitel des neueren Werkes Certitudes négatives zum Teil nochmals aufgegriffen und neu aus27 28

Ebd., 22. Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens (GA 14), 21; Einzelausgabe: 17.

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gelegt werden. Damit ist das Thema des zweiten Teils unserer Betrachtungen angedeutet.

2. Im dritten Kapitel von Étant donné stellt sich Marion der Aufgabe, die allgemeinen Bestimmungen des Gegebenen als solchen aufzuweisen. Das Interesse am Allgemeinen unterscheidet dieses Kapitel von den nachfolgenden Untersuchungen über die gesättigten Phänomene, die nur als ausgezeichnete Ausnahmefälle letztlich auch »die Wahrheit aller Phänomenalität deutlich machen.« 29 Für eine Phänomenologie, die sich als eine andere Erste Philosophie versteht, sind die allgemeinen Bestimmungen des Gegebenen als solchen deshalb wesentlich, weil sie eine Anknüpfung an die Tradition des kategorialen Denkens ermöglichen. Allerdings kann von einer unmittelbaren Übernahme der Kategorienlehre aus der Metaphysik keine Rede sein. Marion versucht vielmehr, eine völlig neuartige Kategorialanalyse zu entwickeln. Es geht ihm darum, die Kategorien weder mit Aristoteles auf das Seiende als Seiendes 30 noch mit Kant auf die unmittelbaren Gegenstände des »Ich denke«, der transzendentalen Apperzeption, sondern einzig und allein auf das Erscheinende in seiner Gegebenheit zu beziehen. Diese Änderung des Anwendungsbereichs der Kategorien hat weitreichende Konsequenzen: »[…] gewisse Kategorien des Seienden […] erfahren, sobald sie auf das gegebene Phänomen angewandt werden, eine Neubestimmung: Das gilt für Zufälligkeit und Notwendigkeit […], Akzidens und Substanz […], Ursache und Wirkung […].« 31

Als viertes Begriffspaar können wir die Modalkategorien »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« hinzufügen, denen in Marions phänomenologischer Umwandlung der Ersten Philosophie, wie es bereits aus seiner Kritik an der Metaphysik als Transzendentalwissenschaft ersichtlich ist, geradezu eine leitende Rolle zukommt. Damit ist bereits ein ganzes Feld philosophiehistorisch anspruchsvoller und auch philosophisch fruchtbarer Untersuchungen umrissen. Traditionelle Grundkategorien wie Zufälligkeit und Not29 30 31

Jean-Luc Marion, Étant donné, 317 (vgl. dt. Übers., 382). Ebd., 172 (dt., 218). Ebd., 249 (vgl. dt. Übers, 305).

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wendigkeit, Akzidens und Substanz, Ursache und Wirkung, Möglichkeit und Wirklichkeit zeigen ein neues Gesicht, wenn sie nicht mehr metaphysisch, sondern phänomenologisch betrachtet werden. Den Unterschied zwischen den beiden Betrachtungsweisen deutet Marion auf folgende Weise an: »Hieran wird hinreichend sichtbar, was Metaphysik und Phänomenologie unterscheidet: Erstere entwertet die Phänomenalität, selbst die unbestreitbare und im Überschuss vorhandene […], weil sie sich von der Ursache befreit, die an der objektivierenden Intelligibilität arbeitet und damit, kurz gesagt, das Phänomen in Namen einer Instanz disqualifiziert, die keine Beziehung zum Erscheinen hat; dagegen akzeptiert letztere jede Phänomenalität, sofern sie nur erscheint, selbst ohne Grund oder Gegenständlichkeit.« 32

Schon daraus erhellt, dass die phänomenologische Betrachtungsweise – im Gegensatz zur metaphysischen – keinen Vorrang der Ursache vor der Wirkung, der Substanz vor dem Akzidens, der Notwendigkeit vor der Zufälligkeit und der Möglichkeit vor der Wirklichkeit einräumen kann. Sie kehrt vielmehr das Verhältnis zwischen den beiden Gliedern dieser Begriffspaare jeweils um, indem sie die Leitrolle in der Bestimmung des Erscheinenden in seiner Gegebenheit demjenigen Glied des Begriffspaars zuweist, das in der metaphysischen Tradition eine untergeordnete Bedeutung und einen abhängigen Status hatte. So behauptet Marion etwa unter Anspielung auf einen aus der dritten Meditation von Descartes wohlbekannten Grundsatz, aber dessen Sinn in sein Gegenteil verkehrend: »Die Wirkung enthält in sich zumindest so viel Sein oder Realität wie die Ursache, manchmal jedoch mehr.« 33 Ebenfalls unter Berufung auf Descartes (Principia philosophiae, Teil I, § 52), aber diesmal in völligem Einklang mit ihm, hebt er hervor, dass eine Substanz nie als Phänomen erscheint, da sie einfach als existierendes Ding auf uns noch überhaupt nicht einwirkt. 34 Sogleich setzt er aber hinzu, dass das wohlverstandene Akzidens, nämlich das als »accident« dem Bewusstsein Hinzukommende oder das als »incident« ins Bewusstsein Einfallende, als solches auch keines substantiellen Trägers in der Sphäre des Erscheinens bedarf. 35 Weiterhin zeigt er in einer besonders einprägsamen Analyse der klei32 33 34 35

Ebd., 214–5 (vgl. dt. Übers., 266). Ebd., 230 (dt., 283 f.). Ebd., 221 (vgl. dt. Übers., 274). Ebd., 222 f. (vgl. dt. Übers., 276: »Vorfall«).

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nen, aber bedeutenden Schrift von Thomas von Aquin De aeternitate mundi contra murmurantes und der Vorlesung von Husserl über Erste Philosophie, dass der Welt, so wie sie erscheint und erfahren wird, die Seinsnotwendigkeit selbst dann abgesprochen werden muss, wenn sie ewig sein sollte. Weit entfernt schließlich, das Wirkliche als eine bloße Aktualisierung des Möglichen zu betrachten, fasst er es vielmehr mit Proust, Lacan und Levinas als das die jeweiligen Möglichkeiten Übersteigende und in diesem Sinne »Un-mögliche« auf. Allerdings erschöpft sich die phänomenologische Kategorialanalyse keineswegs darin, das Verhältnis zwischen den Gliedern althergebrachter Kategorienpaare umzukehren. Selbst diese Umkehrung wird nur deshalb überhaupt möglich, weil die erörterten Kategorienpaare vom Seienden als solchem oder auch vom Gegenstand überhaupt auf das Erscheinende in seiner Gegebenheit übertragen und verlagert werden. Anders als bei Aristoteles werden sie nicht mehr als »Aussageweisen« behandelt, aber ebensowenig werden sie mit Kant als »reine Verstandesbegriffe« oder als »Funktionen des Urteilens im Denken« aufgefasst. Vielmehr werden sie dazu verwendet, das Gegebene von dem Gabenereignis her zu bestimmen, das in ihm zur Gegebenheit gelangt. Es handelt sich um ein Gabenereignis, das dem philosophierenden Subjekt von selbst widerfährt. Dieses Widerfahrnis ist die Wirkung, die manchmal mehr Sein oder Realität in sich enthält als die Ursache. Dank dem Gabenereignis kommt dem Bewusstsein ständig etwas hinzu, indem es in es einfällt. Dieses Gabenereignis ist das Unerwartete und Unvorhersehbare, das die jeweiligen Möglichkeiten übersteigt, um sich unverhofft als Wirkliches einzustellen. Aus dem Gabenereignis als Widerfahrnis ergibt sich schließlich auch der nähere Sinn der Zufälligkeit. Es handelt sich um eine Kontingenz, so wie sie sich aus dem ursprünglichen Sinn des lateinischen Verbs contingo, contigi, contactum und damit letztlich aus dem Wort tango, tetigi, tactum ableitet. Gemeint ist also die Zu-fälligkeit dessen, was dem philosophierenden Subjekt zu-fällt, was es von selbst berührt und betrifft, was es also angeht, indem es ihm widerfährt (arrive), zustößt (advient), ja, sich ihm sogar aufdrängt (s’impose). 36 Diese Neubestimmung der Zufälligkeit ist ein deutliches Beispiel dafür, wie die Übertragung und Verlagerung der Kategorien vom Seienden als solchem oder auch vom Gegenstand überhaupt auf das Er36

Ebd., 177 (vgl. dt. Übers., 224).

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Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie bei Marion

scheinende in seiner Gegebenheit ihren Sinn von Grund auf verwandelt. Ein anderes Beispiel dafür liefert die Kategorie der Faktizität. Sie ist seit Kant und Schelling in der Metaphysik heimisch und seit Heidegger, ja eigentlich bereits seit Husserl, auch in der Phänomenologie wohlbekannt, aber Marion lässt ihr einen neuen Sinn zukommen, indem er sie im Ausgang von der vollendeten Tatsache (fait accompli) des immer schon zur Gegebenheit gelangten Gabenereignisses bestimmt. Die phänomenologische Arbeit an den Kategorien führt aber darüber hinaus auch zur Prägung völlig neuer Grundbestimmungen, die weder in der metaphysischen noch in der phänomenologischen Tradition geläufig sind. Das ist der Fall bei Marion mit der »Erstgestaltung« und immer wieder erfolgenden »Neugestaltung« des Phänomens (anamorphose) oder auch mit der Idee einer »Zufuhr« des Erscheinenden, also gleichsam der »Beschickung« der Erscheinungswelt (arrivage). Vom Erscheinenden in seiner Gegebenheit zeichnet sich in der phänomenologischen Kategorialanalyse von Marion ein Bild ab, das in gewisser Weise dem Zeitalter des Nihilismus entspricht. Man sieht sich vor die vollendete Tatsache des Erscheinens des Erscheinenden gestellt, man findet sich von ihr immer schon angegangen und betroffen, aber ein zureichender Grund, eine tragende Substanz, eine Seinsnotwendigkeit oder auch nur eine gesicherte Möglichkeit sind dem Phänomen als solchem entzogen und versagt. Wie bei Augustin oder auch bei Thomas von Aquin das Geschöpf, die Kreatur, so ist bei Marion die Erscheinungs- und Erfahrungswelt in sich selbst ein Nichts und, sollte sie ewig dauern, so ist sie dazu verurteilt, in alle Ewigkeit hinein ein Nichts zu bleiben. 37 Angesichts dieser Bestimmung ist man versucht, dem Gabenereignis, das ja dem philosophierenden Subjekt von selbst (auf Lateinisch: a se) widerfährt, eine negative Aseität zuzuschreiben, die als solche nach einem positiven Gegenstück verlangt. Man ist, mit anderen Worten, versucht, der Erscheinungs- und Erfahrungswelt, so wie sie von Marion kategorial erfasst und dargestellt wird, den Charakter eines »negativen Abdrucks« zuzuschreiben 38 und sie damit auf eine Weise zu kennzeichnen, die sich nur allzu leicht mit der irreführenden, weil völlig spekuVgl. ebd., 191 f. (dt., 240). Vgl. Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011, 237.

37 38

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lativen Frage nach einem Original, einem Urbild oder auch einem Archetyp verbindet. Der methodologische Atheismus der Phänomenologie, zu dem er sich in Étant donné bekennt, verbietet es Marion, in der von ihm erneuerten und verwandelten Ersten Philosophie diese Fragerichtung einzuschlagen. Obgleich er aus seiner Verbundenheit mit der Theologie natürlich keinen Hehl macht, entwickelt er eine Phänomenologie von Gabe und Gebung, in der jede Vorstellung von einem Geber den Regeln der phänomenologischen Epoché gemäß »eingeklammert« und »außer Spiel gesetzt« bleibt. Einem Theologen, der Gott seit langem bereits »ohne das Sein« zu denken sucht, fällt der Verzicht auf eine Untermauerung der Theologie durch eine andere Erste Philosophie allerdings nicht schwer. Seit Gott ohne das Sein hält Marion auch an dem Gedanken fest, dass der Gott der Liebe zwar notwendig als Geber zu gelten hat, dass aber selbst vom Glaubenden einzig und allein die Gabe erfahren wird und selbst ihm erst die Gabe »den Geber zu sehen gibt«. 39 Kann aber dann die erneuerte und verwandelte Erste Philosophie es überhaupt mit dem Nihilismus aufnehmen, oder muss sie es bei der Bestimmung der Erscheinungs- und Erfahrungswelt als ein Nichts bewenden lassen? Vermutlich hat diese Frage Marion nach der Abfassung von Étant donné weiterbeschäftigt. In der Aufsatzsammlung Certitudes négatives legt er auf jeden Fall eine neue Antwort auf sie vor, indem er versucht, die unverfügbare Ereignishaftigkeit des Erscheinenden in seiner Gegebenheit als eine – wenn auch freilich bloß negative – Gewissheit zu verstehen, die auch als solche über die Grenzen der Endlichkeit (um nicht zu sagen: der Kreatürlichkeit) hinausweist und sich sogar als eine in sich selbst »positiv unendliche« Endlichkeit begreifen lässt. 40 In der Herausstellung dieser »unendlichen Endlichkeit« sieht er nun eine erstrangige Aufgabe, die sich der Philosophie gerade dann stellt, »wenn sie den Nihilismus in sich selbst überwinden will«. 41 Dieser neue Gedanke wird in verschiedenen Themenbereichen zur Geltung gebracht, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Im fünften und letzten Kapitel des Buches bringt Marion schließlich die Ereignishaftigkeit des Erscheinenden in seiner Gegebenheit aus39 40 41

Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être, Paris: Fayard 1982, 151. Jean-Luc Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010, 316. Ebd.

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drücklich zur Sprache. Die neuen Ausführungen zu diesem Grundthema der Phänomenologie von Gabe und Gebung zeugen hier und da von einem Einfluss von Claude Romano. Aber die Änderungen, die dieses Abschlusskapitel von Certitudes négatives im Verhältnis zum dritten Kapitel von Étant donné mit sich bringt, lassen sich nicht auf diesen Einfluss zurückführen. War Marions Phänomenologie von Gabe und Gebung von vornherein eine Variante der phénoménologie de l’inapparent, der Phänomenologie des »Unscheinbaren« oder des »Unsichtbaren«, so tritt jetzt dieser ihr Charakter geradezu in den Vordergrund, indem die Falte von Gabe und Gebung, von Gegebenheit und Gabenereignis (le pli de la donation) mit einer neuen Radikalität ausgefaltet wird. Marion zeichnet den Prozess nach, in dem das Gegebene in der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik, gefördert von der Philosophie eines Descartes, eines Kant und bis zu einem gewissen Grad sogar von der eines Husserl, zunehmend die Gestalt des Gegenstands erhält, wohingegen das Gabenereignis zumeist verborgen bleibt und sich nur noch in ausgezeichneten Ausnahmefällen als solches zeigt. Alles hat zunächst den Anschein, als ließe sich das gegebene Phänomen nunmehr in zwei Arten – nämlich in die der Gegenstände und die der Ereignisse – einteilen. Es stellt sich jedoch am Ende heraus, dass letztlich auch den Gegenständen immer Ereignisse zugrunde liegen, wenngleich sie sich als Vehikel der Gegenstände jedem unmittelbaren Zugriff des Erlebenden und Erfahrenden entziehen. Auch in dieser grundsätzlichen Unverfügbarkeit geben sich die Ereignisse, selbst wenn sie im eigentlichen Sinne des Wortes nicht erscheinen, sondern im Verborgenen bleiben. Marion hat bereits in Étant donné betont, dass sich das, was sich gibt, nicht auf das reduzieren lässt, was sich auch zeigt. Nun geht er aber so weit, gerade die sich nicht zeigenden Ereignisse als die eigentlichen Musterbeispiele für die Phänomenalität überhaupt hinzustellen. So bestimmt er etwa die Geburt, übrigens in einer besonders tiefgehenden Analyse, 42 als das »Urphänomen (archi-phénomène)«, 43 das »das reine und in sich selbst unsichtbare Gabenereignis greifbar macht«. 44 Diese Tendenz berechtigt uns wohl dazu, von einer Radikalisierung der Phänomeno-

42 43 44

Ebd., 292–299. Ebd., 297. Ebd., 298 f.

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logie des »Unscheinbaren« oder des »Unsichtbaren« in der Aufsatzsammlung Certitudes négatives zu sprechen. Bleibt die Ereignishaftigkeit des Erscheinenden in seiner Gegebenheit im Falle der Gegenstände, die nach Marion sämtlich »anschauungsarme« Phänomene sind, verborgen, so tritt sie im Falle der »anschauungsgesättigten« – oder, einfacher gesagt, der »gesättigten« – Phänomene offen zutage. Es gilt sogar der Satz: »[…] das Phänomen zeigt sich desto mehr als gesättigt, mit je größerer Ereignishaftigkeit es sich gibt.« 45 Daraus folgt jedoch bereits, dass die Gegenüberstellung zwischen Gegenständen und Ereignissen nicht sosehr einen grundsätzlichen Artunterschied als vielmehr nur verschiedene Gradunterschiede in die Erörterung des Erscheinenden in seiner Gegebenheit einführt. Was in Étant donné auf zwei Kapitel – das dritte und das vierte – verteilt wurde, wird in Certitudes négatives neu verbunden und in einer einheitlichen Abhandlung zusammengefasst. Die allgemeinen Bestimmungen des Erscheinenden in seiner Gegebenheit können nunmehr ohne die Berücksichtigung der Gradunterschiede zwischen den anschauungsarmen und den anschauungsgesättigten Phänomenen gar nicht erfasst werden. Vielmehr zeigen erst die anschauungsgesättigten Phänomene, was ein gegebenes Phänomen überhaupt ist. Das bedeutet aber zugleich, dass die allgemeinen Bestimmungen des Erscheinenden in seiner Gegebenheit, so wie sie an den anschauungsgestättigten Phänomenen abgelesen werden, anderen Phänomenen nur mehr oder weniger zukommen. Damit ist die zwar unausgesprochene, aber überall zur Anwendung gebrachte Univozitätsthese der Kategorialanalyse von Étant donné im neuen Werk aufgegeben. In der Aufsatzsammlung Certitudes négatives wird sie stillschweigend durch eine Lehre von der Analogie des Erscheinens – einer analogia phaenomenalitatis – ersetzt. Für die Kategorialanalyse hat dieser Sinneswandel eher bedenkliche Folgen. Nunmehr werden die Kategorien grundsätzlich auf die Gegenstände beschränkt. Dagegen wird »die Abhängigkeit von den Kategorien«, 46 die nach der neuen Auffassung den Gegenständen eigentümlich ist, den Ereignissen gänzlich abgesprochen. Dafür prägt Marion sogar eine idiomatische Wendung, indem er »l’inaptitude et l’indigence du non-objet aux catégories« nennt; 47 er meint damit 45 46 47

Ebd., 301, Anm. 1. Ebd., 302. Ebd., 252.

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wohl, dass der Nicht-Gegenstand – das heißt das Ereignis – sich nicht dazu eignet, kategorial bestimmt zu werden, und daher letztlich aller Kategorien bar bleibt. Gewiss werden in Certitudes négatives manche Grundbegriffe von Étant donné zur Beschreibung von Ereignissen verwendet. So etwa in der durchaus bemerkenswerten Analyse des zaubervollen Gedichts »À une passante« (»An eine, die vorüberging«) 48 aus Charles Baudelaires Fleurs du mal. 49 Marion fasst das Vorübergehen der von Baudelaire beschriebenen Frau in »tiefer Trauer« von vornherein als ein »gesättigtes Phänomen« auf. 50 Er erwähnt ebenfalls die »Zufuhr« des Erscheinenden (arrivage) 51 und die »Erst- und Neugestaltung« des Phänomens (anamorphose). 52 Dem von Baudelaire angedeuteten Ereignis schreibt er weiterhin den Charakter eines »Anspruchs (appel)« zu, 53 der das Subjekt zu einem »Ergebenen (adonné)« macht. 54 Das sind lauter Begriffe, die entweder in Étant donné geprägt wurden, oder dort zum ersten Mal eine ausgebreitete Verwendung fanden. Marion gebraucht sie in Certitudes négatives nach wie vor, aber die Idee einer Kategorialanalyse des Ereignisses verbindet er nunmehr mit ihrem Gebrauch nicht. Was eine Anwendung von Kategorien wie Substantialität oder Kausalität auf das Ereignis betrifft, so heißt es darüber in der neuen Aufsatzsammlung: »Ein Ereignis widerspricht […] umso mehr diesen Kategorien, als es sich einstellt, indem es von selbst aufkommt und sich zuträgt.« 55 Ohne Zweifel ist diese Vorgehensweise mit dem Vorteil verbunden, dass unser Verhältnis zur unverfügbaren und daher kategorial gar nicht erfassbaren Ereignishaftigkeit des Erscheinenden in seiner Gegebenheit mit denselben Worten beschrieben werden kann, die Descartes zur Beschreibung seines Verhältnisses zur positiven Aseität des Unendlichen gewählt hat: »intueri, admirari, adorare (betrachten, bewundern, anbeten)«. 56 Können diese Worte im Rahmen einer Charles Baudelaire, Les fleurs du mal – Die Blumen des Bösen, französisch-deutsche zweisprachige Ausgabe, dt. von M. Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam 1993, 192 f. 49 Jean-Luc Marion, Certitudes négatives, 283–291. 50 Ebd., 287. 51 Ebd., 286. 52 Ebd., 288. 53 Ebd., 290. 54 Ebd., 288. 55 Ebd., 292. 56 Ebd., 291. 48

45 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

László Tengelyi

Phänomenologie des Ereignisses in ihrer vollen Bedeutsamkeit wiederholt werden, so hat die Lehre von den negativen Gewissheiten ihre Aufgabe erfüllt: Die Philosophie hat damit den Nihilismus in sich selbst überwunden. Aber es bleibt mir eine Frage, ob sie dabei den Charakter einer »anderen« Ersten Philosophie voll bewahren konnte. Der Übergang von der unausgesprochenen Univozitätsthese der phänomenologischen Kategorialanalyse zu einer stillschweigend angenommenen Lehre von der Analogie des Erscheinens öffnet die Erscheinungs- und Erfahrungswelt für ein Positiv-Unendliches, das allerdings an die Ereignishaftigkeit des gegebenen Phänomens gebunden bleibt, so dass es nicht mehr metaphysisch aufgehöht und ontotheologisch vereinnahmt werden kann. Gleichzeitig scheint aber dieser Übergang jede phänomenologische Kategorialanalyse, die es sich zur Aufgabe macht, die Bestimmungen des gegebenen Phänomens in ihrer uneingeschränkten Allgemeinheit herauszuarbeiten, zum Scheitern zu verurteilen. Wenn man an Husserls Idee einer unendlichen Abschattungsmannigfaltigkeit denkt, so kann in einem die Frage auftauchen, ob man eine andere Erste Philosophie nicht eher für ein Positiv-Unendliches öffnen sollte, das das Unendliche der Erscheinungs- und Erfahrungswelt selbst bleibt und sich deshalb mit dem wohl unverzichtbaren Univozitätsanspruch einer phänomenologischen Kategorialanalyse überhaupt besser vereinbaren lässt.

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Gegebenheit/Gebung und Descartes? Marions philosophische Anfänge Thomas Alferi

Wer sich mit dem Oeuvre Jean-Luc Marions beschäftigt, trifft unausweichlich auf dessen – schon seinem Umfang nach – beachtliches Kommentarwerk zu René Descartes. So hat der französische Gegenwartsphilosoph in vier Monographien 1, zwei imposanten Aufsatzsammlungen 2, zu denen sich eine wissenschaftliche Textaufbereitung gesellt 3, eine profilierte Relecture des cartesischen Denkens vorgenommen, die im deutschsprachigen Raum noch einer eigenständigen Auswertung harrt. In der Tat: Diesseits des Rheins interessierte man sich insbesondere für die neuen Möglichkeiten, die Marions Ansatz der systematischen Theologie und der phänomenologischen Philosophie eröffnen. Die Descartes-Studien blieben dagegen zumeist im Hintergrund. Disparat zu dieser Rezeptionslage verhält sich aber die Tatsache, dass Marion seinen akademischen Werdegang gerade mit ihnen bestritt. Denn als Schüler von Ferdinand Alquié und Geneviève Rodis-Lewis absolvierte er mit je einer Untersuchung zu dem Denker des 17. Jahrhunderts sein Doctorat du 3ème cycle und das mit der deutschen Habilitation vergleichbare Doctorat d’Etat. Von hier aus stand ihm der Weg nicht nur für eine ordentliche Professur in Philosophie, sondern von früh an auch die Leitung des renommierten Centre des études cartésiennes an der Pariser Sorbonne offen. Hinsichtlich der 70er und 80er Jahre wird man folglich voraussetzen dür1 Vgl. J.-L. Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes: science cartésienne et savoir aristotelicien dans les »Regulae« Paris: Vrin 11975, 21981 (Sigel: OG); ders. Sur la théologie blanche de Descartes: analogie, création des vérités éternelles et fondement Paris: PUF 11981, 21991 (Sigel: TB); ders. Sur le prisme métaphysique de Descartes: constitution et limites de l’onto-theo-logie dans la pensée cartésienne Paris: PUF 1986 (Sigel : PM); ders. Sur la pensée passive de Descartes, Paris : PUF 2013. 2 Ders. Questions cartésiennes I. Méthode et métaphysique. Paris 1991; ders. Questions cartésiennes II. Sur l’ego et sur Dieu. Paris: PUF 1996 (Sigel: QC II). 3 R. Descartes, Règles utiles et claires pour la direction de l’Esprit. Traduction selon le lexique cartésien et annotation conceptuelle par Jean-Luc Marion, Den Haag : Nijhoff 1977.

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fen, dass Marion im intellektuellen Milieu des säkularen Frankreichs vorwiegend als Experte für Descartes wahrgenommen wurde. Und so erscheint es am vorliegenden Ort geboten, die in diesem Zusammenhang entstandenen Produktionen gesondert ans Licht zu heben. Im Sinne unseres Leitthemas soll nun gefragt werden, ob hier – insbesondere in Marions wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten – der Primat von Gegebenheit/Gebung von Relevanz ist und, wenn ja, auf welchen Wegen er mit Descartes konzipiert wird.

1.

Zum Kontext der Descartes-Studien Marions

Nähert man sich der zu behandelnden Abteilung des Marion’schen Schaffens an, dann kommt man um den Versuch einer grundlegenden Ortsbestimmung nicht herum. Zwei Beobachtungen, eine allgemeine und eine spezielle, legen sich insbesondere dem deutschen Leser nahe. a) Zuerst im Allgemeinen: Marion interpretiert Descartes innerhalb des französischen Forschungskontextes. Die Tatsache, dass der große Gelehrte Frankreichs das Interesse einer National-Kultur mit ihren eigenen Konventionen an sich zieht, bildet auch seine spezifische Ausgangslage. Zu beachten ist, dass hierin z. B. der transzendentalphilosophische Status der cartesischen Philosophie weniger gewichtet wird als im deutschsprachigen Raum, der diesbezuglich besonders vom Denken Hegels 4 geprägt ist. Verglichen damit bringt die französische Hermeneutik aber unbekannte Aspekte aus dem Corpus cartesianum, z. B. aus Descartes’ umfänglicher Korrespondenztätigkeit, oder aus seinen naturwissenschaftlichen Abhandlungen zum Vorschein. Wenn diese ferner zur Erhellung von Texten, die dem deutschen Leser besser vertraut sind – wie den Meditationes –, herangezogen werden, ja beide Theoriestücke in eins gesehen werden, dann kann dies verwirren. 5 Insgesamt wird man also berücksichtigen mussen, dass die französische Sicht auf Descartes nicht auf angeblich Vgl. »Wir kommen eigentlich jetzt erst zur Philosophie der neuen Welt und fangen diese mit Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, dass sie selbständig aus der Vernunft kommt und dass das Selbstbewusstsein wesentliches Moment des Wahren ist« (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Theorie Werkausgabe, Frankfurt: Suhrkamp 1971; Bd. 20, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel [I-XX], 120). 5 Vgl. z. B. Marions Auslegung der Meditationes als Zusammenspiel ›einfacher Naturen‹ (vgl. J.-L. Marion, Quelle est la méthode dans la métaphysique ?, in: QC I, 75– 4

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kanonische Texte eingeschränkt, sondern – mehr als in Deutschland – auf das ganze Leben und Schaffen dieses Philosophen ausgeweitet ist. Unbeschadet dieses ›historisch-synoptischen‹ Zugangs wird im cartesischen Denken immer auch die Virulenz zeitgenössischer Geistesströmungen wahrgenommen. 6 Solche interpretatorischen Vorstöße, die in Frankreich gleichsam zur Tradition gehören 7, werden gerne wieder einer neuen Einsicht entsprechend zurückgenommen, weshalb sich mitunter der Eindruck einer gewissen Willkur einstellen kann. Um diese Tendenzen besser einordnen zu können, und erst recht nicht der Versuchung zu erliegen, »nur dort zu lesen […], wo [man] sich des Abglanzes deutscher Denktraditionen sicher wähnt […]« 8, ist der Hinweis nützlich, wonach Descartes in der französischen Philosophie eher als Klassiker, in Deutschland eher als Epochengründer gilt. 9 Weit von dem interkulturell fragwürdigen Versuch entfernt, Marions Arbeiten eine starre Schablone vorsetzen zu wollen, scheint sich dieser Gegensatz zumindest als Stimulus für deren Interpretation gut zu eignen. b) Im Speziellen ist zu sagen, dass sich Marion in der Tradition Ferdinand Alquiés bewegt, in dessen Perspektive Descartes ganz konkret als klassischer Denker zum Tragen kommt: Seit seiner Dissertation von 1950 will Alquié die Seinsfrage, näherhin die Gestalt der Seinserfahrungen in der Descartes’schen Philosophie erheben. 10 Er arbeitet dabei den Lebens- und Reflexionsweg des ›cartesischen Men109, hier: 91 ff.) oder sein Versuch, die cogitatio mit dem in der Dioptrik entwickelten Wahrnehmungscode zu synthetisieren (vgl. TB § 16). 6 Vgl. B. Waldenfels, Metamorphosen des Cogito, Stichproben französischer Descarteslektüre, in: W. Niebel, A. Horn, und H. Schnädelbach (Hg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt: 2000, 349–368. In diesem Rahmen ist auf Marions Versuch zu verweisen, die Virulenz der Phänomenologie nach Lévinas und Henry an Descartes darzulegen: J.-L. Marion, L’alterité originaire de l’Ego – Meditativ II, AT VII, 24–25, in: QC II, 3–47; ders. Le cogito s’affecte-t-il?, in: QC I, 153–187. 7 Vgl. »Jede französische Generation schwärmt für einen mystischen Cartesianismus, je nach ihrer Modeströmung. Sie stilisiert damit ihre Ambitionen und schmückt so ihre [je eigenen] prosaischen Interessen« (A. Glucksmann, Descartes, c’est la France, Paris: Flammarion 1987, 58, alle Übersetzungen aus dem Französischen wurden vom Autor des Aufsatzes erstellt). 8 M. Wetzel und J.-M. Rabaté (Hrsg.), Ethik der Gabe: Denken nach Jacques Derrida. Berlin: Akademie-Verlag: 1993 Vorwort, IX. 9 Vgl. K. Laudien, Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten. Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes Berlin: Duncker und Humblot, 2001, 10 ff. 10 Vgl. F. Alquié, La découverte métaphysique de l’homme Paris 1950.

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schen‹ als exemplarisch heraus und kann überraschenderweise in dessen Namen auch eine Rationalitätskritik im Sinne Martin Heideggers formulieren. Kurz gesagt: An der philosophischen Entwicklung Descartes’ ließen sich, so Alquié, die Wechselfälle eines Denkers, der um das rechte »Andenken an das Sein selbst« 11 ringt, nachvollziehen. 12 Freilich verhält sich diese Lesart nicht völlig konform zu Deutungen, die in Descartes einen Gewährsmann der Erkenntnisphilosophie wahrnehmen wollen. 13 Besonders erhellend sind diesbezüglich die Diskussionen, die Alquié in den 50er Jahren mit dem Fichteforscher Martial Guérolt führte, dessen Standpunkt sehr an die ›deutsche Sicht auf Descartes‹ erinnert. 14 Als ein Schüler Alquiés versteht sich nun aber eindeutig Marion. 15 Es nimmt deshalb kaum Wunder, wenn man zahlreiche Motive, die in den Arbeiten seines Lehrers leitend waren, bei ihm wieder findet. Hierunter fällt insbesondere die Interpretation der Regulae als unvollendet gebliebene, weil einer vermeintlichen Illusion aufsitzende Untersuchung, sowie die Auffassung, mit der Theorie von der Schöpfung der ewigen Wahrheiten von 1630 sei es bei Descartes zu einem denkerischen Neuaufbruch gekommen. Wie sein Lehrer so vermutet auch Marion, dass von dieser Basis aus erst die gesamte Metaphysik Descartes’, ferner ihre Kompatibilität mit der Perspektive Heideggers zu beurteilen sei. Über diese Skizzierung des geistigen Klimas zeichnet sich bereits die generelle Stoßrichtung der Descarteskommentare Marions ab. Ganz auf ihrer Linie scheint es zu liegen, wenn darin nun – dies sei als Hypothese formuliert – an-

Vgl. z. B. M. Heidegger, »Einleitung«, in: ders., Was ist Metaphysik? (1949), Frankfurt: Klostermann 151998. 12 Vgl. z. B. »So ist durchaus der Mensch nach Descartes. Er ist kein reines Subjekt, ist er doch mit einem erkennenden Geist, mit einer unendlichen Intelligenz nicht zu verwechseln (es ist bekannt, wie sehr Descartes auf die Endlichkeit unseres Verstandes, auf den perönlichen Charakter unseres Ich gepocht hat« (F. Alquié, La découverte métaphysique de l’homme, 5). 13 Vgl. »Immer wieder wurde Descartes als ein Philosoph dargestellt, der radikal mit der mittelalterlichen Tradition gebrochen und eine neue Ära in der Philosophie eingeleitet hat – eine Ära, in der nicht mehr Gott oder das Seiende, sondern das erkennende Subjekt den Ausgangspunkt philosophischer Untersuchungen bildet. Eine solche Darstellung führte natürlich dazu, dass Descartes vornehmlich als Erkenntnistheoretiker […] gelesen wurde« (D. Perler, René Descartes München: Beck, 244.). 14 Vgl. M. Guérolt et al. (Hg.), Descartes Cahiers de Royaumont, Paris: Les éditions de Minuit1957, 36. 15 Vgl. zusammenfassend: J.-L. Marion, Hommage in: J.-L. Marion und F. Alquié (Hg.), La passion de la raison Paris: PUF 1983, VII-XV. 11

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Gegebenheit/Gebung und Descartes?

gestrebt wird, den Primat von Gebung/Gegebenheit an Descartes zu erproben.

2.

Sich der Gegebenheit/Gebung widersetzen – Marion liest Descartes’ Regulae

In seiner Dissertation von 1975 »Sur l’ontologie grise de Descartes« untersucht Marion das Verhältnis des frühen Descartes’ zur Seinslehre des Aristoteles. Eine polemische Zurückweisung des antiken Philosophen, so seine Vermutung, stehe im Hintergrund der Regulae ad directionem ingenii von 1628. Unter dieser Hinsicht will der Doktorand Alquiés eine neue Etappe im Bemühen, das cartesische Erstlingswerk geschichtlich zu verorten einleiten. Immerhin ranken sich um diesen Text nicht wenige Rätsel, die durch die unglücklichen Umstände, wie das Originalmanuskript nach dem Tod seines Autors verfrachtet wurde, um schließlich ganz zu verschwinden, eine nahezu mysteriöse Aura annehmen. 16

2.1. Eine Wissenschaft- und Seinslehre – der Ausgangspunkt von Marions Doktorarbeit Bekanntlich sind die Regulae ein ausgesprochen nebelhaftes Werk. Descartes lässt sie unvollendet, er gibt sie weder aufs Neue heraus, noch erwähnt er sie an anderen Orten – sei es bestätigend oder dementierend, gerade so, als hätte er sich ihrer in der Folgezeit geschämt. Für Marion deutet diese Selbstzensur aber auf eine klärungsbedürftige Spannung in der Denkentwicklung des Philosophen hin, die sich mit Rücksicht auf die editorisch verfügbaren Titelvarianten der Abhandlung verschärft. Denn in diesen geht es immer wieder ausdrücklich um Wahrheit. Für den Interpreten verkörpert dies nunmehr ein interessantes Indiz dafür, dass die Regulae nicht – wie es die geläufige Vorstellung glaubhaft machen will – nur die theoretische Grundlegung der Wissenschaften im Blick haben. 17 Marion ist vielmehr der Auffassung, dass die Frage nach dem Sein in ihnen eingefaltet, besser: in nur verkümmerter Form vorliegt, insofern die epis16 17

Vgl. OG 13. Vgl. OG 15.

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temologische Fragestellung hier das Denken völlig in ihren Beschlag nimmt. Trotzdem stelle die Seinsfrage den tiefsten Bezugspunkt der Regulae dar und dies sei jetzt herauszuarbeiten. Wenn am Ende der Dissertation damit gerechnet wird, dass Descartes’ Schrift »eine neue Epoche, über das Sein nachzudenken« 18 eingeleitet hätten, dann liegt eine geistige Patenschaft offen zu Tage: Der denkerische Zugang Heideggers, der sich ja selbst spätestens seit seiner Marburger Zeit intensiv mit diesem Text beschäftigte 19, näherhin die von ihm vertretene philosophia perennis, wonach sich das Sein je epochal-spezifisch zur Ansicht bringt, stellt eine mächtige Inspirationsquelle für den französischen Doktoranden dar. 20 Unter diesen Vorzeichen äußert Marion folgende weitergehende Hypothese: Als implizite Ontologie hätte der Text eine archetypische Funktion inne, sowohl frühere als auch spätere Reflexionen Descartes’ seien hier quasi genetisch angelegt. 21 Doch bevor man in dieser Richtung – auf eher spekulative Weise – weiter denken will, gilt es erst einmal, Descartes’ opus in sich selbst angemessen zu verstehen und zu diesem Zweck, wie Marion meint, vor den Horizont der Seinsfrage zu stellen. Entworfen wird dieser Zusammenhang folgendermaßen. Legt man die Regulae textimmanent aus, so tritt eine Vielzahl von Widersprüchen zu Tage. Werden zu ihrer Erhellung spätere Schriften des Philosophen herangezogen 22, dann droht sich ihr Eigenprofil zu verlieren. Schließlich drängt sich dem Kommentator eine kontextbezogene ›Hermeneutik des Verdachts‹ auf: Marion ist der Ansicht, in seinem Frühwerk würde der Gelehrte ein wissenschaftsOG 188. Vgl. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), Frankfurt: Klostermann 1994, 206 ff. 20 Vgl.: »das Sich-Durchhalten der Seinsfrage (und auch ihr konstantes Verdecken) setzt zur selben Meditation, oder besser: zur Meditation über das Selbe diejenigen in Bewegung, die es verstehen, sie zu hören und sich ihr auszusetzen. Weil sie zu denjenigen gehören, antworten Aristoteles und Descartes hier einander mit traumwandlerischer Sicherheit« (OG 23; vgl. OG 188 suiv.9). 21 Vgl. »[…] es sind die Regulae, die eine archetypische Stellung erringen. Im Verhältnis zu ihnen sind alle nachfolgenden und vorangehenden Texte zu verstehen« (OG 16). Lüder Gäbe ist genau der gegenteiligen Meinung: »[Descartes] ist erst auf dem Wege der Selbstkritik derjenigen philosophischen Ansichten, denen er zur Zeit der Niederschrift und Redaktion der Regulae anhing, ein Cartesianer geworden« Einleitung zu R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii, lateinisch-deutsch, Hamburg: Felix Meiner, 1973 (Kurztitel: Regulae), XXX. 22 Vgl. OG 17 f. 18 19

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theoretisches Programm entwickeln, das sich von der Metaphysik des Aristoteles abheben soll. Seine These lässt sich aber nicht auf einige Anspielungen, die sich im Text selbst vorfinden 23, stützen. Allgemein sei zu vermerken, dass die Studienausbildung, die Descartes am Jesuitenkolleg in La Flèche genoss, auf der Grundlage des antiken Gelehrten erfolgte. 24 Dass Aristoteles dort als unantastbare Autorität galt, erzeugt mit seinem Wunsch, eine grundlegende Erneuerung des Denkens zu initiieren, ein Reizklima, wovon er in seinen privaten Briefen selbst Rechenschaft gibt. 25 Entsprechend kann man den Versuch angehen, die erkenntnistheoretischen Bausteine aus der aristotelisch-scholastischen Tradition – einer nach dem anderen – denen der Regulae kontrastiv gegenüberzustellen. Ein altes System werde demnach von einem neuen abgelöst. Der Doktorand befindet indessen, dass Descartes hier wie beim Erstellen einer Metapher arbeitet und die unterschiedlichen Mechanismen und Eigenschaften der aristotelischen Metaphysik in sein neues System überführen will, was auch die begrifflichen Raritäten und Inkohärenzen, die die Regulae prägen, erklären könnte. 26 Der Zielpunkt dieser Verschiebung liegt in dem an absoluter Evidenz orientierten Geist des Menschen (mens). Anders als bei Aristoteles, verstellt sich dadurch aber der Zugang aufs Sein.

2.2. Wissenschaft unter dem Joch des menschlichen Geistes (mens) Der aristotelisch-scholastischen Lehre nach ist Wissenschaft als ein Handeln einzustufen, bei dem der Mensch sich einer Sache auf deren Weg zur Vollendung als eidetisches Wesen anzupassen sucht, um – wie auch anlässlich anderer Kunstfertigkeiten (Rhetorik, Musik, Poetik usw.) – an der universalen Entelechie zu partizipieren (habitus intellectualis). 27 In diesem Rahmen erlegt ein zur Debatte stehender Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich dem menschlichen Geist das je eigentümliche Verfahren seiner wissenschaftlichen Behandlung auf. Im Unterschied dazu geht Descartes’ erste Regula nun davon aus, Z. B. Regulae, 23, 31, 67. OG 20. 25 Vgl. OG 21. 26 Vgl. OG 179 f. 27 Vgl. »Die Wissenschaft selbst ist nun aber als ein habitus, ganz genau gesagt: als ein habitus intellectualis zu verstehen, der sich dem eidetischen, von der Potenz zur Vollendung übergehenden Geschehen einschreibt« (OG 27). 23 24

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dass alle Wissenschaften in der menschlichen Weisheit (universalis sapientia), die dem Sonnenlicht gleicht 28, zusammenfinden und auf die Erkenntniskraft des menschlichen Geistes (mens) zurück zu beziehen sind. Dessen Bedürfnis nach Gewissheit wird als das wissenschaftlich entscheidende Kriterium betrachtet. 29 Genauer: Die mens soll über den Grad an Evidenz entscheiden, den eine Sache hergibt, oder – in Marions Worten – über die »Weise, wie gewisse Phänomene ihr Wesen erscheinen lassen«. 30 Solides Wissen ist für Descartes also erst auf der Basis dieser ›psychologischen‹ Selektion 31 möglich, bei der das Gewisse vom nur Wahrscheinlichen, das nur Wahrscheinliche vom Ungewissen usw. getrennt werden soll. Wie steht aber Aristoteles zu dieser Forderung nach Gewissheit? Marion meint, für den griechischen Philosophen könne sich Gewissheit nur beim reinen Wesen einer Sache einstellen, das in der sublunaren, von Materie (hylé) durchdrungenen Welt aber nie auftritt. 32 Daraus müsste man schließen, dass die Wissenschaften – z. B. die Physik – allein in der materiefreien Mathematik verwurzelt wären. Aber Aristoteles vermag in dieser Hypothese nur den unzulässigen Übergriff einer scientia in andere Gegenstandsbereiche zu sehen sowie die Gefahr, durch den von der Mathematik vollzogenen Ausschluss der Materie deren je spezifische Eidoswerdung zu hintertreiben. 33 Auch Descartes beabsichtigt keine Universalmathematik. Er interessiert sich indes für die Präzision, die in der Mathematik erreicht werden kann. Seine Aufmerksamkeit gilt der Tatsache, dass sich in algebraischen und geometrischen Operationen die angestrebte Evidenzerfahrung realisiert, welche näher zu eruieren und für die Fundierung von Wissenschaft fruchtbar zu machen sei. Unter epistemologischer Hinsicht habe man demnach das abstrakte Niveau einer mathesis universalis«, d. h. »einer nicht-mathematischen, folglich absolut primären MetaMathematik« 34 einzuschlagen. In ihrem Sinne kann Descartes von den Zahlen und geometrischen Figuren, aus denen die Mathematik Vgl. Regulae, 3. Vgl. »Alle Wissenschaft ist zuverlässige und evidente Erkenntnis« (Regulae, 7). 30 OG 37. 31 Vgl. »Die Homogenität des wissenschaftlichen Gegenstandes und seiner Modalität […] impliziert die Reduzierung von Wahrheit auf die psychologische Gewissheitserfahrung« (OG 37). 32 Vgl. OG 39. 33 Vgl. OG 40 f. 34 OG 64. 28 29

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aufgebaut ist, zu den Begriffen ordo et mensura übergehen, mit denen der menschliche Geist die Objektwelt fortan strukturieren soll 35 und in deren Verfolg ein physikalischer Körper z. B. auf die Begriffe Ausdehnung, Gestalt reduziert werden kann. 36 Absoluter Vorrang hat für ihn aber die Beobachtung, dass mathematische Verfahren von einem »reinen und einfachen Objekt« 37 ausgehen, es »in klarer und evidenter Intuition« 38 zu sehen geben, so dass seine Gewissheit unmittelbar einleuchtet. Der von der Mathematik vermittelte Begriff der Intuition kann so an die Spitze seiner Wissenstheorie und ferner an die Stelle der aristotelischen, zur Seele gehörigen Vernunftkraft (nous tes psyches) rücken. Berücksichtigt werden muss, dass die cartesische Intuition – anders als im alltäglichen Sprachgebrauch – nicht auf Eingebung 39 o. ä. zielt. In ihr drückt sich – Marion zufolge – eher aus, dass die mens aus sich selber Gewissheit hervorbringt und diese überwachen, besser: im Auge haben will (in-tueri 40). Wer Wissenschaft betreibt, soll nunmehr die Welt dieser herrschaftlichen Dynamik unterwerfen.

2.3. Herstellung und Ausdehnung von Gewissheit In seiner dritten Regel legt Descartes folgende Definition vor: »Unter Intuition (intuitus) verstehe ich […] ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das, was wir erkennen, gar keinen Zweifel zurückbleibt, oder was dasselbe ist: eines reinen und aufmerksamen Geistes unbezweifelbares Begreifen. […]« 41. Beachtung verdient jetzt die Frage, wie Marion das, was hier Intuition genannt wird, auslegt – nämlich als eine Kategorie, die vom nach Evidenz hungernden Geist völlig überformt und festgelegt wurde. Zunächst erweist sich im intuitus die Kluft zwischen res und mens als aufgehoben. In ihm verschmelzen Vgl. »[…] die Gewissheit, die die Reduktion der Sachen auf Gegenstände nach Ordnung und Maß gestattet« (OG 62). 36 Vgl. OG 132. 37 Regulae, 11. 38 Regulae, 15. 39 Vgl. Regulae, 6. 40 Vgl. J. M. Stowasser, Der kleine Stowasser. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch, München: Freytag 1979, 246. 41 Regulae, 17. 35

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äußere Sache und innerer Geist ineinander und bewirken Evidenz. Evidenz geschieht dabei aber auf einen Schlag, d. h. als autonomes, unbedingtes Sinnereignis, das mit schwächeren Wahrheitsphänomenen, wie sie z. B. in der aristotelischen Syllogistik verhandelt werden, nichts gemeinsam hat. 42 Handelt es sich bei diesem dann aber um eine Gebung/Gegebenheit, die sich dem menschlichen Geist unvordenklich gäbe? Nein. Marion macht deutlich, dass es die mens ist, die die gesuchte Evidenz hergestellt hat und die somit ein Besitz- oder Herrschaftsverhältnis über das, was ihr einleuchten soll, ausübt. 43 Ihr Verlangen nach Evidenz hat das obiectum hervorgebracht. Intuition besteht letztlich bloß darin, die Möglichkeitsbedingungen abzubilden, die dem Geist Gewissheit vermitteln sollen. 44 Deshalb erklärt sich, dass sich die Evidenz gebenden Gegenstände durch Einfachheit bzw. Abstraktheit charakterisieren sollen. Für Descartes’ Intuition gilt nämlich generell: Je weniger Sachgehalt eine Erscheinung bietet, je formeller und leerer sie sich ausnimmt, umso mehr liefert sie die gewünschte Gewissheit. In Étant donné wird diesbezüglich von gehaltsarmen Phänomenen gesprochen, deren Aufstellung als Paradigma ein Denken gesättigter Erfahrung verhindere. 45 Die in diesem Zusammenhang kritisierte Erkenntnistheorie Kants übernimmt aber – wie Marion in seiner Doktorarbeit behauptet 46 – eine Entscheidung der cartesischen Regulae, wonach sich Gewissheit in vollendeter Form nur bei der Reflexion des Geistes auf sich selbst oder angesichts reiner, materiefreier, geometrischer Figuren einstellt: »So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, dass er existiert, dass er denkt, dass ein Dreieck von nur drei Linien […] begrenzt ist und Ähnliches«. 47 Von diesem Gewissheitsereignis hängen Deduktionen ab, deren wissenschaftlicher Aussagewert je nach ihrem Abstand zum erläuterVgl. »die gesuchte experientia kann nur in einer vollkommen autonomen, unvermischten und gegenüber jeder Wahrscheinlichkeit absoluten Einrichtung bestehen« (OG 45). 43 Vgl. »einzig die Unmittelbarkeit ruft die Gewissheit hervor, weil die Gewissheit – genau genommen – eine Besitzergreifung des Wahren auferlegt und kein Besitz des Wahren über eine dazwischen geschaltete Person ergriffen werden kann« (OG 44). 44 Vgl. »da der intuitus, um möglich zu werden, nur den Fall verlangt, bei dem der Gegenstand aus den Möglichkeitsbedingungen des Wissens hervorgeht« (OG 51). 45 Vgl. dazu Marion, J.-L. Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 1997, 273, 311; dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München 2015, 374 ff. 46 Vgl. OG 184. 47 Regulae, 19. 42

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ten intuitus zu- oder abnimmt. Zwar dehnt »die Deduktion […] die Gewissheit über die Grenzen […] des intuitus aus.« 48, doch Abgeleitetes ist per definitionem »selbst nicht evident« 49. Die Frage, wie sich Descartes an dieser Stelle darum bemüht, den Gewissheitsanspruch seines Wissenschaftsmodells durchzuhalten, ist daher von hoher Relevanz. Der Mangel an Evidenz, durch den sich Deduktionen zunächst auszeichnen, wird einmal durch die Mobilität und Gedächtnisleistung der mens, genauer: deren Fähigkeit, Zusammenhänge unter evidenten Intuitionen zu schmieden und sie aneinanderzureihen, wettgemacht. 50 Nachdem alle Glieder einer solchen ›Kette‹ gesichtet sind, soll diese Reihungstätigkeit (series) des menschlichen Geistes, wie Descartes in seiner siebten Regel betont, in einer Art ›Hyper-Gewissheit‹ zur Erfüllung kommen. 51 Doch zu diesem Zweck sind die vielfältigen, sich auf einer Reihe ergebenden Phänomene zu sortieren. Aber wie? Indem man sie stets auf den Ausgangspunkt, ja auf das Gestaltprinzip einer Reihe zurückbezieht: auf die sog. einfachen Naturen, die als erste dem allmächtigen intuitus gegenüber zum Stehen kommen: »Zweitens muss beachtet werden, dass es genau genommen nur wenige reine und einfache Naturen gibt, die zuerst und an sich selbst intuitiv erkannt werden können, nicht in Abhängigkeit von irgendwelchen anderen, sondern unmittelbar in den Erfahrungsdaten selbst oder vermittels eines uns angeborenen Lichts. Und diese Naturen – sagen wir – sind sorgfältig zu beachten, es sind nämlich eben die, die wir als die im höchsten Grade einfachen in jeder Reihe bezeichnen.« 52 Im Begriff der einfachen Naturen lässt sich Descartes’ Ansatz sowie seine Absetzung von Aristoteles, wie sie von Marion unterstellt wird, bündeln.

2.4. Die Einbindung des Seins in die einfache Natur Für Marion erweist sich der Ausdruck »einfache Natur« bei näherer Betrachtung als gutes Beispiel für die metaphorische Verschiebung, die Descartes’ Regulae der aristotelischen Metaphysik angedeihen

48 49 50 51 52

OG 54. Regulae, 19. OG 54. Regulae, 41. Regulae, 33 f.

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lassen. Mit der Natur des Aristoteles (physis oder physei onta) hat er nämlich genauso wenig zu tun 53 wie mit den von ihm konzipierten Einzeldingen, die im Zuge der Entelechie ihrer Wesensform entgegen streben. 54 Darüber hinaus verdeckt der Begriff seinen intrinsischen Bezug auf die mens. Was ist unter ihm nun aber zu verstehen? Antwort: »… das, was dem Blick des erkennenden Geistes als das einfachste erscheint« 55. Genauer: Als basales Element einer gelungenen, d. h. zweifelsfreien und evidenten Erkenntnis 56 ist eine einfache Natur ein auf das Evidenzbedürfnis des intuitus zugeschnittenes Phänomen. Es geht bei ihm um die erste und notwendig irrtumsfreie Intuition eines gegebenen Gegenstandes, den ein vorbehaltlos konzentriertes Ich in absoluter Gleichzeitigkeit als »experientia certifiante« 57 erfahren kann. Irrtum ist dagegen möglich, wenn das fragliche Objekt seine einfache Natur nur unvollkommen, z. B. zusammengesetzt aus unbekanntem Material vergegenwärtigt. Über die weitere Bearbeitung und Deduktion dessen, was sich so manifestiert, lässt sich – so Descartes – die Realität konstituieren. Marion insistiert in diesem Kontext darauf, dass dafür vor allem die physische Außenwelt ausgeschaltet und der Forderung nach reiner Intelligibilität geopfert werden müsse: »Die einfache Natur, als solche, besteht lediglich in der Gewissheit, deren Herstellung sie anbietet […], und kann jede Sache konstituieren, sofern sie sie auf einen völlig intelligiblen Gegenstand reduzieren kann. Infolgedessen kann sie zusammengesetzte Gewissheiten konstituieren, die schließlich die ›physische‹ Welt rekonstituieren.« 58 Interessant ist, wie Descartes die von der Intuition gefilterten naturae simplices in der 12. Regel nach geistig, materiell und allgemein klassifiziert. 59 Geistig werden jene genannt, mit denen der Intellekt seine eigenen Erkenntniswerkzeuge objektiviert: Zweifel, Vgl. OG 92. Vgl. OG 132. 55 Vgl. J.-L. Marion, »Quelle est la méthode dans la métaphysique?«, 82. 56 Vgl. »Umgekehrt bezeichnet die natura – und dieser Sinn wird im weiteren Verlauf der Regulae die Oberhand gewinnen – auch das, was sich von der Sache vollkommen zu erkennen gibt …« (OG 92). 57 OG 142; vgl. »Intuition ist die optimale Gegebenheit des Gegenstandes für das Subjekt, verbunden mit der optimalen Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisbereitschaft des Subjektes.« G. Schmidt, Aufklärung und Metaphysik. Die Neubegründung des Wissens durch Descartes, Tübingen: Niemeyer 1965, 28. 58 OG 140 f.; vgl. OG 135. 59 Vgl. Regulae, 87. 53 54

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Affirmation, willentliche Handlungen usw. 60 Materielle Naturen meinen solche, die aus der körperhaften Außenwelt gewonnen werden, von denen aber jeder sinnliche Erfahrungsgehalt abgestreift werden muss, um daraus Termini wie Gestalt, Bewegung, Ausdehnung usw. zu erhalten. An letzter Stelle werden unter dem Titel res communis Allgemeinbegriffe wie Existenz, Dauer, Einheit versammelt, die sich sowohl auf geistige und materielle Naturen als auch auf logische Verbindungselemente beziehen. 61 Dass sich dieses eindrucksvolle System nach dem Abbruch der Regulae einfach in Luft aufgelöst haben soll, scheint wenig plausibel. Umgekehrt verstehen sich dann aber Marions spätere Versuche, die cartesische Ideenlehre insgesamt und insbesondere die Grundbegriffe der Meditationes als Zusammenspiel einfacher Naturen auszulegen. 62 In seiner Dissertation entfaltet Marion nun, wie Descartes – im Ausgang dieser Konzeption – die aristotelische Metaphysik einer ordentlichen Revision unterzieht. Beispielsweise gälte die sinnlich perzipierte Ortsbewegung, die an deren Ausgang steht, bei Descartes nur als verworrene Evidenz. Gesucht wird in den Regulae nämlich das, was zum Zwecke seiner Intelligibilität völlig im Einklang mit geometrischen Gesetzmäßigkeiten steht. 63 Während Aristoteles die Wesen der Sachen als abgetrennte, isolierte Naturen versteht, so hat bei Descartes die mentale ordo den ersten Rang inne. Sie ist es, die über alle Wesensbegriffe verfügt, sie untereinander vernetzt und als einfache Naturen vergleichend-ordnend intuiert. Entsprechend kommt das, was bei Aristoteles die ousia auszeichnete, beim frühen Descartes den einfachen Naturen zu. 64 Aber noch mehr: Jeder Rückschluss auf das Sein an sich gilt diesem als unberechtigt, weil nur zählt, was sich auf gnoseologischer Ebene sichern lässt. So zieht der Doktorand Marion folgende Bilanz: »Niemals erscheint der Erkenntnis zuerst die Sache selbst (ein solcherart Seiendes). Oder besser gesagt: Was die Erkenntnis als ihren Gegenstand kennt und wiedererkennt, ist niemals die Sache selbst, sondern den Ersatz, den die einfachen Naturen aus ihr konstruieren« 65.

60 61 62 63 64 65

Vgl. OG 137. Vgl. OG 139. Vgl. »Quelle est la méthode dans la métaphysique?«, 75–109. Vgl. OG 147 f. Vgl. OG 80. OG 141.

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2.5. Was bedeutet »graue Ontologie«? Insgesamt gerät also in den Regulae das Sein des Seienden unter den Blickwinkel des intuitus und der ordo et mensura – d. h. der obersten Erkenntnisprinzipien, die die mens der Erfahrung mit Mathematik entlehnt hat. 66 Nur unter der Voraussetzung, dass es diesem apriorischen Kriterium des menschlichen Geistes entspricht, ist es für die Regulae sinnvoll, von Substanz zu sprechen. 67 Das Sein kommt am Ende dieser Verschiebung nur insofern in den Blick, als es vom nach Evidenz heischenden Ego perspektiviert werden, ja erzeugt werden kann. »Ordnung muss hier erscheinen, selbst wenn die existierende Sache sie nicht präsentieren könnte. In diesem Fall geht die Beobachtung dazu über, einer Ordnung vorzustehen, die allein kraft der cogitatio, durch die Erfindung des Denkens erreicht wurde – eine Erfindung, die dort, wo nichts erscheint, eine Ordnung fabriziert …« 68. Zwar kann man sagen, dass die mens, insofern sie das Sein in die einfachen Naturen einbindet, die Funktion eines ersten Seienden einnimmt. Weil für sie jedoch allein zählt, was erkannt bzw. was vom intuitus repräsentiert werden kann, hält sie sich selbst in einer gleichsam außerweltlichen Zone auf, in der die Frage nach dem Sein als solches verstummt ist. 69 In diesem Sinne kann Marion am Ende seiner Doktorarbeit feststellen, dass die Regulae – aufgrund ihrer geradezu obsessiven Forderung, gültige Erkenntnis bzw. Gewissheit zu sichten – noch keine metaphysische Lehre im Sinne eines Fragens nach dem Grund bieten. 70 Aus der Retrospektive scheint dieses Defizit mit dem Fehlen einer umfassenden Egologie, wie sie z. B. in den Meditationes ausgearbeitet werden wird, zusammenzuhängen. Dagegen wird das Sein in den Regulae nur in einer grauen Ontologie thematisch – d. h. auf rudimentäre Weise, bei der die mens dem SeiVgl. »[…] die Frage nach dem Sein jedes Seienden transformiert (und konserviert) sich in die nach deren Ordnung und Maß« (OG 66). 67 Vgl. OG 77. 68 OG 77. 69 Vgl. »Die Funktion der mathesis universalis, die ohne jedes paradigmatische Seiende auskommen muss, bleibt folglich streng epistemologisch. Ihr Verhältnis zu den Sachen, die zu Gegenständen geworden sind erfüllt sich einzig in der Repräsentation und niemals in gegenseitiger Präsenz« (OG 69). 70 Vgl. OG 185. Es erübrigt sich auf die vielen Parallelen zu dieser Problemstellung hinzuweisen, die sich in den Anfragen Heideggers an Edmund Husserls Ideen finden lassen. Vgl. v. a. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes (Sommersemester 1925) (GA 20), Frankfurt: Klostermann 1979, 148 ff. 66

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enden zwar Zugang zum Sein gewährt, aber ohne in dieser metaphysischen Gründungsfunktion eigens konzipiert zu werden. Offen bleibt also die Frage, wie die Erkenntnisinstrumente der Regulae im Sein selbst einwohnen. Descartes scheint sich dieser Aporie bewusst, wenn nicht sogar über sie verbittert gewesen zu sein, bricht er doch seine Abhandlung in der Mitte ab. Wenn sich die Regulae im Ergebnis als deutliches Gegenprogramm zu Aristoteles darstellen lassen, dann ist folgender Zusammenhang mit der Bedeutung von Gegebenheit/Gebung zu konstatieren: Marion scheint den frühen Descartes immer wieder einer Wirklichkeitsauffassung zu bezichtigen, die sich als idolatrische und gebungsverweigernde qualifizieren lässt. Dies wird insbesondere im Schlusskapitel seiner Dissertation deutlich, wo sich der Autor von der Dichotomie von Sache und Gegenstand leiten lässt: Die Sache werde in der aristotelischen Metaphysik im Rückgriff auf die selbständig sich entfaltende ousia konzipiert. Sie eröffnet – wie dies überdies auch in der natürlichen Einstellung der Fall ist – von sich selbst aus den Zugang zu sich. Ihre »irreduzible Alterität« 71 sei zu beachten und wie eine Ikone anzunehmen: »[Die Sache] genügt sich selber, insofern sie ihre eigene ousia bleibt. Hält sie sich auf irreduzible Weise zurück, dann beobachtet sie, mit vertrauten Blicken, den Blick, den der Mensch auf sie wirft.« 72 Über Descartes’ Regulae ist nun aber völlig anders zu befinden. Hier werde die Sache auf die Leisten des subjektiven Erkenntnisvermögens herabgesetzt und zum obiectum degradiert, in dem nur erkannt wird, was in der mens schon immer selbst vorliegt. Letztlich spiegelt sich die mens in ihrem objectum selbst: »Descartes, und mit ihm das moderne Denken, geht an die Sache nur insofern heran, als sie in ihr ›genau die Sache, die gegen sie eingewandt wird, rem sibi objectam‹ […], die Sache als Gegenstand erblickt. Der Gegenstand bündelt in sich das, was der Blick des Geistes in den Bereich seiner Evidenz eintreten lässt. Und folglich deckt er von der ursprünglichen Sache nur ab, was das Zusammenspiel der einfachen Naturen daraus erfasst und dem Blick vorlegt. Die Weite und Tiefe dessen, was sich unter seinem Namen vereint findet, hängt zuerst vom Einwirken des geistigen Blickes, von seiner Reich- und Spannweite ab.« 73 In erkenntnistheoretischer Hinsicht reproduziert 71 72 73

OG 186. OG 186. OG 186 f.

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Descartes hier eine Grundhaltung, die man als verschlossen gegenüber der Gegebenheit/Gebung bezeichnen kann. Sie lässt sich leicht in Marions früher Phänomenologie des Idols 74, aber auch unter dem Titel gehaltsarmer Phänomene in Étant donné wiederfinden. 75 Zentral für Sur l’ontologie grise de Descartes ist jedoch – ganz im Sinne des späten Heideggers – die kritische Charakterisierung einer geistigen Epoche. Gemeint ist das Denken, das sich als modern rühmt, mit der Philosophie Nietzsches aber zu einem Abschluss kam. 76 Unter dieser Hinsicht kann Marion die Regulae letztlich als philosophiegeschichtliches Gründungsmanifest einer um sich selbst kreisenden Einstellung lesen, die sich in ihrem Gewissheits- und Konstruktionswahn jedem Staunen vor der Gegebenheit/Gebung des Wirklichen systematisch verweigert. In Étant donné meint Marion, diese Einstellung sei erst mit der Phénoménologie de la donation endgültig zu überwinden. Aber schon in der cartesischen Denkentwicklung selbst zeigt sich diesbezüglich eine fundamentale Weiterentwicklung, die – so scheint es – der Heidegger’schen Geschichtsauffassung und Descarteskonzeption fremd geblieben ist.

3.

Zur Gegebenheit/Gebung aufbrechen – Descartes’ Theologie von 1630

In Fortführung eines bereits bei Alquié angelegten Gedanken ist Marion der Ansicht, dass das Jahr 1630 für einen geistesgeschichtlichen Bruch steht. Denn Descartes lehrt hier in drei Briefen an seinen früheren Studienkollegen, den Naturwissenschaftler und Theologen Marin Mersenne, dass die ewigen Wahrheiten von Gott erschaffen worden seien. Mit dieser Theorie setzt sich Marions zweite große Descartes-Studie von 1981 – gleichsam seine ›Habilitationsschrift‹ – auseinander. Unter dem Titel Sur la théologie blanche de Descartes interpretiert der Franzose sie diachronisch auf dem Hintergrund der analogia-entis-Lehre und ihrer neuzeitlichen Varianten, die beide mit großer Ausführlichkeit besprochen werden. Ferner wird sie als

Vgl. J.-L. Marion, Dieu sans l’être. Hors-Texte. Paris: Communio/Fayard 1982, 15 ff. (dt. übers., Gott ohne Sein, übers. v. A. Letzkus, Paderborn: Schöningh 2014, 23) 75 Vgl. J.-L. Marion, Gegeben sei, 311 (Étant donné, 375 f.). 76 Vgl. OG 188 f. 74

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Startpunkt der vielschichtigen Überlegungen Descartes’ zum Gottesbegriff gedeutet. Rekurriert Marion in diesem Zusammenhang auf den Ausdruck »Theologie«, dann geschieht dies im Anschluss an die aristotelische Terminologie und Auffassung, wonach die klassische Metaphysik unter diesem Namen eine Reflexion auf ein erstes Seiendes durchführt. 77

3.1. Die Lehre von der Schöpfung der ewigen Wahrheiten – ein zweifacher Durchbruch In seiner Korrespondenz mit Mersenne stellt Descartes u. a. folgende Behauptung auf: »Über die ewigen Wahrheiten sage ich erneut, dass sie so wahr und möglich sind, weil Gott jene als wahr und möglich erkennt, diese umgekehrt aber nicht als wahre von Gott erkannt werden, sozusagen als wären sie unabhängig von ihm wahr«. 78 In den Augen Marions wird die Tragweite dieses Argumentes zumeist unterschätzt, gilt Descartes doch weitgehend als Vater der autonomen Rationalität. Folgt man jetzt dem obigen Zitat, dann sieht es aber so aus, als wolle er den letzten Horizont, der Vernunft ausmacht und orientiert 79, in die freie Verfügung des göttlichen Willens verlagern. Behauptet wird hier ja, dass im Blick auf ihren kreatürlichen Status’ zwischen ewigen, z. B. logischen Wahrheiten und der übrigen Wirklichkeit kein Unterschied bestehe. 80 Allein Gott spreche Wahrheit gültig – durch einen freien Schöpfungsakt bzw. schöpferischen Erkenntnisvorgang und wohl auch im Sinne einer creatio continua. ›Ohne Rücksicht auf IHN‹ sei von logischer Wahrheit, so Descartes, überhaupt nicht zu sprechen. Die umrissene Theorie verkörpert für Marion in zweifacher Hinsicht einen Einschnitt: einmal a) im Blick Vgl. »Üblicherweise weigert sich Descartes nämlich, sich ›in die Theologie einzumischen‹ (AT, I, 150,24–25), weil er sie streng als Offenbarungstheologie und nicht als natürliche Theologie definiert« (PM 21). 78 R. Descartes, Correspondances Paris : Cerf 1897 ff., Ausgabe Adam-Tannery, Bd. I, 149. 79 Vgl. TB 11. 80 Vgl. »Er [sc. Descartes] schließt die Kluft zwischen den theoretischen Wahrheiten und den Geschöpfen, an der die Mathematiker (und Theologen) festhalten wollten. In der Absicht, ihrer Wissenschaft – neben einer unerschütterlichen Begründung – den Status absoluten Wissens zuzusichern, versuchten sie, die notwendigen Wahrheiten der göttlichen Schöpfung zu entziehen und diese auf die kontingenten und materiellen Geschöpfe einzuschränken« (TB 269 f). 77

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auf Descartes’ eigene Denkentwicklung, dann b) unter einem ideengeschichtlichen Gesichtspunkt. a) Zunächst ist festzuhalten, dass der Philosoph des 17. Jahrhunderts sich hier erstmalig über einen Bereich äußert, der sich als Grund jenseits dessen bewegen soll, was der Mensch mit Gewissheit erkennen kann. Im Vergleich zum Ansatz der Regulae dokumentiert sich darin eine bemerkenswerte Neuorientierung, insofern Descartes nun auch auf das dort entwickelte Instrumentarium ›mentaler‹ Erkenntniskraft ein neues Licht wirft. Seine Stellungnahme impliziert nämlich, dass dieses von Gott erschaffen worden sei. Doch der besagte Neuanfang erweist sich als noch gravierender: Marion nimmt an, Descartes überwinde hier jene Aporie, in der die Argumentation der Regulae letztlich einmündete. Nun komme das Sein selber zur Ansicht – und zwar als unvordenkliche Alterität, was die »graue Ontologie« seines bisherigen, wissenstheoretischen Vorhabens dezidiert unterbunden hätte. Und ferner präge dieser Neuansatz jede künftige metaphysische Reflexion des französischen Gelehrten. 81 Die in diesem Kontext verwendete Metapher des Durchbruchs entfaltet ihre tiefere Bedeutung aber erst dort, wo man das erwähnte theologoumenon ideengeschichtlich genauer situiert. b) Während sich die Regulae – wie oben dargelegt – als Antwort auf Aristoteles verstehen lassen, machen insbesondere die barockscholastischen Positionen des Francisco Suarez, mit denen Descartes seit seiner Studienzeit in La Flèche vertraut ist, den Hintergrund der Lehre von 1630 aus. Dass es in dieser um den Versuch geht, sich von dem spanischen Jesuiten abzusetzen, indem das Verhältnis zwischen Gott und Vernunft neu geordnet werden soll, weist Marion durch eine triftige Gegenüberstellung mit einem Textstück aus dessen Disputationes Metaphysicae auf. Dort wird ganz ähnlich formuliert: »[ich sage es] noch einmal: diese Aussagen sind nur deshalb wahr, weil sie von Gott erkannt werden, oder besser gesagt: sie werden von ihm nur deshalb erkannt, weil sie wahr sind. Ansonsten könnte man keinen Grund angeben, warum sie Gott als notwendig wahr erkennt«. 82 Im Anschluss an Suarez sind die ewigen Wahrheiten folgVgl. z. B. »Damit die Erschaffung der ewigen Wahrheiten eine Chance haben, nicht als abwegiger und vielleicht folgenloser Gedankensplitter unterzugehen, soll diese Lehre das Gesamt des cartesischen Denkens beherrschen, selbst in Bereichen, wo sie scheinbar nicht zum Tragen kommt« (TB 232). 82 F. Suarez, Disputatio Metaphysica XXXI, s.12, n. 40, in: ders. Opera omnia, Paris: Vivès 1856, zit. n. TB 28. 81

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lich eher als in sich ruhende Größen zu bestimmen. An ihrer Seite, wenn nicht sogar unterhalb ihrer wird das göttliche Walten gesehen. Besser gesagt: Der Spanier bindet den göttlichen Erkenntnisakt an eine von Gott und dem Menschen egalitär erfassbare ratio reddenda zurück und legt ihn nicht als Schöpfung aus. Im Gegensatz dazu wird mit der cartesischen Fassung, wonach Gott die ewigen Wahrheiten erschaffen haben soll, ein neuer Fragestand erreicht: Rationalität verliert jetzt ihre fundamentale Dimension und erhält dort, wo sie sich auf sich selbst besinnt, eine ihr gegenüber jenseitige Begründung. Wie ist dies aber näher zu verstehen? Marion meint, der von Descartes hier angedachte Grund der Rationalität dürfe nicht deckungsgleich mit dieser, aber auch nicht inkongruent zu ihr interpretiert werden. 83 Es sei hier also von einer durchaus komplexen, inneren Genealogie auszugehen. Kurz gesagt: Der Grund entzieht sich zwar dem Zugriff der Vernunft, doch er gibt sich irgendwie ihrer Selbsterfahrung. Unter dieser Hinsicht bezieht Descartes einen dritten, vielleicht prä-rational zu nennenden Standpunkt. Im Vorgriff auf Marions Phénoménologie de la donation ließe sich dieser Konnex weiter ausbuchstabieren: Vernunft wird hier nämlich so ausgelegt, als könne sie in ihrem eigenen Hoheitsgebiet das Wirken einer unfasslichen, sie aber umfassenden Gegebenheit/Gebung erfahren. Oder: Besinnt sie sich vorbehaltlos auf sie selbst, dann sprengt sich Vernunft schließlich zum Staunen über die sie tragende Gegebenheit/ Gebung auf. In ihrem zentralen Anliegen nimmt sich jetzt die Studie Sur la théologie blanche de Descartes der Aufgabe an, die ideengeschichtliche Novität der cartesischen Lehre von 1630 herauszustellen. Der Autor befindet, dass sich deren Sinn erst nach Aufarbeitung der mittelalterlichen analogia-entis-Theorie und ihrer Spätformen bei Suarez u. a. vollständig freilegen lasse. Obschon sich Descartes selbst der Analogiethematik nicht ausdrücklich zugewandt habe, beziehe sich sein Statement in unterschwelliger Weise auf sie. Es indiziere nämlich eine völlig neue Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis zwischen Gott und menschlichem Erkennen zu konzipieren sei, und – damit zusammenhängend – ob und wie sich über Gottes Sein an sich eine vernünftige Aussage treffen lasse. Angebracht ist daher auch im vorliegenden Rahmen, die Marion’sche Relecture dieser Problemstellung bei ihrem Übergehen in die neuzeitliche Denkart wenigstens grob zu skizzieren. 83

Vgl. TB 31.

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3.2. Analogia und univocitas – mittelalterliches Gottdenken und neuzeitliche Zersetzung Im Sinne Marions löst Thomas von Aquin die Frage, wie sich ewige Ideen und Gott zueinander verhalten, durch die Behauptung einer trinitarischen Inklusion: Der patristischen Tradition folgend, ordnet er dem Wort und Sohn Gottes den göttlichen Verstand zu, so wie der Heilige Geist die Rolle des göttlichen Willens übernehmen soll. Überdies bildet »das Wort […] auf schlechthinnige Weise ein Sich-Überschreiten des göttlichen Wesens im Sinne der Ideen der Geschöpfe.« 84 In Gottes präexistentem Wort und Sohn seien die ewigen Ideen also eingefaltet, göttliche Einheit und Selbsterkenntnis lasse sich von hier aus entwerfen. Infolgedessen bewegen sie sich für den mittelalterlichen Theologen nicht synchron neben dem göttlichen Wesen. Ebenso wenig sei ihre Unabhängigkeit von oder umgekehrt ihre Identität mit Gott zu postulieren. Vielmehr denkt Thomas, dass die ewigen Ideen in ihrer Andersheit dem dynamischen Beziehungsgeschehen der drei Personen Gottes inhärieren: »Nichts von dem, was Gott als das Andere seiner erkennt, reißt Gott zu einer Instanz hin, die anders als er selber wäre. Denn Gott behält seine Exteriorität in sich selbst.« 85 Mit anderen Worten: Das thomasische ipsum esse subsistens erzeugt in seinem Sohn die ewigen Wahrheiten und stellt diese quasi als Baupläne der Schöpfung auf. Seinerseits würde das kreatürliche Denken von ihnen zur Nachahmung, ja zur Partizipation am Sein Gottes aufgerufen. Vor diesem Horizont ist die menschliche Fähigkeit, über Gott gültige Aussagen zu treffen, näher zu erwägen. Wie lässt sich nach Thomas – wenigstens schematisch – die Begrifflichkeit konturieren, die dabei zum Einsatz kommt? Angesichts des unendlichen Subjektes »Gott« bauen sich auf Anhieb zwei Fronten auf 86: In einem ersten Schritt kann man sagen, dass ein Begriff bei seiner Anwendung auf Gott, z. B. »gut«, »gerecht«, schließlich: »seiend« in seiner Univozität bzw. Eindeutigkeit gemeint ist. Er drückt dann eine präzis zu bestimmende Semantik aus, die sich auch in diesem Bezug noch durchhalten sollte. Gegen die univoke Prädikation erhebt sich aber der Verdacht, dass hier der Mensch seine endliche Erkenntniswelt in das transzen84 85 86

TB 40. TB 36. Vgl. zum Ganzen TB 77.

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dente Leben Gottes illegitimer Weise hinein projiziert. Um dieser Aporie entgegen zu wirken, lässt sich der auf das Subjekt »Gott« bezogene Begriff als äquivoker bzw. mehrdeutiger auslegen. Demnach können sich in einem Begriff mehrere Bedeutungen artikulieren, die grundsätzlich nicht miteinander verbunden sind. Doch in dieser Perspektive würde das Sprechen über Gott prinzipiell konterkariert werden. Unter anderem würde ein Gott-Denken qua Kausalität, wie es Thomas in seinen quinque viae versucht, sinnlos werden. 87 Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem, was der Mensch reflexiv erarbeitet hat, und der Realität Gottes ist hier – dem breiten Strom christlicher Theologie entsprechend – als zulässig vorausgesetzt. Damit ist das Stichwort gefallen für die dritte, von Thomas präferierte Möglichkeit: »Von Gott und den Kreaturen sind die Namen nach der Analogie, d. h. nach der proportio.« 88 Kann also ein rationaler Begriff Gott erteilt werden, dann dank der Analogie. Allerdings zeigt die zitierte Einsicht des Thomas’ bereits auf, dass die Frage, wie Thomas deren Sinn ausrichtet, einer weiteren Überlegung bedarf: Geht es – in Entsprechung zu einem Vorschlag bei Aristoteles – um die Ähnlichkeit mehrerer Verhältnisse, die sich vergleichen lassen, weil ein und derselbe Begriff mit seinen spezifischen Bestimmungen jeweils bei ihnen im Spiel ist (analogia proportionalis)? Unter dieser Hinsicht könnte z. B. das Verhältnis, in dem das Prädikat »sein« zum Subjekt »Mensch« steht, verglichen werden mit dem Verhältnis, in dem es zum Subjekt »Gott« steht. Als Alternative wäre unter Analogie die Möglichkeit einer einzigen Aussage zu verstehen, die innerhalb eines einzigen Verhältnisses (hier: das zwischen Gott und dem erkennenden Menschen) getroffen wird, wobei sich der Begriff (z. B. »sein«) in einem Pol des Vergleiches (»Gott«) vollständig erfüllt hätte, während er dem anderen (»Mensch«) abgeleitet davon, und somit gleichsam äußerlich zukäme (analogia attributionis). In seinen Analysen stellt Marion nun fest, dass im Oeuvre des Aquinaten – bei allen Modifikationen im Detail – der letzte Analogie-Typ vorherrscht, in dem sich bezeichnender Weise die pseudodionysische Partizipationslehre 89 und damit sei-

TB 76; vgl. Thomas von Aquin, Summa theologia I a, q. 2, art. 3., in z. B. Thomas von Aquin Die Gottesbeweise in der ›Summe gegen die Heiden‹ und der ›Summe der Theologie‹. Text mit Übersetzung, Einleitung und Kommentar, Hamburg: Meiner 2 1986. 88 Vgl. ders. Summa theologiae, I a, q. 29,a.4, et q. 13,a.5, c. 89 Vgl. TB 89 ff. 87

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ne Theologie der Gebung/Gegebenheit fortsetzt. 90 Folgt man nun dieser Ansicht, dann gründet analoges, vernünftiges Sprechen für den mittelalterlichen Theologen schließlich in einem partizipativen Zusammenhang zwischen einem unendlichen Urbild und seinem Bild: »Das unum ipsorum, das die Referenz einer ganzen Vergleichsreihe ermöglicht, schreibt sich in sie als Individuum ein, sie bündelt in sich aber deren urbildliche Vollkommenheit« 91. Das so im Mittelalter entwickelte Verhältnis von Gott und Vernunft löst sich nun beim Anbruch der Neuzeit, v. a. unter dem Einfluss des Nominalismus, auf. Symptomatisch für Marion ist der Zugang des Francisco Suarez. Für den an der Schwelle zum 17. Jahrhundert lehrenden Scholastiker gelte Rationalität nicht mehr als in die trinitarische Dynamik integriert, sie habe nicht mehr einfach Anteil an einem göttlichen Urbild. Nunmehr würden Begriffe der Selbstvergewisserung dienen. Vermöge ihrer wolle sich das Bewusstsein, sei es ein göttliches oder ein menschliches, die Wirklichkeit evident repräsentieren. Im trinitarischen System der thomasischen Ideenlehre zieht Suarez demnach beachtliche Differenzierungslinien ein. Marion zeigt auf, wie hier die ›göttliche Kompetenz‹, Ideen qualitativ zu unterscheiden, erfasst wird: Gott bleibe gegenüber kontingent-zeitabhängigen Ideen indifferent und erkenne notwendig-zeitlose Ideen als solche an. Zu unterstreichen sei nun vor allem, dass dieser göttliche Gestus mit der menschlichen Rationalität strukturell identisch ist. Die ewigen Ideen würden hier einfach als von Gott und dem Menschen unabhängige, im jeweiligen Bewusstsein repräsentierbare Größen vorliegen. 92 Entsprechend der suarezischen Theologie könne Gott dieselben Operationen, z. B. logische Verknüpfungen wie das menschliche Bewusstsein durchführen. Auf gleichem Wege gelange er so zu evidenter Erkenntnis. Insbesondere ist nach Marion aber festzuhalten, dass sich dadurch die schöpfungs- und kausalitätstheoretischen Verankerung von Rationalität verstellt: »Die Notwendigkeit logischer Wahrheit als ratio entbindet nicht nur von [einem Denken] der Wirkursächlichkeit der Existenz, sondern auch von Gott selber. Kurz gesagt: Die logische Identität entbindet vom Schöpfungsgedanken« 93 D. h.: Bei Suarez gehe dem Schöpfungsakt das Erfassen 90 91 92 93

Vgl. J.-L. Marion, L’idôle et la distance. Cinq études. Paris: Grasset 1977, 196–250. TB 92. Vgl. TB 45. TB 49.

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einer logischen Wahrheit voraus. Gottes Schaffen werde hier als Überführung einer logischen Wahrheit in ihre Existenz konzipiert. Mittels einer gleichsam handwerklichen Gebärde greife Gott auf eine logisch erschlossene Definition zu und gestalte ihr entsprechend die Schöpfung: »Das Wesen an sich – als notwendige Möglichkeit von Existenz, erreicht das reale Sein« 94. Dass Gott also – nach dem Dafürhalten des Suarez’ – in Abhängigkeit von rational erschließbaren Ideen handelt und diese sich wie das menschliche Bewusstsein repräsentieren kann, bedeutet bei der Frage, wie Begriffe auf Gott anzuwenden seien, eine heimliche Entscheidung gegen die Analogie und für die Univozität. »Die Unabhängigkeit der ewigen Wahrheiten drängt sich Gott nur kraft der Univozität auf: Dieselbe logische Identität erlegt sich Gott, wie dem geschaffenen Bewusstsein auf.« 95 In der Summe vertrete Suarez, so schließt Marion, einen Standpunkt, der der cartesischen Meinung exakt zuwider läuft: Er habe die NichtErschaffung der göttlichen Wahrheiten gelehrt. 96 Hervorzuheben ist, dass die von dem spanischen Scholastiker konzipierte Begrifflichkeit bei ihrer Anwendung auf Gott und den Menschen nicht isoliert dasteht. Unter anderem zeigt Marions ›Habilitationsschrift‹ auf, wie sein jesuitischer Ordensbruder Gabriel Vasquez die Tendenz zur Univozität noch radikalisieren will. 97 Auch wenn andere Denker im zeitlichen Umfeld, z. B. Rudolf Goclenius, um die theologischen Engpässe dieser Entwicklung gewusst und moderate Positionen vorgelegt hätten 98, sei die suarezische Lehre breit rezipiert und weiterentwickelt worden. Nach der Überzeugung des französischen Forschers konzentriert sich darin das Klima einer Epoche, die die Autonomie der Wissenschaften vor und zugleich mit Gott immer nachdrücklicher verteidigen will. Selbst von Platon inspirierte Theologen wie der Oratorianer Bérull, mit dem Descartes um 1630 in regem Dialog steht 99, würden ihrer Emanationslehre eine univoke Begrifflichkeit zugrunde legen 100 und zwischen den ewigen Wahrheiten und Gott ein Kontinuum erblicken. Die konkrete Folie für Descartes’ Lehre von 1630 bilde nun aber die von Johannes Kepler und TB 53. TB 69. 96 Vgl. TB 53. 97 Vgl. ebd. 98 TB 69. 99 Vgl. TB 140 ff. 100 Vgl. TB 141. 94 95

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Galileo Galilei prominent vertretene Vorstellung, der zufolge Gott wie ein vollkommener Mathematiker oder Geometer verfahre. 101 Marin Mersenne, Descartes’ erwähnter Briefpartner, scheint ihr nahegestanden zu haben. In ihrem Sinne bestimmen mathematische Wahrheiten restlos das göttliche Wesen und zeichnen seine Schöpfungshandlungen axiomatisch vor. Wer im Anschluss an diese ›mathematische Theologie‹ eine geometrische Figur wie Punkt und Kreis geistig nachvollzieht, der tauche bereits in das innere Leben Gottes ein. 102 In zugespitzter Form sei diese geistige Bewegung, so die Einschätzung des Interpreten, der neuzeitlichen Option zugunsten der univoken Begrifflichkeit verpflichtet. 103 Als ein echtes Novum erweist sich nach dieser Durchsicht aber die Auffassung Descartes’, der zufolge Gott die ewigen Wahrheiten durch einen Vorgang erschaffe, der sich auf der Ebene der Mathematik, ja auf der Ebene der Rationalität schlechthin absolut nicht aufschlüsseln lasse.

3.3. Schöpfung nach Descartes’ nicht-univoker Theologie Marions Studie exponiert auf folgende Weise die Grundlinien der Lehre, die Descartes in drei Briefen aus dem Jahre 1630 entwickelt: Im Vorfeld wird gesagt, dass Descartes der trinitätstheologische, von Thomas entwickelte Zusammenhang des Verhältnisses von Ideen und Gott weder bekannt ist noch mit eigener Aufmerksamkeit bedacht wird. Sein Anliegen bestehe nicht in dem Versuch, das historische Argument des Aquinaten zu retten. 104 Obwohl der bei ihm gelegentlich verwendete Ausdruck univoce eine schwache Verbindungslinie zur thomasischen analogia-entis-Lehre andeuten könnte, steht für Marion nur fest, dass »Descartes […] innerhalb der Trümmer, die von der Analogiefrage übrig blieben« 105 denkt. Dennoch werde z. B. an der Weise, wie sich der Gelehrte des Unendlichkeitstheorems annimmt, ein ›subkutanes‹ Wissen um den Ausfall des mittelalterlichen Denkens sichtbar, während Suarez trotz seiner – wie gesehen – massiven Neuinterpretation des corpus thomisticum überzeugt sei, das

101 102 103 104 105

Vgl. TB 192. Vgl. TB 169. Vgl. TB 176. TB 58 f. TB 106.

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Letztere angemessen weiter zu tradieren. 106 Statt sich also auf die Analogielehre direkt zu beziehen, kehre Descartes die suarezische Fundierungsrelation zwischen Gott und den Ideen nun einfach um, indem er eine absolute Kluft zwischen Gott und der menschlichen Erkenntniskraft konzipiere. In diesem Rahmen wird ein harsches Urteil über den mittlerweile gebräuchlichen Versuch, Gott der Logik neben- oder unterzuordnen, gefällt. Descartes findet ihn schlicht gotteslästerlich: »Und wenn die Menschen den Sinn ihrer Rede recht verstehen würden, dann könnten sie nie, ohne eine Blasphemie zu begehen, sagen, dass die Wahrheit von irgendetwas dem Erkennen, das Gott von dieser Sache hat, vorausginge«. 107 Über allem menschlichen Erkenntnisstreben stehe also das Wirken Gottes selber. 108 Gegen die communis opinio der damaligen Gelehrtenwelt hebt der Philosoph also hervor, dass Gottes schöpferische Kausalität den mathematisch-begrifflich schaltenden Verstand absolut übersteige und sich der erkennende Mensch von der unendlichen und unfasslichen Macht Gottes eigentlich umfangen wissen müsste. 109 Die Absolutheit und Vorrangigkeit der göttlichen Schaffenskraft gegenüber menschlicher Vernunft bildet – wie gesehen – den Kern des cartesischen Argumentes. Worauf kann Descartes seine Betonung der göttlichen Distanz zur menschlichen ratio nun aber stützen? Marion zufolge ist dafür seine vertiefte Beschäftigung mit der Dichotomie »endlich/unendlich« verantwortlich. Die Differenz zwischen beiden Termini, welche freilich schon für die mittelalterliche Analogielehre relevant war, werde von ihm unter ganz neuen Voraussetzungen reflektiert – v.a mit Rücksicht auf den Begriff eines Bewusstseins, das nach evidenten Repräsentationen verlangt. Descartes macht nun zwischen der Unendlichkeit (Gottes) und der Endlichkeit (der Vernunft) eine Distanz plausibel, die durch nichts einzuholen ist und sich mathematisch begründen lässt. 110 Im Adjektiv »unendlich« 106 Vgl. »Die Analogie hat aufgehört, gedacht zu werden, selbst ohne dass das vergessende Denken dieses Vergessen wahrgenommen hätte, gerade weil es vergisst« (TB 139). 107 R. Descartes, Correspondances, 149. 108 Vgl. »Denn die Existenz Gottes ist die erste und die ewigste aller Wahrheiten, die sein können und sie ist die einzige, aus der alle anderen hervorgehen« (ebd. 150). 109 Vgl. ebd., 150. 110 Vgl. »Zwischen Gott und den Geschöpfen besteht eine Differenz, die sich mit der numerischen Differenz zwischen zwei Zahlen, einer unendlichen und einer endlichen, vergleichen lässt« (TB 70).

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drücke nämlich auch die Mathematik nicht einfach eine potenzierte Version von »endlich« aus. Vielmehr würden sich hier »endlich« und »unendlich« qualitativ und absolut voneinander unterscheiden. Mehr noch: »Unendlichkeit« meint für den Philosophen eine erste Wahrheit, die als Möglichkeitsbedingung alle anderen Wahrheiten und speziell die mathematischen Verfahren grundiert. Die Möglichkeit, ein endliches Attribut numerisch zu steigern, entspringe der völlig erhabenen Unendlichkeit, die dem Bewusstsein primär und ungeschuldet gegeben ist. Marion kommentiert hier so: »… denn von woher kommt der facultas in infinitum ampliandi das Vermögen zu, so maius et amplius bis zum Unendlichen hin zu wachsen? Vom Unendlichen selbst, dass vorgängig und ursprünglich in ihr gegenwärtig ist. Sie erreicht schließlich das Unendliche – wenn sie es denn erreicht – nur insofern, als sie aus ihm hervorgegangen ist.« 111 Obschon die Unendlichkeit eine transzendentale Funktion aufweist, entzieht sie sich dem menschlichen Bewusstsein, das nur endliche Gegenstände zu konstituieren vermag. Angesichts der göttlichen Unendlichkeit erweisen sich folglich alle endlichen Attribute als unzuverlässig. Der über allem stehende Gott umschließt sie ja bereits und straft Lügen jede Rationalität, die sich auf ihn noch univok beziehen wollte. Weil coram Deo alle Begriffe zweifelhaft werden, lässt sich der cartesische Standpunkt nach Marion im Ausdruck »Nicht-Univozität« bündeln. Konkret: Begriffe können für Descartes durchaus verlässlich, ja univok die Körperwelt erschließen. An der Mathematik orientierte Wissensaxiome – wie es in den Regulae ausgeführt wurde – können zur Gewissheit führen. Allerdings würden diese zuvörderst von der Freiheit Gottes in ihre Existenz gerufen. Sie seien von ihm gleichsam dem Bewusstsein eingepflanzt worden und würden deshalb nicht zur Erschließung des göttlichen Wesens selbst taugen. 112 So würden sich auf einer theologischen Ebene die cartesischen Basismerkmale gelungener Erkenntnis »Klarheit« und »Distinktion« als obsolet erweisen. In Marions Habilitationsschrift werden die verschiedenen Dimensionen der cartesischen Theologie von 1630 näher beleuchtet. Dazu eine kleine Auswahl. a) Der Gelehrte des 17. Jahrhunderts behandelt auf originelle Weise die facultates Dei: »[I]n Gott ist Wollen und Erkennen ein einziges Geschehen, so dass er das, was er aus sich selbst heraus will, also auch erkennt und insofern ist die Sache auch 111 112

TB 71. Vgl.TB 73.

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wahr.« 113 Anstatt einen voluntaristischen Standpunkt zu vertreten, dem zufolge der göttliche Wille dem Verstand übergeordnet wäre 114, lässt Descartes die göttlichen Vermögen des Willens und Erkennens in eins fallen. Sowohl deren trinitätstheologische Vermittlung bei Thomas als auch die neuzeitliche Tendenz, beide voneinander abzuspalten, werden nun ad acta gelegt. b) Descartes verstehe die Schöpferkraft Gottes in ihrer Absolutheit als zuhöchst wirksam. 115 Wenn Gott als »Ursache, deren Macht die Grenzen des menschlichen Verstandes übersteigt …« 116 betrachtet wird, dann übernehme er hier ein Verständnis von Effektivität, das vom antik-scholastischen Ursachenverständnis ebenso weit entfernt wie dem neuzeitlichen Geist verhaftet bleibt. 117 Erhellend sind aber vor allem die Argumente, mit denen Descartes die suarezische Konzeption konfrontieren will. Deshalb c). Im Unterschied zu dessen scholastischer Metaphysik lehnt Descartes 1630 jeden rationalen Zugriff auf Gott ab. Zwischen Gott und der ratio bestehe aber eine ganz eigentümliche Beziehung: »Im Gegenteil, wir können die Größe Gottes nicht erfassen, auch wenn wir sie kennen. Aber gerade die Tatsache, dass wir sie als unfassbar beurteilen, bewirkt, dass wir sie noch mehr zu schätzen lernen.« 118 Anders gesagt: »Ich sage, dass ich von ihm weiß und [ich sage] nicht, dass ich ihn begreifen oder erfassen würde«. 119 Zur Erläuterung bietet Descartes den Vergleich mit einem Baum, der zwar vom Menschen berührt, nicht jedoch umgriffen werden kann. Sich zeigen, sich aber dem Wunsch nach Repräsentation nicht beugen – darin liegt die spezifische Weise, wie sich Gott im Raum der Vernunft manifestieren soll. Sie lässt sich ferner im Ausgang der cartesischen realitates objectivae deutlich machen. Als solche wird mit »Gott« nur die Erfahrung einer ungeschuldeten, gleichwohl primären und umfassenden Gegebenheit im Bewusstsein benannt: »Die objektive Realität hat nicht mehr die Funktion des comprehendere Deum unter einem obR. Descartes, Correspondances, 149. Vgl. TB 285. 115 Vgl. a. »Die Erschaffung der ewigen Wahrheiten koinzidiert mit der Erschaffung unseres Geistes, und offenbart sich nur dann, wenn man über seinen geschaffenen Charakter nachdenkt, über die Endlichkeit, die ihm – genau genommen – verbietet, alles in Gott (und ihn selbst) zu sehen« (J.-L. Marion, »Création des verities éternelles. Principe de raison. Spinoza, Malebranche, Leibniz«, in: QC II 183–219, hier: 200). 116 R. Descartes, Correspondances, 150. 117 Vgl. TB 286 ff. 118 R. Descartes, Correspondances, 145. 119 Ebd., 152. 113 114

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jektiven ens – Begriff. Ihre Rolle besteht darin, zu verstehen zu geben, dass sie sich nur verstehen lässt, insofern sie selbst in einer formalen Realität – Gott selbst – enthalten ist, die sich nicht erfassen lässt.« 120 d) Von besonderer Aufschlusskraft ist schließlich die Absetzbewegung, die Descartes’ gegenüber dem mathematischen Gottesverständnis im Anschluss an Kepler kundtut. 121 Gegenüber Mersenne äußert der Gelehrte in einem Brief vom 16. April 1630 die Überzeugung, dass das mathematische Regelwerk keine Macht über den absoluten Gott habe. Würde man eine Abhängigkeit zwischen der Mathematik und Gott postulieren, dann fiele man in einen heidnischen Vielgötter- oder Schicksalsglauben zurück: »Es ist in der Tat so als würde man von Gott als einem Jupiter oder Saturn sprechen und ihn der Styx und dem Schicksal unterwerfen, wenn man sagt, dass diese Wahrheiten unabhängig von ihm seien.« 122 Anschließend erfasst er das Verhältnis zwischen Gott und den ewigen (mathematischen) Wahrheiten mit einem König und den Gesetzen, die er in seinem Land promulgiert: »Haben Sie also wirklich keine Angst, dafür öffentlich einzustehen, dass es Gott ist, der diese Gesetze in der Natur aufgestellt hat, so wie ein König die Gesetze seines Reiches aufstellt.« 123 Zu beachten sei aber, dass Gott – im Unterschied zu einem irdischen König – seine Gesetze nicht mehr rückgängig mache. Keinesfalls schaffe Gott in einem willkürlichen Sinne. 124 Vielmehr bringe er ja dezidiert ewige Wahrheiten hervor und setze diese als Grundlage der geschaffenen Natur ein, was sich fast wie eine Reminiszenz an die erwähnte Analogielehre des Thomas von Aquin ausnimmt. In der Tat: Ähnlich wie in der thomasischen Ablehnung der Univozität erklärt Descartes die in seiner Zeit virulenten Übergriffe menschlicher Vernunft aufs Göttliche für illegitim. In Anbetracht der geistesgeschichtlichen Leistung Descartes’ stellt Marion daher folgende Vermutung auf: »Würde sich Descartes – weit davon entfernt, wie ein Ikonoklast voranzuschreiten – nicht eher sich selbst als Einsamer,

TB 137. Vgl. »Während Mersenne den anekdotischen Gesprächspartner der Briefe von 1630 darstellt, scheint sich Descartes an die Theorie Keplers zu richten« (TB 202). 122 R. Descartes, Correspondances, 145; zur weiteren Auslegung dieser Motivik vgl. J.-L. Marion, »Dieu, le Styx et les destinées. Lettres à Mersenne de 1630«, in: QC II, 119–141. 123 R. Descartes, Correspondances, 145. 124 Vgl. TB 277. 120 121

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ohne Handwerkszeug oder Waffen, entdecken, wie ein Verlassener, der auf einem Ruinenfeld steht und eine unermessliche Aufgabe zu bewältigen hat – nämlich die, der erste christliche Denker zu sein, der der Namen-Gottes-Theologie und folglich der Analogielehre entbehren muss und das Geschaffene und Ungeschaffene, das Unendliche mit dem Endlichen zusammen denken muss?« 125 Die schillernde Nähe Descartes’ zur mittelalterlichen Analogielehre darf indes nicht den ungewöhnlichen Formalismus verdecken, der die Theologie von 1630 prägt und ihre spezifische Schwäche ausmacht. Offensichtlich proklamiert Descartes hier ja nur ein klares Nein gegenüber Theologien, die sich – in welcher Form auch immer – auf ein repräsentierendes Bewusstsein stützen wollen. Der Gelehrte verweigert sich allerdings auch jeder inhaltlichen Auskunft über das Unendliche, das dem erkenntnissuchenden Ich so radikal einwohnen soll. So bleibt Gott hier eine rein formale Kategorie, eine in ihrer Kausalität absolute, wiewohl völlig unbekannte Macht. Anders gesagt: Descartes hat eine weiße, besser: eine Blanko-Theologie entwickelt, weil für ihn Gott alles und zugleich nichts Bestimmtes bedeutet. Aus diesem Befund ergeben sich nun zwei entscheidende Konsequenzen: a) Wegen ihres entschieden vernunftkritischen Gehaltes darf die Lehre von 1630 nicht als Weigerung Descartes’, das wirkliche Leistungsvermögen der Vernunft anzuerkennen, fehlinterpretiert werden. Wie wären dann auch zu verstehen, dass der französische Philosoph in seinen Regulae noch eine hoch anspruchsvolle Wissenschaftstheorie erarbeiten wollte und dieses Projekt auch später neu in Angriff nimmt? 126 Das Descartesbild käme mit dieser überzogenen Interpretation in ein heilloses Durcheinander. Von da her betont Marion, dass die ewigen Wahrheiten, obgleich sie dem Bewusstsein von einer unfassbaren Macht äußerlich gegeben wurden, weiterhin für die Erschließung der endlich-kontingenten Wirklichkeit ausnahmslos gültig bleiben. Seiner Meinung nach würde Descartes sogar ihre Univozität für die endliche Ebene bekräftigen, wenn man insbesondere an die herrschaftliche Stellung der mens aus den Regulae erinnert. Weil damit aber der unfassbar-unendliche Gottesbegriff so eigenartig kontrastiert, deutet Marion die cartesische Position von 1630 als ein

TB 139. Vgl. v. a. R. Descartes, Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie (1637), Hamburg: Meiner 2013. 125 126

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Amalgam: Der »epistemologischen Univozität« werde eine »ontologische Äquivozität« aufgepfropft. 127 b) Wegen ihres entschieden vernunftkritischen Gehaltes stellt die Lehre von 1630 innerhalb der cartesischen Denkentwicklung selbst einen ausnahmevollen, gleichwohl einflussreichen Theoriekomplex dar. Dies sei vor allem mit Blick auf Descartes’ Meditationes de prima philosophia von 1641 zu betonen: Nach Marion sei hier die ›weiße Theologie‹ zu drei Gottesbegriffen weiter mutiert, die sich hinsichtlich des Status’ von Rationalität jeweils ganz unterschiedlich positionieren. Dabei scheint ihr das Argument aus der dritten Meditation am nächsten zu liegen, bei dem das Ich sein Geprägt-sein durch die Unendlichkeitsidee in Erfahrung bringt und sich von dort her seinen Weg in die Außenwelt bahnt. 128 Doch mit Descartes’ sogenanntem ontologischen Argument aus der fünften Meditation, in dem die Existenz Gottes aus dem apriorischen Vollkommenheitsgedanken gleichsam begriffsanalytisch deduziert wird und mit dem causa suiTheorem aus der ersten und vierten Responsion lässt sich weniger gut Konformität zu ihr herstellen. 129 Weil für die beiden letztgenannten Gottesbegriffe gilt, dass sich ein rational nachvollziehbares Prinzip (z. B. die universale Kausalität alles Wirklichen) völlig kongruent zum Gottesverständnis verhält, kann man sagen, dass Descartes seine Theologie von 1630 selbst wieder gehörig relativiert und seinen Durchbruch teilweise zurücknimmt. Zu den vielen Symptomen dieser Unentschiedenheit im cartesischen Denken gehört die sogenannte doppelte Onto-Theologie, die Marion 1986 in seiner dritten Studie Sur le prisme métaphysique de Descartes aus dem corpus cartesianum herauszuarbeiten sucht. Demnach würden ens ut cogitatum und ens ut causatum in den Schriften Descartes’ jeweils eine in sich stehende Seinslehre aufbauen. 130 Das cartesische Denken bleibe von dort her zutiefst antagonistisch.

TB 272. Vgl. a. die Bedeutung des cartesischen Argumentes für Lévinas: »Was für Lévinas in Descartes dritter Meditation entscheidend ist, ist das Transzendieren über die intentional-noematischen Strukturen hinaus. Dieses findet er in dem Erwachen zu der Verantwortung wieder.« (B. Casper, »Der Zugang zu Religion im Denken von Emmanuel Levinas«, Philosophisches Jahrbuch 1988, 268–277, hier 274). 129 Vgl. J.-L. Marion, »Esquisse d’une histoire des définitions de Dieu à l’époque cartésienne«, in: QC II 221–279, hier: 244. 130 Vgl. PM 130. 127 128

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Gegebenheit/Gebung und Descartes?

An mehreren Stellen dieser Übersicht zur »théologie blanche de Descartes« stach bereits das Thema der Gegebenheit/Gebung hervor, das der Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten im Ganzen ihr spezifisches Profil zu verleihen scheint. In der Tat: »Die Größe Gottes gibt sich zu erkennen, doch sie entzieht sich jeder Erfassung.« 131 Wenn der Habilitand Jean-Luc Marion so und anders herausstellt, dass dem Ego das Unendliche bekannt ist, dass es seiner Intelligibilität entzogen bleibt und sein Erkennen als Möglichkeitsbedingung trägt, dann liegt der entscheidende Bezug immer wieder auf der Kategorie »Gegebenheit/Gebung«, die als eine ursprüngliche und völlig freie Instanz zu verstehen ist. Was in diesem Kontext Freiheit bedeutet, zeigt sich bei einem erneuten Blick auf die zuletzt angeführte Königsmetapher. Marion interpretiert sie mit den folgenden Worten: »… genauer: die Gegenwart eines Königs bleibt nur unter der Bedingung majestätisch, dass sie sich nicht zu sehr verfügbar zeigt. In schlechthinniger Weise erscheint Gott nur in dem Maße als solcher, wie er nicht erfasst werden kann. Würde er sich erfassen lassen, dann könnte er sich nicht als Gott zu erkennen geben. […] Gott begründet jedes mögliche Erfassen, folglich entwischt er allem Erfassen, doch durch sein notwendig unfassbares Erscheinen wird er umso mehr als Grund der Rationalität erkennbar.« 132 Fährt Marion anschließend die Linien dieser Interpretation weiter aus, dann zeigt sich, wie sich die theologische Begriffskritik, die in dem ein Jahr später publizierten Dieu sans l’être entfaltet wird, am ›Klassiker Descartes‹ mit Leben füllen lässt. Zu berücksichtigen ist zunächst, dass Marion das Idol dort – ohne es schon wie in Étant donné 133 in seinem eigenen Status als Gegebenes zu entwerfen – als Selbstspiegelung der Vernunft versteht, in der sich Gott folglich in seiner sich gebenden Gegebenheit nicht manifestieren kann. Interessant ist dann aber, dass Marion diese Idolkritik schon im Anschluss an Descartes’ ›weiße Theologie‹ formulieren kann. Gemäß der Lehre von 1630 kann und darf »… Unfassbarkeit […] nicht überwunden werden, denn ohne sie würde das Unendliche selbst endlich werden. Das Kennen Gottes würde durch die Konstruktion eines Idols ersetzt werden.« 134 Soll – nach dem Descartes von 1630 – über den wirklichen Gott reflektiert 131 132 133 134

TB 279. Ebd. J.-L. Marion, Gegeben sei, 385 ff. (Étant donné, 319 ff.). TB 398.

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werden, dann also nur, indem sich die Vernunft letztlich selber aushebelt und Unfassliches denkerisch nachvollzieht bzw. ihre Begrifflichkeit angesichts des Unfasslichen aufbricht. Gefordert wird also auch hier eine ikonische Begrifflichkeit, in der sich das ursprüngliche Staunen vor der Gegebenheit/Gebung eintragen kann: »[…] in der Tat: wer behauptet, Gott mit einem Begriff anvisieren zu können, der muss diesen Begriff dem Anspruch dessen, was anzuvisieren ist, unterwerfen – ein Endpunkt, der sich widerspruchsfrei nur als undenkbar denken lässt.« 135 Aus der cartesischen Lehre von 1630 ließe sich also eine Philosophie der Gebung/Gegebenheit extrapolieren, insofern hier das gedacht wird, »… was sich zum Begreifen gibt, die menschlichen Erfassungsmöglichkeiten aber überschreitet.« 136

135 136

TB 280. TB 313 (Hervorh. T. A.).

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Von Kant zu Descartes und zurück Lilian Alweiss

Ein Thema, das Jean-Luc Marion schon seit Langem beschäftigt, ist die Frage, wie das Subjekt oder Ego als erstes Prinzip verstanden werden kann. Der Ausgangspunkt, um den er dabei stets aufs Neue kreist, ist Descartes’ cogito-Argument: »Ich denke, also bin ich«. Doch Marion interessiert sich hinsichtlich dieser Frage nicht allein für Descartes, sondern er stellt diesen vielmehr ausgehend von Kant, Husserl und Heidegger in ein neues Licht. Geprägt durch die phänomenologische Tradition und mit Blick auf deren Prinzip möchte er zeigen, dass ein Rückgang zu den Sachen selbst uns letztlich auch wieder zu Descartes’ ego cogito zurückführt. Dies mag zunächst verwundern, denn was die oben genannten Denker miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass Descartes’ cogito-Argument in ihren Augen nicht überzeugen kann. Ihr Einwand lautet, dass Descartes’ Substanzdualismus uns in einen Solipsismus führe oder zumindest in eine Situation bringe, in der ein Beweis für die Existenz der Welt allererst noch zu erbringen sei. Marions Anliegen besteht nun darin, deutlich zu machen, dass eine solche Kritik nicht haltbar ist, weil Descartes’ cogito sich nicht nur auf den Intellekt beziehe, sondern auch auf eine Gewissheit des Seins, die die Einheit von Geist und Körper mit ins Spiel bringe. Inspiriert von diesem Anliegen versucht der folgende Beitrag der Frage nachzugehen, inwiefern Marions neue und unorthodoxe DescartesInterpretation damit nicht auch zugleich Kants Kritik an Descartes infrage stellt. Ferner und daran anknüpfend soll dann in einem zweiten Schritt untersucht werden, ob sich nicht auch bei Kant eine ›neue‹ und ›unorthodoxe‹ Interpretation des Selbst finden ließe, die der von Descartes viel näher steht, als Kant selbst dies zugesteht. Mit anderen Worten: Wir wollen versuchen, Marions ›neuem‹ Descartes einen ›neuen‹ Kant gegenüberzustellen. Dies wird uns dann dazu führen, Marions Lesart von Descartes einer Neubewertung zu unterziehen. Denn es wird sich zeigen, dass Descartes letztlich mit Kant darin über79 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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einstimmt, dass die Verleiblichung des Geistes für unseren Begriff des Selbst nicht ausschlaggebend ist.

1.

Das cogito-Argument von Kant und Descartes

Kant setzt sich bekanntermaßen mit Descartes’ cogito-Argument in den »Paralogismen der reinen Vernunft« auseinander. 1 Dabei stellt er die Behauptung auf, dass Descartes einen syllogistischen Fehlschluss begehe, wenn er von der Tatsache, dass er denke, darauf schließt, dass er existiere. Es sind drei ineinander verschränkte Argumente, die Kant zu dieser Schlussfolgerung kommen lassen: 1.

Das erste Argument ist eher als ein intrinsisches zu bezeichnen, da es eng mit Kants Architektonik der reinen Vernunft verknüpft ist. Es resultiert aus seiner Auffassung: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (KrV, B 75). Das Denken allein sage also noch nichts über die Existenz aus, denn durch bloßes Denken lasse sich noch keine Existenz der Dinge herleiten. Descartes begehe hier folglich einen syllogistischen Fehlschluss, wenn er sage: »Ich denke, also bin ich.« Dabei bestehe das Problem nicht darin, dass Descartes das sum nicht logisch (syllogistisch) aus dem cogito 2 herleite oder das

Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass Kant dabei nur selten von Descartes selbst spricht, sondern viel eher von der Metaphysik im Allgemeinen. Explizit auf Descartes bezieht er sich nur im »Vierten Paralogismus der Identität« (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in 12 Bänden, Bd. IV, hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 [i. d. F. zitiert unter der Siegel KrV], A 366–379) sowie in der zweiten Auflage über die »Paralogismen der reinen Vernunft« (KrV, B 423, Anm.). Darüber hinaus wird Descartes in der »Widerlegung des Idealismus« erwähnt (KrV, B 274– 279), in der Kant die Frage aufwirft, ob mir das Bewusstsein meines eigenen Daseins in einer unmittelbareren Weise gegeben ist als das Dasein anderer Dinge außer mir. 2 Hierzu lohnt es sich, Descartes’ Antwort (auf die Einwände) zur Kenntnis zu nehmen (Neben den dt. Übersetzungen verweise ich auf die Ausgabe von Descartes’ Œuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Paris: Cerf 1897–1913, 13 Bde., resp. die Nouvelle édition complétée, Paris: Vrin-CNRS, 1964–1974, 11 vol. (= AT): »Wenn jemand sagt: ›ich denke, also bin ich, oder existiere ich‹, so leitet er nicht die Existenz aus dem Denken durch einen Syllogismus ab, sondern erkennt etwas ›durch sich selbst Bekanntes‹ durch einen einfachen Einblick des Geistes (mentis intuitus) an, wie sich daraus ergibt, dass, wenn er sie durch einen Syllogismus ableiten sollte, man vorher den Obersatz erkannt haben müsste: ›Alles, was denkt, ist oder existiert‹, während man vielmehr umgekehrt diesen erst daraus gewinnt, dass man bei sich erfährt, es sei unmöglich, zu denken ohne zu existieren. Denn es ist die Natur unseres Geistes, dass er die allgemeinen Sätze nur aus der Erkenntnis des Besonderen bildet.« (Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen 1

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2.

Denken einfach mit der Existenz gleichsetze (KrV, A 355) 3, sondern dass das ergo als konsekutive Konjunktion hier ebenso fehl am Platz sei wie die daraus resultierende Schlussfolgerung falsch sei. Denn alles, was wir haben, sei nur die Spontaneität des Denkens, dem es aber an der entsprechenden Anschauung mangele. Das zweite Argument besteht darin, dass Kant davon ausgeht, dass alles Denken im Grunde genommen reflexiv ist. Das denkende Subjekt kann niemals zu einem Objekt der Vorstellung gemacht werden, weil jede Vorstellung zwangsläufig zurückweist auf das Subjekt, das diese Vorstellung hat. Bekannt ist uns allein das empirische Ich, das in Zeit und Raum erscheint, niemals aber das transzendentale Ich, das sich darüber Gedanken oder irgendwelche Vorstellungen macht. Das »Ich denke« im Akt der Synthesis von Erfahrung kann niemals seine eigene Aktivität (das Selbstbewusstsein) bestimmen, sondern immer nur das, was anders ist als es selbst: sein empirisches Ich oder sonstige Objekte des Denkens. 4 Dies führt Kant dazu, zu behaupten, dass der Satz »ich existiere denkend« ein empirischer Satz ist (KrV, B 428). Selbsterkenntnis, nämlich das Wissen um mich selbst als ein denkendes Seiendes, kann nicht von innen heraus – nicht unmittelbar – erlangt werden, sondern nur dadurch, dass ich mich so sehe, wie andere mich sehen, nämlich als ein Objekt der Vorstellung. Oder mit Kant gesprochen: »… ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine.« (KrV, B 158) Kants Vorwurf an Descartes lautet also, dass dieser die logische Funktion des Denkens mit der »Anschauung meiner selbst als denkendes Objekt« verwechsle (KrV, B 406). Ihm sei nicht bewusst, dass wir von den formalen Bedingungen (die Kant als transzendentale ansieht) des

Einwänden und Erwiderungen. Übers. u. hrsg. von A. Buchenau, Hamburg: Meiner 1994, S. 127 f., (AT VII, 140 f.)) Kant begeht also einen modallogischen Denkfehler, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft, B 422, Anm., sagt: »Ich kann aber nicht sagen: alles, was denkt, existiert; denn da würde die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu notwendigen Wesen machen.« Er versäumt es, hier eine Unterscheidung zu machen zwischen der Aussage, dass notwendigerweise alles, was denkt, existiert, und der Aussage, dass alles, was denkt, auch notwendigerweise existiert. Die letztere Aussage nämlich beruht nicht auf einem Syllogismus. Daher lässt sich mit Bernard Williams also sagen: »Da nicht alle Schlüsse syllogistisch sind, bleibt auch die Möglichkeit offen, dass das cogito zu einer anderen Art von Schluss gehört« (B. Williams, Descartes: The Project of Pure Inquiry, Harmondsworth: Penguin 1978, 89). Und in der Tat, es kann auch als eine Explikation verstanden werden. 3 Dies ist eine Kritik, die Leibniz gegenüber Descartes geäußert hat. 4 »[…] so kann ich mein Dasein, als eines selbsttätigen Wesens, nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor …« (Kant, KrV, B 158 Anm.)

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3.

2.

Denkens nicht auf irgendeine Substanz des Denkens (die etwas Empirisches sei) rückschließen können (vgl. KrV, A 41, B 399 ff.). In seinem dritten Argument geht Kant davon aus, dass sogar die Erkenntnis meiner selbst als eines empirischen Seienden, das denkt, keine unmittelbare ist. Es gelte vielmehr, »dass selbst unsere innere, dem Cartesius unbezweifelte, Erfahrung nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich sei.« (KrV, B 275)

Der »neue« Descartes

Für Marion sind all diese Kritikpunkte nicht haltbar, da sie seiner Auffassung nach ins Leere gehen. 1) Bezogen auf den ersten Punkt und mit Verweis auf Jakoob Hintikka und Michel Henry hält er daran fest, dass der Übergang vom »Ich denke« zum »Ich bin, ich existiere« alles andere als problematisch sei. Es bestehe keinerlei Anlass, daran zu zweifeln, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Denken und Existieren gebe. Die Schlussfolgerung »Ich denke, also bin ich« scheint also nur dann inkonsistent zu sein, wenn wir sie als eine rein logische (Hintikka) oder theoretische (Marion) und nicht in einem existenziellen (Hintikka) oder ontologischen (Marion) Sinne verstehen. »Die berühmte Debatte um die Formulierung, um zu denken, muss man existieren«, so Marion, »hat zumeist den theoretischen Betrachtungen über das Wissen den Vorrang eingeräumt und darüber die ontologische Reichweite und den metaphysischen Status dieser Aussage vernachlässigt.« 5 Von Hintikka lernen wir, dass wir am cogito als erstem Prinzip festhalten können, sofern wir die Aussage ego cogito, ergo sum nicht als eine (theoretische) Schlussfolgerung verstehen, sondern als einen Akt oder eine performative Äußerung. Er sagt: »Daher besteht die Unbezweifelbarkeit dieses Satzes streng genommen nicht darin, dass sie auf dem Wege des Denkens erreicht wird (so, wie man sagen kann, dass die Unbezweifelbarkeit einer offensichtlichen Wahrheit besteht), sondern dieser Satz ist vielmehr unbezweifelbar deshalb und insofern, als er in einer aktiven Weise gedacht wird (…) Die Unbezweifelbarkeit meiner eigenen Existenz resultiert aus meinem Denken über sie, fast so, wie der Klang einer Musik daraus resultiert, dass sie gespielt wird, oder

5 J.-L. Marion, Cartesian Questions; Method and Metaphysics. Chicago: The University of Chicago Press 1999, 170, Anm. 25.

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(…) das Licht im Sinne einer Erhellung (lux) aus der Anwesenheit einer Lichtquelle (lumen) resultiert.« 6

Descartes gehe nicht nur einfach davon aus, dass Denken und Existenz gleichgesetzt werden können, vielmehr sei er sich, wenn auch noch nicht in aller Deutlichkeit, des »performativen Widerspruchs« und der »existenziellen Inkonsistenz« 7 einer Aussage, die da lauten würde: »Ich existiere nicht«, durchaus bewusst. 8 Mein Bewusstsein ist über jeden Zweifel erhaben, selbst wenn der Inhalt meines Bewusstseins gar nicht existiert. Ich kann die Aussage »Ich denke, also bin ich« nicht abstreiten, ohne mir selbst zu widersprechen. Denn in existenzieller Hinsicht ist sie wahr. Und in existenzieller Hinsicht hat Descartes also recht, wenn er sagt: »… sobald ich dagegen nur aufgehört hätte zu denken, selbst wenn alles übrige, das ich mir jemals vorgestellt habe, wahr gewesen wäre, ich doch keinen Grund mehr zu der Überzeugung hätte, ich sei gewesen.« 9 Solange ich denke, bin ich; sobald ich aufhöre zu denken, höre ich auch auf zu sein, so wie auch

J. Hintikka, »Cogito, Ergo Sum: Inference or Performance?«, in: W. Doney (Hg.), Descartes, NY: Anchor Books 1967, 108–139, hier 122. Hintikka und Marion behaupten, dass dies Descartes erlaube, den von Gassendi, Hobbes und Leibniz erhobenen Einwänden entgegenzutreten. Gassendi und Hobbes sind der Auffassung, dass Descartes’ metaphysische These, dass das ego cogito den Rang eines ersten Prinzips oder einer Substanz einnehme, unbegründet sei, da die Aussage ambulo, ergo sum (Ich gehe, also bin ich) für eine entsprechende Schlussfolgerung ebenso tauglich sei wie das cogito, ergo sum. (vgl. Hobbes’ und Gassendis Einwände gegen die Zweite Meditation, in: Descartes, Meditationen, S. 156, AT VII, 172, und S. 234, AT VII, 259) »(A)uch hättest Du denselben Schluss aus jeder beliebigen anderen Betätigung Deiner selbst ziehen können, da es nach natürlicher Einsicht (lumine naturali) bekannt ist, dass, was immer wirkt, auch existiert.« (Ebd., S. 234, AT VII, 259); dieselbe Stelle wird auch von Hintikka, (»Cogito, Ergo Sum«, 112) zitiert. Leibniz dagegen behauptet, dass die Aussage »ich denke, also bin ich« uns einen falschen Syllogismus liefert, der auf dem Enthymem beruht, dass »alles, was denkt, ist oder existiert« (ebd., S. 127 f., AT VII, 140). Sein Argument lautet diesbezüglich: »Denn wenn man sagt: Ich denke, also bin ich, so heißt dies nicht eigentlich das Dasein durch das Denken beweisen, denn denken und denkend sein ist ganz dasselbe, und wenn man sagt: ich bin denkend, so sagt man damit schon: ich bin.« (G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers., eingel. u. erläutert von E. Cassirer, Hamburg 1971, IV, 7, 487.). 7 Vgl. J. Hintikka, »Cogito, Ergo Sum«, 118. 8 Ebd., 121. 9 R. Descartes, Discours de la Méthode / Von der Methode, übers. u. hrsg. von L. Gäbe, Hamburg: Meiner, 55, AT VI, 32 f. 6

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die Musik zu ihrem Ende kommt, wenn das Orchester aufhört zu spielen. 10 Zu denken heißt folglich zu sein. 11 2) Was das zweite Argument Kants betrifft, stellt Marion heraus, dass Descartes im Unterschied zu Kant überzeugend darlegen kann, dass nicht jedes Denken reflexiv ist. »Und ebenso [ist es ein Widerspruch], wenn er [scil. der Verfasser des Einwandes] sagt, es genüge nicht, dass eine Substanz denkend ist, um über die Materie erhaben und ganz geistig zu sein (denn nur das will er als Geist bezeichnet wissen); sondern es sei außerdem erforderlich, dass sie durch eine reflexive Tätigkeit denkt, dass sie denkt, oder ein Bewusstsein ihres Denkens besitzt – dann faselt er ebenso wie der Maurer, wenn er sagt, der, der sich auf die Baukunst versteht, müsse durch eine reflexive Tätigkeit betrachten, dass er dieses Verständnis besitzt, bevor er ein Baukünstler sein könne.« 12

Descartes meine mit cogito nicht ein cogito me cogitare, sondern er beziehe sich damit vielmehr auf ein Denken, das der Reflexion vorausliege. Es gibt eine »unmittelbare Erkenntnis, die der reflexiven immer vorangeht« 13. 3) Und was schließlich den dritten Kritikpunkt angeht, so ist es Marion vor allem darum zu tun, deutlich zu machen, dass sich Descartes’ cogito-Argument nicht zwingend auf etwas rein Geistiges und vom Körper Losgelöstes bezieht. Dabei kann er sich auf Passagen in Descartes’ Werk stützen, aus denen deutlich hervorgeht, wie zentral die Verleiblichung des Geistes für die Selbsterkenntnis ist. Entscheidende Indizien für diese These lassen sich nach Marion darin finden, dass Descartes das Denken nicht allein auf die Vernunft oder den Intellekt begrenze, sondern dieses auch als eine Form der inneren Wahrnehmung bzw. des Empfindens begreife: »Denn dass ich es bin, der zweifelt, der einsieht, der will, das ist so offenbar, dass es durch nichts noch augenscheinlicher gemacht werden kann. Ich bin aber doch auch derselbe Ich, der ich etwas in der Einbildung habe; denn wenngleich etwa, wie ich angenommen habe, nichts von dem, was sich der Ebd., 128. Hintikka ist daher auch der Ansicht, dass »Descartes zwar das Wort cogito in dem Satz cogito, ergo sum durch andere Wörter ersetzen könnte [z. B. velle oder videre, L. A.], nicht aber die Performanz, in der sich für ihn die Unbezweifelbarkeit einer solchen Aussage offenbart« (J. Hintikka, »Cogito, Ergo Sum«, 139). 12 Descartes, Meditationen, 491, AT VII, 422; auch zitiert in J.-L. Marion, Cartesian Questions, 104. 13 Descartes, Meditationen, 366, AT VII, 422; auch zitiert in Marion, Cartesian Questions, 104). 10 11

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Einbildung darstellt, wahr ist, so besteht doch diese Kraft der Einbildung wirklich und macht einen Teil meines Bewusstseins aus. Schließlich ist es derselbe Ich, welcher wahrnimmt, d. h. welcher die körperlichen Dinge als durch die Sinne gegeben bemerkt. Ich sehe doch offenbar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme; aber nein – das ist doch falsch, denn ich schlafe ja. Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das ist es eigentlich, was an mir empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist ein Bewusstsein.« 14

Wenn also Descartes sage, »aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte«, so behaupte er damit zugleich, dass selbst dann, wenn sich dies alles nur als trügerischer Schein herausstellen sollte, gleichwohl »die Unmittelbarkeit des videor, des ›es scheint mir‹« 15, nicht infrage gestellt werden könne. Ich kann keinen Zweifel an meinem Bewusstsein haben, auch wenn ich den Inhalt meines Bewusstseins anzweifeln kann. Das angeführte Zitat deutet zudem auch darauf hin, dass Descartes immer dann, wenn er sich auf das cogito bezieht, damit nicht einfach nur etwas rein Geistiges meint (nämlich die kognitive Fähigkeit eines Seienden, das denkt), da dieses cogito ein sinnliches Bewusstsein mit einschließt. Das sinnliche Bewusstsein ist also bereits eine Form des Denkens. Ich kann das Licht sehen, den Lärm hören und die Hitze spüren, auch wenn es sich herausstellen sollte, dass ich nur geträumt habe. Descartes hält fest: »So macht die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe die Natur der körperlichen Substanz aus und das Denken das Wesen der denkenden Substanz. […] Alles, was wir im Geist antreffen [die Einbildungskraft, oder die Sinnlichkeit, oder den Willen], (sind) nur verschiedenartige gedankliche Zugriffe (tantum diversi modi cogitandi).« 16 »Unter der Bezeichnung ›Denken‹ verstehe ich alles, was auf bewusste Weise in uns geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu unserem Bewusstsein gehört. Deshalb ist nicht nur Einsehen, Wollen, Vorstellen, sondern sogar Empfinden (sed etiam sentire) hier dasselbe wie Denken.« 17

Diese Position ist nicht unproblematisch. Denn wenn das sinnliche Bewusstsein zum Denken gehört, dann scheint Descartes einzuräumen, dass es gewisse innere Zustände gebe, die sich weder eindeutig R. Descartes, Meditationen, 22, AT VII, 29; auch zitiert bei Hintikka, »Cogito, Ergo Sum«, 138. 15 J.-L. Marion, Cartesian Questions, 106. 16 R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, 59, AT VIII/1, 25. 17 Ebd., 17, AT VIII/1, 7. 14

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der Substanz des Geistes (res cogitans) noch derjenigen der Materie (res extensa) zuordnen ließen. Ein Beispiel dafür ist die folgende Passage aus den Prinzipien: »Hingegen erfahren wir in uns noch etwas anderes, das weder allein auf den Geist, noch allein auf den Körper bezogen werden kann, und das […] von der engen und innigen Vereinigung unseres Geistes mit dem Körper herstammt, nämlich die Antriebe durch Hunger, Durst usw.; und ebenso die Erregungen, bzw. Gemütsbewegungen, die nicht allein im Denken bestehen, wie die Erregungen zum Zorn, zur Heiterkeit, zur Traurigkeit, zur Liebe usw.; schließlich alle Empfindungen wie Schmerz, Kitzel, Licht und Farben, Geräusche, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Härte und andere aus der Berührung mit dem Objekt entspringenden Qualitäten.« 18

Es gibt also bestimmte Empfindungen, die aus der Einheit von Geist und Körper hervorgehen. Entscheidend ist dabei nicht, dass wir Augen oder eine Nase brauchen, um zu sehen oder zu riechen, oder dass wir ein Gehirn benötigen, um Informationen zu empfangen und zu verarbeiten, denn dies alles würde noch nichts darüber aussagen, wie sich unsere kognitive Fähigkeit von unseren Empfindungen unterscheidet. Descartes’ Argument ist weitaus subtiler. Denn was das Wesen einer Sinneswahrnehmung 19 ausmache, sei, dass sie eine physiologische Aktivität oder etwas Körperliches zur Voraussetzung habe, das etwas anderes sei als Zweifeln, Bejahen, Verneinen oder Wollen, die alle auf »reine Tätigkeiten der Seele« zurückverweisen und die auch statthaben können, ohne dass dafür etwas Physiologisches ins Spiel kommen müsse. Um aber die Hitze zu spüren und den Schmerz zu empfinden, brauchen wir einen Körper. Und daher können auch nur körperliche Dinge Empfindungen haben. 20 In einer viel zitierten Passage der VI. Meditation schreibt Descartes: Ebd., 54 f., AT VIII/1, 23. Dasselbe gilt für die Einbildungskraft. Bei beiden, so wird uns gesagt, »handelt es sich um eine besondere Weise des Denkens (modus cogitandi)«, insofern sie eine physiologische Aktivität zur Voraussetzung haben (nämlich die der Zirbeldrüse). Vgl. Descartes, Gespräch mit Burman, übers. u. hrsg. von H. W. Arnt, Hamburg: Meiner. 60 f., AT V, 162 f.) Ich werde mich in diesem Beitrag allerdings auf die Rolle der Sinneseindrücke beschränken. 20 Descartes meint mit körperlichen Dingen natürlich den Menschen. Für ihn steht fest, dass Gott kein Körper ist. Körperlose Dinge (wie Gott oder Engel) haben für ihn demnach auch keine Empfindungen (vgl. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, hg. v. Ch. Wohlers, Hamburg: Meiner, 31, AT VIII/1, 13) und ebenso gilt, dass Tiere »nicht so sehen, wie wir sehen, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass wir sehen« (ders., Brief an Plempius für Fromundus vom 3. 10. 1637, AT I, 413). Sie sind wie 18 19

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»Denn sonst würde ich [d. h. wenn das Ich mit dem Körper keine Einheit bilden würde, A. L.], der ich nur ein denkendes Ding bin, nicht, wenn mein Körper verletzt wird, darum Schmerz empfinden, sondern ich würde diese Verletzung nur durch bloßes Denken erfassen, wie der Schiffer durch das Gesicht wahrnimmt, wenn irgendetwas am Schiffe zerbricht, und ich würde alsdann, wenn der Körper der Speise oder des Trankes bedarf, eben dies in bestimmter Weise denken, ohne dabei die verworrenen Hunger- oder Durstempfindungen zu haben. Denn es sind doch sicherlich diese Empfindungen des Hungers, Durstes, Schmerzes usw. nichts anders als gewisse, aus der Vereinigung und gleichsam Vermischung des Geistes mit dem Körper entstandene Weisen des Bewusstseins.« 21

Es gibt also Empfindungen, die die Einheit von Geist und Körper erfordern. Ein bloßes Urteil im Denken könnte uns niemals offenbaren, »wie es ist« – um hier eine Wendung von Thomas Nagel zu gebrauchen 22 –, Schmerz und Hunger zu empfinden. »Der menschliche Geist, der vom Körper getrennt ist«, so schreibt Descartes im August 1649 an More, »kennt streng genommen keine Empfindung.« (AT V, 402) Daraus wird deutlich, dass ein Ding, das denkt, nicht notwendigerweise auch Empfindungen haben muss. 23 Nur von Gott geschaffene Kreaturen, die auch einen Körper haben, können etwas empfinden. Empfindungen sind daher Modi des Denkens, nicht aber Wesensattribute des Denkens. 24 Nun gibt es unterschiedliche Wege, wie diese verschiedenen Textpassagen ausgelegt werden können. Die übliche Lesart ist, dass Descartes selbst immer wieder klar gegen seinen eigenen Dualismus verstoße, da dieser dem kausalen Zusammenspiel von Geist und Körper nicht gerecht werde. 25 Jedoch sieht hier Descartes, wie schon R. C. Automaten. Sie »erkennen« und empfinden nicht, was sie auf mechanische Weise wahrnehmen. 21 R. Descartes, Meditationen, S. 69 f., AT VII, 81. 22 Vgl. Nagel: »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: ders., Über das Leben, die Seele und den Tod, übers. von K-E. Prankel und R. Stoecker, Königstein/Ts.: Hain: 1984. 23 Descartes hebt dies ausdrücklich hervor, wenn er sagt, dass ein körperloses Ding (z. B. Gott) keine Empfindungen haben kann (vgl. Descartes, Prinzipien, 31, AT VIII/ 1, 13). 24 Dasselbe gilt auch für die Einbildung, vgl. oben Anm. 10. 25 So spricht z. B. Bernard Williams vom »Skandal des cartesianischen Interaktionismus« (Williams, Descartes: The Project of Pure Inquiry, 287), und Gilbert Ryle beklagt, dass die »wechselseitigen Beziehungen zwischen Geist und Körper Verbindungen involvieren, wo keine Verbindungen sein dürfen« (Ryle, The Concept of Mind, New York: Barnes and Noble 1949, 10, 66).

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Richardson gezeigt hat, keinerlei Grund zur Besorgnis. 26 Denn die Annahme, dass der Dualismus dadurch in Frage gestellt wird, basiert nur auf einem Missverständnis. In einem Brief an Prinzessin Elisabeth erklärt sich Descartes dazu näher, indem er sagt, dass man sich irrt, »wenn man sich der Vorstellungskraft bedienen will, um die Natur der Seele zu begreifen, oder wenn man die Art und Weise, wie die Seele den Körper bewegt, aus derjenigen begreifen will, wie ein Körper durch einen anderen bewegt wird.« (Brief an Elisabeth, 21. Mai 1643, S. 265, AT II, 666) Wir liegen also falsch, wenn wir das Zusammenspiel der beiden Substanzen aus der Sicht des Körpers verstehen wollen, denn dann vergleichen wir dieses Zusammenspiel von Geist und Körper mit den kausalen Beziehungen, wie wir sie aus dem Bereich der Physik kennen. Da aber die mechanische Verursachung eine Funktion der körperlichen Ausdehnung ist und der Geist per definitionem nicht ausgedehnt ist, ist ein solcher Vergleich unzulässig. Wenn wir also am besagten Dualismus festhalten wollen, dürfen wir das Zusammenspiel von Geist und Körper nicht im Sinne eines physikalischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs verstehen. 27 Wir irren uns aber ebenso, wenn wir die Einheit von Geist und Körper allein vom Stand-

Vgl. R. C. Richardson, »The ›Scandal‹ of Cartesian Interactionism«, in: Mind. New Series, 92 No. 361 (1982), 20–37. Meine eigene Lesart Descartes’ (und wie ich glaube auch die von Marion) wurde maßgeblich durch diesen Artikel inspiriert (vgl. dazu auch J.-L. Marion, Sur la pensée passive de Descartes, Paris: PUF 2013: 35, 94). 27 Dies ist Descartes’ Antwort auf die Einwände von Pierre Gassendi vom 16. Mai 1641: »(D)och bleibt noch zu erklären, wie diese ›Verbindung und gewissermaßen Vermischung‹ oder ›Verschmelzung‹ Dich berühren kann, wenn Du unkörperlich, unausgedehnt und unteilbar bist. Wenn Du nämlich nicht ausgedehnter als ein Punkt bist, wie kannst Du mit dem ganzen Körper verbunden werden, der von so bedeutender Größe ist […] Wenn Du überhaupt keine Teile hast, wie kannst Du Dich vermischen, oder gewissermaßen vermischen mit den Teilchen eines Teiles von ihm? Es gibt nämlich keine Mischung ohne mischbare Teile beiderseits. Und wenn Du ganz getrennt bist, wie kannst Du Dich verschmelzen und eine Einheit mit der Materie selbst bilden? Und wenn es überhaupt eine Zusammensetzung, Verbindung oder Einheit unter Teilen gibt, muss dann nicht ein Verhältnis unter den Teilen dieser Art bestehen? Doch was für eine lässt sich denn zwischen einem körperlichen und einem unkörperlichen Teile begreifen?« (Descartes, Meditationen, 316, AT VII, 283) Descartes antwortet darauf, dass ein solcher Vergleich unzulässig sei: »So genügt es hier, wo Du die Vermischung von Geist und Körper mit der Vermischung zweier Körper vergleichen willst, wenn ich antworte: es darf zwischen solchen Dingen kein Vergleich angestellt werden« (ebd., 355, AT VII, 390; vgl. Richardson, »The ›Scandal‹ of Cartesian Interactionism«, 23). 26

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punkt des Geistes aus begreifen wollen: »(Nach) meiner Meinung (ist) der menschliche Geist nicht fähig, sehr deutlich und zu gleicher Zeit den Unterschied zwischen Seele und Körper und ihre Vereinigung zu begreifen, weil man sie dafür zugleich als ein einziges Ding und als zwei begreifen muss, was sich widerspricht.« 28 Wenn wir also beide als unterschieden denken, können wir sie nicht mehr als eines – als ein substanzielles Ganzes – denken. Von dem rein geistigen Standpunkt aus betrachtet verstricken wir uns damit in einen Widerspruch. Das Zusammenspiel von Geist und Körper kann folglich weder nur aus der Sicht des Geistes noch allein aus der des Körpers erklärt werden. Und dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass wir dieses Zusammenspiel tatsächlich erfahren. Um es aber auch zu begreifen, müssen wir uns von der Natur unterweisen lassen: »Da ist aber nichts, was diese [scil. die Natur] ausdrücklicher lehrte, als dass ich einen Körper habe, welcher sich schlecht befindet, wenn ich Schmerz empfinde, welcher der Speise und des Trankes bedarf, wenn ich Hunger oder Durst leide und dergleichen. Ich darf demnach nicht daran zweifeln, dass hierin eine gewisse Wahrheit liegt. Es lehrt mich ferner die Natur durch eine Empfindung des Schmerzes, Hungers, Durstes usw., dass ich nicht nur in der Weise meinem Körper gegenwärtig bin, wie der Schiffer seinem Fahrzeug, sondern dass ich aufs engste mit ihm verbunden und gleichsam vermischt bin, so dass ich mit ihm eine gewisse Einheit bilde.« 29

Was die körperliche Erfahrung des Schmerzes von der Erfahrung eines Seemanns unterscheidet, der sein Schiff in Augenschein nimmt, um es auf irgendwelche Schäden zu überprüfen, ist die Tatsache, dass die eine eher eine innere und die andere eher eine äußere (aus der Beobachtung herrührende) Erfahrung ist. Ich spüre innerlich, was in meinem Körper vor sich geht, wohingegen der Seemann nur von außen beobachtet, was mit seinem Schiff los ist. Die Sinne erstatten mir nicht nur Bericht über den Körper, insofern er als bloße res extensa betrachtet wird. Sie geben mir Rückmeldung über meinen menschlichen Körper, so wie ich ihn von innen heraus spüre, indem ich mein Schmerz bin. Und dies erklärt auch, warum wir die Einheit von Geist und Körper weder nur mechanisch noch rein verstandesmäßig begreifen können. Es ist vielmehr so, dass die Dinge, die der 28 29

R. Descartes, Brief an Elisabeth, 28. Juni 1643, S. 272, AT III, 693. R. Descartes, Meditationen, 69, AT VII, 81.

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Vereinigung von Geist und Körper zugehören, »sich nur dunkel durch das Begriffsvermögen allein, auch nicht nur das von der Vorstellungskraft unterstützte Begriffsvermögen erkennen (lassen), sondern sie werden sehr deutlich durch die Sinne erkannt.« 30 Dies führt Descartes zu der Schlussfolgerung, dass wir auf die Sinne und nicht auf den Verstand zurückgreifen müssen, um die Vereinigung von Geist und Körper zu begreifen. Dies ist wohl das erste (und das einzige) Mal, dass hier nach Descartes’ Auffassung die Empfindungen über den Verstand triumphieren. Nur über die Empfindung kann also die substanzielle Einheit verstanden werden. 31 In seinen Briefen an Elisabeth erklärt uns also Descartes, dass wir das Zusammenspiel von Geist und Körper anhand von »primitiven« bzw. »ursprünglichen« Begriffen verstehen müssen, nämlich ausgehend von einem, der nur den Geist, dann eines zweiten, der nur den Körper, und schließlich eines dritten, der die Vereinigung von Geist und Körper betrifft. Der letztere Begriff ist ein sinnlicher – und er ist primitiv bzw. ursprünglich deshalb, weil er sich weder auf den Geist noch auf den Körper zurückführen lässt. Wir irren uns also, »wenn wir einen dieser Begriffe durch einen anderen erklären wollen; denn als ursprüngliche kann jeder von ihnen nur aus sich selbst verstanden werden.« 32 Von daher kann man das Zusammenspiel von Geist und Körper weder aus dem Blickwinkel des Geistes noch aus dem des Körpers begreifen. Aus Marions Sicht bereitet Descartes damit den Weg für eine Unterscheidung, die innerhalb der phänomenologischen Tradition (und vor allem jener, die von einem verleiblichten Bewusstsein spricht) eine zentrale Bedeutung gewinnt, insofern diese nämlich nun explizit zwischen dem gegenständlichen Körper, im Sinne der res extensa, und dem lebendigen Leib unterscheidet. 33 Der gegenständliche Körper ist ein solcher, der von außen betrachtet werden R. Descartes, Brief an Elisabeth, 26. Juni 1643, 271, AT III, 691 f. (Die Zitation erfolgt über: Briefe (1629–1650), hrsg., eingel. u. mit Anmerkungen versehen von M. Bense; übers. von F. Baumgart, Köln/Krefeld: Staufen-Verlag; gefolgt von einem Verweis auf die Adam-Tannery-Ausgabe). 31 Vgl. A. Simmons, »Guarding the Body: A Cartesian Phenomenology of Perception«, in: P. Hoffman, G. Yaffe (ed.), Contemporary Perspectives on Early Modern Philosophy, Broadview Press 2008, 81–113, hier 107; und Richardson, »The ›Scandal‹ of Cartesian Interactionism«, 57. 32 R. Descartes, Brief an Elisabeth, 21. Mai 1643, 265; vgl. Richardson, »The ›Scandal‹ of Cartesian Interactionism«, 25. 33 J.-L. Marion, Sur la pensée passive de Descartes, Paris: PUF, 2013, 71 ff. 30

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kann, so wie ein Seemann sein Schiff von außen betrachtet; er hat bestimmte Maße, eine besondere Farbe, ein exaktes Gewicht und eine spezielle Struktur. Die Erfahrung des eigenen Leibes hingegen bezieht sich auf unser sinnliches Bewusstsein, das unmittelbar mit unseren kinästhetischen Empfindungen und der Wahrnehmung der mit ihnen verknüpften Reize verbunden ist und nur von innen erfahrbar ist. So ist zum Beispiel das sinnliche Bewusstsein meines Leibes ein anderes, wenn ich bewegt werde (etwa dadurch, dass mich jemand im Rollstuhl schiebt), als wenn ich mich selbst bewege (Ich selbst bin es, der rennt) oder etwas bzw. jemanden berühre (Ich streichle jemanden). Entscheidend für Marion ist nun, dass der lebendige Leib damit aufs Engste mit unserem Begriff des Selbst verbunden wird, da ich ihn zwangsläufig als etwas erkenne, das zu mir gehört. 34 Descartes schreibt dazu: »Auch hatte ich wohl einen Grund, wenn ich annahm, dass der Körper, den ich mit einem gewissen besonderen Rechte als den meinen bezeichnete, mir mehr zugehörte als alles andere. Ich konnte mich nämlich niemals von ihm trennen, wie von den übrigen Körpern, ferner fühlte ich alle Begehrungen und Affekte in ihm und für ihn, schließlich aber nahm ich den Schmerz und den Kitzel der Lust in seinen Teilen, nicht aber in anderen außer ihm befindlichen wahr.« 35

Es gilt zu beachten, dass Descartes immer dann, wenn er sich auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, dabei verschiedene Arten der Bewegung im Blick hat (vgl. (Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, 605, AT VIII/1, 316). 35 R. Descartes, Meditationen, S. 65, AT VII, 75 f. Alison Simmons bemerkt dazu: »Die Beziehung zwischen den körperlichen Empfindungen und meinem Körper ist eine ausgesprochen innige. Es sind vermutlich diese körperlichen Empfindungen, durch die ich einen Körper in besonderer Weise als den meinen oder sogar und in erster Linie als einen Teil von mir selbst erkenne. Körperliche Empfindungen verleihen dem Körper, in dem sie auftreten, ein phänomenologisches Gefühl des Sichselbst-Besitzens und der Selbstidentität« (Simmons, »Guarding the Body«, 90). Simmons kann tatsächlich überzeugend aufzeigen, wie die Sinne in vielerlei Hinsicht gewissermaßen als die Hüter des Körpers auftreten, insofern wir über unsere sinnlichen Empfindungen darüber informiert werden, ob sich unser eigener Körper gut oder schlecht fühlt, ob er Nahrung oder Pflege braucht usw. Die sinnlichen Empfindungen stehen also folglich nicht nur in einem Bezug zu uns, sondern sie dienen unserer Selbsterhaltung. Oder mit Descartes gesprochen: »Denn da ich weiß, dass alle Empfindungen mir in Betreff dessen, was dem Körper nützlich ist, weit häufiger das Wahre als das Falsche anzeigen […] brauche ich nicht fernerhin zu fürchten, dass das von den Sinnen mir täglich Dargebotene falsch sei.« (Descartes, Meditationen, S. 77, AT VII, 89; vgl. ferner Simmons, »Guarding the Body«, 110 und ferner Simmons, 34

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Descartes beruft sich hier auf ein verleiblichtes Bewusstsein, das notwendigerweise meines ist und daher auch nur von innen wahrgenommen werden kann. Und tatsächlich bezieht er sich dabei auf einen Gesichtspunkt in der 1. Person, der von niemand anderem vertreten werden kann. Nur ich kann den Schmerz in meinem Finger spüren, wenn ich ihn in die Flamme halte. Ich beobachte nicht nur das Feuer, wie es meine Fingerspitze verbrennt, ich spüre den Schmerz in meinem Finger. Es ist mein Schmerz, ein Schmerz in meinem Körper, den niemand anders an meiner Stelle erleben oder fühlen kann. MerleauPonty macht dies an folgendem Beispiel deutlich: »›Mein Fuß tut mir weh‹ – das heißt nicht: ›Ich denke, mein Fuß ist Ursache des Schmerzes‹, sondern: ›Der Schmerz kommt vom Fuß‹ oder einfacher noch: ›Mein Fuß schmerzt‹.« »Der Leib ist«, wie Merleau-Ponty auch sagt, »das Subjekt der Wahrnehmung«. 36 Die Beziehung zwischen meinen körperlichen Empfindungen und meinem Selbst ist also eine überaus enge, die sich als eine Art Selbstbesitz, Ichheit und Selbstidentität zu erkennen gibt. Sie macht den Körper zu meinem Leib. Es scheint so, als hätte Descartes geahnt, dass hier eine Art Disanalogie besteht zwischen einem Sich-Wissen in der 1. Person und anderen Weisen der Bezugnahme, die sich im Wahrnehmen gründen. Daher macht er auch deutlich, dass es sich in dem Zusammenspiel von Geist und Körper nicht um eine dritte Substanz handeln kann 37, »Sensible Ends: Latent Teleology in Descartes’ Account of Sensation«, in: Journal of the History of Philosophy, 39/1 (2011), 49–75, hier 56). 36 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter, 1966, 149, 243, vgl. 263. Mit Bezug auf Descartes stellt Merleau-Ponty fest: »So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt. Das wusste Descartes sehr wohl, wie es jener berühmte Brief an Elisabeth zeigt [Brief vom 28. Juni 1643, L. A.], in dem er unterscheidet zwischen dem Leib, wie er im Umgang des Lebens aufgefasst ist, und dem Leib, wie der Verstand ihn erfasst.« (ebd., 234) Wie Sara Heinämaa zu Recht herausgestellt hat, so übernimmt Husserl Descartes’ Begriff der substanziellen Einheit gerade nicht, sondern führt stattdessen den Begriff »Ausdrucksleib« ein (vgl. S. Heinämaa, »Selfhood, Consciousness, and Embodiment: A Husserlian Approach«, in: Consciousness From Perception to Reflection in the History of Philosophy. Studies in the History of Philosophy of Mind, Vol. 4(2007), 311–328. 37 Paul Hoffman und Ted Schmaltz vertreten zum Beispiel, dass ihre Einheit eine Art dritte Substanz hervorbringt (vgl. P. Hoffman, »The Unity of Descartes’s Man«, in: Philosophical Review 95(1984), 339–370; T. Schmaltz, »Descartes and Malebranche on Mind and Mind-Body Union«, in: The Philosophical Review 101(1992), 281–325.

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sondern vielmehr um eine substanzielle Einheit, deren Zusammensetzung nur auf eine adverbiale Weise verstanden werden kann, was nichts anderes bedeutet, als dass sie nur von innen her erfahren werden kann – wir erfahren sie, wenn wir Schmerz, Hunger, Durst und Freude empfinden. Wenn wir Schmerzen haben, uns schämen, glücklich oder ängstlich sind, an etwas herummäkeln oder von etwas gelangweilt sind, so ist es uns unmöglich, eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was dabei Gegenstand der Erfahrung und was Selbsterfahrung ist. Die jeweiligen Gefühle und Stimmungen bestimmen die Art und Weise, in der wir sind, also unsere Seinsweise. Descartes lässt es offen, ob er die Verleiblichung tatsächlich als entscheidend für die Selbsterkenntnis erachtet. Und genau hier knüpft Marion in seiner Descartes-Interpretation an. Ihm liegt daran zu zeigen, dass das Empfinden grundlegend für die Selbsterkenntnis ist, da nur das Empfinden zu einer Ich-Identität und zu einem Selbstbesitz führt. Marion schließt daraus, dass das Empfinden fundamentaler ist als das Denken, wenn es um die Selbsterkenntnis geht. Bevor wir also sagen können »Ich denke, also bin ich«, sagen wir bereits »Ich empfinde, (also) ich bin«. Eine Stütze für dieses Argument lässt sich in der Tatsache finden, dass Descartes sein cogito-Argument »Ich denke, also bin ich« in den Meditationen nicht mehr verwendet, so wie er es vier Jahre zuvor in seinem Discours de la Méthode 38 noch getan hatte, sondern jetzt nur noch sagt: »ego sum, ego existo« – »Ich bin, Ich existiere«. 39 Es ist hier nicht nur die Schlussfolgerung weggefallen, sondern auch das Denken selbst wird ausgeschlossen. Für Marion weist dies darauf hin, dass es etwas Grundlegenderes gibt als den Verstand, nämlich die Tatsache, dass wir empfindende und verleiblichte Wesen sind. Der Beweis dafür liege darin, dass unser sinnliches Bewusstsein die Ipseität unseres Selbst erst hervorbringe. Im Unterschied zu Verstand und Einbildungskraft sei überhaupt nur das sinnliche Bewusstsein reflexiv im eigentlichen Sinne. Denn wenn ich einen Baum berühre, so spüre ich sowohl den Baum als auch mich selbst, wie ich den Baum berühre. Ich affiziere mich selbst. Das Berühren, aber auch jede andere Form des sinnlichen Erfassens, weist auf mich selbst zurück. Ich spüre nicht nur einfach etwas, sondern ich empfinde unweigerlich auch immer mich selber beim Spüren von etwas, d. h. ich empfinde, 38 39

»[I]ch denke, also bin ich« (Descartes, Discours de la Méthode, 53, AT VI, 32). R. Descartes, Meditationen, S. 18, AT VII, 25.

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dass ich spüre. Und genau dies führt Marion zu dem Schluss, dass das »Ich spüre/empfinde« grundlegender ist als das »Ich denke«. Es sollte daher auch nicht heißen »Ich denke, also bin ich«, sondern »Ich spüre/empfinde, also spüre/empfinde ich, dass ich spüre/empfinde, also dass ich bin oder existiere: Jedes Spüren/Empfinden impliziert ein ego [cogito] sum« 40. Wir können daraus also den Schluss ziehen, dass die von Kant geäußerte Kritik Descartes gar nicht trifft, weil sich dessen erstes Prinzip in Wirklichkeit auf ein Wissen, Empfinden und Tun bezieht, das vom reflexiven Bewusstsein unterschieden werden muss. Die Gewissheit meiner Existenz ist nicht das Ergebnis einer Reflexion, logischen Deduktion oder Schlussfolgerung; sie ist aber ebenso wenig etwas, wie Kant meint, das wir nur voraussetzen, aber niemals wissen können, denn ihr eigentliches Fundament ist die Existenz selbst: Sie bezieht sich vielmehr auf ein Bewusstsein oder intuitives Erfassen, das nicht hinterfragt werden kann und das das reflexive Bewusstsein allererst ermöglicht.

3.

Der »neue« Kant

In derselben Weise, wie uns Marion (Hintikka und Henry 41) die Augen dafür geöffnet hat, einen »neuen« Descartes zu entdecken, so lässt sich – und dies zu zeigen ist mein Anliegen – bei näherer Betrachtung der »Paralogismen der reinen Vernunft« erkennen, dass auch Kant eine existenzielle Lesart des cogito-Arguments vertritt. Dabei gilt es freilich zu bemerken, dass seine an Descartes geübte Kritik – dass es diesem nämlich nicht gelungen sei, allein vom Denken auf das Sein zu schließen – scheinbar nur für die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft gegolten hat. In ihr wird von Kant noch behauptet, dass Descartes sich nicht deshalb irre, weil er das Ich als eine Substanz oder als Seele (res cogitans) voraussetze (vgl. KrV, A356, A 365, A 546 f.), sondern weil er annehme, dass eine solche Substanz auch erkennbar sei: »Man kann den Satz: die Seele ist Substanz gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet: dass dieser unser Begriff nicht im mindesten weiter führe […], dass er also nur eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realität bezeichne.« 40 41

J.-L. Marion, Sur la pensée passive de Descartes, 2013: 128. Vgl. bspw. M. Henry, »Critique of the Subject«, in: Topoi 7(1988), 147–153.

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(KrV, A 350 f.) Weil es ihr an einer entsprechenden Anschauung fehle, bleibe die Substanz eine »bloße reine Kategorie« (KrV, A 349) oder ein »nackter Verstandesbegriff« (KrV, A 401). In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft geht Kant dieses Problem auf eine andere Weise an, wie dies Rolf Horstmann auf überzeugende Weise dargelegt hat. Das eigentliche Problem bestehe für ihn nun nicht mehr darin, dass wir das Ich nicht als Substanz erkennen könnten, sondern dass das »Ich denke« niemals als eine Sache (res) betrachtet werden dürfe und wir es stattdessen vielmehr als eine Handlung (bzw. in Descartes’ Terminologie als Tätigkeit) begreifen sollten. 42 Solange das »Ich denke« als stellvertretend für die Substanz aufgefasst wird, werden wir nur einen Begriff des Ich gewinnen, der problematisch bleibt (vgl. KrV, B 406). Sobald es aber als eine Handlung verstanden wird, kommt darin ein »ontologischer« oder existenzieller Begriff des Ich zum Vorschein, der in vielerlei Hinsicht eine Nähe zu Descartes’ Begriff des Ich aufweist, wie wir ihn oben entwickelt haben. Bei näherer Betrachtung des Textes zeigt sich also, dass Kant schon frühzeitig erkannt hat, dass das »Ich denke« mehr sein muss als nur ein logisches Subjekt. 43 Dies ist auch der Grund dafür, weshalb er von der »Apperzeption« spricht, was wörtlich nichts anderes bedeutet als eine Wahrnehmung, die mit jeder unserer Vorstellungen einhergeht oder sie begleitet. Der Begriff suggeriert, dass ich die Identität meines Ich durch die Zeit hindurch und entlang meiner Vorstellungen, der Vorstellung meiner selbst in Zeit und Raum eingeschlossen, irgendwie wahrnehme und tatsächlich auch erfahre. Kant deutet dies zumindest an, wenn er behauptet, dass unsere Perspektive, wie sie aus der numerischen Identität der Apperzeption resultiert, auf kuriose Weise inexistent bleibt, solange keine synthetisierende Tätigkeit stattfindet. Das »Ich« muss als ein notwendiges Korrelat der Erfahrung verstanden werden, denn losgelöst und unVgl. R.-P. Horstmann, »Kants Paralogismen«, in: ders., Bausteine kritischer Theorie. Arbeiten zu Kant, Bodenheim: Philo 1997, 79–107, hier 96. Auch wenn zwischen der ersten und der zweiten Auflage der KrV eine gewisse Diskrepanz erkennbar ist, so lassen sich dennoch auch schon in der ersten Auflage erste Hinweise auf diese Lesart finden. Die Zitate, die ich aus der Transzendentalen Deduktion entnommen habe, machen dies hinreichend deutlich. 43 Bei Kant lassen sich viele Passagen finden, die nahelegen, dass die Eigenschaften, die mir als dem Bezugspunkt des »Ich« im »Ich denke« zugeschrieben werden, rein logische sind (vgl. KrV, A 350; B 407 f.; A 363), weil sie völlig inhaltsleer sind. 42

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abhängig von ihr ist es nichts (was allgemein für alle denkenden Wesen gilt). Dies deutet darauf hin, dass ein Ich-Bewusstsein sich allererst mittels der Erfahrung einstellt, oder genauer gesagt, erst durch dessen synthetisierende Tätigkeit hervorgerufen wird. Man wird sich seiner als tätig bewusst. Das folgende Zitat macht deutlich, um was genau es hier geht: »Durch dieses Ich […] wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können« (KrV, A 346; B 404).

Die Identität des Subjekts ist keine vorgegebene und sie entsteht auch noch nicht dadurch, »dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite, sondern dass ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin. Also nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen [d. h. durch sie hindurch, L. A.] selbst vorstelle« (KrV, B 133).

Das numerisch identische Subjekt ist nicht vorgegeben, sondern entsteht und kommt zum Vorschein durch seine eigene Spontaneität der Synthesis und Verknüpfung der jeweiligen Vorstellungen miteinander. Daher kann es auch kein »Ich denke« geben, das unabhängig von seiner synthetisierenden Tätigkeit besteht. 44 Es bezieht sich auf das Vermögen zu denken, d. h. zu urteilen. Das »Ich denke« oder die »transzendentale Einheit der Apperzeption« hat keine andere Funktion und auch keinen anderen Status als den der vereinigenden Tätigkeit. Aussagen wie diese scheinen von dem rein logischen Argument wegzuführen. Denn Kant macht hier eine existenzielle Aussage, nämlich dass wir das Subjekt nicht nur formal als ein notwendiges Korrelat der Erfahrung setzen, sondern dass das Ich nur durch seine synthetisierende Tätigkeit hervorgerufen werden kann. Ähnlich wie Descartes scheint auch Kant hier anzudeuten, dass dieses Ich nur in und durch seine eigene Tätigkeit existiert und nicht als ein Ding – als res oder Substanz. Nichts anderes ist wohl gemeint, wenn Kant sagt:

44 »(D)ie analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.« (KrV, B 133).

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Das »Ich existiert nur in der Tat« (vgl. KrV, B 422, Anm.). 45 Wenn ich verschiedene Ereignisse in der Zeit beobachte, so bin ich mir nicht nur dieser verschiedenen Ereignisse, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden, bewusst, sondern ich bin mir auch dessen bewusst, dass das »Ich«, das sich über sie Gedanken macht, identisch bleibt. Das Ich wird sich seiner selbst bewusst und kommt durch die Verknüpfung der verschiedenen Vorstellungen zum Vorschein. Obwohl das »Ich«, das ich erfahre, keine bestimmte »Anschauung des Subjekts als Objekt« (KrV, B 421) mit einschließt, kommt hier doch ein gewisser Erfahrungswert ins Spiel, insofern die synthetisierende Tätigkeit mein Selbstbewusstsein hervorbringt und daher auch zur Existenz bringt. Wir werden uns selbst nur in und durch diese Tätigkeit des Denkens bewusst (vgl. KrV, B 408). Kant ist sich also zweifellos darüber im Klaren, dass es nicht nur eine logische Notwendigkeit ist, die uns dazu zwingt, einen Gedanken einem denkenden Subjekt zuzuschreiben, sondern dass wir uns tatsächlich auch als ein Subjekt unserer Gedanken und Vorstellungen erfahren. Die Frage ist nur, wie sich diese Erfahrung aufweisen lässt. Die folgende Passage, die häufig als dunkel und inkohärent bezeichnet wird, 46 macht deutlich, um was es hier geht: »Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewusst, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.« (KrV, B 157)

Daraus lernen wir drei Dinge: 1) Das Bewusstsein meiner selbst ist ein Denken und keine Anschauung. 2) Es lässt sich nicht als »Objekt« des Denkens erfassen, weil das »Ich«, das ich erfahre, keine bestimmte »Anschauung des Subjekts als Objekt« (KrV, B 421) impliziert. 3) Dieses Bewusstsein meiner selbst gründet sich oder besser ereignet sich durch die Spontaneität eines Urteils oder Denkens.

Hier zeigt sich eine Nähe zu der Aussage Fichtes: »Das Ich beginnt allein durch das Tun« (J.-G. Fichte, The Science of Knowledge (Wissenschaftslehre), übers. Health und Lach, New York: Appleton-Century Crofts 1970, 81. 46 So vor allem von P. Strawson, The Bounds of Sense. An Essay on »Kant’s Critique of Pure Reason«, London: Routledge 1966, aber auch von I. Hacker, »I and Myself«, in: Wittgenstein. Meaning and Mind. An analytical commentary on the Philosophical Investigations, Oxford: Basil Blackwell 1990, Vol. III, 472–512, hier 475. 45

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Es zeigt sich also eine Disanalogie in der Art an, wie wir uns selbst als Subjekt unserer Erfahrung erfahren, und in der Art, wie wir Objekte erfahren, die in der sinnlichen Wahrnehmung gegründet sind. Wir können uns selbst nicht auf dieselbe Art und Weise als Subjekt denken, wie wir Objekte denken (vgl. z. B. KrV B 422). Und dennoch haben wir ein Bewusstsein unserer selbst als Subjekt des Denkens. Oder wie Kant dazu bemerkt: Ich mag zwar »keine Erkenntnis von mir (haben), wie ich bin« (KrV, B. 158), da keine Anschauung gegeben ist, die mich als solches heraushebt, aber ich habe dennoch ein Bewusstsein davon, dass »ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewusst ist« (KrV, B 158 f.). Was das Ich auszeichnet, ist also seine synthetisierende Aktivität. Das Bewusstsein davon kann allerdings nicht ausgesagt werden, denn es beruht nicht auf dem Schluss oder dem Urteil der Identität. Vielmehr sei, so Kant, »bewiesen worden, dass der Begriff eines Dinges, was für sich selbst als Subjekt, nicht aber als bloßes Prädikat existieren kann, noch gar keine objektive Realität bei sich führe, d. i. dass man nicht wissen könne, ob ihm überall ein Gegenstand zukommen könne […] folglich dass es schlechterdings keine Erkenntnis abgebe.« (KrV B 412) Die Unterscheidung, die hier herausgestellt wird, ist die zwischen dem Bewusstsein unserer selbst und dem Erkennen unseres Selbst. Oder wie Kant es formuliert: Ich kann mich selbst nur in der Vorstellung erkennen, nämlich bloß so, »wie ich mir selbst erscheine. Das Bewusstsein seiner selbst ist also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst.« (KrV, B 158) Um sich selbst zu erkennen, bedarf es einer Anschauung, die den Stoff für die Bestimmung des Subjekts liefert. Solange diese aber nicht gegeben ist, um mich als solchen herauszuheben, bin ich mir selbst »bloß« bewusst. Ich bin mir über die »Spontaneität (des Bestimmenden in mir, L. A.) nur bewusst […] Ich kann mein Dasein, als eines selbsttätigen Wesens nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor […] Doch macht diese Spontaneität, dass ich mich Intelligenz nenne.« (KrV, B. 158, Anm.)

4.

Kant und über Kant hinaus: Das Bewusstsein des Selbst

Von welcher Art Erfahrung reden wir hier? Die Antwort darauf ist nicht einfach. Wir haben gezeigt, dass das Bewusstsein meiner selbst 98 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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noch lange keine Erkenntnis meiner selbst ist, solange diese nicht mit einer inneren Anschauung meiner selbst verbunden ist. Wenn Kant behauptet, dass ich nicht daran zweifeln kann, dass ich bin, dann bezieht sich diese Tatsache nicht auf etwas, worauf wir zeigen können; sie gründet nicht in einem Wissen, das auf eine Beobachtung zurückgeht. 47 Ich kann auf mich selbst verweisen, aber alles, was dabei sichtbar wird, ist nur mein Körper, seine Gestalt, seine Bewegungen und die Geräusche, die er von sich gibt, doch das, was vom Standpunkt einer dritten Person nicht »sichtbar« wird, ist mein Bewusstsein, dass ich bin, mein Gewahrwerden dessen, dass ich lebe. Kant ist der Auffassung, dass diese Wahrnehmung in der Handlung bzw. Tätigkeit des Denkens liegt. Sie stellt sich in und durch dessen synthetisierende Tätigkeit ein, nämlich insofern ich die unterschiedlichen Vorstellungen miteinander verbinde, vergleiche und verknüpfe. Interessant ist, dass Kant, ähnlich wie Descartes, in diesem Zusammenhang auf eine Art Gefühl verweist, wenn er sagt, dass das transzendentale Subjekt sich dabei auf das »Gefühl eines Daseins ohne den mindesten Begriff« 48 bezieht. Was wir fühlen, sei unsere eigene Spontaneität des Denkens und damit auch die Identität und dauerhafte Beständigkeit des Subjekts. Diese Behauptung ist nicht unproblematisch. Wir sagten, dass eine Wahrnehmung des Selbst aus der Handlung bzw. Tätigkeit des Denkens hervorgehe. Kant behauptet aber zudem, dass »man nicht einmal sagen kann, dass sie [die gänzlich leere Vorstellung: Ich, L. A.] ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet.« (KrV, A 346/B 404) Legt dies nicht den Gedanken nahe, dass das Selbstbewusstsein weder ausgesagt noch gedacht werden kann? Es scheint so, als ob das »bloße« Bewusstsein oder Gewahrwerden meiner Faktizität, die schlichte Tatsache, dass ich im Akt des Denkens bin und existiere und tatsächlich auch lebe, nicht nur eine reine Vorstellung sein könnte. Oder anders gesagt: Die Tatsache, dass ich diese Vorstellung bin, kann nicht nur gedacht sein, sondern muss sich auch auf etwas beziehen, das intuitiv gewusst, d. h. wahrgenommen wird. Denn letztlich fühlen oder nehmen wir doch den Akt des Wie bei Fichte, der eine Unterscheidung trifft zwischen Tatsachen und Tathandlungen (vgl. Fichte 1970, The Science of Knowledge (Wissenschaftslehre), übers. Health und Lach, New York: Appleton-Century Crofts, 1970, 99. 48 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Werke in 12 Bänden, Bd. V (Schriften zur Metaphysik und Logik), hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, § 46, A 136, Anm. 47

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Denkens wahr. Dies aber legt dann den Gedanken nahe, dass der Akzent nicht nur auf der Spontaneität des Denkens liegen kann, wie Kant behauptet, sondern in gleicher Weise auch auf der Affektivität liegen muss. Die Affektivität, um die es dabei geht, ist aber von einer ganz besonderen Art. Es geht in ihr nicht darum, dass wir durch ein Objekt, das von uns unterschieden ist und sich irgendwie außerhalb von uns befindet, affiziert werden. Ganz im Gegenteil, in ihr werden wir von etwas affiziert, das identisch ist mit unserem Selbst oder unserem Denken. Wir affizieren uns selbst durch unsere eigene Spontaneität. Es gibt hier keine Distanz zwischen dem Selbst und dem Objekt. Mein eigenes Sein und das Objekt sind identisch. Nichts anderes ist gemeint, wenn es heißt, dass wir uns selbst als denkend »empfinden« oder »wahrnehmen«. Auch wenn Kant darauf insistiert, dass der Bezug zu einem Selbst rein geistiger Natur ist, dessen »Vorstellung ein Denken (ist), nicht ein Anschauen« (KrV, B 157), so wird nun deutlich, dass er auch zu etwas bestehen muss, das angeschaut bzw. empfunden oder wahrgenommen werden kann. Das »Ich denke« bezieht sich auf eine »unmittelbare Anschauung« 49. Doch was hier wahrgenommen wird, ist nicht ein Objekt der Anschauung, das von mir unterschieden ist (also keine äußere Anschauung), sondern vielmehr gilt hier, dass ich mit dem Objekt und das Objekt mit mir identisch ist. Das aber kann nur von innen empfunden werden. Und dies genau ist auch der Grund, weshalb Kant behaupten kann, dass es sich hier um ein Denken und nicht um eine Anschauung handelt. Ich nehme meine Spontaneität dadurch wahr, dass ich diese Spontaneität bin. Dennoch wird damit suggeriert, dass das Denken letztlich das hervorbringen kann, was sich gibt. Es scheint so, als hätten wir damit die Grenzen der Kant’schen Philosophie erreicht. Denn in vielerlei Hinsicht wird deutlich, dass Kant nicht bereit ist, sich für eine solche Erfahrung zu öffnen. Mit Nachdruck insistiert er darauf, dass durch bloßes Denken allein kein Objekt des Denkens hervorgebracht werden kann. Denn ein solches Objekt muss von mir unterschieden sein, mir gegeben sein, und ich muss umgekehrt dazu in der Lage sein, es zu empfangen (vgl. KrV, B 135). Dies ist, was Kant meint, wenn er sagt: »Gedanken ohne Inhalt sind leer« (KrV, B 75), und dies ist es auch, was unsere Endlichkeit bestimmt (KrV, B 72). Unsere »Anschauungsart, die darum sinn49

I. Kant, Prolegomena, § 12, A 56.

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lich heißt, weil sie nicht ursprünglich […], sondern von dem Dasein des Objekts abgeleitet (ist), mithin nur dadurch, dass die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird […] sie ist abgeleitet (intuitus derivativus), nicht ursprünglich (intuitus originarius)« (KrV B 72). Was uns zu endlichen Wesen macht, ist, dass der Inhalt (d. h. die Anschauungen) unserer Gedanken niemals von uns hervorgebracht werden kann, sondern notwendigerweise gegeben sein muss. 50 Wenn wir jedoch von Selbstbewusstsein sprechen, so beziehen wir uns dabei auf die Erfahrung eines Objekts, das mit uns selbst identisch ist; eines, das nicht gegeben, sondern von uns hervorgebracht wird. Dies scheint den Gedanken nahezulegen, dass die Tätigkeit bzw. Handlung des Denkens nicht ein bloßes »Denken« ist, sondern auch auf irgendeinem Wege zu einer »Anschauung« führen muss. Diese Anschauung aber ist dann nicht mehr »gegeben«, »abgeleitet« oder abhängig von einem Objekt, das vom Denken unterschieden ist, sondern sie ist ein intuitus originarius insofern, als das Objekt des Denkens identisch ist mit der Tätigkeit bzw. Handlung des Denkens selbst und daher auch von dieser nicht unterschieden werden kann. 51 Kant streitet dies, was merkwürdig erscheint, nicht ab, beharrt aber dennoch darauf, dass es sich hierbei um eine andere Art von Erfahrung handele, nämlich eine solche, die eher unbestimmt als bestimmt sei. Dazu schreibt er: »Er [der Satz »Ich denke«, L. A.] drückt eine unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung, aus Genau dies ist auch der Grund, weshalb Kant den absoluten bzw. spekulativen Idealismus eines Fichte und Hegel ablehnt. Denn tatsächlich wird es vor allem Fichte darauf ankommen, zu zeigen, dass der letzte Ursprung allen Seins im Ich liegt. 51 Johann Gottlieb Fichte geht von diesem Gedanken aus, wenn er von der »intellektuellen Anschauung« spricht. Wir haben eine unmittelbare Anschauung von der Tätigkeit bzw. Handlung des Denkens (vgl. Zur theoretischen Philosophie I, Berlin: Verlag von Veit und Comp. 1845, SW 1, S. 522). Für Fichte ist diese gleichzusetzen mit dem Objekt: »Das Bewusstsein ist zugleich beides, Objekt und Subjekt, das heißt […] es zeigt sich als unmittelbares Bewusstsein.« (zitiert nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1962 bis 2012, 42 Bände, Stuttgart: Fromman-Holzboog (= GA), hier GA IV. 2, 30) Die Wurzeln für diese Behauptung lassen sich bereits bei Kant finden und es kann daher auch nicht überraschen, dass Fichte den Anspruch erhob, Kants Philosophie zu ihrer Vollendung zu führen. »Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, dass mein System kein anderes sey als das Kantische: Das heisst: es enthält dieselbe Ansicht der Sache, ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig von der Kantischen Darstellung.« (SW 1, S. 420). 50

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(mithin beweiset er doch, dass schon Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existenzialsatz zum Grunde liege)« (KrV, B 423, Anm.). Es gibt hier also eine Anschauung, die dem Satz »Ich denke« zugrunde liegt, aber sie bleibt genau deshalb unbestimmt, weil sie niemals zu einem Objekt des Denkens gemacht werden kann. Um zu verstehen, weshalb diese Anschauung notwendigerweise unbestimmt bleibt, müssen wir uns Kants »Widerlegung des Idealismus« in Erinnerung rufen, in der er behauptet, dass die Bestimmung meiner selbst in der Zeit (innere Erfahrung) eine äußere Erfahrung verlangt, nämlich die Existenz von Dingen, die außerhalb von uns sind (KrV, B 275). 52 Dies aber würde dann umgekehrt bedeuten, dass, wenn wir eine innere Erfahrung, nämlich ein Bewusstsein unserer selbst ohne äußere Erfahrung haben, dann ein solches Bewusstsein notwendigerweise auch unbestimmt bleiben müsste. Und insofern könnte auch das »Ich denke« nichts anderes als nur »eine unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung« zum Ausdruck bringen (KrV, B 423, Anm.) 53. Die innere Erfahrung an sich kann uns nichts liefern, was irgendeinen dauerhaften Bestand haben könnte. Ähnlich verhält es sich, wenn wir uns auf das transzendentale Ich beziehen. Auch hier verweist Kant auf eine innere Wahrnehmung. Dabei ist allerdings nicht mehr die innere Wahrnehmung meiner Vorstellungen gemeint, sondern die innere Wahrnehmung, die alle meine Vorstellungen begleitet. 54 Kant charakterisiert sie folgendermaßen: »Das ›Ich denke‹ […] geht aber vor der Erfahrung vorher, die das Objekt der Wahrnehmung durch die Kategorie in Ansehung der Zeit bestimmen soll, Ich schließe mich hier den Überlegung von Dina Emundts an, »Die Paralogismen und die Widerlegung des Idealismus in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54/2(2006), 295–309. 53 Dabei gilt es zu bemerken, dass Kant der Auffassung ist, wir könnten zwar eine innere Erfahrung ohne äußere Erfahrung haben, nicht jedoch eine äußere Erfahrung ohne innere Erfahrung. Der Grund dafür liege darin, dass alle Erscheinungen wertlos seien, solange es von ihnen kein Bewusstsein gebe (vgl. Paton, Kant’s Metaphysics of Experience, London: Unwin 1976, 421). Dies bedeutet, dass die Vielfalt der Anschauungen, die der äußeren Erfahrung gegeben ist, auch zu einer inneren Erfahrung werden muss, damit es überhaupt ein Bewusstsein von irgendetwas geben kann. Der Grund dafür ist nach Kant folgender: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt (KrV B 50/ A 34, Hervorhebung L. A.). 54 Vgl. D. Emundts, »Die Paralogismen«, 304. 52

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und die Existenz ist hier noch keine Kategorie, als welche nicht auf ein unbestimmt gegebenes Objekt, sondern nur ein solches, davon man einen Begriff hat, und wovon man wissen will, ob es auch außer diesem Begriff gesetzt sei, oder nicht, Beziehung hat. Eine unbestimmte Wahrnehmung bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst (Noumenon), sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satze, ich denke, als ein solches bezeichnet wird.« (KrV, B 423, Anm.)

Das »Ich denke«, das alle meine Vorstellungen begleitet, kann sich selbst erfassen. Die Art jedoch, wie es sich selbst erfasst, unterscheidet sich von der, wie es empirische Gegenstände erfasst. Es ist keine empirische Vorstellung; und es ist auch kein Objekt des Denkens: »Denn es ist zu merken, dass, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung« (ebd.). Eine empirische Vorstellung kann es deshalb nicht sein, weil keine ihm entsprechende Anschauung gegeben ist. »(V)ielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört.« (ebd.) Dennoch aber kann ich das »Ich denke« als ein solches wahrnehmen, das alle meine Vorstellungen begleitet. Es gibt hier also eine empirische Wahrnehmung (innere Erfahrung) des Denkens meiner selbst. Anders allerdings als die empirische Anschauung der empirischen Vorstellungen fällt sie nicht unter die Kategorie der Realität, sondern verweist auf eine präkategoriale und unbestimmte Wahrnehmung. Wir haben es also hier nicht mehr nur mit einem logischen Subjekt zu tun. Denn diese Wahrnehmung ist zwar, wie Kant in dem angeführten Zitat herausstellt, grundsätzlich unbestimmt, »bedeutet« aber hier »etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst (Noumenon), sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satze, ich denke, als ein solches bezeichnet wird.« (KrV, B 423, Anm.) Eine Anschauung findet hier also tatsächlich statt, auch wenn diese Anschauung von einer etwas merkwürdigen Art sein mag. Sie ist nicht von mir unterschieden und wird auch nicht durch die äußere Erfahrung vermittelt, sondern sie ist vielmehr identisch mit dem Akt des Denkens selbst. Das »Ich denke« ist eine kategorial unbestimmte und auch nicht bestimmbare Wahrnehmung, die überhaupt erst im Akt des Denkens selbst entsteht. Darum ist sie auch »rein intellektuell« und nichtsdestotrotz gleichwohl »real« und »gegeben«, d. h. intuitiv wahrnehmbar! Kant fügt jedoch hinzu, dass 103 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Lilian Alweiss

sie nur real sei in einem Akt der Synthesis, nämlich wenn sie alle meine Vorstellung begleite: »Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden« (ebd.). Er entsteht nur in der Synthesis der empirischen Vorstellungen, und ohne diese Vorstellungen existiert auch kein »Ich denke«. Diese von uns vorgenommene Lesart findet sich in der folgenden Passage am Ende der »Paralogismen der Vernunft« bestätigt, wenn Kant sagt: »Der Satz aber, Ich denke, so fern er so viel sagt als: ich existiere denkend, ist nicht bloße logische Funktion, sondern bestimmet das Subjekt (welches denn zugleich Objekt ist) in Ansehung der Existenz, und kann ohne den inneren Sinn nicht stattfinden. […] In ihm ist also nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Rezeptivität der Anschauung, d. i. das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung eben desselben Subjekts angewandt.« (KrV, B 429 f.)

Nun lässt sich auch die oben entfaltete Aussage Kants verstehen, nach der das »Ich« erst durch seine synthetisierende Tätigkeit zur Erscheinung kommt bzw. überhaupt erst entsteht. Es bringt sich selbst durch einen »Actus der Spontaneität« (KrV, B 131) hervor. Es ist das, was im Akt des Denkens von etwas »in der Tat existiert« 55 (KrV, B 423, Anm.) und von diesem Akt selbst nicht zu unterscheiden ist. 56 Das »Ich denke« verschafft mir eine Erkenntnis über mein Dasein als ein spontanes Ich (B 157, Anm.; B 423 Anm.). Die Erkenntnis, die ich erlange, ist nicht die eines »Objekts«, sondern einer Tätigkeit, nämlich die meiner eigenen Spontaneität. Oder wie Kant es formuliert: Ich bin mir nicht bewusst, »wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin.« (KrV, B 158) Die Art des Bewusstseins, die das Subjekt im Denken von sich selbst gewinnt, ist also in grundsätzlicher Weise von dem passiven Bewusstsein zu unterscheiden, das wir von den Objekten und von uns selbst als Vorstellung haben. Denn dieses Bewusstsein gründet in meiner Tätigkeit des Denkens, die sich notwendigerweise auf die Diese Wendung ist nicht ganz unproblematisch, da sie auch einfach nur im Sinne von »tatsächlich« bzw. »in Wirklichkeit« verstanden werden könnte. 56 Fichte greift diesen Gedanken auf und bemerkt dazu: »Es (scil. das Ich) ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird (…) So wie es sich setzt, ist es, und so wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig.« (SW I, 96 f.). 55

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Erfahrung bezieht. Und die mit dieser Tätigkeit verbundene eigene Perspektive kann nicht von einem Standpunkt in der 3. Person eingenommen werden. 57 Sobald ich versuche, die Tätigkeit meines Denkens zu beobachten, habe ich die Perspektive der 1. Person, die dieser Tätigkeit zugrunde lag, bereits verlassen und sie zu einem Objekt der Wahrnehmung gemacht, in dem ich sie nur noch als eine Art Darbietung betrachten kann. Dadurch erfahre ich mich aber nicht länger mehr als jemanden, der etwas hervorbringt, sondern der selbst hervorgebracht wird. Es kommen nun also erstaunliche Parallelen zwischen Descartes und Kant zum Vorschein: Kant bestätigt in gewisser Weise Descartes’ cogito-Argument mehr, als dass er es in Frage stellt. Er scheint mit Descartes einverstanden zu sein, dass der eigentliche Kern des cogitoArguments darin besteht, dass wir uns selbst in und durch die Tätigkeit des Denkens (die eine Art spontane Erkenntnis ist) unmittelbar bewusst sind und dass dieses charakteristische Merkmal unseres Selbstbewusstsein immer dann verloren geht, sobald unser Bewusstsein zu einem reflektierenden oder beobachtenden Bewusstsein wird. Und was dies betrifft, scheinen Kant und Descartes einer Meinung zu sein: Denken heißt existieren. Aber mehr noch: Ganz entsprechend zu Descartes versteht Kant diese Gleichsetzung in einem performativen Sinne. Denn so wie Descartes sagt: »Und so komme ich […] schließlich zu der Feststellung, dass dieser Satz: ›Ich bin, ich existiere‹, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist« 58, so behauptet auch Kant: »Ich existiere in der Tat«. Für beide liegt die Wahrheit ihrer jeweiligen Aussage im Vollzug des Denkens selbst und behält ihre Gültigkeit auch nur innerhalb der Performanz seines Aktes. Ihre unterschiedlichen Positionen scheinen von daher keineswegs so weit auseinanderzuliegen, wie Kant uns dies glauben machen möchte. Trotz dieser aufgezeigten Nähe scheint allerdings ein entscheidender Unterschied bestehen zu bleiben: Denn wie wir gezeigt haben, ist Marion der Auffassung, dass für Descartes das Denken sich auf eine Art Empfindung beziehe, die nur für verleiblichte Wesen gelte. Denn das Entscheidende für eine Sinneswahrnehmung sei, dass sie Und nicht einmal Gott könne dies, wie Fichte betont (vgl. Fichte GA I 3, 245; SW 2, 443). Auf diese Einsicht zielt genau auch Descartes, wenn er sagt, dass Gott mich niemals darüber täuschen kann, dass ich denke. 58 Descartes, Meditationen, S. 18, AT VII, 25. 57

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nach einer physiologischen Aktivität oder etwas Körperlichem verlange, im Gegensatz zum Zweifeln, Bejahen, Verneinen oder Wollen, die alle auf »reine Tätigkeiten der Seele« zurückverweisen und die auch statthaben können, ohne dass dafür etwas Physiologisches ins Spiel kommen müsse. Dies ist auch der Grund, weshalb nur körperliche Dinge Empfindungen haben können. Empfindungen sind daher für Descartes Modi des Denkens, nicht aber Wesensattribute des Denkens. Kant dagegen scheint diesbezüglich in seiner Aussage weiter zu gehen, denn er hat gezeigt, dass die Empfindung insofern eine grundlegende Eigenschaft des Denkens ist, als wir uns notwendigerweise als denkend empfinden bzw. wahrnehmen. Nicht also gilt: »Ich nehme wahr, daher nehme ich mich als wahrnehmend wahr und also bin ich und existiere ich«, sondern es muss heißen: »Ich denke, daher nehme ich mich selbst als denkend wahr und also bin ich und existiere ich«. Das Wesen des Denkens besteht folglich darin, dass es selbstreferenziell ist. Hier (wie aber auch sonst bei Kant) sind es also keineswegs die Sinne, die den Verstand ausstechen, wenn es darum geht, das Selbstbewusstsein in seinem Wesen zu begreifen, und dies, wie ich glaube, aus gutem Grund.

5.

Die Antwort Kants

Es gilt in erster Linie zu begreifen, warum wir nach Kant zwischen einem verleiblichten Selbstbezug und einer Selbstreferenzialität, die dem Verstand zugeschrieben wird, unterscheiden müssen. Kant würde wohl zustimmen, wenn wir sagen, dass das empirische Selbstbewusstsein notwendigerweise ein verleiblichtes ist. Nehmen wir als Beispiel den Schmerz: Wenn ich eine Schmerzempfindung habe, so ist diese zwangsläufig in meinem Körper zu lokalisieren. Ich spüre einen Schmerz in meiner Fingerspitze. Mehr noch, ich spüre ihn zu einer bestimmten Zeit, nämlich in der Gegenwart. Ferner habe ich nicht nur einen punktuellen Schmerzeindruck, sondern ich bin mir auch des Augenblicks bewusst, in dem der Schmerz einsetzte, und dies bedeutet, dass ich mir gleichzeitig auch der Vergangenheit bewusst bin, nämlich einer Zeit, zu der ich noch keinen Schmerz hatte. Ich bin mir also meiner selbst durch die Zeit hindurch bewusst. Das Bewusstsein, das ich in diesen jeweiligen Fällen von mir selbst habe, ist ein Bewusstsein meiner selbst als ein Objekt des Denkens (vgl. KrV, B 157). Allerdings lässt Kant uns wissen, dass es zwei 106 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Wege gibt, das Ich zu erfahren – der eine über Gefühle, Gedanken und Wünsche und der andere über mein körperliches Ich. Und wie die »Widerlegung des Idealismus« und die »Analogien der Erfahrung« zeigen, kann ich meinen Wünschen und Gefühlen, d. h. meinen inneren Erfahrungen (die in der Zeit geordnet sind) nur unter Annahme von äußeren Erfahrungen (die im Raum geordnet sind) Rechnung tragen. Wenn ich folglich meine eigene Identität durch die Zeit hindurch immer wieder neu erfahre, dann denke ich mich dabei notwendigerweise als ein Bestandteil innerhalb der objektiven Ordnung der Dinge. Kant würde Descartes also zustimmen: Wir brauchen einen Körper, um von unserer inneren Erfahrung Rechenschaft ablegen zu können. Allerdings würde er hier hinzufügen, dass dies nur für das empirische Selbstbewusstsein gilt. Denn nichts sollte uns zu dem Schluss führen, dass auch das transzendentale Bewusstsein verleiblicht sein müsste. Wenn wir jedoch auf den Begriff der Verleiblichung abzielen, so wird sogar diese Beobachtung in Zweifel gezogen, da die Verleiblichung die Unterscheidung zwischen der inneren (verstanden als eine rein geistige) Erfahrung und der äußeren Erfahrung, mit der die »Widerlegung des Idealismus« operiert, infrage zu stellen scheint. Die Frage, die sich dann allerdings stellen muss, lautet, warum der menschliche Leib nicht auch ein Bestandteil dessen ist, worüber ich mir bewusst werde, wenn ich mir meiner selbst als Subjekt des Denkens und der Erfahrung bewusst werde. Denn wie wir im Hinblick auf die Verleiblichung bereits gezeigt haben, handelt es sich bei dem besagten Leib nicht mehr um einen Körper, der »außerhalb« von mir existiert und Teil einer »äußeren Erfahrung« ist, sondern um einen Leib im Sinne eines Subjekts, dessen wir uns von innen her bewusst werden. Der Verweis auf ein verleiblichtes Bewusstsein scheint folglich die in der »Widerlegung des Idealismus« gezogene Schlussfolgerung zu vereiteln, denn die Widerlegung setzt die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Erfahrung voraus, eine Unterscheidung, die aber die Verleiblichung in Frage stellt, wenn nicht gar aufhebt (vgl. Marion 2013: 58). Für Kant wäre das allerdings kein Argument. Er würde vielmehr darauf beharren, dass auch die Verleiblichung sich auf eine Form der Anschauung bezieht. Sie müsste sich seiner Ansicht nach entweder auf die Art und Weise beziehen, wie ich mich selbst affiziere (also auf das, was Henry Selbstaffektion nennt), oder auf die Art und Weise, wie ich von Objekten affiziert werde, die von mir unterschieden sind. 107 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Und damit wäre dann auch Kants eigene Position nicht in Frage gestellt. Denn der innere Sinn beschreibt, wie ich mich selbst durch meine Tätigkeit affiziere (d. h. durch Denken, Wünschen, Wollen usw.) (vgl. KrV, B 67, 69, 153), während der äußere Sinn beschreibt, wie wir durch Dinge außerhalb von uns affiziert werden. Für Kant ist es entscheidend, eine solche empirische Selbstwahrnehmung oder ein solches Selbstbewusstsein von dem Selbstbewusstsein als reiner bzw. ursprünglicher Apperzeption oder dem transzendentalen Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Wenn ich denke, so verknüpfe und vergleiche ich meine verschiedenen sinnlichen Erfahrungen entsprechend den Regeln der Vernunft. Das »Ich denke« erlaubt mir, ein Urteil darüber zu fällen, dass ich mich heute wesentlich besser fühle, als ich mich gestern gefühlt habe. Das Selbstbewusstsein ist also niemals nur in einem einzigen Akt gegeben (Schmerz spüren oder Freude empfinden). Es kommt nur dann zum Vorschein, wenn das Ich es mit einer Vielfalt von verschiedenen Erfahrungen zu tun hat, die es braucht, um sie untereinander in Beziehung zu setzen und miteinander zu vergleichen. Erst dann tritt das Ich als ein Selbst zutage, das sich durch die wandelnden Erfahrungen hindurch seine eigene Identität bewahrt. Oder mit anderen Worten: Es tritt nur dann in Erscheinung, wenn eine Synthesis stattfindet, d. h. wenn ich versuche, die verschiedenen Erfahrungen miteinander zu verbinden, zu vergleichen und zu verknüpfen. Wir könnten nicht wissen, wann ein Schmerz eingesetzt hat, wenn es nicht das Selbstbewusstsein als reine Apperzeption gäbe, die alle meine Vorstellungen begleitet. Nur durch ein solches Ich kann ich mir überhaupt bewusst werden, dass mein Schmerz jetzt noch intensiver ist, als er vorher war. Ein solcher Vergleich wäre ohne das Selbstbewusstsein als reine Apperzeption überhaupt gar nicht möglich und wir würden ohne irgendeinen Gedanken oder eine Erfahrung zurückbleiben. Daher verlangt sogar das Bewusstsein dessen, dass ich Schmerzen spüre, nach einem Selbstbewusstsein als reiner Apperzeption. Dies ist gemeint, wenn Kant sagt: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« (KrV, B 131 f.)

Ich muss sicherlich keinen Leib haben, um solch ein Urteil fällen zu können, aber ich brauche einen Leib, um diese Art von Erfahrung 108 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Von Kant zu Descartes und zurück

überhaupt haben zu können. Das Selbstbewusstsein darf von daher auch nicht mit dem empirischen Selbstbewusstsein verwechselt werden, denn dieses muss sehr wohl einen Leib haben, nicht aber jenes.

6.

Ein Blick zurück auf Descartes

Wenn wir Marions Interpretation von Descartes folgen, so scheint es, als ob Kants Position hier derjenigen von Descartes diametral entgegengesetzt wäre. Denn Descartes scheint nahezulegen, dass nur das körperliche Empfinden zu einer Art Ich-Identität und Selbstbesitz führe. Wenn wir nun allerdings Descartes’ Argument genauer betrachten, so stellen wir fest, dass dies schlechterdings nicht seine Auffassung sein kann und er vielmehr in vielerlei Hinsicht mit Kant übereinstimmt, der herausgestellt hat, dass die Verleiblichung des Geistes nicht die ausschlaggebende Rolle für unseren Begriff des Selbst spielen kann. Entscheidend für das Selbst ist, dass wir denken können, und nicht, dass wir leibliche Wesen sind. Wir müssen uns also zunächst daran erinnern, dass Descartes glaubt, dass nur denkende Wesen auch Empfindungen haben. Tiere »sehen nicht so, wie wir sehen, wenn wir uns bewusst sind, dass wir sehen« 59. Sie sind wie Automaten. Sie »denken« oder »empfinden« nicht, was sie auf mechanische Weise wahrnehmen. Daher stellt Descartes mit aller Deutlichkeit heraus, dass nur ein Wesen, das einen Verstand besitzt, auch in der Lage ist, etwas zu empfinden, sich etwas vorzustellen oder etwas zu erkennen. Dies impliziert folglich, dass wir nichts empfinden können, ohne zu denken, wohingegen das Umgekehrte sehr wohl möglich ist: Wir können denken, ohne dabei Empfindungen zu haben. Wie wir oben bereits zeigten, haben weder Gott noch die Engel irgendwelche Empfindungen, aber sie haben die Fähigkeit zu denken. Wenn daher die Verleiblichung die Empfindung unseres Selbst zwar zu unterstreichen vermag, so ist sie dennoch mit Sicherheit nicht als dessen Ursprung zu betrachten, denn ohne den Verstand als solchen und in seiner Reinheit kann es keine Empfindung und folglich auch kein Selbst-Bewusstsein geben. 60 Descartes betont ausdrücklich: R. Descartes, AT I, 413; II, 14–20). Ich schließe mich hier der äußerst luziden Descartes-Interpretation von James Hill an, der in gleicher Weise eine solch »intellektualistische Lesart« verfolgt. Vgl. James

59 60

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»Außerdem finde ich Denkvermögen besonderer Art in mir, nämlich die Vermögen der Einbildung und der Empfindung, ohne die ich mein ganzes Ich klar und deutlich denken kann, aber nicht umgekehrt jene ohne mich, d. h. ohne eine denkende Substanz, der sie innewohnen.« 61 Dies jedoch bedeutet, dass ihr »Wesen einige Grade denkenden Verstehens einschließt« (ebd.). Wir können uns also weder auf Empfindungen noch auf Einbildungen beziehen, ohne uns auf einen geistigen Akt des Urteilens und Denkens zu berufen.

Es ist entscheidend zu verstehen, warum das so ist. Für Descartes – genauso wie für Kant – lassen sich all unsere Empfindungen an einem bestimmten Ort lokalisieren. Wenn er also von der Vermischung von Geist und Körper spricht, dann, so behauptet er, ist in ihr auch immer ein Urteil mit im Spiel. Wenn ich einen Schmerz empfinde, dann empfinde ich ihn unweigerlich an einer bestimmten Stelle und ich bin mir über den Ort meines ganzen Körpers bezogen auf diesen Schmerz bewusst. Und tatsächlich kann ich mir auf diesen Schmerz auch nur ausgehend von meiner Ich-Perspektive einen Reim machen. Ich urteile darüber, dass es mein Schmerz ist, und empfinde es nicht nur so. Mein Urteil über den Gegenstand des Schmerzes kann selbstverständlich falsch sein, wie dies am Beispiel von Phantomschmerzen bei amputierten Gliedmaßen deutlich wird, niemals aber mein Urteil darüber, dass ich den Schmerz in meinem Fuß tatsächlich empfinde. Entgegen der Auffassung von Marion stimmt Descartes hier ganz mit Kant überein: Nicht weil ich empfinde und darum meine Empfindung empfinde, bin ich oder existiere ich, sondern »nur weil ich denke, bin ich und kann tatsächlich nur so erkennen, dass ich Empfindungen habe«. Ohne den geistigen Akt des Urteilens oder Denkens kann es keine sinnliche Erfahrung geben. Im Unterschied zu Marion bin ich daher der Auffassung, dass Descartes damit zeigen will, dass Empfindungs- und Einbildungsvermögen bereits durch den Verstand vorgeprägt sind und ohne ihn gar nicht zur Erfahrung kommen können. Nur so lässt sich überhaupt Descartes’ Position und Behauptung verstehen, dass Tiere keine empfindenden Wesen sind. Denn käme dem Verstand nicht eine solch zentrale Bedeutung zu, dann bestünde gar keine Veranlassung dazu, Tieren die Empfindungen abzusprechen – ein Gedanke, an dem Descartes aber um jeden Preis festhalten will. Hill, Descartes and the Doubting Mind, London: Bloomsbury, 2012, vor allem Kapitel VII. Für die aufschlussreichen Gespräche, die wir über dieses Thema führten, bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. 61 Descartes, Meditationen, S. 70, AT VII, 78.

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Diese »neue« Lesart von Descartes und Kant macht also deutlich, dass Descartes und Kant sich viel näherstehen, als dies normalerweise angenommen wird: Die Wahrnehmung des eigenen Ich geschieht durch den Akt des Denkens und Urteilens und ist unabhängig von ihm nicht zu begreifen. Descartes steht Kant viel näher, als Marion dies anzuerkennen bereit ist. Was beide miteinander verbindet, ist nicht das Argument, dass die Leiblichkeit am Ursprung unserer Icherfahrung steht, sondern dass allein der Verstand eine solche Erfahrung allererst hervorrufen kann. Das Ich hat seinen Ursprung im Urteil und nicht in der Empfindung. Weder Descartes noch Kant sehen die geringste Veranlassung dazu, einer »intellektualistischen« Deutung des menschlichen Geistes oder des »Selbst-Bewusstseins« zu entkommen. Anders als Marion bin ich daher der Überzeugung, dass zwischen Descartes und Kant diesbezüglich ein großes Maß an Übereinstimmung besteht: Die Sinne sind und werden nie dazu in der Lage sein, den menschlichen Geist zu übertrumpfen, wenn es darum geht, das Wesen des eigenen Selbst und Selbst-Bewusstseins zu begreifen. Aus dem Englischen übersetzt von Alwin Letzkus

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II. Phänomenologische Denkfiguren

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»Sich empfangen aus dem, was sich gibt« Zur Frage nach der Subjektivität im Dativ Branko Klun

Die Frage nach der Subjektivität ist eine eminent phänomenologische Frage. Auch wenn die phänomenologische Maxime »Zu den Sachen selbst« den Anschein erwecken kann, es ginge in der Phänomenologie in erster Linie um Phänomene, wie sie sich in der Souveränität ihres eigenen Selbstseins und in ihrer eigenen Wahrheit zeigen, kann diese Wahrheit nur dann entdeckt werden, wenn die Einbindung der Subjektivität im Erkenntnisprozess genügend berücksichtigt wird. Die Besinnung auf die Rolle der Subjektivität widersetzt sich der Naivität eines Erkennenden, der in falscher Selbstvergessenheit glauben könnte, bei den Sachen selbst zu verweilen. Der Terminus Phänomen vermittelt diese unauflösliche Verbundenheit zwischen dem, was erscheint bzw. sich zeigt, und dem Empfänger dieses Zeigens. In jeder Erkenntnis ist die Subjektivität mit am Werk, weil es sich eben um eine vom Subjekt bzw. vom Bewusstsein vollzogene Erkenntnis handelt und daher alles Erkannte ein Erscheinen für dieses Bewusstsein ist. Fraglich wird nur die Rolle des empfangenen Bewusstseins: Ist es ein klarer Spiegel, der die Phänomene in ihrer Wahrheit treu wiedergeben kann, oder stellt das Bewusstsein dem Erscheinen der Phänomene transzendentale Bedingungen, die ihr Zur-Wahrheit-Kommen stören oder gar verdecken? Was phänomenologisch jedoch nicht ausgeklammert werden kann, ist die Annahme einer wie auch immer verstandenen Subjektivität, die mitbedacht werden muss, und jeder Versuch, sie zugunsten der Sachen selbst überwinden zu wollen, gliche einem Sprung über den eigenen Schatten. Das bringt wichtige Konsequenzen mit sich. Einerseits kann kein phänomenologisches Vorgehen darauf verzichten, ständig über die Beteiligung der Subjektivität und über den Standpunkt, aus dem heraus Einsichten gewonnen und Aussagen getroffen werden, Rechnung zu tragen. Andererseits zeigt die zentrale Rolle der Subjektivität, dass eine Besinnung auf sie nicht bloß ein Teilgebiet des phänomenologischen Fragens darstellen kann, sondern dass sich da115 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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rin das Ganze eines phänomenologischen Ansatzes widerspiegelt. Wenn in diesem Beitrag nach dem Verständnis der Subjektivität bzw. nach dem, was »nach dem ›Subjekt‹« 1 kommt, bei Marion gefragt wird, müssen diese Prämissen im Auge behalten werden. Der Hingegebene (l’adonné) von Marion »ergibt« sich aus einer neuen phänomenologischen Konstellation, die nichts weniger behauptet, als ein neues und vertieftes Verständnis der Phänomenologie als erste Philosophie zu entdecken.

1.

Gegen das transzendentale Subjekt

Ein Grundzug des Denkens von Marion ist das Misstrauen und der Widerstand gegen jede Deutung der Subjektivität im Sinne eines transzendentalen Subjekts. Prägend für sein Verständnis des transzendentalen Subjekts sind aber vor allem Descartes und Kant. Dies ist wichtig zu bemerken, weil Marion im Bewusstsein bei Husserl und im Dasein bei Heidegger nur weitere Variationen dieser transzendentalen Subjektivität zu finden glaubt und die Unterschiede, die bei diesen philosophischen Ansätzen bestehen, oft nicht genügend berücksichtigt werden. Es stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, eine kritische Auseinandersetzung mit allen genannten philosophischen Positionen zugleich zu führen – wir wissen doch, dass sich etwa Husserl mit seiner Phänomenologie sowohl von Descartes als auch von Kant abgrenzen will –, weil dabei ein gemeinsamer Nenner induziert wird, der zu reduktiv und zu nivellierend erscheint. Für Marion ist weniger von Belang, welche Form von Transzendentalität die jeweilige Deutung der Subjektivität annimmt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass dem Subjekt überhaupt eine Transzendentalität zugeschrieben wird. Wenn das Subjekt früher (a priori) als alles andere ist und wenn jedes Phänomen nach den transzendentalen Bedingungen, die vom Subjekt gestellt werden, konstituiert wird 2, dann ist das Subjekt dazu verurteilt, in jeder ErJean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 20053, 344; dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München: Alber 2015, 414; ders., »Sättigung als Banalität«, in: M. Gabel, H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in Diskussion, Freiburg/München: Alber 2007, 103. (französ. Orig.: »La banalité de la saturation,« in: ders., Le visible et le révéleé, Paris: Cerf, 2005, 143–182). 2 Vgl. Jean-Luc Marion, Étant donné, 16–17 (dt., 30–2). 1

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»Sich empfangen aus dem, was sich gibt«

kenntnis nur sich selbst zu begegnen. Marion geht es von Anfang an um die Frage nach der Transzendenz und um die Möglichkeit, die Verschlossenheit des Subjekts in der Immanenz seiner eigenen Widerspiegelung zu durchbrechen. In der Phänomenologie wird laut Marion die transzendentale Rolle der Subjektivität fortgesetzt. Sie kann mit Rekurs auf den phänomenologischen Begriff des Horizonts beschrieben werden. Das Husserl’sche Bewusstsein eröffnet durch seine intentionalen Akte einen Horizont, innerhalb dessen sich der Sinn des Phänomens – als intentionaler Gegenstand – konstituiert. Aber der intentionale Gegenstand kann bloß eine leere und unbestimmte Vorstellung (Intention, Begriff) bleiben, wenn er nicht zu seiner phänomenalen Fülle in der Anschauung (Intuition), d. h. zu seiner unmittelbaren anschaulichen Gegebenheit, gelangt. Obwohl es sich bei Husserl um eine andere Konstellation zwischen der Anschauung und dem Begriff als bei Kant handelt, glaubt Marion, »dass die von Kant und Husserl in diesem Sinne entwickelten Definitionen des Phänomens miteinander kompatibel, wenn nicht sogleich gleichwertig sind.« 3 Die Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung, zwischen intentionaler Bedeutung und intuitiver Erfüllung, gehört zu den Grundbegriffen der phänomenologischen Analyse von Marion, die auch für seine Explikation der gesättigten bzw. paradoxen Phänomene leitend wird. Sie ermöglicht es ihm zugleich, eine Trennung im Kant’schen Sinne zwischen dem Subjekt und seinem Außerhalb einzuführen: Die begriffliche Intention verkörpert die transzendentalen Bedingungen des Subjekts, die Anschauung hingegen erfolgt auf jene Initiative, die bei Marion dem Phänomen selbst zugeschrieben wird. Das Phänomen gibt sich, bevor es vom intentionalen Strahl des Subjekts vergegenständlicht wird. (Bei Husserl hätte ein solches Vorgängiges wenig Sinn, weil etwas erst durch die Vergegenständlichung überhaupt zum Phänomen wird.) Diese Gebung als Selbst-Gebung des Phänomens wird bei Marion zum eigentlichen Prinzip der Phänomenologie – im Sinne des Ursprungs (d. h. als ursprüngliche Gegebenheit) und als Ziel der phänomenologischen Reduktion. Im transzendentalen Vorgang der Vergegenständlichung kommt es nach Marion zu einer Vereinnahmung und Bemächtigung dessen, was sich gibt. Das Phänomen, das sich gibt, kann sich nämlich nicht selbst geben, weil es sich den transzendentalen Bedingungen unter3

Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 97.

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werfen muss. Es erscheint nach dem Maß des intentionalen Blickes. Die Unterschiede zwischen Husserl und Kant sind für Marion nicht entscheidend, solange der transzendentale Ansatz aufrechterhalten bleibt. Man darf jedoch nicht die Motive der frühen phänomenologischen Bemühungen von Husserl vergessen, der keinesfalls die kopernikanische Wende von Kant wiederholen wollte. Die Einbeziehung der Subjektivität qua Bewusstsein erfolgte bei ihm in der Auseinandersetzung mit der naturalistischen Naivität, die sich immer schon und unproblematisch bei den Sachen selbst zu befinden glaubte. Nicht trotz der Entdeckung der Intentionalität, sondern durch sie wollte Husserl zu den Sachen selbst gelangen. Die kategoriale Anschauung, wie sie in den Logischen Untersuchungen analysiert wurde, war der Ausdruck des Bemühens, unser (begriffliches) Verstehen den Sachen selbst anzupassen und nicht umgekehrt – die Sachen nach unserem begrifflichen Belieben zu formen oder zu unterwerfen. Die kategoriale Anschauung will sich nicht als Diktat, sondern als Antwort verstanden wissen – eine Antwort darauf, was sich in der Anschauung gibt. Es ist jedoch wahr, dass Husserls Phänomenologie vom Vorrang der theoretischen Einstellung beherrscht wird und dass seine erste Kategorie die des Gegenstandes ist. Das gibt Marion berechtigterweise Anlass, den von Husserl als selbstverständlich angenommenen Horizont der Gegenständlichkeit zu hinterfragen und nach der ursprünglichen Gegebenheit der Phänomene – bevor sie theoretisch objektiviert werden – zu fragen. Genau das macht aber auch Heidegger in der frühen Phase seines Denkens. Ein Phänomen soll in seiner phänomenalen Fülle bewahrt und nicht auf ein Objekt der Erkenntnis reduziert werden. Das verlangt aber eine Rückbesinnung darauf, wie die Erkenntnis (eines Phänomens) überhaupt zu verstehen ist, und folglich ein neues Verstehen der Subjektivität, die die Erkenntnis vollzieht bzw. sich zu etwas erkennend verhält. Die theoretische Einstellung ist nach Heidegger nur eine Möglichkeit der intentionalen Offenheit der Welt gegenüber und auch der Begriff Subjekt ist bereits eine theoretische Vergegenständlichung eines ursprünglich vortheoretischen Geschehens, das beim frühen Heidegger mit der Begrifflichkeit des Lebens analysiert wird. Ein Phänomen wird erst dann es selbst sein können, wenn es auf eine solche Weise erkannt wird, dass es sich in seiner ganzen phänomenalen Fülle im Leben ereignet, d. h. vom Leben in seinem eigentlichen Selbstsein angeeignet, erlebt und vollzogen wird. Heidegger sieht im gelebten Leben – als ursprüng118 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

»Sich empfangen aus dem, was sich gibt«

licher Vollzug der »Subjektivität« – den ersten phänomenologischen Horizont, der den Phänomenen nicht einen theoretischen oder auch anderen vorgefassten Sinn vorschreiben will, sondern umgekehrt nach demjenigen Vollzug seiner selbst (die Art und Weise des Lebens) trachtet, der dem authentischen »Vollzugssinn« eines Phänomens entsprechen und ihm somit zum Ereignis seines Selbstseins, zu seiner eigenen Wahrheit verhelfen kann. Die spätere Ontologisierung der Phänomenologie und die Umdeutung dieses Horizonts zum Dasein, das durch sein Seinsverstehen charakterisiert wird, verfolgt dieselbe Sorge um das Selbstsein der Phänomene. Die hermeneutische Dimension von Heideggers Ansatz betont den Möglichkeitscharakter des Seins(verstehens) und stellt es vor die Aufgabe, dem Anspruch der Phänomene zu entsprechen. Marion würdigt zwar Heideggers Bemühen, die Phänomene aus der Gefangenschaft der Objektivierung und aus der Herrschaft der theoretischen Intentionalität zu befreien. Sie können seither auf verschiedene Weisen als »seiend« verstanden werden. Im Unterschied zur Einengung auf die Vergegenständlichung setzt sich bei Heidegger die Offenheit für mannigfaltige Erscheinungs- bzw. Ereignungsweisen der Phänomene durch. Aber diese Offenheit bleibt für Marion nach wie vor ein transzendentaler Horizont, der weiterhin der Logik der Transzendentalität folgt. Das Sein(sverstehen), das vom Dasein vollzogen wird, geht jeder Konstitution des Seienden voraus und stellt ihm apriorische Bedingungen. Während es sich bei Husserl um eine Reduktion des Phänomens auf die Gegenständlichkeit (objectité) handelt, findet nach Marion bei Heidegger eine Reduktion auf die »Seiendheit« (étantité) statt. 4 Trotz aller Beteuerungen des Selbstseins des Phänomens, ist die Tatsache, dass es sich um ein Sein des Selbst handeln muss, bereits eine implizite Reduktion, eine neue Vorschreibung von Bedingungen für das sich gebende Phänomen. Der letzte Schritt der Phänomenologie müsste nach Marion eine radikale Wende bedeuten: den Verzicht auf die zentrale Rolle des Horizonts in der Phänomenologie, insofern der Horizont nicht von einer transzendentalen Logik zu trennen ist und in letzter Instanz die Phänomene in ihrem Sich-selbst-Geben beschränkt und verhindert – man muss sich hüten zu sagen: in ihrem »Selbstsein«, weil das Sein einen notwendiDiese Kritik an Husserl und Heidegger ist leitend für das erste phänomenologische Werk von Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: PUF 1989.

4

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gen Bezug zum verstehenden Menschen (Dasein) unterhält. Die dritte phänomenologische Reduktion, die Marion vorschlägt 5, geht über den transzendentalen Horizont des Seins hinaus, um zu einer reinen Gebung (donation) des Phänomens zu gelangen. Von dieser Gebung kann nicht gesagt werden, dass sie »ist«, denn das Sich-Geben eines Phänomens ist keine Modalität seines Seins. Vielmehr wird das Sein (also das Verstehen eines Phänomens als so oder so seiend) ein »Ergebnis« der Gebung, was aber vollkommen anders als in Heideggers ontologischem Dispositiv gedeutet werden muss. Diese dritte Reduktion bewirkt ein neues Verständnis des Phänomens und der Phänomenologie. Das eigentliche Phänomen (als das Phänomen »an sich«) ist das, was jede transzendentale Konstitution seitens der Subjektivität transzendiert, was sich also gibt, bevor sie vom Empfänger in einen bestimmten Modus der Phänomenalität überführt und somit manifest gemacht wird. Die Reduktion führt also zurück (re-duco) zur ersten Gegebenheit, zur ersten Gebung (das französische Wort donation schließt beide Bedeutungen mit ein), was jedoch als ein Paradoxon erscheint. Wie soll sich die Subjektivität ihrer selbst, d. h. ihres eigenen Horizonts, entledigen, um zu einer reinen Gebung zu gelangen? Dieses paradoxe Unternehmen kann seine Befremdung verlieren, wenn es zu zeigen gelingt, dass es durchaus Erfahrungen (und zwar als paradoxe Gegen-Erfahrungen 6) gibt, wo sich Phänomene auf eine solche Weise geben, dass das empfangende Subjekt ein exzessives Geben jenseits seines Empfängnisvermögens erleidet und ein Zeuge dieses paradoxen Geschehens wird. Diese paradoxen Phänomene, die jede Logik der Transzendentalität sprengen, nennt Marion bekanntlich »saturierte« oder »gesättigte« Phänomene.

2.

Die gesättigten Phänomene und die Umkehrung der Intentionalität

Bei Husserl verwirklicht sich die Erkenntnis eines Phänomens in seiner Anschauung. Es gibt verschiedene Stufen der Anschaulichkeit, die die Intention (das Gemeinte, den intentionalen Gegenstand) unterschiedlich ausfüllen. Ich kann mir eine blumige Wiese nur vorstellen und dennoch wird sie in dieser Vorstellung ein intentionaler Ge5 6

Jean-Luc Marion, Étant donné, 60 (dt., 82 ff.). Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 126.

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genstand meines Bewusstseins. Wenn ich aber auf der blumigen Wiese stehe und sie (intuitiv) vor meinen Augen habe, dann wird sie anschaulich und als evident erfahren. Es stellt sich die Frage, ob diese originär gebende Anschauung den vollen phänomenalen Sinn der Wiese ausschöpfen kann – eine adäquate Erkenntnis kann erst durch die anschauliche Gegebenheit aller Momente des zu erkennenden Phänomens gewonnen werden –, in jedem Fall aber vermag die Anschauung für Husserl den vermeintlichen Gegenstand »in seiner ›leibhaftigen‹ Selbstheit zu erfassen« 7. Die Erfüllung der Intention durch die Anschauung führt also zur Evidenz und somit zur adäquaten Erkenntnis des Gegenstandes. Das Adjektiv »adäquat« hat eine durchaus positive Bedeutung, weil die Gefahr einer mangelhaften oder inadäquaten Evidenz den Erkenntnisprozess ständig begleitet. Marions Einführung einer dritten Möglichkeit neben der inadäquaten und adäquaten Erfüllung, nämlich die »Überfüllung« der Intention durch die anschauliche Gegebenheit, wäre aus Husserls Sicht weder möglich noch verständlich. Für Marion hingegen handelt es sich hierbei um eine neue Inadäquation, diesmal nicht wegen des Mangels an Anschauung, sondern wegen ihres Exzesses. 8 Die Inadäquaten begleiten solche Phänomene, die sich prinzipiell einer adäquaten Erkenntnis entziehen, weil sie immer schon die Aufnahmefähigkeit des Bewusstseins übersteigen. Marion ordnet die gesättigten Phänomene nach den vier Kant’schen Kategorien. Die Kategorie der Quantität wird im Phänomen des Ereignisses (événement) übersättigt, die Kategorie der Qualität erfährt ihre Überfüllung im Phänomen des Idols (Gemälde, Kunstwerk), das Phänomen der Ikone übersteigt den kategorialen Rahmen der Modalität und das Phänomen der Leiblichkeit transzendiert die Kategorie der Relation. Aber diese Systematisierung tritt in der denkerischen Entwicklung von Marion erst relativ spät auf. Seine frühen Schriften 9 sind vielmehr von der Op7 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch (Hua III/1), Den Haag: Nijhoff 1976, 14. 8 Caputo bezeichnet diese Idee als »eine Häresie innerhalb Husserls Phänomenologie« (John Caputo, »Jean-Luc Marion: The Erotic Phenomenon«, in: Ethics 118 (2007), 164). In der »Hyperbolisierung der Phänomenologie« bei Marion sieht er ein Projekt der »Phänomenologie eines Unmöglichen«, die ursprünglich theologische Motive hat (John Caputo, »The Hyperbolization of Phenomenology. Two Possibilities for Religion in Recent Continental Philosophy«, in: Kevin Hart (Hg.), Counter-Experiences. Reading Jean-Luc Marion, Notre Dame (IN): Notre Dame University Press 2007, 76–77). 9 Jean-Luc Marion, L’idole et la distance, Paris: Grasset & Fasquelle 1977; ders., Dieu

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position zwischen zwei Typen der Phänomene gekennzeichnet – Idol und Ikone –, und es ist kein Geheimnis, dass bei Marion die theologischen Motive eine ganz wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle spielen. Im Hintergrund steht die Frage nach der Transzendenz (Gottes) und ihrem Bezug (qua Offenbarung) zum Menschen. Die Ikone, die sich methodisch stark an Levinas’ Phänomenologie des Antlitzes anlehnt, fungiert als die Möglichkeit einer neuen Phänomenalität, die die Grenzen der transzendentalen Subjektivität sprengt. In den frühen Werken dient das Idol als Paradigma für die Erkenntnis seitens des transzendentalen Subjekts, das in allem, was ist (in jedem Phänomen), nur auf die Widerspiegelung seiner eigenen Intentionen trifft. In der Sprache von Levinas gibt es keine Möglichkeit, einer absoluten Alterität bzw. Transzendenz zu begegnen. Aber Marion folgt nicht Levinas, der das paradoxe »Phänomen« des Gesichts mit einer spezifisch ethischen Sinnebene verbindet und diese von der sonstigen Phänomenalität abgrenzt, sondern zeigt mit der Wahl der Ikone (als Gemälde hat sie nicht dieselbe Transzendenz wie das Gesicht eines Mitmenschen), die bei ihm ebenfalls einen paradigmatischen Status einnimmt, dass innerhalb der Phänomenalität die Möglichkeit bestehen muss, ihre Verschlossenheit in der Immanenz und ihre Angewiesenheit auf das transzendentale Subjekt zu sprengen. Vereinfacht gesagt: Während bei Levinas die Transzendenz (qua Alterität) auf die zwischenmenschliche Erfahrung – abgesondert von den restlichen Phänomenen – und somit auf die Ethik beschränkt bleibt, will Marion aufweisen, dass sie viel weiter reicht und dass sie auch auf der Ebene des Phänomenalen, in der paradoxen Gebung der übersättigten Phänomene, zu finden ist. Dies hat zur Folge, dass die frühere Deutung des Idols als Paradigma der transzendentalen Setzung eine Revision erfährt und dass dieses nun ebenfalls zu den gesättigten Phänomenen gezählt wird. Insgesamt ändert sich die Perspektive von Marion; er betrachtet die gesättigten Phänomene nicht mehr als eine Seltenheit und Ausnahme, sondern vielmehr als allgegenwärtig, ja als »banal«, sodass die nicht-gesättigten Phänomene – von Marion in arme und gemeine differenziert – nun zu einer Minderheit werden. Wenn nämlich ein geschichtliches »Ereignis« zum gesättigten Phänomen erklärt wird, dann verwundert es nicht, dass diejenigen Phänomene, die kein Ersans l’être, Paris: Fayard 1982 (Deutsch: Gott ohne Sein, Paderborn: Schöningh, 2014).

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eignis darstellen – wie etwa das Phänomen einer mathematischen Formel oder eines technischen Produkts – verhältnismäßig selten sind. Der Überschuss eines Ereignisses liegt darin, dass es nicht intentional erfasst werden kann und dass es jedem Versuch, seiner im Verstehen habhaft zu werden, widersteht. Ein Ereignis ist nicht vorhersehbar, ja nicht einmal denkbar, und es geht über jeden vom Subjekt eröffneten transzendentalen Horizont hinaus. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Phänomen des Idols, bei dem es um eine Sättigung des intentionalen Horizonts unter dem Aspekt der Qualität geht. Ein Gemälde gibt sich in der Weise einer exzessiven Sichtbarkeit, die das empfangende Subjekt blendet und es dazu zwingt, die Übermacht der Gebung und die beschränkte Fähigkeit des Empfangens anzuerkennen. Und beim Phänomen der Ikone haben wir es ebenfalls mit einer Sichtbarkeit zu tun, aber diesmal erfolgt die Sättigung auf eine andere Weise: Die Ikone oder das Gesicht kann in keiner Modalität gesehen werden, denn den transzendenten Anderen, dem wir zwar in die Augen schauen können, erblicken wir nicht. Vielmehr erfährt das Subjekt eine Umkehrung des Blickes: Es findet sich unter dem Blick (regard) des Anderen und unter seinem spezifischen Anspruch wieder. Der vierte Sättigungstypus schließlich ist meine gelebte Leiblichkeit (chair), die mich immer schon bestimmt (affiziert), ohne Relation zu etwas Anderem bzw. als absolute Autoaffektion. Mein Leib entzieht sich jeglicher Objektivierung und versetzt mich in eine Passivität, die durch keine Aktivität überwunden werden kann. Alle gesättigten Phänomene haben eines gemeinsam: Sie entthronen das souveräne Subjekt in seiner transzendentalen Vorrangstellung, was zu einer Umkehrung der Prioritätsverhältnisse führt, die von Marion mit verschiedenen Bezeichnungen und Figuren beschrieben wird. Er spricht von einer Gegen-Intentionalität, weil nun das Phänomen selbst die Oberhand gewinnt und das erkennende Subjekt in eine passiv-empfangende Rolle versetzt. Damit verbunden ist auch der Begriff Anamorphose, der bei Marion aus dem Kontext der Kunst zu einem phänomenologischen Begriff erhoben wird. Die Anamorphose bezeichnet die Notwendigkeit, dass der Beobachter die dem Kunstwerk eigene »Logik« entdecken und sich ihr anpassen muss, damit es sich von sich selbst und als Selbst geben kann. »Ana-morphose weist hier darauf hin, dass die Phänomene von sich selbst her Form annehmen.« 10 Nicht das Kunstwerk richtet sich nach dem Blick 10

Jean-Luc Marion, Étant donné, 176 (dt., 223).

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des Beobachters, sondern es besitzt seine eigene »Richtung«, seine eigene Form (morphe), nach der sich der Beobachter richten und formen muss. Das Entscheidende dabei ist jedoch, dass die Anpassung oder Anformung des Empfängers an das sich gebende Phänomen nie adäquat sein kann, weil die Sättigung der Anschauung weiterhin bestehen bleibt und eine endlose Hermeneutik seitens des Empfängers zur Folge hat. Marion führt auch den Begriff der Gegen-Erfahrung ein, der durch die Momente der »Alterierung« der Intentionalität 11, der Enttäuschung und des Widerstandes beschrieben wird. Die Umkehrung, die sich im Präfix »Gegen« widerspiegelt, verlangt eine neue Auffassung des »Subjekts«. Dieses kann nicht mehr das transzendentale Subjekt sein, sondern nur ein sich selbst gegebener Empfänger, ein Hingegebener (l’adonné). Wie ist aber nun eine solche Subjektivität in ihrer eigenartigen Posteriorität zu verstehen?

3.

Die Subjektivität im Dativ

Es ist sicher kein Zufall, dass in Étant donné die Analyse des Hingegebenen im letzten Buch erfolgt: Die Subjektivität steht nicht am Anfang, sondern sie ist das »Ergebnis« der Gebung. Marion spricht vom Empfänger (attributaire), der an die Stelle des Subjekts tritt. 12 Was am Anfang steht, ist die Gebung (donation), und sie lässt sich keinesfalls in substantivischer bzw. metaphysischer Sprache denken. Diese Gebung setzt keinen seienden Geber (donateur) voraus, der ein Etwas (objet donné) einem seienden Empfänger (donataire) gibt. Vielmehr geht die »reine Gebung« dieser nachträglichen Unterscheidung voraus und verlangt eine neue Artikulation dieser ursprünglichen Situation. Die Gebung (er)gibt zugleich das (gegebene) Phänomen und den Empfänger. Die Analyse in Étant donné bedient sich schwieriger Satzkonstruktionen, um dieses Aufkommen (surgissement) des Empfängers zu beschreiben: »[D]as, was sich gibt, zeigt sich und dieses gegebene Phänomen lässt den Empfänger aufkommen [fait surgir l’attributaire], indem es sich ihm ereignet [en lui advenant].« 13 Entscheidend für Marion ist, dass sich die »Subjektivität« keiner Selbstkonstitution verdankt, »sondern sich vom gegebenen 11 12 13

Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 128. Jean-Luc Marion, Étant donné, 348 (dt., 418: »Zuweisungsempfänger«). Ebd., 361 (Übers. BK; vgl. auch dt. Übers., 433).

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Phänomen empfängt und von ihm allein«. 14 Der Empfänger wird »geboren« in dem Moment, in dem er Adressat der Gebung wird. Seine Rolle ist jedoch nicht vollkommen passiv. Ohne den Empfänger würde das Phänomen nicht erscheinen, d. h. sich zeigen können. Hier kommt es zur bereits erwähnten Unterscheidung zwischen dem, was sich gibt – also eine dem Empfänger transzendente und vorgängige Gegebenheit –, und der Phänomenalisierung (Erscheinen, Sich-Zeigen) des Phänomens, die aber auf den Empfänger angewiesen ist. Den Empfänger gibt es jedoch nicht vor der Gebung und deshalb gibt es auch keinen Horizont, der das Gegebene erwarten und nach seinen eigenen Bedingungen empfangen würde. Die Phänomenalisierung – also die Art und Weise, wie das, was sich gibt, »in die Welt«, in die Erscheinung überführt wird – braucht folglich den Empfänger, aber eben nur als Empfänger und nicht als Hersteller: »Für den Empfänger bedeute Empfangen also nichts weniger als Gegebenheit zu vollziehen [accomplir la donation], wobei er diese in Manifestation umwandelt und damit dem Sich-Gebenden gewährt, sich von sich selbst her zu zeigen.« 15 Wir haben es demnach mit aktiven Verben zu tun – accomplir, accorder, etwas später sogar donner forme dem Gegebenen – und doch will Marion jede transzendentale Aktivität seitens des Empfängers von vornherein ausschließen. Die Illustrierung dieser sonderbaren Konstellation mit einem Filter oder mit einem Prisma 16 ist nicht sonderlich hilfreich, weil sie mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Ein Prisma lässt beim Empfangen des Lichtes die Farben erstrahlen, die sonst nicht zum Erscheinen, zur Sichtbarkeit kommen würden. Das Prisma macht die Erscheinung möglich, aber es bestimmt nicht selber die Bedingungen des Erscheinens, die ihm ebenfalls gegeben sind. Doch die Analogie stößt bald an ihre Grenzen. Der »Bewusstseinspol«, wie Marion sich provisorisch ausdrückt (comme on voudra dire), existiert jedoch nicht vor dem, was er durch sein Prisma formt, sondern »resultiert daraus«. 17 Der Empfänger empfängt sich aus dem, was er empfängt. Offensichtlich kann die klassische Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität dieser Konstellation kaum gerecht werden. Marion verlangt ein neues Verständnis der Empfänglichkeit (réceptivité) 14 15 16 17

Ebd. Ebd., 364 (dt., 436; Übers. modif.). Ebd. (dt., 437). Ebd., 365 (dt., 437).

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als eigentümliche »Vermittlung« zwischen den beiden. Dennoch scheint die passive Seite stärker betont zu sein. Nicht an seinem Anfang zu sein, sich selbst (also im Dativ) gegeben zu sein, auch wenn diese Gegebenheit immer schon empfangen wird, spricht für ein ursprüngliches Erleiden. Diese passive Dimension tritt aber noch stärker in den Vordergrund, wenn nicht von Phänomenen im Allgemeinen gesprochen wird, sondern wenn sich die Phänomene in ihrem Exzess bzw. in ihrer Sättigung geben. Marion präzisiert die Terminologie weiter: Die gesättigten Phänomene geben sich dem Empfänger durch ihren »Appell« (appel) und ihr Empfänger wird zum Hingegebenen (adonné). Der Hingegebene im Sinne des »durch die Gabe (des Appells) Beschenkten« oder des »Be-Gabten« stellt für Marion die ursprüngliche Weise der Subjektivität dar, die er sowohl vom späten Heidegger als auch von Levinas abgrenzen will. 18 Sowohl das »Denken des Seins« (im Sinne des genitivus subjectivus) als auch das ethische »Hier bin ich« (als Subjektivität im Akkusativ) beabsichtigen eine Überwindung der transzendentalen Subjektivität (die sich im Nominativ zu konstituieren vermag). Für beide würde Marions Feststellung zutreffen, dass der Selbstvollzug der Subjektivität »als Appell und als Antwort« geschieht. 19 Aber für Marion sind weder Genitiv noch Akkusativ imstande, die ursprüngliche Situation der Subjektivität wiederzugeben. Das Phänomen wird durch seinen Appell dem Subjekt gegeben und dieses »datum« konstituiert die Subjektivität im Dativ. Marion hat sich gegen den Vorwurf gewehrt, es handele sich beim Empfangen des Phänomens um eine derartige Passivität, dass sie einer »Erfahrung ohne Subjekt« gliche. 20 Die entscheidende Frage liegt nach Marion »nicht darin, ob der Hingegebene den ›Charakter von Subjektivität‹ behält, sondern darin, von welcher Form von Subjektivität, eine transzendentale, empirische oder eine andere, man auszugehen hat.« 21 Der Hingegebene unterliegt nicht der vollkommenen Passivität. Er kann und muss antworten. Er erleidet zwar den Appell, der unvorhersehbar und somit unergründbar ist, aber seine Antwort hat mit einer Entscheidung zu tun, die vorsichtig und proEbd., 371 (dt., 444). Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 102 (Fußn. 10). 20 Ebd. Marion antwortet auf die Einwände von Marlène Zarader in ihrem Beitrag »Phenomenology and Transcendence«, in: James E. Faulconer (Hg.), Transcendence in Philosophy and Religion, Bloomington: Indiana University Press 2003, 106–119. 21 Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 103, Fußn. 11. 18 19

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visorisch mit der Aktivität der Subjektivität verbunden werden kann. Dabei ist es durchaus wahr, dass keine aktive Entscheidung des Hingegebenen dem Appell der gesättigten Phänomene in einem solchen Sinne gerecht werden kann, als sie zu einer Entsprechung im Sinne der Adäquation führen würde. Wegen dieser unaufhebbaren Differenz zwischen dem Exzess der Gegebenheit und der inadäquaten Aufnahme kann Marion die Kategorien von anderen Denkern – wie Chrétien, Henry, Levinas und Derrida – in seinen eigenen Ansatz integrieren. 22 Dennoch aber räumt Marion die Möglichkeit ein, dass sich der Hingegebene dem Appell verschließt. Der Hingegebene muss sowohl sich selbst als angesprochen anerkennen – wenngleich diese Anerkennung nach dem Appell kommt und ihn voraussetzt 23 –, als auch den Appell empfangen wollen (›vouloir‹ bien le recevoir). »Die Entscheidung zu antworten, also zu empfangen, geht der Möglichkeit zu sehen (voir) und zu begreifen (concevoir) voraus.« 24 Diese Entscheidung – sich dem Appell zu öffnen oder sich vor ihm zu verschließen – geht so weit, dass das Hingegebene »den gesamten Fluss der Phänomenalität« eröffnen oder verschließen kann. Ohne den Hingegebenen kommt das Gegebene nicht zu seiner Manifestation. Das Subjekt entscheidet zwar nicht über das Gegebene, wohl aber über seine Phänomenalisierung, über sein Zur-Erscheinung-Kommen. Mit dem Moment der Entscheidung und des Wollens erhält die Frage nach der Subjektivität bei Marion eine neue Komponente, die aber mit den bisherigen Ausführungen in einem Spannungsverhältnis steht. 25 Offensichtlich kann die gesamte Initiative nicht auf das gesättigte Phänomen verlagert werden, insofern die Phänomenalisierung vom Willen des Hingegebenen abhängt. Der Willensmoment führt die Dimension der Freiheit und der Möglichkeit in das Empfangen des Gegebenen ein und verstärkt die Rolle der Hermeneutik. Marion will allerdings seinen (hyper)phänomenologischen Ansatz klar von einer hermeneutischen Zugangsweise abgrenzen, weil in der Hermeneutik vom Subjekt bzw. von seinem (Vor)Verstehen ausJean-Luc Marion, Étant donné, 396–408 (dt., 473 ff.). Ebd., 412 (vgl. dt., 492). 24 Ebd., 420 (dt., 501; Übers. mod.). 25 Für theologische Implikationen »dieses Wechselspiels zwischen Passivität und Aktivität« (172) beim Hingegebenen vgl. Thomas A. Carlson, »Blindness and the Decision to See. On Revelation and Reception in Jean-Luc Marion«, in: Kevin Hart (Hg.), Counter-Experiences. Reading Jean-Luc Marion, Notre Dame (IN): Notre Dame University Press 2007, 153–179. 22 23

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gegangen wird. Die Hermeneutik, die Marion akzeptiert, ist eine nachträgliche Hermeneutik, die nach dem Gegebenen kommt und ihm mit keinem Vorverständnis oder Vorgriff (im Sinne von Heidegger oder Gadamer) vorausläuft. Dieses hermeneutische Interpretieren ist endlos, gerade weil die intuitive Gegebenheit jedes intentionale Verstehen maßlos übersteigt. Aber mit dem Zugeständnis des Willensmomentes kommt es zu einer neuen »Offenheit« der Subjektivität, die als Bedingung der Möglichkeit für das Zur-ErscheinungKommen des Gegebenen fungiert. Etwas gewagt könnten wir dieses Wollen mit dem Begriff der Intention (Absicht, Vorhaben) und sogar mit der Intentionalität verbinden. Kann die Gegen-Intentionalität überhaupt ihren Appel ausüben, wenn im Subjekt nicht die Intention besteht, sich dem Gegebenen hinzugeben, zum Hingegebenen zu werden? Marion führt das Beispiel der Ikone an, vor der sich der Hingegebene entscheiden muss, ob er sich ihrem Blick schutzlos aussetzt oder aber ihr gegenüber eine Indifferenz bzw. eine »imperiale Hermeneutik« entwickelt. 26 Dieses »Verlassen« (abandon) des Gegebenen kann zwar nicht das Primat der Gegebenheit in Frage stellen (auch »abandon« setzt »don« voraus), wohl aber ihre Phänomenalisierung und – wagen wir es auszusprechen – ihre Wahrheit. 27 Wie ist nun die Vor-Intention des Wollens (als Antworten-Wollen) mit der Gegen-Intentionalität des sich gebenden Phänomens zusammen zu denken? Offensichtlich handelt es sich um eine gegenseitige Angewiesenheit, aber Marion würde streng genommen keine Gegenseitigkeit (qua Entsprechung, Adäquation) zulassen. Es ist die Gegebenheit, die den Hingegebenen je schon unter ihren Anspruch (Appell) gestellt und ihn zu seinem Antworten-Müssen bestellt hat. Das ist »der strengste hermeneutische Zirkel«, so Marion: »Wir müssen in ihn nicht eintreten, weil wir von ihm je schon eingenommen (pris) sind, wir sollen aber nicht versuchen, aus ihm herauszutreten, weil selbst seine Ablehnung zu ihm zurückführt.« 28 Jean-Luc Marion, Étant donné, 422–423 (dt., 504: »gewaltige Hermeneutik«). Zur Wahrheitsauffassung bei Marion und seine Aktualisierung der Unterscheidung von Augustinus zwischen veritas lucens und veritas redarguens vgl. Jean-Luc Marion, Au lieu de soi. L’approche de Saint Augustin, Paris: PUF 2008, 160, und JeanLuc Marion, »Sättigung als Banalität«, 131. 28 Jean-Luc Marion, Étant donné, 423 (dt., 504). Marion würde auch nicht die Kritik von Shane Mackinley hinnehmen, der zeigen will, dass alle gesättigten Phänomene einen entsprechenden hermeneutischen Horizont verlangen, um als solche empfangen werden zu können. Nach Mackinley »a hermeneutic space is a transcendental 26 27

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Die Situation könnte sich beim Hingegebenen zuspitzen, der sich selbst aus dem empfängt, was er empfängt. Auch hier kann es sich nicht um eine bloße Passivität des Empfangs handeln, sondern ebenfalls nur um ein Wollen und eine Entscheidung. Dennoch aber behält die Gabe der Gegebenheit das letzte Wort. Dass sich der Hingegebene empfangen kann, ist bereits Gabe. Er kann sich zwar zu sich selbst auf unterschiedliche Weise verhalten, aber er muss sich immer schon empfangen haben. In seinem Buch über Augustinus schreibt Marion über die Aporie bzw. das Paradoxon des Selbst als Ergebnis einer absoluten Gabe: Ich bin »mir selbst gegeben, bevor ich überhaupt mein eigenes Selbst empfangen kann« (donné à soi-même avant de pouvoir recevoir même son propre soi). 29 Alles ist Gabe – oder mit Augustinus gesprochen: Alles ist Gnade.

4.

Schlussreflexion

Auch wenn Marion nicht müde wird zu beteuern, dass erst durch die phänomenologische Reduktion zur Gebung (donation) die Sachen von den transzendentalen Bedingungen der objektivierenden Intentionalität bei Husserl oder dem allumfassenden Seinshorizonts bei Heidegger befreit werden, ist deutlich geworden, dass eine Phänomenalisierung der Sachen, wie sie sich von sich selbst her geben, nur durch eine »aktive Antwort« des Hingegebenen zustande kommen kann. 30 Der Hingegebene wird als Zeuge bezeichnet, weil die Initiative dem Phänomen selbst gehört und der Zeuge nie zum Urheber, Träger oder Verwalter des Wahrheitsgeschehens wird. Und doch beschreibt Marion im selben Text, wie die Phänomene unterschiedlich interpretiert werden können (als anschauungsarme oder gesättigte), sodass »die Mehrzahl der Phänomene, wenn nicht sogar alle zur Sätcondition for the manifestation of all phenomena, whether they are reduced to objects, beings, or givens. This conclusion would in turn imply that all phenomenology is necessarily hermeneutic because of the hermeneutic character of phenomenality itself.« (Shane Mackinley, Interpreting Excess. Jean-Luc Marion, Saturated Phenomena, and Hermeneutics, New York: Fordham University Press 2010, 13). 29 Jean-Luc Marion, Au lieu de soi, 387. 30 »Der Hingegebene hat nichts Passives an sich, da er, und er allein ja, durch seine (das Verstehen suchende) Antwort auf den (anschaulichen) Anruf es dem, was sich gibt, gestattet, zwar nur teilweise, aber dennoch effektiv, sich zu zeigen.« (Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 138).

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tigung veranlassen können durch den ihnen innewohnenden Überschuss der Anschauung über Begriff und Bedeutung«. 31 Kommt es damit nicht auf die aktive Einstellung des Hingegebenen an? Und treibt nicht dasselbe Motiv etwa die phänomenologische Suche des jungen Heidegger an, der den Phänomenen in ihrer jeweiligen Spezifik und phänomenalen (Über)Fülle zu entsprechen trachtet? Wir haben das Beispiel der blumigen Wiese erwähnt. 32 Wenn ich sie »leibhaftig« erlebe, kann ihre Anschauung meine Intention adäquat erfüllen, aber diese Sichtweise bleibt immer noch der theoretischen bzw. objektivierenden Intentionalität verhaftet. Die Sinnfülle (und damit die Wahrheit) der blumigen Wiese (»die Sache selbst«) geht nach Heidegger über die gegenständliche Intentionalität hinaus, dennoch aber ist ihre »Phänomenalisierung« auf den Menschen angewiesen. Er stellt zwar keinen »Projektionsschirm [écran] des Seins« 33 dar, wohl aber jenes »Da« (des Lebens, später des Daseins), wo sich der Sinn ereignen und das Phänomen zu seiner »Eigentlichkeit«, zu sich selbst kommen kann. Der Seinshorizont 34 – als Vollzugshorizont des Phänomens in der Erschlossenheit des Menschen – will keinesfalls das Phänomen im Voraus bestimmen und konstituieren, sondern ihm zum Phänomenalisieren seiner selbst verhelfen. Wahrscheinlich würde Heidegger auch nicht bestreiten wollen, dass die Sinnfülle der blumigen Wiese in einem konkreten Erlebnis (Ereignis) nicht ausgeschöpft werden kann und durchaus als ein gesättigtes Phänomen bezeichnet werden könnte. Auch müsste sich der Mensch dem Phänomen hingeben, sich in angemessener Offenheit üben (was eine ganzheitliche Seinsweise des Menschen darstellt), damit das Phänomen wahrhaft sich selbst geben kann. Heidegger will ja genauso das transzendentale Subjekt überwinden; diese Ambition begleitet sein gesamtes denkerisches Unternehmen. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen Marion und Heidegger, wo auch die Verschiedenheit ihrer Auffassungen von Jean-Luc Marion, »Sättigung als Banalität«, 109. »Die blumige Wiese am Maimorgen« ist ein Beispiel, das Heidegger selber anführt (Grundprobleme der -phänomenologie. Wintersemester 1919–720 [GA 58], 76), um mit ihm zu zeigen, wie eine theoretisch-objektivierende Einstellung (wie sie etwa in der Wissenschaft praktiziert wird) die ursprüngliche Sinnfülle und Lebendigkeit eines Phänomens erdrückt. 33 Jean-Luc Marion, Gott ohne Sein, 68. 34 Das Verständnis des Seins kann hier nicht mit Marions Deutung der »étantité« gleichgesetzt werden. 31 32

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»Sich empfangen aus dem, was sich gibt«

Phänomenologie zutage tritt – nämlich wie »das Selbst des Phänomens« zu denken ist. Dieses Syntagma ist nicht identisch mit dem »Phänomen selbst«. Es gibt nach Marion ein »Sich« (Selbst) des Phänomens. 35 Man muss »dem Phänomen ein Selbst zuweisen, ihm eine Selbstheit (ipséité) zuerkennen«, behauptet er explizit. 36 Hat aber das Phänomen der blumigen Wiese ein Selbst, das die Initiative seiner Manifestation übernimmt und als Maß der Wahrheit fungiert? Hier muss man präzise sein: – das Phänomen der blumigen Wiese und nicht sein »materielles Substrat« (die wahrnehmbare Wiese mit Blumen als Naturding). Ist das Phänomen nicht immer auf den Menschen angewiesen, der es erlebt und ihm auf die eine oder andere Weise Bedeutung verleiht? Heidegger würde eine Entzweiung zwischen dem Selbst des Phänomens (an sich) – was wäre wohl ein unabhängiges Selbst des Phänomens der blumigen Wiese? – und dem Ereignis seiner selbst in der verstehenden Offenheit des Menschen nicht zulassen. Von einem Selbst kann erst dann gesprochen werden, wenn dieses sich als solches (d. h. als es selbst) ereignet – wenn etwa die blumige Wiese zu einem solchen gelebten Verständnis bzw. Seinsvollzug gelangt, indem sie eben sie selbst (d. h. eigentlich) ist. Man könnte in der Kant’schen Sprache von einem »Ding an sich« sprechen, aber dieses kann kein Phänomen sein, weil das Phänomen eine notwendige Relation zum Bewusstsein mit einschließt. Das Phänomen ist eben ein Ereignis des Sinnes und kann von der den Sinn vollziehenden Subjektivität nicht getrennt werden. Marion würde einwenden, dass die Ablehnung seiner Forderung nach einem eigenständigen Selbst des Phänomens zu einer alles dominierenden Transzendentalität führt, die den Phänomenen Bedingungen stellt und sie eben nicht von sich selbst her erscheinen lässt. Nach ihm muss man »Selbstheit [des Phänomens, Anm. B. K.] und Ichheit unterscheiden« und dies »jeder Strömung der Metaphysik entgegen«. 37 Die phänomenologische Reduktion kann daher nicht beim Entdecken der transzendentalen Bedingungen der Sinnkonstitution enden, sondern muss zur ursprünglichen Gegebenheit, zur »Pour admettre au contraire qu’un phénomène se montre, il faudrait pouvoir lui reconnaître un soi, tel qu’il prenne l’initiative de sa manifestation« (Jean-Luc Marion, De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: PUF, 2001, 35). 36 Jean-Luc Marion, Die Phänomenalität des Sakraments. Wesen und Gegebenheit, in: Michael Gabel, Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in Diskussion, Freiburg/München: Alber 2007, 89. 37 Ebd. 35

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Selbstgebung des Phänomens vor seiner Phänomenalisierung, gelangen können. Marion ist sich bewusst, dass er sich damit dem Vorwurf der Metaphysik aussetzt. Und in der Tat ermöglicht sein Verständnis des Phänomens (in seinem »Selbst«) viele Parallelen mit der klassischen Sicht einer unabhängigen Realität, die dem menschlichen Erkennen vorausgeht und ihm das Maß der Wahrheit auferlegt. Aber Marion kommt zu seinen Schlussfolgerungen mit stringenten phänomenologischen Analysen und kann zurecht verlangen, dass keine voreiligen Vorwürfe erhoben werden. Muss die phänomenologische Reduktion am Ende (das zugleich den Anfang darstellt) nicht auf etwas stoßen, dass ich nicht selbst bin und was mir von »woanders« (d’ailleurs) gegeben wird? Muss ich am Ende nicht anerkennen, dass ich mir selbst von woanders gegeben bin 38 – trotz der vermeintlichen Paradoxie, die diese Äußerung zu implizieren scheint? Das Phänomen der blumigen Wiese hätte nach Marion sein eigenes Selbst. Es gibt sich in einer Überfülle der Anschauung, die all unsere Begriffe und Intentionen übersteigt. Jedes Verstehen und jedes Erleben dieses Phänomens ist eine ungenügende Antwort auf die exzessive Fülle seiner Gebung. Der Adressat dieser Gebung ist der Beschenkte bzw. der Be-Gabte, der sich selbst gegeben ist, bevor er im Bewusstsein sein »bin« aussprechen kann. Marion kehrt die phänomenologische Perspektive um: Nicht die Phänomene sind die Adressaten einer Sinngebung seitens der transzendentalen Subjektivität, sondern die Subjektivität ist der Adressat der Gebung der Phänomene und er-gibt sich aus dieser Logik der Gabe.

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Jean-Luc Marion, Au lieu de soi, 386.

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Umkehrung der Intentionalität Zur Neubestimmung der Phänomenalität bei Marion 1 Karel Novotný

Die von Jean-Luc Marion vorgeschlagene Erneuerung der Frage nach der Natur des Erscheinens als solchem möchte ich zunächst mittels des zweiten Paragraphen des Buches Etant donné vorstellen, um anschließend auch seine späteren Überlegungen zur Phänomenologie und Hermeneutik zu berücksichten, beides unter dem Leitmotiv der Umkehrung der Intentionalität. Gemäß Etant donné 2 besteht die Aufgabe der Phänomenologie darin, das Erscheinen selbst erscheinen zu lassen. Der Ausgangspunkt Marions war dabei, wie er selbst wiederholt bemerkt, Heideggers Definition des Phänomens als das, was von selbst und an sich selbst erscheint, einerseits, andererseits aber auch das Motiv der ethischen Umkehrung der Intentionalität bei Levinas. Jean-Luc Marion beschreibt den Zugang Husserls zu der erwähnten Aufgabe folgendermaßen: Das Erscheinen der »Sache selbst« muss in ihren einzelnen sinnlichen, perzeptiven oder subjektiven Erscheinungen dargelegt werden. Um dies zu erreichen, müssen wir die phänomenologische Reduktion vollziehen, die die Erscheinungen von den transzendierenden Auffassungen reinigt, die aus ihnen seiende Zustände des Geistes, des Leibes, kausale Folgen des Wirkens äußerer Prozesse usw. machen. Die reduzierte, d. h. von den falschen Interpretationen reinigte Gegebenheit dieser Escheinungen ist dann selbst wiederum eine Erscheinung, ein »reines Phänomen«, wie Husserl es in der Idee der Phänomenologie zum Ausdruck bringt; sie ist eine solche Erscheinung, in der sich das Zeigen selbst zeigt, und zwar so, fügt Marion hinzu, wie es immanent erscheinen muss, wenn die Reduktion voll-

Dieser Artikel ist im Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik entstanden. 2 J.-L. Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, PUF, Paris 1997, fünfte korr. Auflage 2005; dt. Übers, Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München 2015. 1

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Karel Novotný

zogen wurde. Dieser Übergang von einem Sich-Selbst-Zeigen der Sache zur Selbstgegebenheit des Phänomens kann jedoch nicht davon absehen, dass auch das phänomenologische Erkennen immer von mir ausgeht, sodass die Aufgabe der Phänomenologie – die Aufforderung, die Manifestation des Phänomens aus dem zu entwickeln, wie es selbst erscheint – sogleich mit dem Paradox des Anfangs verbunden wird: Sobald die Phänomenologie die Initiative ergreift und zu einer Auffassung des Erscheinens als eines Sich-Selbst-Zeigens übergeht, hört dieses Erscheinen auf, rein es selbst zu sein; es wird zu einer Initiative des Phänomenologen und durch diese Initiative subjektiv kontaminiert, wodurch es infolgedessen verloren geht. Wie soll man aber die Methode oder das Prinzip der Phänomenologie begreifen, wenn die Thematisierung der anfänglichen Ursprünglichkeit, will sie vorurteilslos sein, ihr eigener Rückzug in die ursprüngliche Manifestation dessen sein müsste, was sich von sich selbst her zeigt? Das Geben dient insofern als letztes Prinzip des Phänomens, als es dazu in der Lage ist, zu fordern, dass dem Phänomen nichts vorausgeht und es sich nur auf sein bloßes Erscheinen, das aus ihm selbst her stammt, beschränkt; das Phänomen also erscheint, ohne sich nach einem anderen Prinzip zu richten als dem, was es selbst ist. Das Prinzip des Gebens hat hierbei zum Zweck, dem Erscheinen vom Phänomen den Primat zu verleihen. Marion zufolge darf das Prinzip des Gebens nicht die Regel und die Grenzen des Erscheinens apriori fixieren. Erst nachdem sich das Erscheinen manifestiert, d. h. frei entwickelt hat, ohne sich auf ein anderes Prinzip zu gründen, kommt es zur Intervention des Prinzips des Gebens, welches sodann mittels der Reduktion, a posteriori, bloß dasjenige zu bescheinigen hat, was im Erscheinen selbst wirklich verdient, als ein rein gegebenes Phänomen bezeichnet zu werden. Das Prinzip des Gebens steuert das Erscheinen ex post, das Geben kann den Namen eines Prinzip nur tragen, wenn es auch dem Phänomen erlaubt hat, aus sich selbst zu erscheinen, also nur dann, wenn es konstatiert, dass das Phänomen sich gegeben hat, und zwar absolut, d. h. nur aus sich selbst heraus. 3 Im Unterschied zu dem Status, der den Prinzipien in der Metaphysik zukommt, besagt dieses neue Prinzip: Niemals mehr darf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit Grundlage des Phänomens sein.

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Ebd., 29 (dt. Übers, 45).

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Und dennoch kommt hierdurch eine Entscheidung über die Natur der Erscheinungen selbst zustande. Die Phänomenalität des Phänomens, also die Essenz oder die Natur des Phänomens als solche, mit der sich vornehmlich der § 2 von Etant donné auseinandersetzt, ist nach Marion ausgehend vom Geben der Gegebenheit zu verstehen, als vom Prinzip aus, das der Philosoph setzt, indem er sich dem Geben – die phänomenologische Reduktion radikalisierend – hingibt. Das Sich-Geben der Gegebenheit ist dabei insofern gerechtfertigt, als es in der Struktur und im Ereignis des Erscheinens selbst wirkt. Der § 2 von Etant donné enthält eine komprimierte Zusammenfassung der von ihm vorgeschlagenen Inversion der ursprünglichen intentionalen Phänomen-Auffassung und der ihr bei Husserl zugrundeliegenden phänomenologischen Differenz. Das Leben des Bewusstseins, das Erleben und Erscheinen, besteht für Husserl in der synthetischen Tätigkeit eines immer nur partiellen Erfüllungsprozesses der Intentionen, der sich daher niemals in einer vollständigen Erfüllung, in einer Sättigung zu vollenden weiß, welche Erfüllung daher eher ein bevorstehendes Ideal adäquater Erkenntnis ist als eine tatsächlich potentielle Realität; und das Leben des Bewusstseins ist bei Husserl dementsprechend eher ein auf diese Erfüllung hin orientierter, zu dieser Erfüllung tendierender unendlicher Prozess des Erfüllens selbst, der notwendig auch immer voller Enttäuschungen ist. Marion geht demgegenüber vom Überschuss an Sinn in der Erfahrung aus, der eine solche Dynamik des Erscheinens als Sinngebung auf die Evidenz hin vollständig relativiert, und dies mit dem Ziel, ihr eine Bedingung gegenüberzustellen. Denn diese ganze Dynamik verlangt nach einer Gegebenheit, die sie sich selbst nicht geben kann. Die Evidenz ist bloß ein Ort der Gegebenheit, der Schauplatz des Erscheinens, aber nicht ihr tatsächlicher Ursprung, und noch weniger ihr Prinzip; Marion zufolge ist die Evidenz an sich selbst ohne Gegebenheit nicht nur »leer«, sondern dazu noch »blind«. Nur durch die Operation der phänomenologischen Reduktion im Sinne Marions kann die zu »idolatrischem Tod« verurteilte »blinde« Evidenz Husserls in eine »mit der Gegebenheit beladene Evidenz« verwandelt werden, die von der Tendenz des oben geschilderten Lebens befreit wird, insofern sie nämlich eine Tendenz zur Wahrheit im Sinne einer Kohärenz der Intentionen im Spiel der partiellen Erfüllung und Enttäuschung, eine Tendenz zur Evidenz im Sinne eines Bildschirms wird, der sich selbst gegenüber blind ist und nur registriert. Die Gegen-Methode Marions wird dieser Tendenz eine ur135 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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sprüngliche Gegebenheit entgegenstellen: »Gegebenheit/Gebung verlebendigt gleichermaßen Reduktion und Evidenz, ist sie es doch allein, die beiden die Verantwortung für die Phänomenalität überträgt.« 4 Hiermit wird eine Wende oder Inversion in Marions neuem Konzept der Phänomenalität eingeleitet. Auch bei Husserl kann nun erst vom reduktiven Standpunkt aus dasjenige in den Blick genommen werden, was das Thema seiner eigenen Phänomenologie sowie des folgenden Anschnitts des § 2 von Etant donné darstellt: nämlich »die wesentliche Korrelation« zwischen dem Erscheinen und dem Erscheinenden, die zugleich die ursprüngliche phänomenologische Differenz zwischen Erleben und Phänomen bezeichnet, so wie sie im Durchgang der transzendentalen Wende der Phänomenologie Husserls in das Konzept des »reinen Phänomens« mit aufgenommen wurde. Im reinen Phänomen tritt die Differenz und die Korrelation erst durch die transzendentale Reduktion in den Blick des reflektierenden Phänomenologen auf. Erst »im reinen Phänomen« ist eine Evidenz der Korrelation möglich, die Marion seinerseits wie folgt charakterisiert: »die subjektiven Gegebenheiten bieten nicht nur sich selbst in ihrem bloßen Zeigen, sondern vor allem das dar, was sie dadurch erscheinen lassen«: »Die Korrelation, in der Erscheinen und Erscheinendes zueinander stehen, und damit die Definition von Phänomen selbst, ruhen völlig auf Gegebenheit auf. In der Phänomenologie mag allein Gegebenheit die Weisen des Erscheinens vollauf zu würdigen, sodass diese die Aufgabe übernehmen können, zur Erscheinung für ein Erscheinendes zu werden, kurz gesagt: den Erscheinungsgegenstand zu geben.« 5

Die phänomenologische Differenz des Erscheinens als Erleben einerseits und des erscheinenden Phänomens andererseits – ganz wie ihre Aufhebung im reinen Phänomen, die es erst ermöglicht, die für die Erkenntnistheorie Husserls so grundlegende These von der wesentlichen Korrelation zwischen der Noesis und dem Noema phänomenologisch anschaulich, also evident zu sichern – wird hier somit auf ein noch tieferliegendes Fundament verlegt: Die Gegebenheit ermöglicht die transzendentale Grundlegung der Korrelation vom Erleben des Erscheinens und dem vermeinten Sein des erscheinenden Objekts; das Ermöglichende ist hier das Geben selbst, la donation. Das neue Ebd., 33, dt. Übers, 50: »La donation donne vie autant à la réduction qu’à l’évidence, puisqu’elle seule leur donne la charge de la phénoménalité.« 5 Ebd., 34; dt. Übers., 51. 4

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Konzept der Phänomenalität bei Marion gibt sich somit als eine Art Inversion der Husserlschen klassischen Konzeption zu erkennen, in der das Erscheinen ein in der Apprehension gründendes Geben ist, d. h. in einer Sinnverleihung durch Akte des signitiven und anschaulichen Meinens besteht, die allein in der Erfahrung bestätigt oder widerlegt, jedoch keinesfalls durch erfahrenes Objekt gegeben werden können. Dagegen gilt bei Marion genau das Umgekehrte: Das Erlebnis des Erscheinens kann deswegen ein Objekt als erscheinendes Phänomen geben, weil dieses Phänomen sich selbst im Erlebnis gibt. Mit anderen Worten, es gibt sich in einem Prozess des Erscheinens, in dem sich die beiden Seiten – das Erlebnis und das Phänomen – gleichmäßig in Korrelation entfalten, wobei der Focus gerade auf dem Mittelglied liegt: Beide Terme der Korrelation entfalten sich allein im Geben. 6 Dies ist durchaus verständlich, will seine Lektüre ja gerade auf folgende Idee hinausgehen: »Gegebenheit übernimmt nicht diese oder jene Aufgabe innerhalb der [dem Phänomen gehörigen] Korrelation, sondern sie übereignet sich alle ihre Elemente, die ihr angehören. Sie liegt mit Korrelation gewissermaßen verpflichtend vor, benennt sich nach ihr und ermöglicht ihren Vollzug.« 7

Die radikalisierte Reduktion Marions strebt so eine Rückführung auf das Geben, la donation an. Von einer solchen Reduktion aus beweisen sich dann alle phänomenologischen Differenzen als verschiedentliche Entfaltungen des Gebens, welches zu einem universalen Prinzip der Phänomenalität heranwächst.

Marion kommentiert folgende Stelle der Idee der Phänomenologie Husserls: »[D]ie cogitationes, die wir als schlichte Gegebenheiten für so gar nichts Mysteriöses halten, bergen allerlei Transzendenzen. Wenn wir näher zusehen und nun achten, wie im Erlebnis etwa eines Tones, auch nach phänomenologischer Reduktion, sich Erscheinung und Erscheinendes gegenübersetzen und sich gegenübersetzen inmitten der reinen Gegebenheit, also der echten Immanenz, so werden wir stutzig […], um uns auf das Neue aufmerksam zu machen: das Phänomen der Tonwahrnehmung, und zwar der evidenten und reduzierten, fordert innerhalb der Immanenz eine Unterscheidung zwischen Erscheinung und Erscheinendem. Also zwei absolute Gegebenheiten haben wir, die Gegebenheit des Erscheinens und die Gegebenheit des Gegenstandes […].« Vgl. E. Husserl, Idee der Phänomenologie, Hua II, 11. 7 J.-L. Marion, Gegeben sei, 52, vgl. Etant donné, 35:»La donation ne joue pas tel ou tel rôle dans la corrélation, mais elle en investit tous les termes parce qu’elle se confond avec la corrélation même, dont elle prend le nom et qu’elle seule rend possible. La corrélation entre les deux faces du phénomène n’utilise pas la donation – elle la déploie, l’accomplit, n’est rien d’autre qu’elle même.« 6

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Marions Inversion des klassischen intentionalen Konzepts des Erscheinens gewinnt in diesem Paragraph noch an Deutlichkeit, wenn man die folgenden Kommentare zur Husserl’schen Unterscheidung der »zwei Immanenzen« aus der Idee der Phänomenologie betrachtet: »das Geben blitzt auf, weil sich das Erscheinen der Erscheinung«, d. h. ihr Erscheinen für den Blick des Phänomenologen, der im reinen Phänomen das Erlebnis der Erscheinung thematisiert, »zum Erscheinen des Erscheinenden macht, kurz gesagt, weil es das Erscheinende in sein eigenes Erscheinen verstrickt. Das Geben gibt dem intentionalen Gegenstand Erscheinen, in einem und als ein Erscheinen der Erscheinung.« 8 Dies bedeutet nach Marion sodann: »das Bewusstsein wird intentional dem Erscheinenden selbst immanent« 9. Hier bekommt die Rede von der Inversion der Intentionalität einen ganz eigenen Sinn: Das Erlebnis des Erscheinens wird hier – dank der Korrelation mit dem Erscheinenden, und dank der Fundierung dieser Korrelation im Sich-Geben des Erscheinenden – so gedeutet, dass es dem Erscheinenden, also dem Phänomen, als immanent gilt, und zwar, wie wir gesehen haben, als »intentional immanent«. Dies mag vorerst befremdlich klingen, doch genau auf einen solchen Effekt will Marion hinaus, geht es ihm doch um die Umwendung der Perspektive, um ein neues Denken der Korrelation ausgehend von dem sich gebenden Phänomen selbst. Dies sehen wir beispielsweise durch folgende Stelle bestätigt: Das Erscheinen, also das Erleben, »wird nur insofern immanent, als das Bewusstsein im Erscheinenden selbst intentional immanent wird«. 10 Das, worauf es dieser Phänomenologie ankommt – das letzte Prinzip der Phänomenalität, nämlich das Geben, la donation, als uni-

Ebd., 39 (Übers. d. Verf.); vgl. dt. Übers., 56 f. Ebd., 38; übers. u. hervorgehoben vom Verf.; vgl. dt. Übers., 56. 10 Ebd. Die ganze Stelle lautet im Original: »D’emblée, l’image se trouve régie par l’apriori corrélationnel qui ne donne le moindre apparaître à et dans la conscience qu’en y co-donnant un apparaissant ; l’intentionnalité rend l’apparaissant immanent à la conscience, du simple fait que l’apparence (certes immanente réellement) n’apparaît jamais que toujours déjà ordonnée à son objet par l’intentionnalité ; l’immanence, en régime d’intentionnalité, en quelque manière s’inverse (ou se redouble) : le phénomène pris dans sa dualité ne reste immanent à la conscience, que parce que d’abord la conscience intentionnelle se fait immanente à l’objet apparaissant ; l’apparaître ne devient immanent, que dans la mesure où la conscience devient intentionnellement immanente dans l’apparaissant lui-même.« Die von mir hervorgehobenen Stellen entsprechen den Zitaten im Haupttext; vgl. für die dt. Übers., 56. 8 9

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versale Bedingung eines jeden Phänomens –, ist nach Marions wiederholten Behauptungen selbst nicht gegeben. Es stellt sich daher die Frage, ob sich das Geben, la donation, dem Prinzip der Phänomenologie nicht entzieht? Wie wird dieses Prinzip gerechtfertigt? Wie wird die Grenze der neuen Phänomenologie gerechtfertigt? Wenn eine jede in der Phänomenologie vollzogene Rechtfertigung (in der alten, klassischen, oder neuen, radikalisierten) durch die Analyse der Phänomene selbst zu leisten ist, so hat die Phänomenologie ihre eigene Grenze – bestimmt durch die Nicht-Gegebenheit, die Nicht-Phänomenalität des Gebens selbst – an den Phänomenen selbst auszuweisen. So geht auch Jean-Luc Marion vor, der dazu seinen Ausgangspunkt in die Analyse der sogenannten gesättigten Phänomene verlegt. Nach dieser Analyse sind die donation und das Phänomen prinzipiell voneinander zu unterscheiden. Das Verhältnis zwischen beiden wird allgemein auf folgende Weise charakterisiert: Das Phänomen ist eine Entfaltung des Appells durch die sich in demjenigen Menschen vollziehende Antwort, der seinerseits auf den Appell antwortet. Das Paradox der Phänomenologie J.-L. Marions könnte in folgender Weise zusammenfasst werden: Alles erscheint, wird Phänomen, insofern es gegeben ist, sodass es a priori keine Grenze dafür gibt, was Phänomen werden kann: Sogar der Tod, die Geburt und Gott haben – als Grenzphänomene – ihre ganz eigene Phänomenalität, insofern nämlich auch sie sich geben. Um aber dieses »insofern«, diese universale Bedingung aller Phänomenalität zu enthüllen, muss die Phänomenologie in einer solchen Weise radikalisiert werden, dass sie sich selbst – ganz wie das Phänomen als Antwort des Beschenkten, des Empfangenden – zurücknimmt. Wir können in der Phänomenologie nur Phänomene, nicht aber das Geben selbst sehen. Wir können aber annehmen, dass wir in den Phänomenen eben die Entfaltungen des Gebens erleben; diese Annahme lässt sich nur durch eine solche Radikalisierung der Phänomenologie rechtfertigen, die vom Phänomen aus über dessen Grenze bis zur Ereignishaftigkeit seiner Gabe hinauszusteigen in der Lage ist, insofern auf sie das Erscheinen als solches in sich selbst und von sich selbst aus verweist – bei Levinas ist dieser Schritt keine Phänomenologie mehr, obwohl sie phänomenologisch die Spur der ethischen Beziehung des Lebens bis zur Grenze verfolgt, die eine ethische Rede erforderlich macht, welche letztendlich über die Phänomenologie hinausgeht.

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Ich komme zum zweiten Punkt, zum Vortrag Donation et herméneutique. 11 Auch nach diesem Text ist das Geben selbst nicht gegeben, und das Gegebene selbst daher muss als »ein Rätsel« angesehen werden: »Die Unbestimmtheit des Gegebenen ergibt vielleicht seine einzige korrekte Bestimmung, eine solche, die sie von all dem unterscheidet, was [daraus] folgt, von den sense data, den Objekten, die alle Ableger von seinem Ereignis, also vom Ereignis des Gegebenen sind.«

Vom Mythos eines unmittelbar Gegebenen muss uns eine Hermeneutik befreien, die dem Gegebenen angemessen ist und ihm entspricht, »was auf die Weise geschieht, dass das Gegebene sich frei (délibérément) in seiner Manifestation befreit, anstatt wieder in eine Anonymität zurückzufallen und in der Dunkelheit zu verbleiben«. Der phänomenologischen Reduktion auf ein reines Phänomen wird eine Hermeneutik angeschlossen, sie sei dafür nötig, dass das Gegebene als das erscheint, was es als Phänomen bedeutet: Die Hermeneutik gibt ihm nicht eine, sondern »seine Bedeutung«: »Die von der Hermeneutik verliehene Bedeutung resultiert damit nicht so sehr aus den Bestimmungen des Hermeneutikers, sondern von dem, den das Phänomen erreicht und dem gegenüber der Hermeneutiker der Entdecker und somit letztlich ein Diener bleibt«, denn er muss »sich von dem sich zu phänomenalisierenden Gegebenen eine Interpretation geben lassen«. (GH, 296 f.)

Und die Phänomenalisierung besteht eben in einer solchen hermeneutischen Deutung, Interpretation dessen, was gerade dem Adressaten der Gabe dank seiner Antwort darauf erschienen ist. Es scheint mir also, dass hier folgendes gesagt wird: So wie das Erscheinen bei Husserl in der Interpretation, als intentionaler Deutung oder Apperzeption des Gegebenen, besteht, wie es sich dem Blick des darauf rückwendig im reinen Phänomen Reflektierenden enthüllt, so geschieht die Phänomenalisierung in der Deutung, die der Hermeneutiker an der Entfaltung der Gegebenheit abliest, so wie sie durch den

11 Bisher publiziert in Englisch: Jean-Luc Marion, Givenness & Hermeneutics (Pere Marquette Lecture in Theology), Marquette University Press 2013. Die für den vorliegenden Band von S. Knöpker verfasste deutsche Übersetzung, die im vorliegenden Band (S. 283–305) publiziert wird, habe ich im Folgenden modifiziert und zitiere sie im Text mit der Sigel GH.

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Adressaten der Gabe in seiner Antwort darauf unreflektiert geschehen ist, womit wir wieder bei Husserl landen würden: Die Deutung wird hier vom Hermeneutiker, dort von transzendentalen Phänomenologen geleistet: »Das Phänomen zeigt sich in dem Maße, wie der Hermeneutiker von dem Gegebenen den Sinn anerkennt, den dieses Gegebene selbst hat.« (Ebd.) Ich denke, man kann im Zitat an die Stelle des Hermeneutikers den Phänomenologen setzten, ohne dass sich der Sinn ändert. Die Frage aber bleibt: Woher hat das Phänomen also diesen Sinn? Das scheint für die Hermeneutik genauso rätselhaft zu sein wie für die intentionale Analyse Husserls, nach welcher dieser Sinn intentional gestiftet ist, wobei die Stiftung selbst aber unhinterfragbar bleibt, zumindest in der statischen Phänomenologie, und die Frage bleibt also: Warum ist gerade mit diesem Sinn das an sich unbestimmte Gegebene erschienen? Das kann ja weder die intentionale Analyse noch Hermeneutik entscheiden. Beide Prozeduren können sich aber übersteigen und sich der Ereignishaftigkeit des Erscheinens als solchem öffnen. Und Jean-Luc Marion scheint auch, in diesem Text, über den Umweg durch die Hermeneutik zu seiner Idee der Phänomenalisierung als Entfaltung der Falte der Gegebenheit durch die Antwort auf einen Appell zurückzufinden. Der Sinn des Gegebenen ist der Sinn, den die Antwort auf seinen Appell gibt: »So hängt die Hermeneutik von der Struktur der Frage und der Antwort ab, d. h. von der Struktur des Anrufs und der Antwort, also der Struktur des im Sichtbaren Gegebenen: die Hermeneutik selbst ist ein Fall des Spiels zwischen dem, was sich gibt und dem, was sich zeigt, zwischen dem Appell des Gegebenen und der Antwort (durch den Sinn) dessen, was sich im Gegebenen zeigt.« (GH, 298)

So wird die Leistung der Hermeneutik hier in das Geschehen der Erscheinens integriert, das schon in Étant donné beschrieben wird, und zwar als »beinahe … ein Sonderfall des ursprünglichen Verhältnisses zwischen dem, was sich gibt und dem, was sich zeigt.« (ebd.) Die Hermeneutik im Dienste des Gabevorgangs hat die Funktion der »Rezeption und Identifikation des Gegebenen«, sie also artikuliert nur die Inversion der Intentionalität, in der das Gegebene zwar als unbestimmt angesetzt ist, aber als Appell sein eigenes phänomenales Bestimmen im Erscheinen regelt, was sich ex post als hermeneutische

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Auslegung nachträglich entfalten lässt. 12 Die Funktion der Hermeneutik noch einmal von Jean-Luc Marion präzisiert: »Der Abstand zwischen dem, was sich gibt und jenem, was sich davon zeigt, bestimmt endgültig die Phänomenalität der Gegebenheit, weil diese direkt aus der Endlichkeit des Hingegebenen (adonné) stammt. So ergibt sich auch der verpflichtende Ort und die Funktion der Hermeneutik: diese verwaltet (gère) den Abstand zwischen dem, was sich gibt und jenem, was sich zeigt, indem sie den Anruf (appel) (oder die Anschauung) mittels der Antwort (Begriff oder Bedeutung) interpretiert. Die Anschauung, zugleich gegeben und entgegen genommen, bleibt blind, zeigt noch nichts, solange der Hingegebene (adonné) nicht seinerseits die Bedeutung(en) (oder Begriffe) erkennt, die es erlauben, dass sich darin verbindlich ein Phänomen zeigt. Die Kraft der Hermeneutik ermisst also in letzter Instanz die Möglichkeit für das, was sich gibt, um sich zu zeigen. Kurz gesagt steckt sie die Maßstäbe der Phänomenalisierung der Gegebenheit ab. Somit lässt … eine Phänomenologie der Gegebenheit Phänomene als gegeben nur insofern erscheinen, als in dieser Phänomenologie eine Hermeneutik des Gegebenen geleistet wird, und zwar des Gegebenen als Gezeigten und als des sich Zeigenden, als für den Hingegebenen (adonné) sichtbar und von ihm gesehen.« (GH, 302)

Ich würde dieses Zitat so wiedergeben: Hermeneutik bedeutet hier die Phänomenalisierung, die nachträglich mit der Verendlichung der Gabe durch diese Gabe selbst im Hingegebenen (also im Subjekt der Gabe) mitgeht, desssen Intentionen die Rezeption des Gegebenen artikulieren, indem sie es als etwas erscheinen lassen. Die Hermeneutik muss die Entfaltung der Gegebenheit durch das Antworten der subjektiven Intentionen auf den Appell nachträglich mit verfolgen, weil sich das Phänomen zwar von sich aus, aber nicht unmittelbar gibt. Dass es sich nicht um eine andere Hermeneutik handelt als die vom Hingegebenen, also von dem, der durch seine Antwort das Gegebene erscheinen lässt, das wird im Text ausdrücklich gesagt und betont, daher wage ich es so umzuformulieren: Es ist seine Intentionalität des Hinzugegebenen, Intentionalität seines Bewusstseins, die das Gegebene erscheinen lässt. Auf diese Weise scheint in der hermeneutischen Wende die Intentionalität des Adressaten der Gegebenheit

»Das Sich des Phänomens regelt in letzter Instanz die Gegebenheit. So handelt es sich nicht um eine Bedeutungsgebung des Ich, welches diese Bedeutung in dem Gegenstand konstituiert. Vielmehr wird es im Bewusstsein zugelassen, dass der Gegenstand zu seiner ihm eigenen Bedeutung findet, so dass dieser mehr anerkannt als gekannt wird.« (GH, 296).

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Umkehrung der Intentionalität

wiederum in ihre Rechte mit zu kommen, wenn es darum geht, das Erscheinen der Phänomene zu bestimmen. Aus der Umkehrung der Intentionalität wird ein hermeneutischer Zirkel, in den auch die vom Subjekt ausgehende Intentionalität aufgenommen wird. Die folgende Stelle des Vortrags Donation und Hermeneutik mit einem Zitat aus dem Aufsatz über die Banalität der Sättigung scheint mir, diese Umformulierung der Umkehrung der Intentionalität in der Hermeneutik zu erlauben: »Tatsächlich muss man die Banalität der Sättigung zugeben, da ein und dasselbe Gegebene sich zeigen (erscheinen, sich phänomenalisieren) kann, als mehr oder weniger gesättigt, je nachdem, mittels welcher Hermeneutik es gesehen wird. Unter diesen Möglichkeiten ist die Hermeneutik herausgehoben, die der Hingegebene (adonné) ausführt. Es gilt: ›Der Hingegebene hat nichts Passives an sich, da durch seine (hermeneutische) Antwort auf den Ruf (in Anschauung gegeben), es ihm und nur ihm möglich wird, das, was sich gibt, zu einem Teil zwar nur, aber doch in einem reell gegeben Sinne, das zu werden, was sich zeigt.‹ 13 Der Übergang eines armen oder gewöhnlichen Phänomens zu einem gesättigten Phänomen bleibt Sache der Hermeneutik.« (GH, 304)

Das Gegebene mag erlebt werden, aber erst eine intentionale Auffassung dessen, was unbestimmt gegeben erlebt wird, lässt es als das oder jenes erscheinen. Die Hermeneutik ist einer intentionalen Analyse gleich, die an den Phänomenen geübt werden kann, sobald sie als dieses oder jenes jeweils durch einen Sinn erschienen sind. Auch die Beispiele, die in beiden Aufsätzen angeführt werden, scheinen dem nicht (alle) zu widersprechen – ich zitiere lieber nur ein Beispiel: »Erstens bestimmt sich der Anruf durch seine Anonymität, was die Wahrnehmung und sprachliche Manifestierung anbelangt. Nicht nur kraft des Schweigens des Rufes – es gibt keine Stimmen, die gehört werden könnten, da es kein Schallereignis oder keine innere Stimme gibt – sondern vor allem, weil der Anruf normalerweise die Intention und die Zuweisung des Signals (akkustisch oder anders bestimmt, in Schweigen gegeben oder sichtbar) voraussetzt.« (GH, 302)

Inversion der Intentionalität bedeutete in Etant donné, dass das Erleben dem Gegebenen, dem Appellierenden immanent ist, d. h. indem es gegeben ist, kann sich von ihm aus sozusagen ein intentionales

Jean-Luc Marion, Le visible et le révélé, Kap. VI, »La banalité de la saturation«, Paris, Cerf, 2005, S. 181.

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Erlebnis des Erscheinens als Antwort entfalten. Jetzt in den beiden Aufsätzen, die später verfasst wurden, scheint konzediert, dass die Gegebenheit auch auf die Antwort auf sich angewiesen ist. Und das scheint auch der Fall zu sein, wenn es darum geht, den Übergang vom armen zum gesättigten Phänomen zu erklären, das ist auch une affaire d’herméneutique, wie wir gehört haben: »Tatsächlich muss man die Banalität der Sättigung zugeben, da ein und dasselbe Gegebene sich zeigen (erscheinen, sich phänomenalisieren) kann, als mehr oder weniger gesättigt, je nachdem mittels welcher Hermeneutik es gesehen wird.«

Mit anderen Worten hängt es davon ab, wie es intentional erlebt wird, mit welcher Einstellung, Erwartung, Habitualität usw. Die Art und Weise nachträglich zu erfassen, wie etwas intentional gemeint ist, ob überhaupt etwas gemeint ist, in welcher Hinsicht es zu einem Überschuss an Bedeutung oder Anschauung kam, das scheint die Aufgabe der Hermeneutik zu sein, wobei primär der Mensch in der natürlichen Einstellung die Leistung der Interpretation des Gegebenen, ihm ausgesetzt, vollbringt, indem er nicht umhin kann, als auf den Appell zu antworten bzw. dem Appell zu entsprechen. Der Hermeneutiker entscheidet nachträglich nicht über den Sinn des Gegebenen, sondern kann ihn nur aus dem Erschienenen als Phänomen herauslesen, sowie es der transzendentale Phänomenologe eben im reinen Phänomen auch machen kann. Weder der eine noch der andere, und der Mensch in der natürlichen Einstellung schon gar nicht mehr, kann sagen oder entscheiden, woher der Sinn kam, der das Phänomen erschienen ließ. Sie können sich nur darin einig sein, dass es einfach oder rätselhaft so gegeben wurde. Der transzendentale Phänomenologe und der Hermeneutiker können nicht umhin, die Rolle der Intentionalität im Erscheinen als ein Faktum zu konstatieren: Es hat sich etwas als etwas gezeigt, gesättigt oder nicht. Und beide können auch Kontexte aufweisen, dank denen es sich gerade so zeigen konnte. Ob die Intentionalität so oder so umgekehrt wird, das entscheidet nicht darüber, warum sich etwas gezeigt hat. Es ist letztlich ein Ereignis, dass sich etwas zeigt. Diese Ereignishaftigkeit des Erscheinens als solches zu denken, verlangt danach, über die transzendentale Phänomenologie und Hermeneutik noch hinaus zu gehen. Die Phänomenologie der donation bei Jean-Luc Marion ist ein Weg in diese Richtung, den wir alle sehr schätzen. 144 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Umkehrung der Intentionalität

Die Umkehrung der Intentionalität des Erscheinens und ihre Aufhebung in den hermeneutischen Zirkel sind als ein unerlässlicher Schritt zur Umkehrung ins Ereignis des Erscheinens ausgearbeitet. 14

Davon zeugt auch der Schluss des Aufsatzes Donation et herménéutique: »wir generalisieren« Heideggers Hermeneutik des Unterschieds zwischen der Phänomenalität des Vorhandenen und Zuhandenen, schreibt Marion hier, »in der Umkehrung der Objekthaftigkeit in seine geheime Ereignishaftigkeit. Ohne Zweifel hat dabei unsere Unterscheidung zweier allgemeiner Modi der Phänomenalität auch noch andere Eigenschaften. Grundsätzlich lässt sich dabei sagen: »Aber das Entscheidende bleibt: die Unterscheidung der Modi der Phänomenalität (was sich für uns in der Unterscheidung zwischen Gegenstand und Ereignis ausdrückt) kann sich in hermeneutischen Varianten artikulieren, die […] über die Phänomenalität des Seienden bestimmen.« (J.-L. Marion, Certitudes Négatives, § 30; Paris, Grasset, 2010, S. 304 f.).

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Selbstgegebenheit und Einstellung. Zur Reichweite einer Phänomenologie der Gegebenheit Peter Gaitsch

1.

Einleitende Bemerkungen

Im Folgenden möchte ich Jean-Luc Marions Konzeption einer Phänomenologie der Gegebenheit (donation) aus der Perspektive eines im Kern Husserl’schen Verständnisses der phänomenologischen Methode befragen. Die beiden Begriffe im Titel geben Auskunft über den Themenfokus meines Beitrags: Zum Ersten geht es um die Erläuterung der von Marion ins Zentrum gerückten Gegebenheit als Selbstgegebenheit. Wie Marion deutlich macht, umfasst »Selbstgegebenheit« zwei zu unterscheidende Bedeutungsaspekte, insofern es erstens um das Phänomen in seiner Gegebenheit-als-es-selbst (en personne) geht – sozusagen um den Selbstcharakter der Selbstgegebenheit des Phänomens – und zweitens um das Sich-selbst-Geben des Phänomens (se donne de lui-même et à partir de lui-même) – sozusagen um den Sichcharakter der Selbstgegebenheit des Phänomens. 1 Bei Husserl impliziert die Selbstgegebenheit aber zudem eine Unterscheidung, die bei Marion keine tragende Rolle zu haben scheint, nämlich die zwischen originärer (»leibhafter«) und nicht-originärer Selbstgegebenheit. Ich möchte daher in einem ersten Schritt untersuchen, welche Konsequenzen die systematische Berücksichtigung dieser Husserl’schen Unterscheidung für eine Phänomenologie der Gegebenheit hat. Zum Zweiten geht es um die Herausarbeitung des Schicksals, das bei Marion der husserlschen Einstellungslehre widerfährt. Bei Husserl ist die methodische Operation der phänomenologischen Reduktion unweigerlich mit dem Einstellungsbegriff verknüpft, insofern der Vollzug der phänomenologischen Reduktion einen EinstellungsVgl. J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 21998, S. 33 (= ED). Die Übersetzungen der Zitate aus Marions Werk stammen im Folgenden von mir.

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wandel des phänomenologisierenden Subjekts bedeutet: Die »natürliche« Einstellung wird zugunsten der »transzendentalen« Einstellung aufgegeben. 2 Die Frage lautet, ob eine Phänomenologie der Gegebenheit im Sinne Marions jede Art von Einstellungslehre verabschiedet. Dies wäre dann der Fall, wenn es in der so genannten »dritten Reduktion« 3 – nämlich der phänomenologischen Reduktion als Zurückführung auf die Gegebenheit – nicht um einen Einstellungswandel, sondern um die Herbeiführung der Einstellungslosigkeit des phänomenologisierenden Subjekts ginge, da sich das Phänomen in seiner reinen Gegebenheit »von selbst« einstellte. 4 Dagegen könnte es sein, dass in der Phänomenologie der Gegebenheit eine modifizierte Einstellungslehre impliziert ist, die in Marions Darstellung zwar weitgehend operativ-unthematisch bleibt, die aber eigens expliziert werden kann. Dieser Hypothese möchte ich nachgehen, indem ich in einem zweiten Schritt untersuche, welche systematischen Folgen die Wiedereinführung bzw. die Explikation des Einstellungsbegriffs für die Phänomenologie der Gegebenheit hat. Wie leicht ersichtlich ist, sind die beiden skizzierten Themenbereiche der Selbstgegebenheit und der Einstellung eng miteinander verknüpft. Denn im Verhältnis dieser beiden Begriffe manifestiert sich die methodische Grundspannung der Phänomenologie – das, was Marion ihre »Anfangsparadoxie« (ED 15) nennt: Im philosophischen Projekt der Phänomenologie geht es letztlich darum, philosophische Scheinprobleme (und die entsprechenden Begriffskonstruktionen als Antworten auf Scheinprobleme) aufzulösen und »zu den Sachen selbst« zu gelangen, indem sich das philosophierende Subjekt darum bemüht, eine solche Einstellung einzunehmen, dass die Phänomene in ihrer (im Optimalfall originären) Selbstgegebenheit zur Erscheinung kommen können. Die Einstellung des phänomenologi2 Vgl. exemplarisch die Darstellungen in E. Husserl, Ideen I, Hua III/1, S. 56–134, und Krisis, Hua VI, S. 123–163. 3 J.-L. Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: PUF 22004, S. 305 (= RD). Unter der »ersten Reduktion« versteht Marion die husserlsche phänomenologische Reduktion auf die Gegenständlichkeit (für ein konstituierendes Ich), unter der »zweiten Reduktion« die Heidegger’sche phänomenologische Reduktion auf die Seinsweise (für ein seinsverstehendes Dasein) (vgl. RD 304). 4 Vgl. die Formulierung im Marion gewidmeten Kapitel in H.-D. Gondek, L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 175: »Jedes Phänomen gibt sich, indem es sich von selbst einstellt und in das Bewusstsein einfällt, ja, sich ihm manchmal sogar aufdrängt.« (Hervorhebung P. G.)

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sierenden Subjekts und die Selbstgegebenheit des Phänomens stehen also in einem intentionalen Korrelationsverhältnis. Im konkreten Vollzug dieses Korrelationsverhältnisses zeigt sich nun eine Grundspannung, insofern zwischen dem passivischem Anspruch, das Phänomen sich von ihm selbst her geben zu lassen, und dem aktivischem Anspruch, zu diesem Zweck eine besondere Einstellung einzunehmen, ein Widerstreit herrscht. Das darin liegende Paradox bringt Marion folgendermaßen zum Ausdruck: »[…] die Erscheinung sich im Erscheinen zeigen zu lassen und sie als ihre eigene Manifestation erscheinen zu lassen – all dies versteht sich nicht von selbst [cela ne va pas de soi]. Und dies aus einem fundamentalen Grund: Da die Erkenntnis immer von mir ausgeht, geht die Manifestation niemals von sich aus. Oder vielmehr, es versteht sich nicht von selbst, dass sie von sich ausgehen kann, dass sie sich manifestiert. Die Anfangs- und Schlussparadoxie der Phänomenologie liegt genau darin, dass sie die Initiative übernimmt, um sie zu verlieren. […] sie trachtet nur danach, diese Initiative so früh und so vollständig als möglich zu verlieren, da sie den Anspruch hat, die Erscheinungen der Dinge in ihrer anfänglichsten Originarität einzuholen – im sozusagen gebürtlichen Zustand ihrer in sich unbedingten und somit von sich ausgehenden Manifestation. Der methodologische Anfang etabliert hier nur die Bedingungen seines eigenen Verschwindens in der ursprünglichen Manifestation dessen, was sich zeigt.« (ED 15)

Marion spielt hier mit der wörtlichen Bedeutung der französischen Redewendung »cela ne va pas de soi«: Das Sich-zeigen-lassen der Erscheinung »macht sich nicht von selbst«, die Selbstgegebenheit des Phänomens stellt sich also nicht einfach von selbst ein. Es bedarf daher einer Initiative und weiterer Vorkehrungen seitens des phänomenologisierenden Subjekts, d. h. es bedarf, wie ich zeigen möchte, einer ausdrücklichen phänomenologischen Einstellung, um das Phänomen in seiner Selbstgegebenheit ankommen zu lassen. Das Lassen des Sich-zeigen-lassens muss also als eine phänomenologische Handlung des »Einstellens« expliziert werden. Allerdings ist Marions Phänomenologie der Gegebenheit, was diesen Punkt betrifft, durch eine Zweideutigkeit geprägt. Dies kommt hier bereits darin zum Ausdruck, dass es gemäß Marion um eine Initiative geht, die gerade darum bemüht ist, »diese Initiative so früh und so vollständig als möglich zu verlieren«. Diese Zweideutigkeit möchte ich klären, wobei eine Relektüre von Husserls Einstellungslehre zur Vorbereitung dient. Eine wichtige Frage, auf die meine Akzentuierung der Einstellungsdimension hinausläuft, betrifft die Rolle der Gegebenheit für 148 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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die Möglichkeit von Phänomenologie: Ist das Reich der Phänomenologie tatsächlich extensionsgleich mit dem Reich der Gegebenheit, wie es Marions »dritte« Reduktion impliziert? In Frage stehen somit Marions Thesen von der Universalität und Univozität der Gegebenheit: (1) Universalität der Gegebenheit (vgl. bes. ED 79–83): Ist das phänomenologische Reich der Gegebenheit tatsächlich universell, d. h. ohne Grenze 5, sodass sich die Philosophie, sobald sie ihr metaphysisches Erbe in einem Heidegger’schen Gestus sich selbst überlässt, letztlich auf eine Phänomenologie der Gegebenheit zu reduzieren hätte? Oder muss sogar auch noch innerhalb der Phänomenologie anerkannt werden, dass es eine Grenze 6 der Gegebenheit gibt, jenseits deren es noch etwas zu denken »gibt«? Dies könnte auf eine doppelte Weise geschehen: zum einen als phänomenologische Anerkennung des vernünftigen Sinns anderer philosophischer Einstellungen, die nicht auf Gegebenheit abzielen; zum anderen als innerphänomenologische Bestrebung, im Rahmen einer konstruktiven Phänomenologie Vgl. ED 79, RD 62, 305; J.-L. Marion, »La banalité de la saturation«, in: Ders., Le visible et le révélé, Paris: Cerf 2010, S. 143–182 (= BAN), hier 182. 6 »Grenze« hier im strikten kantischen Sinn: »Grenze« impliziert (im Unterschied zu »Schranke«) die Anerkennung eines Jenseits der Grenze. Zur Erläuterung: In den Prolegomena (§§ 57–59) führt Kant diese Unterscheidung zwischen der Positivität der »Grenze« und der bloßen Negativität der »Schranke« ein, indem er darauf hinweist, dass sich seine Rede vom »Ding an sich« und von den noumenalen Ideen nicht innerhalb und nicht außerhalb, sondern vielmehr auf der Grenze des Wissbaren bewegt, sodass ein symbolisches Wissen möglich wird, d. h. eine analogische Erkenntnis, in der zwar nicht der transzendente noumenale Gegenstand, dafür aber das phänomenale Verhältnis zum noumenalen Gegenstand gewusst wird. D. h. im Unterschied zur »Schranke« impliziert »Grenze« ein – zwar nur analogisches – Wissen um das Jenseits der Grenze. Demgemäß ist die kantische Rede von einer Schließung durch eine »Grenze des Verstandes« immer verknüpft mit der Öffnung eines Vermögens, das auf das Jenseits der Grenze »hinaussieht«. In § 59 der Kritik der Urteilskraft (wo das Schöne als Symbol des moralisch Guten erläutert wird) wird dieser Gedanke weiter ausgeführt und das Vermögen benannt: Die Vernunft sieht über die Grenze des Verstandes hinaus, indem sie im Bereich des Sinnlichen ein Symbol vorfindet, das eine »indirekte Darstellung« des Noumenalen dadurch erlaubt, dass die »Form der Reflexion«, die der symbolische anschauliche Gegenstand veranlasst, auf den symbolisierten unanschaulichen Gegenstand analogisch übertragen werden kann. Die Pointe ist hier also die: Die kantische Begrenzung des Verstandes ist nicht eine Begrenzung der Reflexion, sondern geht geradezu einher mit der Stiftung des Reflexionsvermögens (nämlich der reflektierenden Urteilskraft in Hinblick auf von der Vernunft gedachte Gegenstände) zum Zwecke der symbolischen Erkenntnis (d. h. der indirekten sinnlichen Darstellung) von notwendig zu denkenden Vernunftgegenständen. 5

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und phänomenologischen Hermeneutik Grenzphänomene, die sich gerade durch ihre originäre »Ungegebenheit« 7 auszeichnen, phänomenologisch zu charakterisieren. Man könnte hier allerdings einwenden, dass die Rede vom Zu-denken-geben bereits darauf hindeutet, dass die Universalität der Gegebenheit durch diese Grenzproblematik keinen echten Abbruch erleidet: Die Rechtfertigbarkeit eines Gedankens führt letztlich immer auf eine Art von Gegebenheit zurück (vgl. ED 88). Falls dies zutrifft, verschiebt sich das Problem jedoch nur: (2) Univozität der Gegebenheit: 8 Wenn die Universalitätsthese aufrechterhalten werden kann, stellt sich die Frage, ob dies nicht zwangsläufig auf Kosten der Univozitätsthese geht. Denn kommt mit dem erweiterten Gebrauch der Rede von »Gegebenheit«, die sich im Grenzfall auch noch auf ein bloßes Zu-denken-geben beziehen kann, nicht ihre Einsinnigkeit an ein Ende? Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass innerhalb einer Phänomenologie der Gegebenheit eine Pluralisierung von Einstellungen erforderlich sein könnte, d. h. zusätzlich zu der von Marion eingenommenen Einstellung weitere Einstellungen, die sich vom Telos der originären Selbstgegebenheit verabschieden und mit einem analogen Sinn von »Gegebenheit« operieren. Wenn Universalität und Univozität der Gegebenheit auf diese Weise fraglich werden, dann bedarf die phänomenologische Methode möglicherweise hermeneutischer Verfahren, die besonders dann auf den Plan gerufen werden, wenn sich das Denken an der Grenze oder sogar jenseits der Grenze der Gegebenheit zu bewegen genötigt sieht. Diese Möglichkeit werde ich zum Schluss anhand der Gottesfrage diskutieren.

Dies ist der Grundterminus von Finks husserlscher Modellierung einer konstruktiven Phänomenologie: E. Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Husserliana, Dokumente, Bd. 2/1), hg. v. Hans Ebeling, Jann Holl und Guy van Kerckhoven, Dordrecht u. a. 1988, S. 69 ff. Vgl. v. Vf., »Transzendenz und (Un-)Gegebenheit«, in: M. Staudigl, Ch. Sternad (Hg.): Figuren der Transzendenz, Königshausen & Neumann: Würzburg 2014, S. 15–33. 8 Vgl. ED 167. Zwar stellt Marion dem vierten Teil von Étant donné die These voran, dass sich nicht alles auf univoke Weise gibt (vgl. ED 250), doch Marion geht es hier nicht darum, den univoken Sinn von Gegebenheit qua originärer Selbstgegebenheit in Frage zu stellen, sondern nur darum, verschiedene »Grade« einer solchen univoken Gegebenheitsweise zu unterscheiden. Denn das an diesem Ort dargestellte gesättigte Phänomen bildet das Paradigma für jede Art von Gegebenheit und Phänomenalität (vgl. ED 316). 7

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2.

Von Husserl zu Marion I: Transzendenz und Selbstgegebenheit

Im Sinne einer allgemeinen Hinführung möchte ich zu Beginn die Frage stellen, was die Phänomenologie husserlscher Provenienz gegenüber konkurrierenden philosophischen Bestrebungen auszeichnet und was Husserls Ansatz für nachfolgende Philosophen wie Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty und Levinas bei aller Kritik und Distanzierung so bleibend attraktiv gemacht hat, dass man zwar nicht von einer methodologisch geeinten phänomenologischen Orthodoxie, aber doch von einem echten Familienverhältnis in der phänomenologischen Bewegung sprechen kann. Als Hypothese dazu sei auf das besondere Verhältnis von Transzendenz und Selbstgegebenheit bei Husserl hinweisen: Die befreiende Grundeinsicht der husserlschen Phänomenologie – unabhängig von allen Problemen der Konstitutionsanalysen und der genetischen Analysen und unabhängig von allen Diskussionen zum richtigen Design der phänomenologischen Reduktion – besteht darin, dass auch Transzendentes (d. h. alle Arten von Sachen, die die immanente Gegebenheit im Bewusstsein übersteigen) als es selbst gegeben sein kann. Dies ist dann der Fall, wenn sich das Transzendente in einer Art von Anschauung ausweisen lässt. Mit diesem Eröffnungsmanöver, das auch im Wahlspruch »Zu den Sachen selbst!« widerhallt, zerschlägt Husserl den gordischen Knoten der traditionell neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Problemstellungen, deren Horizont darauf beschränkt ist, die Spannung zwischen Transzendenz und Selbstgegebenheit einseitig aufzulösen, sei es durch eine metaphysische Entscheidung für den Vorrang des Transzendenten, das mit Hilfe universallogisch-rationalistischer Mittel thematisiert werden kann (zuungunsten des Selbstgegebenen), sei es durch eine empiristische Entscheidung für den Vorrang des Selbstgegebenen, das sich innerhalb der Sphäre des Bewusstseins auffinden lässt (zuungunsten des Transzendenten). Die Stärke des husserlschen Ansatzes liegt demgegenüber in der Einsicht, dass die Spannung zwischen Transzendenz und Selbstgegebenheit gar nicht abgespannt zu werden braucht, da sie ohne weiteres ausgehalten werden kann, ohne dass dies für die philosophische Thematisierung ruinöse Konsequenzen hat. Das Design der phänomenologischen Reduktion sollte vor dem Hintergrund genau dieser Weichenstellung wahrgenommen werden. 151 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Das Spannungsverhältnis von Selbstgegebenheit und Transzendenz führt dazu, dass der phänomenologische Erfahrungsbegriff durch zwei Aspekte besonders gekennzeichnet ist: (1) Der Transzendenzcharakter des Erfahrens: Die Selbstgegebenheit einer Sache in der sie originär darbietenden Erfahrung bedeutet nicht ihre immanentisierende Verschmelzung mit der Erfahrung. D. h. Erfahrung im phänomenologischen Sinne hat einen transzendierenden Charakter, insofern sie sich das Erfahrene gerade nicht subjektivierend aneignet, sondern sich selbst auf das Erfahrene hin übersteigt und es so in seinem Transzendenzcharakter belässt. Erfahrung ist nicht transformierende Immanentisierung der erfahrenen Sache, sondern Überstieg zu dem sie Transzendierenden. (2) Der Erfahrungsstatus nicht-originärer Selbstgegebenheit: Die Erfahrung in ihrem Vermögen des Transzendierens vermag es, sich selbst dann auf das »Selbst« einer Sache hin zu öffnen, wenn sich diese Sache nicht originär darbietet oder – wie im exemplarischen Fall der Fremderfahrung – sogar grundsätzlich nicht originär darbieten kann: Denn auch die »bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (Hua I, 144) muss als eine Art von präsentierender Erfahrung (»Appräsentation« als Mit-Präsenz) verstanden werden und sollte nicht in das Register der bloßen Repräsentation abgeschoben werden (wozu jedoch letztlich sogar Husserl selbst tendiert, wenn er das alter ego als bloß »indiziert« ansieht). Das fremde Ich offenbart sich in seinem leibkörperlichen »Gebaren« (Hua I, 144) als es selbst, ohne jedoch so gegeben zu sein, wie es originär für sich ist. Wie Husserl bereits in den Ideen I festhält: »Wir ›sehen den anderen ihre Erlebnisse an‹ aufgrund der Wahrnehmung ihrer leiblichen Äußerungen. Dieses Ansehen der Einfühlung ist zwar ein anschauender, gebender, jedoch nicht mehr originär gebender Akt. Der andere und sein Seelenleben ist zwar bewußt als ›selbst da‹ und in eins mit seinem Leibe da, aber nicht wie dieser bewusst als originär gegeben.« (Hua III/2, 7 f.; Hervorhebung P. G.)

Das appräsentierende Ansehen von Erlebnissen im Vollzug der Einfühlung in den Anderen wird hier von Husserl als eine echte, präsentierende Art von Anschauen und nicht als ein repräsentierendes Hineinsehen gefasst. Damit eröffnet sich die phänomenale Möglichkeit einer präsentierenden Erfahrung von etwas als es selbst in einem nicht-originären Modus: Im Reich der Erfahrungen ist zwar jede originäre Gegebenheit eine Selbstgegebenheit, aber nicht jede Selbst152 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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gegebenheit muss zu einer originären Gegebenheit werden können. In der phänomenologischen Erfahrung bedeutet Gegebenheit stets Selbstgegebenheit, unabhängig davon, ob sich die Sache in der Erfahrung originär darbietet oder nicht. D. h. Erfahrung im phänomenologischen Sinne hat es nicht bloß mit »irgendwie« oder »bloß« Gegebenem zu tun, das dann zum Material einer erkenntnismäßigen Formung werden kann (etwa gemäß einer kantischen Erfahrungstheorie), sondern stets mit Selbstgegebenem, also mit Gegebenem, das bereits als es selbst gegeben ist. Die Deckung von Gegebenheit und Selbstgegebenheit in der Erfahrung sowie die mögliche Kluft zwischen Selbstgegebenheit und originärer Selbstgegebenheit bilden demgemäß die beiden Momente, die den zweiten besonderen Aspekt des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs ausmachen. Falls diese Hypothese stimmt, falls es also stimmt, dass die beiden genannten Aspekte den phänomenologischen Erfahrungsbegriff schon vor allen Einzelanalysen und Konzeptualisierungen auszeichnen, dann würde dies für die phänomenologische Berufung auf Erfahrung – und für die methodische Operation der phänomenologischen Reduktion als Herausstellung der reinen, von allen Begriffskonstruktionen befreiten Erfahrung – zweierlei bedeuten: (1) Als Konsequenz des ersten Aspekts ist die Herausstellung der reinen Erfahrung keineswegs mit der methodischen Transformation der Erfahrung in eine Immanenzsphäre verbunden: Die phänomenologische Reduktion reduziert nicht auf die Ebene der Immanenz, sondern dient einer ›inneren‹ Ausmessung der Tiefendimension der Transzendenz. Denn die durch die Epoché geleistete Einklammerung ändert – wie Husserl in der »phänomenologischen Fundamentalbetrachtung« der Ideen I bemerkt – nichts am Im-Vollzug-bleiben der Generalthesis der natürlichen Einstellung, die das Erscheinende als transzendent Vorgegebenes fasst (vgl. Hua III/1, 54 f.). Die durch die Epoché ermöglichte phänomenologische Reduktion dringt also sozusagen in die erfahrungsmäßige Bezugstiefe, in das »›latente‹ Tiefenleben« (Hua VI, 122) der Transzendenz ein. (2) Als Konsequenz des zweiten Aspekts dringt die Herausstellung der reinen Erfahrung in der phänomenologischen Reduktion nicht durchgängig und zwangsläufig auf die originär gebende Anschauung (anders als es das husserlsche »Prinzip aller Prinzipien« suggeriert), sondern wahrt auch den phänomenalen Eigensinn von Selbstgegebenem, das sich nicht oder gar niemals originär darbietet. Die phänomenologische Reduktion ist also nicht als eine gleichsam 153 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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dogmatische Zurückführung auf originäre Gegebenheiten um jeden Preis zu verstehen, sondern achtet die verschiedenen Modi und Grenzen der Gegebenheit. Hier sind insbesondere zwei Fälle interessant: (a) Das, was sich selbst in der Erfahrung nicht originär geben kann, ist als solches in der Erfahrung auszuweisen; (b) das, was sich selbst überhaupt nicht, in keiner Erfahrung, geben kann, ist als solches, und zwar als eine »Ungegebenheit«, in der Erfahrung auszuweisen. Also sowohl das nicht-originär Selbstgegebene wie sogar auch das Ungegebene sind im Rahmen der phänomenologischen Reduktion zu thematisieren. Auf die Frage der Möglichkeit dieses Grenzfalls des Ungegebenen werde ich am Schluss meines Beitrags anhand der Gottesfrage zurückkommen, denn mit diesem Grenzfall steht natürlich die Reichweite einer Phänomenologie der Gegebenheit auf dem Spiel. Insbesondere ist die mit ihr verbundene These der Universalität der Gegebenheit unmittelbar bedroht. Für den Moment soll es jedoch nur um den Aspekt der Anerkennung einer nicht-originären Selbstgegebenheit gehen, der zum Aspekt der Erforschung des Tiefenlebens der Transzendenz hinzutritt. Dies sind die beiden wesentlichen Aspekte für ein angemessenes Verständnis der phänomenologischen Reduktion, die aus dem besonderen Charakter des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs erwachsen. In einem nächsten Schritt kann nun gefragt werden, wie es die Marion’sche Phänomenologie der Gegebenheit mit dem skizzierten Spannungsverhältnis von Transzendenz und Selbstgegebenheit im phänomenologischen Erfahrungsbegriff und den daraus zu ziehenden Konsequenzen für ein angemessenes Verständnis der phänomenologischen Reduktion hält: Wird die Spannung aufrecht erhalten oder wird sie einseitig abgespannt? Die Frage ist keineswegs trivial, gibt es doch einige neuere Exponenten der phänomenologischen Bewegung, die genau dies zu tun scheinen: das Spannungsverhältnis einseitig abzuspannen, also etwa im Namen einer vermeintlich ›echten‹ entzogenen Transzendenz (qua Fremdheit) das phänomenologische Telos der Selbstgegebenheit preiszugeben 9 bzw. umgekehrt im Namen der immanenten Selbstgegebenheit auf das Vermögen des Transzendierens (qua Intentionalität) und also auf jegliche Variante einer intentionalen Analyse zu So lassen sich alle mit Levinas und/oder Derrida ansetzenden Versuche verstehen, exemplarisch B. Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden.

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verzichten. 10 Die Frage lautet also: Begeht auch die Phänomenologie der Gegebenheit einen vergleichbaren »Verrat« gegenüber der konstitutiven Grundspannung der Phänomenologie? (1) Was die Anerkennung des Transzendenzcharakters des Erfahrens betrifft, muss man meines Erachtens zu einem vielleicht unerwarteten Ergebnis kommen: Anders als es die deutlich wahrnehmbare Wirkung der Lebensphänomenologie Michel Henrys auf Marions Phänomenologie der Gegebenheit nahelegt (die sich am Deutlichsten darin manifestiert, dass Henrys Lebensphänomenologie für die Analyse einen bestimmten Typus des gesättigten Phänomens Pate steht, vgl. ED 321), ist die Reduktion auf die Gegebenheit keineswegs mit einem Ausschluss von Transzendenz schlechthin, d. h. näherhin des transzendierenden Charakters der Erfahrung, verbunden. Die bevorzugte Terminologie zur Charakterisierung der »dritten« Reduktion ist zwar eine ausgesprochene Immanenz-Terminologie (wohl in der Tradition von Husserls Vorlesung Die Idee der Phänomenologie und Michel Henrys sich darauf beziehender Radikalisierungsgeste 11): Die Reduktion auf die Gegebenheit erfüllt nämlich als »dritte« Reduktion das phänomenologische Telos, die reine Immanenzsphäre der Gegebenheit herauszustellen, insofern sie die Transzendenzen, die in der husserlschen Reduktion auf die (intentionale) Gegenständlichkeit (»erste« Reduktion) sowie in der heideggerschen Reduktion auf die Seiendheit (»zweite« Reduktion) noch involviert sind, radikal beseitigt. In diesem Sinne konnte sich Henry für seine eigenen phänomenologischen Analysen auf das von Marion in Réduction et donation eingeführte phänomenologische Prinzip »So viel Reduktion, so viel Gegebenheit« berufen. 12 Ferner betont Marion selbst den im Vollzug der phänomenologischen Reduktion auf die Immanenz der Gegebenheit implizierten Ausschluss eines transzendenten Gebers, der in einem metaphysischen Sinne theologisch gedeutet werden kann. Die Phänomenologie der Gegebenheit ist, anders als es eine vorschnelle Assoziation möchte, keine verhüllte Metaphysik der Gabe (vgl. ED 105 f., 122, 146, 167 f.).

Exemplarisch hierfür ist M. Henrys Lebensphänomenologie. Vgl. ED 23 ff.; E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie (= Hua II); M. Henry, Phénoménologie matérielle, Paris: PUF 1990. 12 RD 303; von Henry leicht modifiziert wiedergegeben: »Je mehr Reduktion, umso mehr Gegebenheit.« (M. Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, in: Revue de Métaphysique et de Morale (1/1991), S. 3–26, hier: S. 3) 10 11

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Trotzdem hat es einen guten Sinn, auch noch im Rahmen der Reduktion auf die Gegebenheit von einer Anerkennung von Transzendenz zu sprechen: Wenn das, was sich zeigt, sich zuvor geben muss (vgl. ED 10), dann bedeutet das für die phänomenologisch gesuchte Evidenz, dass sie nur dann etwas zur Erscheinung bringen kann, wenn sie aus der ursprünglichen »Inevidenz (inévidence)« (ED 31) des Phänomens als eines Gegebenen, das gegenüber dem »Schirm (écran)« des Bewusstseins transzendent ist, schöpft. Deshalb kann Marion die Gegebenheit auch als »Transzendenz in der Immanenz« (ED 39) bezeichnen: Erst durch das Vermögen der Gegebenheit erhält der (für sich genommen »bloße«) Schein eine transzendierende Macht, indem er zum Erscheinen des Erscheinenden wird, indem er also das Gegebene selbst zur Erscheinung zu bringen vermag: »Die Evidenz sieht nichts, wenn nicht die Gegebenheit [donation] das, was ihr nicht zugehört, für sie zur Erscheinung kommen lässt, nämlich die wesenhafte Inevidenz des Erscheinens als phänomenalem Erscheinen.« (ED 32) Also erst durch die Reduktion auf die Immanenz der Gegebenheit wird die Erfahrung in ihrer transzendierenden Tiefe, als Zur-Erscheinung-kommen des Erscheinenden, zugänglich. Die Anerkennung von Transzendenz zeigt sich ferner auch darin, dass die gesättigten Phänomene, die die Phänomenalität der Gegebenheit exemplarisch zum Ausdruck bringen, nicht diesseits oder jenseits des transzendierenden Vermögens der Intentionalität (als der endlichen Bedingung des Erscheinens) zur Erscheinung kommen, sondern im strikten Sinne der Gegenintentionalität. D. h. die gesättigten Phänomene stellen sich nicht unabhängig von der Transzendierungsbewegung des Bewusstseins ein, sondern durch eine überschüssige Gegenbewegung seitens dieser besonderen Phänomene, wodurch das Erfüllungsvermögen des intentionalen Bewusstseins an seine Grenzen getrieben wird – und genau in dieser Grenzerfahrung des intentionalen Bewusstseins besteht das originäre Selbsterscheinen der gesättigten Phänomene. Der entscheidende Punkt ist hier also, dass sich die Erscheinung von gesättigten Phänomenen nicht diesseits oder jenseits des intentionalen Sehens abspielt, sondern genau auf der Grenze des intentionalen Sehens, genauer gesagt: auf der oberen Grenze des intentionalen Sehens, in der das intentionale Maximum des Sehens zur qualitativ sättigenden Blendung übergeht (vgl. ED 288), also nicht als eine unmittelbare Gegebenheit diesseits der Anschauung, sondern als ein durch das intentionale Vermögen vermittelter Überschuss von Anschauung. In diesem Kontext dürfte 156 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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im Übrigen auch die im ersten Anschein widersprüchliche Rede von einem »Horizont der Gegebenheit« 13 zu verstehen sein: Denn ist die Gegebenheit nicht genau dadurch definiert, dass sie sich jeder restringierenden Bedingung – und dabei besonders der Horizontstruktur – entzieht, sodass die Rede von einem »Horizont der Gegebenheit« eigentlich widersinnig sein müsste? Die Antwort ist darin zu finden, dass die horizontbildende Intentionalität selbst dann noch in Vollzug bleibt, wenn sie nicht mehr als restringierende Bedingung des Erscheinenden fungiert, insofern das Phänomen von seiner bedingungslosen Gegebenheit her ankommt und in einer Gegenerfahrung erscheint. Der transzendenzbildende Horizont ist noch da, auch wenn er seine Macht verloren hat und das Erscheinende nicht mehr bedingt, sondern durch dessen Gegebenheit gesättigt wird. Mit einem Wort, der Transzendenzcharakter der Erfahrung bleibt innerhalb der phänomenologischen Reduktion auf die Gegebenheit unangetastet. (2) Was den zweiten Aspekt der Selbstgegebenheit betrifft, so ist auch für Marions Phänomenologie der Gegebenheit von vornherein klar, dass es die Phänomenologie nicht mit »irgendwie« oder »indirekt« (d. h. zeichenartig durch Indikation) Gegebenem zu tun hat, sondern stets mit Selbstgegebenem, also Gegebenem, das sich – gemäß der Bestimmung Heideggers – »von sich selbst her zeigt«. Das in der Faltung der Gegebenheit Gegebene ist also stets Selbstgegebenes. Hier unterscheidet Marion die beiden eingangs erwähnten Aspekte, die ich als den »Selbstcharakter« und den »Sichcharakter« der Selbstgegebenheit eingeführt habe: Das Phänomen erscheint »persönlich« (en personne) und es erscheint »von sich her« (à partir de lui-même). Mit einem Wort, nicht nur der Transzendenzcharakter, sondern auch der Charakter der Selbstgegebenheit der Erfahrung wird innerhalb der phänomenologischen Reduktion auf die Gegebenheit aufrechterhalten. Marions Phänomenologie der Gegebenheit steht in diesem Sinne also ganz im Zeichen von Husserls Grundeinsicht, dass auch Transzendentes als es selbst gegeben sein kann. Die von Marion herausgestellten »gesättigten« Phänomene, die für jede Phänomenalität paradigmatisch sind (vgl. ED 316) und im Resultat eine integrative Systematisierung der von Ricœur (»Ereignis«), Derrida (»Idol«), Henry (»Fleisch«) und Levinas (»Ikone«) bearbeiteten besonderen

Siehe zum Beispiel J.-L. Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010, S. 310 (= CN).

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Phänomene zu sein beanspruchen (vgl. ED, 318–325), können geradezu als der Paradefall von Selbstgegeben-Transzendentem gelten. Es bleibt die Frage, ob die oben ausgeführte husserlsche Unterscheidung zwischen originärer und nicht-originärer Selbstgegebenheit für Marions Kennzeichnung der Selbstgegebenheit noch eine systematische Rolle spielt. Hier wird man meines Erachtens zum Schluss kommen, dass dies nicht der Fall ist, und zwar deswegen, weil sich Marions Phänomenologie der Gegebenheit als Radikalisierung ausgehend von Husserls »Prinzip aller Prinzipien« entwickelt. 14 Marion beseitigt zwar die mit diesem Prinzip verknüpften Beschränkungen der Gegebenheit (Gegebenheit in einem Horizont und deren Reduzierbarkeit auf ein Ich), aber er bleibt dem normativen Bedeutungskern von Husserls Prinzip treu, welcher besagt, dass »jede originär gebende Anschauung Rechtsquelle der Erkenntnis« (Hua III/1, 52) ist. Zwar weist die originäre Gebung gemäß Marion letztlich über die Anschauung hinaus, insofern es auch gesättigte Phänomene gibt, die ohne Anschauung gegeben werden 15; aber es bleibt dabei, dass sich auch diese Phänomene dem Telos der originären Selbstgegebenheit einordnen. Auch das auf die Gottesfrage verweisende Phänomen der Offenbarung, das Marion als potenzierte Sättigung fasst (vgl. ED 325–340), ist in diesem Rahmen angesiedelt: »[…] dieses außerordentliche Phänomen schreibt sich immer noch in die allgemeinene Definition des Phänomens als eines Gegebenen ein, und zwar als einfache, wenn auch bemerkenswerte Variation der originären phänomenologischen Gegebenheit.« (ED 342) Das bedeutet, dass die Offenbarung eines Gottes sogar noch im Rahmen einer negativen Theologie, in dem Marion sein eigenes theologisches Werk situiert, als originäre Selbstgebung gedacht wird (vgl. ED 336). Der offenbare Gott ist nicht deswegen der deus absconditus, weil er sich nicht ganz und gar selbst gibt und sich daher entzieht, sondern vielmehr gerade deswegen, weil er sich voll und ganz selbst gibt, wobei das endliche Gefäß des Erscheinens an dieser übermäßigen Gabe zerschellt.

Der Ansatz bei Husserls »Prinzip aller Prinzipien« wird deutlich in Marions erstem Text zu den gesättigten Phänomenen: J.-L. Marion, »Le phénomène saturé« [1992], in: J.-L. Marion, Le visible et le révélé, Paris: cerf 2010, S. 35–74, hier: S. 39–44. Vgl. entsprechend ED 257–264. Siehe die Übersetzung in diesem Band: S. 429–470. 15 Vgl. ED 340. Marion nennt und systematisiert hier vor allem folgende Phänomene als unanschauliche Phänomene originärer Gebung: Zeit, Leben, Tod, Opfer (»donner sa vie«), Versprechen. 14

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Bevor ich jedoch auf Marions Phänomenologie der Gottesfrage näher eingehen kann, muss die Einstellungsdimension des phänomenologischen Denkens zum Thema gemacht werden. Als Zwischenresümee ist festzuhalten, dass Marions Phänomenologie der Gegebenheit stets auf originäre Selbstgegebenheit abzielt, und dies selbst dann noch, wenn es sich um besondere transzendente »Phänomene« handelt, deren Gegebenheitsstatus und somit auch deren Phänomenalitätscharakter gerade fraglich sein könnte. Die Pointe der »dritten« Reduktion ist also nicht darin zu sehen, dass sie die Bestimmtheit des phänomenologischen Gegebenheitsbegriffs (als originäre Selbstgegebenheit) auflöst und eine öffnende Erweiterung (ins Vage) vornimmt, sondern im Gegenteil darin, dass sie an der Originarität univok festhält und dennoch universalisierend nun nicht nur alle gewöhnlichen, sondern ebenso auch alle grenzwertigen und ungewöhnlichen Phänomene darin einzugemeinden zu können meint. Der Originaritätscharakter der Selbstgegebenheit wird bei Marion deswegen so selten thematisch, weil er das selbstverständliche Telos seiner phänomenologischen Einstellung bildet, weshalb der phänomenalen Möglichkeit von nicht-originären Selbstgegebenheiten oder gar Ungegebenheiten keine Aufmerksamkeit zuteil wird.

3

Von Husserl zu Marion II: Einstellung des phänomenologisierenden Subjekts und Sich-selbstEinstellen des Phänomens

3.1 Ausgangspunkt: Eine Phänomenologie ohne Einstellung und eine Phänomenologie in natürlicher Einstellung In der zeitgenössischen Phänomenologie können zwei einflussreiche Richtungen unterschieden werden, die völlig verschiedenartig sind, die aber beide darin übereinkommen, dem Einstellungswandel, wie er für Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion von zentraler Bedeutung ist, keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Der polemischen Einfachheit halber bezeichne ich sie als die kontinentale und die analytische Richtung der zeitgenössischen Phänomenologie: (1) Die kontinentale Tradition der zeitgenössischen Phänomenologie, zu der exemplarisch auch das Werk Marions gehört, versteht sich als Radikalisierung der phänomenologischen Tradition, insofern 159 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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der Anspruch gemacht wird, den Sinn der traditionellen phänomenologischen Prinzipien, die die phänomenologische Untersuchung eröffnen und anleiten (»Zu den Sachen selbst«, »jede originär gebende Anschauung ist Rechtsquelle der Erkenntnis«, »So viel Erscheinen, so viel Sein«) 16, von beschränkenden Vorannahmen zu befreien, um so die erweiterten Möglichkeiten der Phänomenalität der phänomenologischen Untersuchung zugänglich zu machen. Diese Ausrichtung kulminiert in Marions Prinzip der Gegebenheit bzw. der entsprechenden phänomenologischen Reduktion der Phänomene auf ihre Gegebenheit, d. h. der Bemessung der Möglichkeit der Phänomene nicht an ihrer Erkennbarkeit durch ein Subjekt (ihrem Evidenzcharakter), sondern an ihrer originären Selbstgegebenheit für ein bezeugendes Subjekt. Damit erklärt sich auch die hier vorherrschende Vorliebe für »Grenzphänomene«, d. h. für Phänomene, deren originäre Selbstgegebenheit nicht mit ihrer evidenten Feststellbarkeit koinzidiert. Grenzphänomene, seien sie ästhetischer, ethischer, natur- oder religionsphilosophischer Art, sind aufschlussreich, da sich durch sie die erweiterte Möglichkeit der Phänomenalität als eine Vielfalt der Gegebenheitsweisen von Phänomenen konkretisieren lässt: Die Phänomenalität beschränkt sich nicht auf den Gegebenheitsmodus der »Präsentation«, d. h. die in einem Horizont sich darstellende Gegenwärtigung eines Objekts für ein Ich, sondern umfasst weitere Gegebenheitsmodi: »But why should phenomenology, in order to reflect within the very experiencing itself, not open itself to all kinds of ›givens‹ in the distinctive manner that they give themselves? Is it not arbitrary to limit in advance the ways in which givenness can take place?« 17 In diesem Sinne sprechen Marion und Steinbock von »Sättigung (saturation)« (Marion) bzw. von »Vertikalität« (Steinbock) als generischen Bezeichnungen für alternative Gegebenheitsweisen (gegenüber der Gegebenheitsweise von »gewöhnlichen Phänomenen« bei Marion bzw. gegenüber der horizontalen »Präsentation« bei Steinbock). Der wesentliche Punkt ist hier jedoch, dass die Befreiung der Phänomenalität durch den Fokus auf die Gegebenheit der Phänomene Vgl. Henry, »Quatre principes«, S. 3–26. A. J. Steinbock, »Evidence in the Phenomenology of Religious Experience«, in: Dan Zahavi (Hg.), The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, Oxford: Oxford Univ. Press 2012, S. 583–606, hier: S. 589.

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im Großen und Ganzen zu einer Phänomenologie ohne Einstellung führt: Einer phänomenologischen Einstellung bedarf es nicht, da sich die Phänomene »von selbst einstellen« 18; mehr noch, jede Einstellung steht im Verdacht, die Phänomenalität der Phänomene von Seiten des Subjekts zu beschneiden 19 bzw. hermeneutisch, d. h. durch die auslegende Tätigkeit des Subjekts, zu überformen. 20 Insofern trägt Marions phänomenologisches Prinzip der Gegebenheit (»je mehr Reduktion, umso mehr Gegebenheit«) auch folgende Nebenbedeutung in sich: »Je mehr Gegebenheit, umso weniger Einstellung.« Eine phänomenologische Einstellung ist, wenn überhaupt, höchstens noch in dem Sinne relevant, dass sie die Funktion hat, das Subjekt für das Ankommenlassen der Gegebenheit zu befreien. Bemerkenswert ist dabei, dass die Herausarbeitung von unterschiedlichen Gegebenheitsweisen nicht dazu führt, unterschiedliche Einstellungen als subjektive Korrelate dieser Gegebenheitsweisen anzusetzen: Die verschiedene Gegebenheit von Phänomenen ist nicht von der verschiedenen Eingestelltheit des Subjekts abhängig. Der Rekurs auf die Gegebenheit des Phänomens kann somit hinsichtlich der Einstellungslehre in zwei Varianten auftreten: In der husserlferneren Variante gibt es gar keine phänomenologische Einstellung mehr, da jede Einstellung eine gegenphänomenologische Einschränkung der Gegebenheit, die sich »von selbst einstellt«, mit sich bringt – das Resultat ist eine Phänomenologie ohne Einstellung. In der husserlnäheren Variante gibt es (wie bei Husserl) genau eine phänomenologische Einstellung, sie hat jedoch nicht die Funktion, die Phänomenalität Vgl. Gondek/Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 175. Vgl. Heideggers Kritik an Husserls Konzept der natürlichen Einstellung: »Die natürliche Erfahrungsweise des Menschen darf dagegen nicht als Einstellung bezeichnet werden.« (Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1994, S. 156). Eine phänomenologische Aufweisung von der Sache aus darf nicht mit der »Hineinstellung« in eine bestimmte theoretische Betrachtungsweise beginnen (vgl. ebd.). Heidegger sieht also mit dem Einstellungskonzept einen nichtphänomenologischen Methodenvorrang (gegenüber einem phänomenologischen Sachvorrang) verknüpft. Hinzu kommt, dass Husserls Thematisierung der natürlichen Einstellung die Seinsfrage (im vorliegenden Fall: die Frage nach dem »Sein des Intentionalen«) unerörtert lässt: »So bleibt es dabei, obzwar hier in gewissem Sinne nach der Realität der Akte gefragt ist, ist doch nicht nach dem spezifischen Aktsein der Verhaltungen als solcher gefragt. Im Gegenteil, durch diese sogenannte natürliche Einstellung wird gerade das spezifische Sein der Akte verstellt.« (ebd.) 20 Vgl. die Abgrenzung von der Hermeneutik bei Steinbock, »Evidence in the Phenomenology of Religious Experience«, S. 600 f. 18 19

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subjektiv zu beschränken, sondern vielmehr einzig die Aufgabe, die Gegebenheit der Phänomene von allen Beschränkungen zu befreien. In ihrer basalen Funktion als Befreierin der Phänomenalität muss die phänomenologische Einstellung nicht eigens, als methodisch-existenzielle Veranstaltung (wie noch bei Husserl), thematisiert werden – das Resultat ist also auch hier letztlich eine Phänomenologie ohne Einstellung. (2) Die analytische Richtung der zeitgenössischen Phänomenologie versteht sich als wissenschaftliche Professionalisierung der phänomenologischen Tradition und führt, anknüpfend an die thematische Nähe zur Philosophy of Mind, zu einer Phänomenologie in natürlicher Einstellung, die sich mit der Analyse der mundanen Ersten-Person-Perspektive befasst: 21 Phänomenologie ist demnach die Beschreibung und Analyse des Mentalen, insofern es bewusst erlebt ist, d. h. insofern es einen intentionalen und phänomenalen Charakter als einer Gegebenheit in Erster-Person-Perspektive hat. 22 Diese Gegenstandsbestimmung der »mental phenomena« führt dazu, dass sich die Phänomenologie mit weiteren mundanen Wissenschaften in einem geordneten arbeitsteiligen Bezug befinden kann: insbesondere mit einer Wissenschaft, die sich mit dem neuronalen Substrat dieses Mentalen befasst, sowie mit einer Ontologie, die die Art von mundaner Entität des Mentalen bestimmen möchte: Die Bestimmung der Phänomenologie im Rahmen einer »theory of mind« 23: • Phänomenologie: das Mentale hinsichtlich seines bewussten Erlebtwerdens. • Neurowissenschaft: das Mentale hinsichtlich seines neuronalen Korrelats. • Ontologie (»ontology of mind«): das Mentale hinsichtlich seiner Art von mundanen Entität.

Vgl. Andrea Staiti, »Systematische Überlegungen zu Husserls Einstellungslehre«, in: Husserl Studies 25 (2009), S. 219–233, hier: S. 231. 22 Vgl. den einführenden Artikel von David Woodruff Smith: »Phenomenology is the study of structures of consciousness as experienced from the first-person point of view.« »Phenomenology offers descriptive analyses of mental phenomena […].« (David Woodruff Smith, »Phenomenology«, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2013 Edition), http://plato.stanford.edu/ archives/win2013/entries/phenomenology/ 23 Vgl. Smith, »Phenomenology«. 21

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Der wesentliche Punkt ist hier, dass durch die Gegenstandsbestimmung über den Begriff des Mentalen die Phänomenologie als eine mundane Wissenschaft, die das geistige Vermögen des Menschen behandelt, fixiert wird. Genau diese beiden Aspekte der Mundanität (Vorhandenheit der Welt als Totalität des Seienden) und der Humanität (Selbst- und Fremdapperzeption als Mensch bzw. Selbstapperzeption als Mensch unter Menschen) sind die wesentlichen Charakteristika der natürlichen Einstellung nach Husserl: 24 »Natürlich eingestellt sein, heißt sich als Mensch in der Welt finden.« (Hua XXXIV, 156) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Einstellungslehre, die sich insbesondere um den Einstellungswandel von der natürlichen zu einer phänomenologischen Einstellung dreht, in der zeitgenössischen Phänomenologie aus unterschiedlichen Motiven weitgehend keine Rolle mehr spielt. Die Verabschiedung der Einstellungslehre in beiden zeitgenössischen Richtungen hat damit zu tun, dass im Verständnis der Einstellungsdimension des phänomenologischen Denkens zwei Extreme unterschieden werden können. Ich bezeichne diese beiden Extreme im Folgenden, in rein beschreibender und nicht wertender Absicht, als das »rationalistische« und als das »irrationalistische« Verständnis der Einstellungsdimension: 1. Das »rationalistische« Verständnis: Die Einnahme einer bestimmten Einstellung hat die Funktion, die Aufmerksamkeit des philosophierenden Geistes auf die Phänomenalität (die Phänomenalitäten) hin zu öffnen – sie dient also einzig der Befreiung der Phänomene. Daher gibt es eigentlich nur eine phänomenologische Einstellung, nämlich eine solche, die auf die Phänomenalität der Phänomene öffnet. Lediglich ihre genaue Disposition steht zur Diskussion, d. h. es stellt sich die Frage, von wo aus die Phänomenalität sich optimal erschließt (z. B. in einer bewusstseinsanalytischen Einstellung oder vielmehr in einer daseinsanalytischen Einstellung?). Da es sich nur um eine Bewegung des Geistes handelt, ist der Einstellungsbegriff letztlich ein theoretisch reduzierbares Konzept, d. h. es ist kein architektonisch tragender Begriff der Phänomenologie wie etwa »Intentionalität« oder »Transzendenz«, sondern nur ein normativer Indikator für eine zu vollziehende Bewegung des philosophierenden Geistes. 24

Vgl. Staiti, »Einstellungslehre«, S. 229.

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2.

Das »irrationalistische« Verständnis: Die Einnahme einer bestimmten Einstellung hat die Funktion, den Sinn der Phänomene/der Phänomenalität in ihrer »Unscheinbarkeit« in eine bestimmte Richtung zu lenken und so über den möglichen Sinn, den Möglichkeitsraum des Sinns zu entscheiden. Die Konsequenz daraus ist, dass es verschiedene phänomenologische Einstellungen gibt (weil es je nach Phänomenregion verschiedene Gegebenheitsweisen gibt und weil es möglicherweise sogar mehrere Optimalitäten für ein- und dasselbe Gegebene gibt). Außerdem ist damit eine Affinität zur Hermeneutik verknüpft, da es Phänomene geben kann, die derart unscheinbar sind, das sie sich nicht rein phänomenologisch darstellen lassen, weshalb sie eines auslegenden »Als« bedürfen. 25 Die Phänomenologie ist daher kein schrankenloses Geschäft, sondern hat Grenzen, die sie mittels des Einstellungsbegriffs anzuerkennen vermag und indem sie zwischen Gegebenem, Ungegebenem und Nichtgegebenem systematisch unterscheidet. Aus dem nicht-rationalen Charakter des Einstellungswandels folgt darüber hinaus eine spezifische Rationalität des phänomenologischen Diskurses, insofern es in ihm nicht um eine zwingende rationale Argumentation, sondern vielmehr nur um ein nicht-zwingendes Sehenlernen gehen kann. Das Dilemma liegt darin, dass das rationalistische Verständnis der Einstellungsdimension letztlich dazu führt, das Konzept der Einstellung aufzulösen, während das irrationalistische Verständnis die unangenehme Implikation hat, den rationalen Wissenschaftscharakter der Phänomenologie in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund lautet meine Leitthese für die folgenden Ausführungen, dass die EinDies ist relevant für einen bestimmten Aspekt meiner Einstellungsthematik, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit/Unmöglichkeit einer Phänomenologie der religiösen Erfahrung: Die These lautet, dass – wenn eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung möglich ist – sogenannte religiöse Phänomene ein Typus von unscheinbaren (ungegebenen) Phänomenen darstellen und sich nicht originär selbst geben, sondern nur in Gestalt einer »religiösen Einstellung«, die bestimmte Phänomene als göttlich-offenbarend auslegt, erscheinen können. Diese These ist insbesondere gegen Steinbocks und eine einstellungsvergessene Variante von Marions Phänomenologie der religiösen Erfahrung gerichtet. Eine weitere Option, mit der ich in dieser Hinsicht experimentieren möchte: Es gibt keine religiöse Erfahrung in einem phänomenologisch relevanten Sinn, d. h. Gott ist eine Nichtgegebenheit. Die Frage ist dann aber vor allem, ob die Phänomenologie die Grenze der Gegebenheit anerkennen kann oder nicht.

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stellungsdimension erstens unhintergehbar ist und dass sie zweitens als eine teils »irrationale«, unberechenbare Komponente des Phänomenologisierens verstanden werden muss. Dies möchte ich in zwei Schritten ausführen: zunächst anhand einer Relektüre von Husserls Einstellungslehre, sodann in einer Anwendung des Einstellungsgedankens auf Marions Phänomenologie der Gegebenheit sowie der Frage, ob eine Phänomenologie der Gottesfrage eine »religiöse Einstellung« voraussetzt.

3.2 Husserls operative Einstellungslehre Der Begriff der Einstellung muss als ein operativer Grundbegriff von Husserls Phänomenologie verstanden werden, der Finks Auflistung von operativen Begriffen in Husserls Phänomenologie ergänzt: 26 Er wird von Husserl ständig gebraucht und hat eine fundamentale Bedeutung, insofern er gerade für die Grundbewegung der Phänomenologie, den Übergang von der natürlichen zur transzendentalen Einstellung, in Anspruch genommen werden muss; er ist aber in seinem Gebrauch »verschattet«, sodass sein Sinn nicht zureichend thematisiert und aufgeklärt ist. Deshalb soll es im Folgenden nicht nur darum gehen, was Husserl über diesen Begriff sagt, sondern vor allem auch darum, wie er ihn gebraucht, also um den Vollzugssinn des Einstellungsbegriffs. Husserl greift den Einstellungsbegriff vermutlich aus der psychologischen Diskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf, in der sich die »Einstellungspsychologie« als ein Vorläufer der Gestaltpsychologie gegen den »Datenempirismus« formiert. 27 Doch erst Husserl stiftet dessen neuen philosophischen Sinn. In den Ideen werden Einstellungen als weltbildende Auffassungsweisen des Subjekts eingeführt: Jeder Einstellung korreliert eine bestimmte Welt. Husserl nennt das Beispiel der Zahlenwelt: »Die arithmetische Welt ist für Vgl. zusammenfassend E. Fink, »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie« [1957], in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze. Herausgegeben v. Franz-Anton Schwarz. Freiburg/München 2004, S. 180–204, hier: S. 203: »Die Begriffe des ›Phänomens‹, der ›Epoché‹, der Konstitution, der ›Leistung‹ und der ›transcendentalen Logik‹ sind weitaus mehr operativ gebraucht, als thematisch geklärt. Sie alle stellen Probleme dar, die noch offen sind.« 27 Vgl. M. Fischer, Differente Wissensfelder – einheitlicher Vernunftraum. Über Husserls Begriff der Einstellung, München 1985. 26

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mich nur da, wenn und solange ich arithmetisch eingestellt bin. Die natürliche Welt aber, die Welt im gewöhnlichen Wortsinn, ist immerfort für mich da, solange ich natürlich dahinlebe. Solange das der Fall ist, bin ich ›natürlich eingestellt‹, ja beides besagt geradezu dasselbe.« (Hua III/1, 51) Der springende Punkt ist hier, dass über die Entdeckung möglicher freier Einstellungsänderungen, die eine andere Welterfahrung oder eine neue Welt eröffnen, es legitim wird, retrospektiv auch von der natürlichen Welt zu sagen, dass ihr eine Einstellung zugrunde liegt. Die der natürlichen Welt korrelierende »natürliche Einstellung« ist zwar als natürliche keine selbst gewählte, etwa durch eine intelligible Tat gesetzte Einstellung, aber ihre freie Modifizierbarkeit zeigt doch an, dass es bereits im Zustand des natürlichen Dahinlebens eine distinkt beschreibbare Bewusstseinsformation gibt, die es rechtfertigt, auch hier schon von einer »Einstellung« zu sprechen. Husserl fasst die bestimmte Charakteristik dieser natürlichen Einstellung bekanntlich als »Generalthesis« zusammen: Die Welt wird als beständig vorhandene raumzeitliche Wirklichkeit aufgefasst, der sich das erfahrende Subjekt zugehörig weiß (vgl. Hua III/1, 53 f.). Das bedeutet, dass die natürliche Einstellung durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: nicht nur durch die Auffassung der Welt als vorhandener raumzeitlicher Totalität (etwa in Differenz zu einem offenen Universalhorizont des Erscheinenden), sondern auch durch ihren intersubjektiv-personalistischen Charakter. Das heißt, die natürliche Welt wird von Menschen als Personen (leib-seelischen Einheiten) bevölkert, und ich fasse mich als einer unter ihnen auf, indem ich mich selbst als Mensch apperzipiere. Die Welt der natürlichen Einstellung ist daher unsere als Menschen geteilte Welt. Deshalb ist die natürliche Einstellung im Kern eine personalistische Einstellung und keineswegs eine naturalistische Einstellung. 28 Husserl fasst die wesentlichen Charakteristika bündig folgendermaßen zusammen: »Natürlich eingestellt sein, heißt sich als Mensch in der Welt finden.« (Hua XXXIV, 156) An dieser Charakterisierung ist darüber hinaus bemerkenswert, dass die natürliche Einstellung einen passiven Sinn eröffnet: Husserl sagt nicht, dass sich das Subjekt durch die natürliche Einstellung als Mensch in die Welt hineinstellt, sondern dass es sich in ihr vorfindet. In der natürlichen Einstellung sind die Welt und in ihr ich als Mensch unter Menschen Vorgegebenheiten. 28

Vgl. Staiti, »Einstellungslehre«, S. 226–229.

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Die natürliche Einstellung ist für sich genommen keine theoretische oder Erkenntniseinstellung, aber in ihrem Rahmen können sich Erkenntniseinstellungen ansiedeln: Die personalistische Einstellung der historischen Geisteswissenschaften ist gleichsam die unmodifizierte Fortführung der natürlichen Einstellung im Medium des Erkennens, während die naturalistische Einstellung der Naturwissenschaften an der natürlichen Einstellung eine epistemische Modifikation (Idealisierung, Entpersonalisierung) durchführt: Die Geisteswissenschaften werden in der natürlicher Einstellung, die Naturwissenschaften aus der natürlichen Einstellung betrieben. 29 Husserl unterscheidet außerdem, basierend auf seiner Unterscheidung verschiedener Aktklassen, je nach »Hauptaktion« zwischen theoretischer, ästhetischer und praktischer Einstellung. 30 In ästhetischer und praktischer Einstellung ist der wertende Gemütsakt bzw. der zielstrebige Willensakt vorherrschend. Dagegen ist die theoretische Einstellung (Erkenntniseinstellung) objektivierend, weil in ihrer Aktkomplexion der intellektiv-positionale Akt vorherrschend ist und also die richtungweisende Hauptaktion bildet: In intellektiven Akten »ist für das Ich ein Gegenstand nicht nur überhaupt da, sondern das Ich ist als Ich darauf gewahrend (dann denkend, tätig setzend), damit zugleich also erfassend gerichtet, es ist als ›theoretisches‹ im aktuellen Sinne objektivierend« (Hua IV, 4). Da nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische und die ästhetische Einstellung Ausformungen der natürlichen Einstellung sind, könnte dies zur Schlussfolgerung führen, dass die natürliche Einstellung eine vortheoretische Einstellung ist. Von dieser Voraussetzung bin ich oben, vielleicht etwas verfrüht, ausgegangen. Denn Husserl selbst verknüpft mit seiner Unterscheidung verschiedener Einstellungen ein Fundierungsverhältnis von Akten, das dazu führen kann, die natürliche Einstellung als eine im Kern theoretische Einstellung anzusetzen. Husserl sieht nämlich sowohl den ästhetischwertenden Akt als auch den praktisch-strebenden Akt als höherstufige Akte an, die beide im intellektiv-objektivierenden Akt fundiert sind (vgl. Hua IV, 3–11). Insofern ist eine Interpretation möglich, die die natürliche Einstellung wesenhaft mit einem intellektiven Akt im oben erwähnten Sinn verknüpft sieht. Es ist zwar festzuhalten, dass ein involvierter intellektiver Akt per se noch nicht zu einer theo29 30

Vgl. ebd. S. 228. Vgl. ebd. S. 221–224.

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retischen Einstellung führt, da eine theoretische Einstellung erst dann vorliegt, wenn der intellektive Akt die Hauptaktion der Aktkomplexion bildet; aber das von Husserl unterstellte Fundierungsverhältnis bedeutet zumindest, dass in jedem bewusst vollzogenen Akt ein intellektiver, objektivierender Akt involviert ist, sodass also die Deutung naheliegen könnte, dass zum Vollzug der vortheoretischen natürlichen Einstellung unbedingt ein objektivierender Akt gehört. Demgegenüber möchte ich einwenden, dass die oben ausgeführte Charakterisierung der natürlichen Einstellung keines konstitutiven Rekurses auf einen objektivierenden Akt bedarf: Die natürliche Einstellung ist nicht einfach bloß eine bestimmte Aktkomplexion, sondern vielmehr eine Auffassung von Welt, die einen Horizont für eine bestimmte, nämlich seinssetzende Vollzugweise von Akten bildet. Das heißt, in der natürlichen Einstellung sind Dinge und Menschen »nur überhaupt da«, aber noch nicht in Gestalt objektivierender Akte »gewahrt« und »erfasst«. Man wird also sagen können, dass Husserls Begriff der natürlichen Einstellung nicht aktfundiert ist und daher in dieser Hinsicht keinen beschränkenden theoretischen Zugriff beinhaltet. Vor dem Hintergrund der natürlichen Einstellung kann nun Husserls Einführung der transzendentalen oder phänomenologischen Einstellung erläutert werden: Sie ist die Einnahme eines Standpunkts »über der Welt« (Hua VI, 153, 155), wodurch das Sein der Welt nicht mehr aus einer innerweltlichen Perspektive als fraglose Vorgegebenheit, sondern aus der sinnkonstituierenden Perspektive eines absoluten »reinen Bewusstseins« (Ideen) bzw. einer »absoluten transzendentalen Subjektivität« (Krisis) erfahren wird. Eine Passage aus der Krisis kann als ein Schlüssel zum rechten Verständnis der phänomenologischen Epoché als dem Moment dieses Einstellungswandels herangezogen werden: »Wir stiften in uns nur eben eine besondere habituelle Interessenrichtung, mit einer gewissen berufsartigen Einstellung, zu welcher eine besondere ›Berufszeit‹ gehört. […] Hernach ordnet sich auch jenes neugestiftete Berufsinteresse, dessen universales Thema ›Lebenswelt‹ heißt, den sonstigen Lebensinteressen oder Berufen ein und hat jeweils ›seine Zeit‹ innerhalb der einen personalen Zeit, der Form der sich durchsetzenden Berufszeiten. […] Vielleicht wird sich sogar zeigen, daß die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoché zunächst wesensmäßig eine völlige personale Wandlung zu erwirken berufen ist, die zu vergleichen wäre zunächst mit einer religiösen Umkehrung, die aber darüber hinaus die Bedeutung der

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größten existenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist.« (Hua VI, S. 139 f.; Hervorheb. P. G.)

Aus dieser Erläuterung Husserls geht der methodisch-existenzielle Doppelcharakter des Einstellungswandels von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung deutlich hervor. (1) Zunächst zum methodischen Charakter: Die transzendentale Subjektivität ist selbst kein metaphysisches Letztbegründungstheorem, das eigens rational zu begründen und evident zu machen wäre, sondern eine gegenüber der natürlichen Einstellung konstruierte experimentelle Perspektive, deren Sinn sich aus den durch sie ermöglichten Konstitutionsanalysen des Seinssinns der Welt ergibt. 31 Die phänomenologische Einstellung ist also eine berufsartige künstliche Einstellung, die als habituelle Interessenrichtung »innerhalb der einen personalen Zeit« eingenommen wird, was bedeutet, dass sie als eine menschliche Einstellung vollzogen wird – und dies, obwohl ihre Sinnrichtung auf »Entmenschung« als Quellpunkt der Sinngebung zielt. 32 In diesem Sinne spricht Fink treffend von einer »Produktion« des phänomenologischen Zuschauers (die er allerdings hegelianisierend als »Selbstproduktion« des transzendentalen Subjekts ausdeutet): »Die transzendentale Subjektivität ist in der natürlichen Einstellung weder gegeben noch vorgegeben, sie in keinem Sinne da.« 33 Der experimentelle Charakter der phänomenologischen Reduktion kann kaum besser zum Ausdruck gebracht werden als wie von Merleau-Ponty: »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist […] die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion. Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem.« 34 Das Ziel der phänomenologischen Reduktion ist gemäß Merleau-Ponty nicht das Erreichen des absolut sinngebenden Subjekts als idealistischem Standpunkt, also die tatsächlich gelingende Entmenschung, sondern vielmehr die Darstellung der unhintergehbaren Weltverflechtung des Bewusstseins, wie sie schon im unvollendeten Vollzug der Reduktion jederzeit geschieht. Das heißt, die Reduktion, als Bewegung der ZurückfühDarin ist eine Präferenz für den lebensweltlichen Weg der phänomenologischen Reduktion (gegenüber dem cartesianischen Weg) impliziert. Vgl. dazu S. Luft, Subjectivity and Lifeworld in Transcendental Phenomenology, Northwestern University Press 2011. 32 Vgl. Fink, VI. Cartesianische Meditation, S. 43 ff. 33 Ebd. S. 42. 34 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt von R. Boehm, Berlin 1966, S. 11. 31

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rung auf das Subjekt, zeigt für Merleau-Pontys theoretische Interessenrichtung ihre Fruchtbarkeit genau dann, wenn diese Zurückführung scheitert und in die Gegenrichtung ausschlägt, denn diese Reaktion zeigt uns die Verfassung der Weltverflechtung. Ein solcher Umgang mit der phänomenologischen Reduktion impliziert die Anerkennung des experimentellen Bewegtheitscharakters der phänomenologischen Einstellung im Gegensatz zu ihrem thetischen Erkenntnischarakter in einer metaphysisch-idealistischen Deutung. »Experimentell« nenne ich hier eine Versuchsanordnung des Denkens, die indirekt dem Erkennen dient, aber nicht selbst schon als ein Erkennen gelten kann – dies geschieht als ein probierendes »Einstellen« des Denkens in Hinblick auf mögliche Erkenntnisfelder. (2) Zum existenziellen Charakter: Der Einstellungswandel muss über den methodisch-experimentellen Charakter hinaus gleichsam vom Beruf zur Berufung werden. Die existenzielle Dimension widerstreitet der methodischen Beherrschbarkeit der Einstellungsänderung, da ersichtlich wird, dass der Vollzug der Epoché nicht einfach nur eine Technik ist, d. h. die bewusste Wahl der Einnahme einer bestimmten Perspektive, die ich jederzeit wieder ablegen kann (vergleichbar einer jederzeit ein- und ausschaltbaren Maschine), sondern mit einer »Wandlung« des Verständnisses einhergeht, das nicht den Gesetzen rationaler Methodik gehorcht und das daher mehr ein Geschehen mit dem Subjekt als eine Leistung des Subjekts darstellt. Diese »Wandlung« bleibt eine personale, d. h. es handelt sich bei der Übernahme der phänomenologischen Einstellung nicht um eine Entmenschung, nicht um ein wirkliches Ablegen der verweltlichenden Selbstapperzeption als Mensch, sondern um einen Wandel innerhalb des menschlichen Selbstverständnisses. Der von Husserl vorgenommene Vergleich mit einer religiösen Umkehr sollte uns nicht dazu verführen zu glauben, dass der Wandel darin bestünde, in der Perspektive des absoluten transzendentalen Subjekts (als des phänomenologischen Analogons zu Gott) restlos aufzugehen. Im Gegenteil führt uns der Vergleich mit der religiösen Umkehr sogar auf die richtige Fährte des Verständnisses: So wie der Mensch in der religiösen Umkehr nicht diabolisch »wie Gott« sein will, sondern sich und sein Leben »vor Gott« (coram Deo) wiederfindet, so findet der Mensch in der transzendentalen Epoché sich und seine Lebenswelt »vor« der reinen transzendentalen Subjektivität wieder, was ihn zu einer Neubeschreibung der mundanen Erfahrung – in Gestalt von Konstitutionsanalysen des Seinssinns der Welt – führt. Dem Menschen er170 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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schließt sich in phänomenologischer Einstellung die alte Welt auf neue Weise. Die in Hinblick auf einen Einstellungswandel zu übende Epoché beinhaltet also eine doppelte Bewegung: nicht nur einen direkten methodischen Vollzug, sondern ebenso eine indirekte existenzielle »Arbeit«, die als Geschehenlassen verstanden werden muss. Nur wenn Ersteres mit Zweiterem einhergeht, wird sich ein neues Sehen ausbilden, das sich in phänomenologischen Analysen fruchtbar machen lässt. Damit wird klar, dass der Vollzug der phänomenologischen Methode ein grundlegendes nicht-rationales Moment umfasst, da sich der existenzielle Wandel, der zur Einstellungsänderung gehört, nicht rational erzwingen lässt. Die Einsicht in Argumente gehört zwar auch zu dieser existenziellen Arbeit, sie bildet aber nur einen Teilaspekt des ganzen Geschehens. Es ist dafür bezeichnend, dass Husserl selbst in einer Randbemerkung zu Finks Textvorlage der VI. Cartesianischen Meditation den Einstellungswandel als »Sprung« 35 bezeichnet und auf diese Weise die Vorstellung der rationalen Ausweisbarkeit abweist: Der Übergang von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung findet nicht in einem Erfahrungskontinuum statt, das in Schritten der Evidenz zu durchlaufen wäre. Mit der Herausstellung des sowohl methodischen als auch existenziellen Charakters der phänomenologischen Einstellung ist noch nicht geklärt, welche Möglichkeiten die Einnahme der phänomenologischen Einstellung beinhaltet. Im Besonderen ist fraglich, ob Husserls transzendentale Einstellung, d. h. der Standpunkt der absoluten transzendentalen Subjektivität »über« der Welt, die einzig mögliche phänomenologische Einstellung nach dem Ausgang aus der natürlichen Einstellung darstellt. Als genereller Zweck eines phänomenologischen Einstellungswandels kann – in Hinblick auf die Maxime »Zu den Sachen selbst« – die Entschränkung von Erfahrung, d. h. die Befreiung der reinen, sachgemäßen Erfahrung von den Schranken der natürlichen Einstellung, angesehen werden. Dies muss aber nicht zwangsläufig mittels des Experiments der Perspektive der absoluten transzendentalen Subjektivität geschehen. Die Geschichte der phänomenologischen Theoriebildung als Geschichte der »Husserl-Häresien« 36 lässt sich vor diesem Hintergrund als Streit um das beste Fink, VI. Cartesianische Meditation, S. 36. P. Ricoeur, »Sur la phénoménologie« [1953], in: Ders., A l’école de la phénoménologie, Paris, S. 159–185, hier: S. 182.

35 36

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Experiment hinsichtlich der Befreiung der reinen, sachgemäßen Erfahrung und im Resultat als Pluralisierung der phänomenologischen Einstellung lesen. Im Anschluss an die obige Diskussion der natürlichen Einstellung kann sich etwa die Frage stellen, ob eine phänomenologische Einstellung sich notwendig in objektivierenden Akten realisieren muss, ob also eine phänomenologische Einstellung nur als »Erkenntniseinstellung« auftreten kann. Tatsächlich ist die phänomenologische Einstellung, mit der Husserl experimentiert, »eine neuartige Erkenntniseinstellung, in der die explizite Setzung der zu erkennenden Gegenstände, die alle Erkenntniseinstellungen inklusive der phänomenologischen charakterisiert, von der in der Natürlichkeit immer schon vollzogenen Seins- und Wirklichkeitssetzung entkoppelt wird.« 37 Auf dem Spiel stehen aber Möglichkeiten reiner, sachgemäßer Erfahrung, die durch diesen objektivierend-erkennenden Zugang gerade verfehlt würden: »unscheinbare« Erfahrungen, die sich dem theoretischen Zugriff jeder möglichen Erkenntniseinstellung entziehen, die dennoch nicht nichts sind und denen gegenüber das phänomenologisierende Subjekt eine Obligation hat (»Zu den Sachen selbst«). Nun hat sich aber bereits oben, anhand der Diskussion der natürlichen Einstellung, ergeben, dass Einstellungen nicht-objektivierend und vortheoretisch sein können: Die natürliche Einstellung ist nicht mit einer theoretischen, geisteswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen, Einstellung zu verwechseln, da sie die Weise ist, sich als Mensch in der Welt zu finden, bevor noch in ihrem Rahmen objektivierende oder gar theoretische Akte vollzogen werden. Analog dazu lässt sich nun eine phänomenologische Einstellung denken, die sich nicht von vornherein objektivierend und erkennend vollzieht: Darin kann die Eröffnung von unscheinbaren, aber genuinen Phänomenbereichen geschehen, die sich zuvor dem erkennenden Blick verschlossen haben, die aber der Erfahrung prinzipiell zugänglich sind. An diesem Ort siedeln sich die alternativen phänomenologischen Einstellungen an, mit denen die Husserl-Häresien von Heidegger bis Marion experimentieren.

37

Staiti, »Einstellungslehre«, S. 232.

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2.3 Das zweideutige Verhältnis zur Einstellung in Marions Phänomenologie der Gegebenheit Vor dem Hintergrund dieser Klärung der fundamentalen Rolle der phänomenologischen Einstellung kann nun Marions Ansatz evaluiert werden. Meine These lautet, dass Marions phänomenologisches Werk in dieser Hinsicht von einer grundlegenden Zweideutigkeit durchzogen ist. Diese These kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden, aber sie soll zum Abschluss wenigstens durch einige Hinweise gestützt werden. Wie eingangs bereits festgestellt wurde, neigt eine Phänomenologie der Gegebenheit einerseits dazu, die Einstellungsdimension, d. h. die methodische und existenzielle Dimension des Phänomenologisierens, systematisch unterentwickelt zu lassen: Die mit der Reduktion auf die Gegebenheit einhergehende Eröffnung der Vonselbst-Phänomenalisierung scheint keiner Phänomenologisierungin-Einstellung zu bedürfen: 38 »Je mehr die Reduktion (sich) reduziert, umso mehr weitet sie die Gegebenheit aus.« (RD 303) Die dritte Reduktion wird hier als eine Art Gegenreduktion beschrieben, als eine Einstellung, die auf die mit der Gegebenheit einhergehende Einstellungslosigkeit zurückführt. Denn die Reduktion auf die Gegebenheit scheint sich von selbst einzustellen, insofern mit der Phänomenalisierung der gesättigten Phänomene ein Zwangscharakter verbunden wird, dem sich das phänomenologische Subjekt nicht entziehen kann: »[…] dieser Überschuss, der sich ohne Vermittlungsinstanz über meinen Blick ergießt, affiziert, zwingt und verletzt ihn.« (BAN 177) Dies führt letztlich zu einer Phänomenologie ohne Einstellung, da die Befreiung aus der natürlichen Einstellung, die bei Marion noch eine Rolle spielt (vgl. z. B. ED 162), nicht mit einem ausdrücklichen Einstellungswandel hin zu einer phänomenologischen Einstellung verbunden wird, wohl aus der Sorge, dass die Rede von einer phänomenologischen Einstellung unweigerlich eine »transzendentale Einstellung« assoziieren lässt, welche aber die Möglichkeit gesättigter Phänomene gerade verstellt (vgl. BAN 181). Andererseits finden sich in Marions gesamtem phänomenologischen Werk verstreute, aber deutliche Hinweise auf ein hermeneutiZur Unterscheidung zwischen Phänomenalisieren und Phänomenologisieren vgl. Fink, VI. Cartesianische Meditation, und M. Richir, Phänomenologische Meditationen. Zur Phänomenologie des Sprachlichen, Wien: Turia + Kant 2001.

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sches Verständnis der Erfahrung von gesättigten Phänomenen, womit die Einstellungsdimension unter einem anderen Titel doch wieder anerkannt wird. So wird im letzten Teil von Étant donné, der sich unter dem Titel des »Hingegebenen (adonné)« der dem Prinzip der Gegebenheit entsprechenden Figur des Subjekts widmet, der Entscheidungscharakter herausgestellt, der der endlichen Phänomenalisierung des Gegebenen zugrunde liegt (vgl. ED 419–423, vgl. bereits RD 296 ff.). Die Erfahrungsmöglichkeit der gesättigten Phänomene hängt von einer Entscheidung seitens des phänomenologisierenden Subjekts ab: Die gesättigten Phänomene kann »nur derjenige sehen […], der sie sehen will«. 39 Gondek/Tengelyi stellen daher die Phänomenologie der Gegebenheit zu Recht in den Kontext einer Phänomenologie des Unscheinbaren, einer Idee von Heidegger, die zuvor bereits Marion selbst aufgreift. 40 Die Phänomenalität eines Unscheinbaren ist aber von solcher Art, dass sie einen hermeneutischen Beitrag von Seiten des phänomenologisierenden Subjekts erfordert, denn nur so kann das, was das Unscheinbare gibt, zum Scheinen gebracht werden. Nun ist es genau dieser hermeneutische Beitrag, der die Einstellungsgebundenheit der Phänomenalisierung eines Unscheinbaren widerspiegelt. In einer späteren Klärung dieser Sachlage betont Marion die »Banalität« der gesättigten Phänomene: Sie sind banal, insofern sie durch eine bestimmte Modifizierung der Auffassungsweise des Subjekts, also durch einen Einstellungswandel, gleichsam überall angetroffen werden können und daher nicht auf seltene Erfahrungen des Außerordentlichen beschränkt werden dürfen (vgl. BAN 153– 156, CN 317): »Die Banalität des saturierten Phänomens legt es hingegen nahe, dass die meisten Phänomene, wenn nicht sogar alle, den Anlass für eine Sättigung durch Überschuss […] bilden können. Mit anderen Worten, die meisten Phänomene, die zuerst als anschauungsdürftig erscheinen, könnten nicht nur als ebenso viele Gegenstände beschrieben werden, sondern auch als Phänomene, die die Anschauung sättigt und die daher jeden univoken Begriff überschreiten. Gegenüber den meisten Phänomenen […] eröffnet sich die Möglichkeit einer doppelten Interpretation, die nur von den Erfordernissen meiner stets wechselnden Beziehung zu ihnen abhängig ist. Oder vielmehr, wenn es die Beschreibung erforderlich macht, habe ich in den meisten Fällen die Möglichkeit, von einer Interpretation zur anderen über39 40

Gondek/Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 205. Vgl. ebd. S. 206. Vgl. RD 9, 95.

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Selbstgegebenheit und Einstellung

zugehen, von einer dürftigen oder gewöhnlichen Phänomenalität zu einer gesättigten Phänomenalität.« (BAN 155 f.)

Dieses Verständnis des gesättigten Phänomens als etwas Interpretationsbedürftiges, insofern es der Anwendung eines auslegenden Als bedarf, ist als unphänomenologisch in Frage gestellt worden. 41 Im Gegensatz dazu möchte ich behaupten, dass Marion durch seinen Hinweis auf die »doppelte Interpretation« der Einstellungsdimension der Phänomenalisierung besonders gerecht wird. Die Aufgabe, das gesättigte Phänomen zu bezeugen, wird von Marion folgerichtig als eine Arbeit der »unendlichen Hermeneutik« beschrieben: Der anschauliche Anspruch des gesättigten Phänomens verlangt von seiner Art her nach einer hermeneutischen Antwort (vgl. BAN 181). In Certitudes négatives spricht Marion dementsprechend sogar von der Notwendigkeit einer »Invention« (CN 313) gesättigter Phänomene, da sie sich durch ihr erfahrungsmäßiges Übermaß gerade verbergen und unscheinbar sind. Da somit gesättigte Phänomene durch keine direkte Gegenstandserfahrung, sondern nur durch eine »Gegenerfahrung« (CD 314, BAN 171) zugänglich sind, muss man sagen, dass ihre Unbestimmtheit eine einstellungsmäßige Bestimmung verlangt, damit sie sich als distinkte gesättigte Phänomene zeigen können. Resümierend kann somit festgehalten werden, dass in Marions Phänomenologie der Gegebenheit einerseits der explizite Einstellungsbegriff zugunsten einer unter dem Titel des gesättigten Phänomens radikalisierten originären Selbstgegebenheit verabschiedet wird, das aber andererseits die unscheinbare Phänomenalität des gesättigten Phänomens es erforderlich macht, den operativ-impliziten Einstellungsbegriff doch wieder einzuführen. In einem letzten Schritt möchte ich nun die dargelegte Zweideutigkeit anhand von Marions Phänomenologie der Gottesfrage exemplifizieren, auch um zu zeigen, dass die von mir angestrebte Klärung des methodisch-existenziellen Zusammenhangs von Einstellung und Selbstgegebenheit durchaus auch Konsequenzen für konkrete Phänomenanalysen hat. Marions generelle religionsphilosophische These besagt, dass eine Phänomenologie der Gegebenheit, die sich diesseits der Konstitution von Gegenständlichkeit oder Seiendheit bewegt, auch für das Feld des Religiösen – insbesondere für die Idee Gottes – einen phänoVgl. A. J. Steinbock, »The Poor Phenomenon: Marion and the Problem of Givenness«, in: Alter: revue de phenomenology 15 (2007), S. 357–372, hier: S. 363.

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menalen Ort bereithält. Eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung erscheint also möglich, da Gott innerhalb einer Phänomenologie der Gegebenheit nicht als etwas Gegenständliches oder Seiendes vorgestellt werden muss. Ich beschränke mich hier darauf, den phänomenologischen Status, den die Idee Gottes gemäß Marion erhalten soll, zu diskutieren. Selbst wenn es um die Idee Gottes geht, muss eine Phänomenologie der Gegebenheit auf die originäre Selbstgegebenheit des damit bezeichneten – präsumtiven – Phänomens (falls es nämlich ein solches gibt) dringen. Als genuinen Ort für die Selbstgegebenheit des Phänomens Gott bestimmt Marion nun nicht eine bestimmte positive (sachhaltige oder ontische) Erfahrung, sondern die Frage, in der sich der Mensch auf Gott bezieht: Das originäre Phänomen Gott ist dem Menschen wenn überhaupt, dann als Gottesfrage bzw. in der Gottesfrage gegeben. 42 Das Ziel der sich daran anschließenden Überlegungen Marions ist es, das phänomenologisch »Unreduzierbare« dieser in der Frage gegebenen Idee Gottes darzulegen, indem er bezüglich der auf die Gottesfrage gegebenen (theistischen oder atheistischen, gläubigen oder ungläubigen) Antworten eine phänomenologische Reduktion – und das heißt hier: eine Reihe von In-Klammer-Setzungen – durchführt. Die phänomenologische Reduktion dient hier also der Aufgabe, die originäre Selbstgegebenheit des präsumtiven Phänomens herauszustellen. In den Ausführungen Marions lassen sich folgende Ausschaltungen unterscheiden: In Klammer gesetzt wird erstens – mit Husserl (Hua III/1, 124 f.) – die metaphysische Idee Gottes als transzendenter Weltgrund: Das Phänomen Gott ist nicht etwas, was mir von außen entgegenkommt, sondern begegnet phänomenologisch vielmehr als eine potenzierte Innerlichkeit im Sinne von Augustinus (»interior intimo meo«) und ist also als ein Phänomen radikalisierter Immanenz aufzufassen (vgl. ED 106, 336 f.). In Klammer gesetzt wird zweitens und generell jede Art von Idol Gottes, das heißt jede verendlichende positive Bestimmung Gottes als »Gott« (sei diese nun bejahend oder verneinend prädiziert), da diese nichts über Gott in seiner Selbstgegebenheit, sondern nur über das »Gott« vorstellende Subjekt etwas Vgl. J.-L. Marion, »L’irréductible« (2006), in: Ders., Figures de phénoménologie. Husserl, Heidegger, Levinas, Henry, Derrida, Paris: Vrin 2012, S. 179–188, hier: S. 179–181 (= IRR) (dt. Übers.: J.-L. Marion, »Überlegungen zur Wirklichkeit Gottes«, in: zur debatte 6 (2012), S. 17–19). Vgl. CN 96–100.

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Sachhaltiges aussagt (vgl. IRR 181–184). Mit einem Wort, die Gottesfrage ist phänomenologisch von jeder Antwortgestalt freizuhalten, da jede Art von Antwort Gott vorstellt und somit letztlich einen Verrat an dem in der Gottesfrage originär zur Gegebenheit Kommenden begeht. In Klammer gesetzt wird deshalb drittens auch die Existenz Gottes, da die Gegebenheit Gottes in der Frage seiner fraglichen Existenz zuvorkommt (vgl. IRR 185). In Klammer gesetzt wird zuletzt und viertens aber auch das Wesen Gottes, das heißt dasjenige, was in der metaphysischen Vorstellung nach Abzug der Existenz als Bestimmung einer ontologischen Möglichkeit übrig bleibt. Gott ist in der Frage vielmehr als das »Unmögliche«, als »Möglichkeit der Unmöglichkeit« gegeben (vgl. IRR 186). Dies ist es also, was gemäß Marion nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion als das Unreduzierbare Gottes, also als seine originäre Selbstgegebenheit, übrig bleibt: das Unmögliche, das in der Gottesfrage, also in einem bestimmten Vollzug des Denkens, als eine wirksame Macht zur Erscheinung kommt. Denn das Unmögliche ist »das Symptom seiner [sc. Gottes] Wirkung auf unsere Endlichkeit« (IRR 187). Das Unmögliche – und nicht das Notwendige – ist daher das, was Gott zu Eigen ist. 43 Der Sinn dieser Reduktion auf das Unreduzierbare bleibt in Marions Darstellung jedoch durch eine Zweideutigkeit belastet: Bedeutet sie eine Reduktion der Gottesfrage auf Gott selbst in seiner originären Selbstgegebenheit? Oder bedeutet sie lediglich eine Reduktion der Gottesidole auf die Gottesfrage, worin Gott zu originärer Selbstgegebenheit kommt? Marion scheint hier, aufgrund der ungeklärten Einstellungsdimension, keinen Unterschied zu sehen: Schließlich ist es ja Gott selbst, der in der Gottesfrage zu originärer Selbstgegebenheit kommt. Der hier verfolgte Fokus auf die Einstellung fördert aber einen wichtigen Unterschied zutage: Die Reduktion der Gottesidole führt nicht auf den einstellungslos gegebenen Gott, sondern auf die Frage als den originären Ort des Gottesphänomens. Dies bedeutet aber, dass die originäre Selbstgegebenheit Gottes von einer (religiösen) Einstellung des Subjekts abhängig ist, denn nur wenn dieses sich als fragend vollzieht und sich also der Frage stellt, kann das Unmögliche als das Eigene Gottes erscheinen, kann also das Unscheinbare Gott genannt werden.

Vgl. den Titel des Abschnitts zur Gottesfrage in CN 87–137: »L’impossible ou le propre de Dieu«.

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Die Zweideutigkeit besteht hier also in der originären Selbstgegebenheit: Stellt sie sich zwingend von selbst ein, sodass man sagen muss, dass sich die Gottesfrage als unreduzierbare nicht nicht stellen kann? Oder bedarf sie einer (religiösen) Einstellung seitens des Subjekts, da dafür, dass sich ihm die Gottesfrage tatsächlich stellt, seine freie Zuwendung mitkonstitutiv ist? Letzteres bedeutet einfach, dass Fragen – selbst so außerordentliche wie die Gottesfrage – sich nicht einfach von selbst stellen, sondern in einem einstellungsgebundenen Akt gestellt werden müssen. Für Letzteres spricht unter anderem, dass Gott nicht einfach mit dem Unmöglichen koinzidiert, insofern die den religiösen Bereich eröffnende Erfahrung des Unmöglichen für ihre Qualifizierung als Gotteserfahrung noch nicht hinreichend ist: »[…] sobald man Zugang zum Unmöglichen erlangt (oder vielmehr gerade nicht zu ihm gelangt), sobald man auf es stößt, tut sich für einen der Bereich auf, in dem es sich um Gott handeln kann. Nicht, dass es genügen würde, das Unmögliche zu erfahren, um eine Erfahrung Gottes zu machen, so als ob jedes Unmögliche für uns schon ausreichen würde, um von ›Gott‹ eine Idee zu bekommen.« (IRR 187, vgl. CN 104) Hier scheint Marion darauf abzuzielen, dass die Erfahrung des Unmöglichen erst als Erfahrung Gottes ausgelegt werden muss – womit wiederum die Einstellungsdimension sichtbar wird. Schlussendlich scheint sich Marion jedoch doch wieder für die reine, sich von selbst einstellende Selbstgegebenheit zu entscheiden, wenn er die Gegebenheit des »Unreduzierbaren« von allen Verfahren der phänomenologischen Reduktion, d. h. der Einstellungsarbeit, ablöst, indem er das Unreduzierbare als das »Unwiderrufliche« interpretiert: »Das, wodurch Gott zur Idee wird, setzt nichts voraus, nicht einmal das Nichts, und bleibt in jeder Hinsicht unreduzierbar, sogar auf die Reduktion. Das Unreduzierbare zwingt sich auf wie das Unwiderrufliche, die ›Unmöglichkeit, Gott zu entkommen‹ [Levinas].« (IRR 188) Das Ziel des vorliegenden Beitrags war es hauptsächlich, die Relevanz des phänomenologischen Einstellungsgedankens auch noch für Marions radikalisierte Form einer Phänomenologie der originären Selbstgegebenheit herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund kann die dargelegte Zweideutigkeit aufgelöst werden, indem auch noch die gesättigten Phänomene, die eine eminente Form von originären Selbstgegebenheiten sind, konsequent als einstellungsgebundene Selbstgegebenheiten dargestellt werden. Mit der Wiedereinführung bzw. Explikation des Einstellungsgedankens im Rahmen einer Phänomenologie der Gegebenheit ergibt sich aber darüber hinaus die Mög178 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Selbstgegebenheit und Einstellung

lichkeit, eine Phänomenologie der originären Selbstgegebenheit mit der Anerkennung einer Grenze der Gegebenheit zu verknüpfen: Wenn sich nicht alles im Denken an der Selbstgegebenheit entscheidet, sondern auch Einstellungen für das Denken konstitutiv sind, dann könnte es nicht nur einerseits den Grenzfall einer sich selbst einstellenden Selbstgegebenheit, um den sich Marion bemüht, geben, sondern ebenso andererseits auch den Grenzfall einer Einstellung, die auf nichts Gegebenes (Ungegebenes oder gar Nichtgegebenes) hin öffnet. Die damit verbundene offene Frage kann anhand der Gottesfrage konkretisiert werden: Muss Gott im Rahmen der Phänomenologie zwangsläufig so wie bei Marion als originäre Selbstgegebenheit einer religiösen Erfahrung thematisiert werden? Oder ist der in der Erfahrung des Unmöglichen unscheinbar auftretende Gott vielmehr eine Ungegebenheit, deren Phänomenalisierung einer spezifisch hermeneutisch-religiösen Einstellung bedarf? Oder – eine dritte Möglichkeit – ist Gott gar als eine Nichtgegebenheit anzuerkennen, die sich jenseits der phänomenologischen Grenze der Gegebenheit befindet und deren philosophische Thematisierung daher eine gänzlich anders geartete Einstellung erforderlich macht, die nichts mehr mit religiöser Erfahrung zu tun hat? Dies können Leitfragen einer religionsphilosophischen Untersuchung sein, die nach den Bedingungen der Möglichkeit/Unmöglichkeit sowie den Modalitäten einer Phänomenologie der religiösen Erfahrung fragt.

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III. »Gesättigte Phänomene«

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden? Christina M. Gschwandtner

Können Naturelemente uns als das erscheinen, was Marion als ein »gesättigtes Phänomen« bezeichnet? Würde eine solche Bezeichnung uns in der Umweltethik und Ökophänomenologie weiterbringen? Obwohl es im ersten Moment wahrscheinlich erscheint, dass Naturphänomene als »gesättigt« erscheinen können, ist es nicht selbstverständlich, da Marion selbst nie ein Naturphänomen als gesättigt beschrieben hat und diese Kategorie bislang eher für außergewöhnliche oder »übernatürliche« Phänomene verwendet hat. Er hat sich auch bisher nicht offensichtlich für Umweltfragen interessiert; in seinen diversen phänomenologischen Untersuchungen konzentriert er sich zumeist auf den Menschen oder auf Gott. Er notiert gleichwohl ausdrücklich, dass gewisse »unpersönliche« Phänomene als gesättigt erscheinen können: historische oder kulturelle Ereignisse, Gemälde und andere Kunstwerke, Geschenke oder Opfergaben, und unser Leib. 1 Einmal verweist er auch kurz auf eine Naturkatastrophe als ein »Ereignis«, wobei in diesem Kontext auch von »politischer Revolution« und »Sport- und Kulturveranstaltungen, usw.« 2 die Rede ist. Warum nicht auch die Erfahrung von Tieren oder Bäumen oder Ökosystemen oder Planeten? 3 Katharina Bauer fragt in ähnlicher Weise, ob geEs ist interessant, dass diese gesättigten Phänomene alle entweder von menschlicher Hand geschaffen sind oder menschliche Aktivitäten beschreiben; alle sind daher in irgendeiner Form direkt mit dem Menschen verbunden (inklusive das menschliche Erfahren des Phänomens der Offenbarung). Obwohl Marion betont, dass diese Phänomene vom »Ungesehenen« her kommen, werden sie alle vom menschlichen Antwortenden »sichtbar« gemacht. 2 J.-L. Marion, De surcroît: Études sur les phénomènes saturés, Paris: P.U.F., 2001, 43 (im Text im Folgenden unter der Sigle DS zitiert). Sofern keine Übersetzungen zitiert werden, stammen alle Übersetzungen aus dem Französischen von der Verfasserin. 3 Die Anspielung bezieht sich hier auf die Reihenfolge, in der »ethische Ausweitung« normalerweise erfolgt: zuerst geht sie zu sogenannten »höheren« Tieren (die uns am nächsten stehen) über, dann zu anderen Tieren, gefolgt von Pflanzen oder allen Lebewesen (Biozentrismus), um sich zuletzt dann auf ganze Ökosysteme (»Ökosophie« 1

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Christina M. Gschwandtner

sättigte Phänomene »nicht auch das Naturereignis, auch das Naturschöne oder Erhabene, auch der Leib oder der Blick eines Tieres« einschließen können. 4 Im vorliegenden Artikel wird entsprechend die Möglichkeit untersucht, ob Naturphänomene in Marions Sinne als »gesättigt« interpretiert werden können, obwohl er selbst solche Phänomene nicht in seine Analyse miteinschließt. Das Wort »interpretiert« wird hier ganz bewusst verwendet, denn unsere Untersuchung wird zeigen, dass das hermeneutische Element in diesem Kontext eine wesentlich gewichtigere Rolle spielt, als Marion sie der Hermeneutik normalerweise zuweist. Der erste Abschnitt erwägt, in welchem Sinne Naturphänomene als »gesättigt« erscheinen können. Der zweite Abschnitt zeigt sodann auf, dass die Hermeneutik entscheidend dafür ist, ein Phänomen als gesättigt zu erleben. Im dritten Abschnitt wird diskutiert, wie eine Identifikation gewisser Naturphänomene als gesättigt der Umweltphilosophie zuträglich sein kann. Der vierte und letzte Abschnitt wird schließlich eine Verbindung zwischen Natur und dem menschlichem Leib – einem Phänomen, das Marion explizit als gesättigt bezeichnet – herstellen.

1.

Können Naturphänomene als gesättigt gegeben werden?

Marion zufolge sind gesättigte Phänomene von großer Komplexität und Reichtum gekennzeichnet. Sie sind selbstgegeben, d. h. sie ergreifen die Initiative, erlegen sich dem Bewusstsein auf und können mithin nicht als Objekte konstituiert werden (zumindest ist ein solcher Versuch immer zum Scheitern verurteilt und fügt dem Phänomen Unrecht zu, indem er es vermindert oder trivialisiert). Gesättigte Phänomene sind überreich an Intuition und noematischem Inhalt, d. h. sie sind mit anschaulichem Überfluss gegeben und unsere bedeuoder »tiefe Ökologie«) zu beziehen. H. P. Steeves unternimmt einen der raren Versuche, ethisches Belangen sogar noch mehr zu erweitern, vgl. das Kapitel »Mars Attacked! Interplanetary Environmental Ethics and the Science of Life«, in: ders., The Things Themselves: Phenomenology and the Return to the Everyday, Albany: SUNY Press, 2006, 126–45. 4 K. Bauer, Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg/München: Alber, 2012, 453. Cf. dies., »Von der Donation zur Interdonation. Interpersonale Beziehungen in der Phänomenologie Jean-Luc Marions«, in: H.-B. Gerl-Falkowitz (Hg.), Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, Dresden: Verlag Text & Dialog, 2013, 220.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

tungsverleihende Intentionalität ist von ihnen überwältigt. Der Blick kann sie nicht ergreifen oder verstehen, sondern ist geblendet, überflutet, ja wird möglicherweise von ihrem Elan sogar völlig mitgerissen. Solche Phänomene erwirken etwas, das Marion als »Gegenintentionalität« bezeichnet: Das Phänomen konstituiert die Person, die das Phänomen erfährt, anstatt noch der Kontrolle eines transzendentalen Ichs unterworfen zu sein. Das gesättigte Phänomen gibt zu viel, viel mehr als wir erhalten oder erdulden können. Es ist ein exzessives und radikales Phänomen und die einzig angemessene Reaktion bestünde in Haltungen wie Achtung, Staunen oder sogar Anbetung. Das historische Ereignis kann nicht quantifiziert oder neutral beschrieben werden, das Kunstwerk muss immer wieder neu bestaunt werden, der Liebende muss sich dem oder der Geliebten in völliger Hingabe widmen. Ist es möglich, dass sich ein derartiges Erlebnis angesichts eines Naturphänomens einstellt? Kann ein nichtmenschliches Phänomen oder zumindest eines, das nicht von Menschen hergestellt oder stark beeinflusst worden ist, wie Marion dies für das historische Ereignis oder das Kunstwerk beschreibt, sich in solch gesättigter Art und Weise geben? Kann die Natur uns überwältigen, uns möglicherweise sogar konstituieren oder in irgendeiner Weise durch die Begegnung mit ihr verwandeln? Marion selbst erwägt diese Möglichkeit nicht. Nichtmenschliche Tiere werden nirgends in seinem Werk erwähnt. Ein Baum erscheint nur einmal und in dem Falle als Teil einer Liste, die auch ein Dreieck als »technisches Objekt« einschließt, d. h. zusammen mit anderen sogenannten »armen« Phänomenen. 5 Genauer gesagt wird ein Baum in diesem Zusammenhang zweimal kurz erwähnt. Im ersten Fall spricht Marion von den »intentionalen Objekten« Baum und Dreieck als Objekten im Erlebnisfluss ähnlich denen der Mathematik und zeigt so an, dass die Unterscheidung zwischen natürlichen, zeitlichen und rein theoretischen Objekten »hier ohne jeden Aussagewert [ist]« (»n’a ici aucune pertinence«) (GD, 226; ED, 179). Kurz darauf führt er die Kategorie »habitueller Phänomene« ein, auf die er später nicht zurückkommt, und erwähnt in diesem Zusammenhang einen Baum in der Wüste (der interessanterweise – aber ohne jegliche WeiterentJ.-L. Marion, Étant donné: Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: P.U.F., 1997, 179; dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München: Alber 2015, übers. v. Th. Alferi, 226, (im Text im Folgenden zitiert unter den Siglen GD und ED).

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wicklung – eine »Welt eröffnet«) zusammen mit einem Taxi als Phänomene, die sich mir präsentieren, wenn ich sie brauche (GS, 230; ED, 182). Der genaue Status dieser und anderer Beispiele, besonders der »technischen Objekte«, ist äußerst schwierig festzustellen, da sie hier verwendet werden, um die Idee einer »Anamorphose« des gegebenen Phänomens zu entwickeln, welche später dem gesättigten Phänomen im Allgemeinen als Konstitutivum zugewiesen wird. Anamorphose, Ankunft, Überraschung, fait accompli, und sogar Ereignis charakterisieren für Marion ursprünglich alle gegebenen Phänomene, werden aber später mehr spezifisch auf gesättigte Phänomene bezogen. Am Ende des behandelten Abschnitts erklärt Marion, dass man nicht von einem eindeutigen Entweder-Oder zwischen »armen« und »gesättigten Phänomenen« ausgehen solle, sondern dass die Phänomenalität möglicherweise in »Graden von Gegebenheit« ansteigen könnte. Entsprechend schlägt er vor, dass diese vorher erwähnten Objekte daher einen sehr niedrigen ersten Grad von Gegebenheit darstellen könnten (GS, 303–6; ED, 247–50). Gleichwohl entwickelt er diesen Vorschlag nie weiter, abgesehen von einer kurzen Wiederholung des Vorschlags in Certitudes négatives. 6 Unangesehen der Tatsache, dass Marion Naturphänomene fast völlig ignoriert, gibt es kaum einen Grund, warum die Natur nicht zumindest in gewissen Zusammenhängen als gesättigt gegeben werden oder erscheinen könnte. Der erste Charakterzug des gesättigten Phänomens ist seine überwältigende Natur, die uns mit Intuition überschwemmt. Gesättigte Phänomene geben zu viel: Sie können nicht konstituiert werden und weigern sich, als Objekte zu erscheinen. Sie gehen uns in radikaler Weise an, machen sich uns untertan, wir sind ihnen übergeben oder sogar abhängig von ihnen. Sie kommen von sich selbst, statt von uns erzeugt oder produziert zu werden. Sie erscheinen in überraschender Weise und stellen uns vor ein fait accompli. Und sie geben sich in Form von Anamorphosen, bestimmen also den Platz, an dem wir »stehen« müssen, um sie zu »sehen«. Man muss nicht an Kants Erhabenes oder die letzte Naturkatastrophe erinnern, um einzusehen, dass die Natur tatsächlich gelegentlich in solch überwältigender und sogar furchteinflößender Weise erscheinen kann. Sowohl die atemberaubende Schönheit wie auch die rohe Gewalt gewisser Naturphänomene berühren uns in überwältigender, 6 Cf. J.-L. Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset, 2010, 312–314 (im Text im Folgenden unter der Sigle CN zitiert).

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

drohender oder blendender Art. Viele Naturphänomene, wenn nicht sogar die meisten, können von uns nicht völlig verstanden geschweige denn konstituiert werden, so viel Forschung in Biologie, Botanik, Geologie und anderen Naturwissenschaften es auch versuchen mag. Ein ökologisches System – wie ein Feuchtbiotop, ein Gezeitentümpel, eine Region des Urwalds oder sogar ein Ameisenhügel – ist ein komplexes Phänomen, das nicht völlig vom menschlichen Bewusstsein begriffen werden kann. Obwohl wir natürlich versuchen können, solche Phänomene mit Begriffen zu verstehen oder sie in ein Objekt zu verwandeln, wie es in der Naturwissenschaft selbstverständlich oft geschieht und geschehen muss, bleiben solche Begriffe immer unzulänglich. 7 Naturphänomene, ob einzeln, so wie ein bestimmtes Tier oder ein Baum, oder in komplexerer Form, so wie ein ganzes Ökosystem, sind keine technischen Objekte. Da sie nicht völlig konstituiert werden können, müssen sie zumindest teilweise als »gesättigt« erscheinen. Und viele, wenn auch nicht alle, die die Natur als gesättigt erleben, geben sich ihr hin, genau wie manche von einem bestimmten Gemälde angesprochen werden, das andere völlig kalt lässt. Diese mögliche »Sättigung« von Naturphänomenen wird besonders deutlich in den Beschreibungen von Begegnungen mit der Natur in vielen Naturkunden, die sicherlich mit Recht als »phänomenologisch« bezeichnet werden können, selbst wenn sie normalerweise nicht so beschrieben werden. Ob Annie Dillards Meditationen am Tinkercreek, Bernd Heinrichs Beobachtungen in den Wäldern von Maine, Edward Abbeys Erlebnisse in Desert Solitaire, John Muirs Erfahrungen in der Sierra Nevada, Aldo Leopolds ausführliche Beschreibungen in der Landethik, die dem späteren theoretischen Kapitel voranstehen und auf denen es basiert 8, oder irgendeine der vielen Man sollte auch bemerken, dass Marion zuweilen Kants Idee des Erhabenen oder die »ästhetische Idee« mehr generell als Vorläufer seiner Analyse des gesättigten Phänomens erwähnt. Allerdings konzentriert er sich nur auf seinen überwältigenden Eindruck und die Tatsache, dass es sich jedem Begriff entzieht (J.-L. Marion, Le Visible et le Révélé, Paris: Cerf, 2005, 56, 72–73 [im Text im Folgenden unter der Sigle VR zitiert]; GS, 369–73; ED, 305–309). Gleichwohl sind die meisten von Kants Beispielen (zumindest in der Kritik der Urteilskraft) Naturphänomene: überwältigende Gebirgsmassive, große Unwetter usw. (Es ist auch etwas ironisch, dass Kants Analyse im Endeffekt unsere Kontrolle über die Natur trotz des Gefühls des Erhabenen hervorhebt, während Marion eindeutig das Gegenteil unterstreichen will.). 8 B. Heinrich, A Year in the Maine Woods, Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1994; ders. The Trees in My Forest, New York: Cliff Street Books, 1997; ders. Mind of the Raven, New York: Cliff Sreet Books, 1999; ders. One Man’s Owl, Princeton, NJ: 7

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ähnlichen Schriften über Naturerfahrungen – in all diesen Texten werden Naturphänomene konsistent als gesättigt beschrieben. Hier ein Beispiel von Annie Dillards Pilgrim at Tinkercreek: »Das Geheimnis des Sehens ist also die kostbare Perle […] Das Geheimnis des Sehens liegt darin, im Sonnenwind zu segeln. Schleife und dehne deinen Geist, bis Du selbst ein Segel bist, glatt, durchscheinend, beim kleinsten Windhauch prall gefüllt. Als der Arzt den Verband abnahm und sie in den Garten führte, sah das Mädchen, das nicht länger blind war, ›den Baum, wo die Lichter brennen‹. Diesen Baum suchte ich in den sommerlichen Pfirsichgärten, in den herbstlichen Wäldern und im Winter wie Frühling, Jahr für Jahr. Dann ging ich eines Tages den Tinker Creek entlang, ohne irgendetwas zu denken, und sah auf einmal den Baum, in dem die Lichter brennen. Die Zeder hinterm Haus, in der die Trauertauben schlafen, strahlte wie verwandelt, in jeder Zelle knisterten Flammen. Ich stand auf dem Gras, wo die Lichter brennen, Gras, das ganz und gar in Flammen stand, vollkommen fokussiert und vollkommen verträumt. Es war weniger, als würde ich sehen, denn als wäre ich zum ersten Male gesehen, von einem mächtigen Blick überwältigt. Die Feuerflut verging, aber von der Kraft zehre ich immer noch. Nach und nach gingen die Lichter in der Zeder aus, die Farben erstarben, die Zellen erloschen und verschwanden. Ich klang immer noch fort. Ich war mein Leben lang eine Glocke gewesen und hatte es bis zu dem Moment nicht gewusst, in dem ich erhoben und zum Klingen gebracht wurde. Den Baum, in dem die Lichter brennen, habe ich seither nur ganz selten gesehen. Die Erscheinung kommt und geht, meistens geht sie, aber ich lebe dafür, lebe für den Moment, wenn Berge aufgehen und ein neues Licht durch den Spalt braust; dann krachen die Berge wieder zu.« 9

Dillards Begegnung mit dem Baum überwältigt und blendet sie; sie fühlt sich von ihm angesehen statt ihn ihrem Blick ausgesetzt zu spüren; er erscheint ihr, als sie es nicht erwartet und nicht darauf vor-

Princeton University Press, 1987; E. Abbey, Desert Solitaire, New York: Touchstone, 1990; ders. The Journey Home, New York: Plume, 1991; J. Muir, The Wilderness World of John Muir, Boston: Houghton Mifflin, 1976; ders. Our National Parks, Madison: University of Wisconsin Press, 1991; ders., The Yosemite, Madison: University of Wisconsin Press, 1986; ders. Nature Writings, New York: Library of America, 1997. A. Leopolds »Landethik«, das letzte Kapitel seines A Sand County Almanac: With Other Essays on Conservation from Round River, New York: Oxford University Press, 1949, überzeugt genau durch die detaillierten Beschreibungen, die uns bereits bewegt haben, wenn wir dort anlangen. Es wird oft gesagt, dass das letzte Kapitel des Sand County Almanac (oft das einzige, das im Unterricht gelesen wird) seinen Sinn und seine Überzeugungskraft durch diese vorangegangen Beschreibungen erhält. 9 A. Dillard, Pilger am Tinker Creek, übers. v. K. Nölle, Berlin: Matthes & Seitz 2016, 45–46 (Orig. Pilgrim at Tinker Creek, New York: HarperCollins, 1974, 35–36).

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

bereitet ist – er weist alle Kennzeichen eines gesättigten Phänomens und »Gegenerlebnisses« auf, die Marion für wichtig hält. Beispiele dieser Art könnten von den eben genannten Autoren endlos vervielfacht werden. Diese und ähnliche Bücher enthalten überwältigende, blendende, unheimliche und manchmal atemberaubend schöne Beschreibungen, die uns davon überzeugen wollen, die gedankenlose Ausbeutung und Objektivierung der Natur zu beenden und sie anders zu erleben, nämlich als mit Bedeutung erfüllt und als schlechthin wertvoll. 10 Der Eindruck, den sie auf uns machen, wird genau von dieser Dimension von Überschuss und Sättigung erzielt, die uns entweder überwältigt und uns klein fühlen lässt oder sogar dazu führt, dass wir der Natur ergeben werden und uns ihr widmen. Viele Umweltfreunde unterstützen ökologische Aktionen und Gesetzgebung genau deshalb, weil sie die Natur als gesättigt erfahren haben oder von solchen Beschreibungen in naturkundlichen Schriften überzeugt wurden. Etwas als gesättigtes Phänomen zu erleben, bedeutet ihm einen Wert beimessen, der nicht objektiviert oder in einem Preis ausgedrückt werden kann. Doch die Idee des gesättigten Phänomens kann vielleicht nicht nur für solch »positive« Erlebnisse mit der Natur, die oft (vielleicht zu schnell) als eine »romantisierte« Version der Natur abgetan werden, verwendet werden. 11 Aufgrund von Marions Beschreibung des »Ereignisses« kann man auch von Natur- oder Umweltkatastrophen, sowie Erderwärmung oder Klimawandel als von gesättigten Phänomenen sprechen. Viele schwere Erdbeben, Tsunamis, Überflutungen, Vulkanausbrüche usw. werden als drohend und überwältigend erlebt, besonders wenn sie große Schäden anrichten oder viele Menschenleben fordern. Wir sind keiner Beschreibung fähig, können das Geschehen nicht in Worte fassen, finden uns überrascht und bedroht in genau der Art und Weise, wie Marion das gesättigte Phänomen beschreibt, wenn es auch hier ganz und gar nicht positiv ist. 12 Besonders Ähnliches könnte über Henry David Thoreau und die anderen »transcendentalists« gesagt werden. 11 Wenn man sorgfältiger liest, stellt man jedoch fest, dass diese Autoren die Natur meist nicht romantisieren, sondern auch ihre gefährliche und grausame Seite durchaus lebendig darstellen. Um auf das gleiche Beispiel zurückzugreifen: Dillards Buch ist als kataphatischer und apophatischer Dialog organisiert. Während der erste Teil die Schönheit und den Überfluss der Natur zeigt, beschreibt der zweite ihre Gewalt und Sinnlosigkeit. Es ist keineswegs eine rein romantisierte Beschreibung. 12 Es ist bemerkenswert, dass, obwohl Marion in seiner Behandlung generell sehr 10

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die unkontrollierte Abgabe von Treibhausgasen in die Atmosphäre führt zu einer Entlassung von Mächten, die drohen, uns zu überwältigen, und die in ihrer Komplexität uns oft blind scheinen lassen. Nicht nur wissen wir bisher nur wenig von den wirklichen Konsequenzen, die der Klimawandel für die Erde haben wird, sondern wir sehen immer mehr, dass er ein so kompliziertes Phänomen ist, dass er vielleicht nie völlig verstanden und noch schwieriger zu kontrollieren sein wird. Der Klimawandel ist so komplex, dass wir nur schwer exakte Voraussagen machen können, wie er sich genau ausdrücken wird, da selbst das Wetter als Chaossystem nicht völlig zuverlässig vorhergesagt werden kann. 13 Wir sind nicht sicher, wie genau sich »Rückkoppelungen« auswirken werden oder wie viel CO2 die Ozeane noch aufnehmen können. In vielen Aspekten des Problems ist es nicht nur eine Sache von ungenügenden Informationen oder Fakten, die etwas mehr Forschung aufdecken könnte, sondern liegt es an der Komplexität des Phänomens selbst und seiner vielfachen Wechselwirkungen mit anderen Phänomenen. Diese Ereignisse können nicht als Auswirkungen verstanden werden, nicht weil sie keine Ursache haben, sondern weil es zu viele Ursachen gibt, nicht weil nicht genügend Informationen vorhanden sind, sondern weil wir an einem Überfluss derselben leiden. 14 (GS, »positive« Beispiele für das gesättigte Phänomen verwendet, er in den Gesprächen mit Dan Arbib auch einige »negative« erwähnt (vgl. bspw. J.-L. Marion, La rigueur des choses. Entretiens avec Dan Arbib, Paris: Flammarion, 2012, 145, 271 [im Text im Folgenden unter der Sigle RC zitiert]; beide beziehen sich auf die Terroranschläge vom 11. September 2001) und die »Umweltkrise« zweimal anspricht, inklusive der Notwendigkeit, sie ernst zu nehmen (ebd., 262, 269–70). Allerdings drückt er auch Zweifel darüber aus, ob die Erderwärmung auf menschliche Ursachen zurückzuführen ist und ob sie eine wirkliche Gefahr darstelle (ebd., 267–68). 13 Naturwissenschaftler haben sich bereits mehrmals überrascht darüber geäußert, dass die Schmelze in der Antarktis oder in Grönland so viel schneller voranschreitet als ursprünglich diagnostiziert. Obwohl sich die Wissenschaftler einig darüber sind, dass der Klimawandel stattfindet und dass er anthropogenisch bedingt ist, ist das Einverständnis über die genauen Grade und die Intensität der Erwärmung oder ihre genauen Auswirkungen etwas geringer. Vgl. die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, www.ipcc.ch), die alle fünf Jahre einen neuen Bericht über den gegenwärtigen Zustand und den wissenschaftlichen Konsensus publiziert. 14 Selbst die menschliche Zufügung von Treibhausgasen zur Atmosphäre, die jetzt allgemein als Hauptauslöser der Erderwärmung gilt, kann nur rückwärtsgewandt als Ursache des Klimawandels aufgrund des Effekts der Erwärmung festgestellt werden. Marions Analyse der umgedrehten Reihenfolge von Effekt und Ursache beschreibt dies genau.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

289–90; ED, 235) Marions Beschreibung des »Ereignisses« scheint auf die Komplexität und Inkommensurabilität des Klimawandels gut zu passen: »Dass die Ursachen selbst aus dem mit ihnen nicht zu verrechnenden Aufbrechen des Ereignisses resultieren, dies ist es, was das Ereignis als solches auszeichnet.« (GS, 291; ED, 237) Das gleiche gilt für die Erderwärmung: Obwohl die menschliche Erzeugung von Treibhausgasen als Ursache angegeben werden kann – und zwar genau, indem man von der Wirkung auf den Ursachen zurück schließt –, kann trotzdem kein einzelner Schuldiger direkt identifiziert oder sogar verantwortlich gemacht werden. Stattdessen haben sich viele Ursachen, Gründe und Schulden über lange Zeit angehäuft, sodass die Wirkungen der Erderwärmung oder des Klimawandels die spezifischen Ursachen oder sogar die Kombination vieler Gründe gemeinsam zu übersteigen scheint. Dies mag aufzeigen, dass nicht nur »positive« Phänomene sowie Kunstwerke oder Geschenke als gesättigt erlebt werden, sondern dass drohende, gewaltige oder erschütternde Phänomene ebenso als gesättigt erlebt werden und sich selbst in dieser Form geben können. Marion untersucht solch eine Möglichkeit nicht, aber sie scheint keineswegs von einer Beschreibung in seinem Sinne ausgeschlossen zu sein. In diesem Zusammenhang mag die Idee der »negativen Gewissheit« (certitude négative) von Nutzen sein. Marion argumentiert, dass wir nie ein völliges Verständnis des gesättigten Phänomens haben werden, eben weil es die Art von Phänomen ist, die eine Definition von Verstehen im Sinne gesicherter Erkenntnis unmöglich macht. Wir wissen »sicher«, dass wir nie über ein umfassendes Verständnis verfügen werden, sondern dass ein solches nicht nur unmöglich ist, sondern das Wesen des gesättigten Phänomens selber zerstören würde, indem es dieses zum Objekt macht. Naturwissenschaftler stellen immer öfter fest, dass dies für viele Phänomene in der Natur gilt, besonders wenn es sich um komplexe Lebewesen handelt. 15 Tiere Die Arbeit verschiedener Philosophen der Naturwissenschaft argumentiert für eine mehr engagierte und sensiblere Forschung der Phänomene. Cf. S. Harding, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1991; dies., The Science Question in Feminism, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1991; dies., Sciences from Below: Feminisms, Postcolonialisms, and Modernities, Durham, NC: Duke University Press, 2008. Auf Barbara McClintocks wissenschaftliches Werk wird oft als Beispiel einer solch »engagierten« Methode verwiesen. Vgl. E. Fox Keller, A Feeling for the Organism: The Life and Work of Barbara McClintock, San Francisco: W. H. Freeman, 1983. Vgl. die Zusammenfassung und

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dürfen nicht als bloße Gegenstände behandelt werden, sondern können nur wirklich untersucht werden, wenn wir von ihnen durch Begegnung lernen und vielleicht sogar unter ihnen leben. Sie betreffen uns mehr als wir sie beeinträchtigen, wenn unsere Untersuchungen nicht darauf ausgelegt sind, ihr Habitat zu zerstören oder ihnen auf andere Weise Schaden zuzufügen (wie das natürlich lange Zeit in der Naturforschung üblich war und in Tierexperimenten immer noch geschieht). Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass überhaupt kein Wissen möglich wäre. Wissen kann sich mit der Zeit vermehren und verbessern, selbst wenn es nie vollendet oder vollständig ist. Bisher haben wir vor allem die Natur als gesättigtes Phänomen untersucht, um aufzuzeigen, dass Marions Beschreibung der Sättigung wichtige Einsichten für solche Phänomene erbringen kann, obwohl er selbst diese nicht untersucht. Doch eine solche Begegnung mit der Natur mag uns auch eine weniger extreme und absolute Terminologie lehren. Die exzessiven Formulierungen, die Marion verwendet, schließen die Möglichkeit aus, dass Phänomene Berücksichtigung finden können, die weder so absolut gesättigt sind wie jene, die Marion untersucht, noch auch als bloß technische oder sogar »allgemeine« Gegenstände erscheinen, sondern sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen befinden. Phänomene mögen ihrem Wesen nach weder völlig gesättigt noch »arm« sein, möglicherweise »reich«, aber nicht gänzlich überwältigend oder total rein. Naturphänomene können sich über ein ganzes Spektrum der Phänomenalität von stark begrenzt bis hin zu sehr reich erstrecken, ohne dass sie abrupt von Armut zu Reichtum im Paradox springen müssen. Gibt es nicht Grade von Gegebenheit in unserer Erfahrung der Natur, die nicht nur auf drei Kategorien (arm, allgemein, reich) beschränkt werden können? Die Natur ist uns nicht immer als sättigend oder gesättigt gegeben, wird aber deswegen nicht sofort zu einem bloßen Gegenstand oder Objekt. Es gibt viele Grade und Stadien zwischen diesen beiden Extremen. Ein kleiner Schrebergarten mag sich weniger »gesättigt« geben als ein schön angelegter Schlosspark, doch sind beide nicht völlig »arm« oder »reich« in Marions Sinn. Ein lebendiges Korallenriff mag sehr wohl als gesättigtes Phänomen gelten, während ein völlig ausstrenge Kritik in Alan Noble, »Keller on Gender, Science, and McClintock: A Feeling for the Organism«, in Scrutinizing Feminist Epistemology: An Examination of Gender in Science, C. L. Pinnick, Noretta Koertge, und Robert E. Almeder (Hg.), New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 2003, 65–101.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

gebleichtes Riff vielleicht nur als ein Objekt oder zumindest als ein »armes« Phänomen erscheint, jedoch gibt es einen deutlichen Fortgang von einem Status zum anderen, in dem das Korallenriff durch mehrere Grade von Sättigung wandert; es verwandelt sich nicht plötzlich oder in paradoxer Weise über Nacht von einem reichen in ein armes Phänomen. Ein Tornado oder Schneesturm mag als gesättigtes Phänomen erlebt werden, während ein warmer Sommerregen oder einige Schneeflocken nicht in solch gesättigter Form erscheinen, aber deshalb trotzdem keineswegs bloße Gegenstände darstellen. Es ist auch möglich, dass ein bestimmtes Naturphänomen sich zu einem gewissen Grad oder in gewisser Weise aber nicht in anderer als gesättigt gibt. Ein Gezeitentümpel mag sich (paradoxerweise) während Ebbe als mehr »gesättigt« geben als bei Flut, wenn er völlig mit Wasser gefüllt ist, und es deshalb nicht viel zu sehen gibt. Ein bestimmter Berg oder Bach mag als heiliger Ort von überwältigender Saturation für gewisse Völkergruppen gegolten haben, in etwas niedriger Sättigung für eine Gruppe Bergsteiger erscheinen, in noch weniger Reichtum von den Bewohnern des Orts am Fuße des Berges, die an ihn gewöhnt sind und ihn nur noch selten wahrnehmen, erlebt werden und gibt sich sodann wieder anders für einen Maler, der etwas von der Atmosphäre des Orts auf die Leinwand bringen will. Gewisse Aspekte eines Wassergebiets mögen ausführlich erforscht sein und in gewisser Weise zu Gegenständen geworden werden, während die Arten, die in ihm leben, oder ihr wechselseitiger Einfluss aufeinander viel reicher bleiben. Diese Beispiele spiegeln die Zweideutigkeit in Marions eigener Beschreibung wieder: Ist es dasselbe Phänomen, das, je nach Zeit, Kontext und Reaktion darauf, von Armut zu Reichtum übersiedelt oder ändert sich nur die Interpretation je nach Zusammenhang? Wird der Grad der Saturation vom Grad des Verstehens beeinflusst und ist ein besser verstandenes Phänomen daher weniger gesättigt? Bringt wiederholtes Erleben ein Phänomen dazu, dass es als weniger gesättigt erscheint? (Das ist zumindest für das Kunstwerk Marion zufolge ja nicht der Fall.) In gewissem Sinne mag dies alles stimmen und daher auf die Notwendigkeit deuten, zwischen verschiedenen Graden und Niveaus von Sättigung zu unterscheiden, aber auch auf Kontext und Zweck zu achten, wenn Unterscheidungen getätigt werden. All dies bringt uns direkt zur hermeneutischen Frage, die wir jetzt genauer untersuchen werden.

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2.

Der hermeneutische Kontext von Naturphänomenen

Im Falle von Naturphänomenen, wie es vermutlich auch für Kunstwerke der Fall ist, ist es besonders offensichtlich, dass nicht alle Menschen sie in gleich gesättigter Weise erleben. Die Natur hat nicht auf jeden den gleichen Effekt. Im 18. Jahrhundert haben sich manche angeblich die Augen verbunden, wenn sie durch die Alpen reisen mussten, weil die fehlende Geometrie als hässlich angesehen wurde. Viele Leute verbringen nur wenige Minuten in einem Naturpark oder gehen überhaupt selten in die Natur. Viele Kinder haben keine Ahnung mehr davon, dass unsere Lebensmittel auf dem Land wachsen und nicht einfach vom Supermarkt kommen. Unsere hochtechnische Kultur entfernt uns von wirklichen Erfahrungen der Natur mehr und mehr. Der größte Teil unseres Daseins verläuft heutzutage in einer virtuellen und hochmanipulierten Realität, die mit Himmel und Erde, Wetter und Jahreszeiten nicht mehr viel zu tun hat, entweder weil das »wirkliche Leben« auf einem Bildschirm stattfindet oder weil, selbst wenn wir nicht Handys, Facebook oder das Internet nutzen, wir in einer hochklimatisierten Umgebung leben, die uns von den Auswirkungen der Natur so weit als möglich isoliert. Eine Art des »Sehens« (wie Dillard sie in ihrer Beschreibung anspricht) und daher eine hermeneutische Dimension sind vonnöten, um die Natur als gesättigt zu erleben. Der Vorwurf des »Romantisierens« der Natur in diesen Beschreibungen ist dem Vorwurf ähnlich, der Marion von manchen Kritikern ständig gemacht wird, nämlich dass sie dort nichts sehen, wo Marion Sättigung erlebt. Marion erwidert, dass dies nicht bedeuten würde, dass es dort nichts gäbe: »Natürlich ist es nicht genug, so zu tun, als ob man gesehen habe, um zu beweisen, dass man gesehen hat; aber die Tatsache oder Vorgabe nichts zu sehen, beweist auch nicht, dass es dort nichts zu sehen gibt. Es kann stattdessen nur anzeigen, dass es da durchaus etwas zu sehen gibt, aber dass man, um es zu erkennen, anders sehen lernen muss, weil es sich möglicherweise um eine andere Phänomenalität als die von Objekten handelt.« (VR, 152).

Wir brauchen Augen, um zu sehen, eine Sensibilität für die Phänomene. Manche sehen mehr als andere. Doch das verweist ganz eindeutig auf einen hermeneutischen Aspekt solchen phänomenalen »Sehens«. Wir sehen nur, wenn wir auf gewisse Weise von unserer Umgebung darauf vorbereitet worden sind, wenn wir gelernt haben zu sehen, weil es uns jemand beigebracht hat oder weil wir ein solches 194 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

Phänomen schon einmal angetroffen haben, vielleicht sogar, weil wir daran »glauben«, ob das nun ein religiöser oder ein mehr allgemeiner Glaube ist. Eine gewisse Wahl scheint auch mit eingeschlossen zu sein: Die Natur als wertvoll zu erleben, vielleicht sogar als Schöpfung oder als in irgendeiner Art lebendig, öffnet uns dafür, sie als gesättigt zu erfahren. Wenn wir sie nur als Ressource, die für unser Vergnügen oder für unser Wohlbehagen gedacht ist, ansehen, ist es viel schwieriger, sie als gesättigt zu erleben. Doch selbst dann gibt es gewisse extreme Momente, wie z. B. gewaltige Naturkatastrophen, in denen es fast unmöglich ist, nicht vom Phänomen überwältigt und fortgerissen zu werden. Und das ist genau die Ambiguität, die wir immer wieder in Marions Beschreibungen finden: Das gesättigte Phänomen ist im Wesen selbst gesättigt, wir interpretieren es nicht nur so in willkürlicher Weise. Wenn wir diese Sättigung verpassen oder übersehen, sie verneinen oder nicht die Fähigkeit besitzen, sie zu erkennen, tragen wir daran die Schuld, nicht das Phänomen. Doch gleichzeitig brauchen manche Vorkommnisse von Sättigung eine besondere Art der Vorbereitung oder sogar Genie: Nur der großartige Künstler sieht das Ungesehene und hat das Talent und die Hingabe, es sichtbar zu machen. Diese Art von Sehen ist nicht die Hermeneutik, die Marion oft abtut, die »bloße« Interpretation, die das Phänomen völlig relativ macht, es nur von der (augenscheinlich total willkürlichen) Interpretation des Antwortenden abhängig macht. Im Gegenteil, es ist ein hermeneutischer Kontext, der in gewissem Sinne dem Phänomen vorausgeht und das Erleben des Phänomens überhaupt erst möglich macht. Marion macht gegen Ende von Certitudes négatives einen interessanten Vorschlag. Er hält fest, dass es möglich sei, einen Stein als gesättigt und Gott als Gegenstand zu behandeln (CN, 307). Das zweite Beispiel ist offensichtlich problematisch und mag daher andeuten, dass das gleiche auch für das erste gilt: Steine sollten nicht als gesättigt erlebt werden, genau wie Gott nicht in einen Gegenstand verwandelt werden sollte. Doch zumindest in diesem Zusammenhang zensiert Marion die gesättigte Begegnung mit dem Stein nicht, obwohl sie interessanterweise wieder in einer bebauten Umgebung stattfindet – im Vorhof eines alten Hotels –, nicht in einer mehr »natürlichen« Umgebung. Unabhängig davon, ob eine solche Interpretation akzeptabel oder falsch ist, stellt sie die hermeneutische Frage klar heraus: Wenn Steine als gesättigt interpretiert werden kön195 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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nen, ist dann nicht alles Erleben von Sättigung in gewissem Sinne von Interpretation abhängig? Im bereits genannten Interview mit Dan Arbib betont Marion denn auch in ganz ähnlicher Weise: »Alles kann daher zum gesättigten Phänomen werden, so lange die Art und Weise, in der es sich gibt, nicht in eine univokale Objektivität niedergedrückt wird, wie sie die Alltäglichkeit der technischen Umwelt aufbürdet.« (RC, 151) Ist es nur unsere Deutung, die dem Phänomen Armut oder Reichtum zuschreibt? Ist ein Stein seinem Wesen nach ein armes Phänomen und Gott ein gesättigtes – wie es der Großteil von Certitudes négatives annimmt –, oder werden sie »arm« oder »gesättigt« nur, wenn wir sie so erleben? Und wenn die Phänomenalität wirklich von unserer Erfahrung des Phänomen abhängig ist, statt schon im »Ding an sich« zu liegen oder in seiner Existenz in der »Lebenswelt«, die doch von der Epoché in Klammern gesetzt worden sind, macht die Unterscheidung zwischen »inhärent« und »interpretiert« dann noch einen Sinn? Wenn jedoch solch völlig unterschiedliches Erleben des Phänomens eine wirkliche Möglichkeit darstellt (vielleicht eine seiner Abschattungen), muss es dann nicht auch möglich sein, dass man jemandem beibringen kann, gewisse Phänomene als gesättigt anzusehen anstatt sie als arm abzutun? Könnte man zu einer gesättigten Erfahrung angeleitet werden? Mag eine Beschreibung eines Phänomens als exzessiv, wie in den vorher erwähnten Naturbeschreibungen, unsere Augen dafür zu öffnen, das Phänomen anders zu erleben? Eine Antwort auf diese Fragen zieht große Konsequenzen dafür nach sich, wie wir mit der Umweltkrise umgehen. Dies deutet auch darauf hin, dass es nicht nur notwendig ist, sich vorzubereiten, um etwas als gesättigt zu erleben, sondern auch darauf, wie wichtig diese Aufarbeitung in der hermeneutischen Aufgabe ist. Nicht zuzugeben, dass unser Verbrennen von Öl und Benzin zum Klimawandel beiträgt, ist eine starrköpfige Missinterpretation des Phänomens. Nicht alle Deutungen der Erderwämung stimmen. Obwohl wir kein vollendetes Wissen haben und einem überwältigenden Phänomen gegenüberstehen, das nie völlig verstanden sein mag, ist doch die Unterscheidung zwischen und das Urteilen über diverse Interpretationen nicht nur möglich, sondern auch vonnöten. In gewissem Sinne hat Marion Recht, einer nur willkürlichen Interpretation der Phänomene skeptisch gegenüberzustehen. Die Klimaskeptiker sind ein Beispiel einer solch willkürlichen Interpretation, die sich von aller Verantwortung für das Phänomen, wie es tatsächlich er196 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

scheint, losgelöst hat. Doch der Großteil der gegenwärtigen Hermeneutik betont, wie wichtig es ist, bessere von schlechteren Interpretationen zu unterscheiden. 16 Zu interpretieren bedeutet nicht, alles zuzulassen, oder dass alle Interpretation gleich richtig – und daher gleich falsch – wären. Der hermeneutische Zirkel bezeichnet die Art und Weise, in der das beständige Hin und Her zwischen dem Phänomen und seinen verschiedenen Erscheinungen die unterschiedlichen Interpretationen bestätigen oder als unzutreffend erweisen kann, während der Vorgang der Deutung gleichzeitig weiterhin offen bleibt und zukünftige hermeneutische Aktivität erlaubt. Marions Diskussion des »Sehens«, das vonnöten ist, um ein Phänomen als gesättigt zu erfahren, mag hier tatsächlich hilfreich sein. Zum Beispiel mögen die simplifizierenden Methoden, die ab und zu vorgeschlagen werden, um die Umweltkrise angeblich zu »lösen«, in der Tat eine Herabsetzung der Sättigung des Phänomens darstellen, da sie ein komplexes und fortwährendes Ereignis in einen bloßen Gegenstand verwandeln – auch die Technik, besonders in der Gestalt einer angeblichen Rettung aus all unseren Problemen, spielt oft eine solche Rolle. 17 In ähnlicher Weise kann die Zerstörung von reichhaltigen ökologischen Gebieten oder die Eliminierung ganzer Tier- und Pflanzenarten als ein Wandel eines gesättigten in ein armes Phänomen interpretiert werden. Wir werden darauf nochmals zurückkommen.

3.

Implikationen der Interpretation von Naturphänomenen als gesättigt

Da Marion selbst Naturphänomene nicht als Beispiele von gesättigten Phänomenen erwähnt, ist es vielleicht angebracht zu fragen, welch philosophischen Wert es hat, sie so zu identifizieren. Welchen Unterschied würde es machen, wenn Naturphänomene als gesättigt gelten könnten? Auf der einen Seite mag dieser Vorschlag AuswirDiese Dimension ist besonders stark in Ricœurs und Kearneys Hermeneutik, aber in gewisser Weise trifft sie auch auf Caputos etwas radikalere Interpretation von Derrida zu. Obwohl Caputo alles ablehnt, was den Strom der Deutungen hindern könnte, ist er nicht für Unverbindlichkeit oder totalen Relativismus. 17 Vgl. J. Garveys Kritik der angeblichen »Lösungen« der Klimakrise durch die Technik: ders., The Ethics of Climate Change: Right and Wrong in a Warming World, London: Continuum, 2008, 101–106. 16

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kungen für Marions eigenes phänomenologisches Projekt nach sich ziehen, es für eine breitere Erwägung von Phänomenen, die nicht vom Menschen produziert sind (so wie das Kunstwerk oder das historische Ereignis), öffnen und möglicherweise die Wichtigkeit des hermeneutischen Kontexts hervorheben. Dies wurde schon erwähnt und wir werden im letzten Abschnitt darauf zurückkommen. Auf der anderen Seite mag ein solcher Vorschlag wichtige Konsequenzen für das Denken über die Umwelt nach sich ziehen, besonders für Ökophänomenologie und Umwelthermeneutik. Diese Möglichkeiten werden wir in diesem Abschnitt erläutern. Was kann die Phänomenologie des gesättigten Phänomens zur Umweltdiskussion beitragen? Erstens mag sie uns etwas vorsichtiger machen und uns daran hindern, zu schnelle und einfache Antworten auf Umweltfragen zu geben oder zu meinen, dass Probleme mit etwas mehr Technik einfach gelöst werden können. In der Tat ist für Marion das »technische Objekt« genau das Gegenteil des gesättigten Phänomens. Obwohl er oft »allgemeingültige« Phänomene als arm dem gesättigten Phänomenen als reich gegenüberstellt, gebraucht er noch häufiger die Benennung »technisches Objekt« und kommentiert diese Verbindung manchmal mit Bezug auf die Technik. 18 In der Tat sind abgesehen von mathematischen Begriffen seine Hauptbeispiele stets Produkte der Technik. Manchmal kritisiert er auch unsere Faszination mit der Technik: »Man kann sogar sagen, dass die Welt mit einer invasiven und hoch sichtbaren Lage von armen Phänomen, von technischen Objekten, die endlos produziert und reproduziert werden, bedeckt ist, die im Endeffekt angreifen, was sie zudecken.« (VR, 154) Im gleichen Absatz weiter oben behauptet er zudem: »wenn die Phänomene von nichtiger oder armer Intuition den Status von technisch produzierten Objekten annehmen (was zumeist der Fall ist), dann fordert ihre Art der Herstellung keine andere Intuition als die, die uns von ihrem Material gegeben ist (ein Material, das selbst gleichzeitig auf jeden Begriff zugeschnitten ist und in einer im Prinzip endlosen Menge vorhanden ist).« (VR, 154) Die Technik gibt uns Objekte oder Gegenstände, nicht gesättigte Phänomene. Das schlechthinnige Ziel der Technik ist die Meisterung des Materials und die völlige Kontrolle über die Dinge. Dies zeigt auch nochmals, dass die Natur kein technisches Objekt ist (obwohl Marion die zwei oft miteinander identifiziert, cf. das Beispiel vom Baum) und daher die Bezeichnung als gesättigtes Phänomen zumindest möglich ist.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

Gelegentlich verbindet Marion diese Fähigkeit, technische Objekte einfach in Begriffen zu konstituieren, mit der inhärenten Disponibilität des technischen Gegenstands. Er geht davon aus, dass die Technik zuerst einen Begriff entwickelt und diesen dann für die »Manufaktur« des Objekts verwendet, dieses daher nur Resultat dieses Begriffs ist. 19 Es sollte daher nicht einmal »Produktion« eines Objektes genannt werden. Wirkliche Produktion oder Kreation gibt es nur für gesättigte Phänomene. An einer Stelle macht er eine Bemerkung über »ein gigantisches, unendliches großes und unförmiges Einkaufszentrum, das vor Vulgarität trieft und von Billigangeboten übersät ist.« (GS, 230; ED, 183) Obwohl seine Kritik der Technik lange nicht so scharf ist wie die Michel Henrys, auf die er sich hier zu stützen scheint 20, oder die von anderen französischen Kritikern wie Jacques Ellul oder Jean Baudrillard, ist er offensichtlich mit ihnen einer Meinung, dass nämlich die Technik die Menschen auf einen Gegenstand reduziert. In diesem Sinne übt er auch Kritik an den gefährlichen Konsequenzen der Technik in Certitudes négatives, wo er mehrmals abfällig über die »Technowissenschaft« spricht und die Art und Weise kritisiert, in der die medizinische und ökonomische Anwendung der Technik Menschen als bloße Gegenstände behandelt (CN, 49–66). In ähnlicher Weise verurteilt er in einer Ansprache über »Glaube und Vernunft« während der Fastenzeit in Notre Dame de Paris »die Dehumanisierung des Menschen, um ihn zu verbessern, Ungerechtigkeit, um die Gesellschaft effektiver zu machen, [oder] die absolute Herrschaft von Informationen [als] Ablenkungsmanöver, um den Bindungen der Wahrheit zu entfliehen.« 21 In all diesen Zusammenhängen scheint Marion die bedrohenden Konsequenzen der Technik auf die gegenwärtige Kultur, inklusive ihre Auswirkungen auf die Umwelt, zu verurteilen. Die von der Technik ausgelöste Herabsetzung der Phänomene, die gesättigte Phänomene zerstört und sie in bloße Gegenstände verwandelt, ist eine wichtige Einsicht für das Die Unterscheidung zwischen dem »Design« von technischen Objekten und dem Bezeugen des gesättigten Phänomens befindet sich im Vortrag über die »Banalität der Sättigung« (VR, 180). Er untersucht es auch in größerem Detail in seinem Band über ästhetische Sichtbarkeit: Ce qui nous voyons et ce qui apparaît, Paris: INA, 2015. 20 In diesem Punkt ist Marion auch stark von Heidegger beeinflusst. Cf. zum Beispiel in Gegeben sei, wo er sich stark auf das »Zuhandene« stützt (vgl. GS, 226–30; ED, 179–82). 21 J.-L. Marion, Le croire pour le voir, Paris: Parole et Silence, 2010, 24 (im Text im Folgenden unter der Sigle CpV zitiert). 19

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Denken über die Umwelt. Diese bisher sehr vorsichtige Kritik der Technik könnte (und sollte) sicherlich weitergeführt und ausgeweitet werden. Zweitens, wenn ein Phänomen wie der Klimawandel als gesättigt erkannt würde, wäre es auch möglich zuzugeben, dass es in seiner Komplexität überwältigend ist und daher ein tiefes und weitgehendes Engagement und vielleicht auch eine gewisse Demut vor seiner Größe fordert. Das Konzept des gesättigten Phänomens stellt heraus, dass das Phänomen einen Reichtum besitzt, auch wenn er nicht erkannt wird. Obwohl es ohne Antwortende oder Zeugen kein Phänomen gibt, sind gewisse Formen der Annahme oder Bezeugung besser als andere, dem Phänomen angemessener. Diese Art und Weise, auf das Phänomen zu reagieren, besitzt eine gewisse ethische Dimension. Einem großartigen Kunstwerk als gesättigt zu begegnen, ist ihm mehr angemessen, als es nur als Verkaufsobjekt zu betrachten. Daher kann man hier betonen, dass die Natur als gesättigt zu erleben angemessener ist, als sie auf einen Gegenstand zu reduzieren. Marion beschreibt diese Möglichkeit, das gesättigte Phänomen falsch aufzufassen, mit folgenden Worten: »Diese mit Sicherheit nicht zu leugnende Gefahr resultiert jedoch weniger aus dem gesättigten Phänomen als aus seiner Verkennung. Denn wenn ein solcher Phänomentyp hervorbricht, dann widerfährt ihm zumeist eine Behandlung als gemeinrechtliches, ja dürftiges Phänomen, dann wird er also mit Gewalt von einer phänomenologischen Situation inkludiert, die er definitionsgemäß ablehnt, dann wird er schließlich verkannt. Wenn seiner Besonderheit umgekehrt aber Anerkennung widerführe, dann könnte die von ihm hervorgebrachte Blendung phänomenologisch akzeptiert, ja herbeigesehnt werden, und der Übergang von einem Horizont in den anderen könnte für Hermeneutik zu einer vernünftigen Aufgabe werden. Gesättigte Phänomen behalten ihre Absolutheit und lösen die mit ihnen verbundene Gefahr auf, wenn sie als solche anerkannt und mit anderen Phänomenen nicht verwechselt werden.« (GS, 358; ED, 295–96).

Erkenntnis und Missverständnis spielen hier eine große Rolle. Obwohl ein Phänomen sich als gesättigt und absolut geben mag, muss es doch als solches erkannt und angenommen werden und kann als arm und relativ missverstanden werden. Wie begegnet man dem Phänomen in der richtigen Weise? Zumindest indem man es als gesättigt interpretiert statt als arm. Der Erhabenheit des Bergmassivs überwältigt gegenüberstehen, es als gesättigtes Phänomen erleben, ist besser und richtiger, als es bloß als 200 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

eine Abbaustätte von Schwermetallen anzusehen. Den Ozean und seine Kreaturen als schön, reich und vielfältig zu erleben, ist besser als ihn leer zu fischen oder als Müllhalde zu verwenden. Die endlose Vielfalt eines gesunden Feuchtbiotops als flüssige Heimat für viele Gattungen, die wir vielleicht nie völlig verstehen werden, zu erkennen, ist besser als diesen Ort nur als mögliche Stelle für ein Bürogebäude, ein Einkaufszentrum oder einen Parkplatz anzusehen. Dies ist besonders der Fall für so fruchtbare Umweltgebiete wie den Regenwald, der so »gesättigt« mit Lebewesen ist, dass Wissenschaftler seiner Vielfalt mit Erstaunen gegenüberstehen und seine fortschreitende Zerstörung tief bereuen. Wenn all diese und viele andere Phänomene als gesättigt erfahren werden, ändert dies nicht nur unsere Einstellung ihnen gegenüber, sondern macht es auch möglich, dass wir die Natur dem Wesen nach mehr und mehr als ein reiches Phänomen erkennen, anstatt sie nur als auszubeutende Ressource zu behandeln. Auch dies erfordert, wie Marion selbst angibt, hermeneutische Arbeit, die vielfältige Beschreibungen des Ereignisses geben und uns daher deutlich machen muss, dass eine Version allein der Komplexität des Phänomens nie gerecht werden wird. Wir brauchen daher viel reichhaltigere und vollere Beschreibungen der Natur als gesättigtes Phänomen, nämlich solche, die es uns erlauben, den nicht-konstituierbaren Überschuss des Naturphänomens herauszustellen. Solche Beschreibungen bringen uns der Umwelt näher, integrieren Natur und Kultur stärker und können daher einen Weg weisen, auf dem beide Gebiete als gesättigt erlebt werden und mithin nicht als bloße Gegenstände erscheinen. Hier kann die »Welt«, die der Baum öffnet, wie Marion es in Etant donné erwähnt, durch vielfältige phänomenologische Beschreibungen eine reichere und lebendigere Welt werden. Dies zeigt daher, dass von individuellen Phänomenen als gesättigt zu sprechen, wie es die Naturkunden oft tun, uns die Möglichkeit eröffnet, Tieren und Pflanzen näher zu kommen und ihnen mit mehr Sensibilität und Takt zu begegnen. Dies mag es sogar möglich machen, mehr darüber nachzudenken, wie man diesem »Anderen« in moralisch angemessener Weise begegnen kann, eine Frage, die von manchen in den letzten Jahren angeschnitten worden ist. 22 Eine solche Analyse kann selbstverständlich von Begegnungen mit Tieren zu Z. B. J. Derrida, L’animal que donc je suis, Paris: Galilée, 2006 (dt. Übers, Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen, 2016), oder E. Falque, Les noces de l’agneau. Essai sur le corps et l’eucharistie, Paris: Cerf, 2011. Für eine ausführlichere Diskussion der

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Erlebnissen mit Baum und Berg hin erweitert werden. Kein Baum oder Tier ist nur ein Objekt für den menschlichen Konsum, kein Naturgebiet nur ein potentieller Ort für den menschlichen Gebrauch. Bäume, Flüsse, Quellen oder Ölvorkommen nur als potentielle Ressourcen zu behandeln, bedeutet, ihre Sättigung auf einen bloßen Gegenstand zu reduzieren und zu glauben, dass wir sie vollkommen und mit absoluter Sicherheit verstehen und beschreiben können, wenn wir so mit ihnen umgehen. Es bedeutet, die Komplexität und den Überschuss des gesättigten Phänomens zu ignorieren: statt von ihnen geblendet zu werden, sind wir blind für sie. Ein Großteil der Umweltzerstörung ist tatsächlich eine Konsequenz daraus, komplexe Ökosysteme in bloße Gegenstände der Ausbeutung verwandelt zu haben, ohne den Reichtum des Lebens in ihnen zu erkennen. Naturwissenschaftler in der Botanik, Zoologie, Ökologie und Geologie bezeugen diesen Reichtum und Überfluss oft und gestehen die Grenzen ihrer Forschung ein. 23 Deutlich macht all dies nicht, dass wir am Ende der Forschung angelangt sind, sondern dass wir weiter forschen müssen. Die Sättigung funktioniert hier nicht als eine Verhinderung der Erforschung der Phänomene. Genau wie historische Ereignisse nach weiterer Erforschung verlangen, die unser Wissen erweitern kann, ohne die Einsicht aufzuheben, dass ein vollkommenes Verstehen des Ereignisses nicht möglich ist, so verlangen auch Naturphänomene nach detaillierter und ausgiebiger Forschung, die unser Wissen über Natur und unsere Wertschätzung derselben erweitert, ohne sie dadurch in Objekte zu verwandeln oder zu behaupten, dass wir sie vollkommen in den Griff bekommen. Ein Parallele mit Marions Beschreibung des Künstlers ist hier angebracht: So wie der Künstler ein spezifisches Talent dafür besitzt, das »Ungesehene« auf die Leinwand zu bringen, so mag der Naturwissenschaftler ein spezielles Genie dafür besitzen, die Komplexität der Naturphänomene zu erforschen, solange diese Forschung die Phänomene nicht in Gegenstände verwandelt, sondern uns stattdessen für ihre reichhaltigere Erfahrung und die Begegnung mit ihnen öffnet. Jedoch haben Wissenschaftler nicht nur Talent, sondern haben lange Jahre der Bildung erfahren, haben die Fähigkeit, Behandlung von Tieren in der Philosophie: K. Oliver, Animal Lessons: How They Teach Us to Be Human, New York: Columbia University Press, 2009. 23 Z. B. E. O. Wilson, The Diversity of Life, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1992.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

solche Phänomene zu beschreiben und zu erforschen, sorgfältig gepflegt und entwickelt. Dies ist auch eine »Gabe«, die mit großer Verantwortung verbunden ist. Man mag daher vorschlagen, dass die Ambivalenz, ob Saturation »im« Phänomen liegt oder ob sie sich an der Antwort des Zeugen orientiert, nicht rein willkürlich ist. Selbst »Zensur« oder »falsche« Rezeption, nämlich eine Rezeption, die den Reichtum des Phänomens ignoriert, mag nicht immer völlig problematisch sein. Mit rechter Bildung, sorgfältiger Vorbereitung und Aufmerksamkeit auf den Kontext mag ein Phänomen als gesättigt erlebt werden, während es ohne gute Vorbereitung oder den rechten Kontext nicht als solches erfahren wird. Zwischen »besseren« und »schlechteren« Interpretationen eines Phänomens zu unterscheiden, gibt uns größere Einsicht in die Phänomene und deren Rezeption und verhilft uns zu besseren Urteilen der Schlüsse, zu denen man über sie kommt, und der Art und Weise, wie sie dargestellt werden. Diese Ambivalenz ist nicht »vitiös«, wenn sie Teil einer kreisenden und fortlaufenden Bewegung ist, die sich den Phänomenen ausliefert, die Erfahrung bestätigt, zu neuen Erlebnissen führt, die ursprüngliche phänomenologische Beschreibung stets im Licht neuer Erfahrung korrigiert usw., inklusive der Verständigung mit anderen und des Testens verschiedener »Hypothesen«. Dieser gesamte Ablauf ist jedoch wesenhaft hermeneutisch, sowohl im Sinne der Betonung des Kontextes oder Horizontes und der Bildung oder der Vorbereitung für die Erfahrung, als auch im Sinne des hermeneutischen Zirkels von Bestätigung und Urteil, der sich durch die Kreise mehrerer Interpretationen bewegt, um die Deutungen zu finden, die für diese Gelegenheit und diesen Zusammenhang am zutreffendsten sind. Dies bedeutet nicht, dass das Phänomen zu einem Objekt herabgesetzt worden wäre, dass es völlig verstanden wäre, oder dass wir an irgendeiner schlussendlichen oder definitiven Interpretation angelangt wären. Doch es bedeutet wohl, dass ein Phänomen sich nur in vollem Reichtum geben kann oder nur als gesättigt angenommen werden kann, wenn es einen phänomenologischen Horizont oder Kontext zugesteht, der es dem Antwortenden möglich macht, sich darauf vorzubereiten, es zu »sehen«, sich seiner Ankunft völlig auszuliefern und es als »reich« zu erkennen, statt als »arm« oder »allgemein«. Eine solche Beurteilung hat ethische Konnotationen. Marion erwägt eine solch ethische Dimension allerdings nur für den Fall des 203 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Kunstwerks. Der Künstler trägt die Verantwortung für das im Kunstwerk Dargestellte. Marion sieht diese ethische Dimension vor allem in der Darstellung des menschlichen Angesichts. Dies wirft ähnliche Fragen auf, wie sie auch in vielen umweltethischen Diskussionen mit und über Emmanuel Lévinas begegnen, in denen es darum geht, ob Tiere ein »Antlitz« besitzen oder Sprache verwenden, was Levinas ja für die ethische Begegnung von-Angesicht-zu-Angesicht betont. 24 Wäre es möglich, von der »Andersheit« der Natur in einer Art und Weise zu sprechen, die es verlangt, sie als mehr denn als ein Objekt darzustellen? Kommt sie zu uns, »geht sie uns an« (il me regarde), wie es der »Andere« für Levinas tut? Verlangt sie, dass ich sie nicht töte oder ihr Schaden zufüge? Genau so, wie man den stillen Ruf des Antlitzes des Anderen ignorieren kann oder ihm unberührt begegnen kann, so können wir ganz offensichtlich den schweigenden Ruf der Natur ignorieren, sie nicht alleine zu lassen und zu zerstören (ein Ruf, der eindeutig von vielen Völkergruppen noch gehört wird, und deren Ansichten wir oft als »romantisiert« oder »primitiv« abtun). Das Problem besteht jedoch nicht darin, dass die Natur nicht spräche oder fühlte, sondern dass wir in solch materieller und virtualistischer Weise denken, dass die bloße Vorstellung eines solchen Rufs uns lächerlich erscheint und Erzählungen oder Poesie von anderen Kulturen als Märchen oder Fabeln abgetan, als sentimental angesehen oder als pantheistisch verworfen werden. 25 Dieser Wunsch, Levinas’ Beschreibung des Antlitzes auf Tiere auszuweiten, ist natürlich nicht unproblematisch, da eine ethische Berücksichtigung immer noch in dem Maß fundiert ist, in dem sie Menschen gleichen: Tiere müssen wie die Menschen ein Gesicht haben, um ethischen Wert zu erlangen – genau wie frühere Tierrechtler argumentierten, dass Tiere auch wie wir leiden oder auch wie der Mensch Würde und inneren Wert besitzen. Viele »ökologische« Diskussionen im Anschluss an Lévinas versuchen, dieses Problem ernst zu nehmen. Vgl. M. Calarco, »Faced by Animals«, in: P. Atterton und M. Calarco (Hg.), Radicalizing Levinas, New York: SUNY Press, 2010, 113–33; J. Llewelyn, The Middle Voice of Ecological Conscience: A Chiasmic Reading of Responsibility in the Neighborhood of Levinas, Heidegger, and Others, New York: St. Martin’s Press, 1991). Andere Quellen in Ökophänomenologie setzten sich auch mit dieser Frage auseinander. Vgl. D. Macauley, Elemental Philosophy: Earth, Air, Fire, and Water as Environmental Ideas, Albany: State University of New York Press, 2011; C. S. Brown und T. Toadvine (Hg.), Eco-Phenomenology: Back to the Earth Itself, Albany: State University of New York Press, 2003; B. V. Foltz und R. Frodeman (Hg.), Rethinking Nature: Essays in Environmental Philosophy, Bloomington: Indiana University Press, 2004. 25 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Henrys Phänomenologie des Fleisches und seine Philosophie des Christentums manchmal (missverständlicher24

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

Dies bringt uns zurück zu einem fundamentalen Problem der Phänomenologie, nämlich wie man von etwas oder jemandem außerhalb seines eigenen Bewusstseins sprechen kann. Um von der Natur angemessen zu sprechen, muss es uns möglich sein, eine phänomenologische Beschreibung ihrer Wirkung auf das Bewusstsein zu geben, die sich von der Beschreibung eines Gegenstandes unterscheidet. Erlebe ich die Maus oder Spinne, die durch meine Küche eilt, anders als die Fliesen, über die sie huscht? Erfahre ich die Rose anders als den Topf, aus dem sie wächst? Marion spielt darauf übrigens an: »Öffnet sie sich, dann bricht die Rose wie ein Ereignis hervor, genauso, wie ein Ereignis aufbricht –, wenn es zur Reife kommt.« (GS, 295; ED, 240). Liegt der Unterschied meiner Erfahrung nur an meiner »Sicht« oder der Interpretation, die ich dafür angebe? Kann ich die Wirkung der Natur auf mein Bewusstsein so beschreiben, dass sie der Verantwortung, die mir der Nächste auferlegt und vor der ich mich nur unter größter Gefahr für mich selbst und den Anderen drücken kann, gleicht? Wie beeinflusst und verändert uns die Erfahrung des Naturphänomens als gesättigt? Marions »Erweiterung« von Lévinas’ Ethik in eine Analyse der Liebe mag sich in diesem Zusammenhang womöglich als hilfreich erweisen. Vielleicht kann »Liebe« für die Natur und die Naturphänomene uns dazu motivieren, uns um sie zu kümmern und sie als des Schutzes würdig anzusehen, anstatt sie auszubeuten. Sie als »gesättigt« zu erkennen, kann uns ihnen »ergeben« machen, uns ihnen ausliefern, so dass ihr Anspruch es uns untersagt, sie schlicht als Objekte oder nur als auszubeutende Ressourcen zu benutzen. Vielleicht kann Liebe sogar dazu führen, gewisse Naturphänomene zu »individuieren«, so wie der Liebende den Geliebten Marion zufolge individuiert? Drittens könnten wir uns auch fragen, ob diese Analyse uns hilft, tiefer über die Menschlichkeit nachzudenken. Marion betont konsequent, dass seine Analyse des gesättigten Phänomens tiefgründige Auswirkungen auf das Verständnis des Ichs hat, das nun nicht mehr als ein cartesianisches selbstständiges Subjekt zu denken ist. 26 weise) als »pantheistisch« abgetan wird, gerade weil er Leben und Gott miteinander identifiziert. 26 In Sur la pensée passive de Descartes (besonders Kapitel 2 und 4) argumentiert Marion, dass selbst das cartesianische Ich nicht das selbstständige Subjekt ist, als welches es von der Tradition oft dargestellt wird, sondern eine passive Seite hat, die Leib und Leidenschaften ernst nimmt. J.-L. Marion, Sur la pensée passive de Descartes, Paris: P.U.F., 2013 (im Text im Folgenden unter der Sigle PPD zitiert).

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Stattdessen ist derjenige, der auf das gesättigte Phänomen antwortet, ein Zeuge, dem Phänomen übergeben, ja sogar abhängig davon. Der Rezipient des »Selbst« des Phänomens (le soi du phénomène) wird nur zum Selbst durch die Begegnung mit und durch die Antwort auf das Phänomen: »Das Sich eines sich gebenden und sich zeigenden Was ließe sich demnach nie über eine logische Folgerung oder ein Konstitutionsverfahren verifizieren. Von beidem würde es nämlich gleichermaßen auf das An sich eines Gegenstandes (oder eines der Phänomenalität entbehrenden Dinges) zurückgeworfen. Doch eine solche Verifizierung könnte es selbst über den Eindruck oder, besser gesagt: über den Druck, den es auf den Blick (und freilich auch auf die anderen Wahrnehmungsweisen) ausübt, durchführen. Denn dieser Druck lastet in einer solchen Weise, dass nicht nur sein Gewicht, sondern auch seine völlige Unbeherrschbarkeit für uns spürbar ist, d. h. er stellt sich ein, ohne dass wir über es verfügen können, und wir haben zu seinem Anstoss kein größeres Vermögen als zu seiner Aufhebung. Das Sich des Phänomens zeichnet sich durch seine Bestimmung, sich zu ereignen, aus.« (GS, 279; ED, 225–26).

Wenn daher Naturphänomene in dieser Weise als gesättigt anerkannt werden würden, wäre es möglich, dass dies uns hilft, neue Perspektiven für gewisse anthropozentrische Dilemmata, die das Umweltdenken immer noch belasten, zu finden? Die Aporie, wie man sich von einem anthropozentrischen Denken, das den Menschen als besser, als höherwertig usw. gegenüber allen anderen Gattungen ansieht und sich exklusiv (oder zumindest schwerpunktmäßig) nur auf den Menschen konzentriert, entfernt und zu einer mehr biozentrischen oder ökozentrischen Position findet, die andere Lebensformen einen eigenständigen Wert zumisst, wird dadurch behindert, dass es immer noch der Mensch ist, der spricht und selbst die biozentrische oder ökozentrische Position erläutert. Wie kann ein Mensch wirklich wissen, was ein Tier fühlt oder wie die Welt vom Standpunkt einer Pflanze aussieht? Diese Aporie scheint sich zumindest in gewisser Weise in dem Paradox niederzuschlagen, welches Marion ständig im Konzept des Gegenereignisses des Zeugen auszudrücken sucht. Obwohl alle Phänomenologie sich um das menschliche Bewusstsein von Phänomenen dreht und daher einsieht, dass dies auf dem menschlichen Kontext beruht und wir nicht in das Bewusstsein eines anderen einfach eintauchen können (ob es sich nun um einen anderen Menschen, das Göttliche bzw. Tiere, Pflanzen oder Sterne handelt, wenn man dies206 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

bezüglich überhaupt von Bewusstsein sprechen kann), folgt Marion Lévinas, der eine Phänomenologie formuliert, die vornehmlich Antwort auf den Anderen ist. Hier wird das Selbst erst möglich in seiner oder ihrer Erwiderung auf den Anderen, eines Anderen, dem die Initiative zukommt, der zu mir kommt und mir zuvorkommt, mich unterbricht und von mir Antwort fordert. Im Gegensatz zu Lévinas sieht Marion diese Andersheit (altérité) jedoch nicht nur im anderen Menschen (autrui), sondern erwägt die Möglichkeit, dass jedes Phänomen ein »Selbst« haben könnte, dem die Initiative zukommt. Wenn eine Begegnung mit einem Gemälde oder das Erleben eines historischen Ereignisses mich individuieren kann, warum nicht die Begegnung mit einem Tier oder das Erleben eines Naturphänomens? Peter Steeves beschreibt eine solche Begegnung: »Eines Nachts, während ich im hinteren Waschraum Geschirr spülte, kam ein schwarzer Salamander in der Größe meines Daumens durch das Fenster über dem Waschbecken gekrochen und saß auf dem nassen Zement neben dem Hahn. Er bewegte sich unwahrscheinlich schnell, seine Zehen waren unwahrscheinlich weit in einen Fächer an jedem Fuß gespreizt; er hielt sich unwahrscheinlich fest an der tropfenden Wand, er warf ein Auge in meine Richtung und wendete sich mir zu. Ich war wie festgefroren. Der Augenblick war voller Möglichkeiten […] Aber der Salamander. […] Seine Bewegungen, seine Gedanken waren ohne Konzept. Die Verbindung war von beiden Seiten offen. Wir könnten jegliches zusammen werden.« 27

Hier ist es die Begegnung mit einem spezifischen Tier, die mich mir in gewisser Weise gibt und neue Möglichkeiten öffnet. Das Phänomen des Salamanders ist tatsächlich in gewissem Sinne als gesättigt erlebt. Es kommt von und als es selbst, in überraschender Weise, als fait accompli. Es legt mich auf eine bestimmte Position fest, von der aus ich es sehen muss. Sollte ich mich bewegen, ist der Salamander sicher verschwunden. Mein Werden ist nicht mehr meines allein, sondern in irgendeiner Weise mit dem des Salamanders verbunden: Wir werden zusammen. Die Natur als gesättigtes Phänomen zu erleben, eröffnet daher die Möglichkeit, uns selber anders zu verstehen und uns als vom nichtmenschlichen Anderen angesehen – verwandelt und konstituiert – zu erleben. Dies mag Marions Beschreibung für eine wichtige Dimension eröffnen, die bisher in seiner phänomenologischen Analyse fehlt. Wie Derrida (in gewissem Sinne als Antwort auf Lévinas) in 27

Steeves, The Things Themselves, 62.

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L’animal que donc je suis betont, ist eine phänomenologische Beschreibung, die unsere Tiernatur ignoriert und den nichtmenschlichen Anderen nicht Ernst nimmt, heutzutage nicht mehr vertretbar. Selbst philosophisch können wir uns nicht von der Umwelt und den ökologischen Verbindungen, die unser Leben erhalten, loslösen und es uns nicht leisten, blind zu sein für die verheerenden Auswirkungen, die unsere Taten auf sie haben. Dies bringt uns zu dem, was Marion, Henry folgend, als das intime Erlebnis des Ichs als Leib (oder Fleisch) bezeichnet. Obwohl das Naturphänomen mit dem Leib, wie Marion ihn beschreibt, auf keinen Fall identisch ist, scheint es doch Verbindungen mit ihm aufweisen.

4.

Das gesättigte Phänomen des Leibes

Die dritte Sorte von gesättigten Phänomenen, die Marion in seiner Untersuchung normalerweise erwähnt, ist diejenige des Leibes. Im ersten Augenblick scheint sie mit der Natur wenig zu tun zu haben und es wird hier auf keinen Fall für eine völlige Identität beider plädiert. Die wichtigste Eigenschaft des gesättigten Phänomens des Leibes, wie Marion es beschreibt, ist seine absolute Intimität und völlige Unmittelbarkeit, die jegliche Relation oder Verbindung verunmöglicht. Ich bin nicht mit meinem Leib verbunden und habe keine Relation mit ihm, sondern ich bin mein Leib. Das Erfahren des Leibes kann von der Erfahrung des Selbst nicht geschieden werden. Natürlich erleben wir Tiere oder Pflanzen oder Ökosysteme nicht derart intim oder unmittelbar. Wir erleben sie als separat von uns, sogar als fremd und als wirklich »anders«. Und doch ist die Erfahrung unseres Leibes und die der Natur oder eines Naturphänomens nicht so disparat, wie es den Anschein haben mag. Das Phänomen des Leibes ist das in Marions Beschreibungen am wenigsten erläuterte. Obwohl er es stets als eines der vier Typen von gesättigten Phänomenen erwähnt, hat er relativ wenig dazu zu sagen, abgesehen von einem kurzen Kapitel in De Surcroît. Auch kehrt er nie explizit zum Leib als einem separaten Phänomen zurück, abgesehen von seiner mehrmaligen Erwähnung in der Auflistung gesättigter Phänomene. 28 Und obwohl Marion mit C. Romano über das Es ist allerdings bemerkenswert, dass er im Gespräch mit Dan Arbib angibt, dass »der Leib das Paradigma für das gesättigte Phänomen etabliert« (RC, 150).

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

Ereignis diskutiert, mehrere Künstler für die Analyse des Idols heranzieht und sich in Bezug auf die Ikone (ironischerweise) stark auf Lévinas bezieht, stützt er sich in der Diskussion des Leibesphänomens noch wesentlich entschiedener auf Michel Henrys Phänomenologie des Fleisches. In der Tat übernimmt er Henrys Beschreibung der Selbstaffektion des Fleisches praktisch vollkommen und integriert diese nur in sein eigenes Schema der Überwindungen der Kantischen Kategorien als dasjenige einer Relation, die absolut und ohne Analogie ist (ED, 289–92). »Kein Verweisen auf einen Gegenstand, das einem Ausstehen nachkäme, sondern nur ein solches, das sich auf sie selbst bezieht, macht Affektion aus. […] Auf diese Weise affiziert sich der Leib selbst – im Sterben, Leiden, Schmerz genauso wie in der Sehnsucht, Empfindung, im Orgasmus.« (ED, 322) Freude und Schmerz, Angst, Furcht und Zittern »unterstehen dem Leib und seiner Selbstimmanenz.« (GS, 388; ED, 322) Dieses Phänomen kann nicht gesehen werden und macht Intentionalität unmöglich, weil es so unmittelbar ist, dass keine Distanz dazwischen treten kann. Von allen Phänomenen realisiert es die Individuation am erfolgreichsten, »ruft einen Solipsismus hervor und verlangt geradezu nach diesem.« (GS, 388; ED, 323) Das vierte Kapitel von De Surcroît untersucht diese »Selbstgegebenheit« des Leibes in größerem Detail. Marion diskutiert Selbstgegebenheit und Leib/Fleisch dort vermittels einer Analyse von Descartes’ Beschreibung des Gefühls und der Sinne und im Rückgriff auf Husserls Unterscheidung von Körper und Leib. Er kritisiert Descartes’ Assimilation von »den Körpern der Welt (Himmel, Erde usw.)« zu »meinem sinnenerfüllten Leib (mon corps doué de sens)« und hält fest, dass sie absolut nicht zu identifizieren sind. (DS, 101) Obwohl er Descartes’ Abwertung des fühlenden Körper gegenüber dem Intellekt in Frage stellt, stellt er keine Fragen über Descartes’ noch viel stärkere Abwertung der Körper der Welt, die angeblich nichts spüren (dies ist natürlich grundsätzlich falsch, zumindest was fast alle Tiere anbelangt). Marion betont, »als fühlend, ist mein eigener Körper grundsätzlich von den Körpern der Welt unterschieden, die nur gespürt werden, aber nie als selber fühlend spüren.« (DS, 101–02) Er rehabilitiert Descartes gegen die Anschuldigung des Dualismus, indem er argumentiert, dass Descartes doch dem fühlenden Leib Sinn zuweist, aber er lässt den Dualismus zwischen meiner Selbstaffektion und dem nichtfühlenden Rest der Welt unangetastet. 29 29

Die Idee, dass wir eine Art von Selbstbewusstsein haben, das den Tieren ermangelt,

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In Sur la pensée passive de Descartes kehrt Marion zu diesem Thema bei Descartes zurück, indem er für ein passives Denken bei Descartes plädiert. Er untersucht besonders die letzte Meditation, Descartes’ Briefwechsel mit Elisabeth von Böhmen und Kristina von Schweden und auch sein Spätwerk Les passions de l’âme, um an der Standardinterpretation des cartesianischen Cogito zu rütteln und aufzuzeigen, dass Descartes den Menschen auch als rezeptiv und passiv denkt. Er argumentiert, dass Descartes in seinem Werk drei Stadien durchlaufen habe: Die ersten beiden entsprechen der doppelten ontotheologischen Metaphysik, die Marion schon in früheren Werken untersucht hatte (mit einer Version, die das Ego als Grundprinzip vertrat, und einer anderen, in der Gott als absoluter Garant diente) während das dritte Stadium, in welchem das Ich in seiner Passivität und Affektivität verstanden wird, Marion zufolge nur in Descartes’ letzten Werken erreicht wurde. Marion untersucht vor diesem Hintergrund Descartes’ Analyse des Leibes, besonders das Verspüren von Schmerz. (PPD, 86–87) Die Affektivität des Ichleibes wird dabei zur Grundlegung der Verbindung von Seele und Körper herangezogen. Descartes erscheint in dieser Perspektive als ein verkannter Phänomenologe. (PPD, 92). Marions Analyse erreicht ihren Höhepunkt in einer Deutung der Leidenschaften der Seele, die die Passivität des cartesianischen Selbst betont. Die Verbindung zwischen dem Leib und seiner Passivität durch die Affektivität, die zu einem großem Teil auf Henrys Analyse des Fleisches beruht, ist auch das Hauptelement seiner ausdrücklicheren phänomenologischen Ausführungen zum Leib. Sich an Husserl anlehnend, argumentiert Marion, dass der Leib »geistet« (spiritualise), d. h. »die Körper der Welt sichtbar macht, die ohne den Leib in der Nacht des Ungesehen verharren würden« (DS, 107) Die Welt kann also nur durch meinen Leib phänomenalisiert werden. (Marion gibt ein Beispiel davon in seiner Beschreibung der fünf Sinne in seinem wichtigen Artikel »Die Banalität der Sättigung«, auf den wir gleich zurückkommen werden.) In diesem Zusammenhang untersucht Marion die Phänomene des Leidens, der Freude und des Alterns als Beispiele für leibliche Phänomene. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass ich mir selbst nicht erscheinen kann, ja gar kein Selbst werden kann, ohne dass ich mich auf diese ist fraglich, wie manche ethologischen Forschungen zeigen, aber das ist hier nicht der Hauptpunkt. Wir werden später kurz darauf zurückkommen.

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

Weise erlebe. Ich kann mich meinem Leib nicht entziehen oder ihm fern bleiben. (DS, 111) Im Fall des Leidens heißt das: »Ich leide nicht an Feuer oder Eisen – aber, weil sie mir direkt weh tun, tun sie nur mir weh (parce qu’immédiatement ils me font mal, ils ne font mal qu’à moi). Ich erleide mich selbst in ihnen. […] Leiden bindet mich an mir fest, wie man sich an den Boden bindet – durch Erdung (par la prise du terre).« (DS, 111) 30

Die Selbstaffektion des Leibes ist in ähnlicher Weise durch das SichErfreuen möglich. Sowohl Schmerz als auch Freude machen mich passiv, überwältigen mich und erscheinen mir, indem sie mich mir selber in mir erscheinen lassen. Das Phänomen des Alterns bezeugt »die Unzertrennlichkeit des Leibes« auch, indem es zeigt, wie das Vergehen der Zeit an meinem Leib sichtbar wird (DS, 114). Unser Antlitz wird zum Archiv der Zeit, die nicht beobachtet werden kann und doch »erscheint in der Ansammlungen der Merkmale, die durch ihre Spuren die physikalen Körper entstellen. […] aber besonders die lebenden Leiber und, mehr als alle anderen Dinge, mein Antlitz.« (DS, 115) Marion interpretiert alle drei dieser Erfahrungen als Bestätigungen der Phänomenalisierung des Ich in seiner Verleiblichung. Der Leib vereinzelt mich in meiner Faktizität und zwar auf eine Art und Weise, zu der Vernunft oder Verstand nie imstande wären. (DS, 117) Der Leib des Anderen hingegen »bleibt mir völlig unzugänglich.« (DS, 118) Ich bin mir durch meinen Leib gegeben. Marion schließt, »die Geburt, die ursprüngliche Leibwerdung, hat daher keinen biologischen sondern einen phänomenologischen Status«. (DS, 119) Doch müssen die biologischen und phänomenologischen Aspekte des Leibes so völlig von einander geschieden werden? 31 Ist solch eine Beschreibung des Leibes überhaupt möglich ohne einen gewissen Bezug zur Natur und zur Erde? In »Die Banalität der Sättigung« erklärt Marion die Erfahrung des gesättigten Phänomens mit Hilfe der fünf Sinne. Für alle fünf Sinne sind seine Beispiele hauptsächlich menschliche Tätigkeiten und Erzeugnisse: Die Farben einer Ampel im Vergleich mit den Farben in Rothkos Gemälde Nummer 212; die Obwohl Marion hier kurz die Erde erwähnt, geht es hier nur um das »Erden« des elektrischen Stroms. 31 Benjamin Baumann behauptet jedoch, dass Marions Beschreibung diese Scheidungen mit seinem Phänomen des Leibes erfolgreich überwindet. Vgl. »Jean-Luc Marion und die Überwindung der Störung durch die Welt. Subjekt und Welt als gesättigte Phänomene«, in H.-B. Gerl-Falkovitz, Jean-Luc Marion, op. cit., 308. 30

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Christina M. Gschwandtner

menschliche Stimme im Lautsprecher am Bahnhof im Vergleich zum Gesang der Diva in der Oper; der Geruch von Gas im Vergleich mit dem Duft von Parfüm; der Geschmack von Gift im Vergleich zum Aroma eines feinen Weins oder erlesenen Gerichts; das Herumstolpern in einem dunklen Zimmer im Vergleich zum erotischen Ertasten des Körpers des Anderen. (VR, 157–65) Die Wahl dieser Beispiele ist interessant: Warum nicht die Farben eines Regenbogens, das Rauschen eines plätschernden Baches, der Duft einer Rose, der Geschmack einer reifen Frucht, das Gefühl des Windes im Haar oder auf der Haut? Sind nicht unsere Sinneserlebnisse erst einmal auf die Natur gegründet? Und verlangt nicht alle Leiberfahrung das Substrat der Natur in offensichtlicher oder mehr verborgener Weise? Selbst Parfüm und Wein sind unmöglich ohne die Trauben und andere Substanzen, aus denen sie gewonnen wurden und das gleiche gilt für Farbe und Leinwand in etwas weniger offensichtlichem Sinne. Die Stimme der Diva und der Körper des Geliebten sind natürlich unmittelbar leiblich, auch wenn der Kontext das hier schwierig zu erkennen macht. Unsere tiefsten Notwendigkeiten – Atmen, Stoffwechsel und Reproduktion – sind »erdgebunden« und leiblich. Sie sind völlig unmöglich ohne diese Verbindung mit Luft, Erde und den Elementen, aus denen der menschliche Körper besteht, und ohne die keine leibliche Erfahrung denkbar (oder fühlbar) ist, die den »Leib« mithin überhaupt erst möglich machen. Nur wenn wir uns völlig mit Technik umgeben und nur von stark behandelten Fertiggerichten leben, können wir versuchen zu ignorieren, dass alle unsere Erlebnisse in der Natur gründen, mit der Nahrung begonnen, aber zu guter letzt auch alle anderen Erfahrungen. Die Freuden und Schmerzen, Vergnügen und Leiden, die direkt in unserem Leib erlebt werden, liegen für Marion und Henry im Zentrum ihrer Beschreibungen. Es ist jedoch fraglich, ob es möglich ist, eine wirklich phänomenologisch reichhaltige Beschreibung von Freude oder Schmerz zu geben, ohne eine Referenz auf die Natur: die Freude über die Schönheit der Natur oder der Genuss von biologisch angebauten Nahrungsmitteln, der Schmerz oder das Leiden, wenn der Körper versagt, ob durch das natürliche Altern oder durch eine Krankheit. Kann eine adäquate Phänomenologie des Leibes entwickelt werden, ohne dass diese zumindest in gewisser Weise in der »Erdgebundenheit« der Natur gründet, von der wir kommen, mit der wir in vielfältiger Weise verbunden sind und zu der wir schlussendlich zurückkehren werden? Hunger und Durst, Müdigkeit und Elan 212 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

sind auf intime Weise mit den Bedingungen unseres Tierleibes verbunden, selbst wenn wir sie bewusst in unserem immanenten »Fleisch« erleben. Können Körper und Leib wirklich so weit voneinander getrennt werden, eines als Objekt und das andere als gesättigtes Phänomen? In der Tat können selbst Freude und Schmerz nicht ohne das rechte Funktionieren unseres Körpers erlebt werden, ohne die konkrete physische Existenz von Körperteilen, Hautzellen, Neurotranspondern usw. Diese körperliche Grundlage unserer Erfahrung zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet nicht automatisch eine Reduzierung des Leibes auf einen bloßen Gegenstand, wie Marion es manchmal suggeriert (z. B. in seiner Erläuterung eines Krankenhausaufenthalts [CN, 51–54] und der Ablehnung einer biologischen Erklärung [DS, 119]). Obwohl in gewissen Zusammenhängen manche Körper natürlich tatsächlich als Gegenstände für die Forschung objektiviert werden, muss dies nicht immer der Fall sein und die reelle physische Beschaffenheit unseres erlebenden Leibes kann nicht wirklich von einer Beschreibung unseres immanenten Bewusstseins darin völlig ausgeschlossen bleiben. Marion zieht es stets vor, die Thematisierung des Leibes in eine theologisch akzentuierte Richtung zu lenken. In der letzten Zeile seines gerade zuvor erwähnten Kapitels schlägt er vor, dass eine Beschreibung des Leibes es möglich machen könnte, philosophisch über die theologische Idee der Inkarnation nachzudenken. (DS, 124) In seiner viel kürzeren Untersuchung im ersten Kapitel von Certitudes négatives, wo er sich vornehmlich auf eine Reduktion des menschlichen Antlitzes konzentriert, aber den Leib immerhin gelegentlich erwähnt, führt er aus, dass ein angemesseneres Verständnis des menschlichen Antlitzes dieses als Bild Gottes erkennen müsste und er verbindet die Einsicht, dass der Mensch nicht definiert werden kann, mit dem Unvermögen, das Göttliche zu verstehen. (CN, 69) Schlussendlich muss der Mensch als »Gott« verstanden werden. (CN, 74) Die letzten beiden Abschnitte dieses Kapitels untersuchen, wie das »Geheimnis des Menschen« mit dem des Göttlichen verbunden ist, und unternehmen den ausdrücklichen Versuch, den Menschen von jeglicher Definition als Tier oder Lebewesen, die als reduzierend interpretiert werden, zu lösen (e. g. CN, 83). Doch kann eine solche völlige Scheidung zwischen Mensch und Tier aufrechterhalten werden? Ignoriert sie nicht etwas Wichtiges in unserer Selbsterfahrung? Emmanuel Falque, sowohl von Marion also auch von Henry beeinflusst, hat in jüngster Zeit diese biologische und chemische Di213 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Christina M. Gschwandtner

mension unserer Erfahrung genauer untersucht. 32 Er betont, dass wir der eigenen Animalität, also unserer konkreten organischen Existenz, in unserer Beschreibung der leiblichen Erfahrung viel mehr Aufmerksamkeit widmen sollten. Falque macht selbst zwar immer noch einen starken Unterschied zwischen unserer eigenen Tiernatur, die er Animalität nennt, und der der anderen Tiere, die er als Bestialität bezeichnet. Doch ist diese Unterscheidung nicht willkürlich? 33 Das Erleben unserer eigenen Animalität umfassender zu beschreiben, vermag uns Pfade eröffnen, auch der Animalität anderer Kreaturen offener gegenüberzustehen und organisches und anorganisches Leben näher zu untersuchen. Marion erwähnt am Ende seiner Diskussion des Leibes in De Surcroît, dass diese Beschreibung des Leibes trotz des scheinbaren Solipsismus, auf die sie führt, uns einen neuen Weg bahnen könnte, um von der Begegnung mit Anderen zu sprechen, von dem also, »was wir früher Intersubjektivität zu nennen pflegten.« (DS, 124) Wenn dies eine wirkliche Möglichkeit ist, sollte sie uns in ähnlicher Weise eine Beschreibung des nichtmenschlichen Leibes und seines affektiven Erlebens ermöglichen. Letztlich ist unsere Erfahrung von Freude und Schmerz nicht nur abhängig von der organischen Funktionstüchtigkeit und der Integrität unseres eigenen Leibes. Sie hängt auch von vielen »natürlichen« Faktoren ab. Unsere Stimmung, ob wir Vergnügen an etwas haben oder es schmerzlich finden, wird vom Wetter und sogar von der Temperatur beeinflusst. Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit können uns müde und lethargisch machen und uns die Freude an einem Sommertag nehmen. Schneidende Kälte macht es uns sehr unbequem oder kann sogar unsere Lebensfunktionen beeinträchtigen. Verpestete Luft oder vergiftetes Wasser können uns krank machen und daher wirkliche Schmerzen verursachen. Sie können auch emotionale und mentale Schmerzen hervorrufen, z. B. wenn Umweltverschmutzungen zu einer höheren Gefahr von Fehlgeburten, Leukämie und Krebs führen, wenn wir aus diesen Gründen jemand verlieren, den wir liebten oder auf den wir uns gefreut haben. Die Leibphänomene, die Marion in seiner Ausführung beschreibt – Geburt, Tod, Altern – sind

Cf. Kapitel 2, 5, und 8 in Les noces de l’agneau. Falque ist stark von Marion beeinflusst, obwohl seine Beschreibung unserer organischen oder animalischen Natur selbstverständlich nicht auf Marion beruht, da Marion dies nie erwähnt. 33 Cf. meine Besprechung in »Corporeality, Animality, Bestiality: Emmanuel Falque on Incarnate Flesh«, in: Analecta Hermeneutica 4 (2012): 1–16. 32

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Kann die Natur als »gesättigtes Phänomen« interpretiert werden?

nicht unabhängig von dem natürlichen Zusammenhang zu verstehen, in dem sie erscheinen. Sowohl Henry als auch Marion beschreiben unsere Erfahrung solcher Phänomene als eine Begegnung mit dem »Anspruch« des »Lebens«. Können sie nicht auch als eine Begegnung mit dem Ruf der Natur erscheinen? Ist es möglich, solch einen Ruf phänomenologisch zu hören? Dies sind bisher nur Fragen und alle verlangen eine viel ausführlichere Untersuchung, als sie hier vorgelegt werden konnte. Zumindest angezeigt aber werden sollte hier, dass eine Konfrontation von Marions Phänomenologie mit Umweltfragen und einer phänomenologischen Beschreibung von Natur und Animalität beidseitig fruchtbar werden kann. Nicht nur kann die Idee des gesättigten Phänomens eine wichtige Rolle in der Umweltphilosophie spielen, sondern eine größere Aufmerksamkeit auf die Materialität unserer Erfahrung mag auch Marions Beschreibung des Leibes und der Gegebenheit eine stärkere Nuance und größere Komplexität verleihen. 34

34 Der vorliegende Text ist eine Übersetzung von Kap. 3 meines Buches Degrees of Givennes: On Saturation in Jean-Luc Marion, Bloomington: Indiana UP 2014. Übersetzt mit Genehmigung des Herausgebers.

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung Claudia Serban

Seit Levinas und Merleau-Ponty hat die französische Phänomenologie ständig versucht, die unzureichende Behandlung von bestimmten entscheidenden Themen, mit denen schon Husserl und Heidegger sich beschäftigt haben, zu beheben und damit zu radikalisieren. Leiblichkeit, Affektivität, Passivität, Weltlichkeit, Alterität sind solche Grundthemen, durch deren kritische Wiederholung die Lebendigkeit der phänomenologischen Bewegung sich immer wieder bestätigt hat. Ich möchte mich hier einem Thema widmen, das sich zunächst vielleicht nicht als ein solches Grundthema darstellt, aber dennoch entscheidende Folgerungen zu skizzieren erlaubt: nämlich einem phänomenologischen Begriff und Verständnis von Überraschung. Auch wenn sie sich nicht sofort als ein wichtiges phänomenologisches Thema oder Motiv ankündigt 1, ist die Überraschung in jedem Fall ein besonders interessantes Beispiel für die Problematik der Übersetzung, wenn auch wohl nicht primär zwischen deutscher und französischer Phänomenologie, so aber sicherlich zwischen der deutschen und französischen Sprache. Vom Wort »Überraschung« kann man kaum eine wirklich buchstäbliche französische Übersetzung geben: der Wortstamm »rasch« drückt die Geschwindigkeit oder die Schnelligkeit aus, und »überrasch« ist eine irgendwie superlativische Form, die »überaus rasch« in eins zusammenzieht. Dementsprechend bezeichnet die Überraschung etwas, das eilig und geschwind geschieht. Sehr bemerkenswert ist, dass das Auftreten des Wortes an einen militärischen Kontext und Wortschatz gebunden ist. So gibt das Wörterbuch der Gebrüder Grimm als seine erste Bedeutung an: »unerwarteter feindlicher Überfall«. Die Überraschung zeigt also zuSiehe dagegen N. Depraz, »Phenomenology of Surprise. Levinas and MerleauPonty in the Light of Hans Jonas«, in: P. Blosser, T. Neon (Hg.), Advancing Phenomenology: Essays in Honor of Lester Embree, Dordrecht et al.: Springer 2010, 223– 233.

1

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

nächst ein feindliches, nicht ein freundliches Gesicht (was vielleicht eine gewisse Tendenz erklärt, sie negativ zu konnotieren und zu bestimmen). Und nur als zweite Bedeutung, wiederum nach dem Grimm’schen Wörterbuch, besagt Überraschung »in weiterer Verwendung, jedes plötzliche Herantreten von Personen oder Geschehnissen, Thatsachen an jemanden, der darauf nicht vorbereitet ist«. Diese Definition klingt vielleicht schon nach einer phänomenologischen Begrifflichkeit, weil wir darunter zum Beispiel das Ereignis verstehen können oder in noch weiterem Sinne das Phänomen selbst, jedenfalls als Gegebenes. Gibt es aber eigentlich so etwas wie einen philosophischen Gebrauch des Wortes ›Überraschung‹ ? Mit dieser Frage wird man vom Historischen Worterbuch der Philosophie allein gelassen, das keinen Artikel »Überraschung« enthält (während man da zum Beispiel Beiträge über vielleicht noch weniger philosophische Termini technici findet wie »Spielraum« und andere). Heißt das aber, dass Überraschung gar kein philosophischer Begriff ist? Ohne eine wirkliche Untersuchung darüber aufnehmen zu können (ein vielsagendes Faktum ist aber, dass das Wort und seine Derivate sich nicht in der Luther-Bibel befinden), möchte ich nur eine bedeutende Stelle zitieren, nämlich den Anfang des 74. Paragraphen von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), wo man eine ausgezeichnete Definition des Affekts als »Überraschung durch Empfindung« 2 liest. Die Weise Kants, Affektivität durch Überraschung zu bestimmen 3, ist selbst einer aufmerksamen Betrachtung würdig, aber leider kann ich dies hier nicht weiter verfolgen (obwohl ich hoffe, diese Bestimmung anderweitig wiederzufinden). Ich muss aber jetzt die folgende Frage stellen: Was hat gerade die Phänomenologie in ihrer Geschichte über die Überraschung zu sagen gehabt? Im Fall von Heidegger ist dies einfach und kurz zu analysieren, weil es in Sein und Zeit eine Art endgültige Verurteilung der Überraschung gibt. In Paragraph 69, dessen Titel »Die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem der Transzendenz der Welt«

2 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Akademie Ausgabe Bd. VII), Berlin: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften 1907, 252). 3 Eine ähnliche Konzeption, die Überraschung und Affektivität verbindet, erscheint aus der Stelle, die das Grimm’sche Wörterbuch zitiert: »das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides (Lessing 17, 65)« (Bd. 23, Sp. 457).

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Claudia Serban

lautet, betrachtet Heidegger die Möglichkeit der Überraschung wie folgt: »Umgekehrt gründet die Möglichkeit des Überraschtwerdens durch etwas darin, dass das gewärtigende Gegenwärtigen eines Zuhandenen ungewärtig ist eines anderen, das in einem möglichen Bewandtniszusammenhang mit jenem steht. Das Ungewärtigen des verlorenen Gegenwärtigens erschliesst allererst den ›horizontalen‹ Spielraum, innerhalb dessen Überraschendes das Dasein überfallen kann.« 4

Diese kurze Analyse findet innerhalb der Diskussion der Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens statt. Das Gewärtigen ist in diesem Kontext ein Charakter der uneigentlichen Zukunft 5, das heißt der Zeitlichkeit des Verfallens. Die Möglichkeit der Überraschung weist also für Heidegger auf uneigentliche Zeitlichkeit und Zeitigung hin, als ob ein eigentliches, entschlossenes Dasein nie überrascht werden könnte. Überraschung gibt es nur im Raum des verlorenen Gegenwärtigens, im Raum des enttäuschten Erwartens, dessen Gegenteil das entschlossene Vorlaufen ist. Die vorlaufende Entschlossenheit des Daseins könnte also keine enttäuschten Erwartungen und damit auch keine Überraschungen erlauben. Im Spielraum der eigentlichen Zukunft findet dann die Überraschung keine eigene Stelle. Die existentiale Analytik des Daseins kann also nur eine negative Beschreibung und Bestimmung der Überraschung erreichen 6. Die enttäuschte Erwartung ist schließlich auch die Gestalt, in der sich uns die Überraschung in Husserls phänomenologischer Beschreibung darstellt. Auch wenn das Wort »Überraschung« nicht expressis verbis vorkommt, erkennen wir das Phänomen »Überraschung« das von Husserl durch den Gegensatz zwischen Erfüllung und Enttäuschung behandelt wird. Weil Erfüllung immer Bestätigung einer Intention ist, kann Überraschung nur als Enttäuschung gelten, oder vielmehr als enttäuschte Intention oder enttäuschte Erwartung. Bei den Aporien und Unzulänglichkeiten dieser negativen Ergebnisse möchte ich im Ausgang von Jean-Luc Marions Thematisierung des

M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1986, 355. Vgl. ebd., 337. 6 Siehe dagegen F. Dastur: »Phénoménologie de l’événement : l’attente et la surprise (Husserl et Heidegger)« (in dies., La phénoménologie en questions, Paris: Vrin 2004, 161–173). Die Autorin versucht, im Ausgang von Husserl und Heidegger und in Bezug auf das Ereignis, so etwas wie eine positive Phänomenologie der Überraschung zu skizzieren. 4 5

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

gesättigten Phänomens gerade eine positive Bestimmung der Überraschung durch Sättigung gewinnen. Ferner möchte ich aber auch versuchen, dieser Bestimmung eine größere Reichweite zu geben um, die Kantische Definition des Affekts als Überraschung durch Empfindung transponierend, behaupten zu können: Das Phänomen, indem es sich gibt – also als Gegebenes – ist Überraschung durch Sättigung.

1.

Überraschung als Enttäuschung

Aber erst muss gezeigt werden, wie und warum laut Husserl Überraschung innerhalb des Gegensatzes von Erfüllung und Enttäuschung verschlossen bleibt. Um von Erfüllung sprechen zu können, braucht man immer eine Intention oder ein Meinen. Insofern es eine solche Korrelation zwischen Intention und Erfüllung gibt, kann letztere niemals als Überraschung geschehen. Die Möglichkeit des Überraschtwerdens ist umgekehrt die Möglichkeit der Nicht-Erfüllung, die von Husserl schon in den Logischen Untersuchungen den Namen »Enttäuschung« bekommt. Der Paragraph 37. der Sechsten Logischen Untersuchung handelt in der Tat vom »negativen Ideal der letzten Enttäuschung«, und schon die Vierte Untersuchung definiert die Enttäuschung als den Gegensatz der Erfüllung 7. Später in den Analysen zur passiven Synthesis (1918–26), also im neuen Rahmen der genetischen Phänomenologie, erscheint Enttäuschbarkeit als ein wesentliches Moment der Erwartung: »Erwartungen können nur wirklich erfüllt werden durch Wahrnehmungen. Also wesensmässig gehört zu ihnen, dass sie, und unter allen Umständen, auch enttäuscht werden können« 8. Dies wäre sicherlich ein idealer Kontext, um die Überraschung zu thematisieren, aber Husserl scheint das Wort beinah ab7 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. In zwei Bänden, Den Haag: Nijhoff 1984 (Hua Bd. XIX/1), 323, Fussnote. 8 E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, 1918–1926, Den Haag: Nijhoff 1966 (Hua Bd. XI), 11. Husserl fährt hier fort: »Die Wahrnehmung bringt ein Neues, das ist ihr Wesen. Freilich mag sie von der Bewusstseinsvergangenheit her eine Vorzeichnung haben, das Neue kommt einem schon Bekannten, schon für mich als vergangen Konstituierten gemäss. […] Aber evident ist doch, dass erst die Wahrnehmung entscheidet, und dass das Neue aller Erwartung ins Gesicht schlagen kann«. Es ist schier unglaublich, dass hier nicht von Überraschung ausdrücklich die Rede ist!

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sichtlich zu vermeiden. Zwischen Erfüllung und Enttäuschung vermag die Überraschung keine eigene Stelle zu finden. Die Analysen von Erfahrung und Urteil werden diesen negativen Befund durch eine andere negative Beschreibung der Nicht-Erfüllung der Intention oder der Erwartung bestätigen, und zwar durch ihre Bestimmung als Hemmung und Widerstreit (in § 21). Es handelt sich hier nicht um eine beliebige Negativität, sondern sogar, laut Husserl, um den »Ursprung der Negation«, die in der Hemmung des Wahrnehmungs- oder Erfahrungsverlaufs, oder in der Enttäuschung der Intention überhaupt besteht. Negation entsteht also aus der »Substitution eines neuen erfüllenden Sinnes für den intendierten.« 9 Dieser Beschreibung nach sind wir letztlich niemals überrascht, sondern immer nur enttäuscht: etwa wenn (um Husserls eigene Beispiele zu wiederholen) die Silhouette eines Menschen sich als »bekleidete Puppe« herausstellt, oder wenn die Kugel sich als »nicht rot, sondern grün« und »nicht kugelig, sondern eingebeult« 10 bewährt. Der Widerstreit zwischen Erwartung und Erfüllung löst sich immer in Enttäuschung auf. Dementsprechend ist Überraschung als Enttäuschung immer das bittere Ende einer Täuschung und niemals happy-end oder happy event, als ob eine gute oder glückliche Überraschung nie möglich wäre. Ich spiele hier mit Absicht auf den Unterschied zwischen guten und bösen Überraschungen an, aber Husserls Beschreibung bleibt vielmehr neutral und weist auf eine affektive oder existentielle Last der Überraschung nicht unmittelbar hin. Es scheint mir aber, dass schon der Terminus »Enttäuschung« eine solche Last beinhaltet, und dass hinter der Entscheidung für diesen Terminus (um Überraschung zu denken) sich vielleicht eine Art Furcht vor dem Überraschtwerden verbirgt. Ich denke zum Beispiel an Paul Valéry, der 1935 in seinem Beitrag Le bilan de l’intelligence den »allgemeinen Eindruck von Ohnmacht und Inkohärenz« (impression générale d’impuissance et d’incohérence) von »zu vielen Überraschungen, zu vielen Kreationen, zu vielen Destruktionen« (trop de surprises, trop de créations, trop de destructions) 11 bedauerte. Eine andere Einstellung gegenüber der In einer technischeren Form: »Die ursprüngliche Konstitution eines Wahrnehmungsgegenstandes vollzieht sich in Intentionen […] die ihrem Wesen nach jederzeit durch Enttäuschung des protentionalen Erwartungsglaubens eine Modifikation annehmen können« (E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg: Meiner 1974, 98). 10 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 101 und 94 f. 11 P. Valéry, Le bilan de l’intelligence (1935), Paris: Allia 2011, 17. 9

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

Überraschung, und auch ein anderes Verständnis dessen, was Überraschung heißt und was sie mit sich bringt, ließ Jean-Luc Marion durchscheinen, als er in seinen Gesprächen mit Dan Arbib umgekehrt den »tiefen Pessimismus« beklagte, »der vor der Überraschung des nächsten Augenblicks erschreckt« (pessimisme profond et terrifié par la surprise de l’instant suivant) und in einem solchen Pessimismus einen Ausdruck des »Nihilismus« erblickte, »der versichert, dass schon nichts geschehen wird« (nihilisme, qui assure que rien ne se passera). 12 Aus dieser Sicht ist die Empfänglichkeit für die Überraschung und die Annahme der Möglichkeit des Überraschtwerdens (statt sie zu verweigern, wie Heidegger in Sein und Zeit) 13 so etwas wie ein Heilmittel gegen den Nihilismus. Aber ein solches implizites Plädoyer gegen die Ablehnung der Überraschung und gegen seine negative Konnotierung ist noch nicht eine echte philosophische Bearbeitung des Themas. Meine Frage lautet also: Ist die Phänomenologie der Sättigung besser als die Husserl’sche und die Heidegger’sche geeignet, um die Überraschung als Erfahrung und zwar als Phänomen zu integrieren?

2.

Überraschung als Sättigung

Um diese Frage zu beantworten, scheint es mir notwendig, zunächst das Verhältnis zwischen Erfüllung und Sättigung zu präzisieren. In der Tat könnten wir glauben, dass es sich hier nur um einen graduellen Unterschied handelt und dass Sättigung der Grenzfall der Erfüllung ist. Husserl selbst spricht manchmal von intuitiver Sättigung 14 J.-L. Marion, La rigueur des choses. Entretiens avec Dan Arbib, Paris: Flammarion 2012, 267 und 273. 13 In seiner Vorlesung des Wintersemesters 1937–38 scheint Heidegger jedoch ein anderes Verständnis von Überraschung vorzuschlagen, wenn er das griechische thaumazein analysiert und es von dem Sichwundern, Verwundern, Bewundern, Staunen und Bestaunen abgrenzt und letztlich als Er-staunen bestimmt. Siehe M. Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (Wintersemester 1937/38), Frankfurt/M.: Klostermann 1984 (GA 45), §§ 37–38. In diesem Kontext ist der Wortschatz der Überraschung wohl anwesend (z. B., 158: das Verwunderliche als das Über-raschende), aber zumeist in Verbindung mit Neugier (z. B., 164). Was Heidegger diesen unvollkommenen Formen des Er-staunens vorwirft, ist dass sie »vom Wunderlichen gefangen und in es verloren« (173) sind. Wir können also sagen: er-staunt, aber nicht gefangen, nicht ge-griffen, also nicht sur-pris. 14 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe 12

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und suggeriert demnach, dass Sättigung die volle oder die vollkommenste Erfüllung einer Intention wäre. Diese Konzeption möchte ich jetzt untersuchen. Dass Sättigung mehr als ein Grenzfall der Erfüllung ist, bekundet sich an einer Stelle von Husserls Bernauer Manuskripten über das Zeitbewusstein (1917/18), die mir auch Gelegenheit gibt, den deutschen und den französischen Wortschatz der Überraschung unmittelbar zu konfrontieren und zu vergleichen. Surprise: Das französische Wort bezieht sich nicht auf das, was »überaus rasch« geschieht, sondern auf etwas, das nicht gegriffen oder begriffen werden kann. In der Tat, eine eng buchstäbliche und allerdings gewagte Transponierung des französichen Wortes »surprise« könnte vielmehr lauten: Über-griff. Während Sättigung einen solchen Über-griff illustrieren mag, bewegt sich Erfüllung immer innerhalb des (konzeptuellen) Rahmens des Griffs. Im Kontext der Bernauer Manuskripte, wo Husserl eine erneute Auslegung des Zeitbewusstseins versucht, könnte die Überraschung eine angemessene Beschreibung für den Einbruch des Urpräsenten sein. Aber dieser Einbruch wird von Husserl immer und wieder als Griff bestimmt: »Ein Kulminationspunkt aber in der Festigkeit des Griffs bezeichnet der Griff des Neuen, also des durch urquellende Präsentation auftretenden Urpräsenten«; und Husserl präzisiert sofort: »was aber nur eine Rede ist«. Aber eben diese Rede besagt, dass das »Neuerfasste […] Erfüllung [ist]« und dass – obwohl »der Griff […] stetig lockerer [wird]« – »das Erfasste […] im Griff [bleibt]« 15; Erfüllung als Griff des Neuen ist nie Über-griff, nie surprise, sondern, wie Husserl es hier klar behauptet, »ein Kulminationspunkt […] in der Festigkeit des Griffs«. Kein Über-griff (sur-prise) also und keine Überraschung innerhalb des Paradigmas der Erfüllung. Nun stellt aber Husserl selbst, noch in den Bernauer Manuskripten, diesem Paradigma ein anderes Modell entgegen, nämlich das Ereignis, wenn er schreibt: »das Ereignis selbst kann ohne Vordeutung, gar ohne spezifische Erwartung ›auftreten‹« 16. Es scheint

zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913), Den Haag: Kluwer 2002 (Hua. Bd. XX/1), 194: »Je reicher die intuitive Sättigung ist, um so ›intensiver‹ ist die Evidenz.« 15 E. Husserl, Die ›Bernauer Manuskripte‹ über das Zeitbewußtsein (1917/18), Den Haag: Kluwer 2001 (Hua XXXIII), 4. 16 Ebd., 11.

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

mir, dass wir hier statt »Ereignis« ebensogut »Überraschung« lesen könnten. Das Verhältnis zwischen Überraschung und Ereignis ist für mich eine Etappe auf dem Weg meines Versuchs, Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung zu denken. Aber dieser Versuch, Überraschung positiv zu bestimmen und zu beschreiben mittels der Phänomenologie der Sättigung stößt sofort auf ein Faktum: Überraschung gehört gar nicht zu den Bestimmungen des Gegebenen in Étant donné (Paragraphen 13. bis 18.) und auch nicht zum Entwurf des gesättigten Phänomens (Paragraphen 21. und 22.). Die Stelle, wo Überraschung ausdrücklich und eigentlich thematisiert wird, ist der Paragraph 26. im fünften Buch von Étant donné, das dem adonné (dem Hingegebenen) gewidmet ist. Die Betrachtung der Überraschung kommt also später als die der Anamorphose, des Geschehnisses (arrivage / incident), der vollendeten Tatsache (fait accompli), des Ereignisses. Ihre Rolle in der Beschreibung der Gegebenheit und des gesättigten Phänomens scheint also von geringerer Wichtigkeit zu sein. Was aber ist diese Rolle genau? Die erste Bestimmung des adonné in Étant donné ist nicht der Überraschung verpflichtet, sondern dem Ruf (appel). Überraschung ist nur eines von den vier Merkmalen des Rufes, neben der Einberufung (convocation), der Verblüffung (interlocution) und der Faktizität als Individuation. Der adonné entsteht durch den Ruf, der seine Selbst-Setzung und Selbst-Erwirkung erschüttert und ihn durch Affektion, Veränderung, Empfänglichkeit bestimmt: Der Hingegebene »empfängt sich aus dem, was sich gibt« (vgl. § 26 : Se recevoir de ce qui se donne). Welche Rolle spielt dabei aber die Überraschung – vielmehr: die sur-prise, der Über-griff? Der Über-griff der Überraschung gilt hier als Griff des Rufes: »über-griffen« sein, überrascht-werden heißt: den Griff der Rufes ertragen und erleiden. Als sur-prise oder Über-griff ist also Überraschung ein »dunkler, erlittener Griff« (emprise obscure et subie) und doch nicht eine Leidenschaft des Ich (wie für Descartes die Verwunderung), sondern eine noch »ursprünglichere Affektion« 17, die vor dem Subjekt kommt und es als adonné stiftet.

J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 1997, 370 f. (vgl. dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München: Alber 2015, 443 f.: »dunkle und zu ertragende Einflussnahme« resp. »eine ursprünglichere, der metaphysischen Subjektivität vorangehende Affektion«).

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Diese Beschreibung mag zugleich einige Frage hervorrufen und besonders die nach der Dunkelheit des Über-griffs: Warum muss er dunkel sein und nicht vielmehr erleuchtend? Und warum nur ertragen oder erlitten 18? Vielleicht muss die Umkehrung der Intentionalität 19, die im Kontext des Über-griffs als »dunkler, erlittener Griff« sich ankündigt, eher als Konversion denn als Inversion gelten, um Überraschung echt und eigentlich zu empfangen. Doch, wie ich schon zu zeigen versucht habe: wo Intention und Intentionalität, da Erwartung und Erfüllung, und da Überraschung nur als Nicht-Erfüllung oder Enttäuschung. Der Über-griff des Rufes, wenn er auch als Einberufung (convocation) und Verblüffung (interlocution) wirkt, darf sicherlich nicht enttäuschend sein. Dabei darf die »stille Bereitschaft« (disponibilité immobile) 20 des adonné auch nicht als reine Passivität verstanden werden, sondern vielmehr als Wachheit und Aufmerksamkeit. 21 Ohne eine solche Bereitschaft und Wachheit, also ohne eine Erleuchtung im Dunklen, wären Sättigung und Überraschung unbemerkt und unerfahren geblieben. Die noch allgemeinere Frage, die ich an die Behandlung der Überraschung (sur-prise, Über-griff) in Étant donné richten möchte, betrifft aber seine relativ minimale Randrolle innerhalb der Phänomenologie der Gegebenheit und der Sättigung. Es ist nunmehr zweifellos geworden, dass in diesem Rahmen Überraschung anders als Enttäuschung erscheinen kann. Ich möchte jetzt zeigen, dass Sättigung selbst durch Überraschung (und nicht nur durch Geschehnis und Ereignis) konsequent bestimmt werden kann.

Diese scheinbare Passivität wird in De surcroît. Études sur les phénomènes saturés (Paris: PUF 2001) in bedeutender Weise nuanciert: »La réception implique certes la réceptivité passive, mais exige aussi la contenance active« (57). Siehe auch Le visible et le révélé, Paris: Cerf 2005, 181. 19 Vgl. Étant donné, 207 (dt. Übers., 257). Siehe auch Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010, 281: »il [l’événement, le phénomène saturé] n’advient pas comme l’effet de notre intention, de notre intentionnalité«, und 288: »J’ai renversé mon intentionnalité dans [l’]anamorphose.« 20 J.-L. Marion, Étant donné, 370 (dt., 443). 21 Vgl. N. Depraz, Attention et vigilance, Paris: PUF 2014. 18

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

3.

Sättigung als Überraschung

Eine erste, wenn auch sehr allgemeine Formulierung dieses Zieles habe ich gegeben durch meine Transponierung der Kantischen Definition des Affekts: Das Phänomen als Gegebenes ist Überraschung durch Sättigung. Um diesen Vorschlag zu prüfen, möchte ich nun den Überschuss (surcroît) der Sättigung 22 als Überraschung auslegen. Meine Hypothese ist, dass die Überraschung sich für die Bestimmung der Sättigung als ebenso wichtig wie das Ereignis erweisen könnte. Aber gehen wir von den Bestimmungen des Gegebenen aus, an die wir schon erinnert haben, und besonders von diesen drei: dem Geschehnis (arrivage / incident), dem Ereignis (événement), der vollendeten Tatsache (fait accompli). Doch schon die Anamorphose, die als Erstes kommt, spiegelt vielleicht am besten die Umkehrung des Griffs des transzendentalen Subjekts in Über-griff oder sur-prise. Die Anamorphose beschreibt die Gabe des Sichtbaren, das sich zeigt, insofern es sich gibt, und auch seine Zufälligkeit – oder vielmehr: sein Überfall, um das Wort, mit dem das Grimmsche Wörterbuch die Überraschung definiert, hier zu wiederholen. Überraschung als Überfall könnte also der Zufälligkeit des Gegebenen einen sehr adäquaten Ausdruck geben. Denn es ist die Überraschung, die das Geschehnis (arrivage) des Gegebenen von einem bloßen Vorkommnis unterscheidet: anstelle eines fortlaufenden und stetigen Vorganges, ein unstetiges Staccato. 23 Die »ursprüngliche Kontingenz der Phänomene« 24 vollzieht sich also als Überfall der Überraschung. Wie verhält es sich aber mit der Zeitlichkeit des Gegebenen? Wenn das französische Wort: sur-prise die zeitliche Dimension nur implizit ausdrückt, so enthält der deutsche Terminus Überraschung offenbar eine zeitliche Bestimmung. Das Adjektiv (oder vielmehr das Adverb) »rasch« lässt gerade das griechische exaiphnès anklingen 25, Vgl. J.-L. Marion, Le visible et le révélé, 145 : »Ce phénomène par excès [Hvh. C. S.], nous l’avons désigné et compris comme le phénomène saturé«. 23 Vgl. J.-L. Marion, Étant donné, 186: »Plutôt que d’arrivées, il faut donc parler d’arrivages de phénomènes, selon des rythmes discontinus, par saccades, inopinés, par surprise, détachés les uns des autres, par rafales, stochastiques …« (dt., 234: »Statt vom Ankommen der Phänomene sollte man also besser von ihrem Eintreffen sprechen, und zwar von einem Eintreffen in seinem stoßweisen-unstetigen, überraschend-unvermuteten, zerstückelten, windstoßartigen Rhythmus, dem immer etwas zufälliges eignet.«). 24 J.-L. Marion, Étant donné, 187 (dt. 235). 25 Vgl. Plato, Siebenter Brief, 341c. 22

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und damit die Zeitlichkeit des Ereignisses selbst. 26 Die Überraschung bringt also ein besonderes zeitliches Modell mit sich, das Modell einer Zeitlichkeit des Bruchs, der Unterbrechung, der Abschaltung. Das kann aber in zweifacher Weise verstanden werden: als Geschehnis eines »Phänomen[s] ohne Genealogie« 27, das heißt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, aber auch (und noch mehr) im Sinne eines Sich-selbst-Vorhergehens (ich übersetze damit den französischen Terminus der auto-antécédance, den Natalie Depraz 28 geprägt hat, um damit die Ankunft des Ereignisses anders als im Sinne eines pünktlichen Einbruchs zu denken). Ein solches Sich-selbst-Vorhergehen entkommt sicherlich dem nexus causalis oder der Wirkungsgeschichte und artikuliert eine phänomenologische, nicht-metaphysische Dynamik. Das Ereignis kommt sich selbst zuvor, das heißt genau: Es kommt vor seiner Ursache. 29 Wenn das Ereignis auch Überschuss (surcroît) ist, dann ist es zugleich grundlos und übermäßig. 30 Dieser Überschuss aber ist gerade das, was das Ereignis zur Überraschung verwandelt. Aber warum Ereignis? Im § 17 von Étant donné soll das Ereignis das »Sich des Phänomens« (soi du phénomène) 31 bestimmen. Was soll aber diese Bestimmung hervorbringen? Zunächst dieses: »das Ereignis kann ich erwarten (aber zumeist überrascht es mich)« 32, oder vielmehr: auch wenn erwartet, überrascht mich das Ereignis immer. Überraschung ist gerade das, was alle Erwartung überschreitet, aber ohne notwendigerweise alle Erwartung zu annullieren. Natürlich, ein Ereignis hat immer eine Vorgeschichte oder einen Hintergrund; aber Vgl. J.-F. Mattéi, »Le chiasme heideggérien«, in: ders., La métaphysique à la limite, Paris: PUF 1983, 157 27 J.-L. Marion, Étant donné, 199 (dt., 249: »Phänomene, die keine Genealogie haben«). 28 Siehe N. Depraz, Lucidité du corps. De l’empirisme transcendantal en phénoménologie, Dordrecht et al.: Kluwer 2001, bes. 79 und 104. 29 Vgl. J.-L. Marion, Étant donné, 233: »L’événement précède sa cause (ou ses causes)« (dt., 287: »Ereignisse gehen ihrer Ursache (oder ihren Ursachen) voraus.«). 30 Vgl. J.-L. Marion, Étant donne, 224: »Tout phénomène, en tant que donné, garde en effet comme un surplomb sur ce qui le reçoit« (dt., 277: »Als Gegebene bewahren alle Phänomene in sich gleichsam einen Überhang gegenüber demjenigen, der sie empfängt.«). 31 Ebd., 226 (dt., 279). 32 »L’événement, je peux l’attendre (quoique le plus souvent il me surprenne)« (ebd., 226; dt. Übers., 279: »Auf ein Ereignis kann ich warten (obschon es mich zumeist überrascht) […]«). 26

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

aus dieser Vorgeschichte entspringt es nicht als eine Wirkung, sondern als ein Überschuss (excès, surcroît, excédent) 33. In Étant donné wird der Überschuss (excédent) als das Markenzeichen der Sättigung eingeführt, im Gegensatz zu der Armut des üblichen Phänomens, also als Überschuss der Anschauung. Aber gerade das Geschehnis des gesättigten Phänomens ist Überschuss – und gerade diesen Überschuss des Geschehnisses oder des Ereignisses nennen wir Überraschung. Es handelt sich hier um eine Bestimmung, die innerhalb der Topik des gesättigten Phänomens (eine von Kant geerbte Topik, die eine vierteilige Struktur hat) der Rubrik der Modalität entspricht. In der Kantischen Analytik bezeichnet Modalität eine Synthesis, die dem realen Gehalt des Gegenstandes nichts hinzufügt, sondern nur sein Verhältnis zum subjektiven Erkenntnisvermögen ausdrückt. Der Modalität nach ist das gesättigte Phänomen in Étant donné als unerblickbar (irregardable) dargestellt. Diese Bestimmung durch Negation können wir aber gemäß einer Logik des Überschusses ergänzen, um das Unerblickbare als überraschend zu verstehen. Wenn durch die negative Rede vom Unerblickbaren der Widerstreit und gar der Widerstand des gesättigten Phänomens gegen Vergegenständlichung sich ausspricht, spiegelt die übermässige Rede von Überraschung die Umkehrung der Vergegenständlichung im reinen Ereignis oder Geschehnis.

4.

Überraschung und Gegen-Erfahrung

Die Gegen-Erfahrung ist das strenge Korrelat dieser Umkehrung. Aber warum sollte der Erfahrung durch Sättigung gerade widersprochen werden? Weil Erfahrung im gewöhnlichen Sinne keine offene Stelle für Sättigung oder Ereignis lässt. Wenn es Überschüsse der Erfahrung gibt, sowie Mehrmeinungen, Horizonte, Potentialitäten, so sind diese zumeist nur Überschüsse der Intention oder der Antizipation und gar nicht Überschüsse der intuitiven Fülle. Wir können in diesem Sinne Husserls Vorlesung von 1925: Phänomenologische Psychologie zitieren, wo man folgendes liest: »Soweit einstimmige Synthese zur Einheit einer dann eben einstimmigen Erfahrung mögVgl. ebd., 241: »Plus l’excès se constate, plus l’événement s’impose« (dt. Übers., 296: »Je mehr ein Überschuss festgestellt wird, umso mehr drängt sich auf, von einem Ereignis zu sprechen.«).

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lich ist, so weit reicht unser Begriff von Erfahrung« 34. Streng genommen und im echten Sinne ist also Erfahrung einstimmige Erfahrung, ja durch Einstimmigkeit definiert. Darüber hinaus wiederholt Husserl hier ausdrücklich Kants Bestimmung der Erfahrung durch einheitliche Synthesis. Dagegen ist Gegen-Erfahrung nie stetige, ungebrochene Synthese und nicht durch Einstimmigkeit bedingt. Gewiss, Husserl selbst hat die Grenze der Einstimmigkeit scharf gesehen, um öffentlich anzuerkennen: »bekanntlich kommt es oft und im weitergespannten Erfahrungslauf eigentlich immer so, dass einstimmige Erfahrung nicht dauernd einstimmig bleibt« 35. Aber Unstimmigkeit wird durchgängig als Hemmung und Hindernis gedacht, welche prinzipiell überwindbar sind (nämlich, durch Korrektur). Demnach kann Husserl behaupten: »So geartet ist unsere Erfahrung, dass trotz aller gelegentlichen Unstimmigkeiten im Einzelnen sich schliesslich alles in die Harmonie einer Einstimmigkeit auflöst.« 36 Diese letzte Stelle beweist, dass für Husserl die einheitliche Synthese der Erfahrung auf eine stetige, ungebrochene Harmonie zielt, und man könnte die musikalische Konnotation dieses Bildes weiter zu entfalten versuchen. Harmonie heißt gar nicht Monotonie, aber sie fordert gleichwohl, dass die Melodie ungebrochen bleibt. Ist Gegen-Erfahrung, um die musikalische Metapher fortzuführen, dann aber reine Dissonanz? Das wäre ein übereilter Schluss. Vielmehr erlaubt uns Gegen-Erfahrung, in der Partitur der Erfahrung eine Stelle für Improvisation einzurichten (ohne jedoch alles zur Improvisation, bzw. in der Malerei 37 zum action painting werden zu lassen) – anders gesagt, eine Stelle für Überraschung. Haydns vierundneunzigste Sinfonie (1791), in London komponiert und auf Englisch »Surprise« betitelt aufgrund eines Paukenschlags, der während des zweiten Satzes fällt, mag die Überraschung inszenieren, aber sie bleibt immer im Dienste einer höheren Harmonie und Einstimmigkeit. Ich werde die Frage der musikalischen Abbildung der Gegenerfahrung offen lassen, weil ich im Besonderen nicht überzeugt bin, dass sie (wie vielleicht der Bezug zur Quantenphysik suggeriert 38) ein Stück atonaler Musik sein könnte. Das musikalische Beispiel in Para34 E. Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester. 1925, Den Haag: Nijhoff 1968 (Hua IX), 95. 35 Ebd. 124. 36 Ebd., 60. 37 Vgl. J.-L. Marion, De Surcroît, 89. 38 Vgl. Étant donné, 298, Fussnote 1 (dt., 361, Fußn.).

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

graph 22. von Étant donné ist gerade die Ouvertüre von Mozarts letzter Sinfonie Nummer 41; diese Jupiter-Sinfonie wird aber nicht als Melodie, sondern gerade als Ereignis des Hörens oder als Überfall des Tons wahrgenommen 39. Das heißt, dass, auch wenn die Melodie als Kontinuität gegeben oder jedenfalls rekonstituierbar ist, das überraschende Ereignis ihrer Entstehung ein Bruch meiner Erfahrung bleibt. Dementsprechend ist es gewiss, dass Gegen-erfahrung dem Ideal der Einstimmigkeit nicht mehr untergeordnet ist, und dass sie Unstimmigkeit nicht als korrigierbaren und überwindbaren Vorfall ansieht. Was Husserl als Ausnahme ausgrenzt, wird durch die Phänomenologie der Sättigung von der Anomalität zur Normalität 40 geführt – und zwar bis zur Banalität 41. Gegen-Erfahrung ist die paradoxe Erfahrung, die sich die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung – nämlich, einheitliche Synthese und Einstimmigkeit – erspart; damit wird sie aber nicht unbedingt unmögliche Erfahrung, sondern vielmehr »Erfahrung von Unmöglichem« 42 – und Überraschung ist vielleicht genau eine solche Unmöglichkeit der bedingten, einstimmigen Erfahrung. Dieses Unmögliche ist aber vielmehr ein im-possibile, wortwörtlich: das, was ich nicht mehr kann (und auch, um das Können als Griff zu fassen, Siehe ebd., 301–302: »l’ouverture d’une symphonie – par exemple la ›Jupiter‹ – m’atteint de telle sorte qu’avant même de reconstituer la ligne mélodique [ich unterstreiche, C. S.] ou de prendre la mesure du tissu orchestral (donc de constituer deux objets à partir de deux donnés), je prends d’emblée dans l’oreille d’abord le mouvement (non objectivable, parce que donnant) de la masse sonore qui advient sur moi et qui me submerge [ich unterstreiche, C. S.], puis mon retard même sur le déploiement de cette venue.« (Vgl. dt. Übers., 365) Dazu siehe S. van Maas, »On Prefering Mozart«, in: Bijdfragen. International Journal in Philosophy and Theology 65 (2004). 40 Siehe dafür die leicht verschiedene Behauptung von Étant donné, 316: »Ce que la métaphysique écarte comme une exception (le paradoxe saturé), la phénoménologie le prend ici pour sa norme – tout phénomène se montre à la mesure (ou à la démesure) où il se donne« [dt. Übers., 381: »Was die Metaphysik also als eine Ausnahme beiseite legt (gesättigte Phänomene), das nimmt die Phänomenologie hier zu ihrer Norm. Jedes Phänomen zeig sich nach dem Maß (oder Übermaß), wie es sich gibt.«]. 41 Siehe »La banalité de la saturation«, in: Le visible et le révélé, 143–182 (deutsche Übersetzung, »Die Banalität der Sättigung«, in: T. N. Klass, L. Tengelyi, H.-D. Gondek (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse, München: Fink 2011). Eine besonders suggestive Beschreibung dieser Banalität finden wir in De surcroît, 37 f. (für die »Salle des Actes«), wo ausdrücklich von surprise mehrmals die Rede ist. 42 Vgl. Étant donné, 300 (dt., 363). Siehe auch Certitudes négatives, 108 : »Sous le titre négatif de l’impossible se dessine en fait un résidu de l’excès du possible«. Das Unmögliche selbst ist also eine Figur des Überschusses, wie es die Rede vom Überunmöglichsten bei Angelus Silesius schon suggeriert. 39

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ein Unbegreifliches: das, was ich nicht mehr be-greifen – com-prendre – kann). Das Unmögliche ist also die Grenze meines »Ich kann«, und diese Grenze ziehe ich nicht selbst: Ich finde sie vor, in meiner Erfahrung, an der Stelle wo sie sich in Gegen-Erfahrung wandelt, wo ich »wesentlich überrascht bin von dem ursprünglicheren Ereignis, das mich meinem Griff entzieht« (essentiellement surpris par l’événement plus originel qui [m]e déprend de [m]oi) 43, wo ich ausrufen mag: »es ist unmöglich – und doch geschieht es mir.« Die Grenze der Möglichkeit (oder vielmehr, der Vermöglichkeit, um einen wichtigen Terminus von Husserl anzuwenden) ist also die Grenze dessen, was ich greifen und be-greifen kann. Außerhalb dieser Grenze weitet sich das Land des Über-griffs, das auch: sur-prise heißt. Und von sich selbst »ent-griffen« sein heißt genau: vom Subjekt zum adonné werden.

5.

Schlussbemerkungen

Ich komme jetzt zu meinem Schluss. Meine Zielvorgabe war eine mehrfache: Ich habe zunächst versucht, die Aporien eines Verständnisses der Überraschung durch Erfüllung und Nicht-Erfüllung, und zwar als Enttäuschung einer Erwartung, mithilfe des Gedankens der Sättigung zu überwinden. Was meine Intention und meine Erwartung nicht erfüllt, das ist nicht nur das, was mich enttäuscht, sondern auch das, was mich überrascht. Der Begriff der Sättigung erlaubt es damit, eine positive Bestimmung der Überraschung zu gewinnen 44, die nicht mehr als Ausnahme oder als Störung auszugrenzen ist. Aber das war für mich nur ein vorläufiges Etappen-Ziel, um ferner zu zeigen, wie Überraschung als eine ausgezeichnete Figur oder Hypostase der Sättigung sich bewähren könnte. Es hat sich so gezeigt, dass der Überschuss (excédent oder surcroît), welcher Sättigung ausmacht, als Überraschung bestimmt werden kann, und damit nicht nur J.-L. Marion, Étant donné, 303 (vgl. dt. Übers., 366) und Le visible et le révélé, 70. Der umgekehrte Versuch, Sättigung mit Enttäuschung in Einklang zu bringen, wurde von Ruud Welten unternommen. Siehe »Saturation und Disappointment«, in: Bijdfragen. International Journal in Philosophy and Theology 65 (2004). JeanLuc Marion diskutiert diesen Vorschlag und gibt seine Richtigkeit zu in Le visible et le révélé. Siehe z. B. Le visible et le révélé, 173: »l’éblouissement lui-même peut se décliner en une déception«, und 177: »déception de l’intentionnalité par le phénomène saturé.«

43 44

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Überraschung als Sättigung und Sättigung als Überraschung

die Art ihres Geschehens präzisiert wird, sondern auch ihre eigene Zeitlichkeit, und zwar ihre Wirkung oder die Weise, in der sie empfangen und erlitten wird. Hier erwies sich die doppelte und komparative Auslegung von Überraschung und surprise (also, Überraschung als Übergriff) als besonders bedeutend. Es ist aber möglich, noch weiter zu gehen, um Überraschung nicht nur als ein Merkmal der Sättigung, sondern als ihr wesentlichstes Merkmal anzuerkennen – adäquater noch als das Ereignis selbst 45, um die Banalität der Sättigung 46 trotz und bei der Gegen-erfahrung zu beachten. Besser vielleicht als das Ereignis stellt die Überraschung die Einheit des Phänomens als gegebenes und als gesättigtes dar, und zugleich die Zu(sammen)gehörigkeit der Sättigung und des Hingegebenen, welcher sie durch Gegen-Erfahrung empfängt und erlebt. Vielleicht entscheidet die Möglichkeit des Überraschtwerdens (die es, wie wir gesehen haben, für das Heidegger’sche Dasein niemals gibt) über den Unterschied zwischen dem (metaphysischen oder transzendentalen) Subjekt und dem Hingegebenen. Aber den doppelten Widerspruch der Erfahrung und des Subjekts vollzieht die Überraschung nur als Überschuss: Sie zeigt also, dass hier die Negation streng unter der Logik des Überschusses steht. Der Überschuss der Erfahrung als Überfall der Sättigung ist das, was im Licht der Überraschung mit großer Klarheit erscheint. Was also zuerst als ein unbedeutendes Thema sich darstellte, hat uns vielleicht eine weitreichende Folge eröffnet. Diese Folge hatte ich zunächst nur als Hypothese formuliert: Das Phänomen als Gegebenes ist Überraschung durch Sättigung. Als eine letzte Anwendung meines Ergebnisses möchte ich den Unterschied zwischen Gegenstand und Ereignis, auf den die Thematisierung des gesättigten Phänomens hinausläuft 47, etwas spielerisch umschreiben als Unterschied zwischen dem, was sich ohne Überraschung gibt, und dem, was sich mit Überraschung gibt.

Siehe noch die Ergebnisse von Certitudes négatives: »un phénomène se montre d’autant plus saturé, qu’il se donne avec plus d’événementialité.« (J.-L. Marion, Certitudes négatives, 301, Fussnote 1). 46 Siehe J.-L. Marion Le visible et le révélé, 155 : »La banalité du phénomène saturé suggère, bien différemment, que la plupart des phénomènes, sinon tous, peuvent donner lieu à saturation par l’excès en eux de l’intuition sur le concept ou la signification«. 47 Siehe J.-L. Marion, Certitudes négatives, 269 f. 45

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Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe Die »Logik der Liebe« nach Jean-Luc Marion Alwin Letzkus

Jean-Luc Marions frühes Hauptwerk Gott ohne Sein 1 aus dem Jahre 1982 stellte den Versuch dar, Gott nicht mehr länger im Horizont der Metaphysik und des Seins zu denken, sondern ausgehend davon, wie er sich selbst im Neuen Testament offenbart hat – als die Liebe. Entsprechend sah sich Marion als Philosoph vor die gewaltige Aufgabe gestellt, die Liebe »begrifflich so zu bearbeiten (und folglich auch den Begriff durch die Liebe), dass sie ihre ganze spekulative Kraft entfalten kann.« 2 Der Weg, Gott aus dem Sein und damit von jeder Idolatrie zu befreien, sollte daher über eine »Logik der Liebe« 3 führen – ein Projekt, das allerdings in Gott ohne Sein noch recht skizzenhaft und fragmentarisch geblieben ist und erst 20 Jahre später in Das Erotische. Ein Phänomen 4 zu seiner Vollendung gebracht wurde. 5 Im folgenden Beitrag soll es daher zum einen darum gehen, die in diesem Werk 1 J.-L. Marion, Gott ohne Sein, übers. a. d. Französischen von A. Letzkus, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von K. Ruhstorfer, Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014 (frz. Dieu sans l’être, Paris: Fayard 1982). 2 Ebd., 83. 3 Ebd., 274, 284, 287, 294 ff. 4 J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, übers. a. d. Französischen von A. Letzkus, Freiburg i. Br.: Alber 2011, 22013 (Le phénomène érotique, Paris: Grasset & Fasquelle 2003). 5 Dass sich das Thema der Liebe schon früh zu einem Schlüsselthema in Marions Philosophie herauskristallisierte, zeigt – abgesehen von Gott ohne Sein und Das Erotische – auch der Blick auf einige weitere seiner Publikationen: J.-L. Marion, L’idole et la distance, Paris: Grasset 1977, bes. §§ 17–19; ders., Prolégomènes à la charité, Paris: Éditions de la Différence 1986; ders., Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, PUF 1997, §§ 7, 9, 17, 21, 27 u. ö. (dt. Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. a. d. Französischen von Th. Alferi, Freiburg i. Breisgau: Alber). Vgl. insgesamt dazu auch T. Specker, Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, Frankfurt am Main: Verlag Josef Knecht 2002 (Frankfurter Theologische Studien, Bd. 64), bes. 285 ff. sowie K. Wolf, Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart: W. Kohlhammer 2006, bes. 135 ff.

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Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe

entfaltete »Logik der Liebe« – die man durchaus auch als eine »Phänomeno-Logik der Liebe« bezeichnen könnte, da sie streng an dem ausgerichtet bleibt, was in der Vielfalt der erotischen Phänomene zur Erscheinung kommt – zu rekonstruieren, zum anderen soll aber auch die innere Einheit und Zusammengehörigkeit dieser beiden Werke deutlich gemacht werden, stellt das letztere doch die Voraussetzung und damit zugleich auch den Schlüssel dafür dar, um das erstere überhaupt in seiner ganzen Tiefe und Reichweite durchdringen zu können.

1.

Das (Ver-)Schweigen der Liebe in der Philosophie

Wenn Descartes in der dritten seiner Meditationen über die Grundlagen der Philosophie das Ego des Menschen als das bestimmt, »was denkt und folglich zweifelt, bejaht, verneint, wenig versteht, vieles nicht weiß, das will, nicht will, Einbildungen und Empfindungen hat« 6, und dabei aber vergisst oder es gar nicht für notwendig hält, zu betonen, dass es auch oder vielleicht sogar vor allem liebt und hasst, dann steht er für Marion damit beispielhaft für die breite Tradition der Philosophie, die über die Liebe zumeist geschwiegen, sie zu einer bloßen Leidenschaft oder »Passion« erniedrigt oder gar als etwas völlig Irrationales verächtlich gemacht hat. Marion weist dieses Verdikt über die Liebe schon allein deshalb zurück, weil ja auch die Philosophie selbst als »Liebe zur Weisheit« (philo-sophia) »tatsächlich mit dem Lieben beginnen muss, bevor sie behaupten kann, zu wissen« (12) 7. Um einen Begriff von der Liebe zu gewinnen, gelte es daher vor allem, sich zunächst wieder in aller Unvoreingenommenheit dem Phänomen der Liebe selbst zuzuwenden, so wie es sich von sich selbst her zu sehen gibt, und zwar in all seinen Facetten. Dies aber müsse dann bedeuten, alle die in der Philosophie über sie herrschenden Vorurteile und damit auch die von ihr bereits getroffenen Vorentscheidungen einzuklammern: also dass etwa die erotische Liebe und die Nächstenliebe (Eros und Agape) in aller Selbstverständ-

R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, auf Grund der Ausgabe von A. Buchenau neu hrsg. von L. Gäbe, Hamburg: Meiner 1960, 30 (A. T. VII, 34). 7 Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seitenzahlen von Das Erotische. Ein Phänomen. 6

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lichkeit einander entgegengesetzt werden; dass die Liebe als irrational abgetan wird, ohne sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht einer »größeren Vernunft« (16) gehorchen könnte; dass sie ganz »ins Belieben des ›Subjekts‹« gestellt oder in den »Horizont des Seins« gesperrt wird (16 f.). Ausgehend von so unterschiedlichen erotischen Phänomenen wie Begehren, Schwur, Hingabe, Lust, Eifersucht, Lüge, Tod und anknüpfend an Descartes’ metaphysische Meditationen, die er durch »erotische Meditationen« (20) ersetzt, will Marion die Liebe nicht nur als den verborgensten Kontinent eines jeden Menschen zum Vorschein bringen, sondern er will damit zugleich auch deutlich machen, dass sie sich auf dieselbe logische Weise zur Entfaltung bringen lässt wie die strengsten Begriffe.

2.

Das Sein unter der schwarzen Sonne der Nichtigkeit

Nichts scheint den Menschen mehr auszuzeichnen als das Streben nach Wissen, hinter dem sich aber letztlich ein Streben nach sich selbst verbirgt, da der Akt des Wissens einen höchsten Genuss bzw. Selbstgenuss garantiert. Zur Gewissheit gelangt allerdings nur das, was sich auf Beständigkeit zurückführen lässt, das Objektivierbare. Doch die Grenze zwischen dem, was objektivierbar und nicht objektivierbar ist, wird durch das Ego bestimmt, sodass es also im Erkennen des Objekts letztlich weniger um dieses selbst als vielmehr um das Ego geht, das es als ein solches beglaubigt bzw. »zertifiziert« (27). Gewisser als die sichere Erkenntnis des Objekts scheint daher also die Selbstgewissheit des Ego zu sein (»Ego cogito, ergo sum«). Wie aber ist es um diese Gewissheit letztlich bestellt? Die Gewissheiten, die uns durch das metaphysische Denken geliefert oder in Aussicht gestellt werden, betreffen mich meist nicht wirklich, weil sie nichts darüber sagen, was mich tatsächlich angeht, mir zu Herzen geht und mich in meiner unhintergehbaren »Ipseität« (61 ff.) ausmacht, und damit die eigentlichen Fragen nach meiner Geschichte, Identität, Bestimmung, nach Geburt, Tod und Leben letztlich gar nicht berühren. Diese Gewissheiten nämlich beziehen sich vornehmlich auf Objekte, die umso reicher an Gewissheit sind, je ärmlicher ihre unmittelbare Anschauung ist (z. B. Objekte der Mathematik und der Logik). Doch sobald diese Gewissheiten einmal dem radikalen Angriff der Nichtigkeit, also der Frage »Wozu das alles?« (»A quoi bon?«) ausgesetzt werden, fallen sie schnell in sich zusammen. Nichts vermag dem Ver234 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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dacht, dass alles nichtig sein könnte, standzuhalten, denn dieser kann jede Evidenz infizieren und zunichtemachen, jede Gewissheit und jeden sicheren Halt. Um gegen diesen drohenden Angriff der Nichtigkeit gewappnet zu sein, bedarf es also sehr viel mehr als einer Gewissheit, an deren Ursprung immer nur wieder das Ego selbst steht, nämlich einer Sicherheit bzw. Zusicherung (assurance), die mich in meiner zufälligen Existenz und Evidenz abzusichern und gegen den Verdacht der Vergeblichkeit von allem zu immunisieren vermag (41). Diese Sicherheit gewinne ich nicht aus einer Seins- bzw. Selbstgewissheit, sondern allein aus der Antwort auf die Frage »Werde ich geliebt?« (37). Dass allein die Liebe oder zumindest ihre Möglichkeit in der Lage wäre, dem Angriff der Nichtigkeit standzuhalten, soll anhand einer Phänomenologie der Liebe aufgezeigt werden, die dabei allerdings sowohl über eine epistemische Reduktion (39) – die von einer Sache nur das zurückbehält, was in ihr beständig und folglich wiederholbar ist – als auch über eine ontologische Reduktion (ebd.) – die von einer Sache nur ihren Status als Seiendes zurückbehält, um dieses dann auf das Sein zurückzuführen – hinausgehen und eine dritte, sogenannte erotische Reduktion (36 ff.) versuchen muss, in der die Frage nach der Selbstgewissheit, auch über das eigene Sein, weitergeführt wird zu einem Verlangen nach Sicherheit darüber, dass diese Selbstgewissheit letztlich nicht ohne Sinn bleiben wird. »Der Nichtigkeit standzuhalten und also von anderswoher die Rechtfertigung für das Sein zu erhalten, dies bedeutet, dass ich nicht bin, insofern ich seiend bin (und sei es durch mich selbst, und sei es als bevorzugtes Seiendes), sondern insofern ich geliebt (also von anderswoher erwählt) werde.« (42) Dabei spielt es zunächst noch keine Rolle, ob sich dieses Anderswo bzw. Anderswoher als ein Neutrum (das Leben, die Natur, die Welt), als etwas Allgemeines (eine Gruppe oder Gesellschaft) oder gar als ein ganz bestimmter anderer (Mann oder Frau, das Göttliche oder Gott) zu erkennen gibt. Ja, im Gegenteil, gerade dadurch, dass es anonym bleibt und ich es weder voraussehen noch vorwegnehmen kann, ist dieses Anderswo erst in der Lage, mich »mitten ins Herz zu treffen« (42) und damit für mich zu einem Ereignis in einem radikalen Sinne zu werden. In einem ersten Schritt lässt sich also sagen, dass dieses Anderswo mir dadurch Sicherheit verleiht, dass es auf mich zukommt und mit meinem Autismus dadurch bricht, dass es mich ihm aussetzt und also das, was ich bin, in ursprünglicher Weise als das bestimmt, für den oder für das ich bin. »Sein bedeutet von nun an für mich, entsprechend der Ankunft des 235 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Anderswo zu sein, dem gegenüber und für das zu sein, was ich nicht bin – was immer dies sein mag. Ich bin nicht mehr, weil ich es will (oder es denke oder in einem performativen Akt vollziehe), sondern durch das, was man mir von anderswoher will.« (43) Sollte sich also tatsächlich eine positive Antwort auf die Frage »Werde ich geliebt?« abzeichnen, dann wird sich diese immer in die Abhängigkeit des Ego von einem Außen einschreiben müssen, ohne dass sie dadurch die Autonomie der Gewissheit jemals mittels der cogitatio wiederherstellen könnte. Dies mag auf den ersten Blick einer »Absetzung des Ego« (47) gleichkommen, was aber weniger einen Verlust als vielmehr, wie sich noch zeigen wird, einen Gewinn bedeutet. In der erotischen Reduktion und also dort, wo es um die Liebe und den Liebenden geht, verliert die Frage »Was ist das Seiende (in seinem Sein)?« ihre Vorrangstellung und erfährt sich bedingt und abgeleitet von der viel ursprünglicheren Frage danach, ob ich von anderswoher geliebt werde. Offen geblieben ist aber noch, worin sich diese erotische Reduktion von anderen Reduktionen und von der natürlichen Einstellung unterscheidet. Die Frage, die sich stellt, lautet daher: »Wie setzt sie die Dinge der Welt neu in Szene?« (49)

3.

Von der Unmöglichkeit, sich selbst zu lieben

Während die Suche nach Gewissheit zumindest noch die trügerische Hoffnung nähren konnte, mich zu mir selbst zurückzubringen, treibt mich das Verlangen nach Sicherheit nun unweigerlich aus mir hinaus. Denn selbst wenn es dieser Sicherheit gelingen könnte, mich angesichts der drohenden Nichtigkeit von allem zu beruhigen, indem sie mir versichern würde, dass »man« mich liebt, dann würde sie mich dadurch nur umso mehr an dieses »man« (was immer es auch sei) verweisen, das ich selbst zwar niemals sein werde, das mir aber in seiner Fremdheit gleichwohl vertrauter wäre als ich mir selbst. Wir finden uns also in der paradoxen Situation wieder, dass genau das, was mir Sicherheit geben könnte, mich zugleich mir selbst entfremden müsste – denn ich weiß mich meiner selbst nur ausgehend von einem Anderswo versichert. Dies mag zwar als ein Widerspruch erscheinen, und »dennoch müssen wir uns an ihm festhalten als dem einzigen Leitfaden, der uns noch bleibt« (68). Der einzige Leitfaden auch deshalb, weil sich der Weg der Selbstliebe – der sich ja durchaus als der naheliegendste und direkteste Weg aufdrängt, sich dieses Anderswo 236 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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zu versichern – als eine Aporie herausstellen wird. Denn was würde es bedeuten »Ich liebe mich selbst« zu sagen, um mich dadurch von einem Anderswoher abzusichern? Das Ich müsste sich selbst verdoppeln und zugleich dasselbe bleiben. In der »Ordnung der Erkenntnis« (72) mag dies zwar ohne Widerspruch zu denken möglich sein, insofern darin nicht nur zwischen einem transzendentalen und empirischen Ich unterschieden werden kann, sondern ich in ihr zudem und zugleich in die Rolle des einen wie des anderen schlüpfen kann. In der Reflexion auf mich selbst könnte ich mich also tatsächlich für einen Moment als einen anderen, ja sogar als ein anderes Objekt denken, aber dies nur, um mich dann im nächsten Moment schon wieder als identisch mit diesem Gedanken zu erfassen. Die vom Ich hervorgebrachte Distanz zu sich selbst wäre damit also sogleich wieder aufgehoben. Im Unterschied zum Denken verlangt das Lieben aber nach einem Anderswo und einer Distanz, die nicht nur vorläufig, sondern bleibend, nicht nur vorgetäuscht, sondern real ist – um mir in meinem Verlangen nach Sicherheit überhaupt einen Halt geben zu können. »Ohne die Distanz dieses Anderswo wird man mich niemals lieben. Ich kann mich also nicht selbst lieben – es sei denn, ich lasse mich durch die verrückte Illusion irreleiten, mich selbst als mein eigenes Anderswo vorzustellen.« (75) Als direkte Konsequenz dieser sowohl logischen als auch tatsächlichen Unmöglichkeit einer Selbstliebe drängt sich daher innerhalb der erotischen Reduktion die »Hypothese vom Hass auf sich selbst als Grundstimmung des Ego auf« (85). Denn schon das Verlangen oder die Forderung nach Selbstliebe verrät bereits mein sehr klares Bewusstsein davon, dass ich diese Selbstliebe gar nicht besitze, ja sie aufgrund meiner Endlichkeit und Schwäche überhaupt gar nicht verdiene. Das Erkennen meiner selbst geht nicht nur nicht mit der Selbstliebe einher, sondern verbietet diese geradezu. Aber damit nicht genug: Dieser Hass auf sich selbst führt zu einem »Hass aller auf alle und eines jeden auf sich selbst« (97). Dieser entsteht aus einem Bedürfnis nach Rache, das sich am Neid gegenüber all den »glücklichen Einfaltspinseln« (91) entzünden kann, die gar nicht merken, dass ihre Selbstliebe nur geheuchelt ist. Mein eigener Hass auf mich selbst verlangt daher nach Gerechtigkeit: Denn die Illusion, sich selbst lieben zu können, von der ich mich nur unter größten Mühen befreien kann, hat kein Recht, nun in der Person eines anderen ihren Triumph zu feiern. Und dies aus einem einfachen Grund: »Der andere ist nicht besser und nicht mehr wert als ich« (92). Hier also betritt nun der andere zum ersten Mal die Bühne der erotischen 237 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Reduktion, allerdings in der Gestalt desjenigen, den ich hasse. Und dennoch stellt er sich mir als »das erste mögliche Gesicht des Anderswo« (93) dar, das ich zwar immer gesucht, zu dem ich aber bislang nie einen Weg gefunden habe. Doch wie sollte derjenige, den ich hasse, nicht seinerseits wiederum auch mich hassen, sodass also am Ende der anfängliche Hass auf sich selbst zum Hass aller auf alle führt. Als Fazit lässt sich daher festhalten: Die unmögliche, weil widersprüchliche Selbstliebe mündet schließlich in einen ersten Zugang zum anderen, in dem dieser allerdings nicht als derjenige erfahren wird, der mich liebt, sondern als derjenige, der mich hasst. Das Verlangen und die Forderung eines jeden nach Selbstliebe bringt am Ende also nur »den Hass aller auf alle und eines jeden auf sich selbst« (101) hervor.

4.

Das durchkreuzte erotische Phänomen

Die Liebe, wie sie bislang in den Blick gekommen ist, erscheint immer nur als ein Mangel. Das Ego lässt sich auf das Abenteuer der Liebe nur deshalb ein, weil es auf eine Sicherheit hofft, auf den Ausgleich eines Mangels, nach dem Prinzip: Erst dann, wenn ich geliebt werde, liebe ich auch. Dies aber ist ein sehr eingeschränkter und verengter Blick auf die Liebe, in dem diese gar nie wirklich ins Spiel kommen kann, weil sie dem »Gesetz der Reziprozität« (107) unterstellt bleibt: »Ich werde nur im Gegenzug lieben, nur im Nachhinein, wenn man mich zuerst liebt, und gerade nur so viel, wie man mich liebt.« (106) Auf dem bisher beschriebenen Weg der erotischen Reduktion meinte Lieben in erster Linie also Geliebt-sein und verwies damit letztlich wieder auf das Sein als erste und letzte Instanz. Die Rolle der Liebe wurde darauf beschränkt, dieses Sein abzusichern gegen die Nichtigkeit. Die Liebe wird sich aber erst dann frei entfalten können, wenn sie nicht schon von Anfang an in den Dienst des Seins, der Reziprozität und also eines Sicherheitsdenkens gestellt wird, das sich bereits der Liebe des anderen versichert weiß. Das Lieben wird sich nur dort als ein solches bezeugen können, wo es sich in einer Weise und in einem Maße aussetzt und hingibt, dass es dabei auch Gefahr laufen kann, sich selbst zu verlieren. Die bislang vorgenommene erotische Reduktion, die ausging von der Frage »Werde ich von anderswoher geliebt?« muss daher radikalisiert werden auf die Frage: »Kann ich selbst als Erster lieben?« (110) 238 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Welche Sicherheit kann dieses Ich, das ja gewissermaßen nun den ersten Schritt auf den anderen zu macht, dann aber noch für sich erhoffen? Nicht die Sicherheit zu sein (und in seinem Sein zu verharren), noch die Sicherheit, geliebt zu werden, sondern allein die Sicherheit zu lieben, und zwar als Erster. »Diese Sicherheit nimmt mir umso mehr den Verdacht, dass alles nichtig ist, als sie mich nicht nur von meiner Unruhe über ein Sein befreit, das es durch Beharrlichkeit zu erhalten gilt, sondern mich vor allem auf mich selbst zurückführt, auf meine äußerste Ipseität.« (114) Diese Ipseität, d. h. dieses Sich und ureigenste Selbst in der eigenen Person, erreiche ich zuallererst dadurch, dass meine Sicherheit nun nicht mehr von einem unbestimmten und anonymen Anderswo abhängig ist, sondern aus einer Entscheidung erwächst, und zwar meiner Entscheidung, die zwar »nie gänzlich frei«, aber dennoch auch nie »ohne meine Zustimmung« (114 f.) erfolgt. Von daher also vollzieht die vorgenommene radikalisierte erotische Reduktion nun die Reduktion bis in mein Eigenstes und Innerstes hinein, denn sie führt mich auf das zurück, was ich als das Meinige im eigentlichen Sinne auf mich nehmen kann und muss. Und wenn der Liebende sich nun dazu entscheidet, ohne die Sicherheit auf eine Gegenleistung zu lieben, so handelt er nicht nur dem Prinzip der Reziprozität zuwider, sondern er verstößt damit auch gegen das Prinzip des zureichenden Grundes. Dass aber der Liebende keinen belegbaren Grund für seine Liebe angeben kann, hat allerdings nichts mit Unvernunft oder mangelndem Urteilsvermögen zu tun, sondern liegt in der »Ohnmacht der Vernunft selbst« (119), Rechenschaft darüber ablegen zu können, worin die Liebe ihren Anfang nimmt. »Der Liebende hat keinen anderen Grund, den zu lieben, den er liebt, als genau den, den er liebt, und der Liebende macht ihn, und zwar ihn als solchen, sichtbar dadurch, dass er ihn als Erster liebt.« (123) Die Liebe wird daher zu ihrem eigenen zureichenden Grund. Eine Schwierigkeit allerdings tut sich in dieser radikalisierten erotischen Reduktion auf, in der anscheinend nur der Liebende in seiner eigenen Initiative übrig bleibt. Denn woher weiß dieser dann nämlich, dass er auch wahrhaftig liebt und in seiner Liebe auch tatsächlich den anderen und nicht nur die Liebe zur Liebe meint? Denn die Verliebtheit in die Liebe führt zwar zu einem immer neuen Verlieben (wie im Falle des Don Juan), bleibt aber so lange ohne Bedeutung, wie ihr der bestimmte andere fehlt. Der andere muss daher ausgehend von sich selbst und als solcher in Erscheinung treten, um aus dem Bereich meiner bloßen Vorstellung herauszutreten, und er tut 239 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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dies dadurch, dass er sich mir in einer gegenüber der Welt der Dinge und Objekte ganz neuen Bedeutung oder Bedeutsamkeit offenbart, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich als das gibt, »was sich [zugleich auch] nicht geben kann« (152). 8 Ich kann sie daher nur empfangen, weil sie sich offensichtlich geben will und weil sie vom Grund eines Anderswo herrührt, das der Liebende in »keinster Weise hervorbringen und auch nicht hervorrufen, ja nicht einmal erflehen kann« (ebd.). Daher konstituiert sich das »Phänomen der Liebe« (phénomène amoureux) auch nicht »ausgehend vom Pol des Ego, das ich bin; es taucht von sich selbst her auf, indem es in sich den Liebenden (mich, der ich auf den Status eines autarken Ego verzichte und meine Anschauung mitbringe) und den anderen (denjenigen, der seine Bedeutung aufzwingt, indem er einen Abstand wahrt) miteinander (über)kreuzt.« (152 f.) Das erotische Phänomen wird also immer nur als ein »durchkreuztes Phänomen« (phénomène croisé) (153) zur Erscheinung kommen, insofern zu meiner Anschauung die vom anderen herkommende Bedeutung hinzukommen muss. Wie aber gibt sich diese Bedeutung (zu sehen)? »Der Andere kann seine Bedeutung von sich aus nur geben, indem er mir bedeutet, in Worten oder schweigend: ›Hier sieh mich, mich, deine Bedeutung‹ !« (ebd.) Dieses Geben wird für mich selbst allerdings erst dann von Bedeutung werden bzw. sich mir als Bedeutung aufdrängen, wenn es sich nicht nur für diesen Augenblick, sondern für jeden zukünftigen Augenblick zusagt. »Die Bedeutung, die allein es meiner Anschauung ermöglicht, das Phänomen des anderen für mich zur Erscheinung kommen zu lassen, taucht auf wie ein Schwur – oder sie wird auf immer ausbleiben.« (154) Das erotische Phänomen unterscheidet sich folglich von all den anderen Phänomenen in der Welt, weil es nicht mehr zwischen einem Ego und der Welt, sondern »zwischen zwei Ego außerhalb der Welt« (154) zur Erscheinung kommt. Lässt sich dann aber überhaupt noch von einem gemeinsamen Phänomen sprechen oder müsste man hier nicht eher von zwei unterschiedlichen Phänomenen sprechen, da doch jedes der beiden Ego seine eigene Anschauung vom anderen mitbringt? Weder das eine noch das andere ist zutreffend. Denn was sich hier zu sehen gibt, ist weder ein identisches Phänomen, das aus der Verschmelzung zweier ursprünglicher und Und zwar deshalb »sich [zugleich auch] nicht geben kann«, weil sie dies zum einen nicht muss, zum anderen aber auch gar nicht in der Lage ist, als Gabe in und durch sich selbst im Sein zur Erscheinung zu kommen.

8

240 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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einander entgegengesetzter Anschauungen hervorgegangen ist, noch sind es zwei verschiedene Phänomene, bei denen – wie bei anderen Phänomenen in der Welt – die unterschiedlichen Anschauungen nur die ihnen vorausliegenden und bereits intentional erfassten Bedeutungen zu ihrer Erfüllung bringen, sondern es handelt sich dabei vielmehr um ein »durchkreuztes Phänomen, das zwei Zugänge hat – zwei Anschauungen, die von ein und derselben Bedeutung fixiert werden.« (155) Das »Hier sieh mich!«, in dem sich die Liebenden gegenseitig ihrer einzigartigen Bedeutung versichern, ist folglich das, was sie miteinander verbindet und zugleich in einer bleibenden Distanz zueinander – aber auch zu sich selbst – hält.

5.

Die erotische Reduktion als radikalisierte Leibwerdung

Dass die Bedeutung des »Hier, sieh mich!« nicht rein abstrakt und formal bleibt, lässt sich an dem »tief greifenden Prozess der Individuierung« (158 f.) aufzeigen, dem die Liebenden ausgesetzt sind, sofern sie sich tatsächlich auch auf das Abenteuer der Liebe einlassen. Am Anfang dieses Prozesses oder dieses Abenteuers – und damit auch der allmählichen Verwandlung des transzendentalen und universalen Ego in ein liebendes Ich – steht das »Begehren«, das aus dem »reinen Mangel des anderen hervorgeht« und mich als Liebenden dadurch in meiner Singularität erkennen lässt, dass es mich »an mich selbst kettet, indem es meinen Blick an jenen bestimmten anderen heftet« (160). Und mit diesem Begehren erwacht zugleich auch schon »das Verlangen nach Ewigkeit« (161), ein weiterer Schritt hin zu meiner Individuierung, der nicht nur daraus resultiert, dass ich als Liebender, und sei es auch nur für einen Moment, die Überzeugung haben muss, dass es zumindest »dieses Mal wirklich ernst und für immer sein wird«, sondern auch, weil ein Lieben auf Zeit und auf Widerruf nichts anderes bedeuten würde, als überhaupt nicht zu lieben (ebd.). Der entscheidende Schritt hin zu meiner Individuierung geschieht nun aber dort, wo ich mich in der Begegnung mit dem anderen als eine »Passivität« (162) erfahre, die umso größer wird, je mehr ich mich ihm nähere. Dass es sich bei dieser Passivität um eine ganz eigene und von der Passivität im herkömmlichen Sinne (die als Abwesenheit oder Kehrseite von Aktivität verstanden wird) zu unterscheidende Passivität handelt, hat vor allem mit meinem Leib zu tun, den ich nicht habe wie meinen Körper, sondern der ich tatsächlich bin. Denn 241 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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anders als die leblosen Körper in der Welt, die nur durch ihre Kräfte blind aufeinander einwirken können, zeichnet sich mein Leib dadurch aus, dass er das, was anders ist als er selbst, auch wahrnehmen und spüren kann, und er kann dies nur deshalb, weil er zuvor bereits sich selbst wahrnimmt und spürt. »Je mehr mein Leib spürt, also sich selbst empfindet, je mehr öffnet sich die Welt. Das Innen des Leibes bedingt das Außen der Welt und steht also keineswegs in einem Gegensatz zu ihm, da nur die Auto-Affektion die Hetero-Affektion ermöglicht, und diese in gleichem Maße wie jene zunimmt.« (168) Die Welt, die sich mir durch meinen Leib auftut, zeigt sich mir nun aber keineswegs als eine offene, denn sobald ich in sie eintrete, erfahre ich mich bereits von lauter Dingen – physischen Körpern – umgeben, die sich mir in ihrer Undurchdringlichkeit widersetzen und mich dadurch wie zwischen »Wänden und Mauern« einsperren und festsetzen. »Mein Leib lässt mich von daher erfahren, dass ich die Welt nicht umfasse, sondern dass ich in ihr eingefasst bin: Ich bin, gemäß dem Sein, genau genommen, insofern ich (ein)begriffen/gefasst (compris) bin.« (173). Ein Ausweg aus diesem engen Horizont des Seins (der Welt) tut sich nun allerdings dort auf, wo mein Leib mit dem Leib des anderen in Berührung kommt, von ihm erotisiert wird und dabei die Erfahrung macht, dass dieser keinen Widerstand bietet, sondern sich im Gegenteil zurücknimmt, um meinem Leib den notwendigen Platz dafür zu schaffen, sich auszudehnen und größer zu werden: »Da die Welt keinen Platz macht, muss ihn ein anderer Leib mir machen – indem er sich für mich zurücknimmt, mich in ihn kommen lässt, mich in ihn eindringen lässt. Ich spüre mit einem Schlag, einem einzigen, dass er mir nicht widerstehen kann, mir nicht widerstehen will, dass er mich an seinem Platz aufnimmt, ohne mich dort einzuschließen, dass der mich seinen Platz einnehmen lässt – mich an seinen Platz stellt –, indem er sich überwältigen lässt, ohne sich zu wehren.« (174) Doch so, wie sich mein Leib entsprechend des Nicht-Widerstandes des anderen, also seiner Passivität, vergrößert – und Erotisierung meint nichts anderes als das Hervorbrechen des Leibes aus dem Körper –, so vergrößert sich auch der Leib des anderen durch meinen Nicht-Widerstand und meine Passivität: »Jeder Leib empfängt den anderen (zieht sich zurück, ohne sich zu widersetzen) umso mehr, als er sich selbst empfängt (vorstößt, ohne auf Widerstand zu stoßen).« (191) Daraus folgt dann aber auch umgekehrt, dass das Größerwerden des eigenen Leibes nichts mit einer Aktivität zu tun hat, sondern von seiner eigenen, einzigartigen Passivität – diesseits von 242 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Aktivität und Passivität – herrührt, die den Liebenden immer mehr Leib werden lässt und damit auch sein Innerstes nach außen kehrt. »In der Situation gegenseitiger Erotisierung, in der jeder dem anderen den Leib gibt, den er nicht hat, ist jeder danach bestrebt, sich dadurch zu individualisieren, dass er den anderen individualisiert, sodass jeder nun im eigentlichen Sinne das Universale durchbricht und überschreitet.« (184) Die Erfahrung der Lust ist daher auch nichts anderes als ein Ausdruck der eigenen Leibwerdung durch den anderen, und sie steigert sich in dem Maße, wie diese immer weiter voranschreitet in einem »Prozess, der ohne Ende und ohne bestimmbare Grenze ist (…) und in dem der Leib unaufhörlich dabei [ist], den Körper zu überfluten« (180). Dennoch wird in jeder (Über-)(Durch-) Kreuzung der Leiber – auf dem Höhepunkt ihrer Lust – aber unweigerlich der Augenblick kommen, in dem der Leib nicht mehr weiter kann, sich nicht mehr ausweiten kann – und also seine Erfüllung findet. Dies zeigt sich nirgends deutlicher als im abrupten Abbruch seiner Erotisierung, der einem plötzlichen Fall aus einem orgiastischen Zustand zurück in die Welt der nackten und bloßen Körper gleicht, die sich nun wieder bekleiden müssen. Und darin zeigt sich letztlich nichts anderes als die unhintergehbare Tatsache der Endlichkeit. Denn wenn die Erotisierung endlos andauern würde, dann würde sie die Welt, ihre Zeit und ihren Raum aufheben – und die erotische Reduktion würde mich damit ein für alle Mal der Welt entreißen. In der (Über-)(Durch-)Kreuzung der Leiber ist die erotische Reduktion daher auch zu einem gewissen Abschluss gekommen, da sie den Liebenden in seiner »äußersten Immanenz« (188) erreicht hat. Doch dieser Abschluss muss gleich in dreifacher Hinsicht ambivalent bleiben, da die gegenseitige Erotisierung der Liebenden niemals bis an sie selbst in ihrer Person (»Hier, sieh mich!«) heranzureichen vermag. Erstens deshalb nicht, weil in ihr jeder der beiden Liebenden seinen eigenen Leib – und damit auch seine Individualität – immer nur vom Leib des anderen empfangen kann und sich daher auch an nichts anderes als an diesen Leib halten kann. Zum zweiten, weil die Liebenden in ihrer Leiblichkeit immer nur in einer indirekten Direktheit zur Erscheinung kommen, was sich daran zeigt, dass ihre (über-)(durch-)kreuzten Leiber sich weder miteinander vereinen oder verschmelzen – da sie ja vielmehr aus ihrem gegenseitigen (Sich-)Spüren erst hervorgehen – noch »ungetrennt und ungeschieden« (186) bleiben – weil sie ja dieselbe erotische Erfüllung empfinden – und daher in ihrer Immanenz immer auch zugleich auf eine 243 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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bleibende Transzendenz verwiesen sind. Und drittens, weil die Erotisierung auf dem Höhepunkt der Lust zwar ihre Erfüllung, aber nie ihre Vollendung finden kann, insofern es sich bei ihr um einen Prozess handelt, der in Wirklichkeit unabschließbar ist und folglich grenzenlos bleiben muss. Die Endlichkeit der Erotisierung zwingt daher die Liebenden auf der einen Seite dazu, immer wieder von vorne zu beginnen – also mit dem ersten Schritt auf den anderen zu –, auf der anderen Seite aber »sichert« sie ihnen damit zugleich auch »die unendliche Wiederholung der erotischen Reduktion selbst«. (209)

6.

Wa(h)re Liebe?

Nach dem »weißen Blitz des Orgasmus« (225) versinkt alles wieder im fahlen Licht der Alltäglichkeit. Zurück bleibt die Ernüchterung und Enttäuschung darüber, dass der erotisierte Leib plötzlich verschwunden ist und einem nackten Körper Platz geschaffen hat, der unter die Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit fällt. Und schon drängt sich auch wieder die Erfahrung der Grenze und unüberwindbaren Kluft zwischen dem Ich und dem anderen in den Vordergrund. Der Verdacht macht sich breit, dass alles nur eine Illusion gewesen sein könnte, in der die Liebenden auf eine bloße Rolle innerhalb des »Automatismus« (205) ihrer erotisierten Leiber reduziert und damit letztlich also ersetzbar und austauschbar waren. Und tatsächlich besteht die Unsicherheit der Erotisierung des Leibes – die ja ohne den eignen Willen einsetzt und abbricht – darin, dass hier alles in »einer anonymen Sphäre des anderen im Allgemeinen« (225) verbleibt, in der wir gar nicht bis zur äußersten Individualität des jeweils anderen vorzustoßen vermögen und uns daher also fragen müssen, ob es wirklich wir selbst und als Person sind, die hier lieben bzw. geliebt werden. Der qualvollen Kluft zwischen mir und dem anderen liegt folglich die noch viel schmerzlichere Kluft zwischen meinem eigenen Leib und meiner eigenen Person zugrunde, die dazu führt, dass ich tatsächlich nie die Wahrheit sage – ja gar nicht sagen kann –, wenn ich behaupte, dass ich in der erotischen Hingabe zugleich auch mich selbst und als Person gegeben habe. Man kann diesbezüglich also von einer »formalen Lüge im außermoralischen Sinne« sprechen, weil es gar nicht »in meiner Macht steht, (mich) nicht zu (be)lügen, oder genauer gesagt, den Abstand zwischen meinem erotisierten Leib und meiner unzugänglichen Person aufzuheben.« (228) Diese Lüge ist 244 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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aber nur schwer zu ertragen, sodass es fast schon natürlich ist, dass es in der Liebe zu den verschiedensten Fehl- bzw. Verfallsformen kommen muss, weil sie immer in der Gefahr steht, hinter dem zurückzubleiben, was in ihr in Aussicht gestellt wurde: »Hier, sieh mich!«. So etwa in der Verführung (231 f.), sofern es in ihr nur um das Verführen um seiner selbst willen geht, in der jeder Liebesschwur nur »bloßes Gerede« (232) bleibt, weil beide Seiten sich stillschweigend damit arrangiert haben, mit der gegenseitigen Unaufrichtigkeit zu leben und deshalb auch darauf verzichten, »Hier, sieh mich!« zu sagen. Im Grunde genommen besteht die Intention der bloßen Verführung nur darin, seinen eigenen Leib vom anderen her zu erhalten, ohne sich selbst als Person zu zeigen. Folglich ist diese Form der Liebe nicht mehr als eine reine »Posse« (ebd.). Viel schwerwiegender als bei der Verführung wird die Lüge dann, wenn sie mit der Treulosigkeit (233 ff.) einhergeht, da sie nun auch in einem moralischen Sinne ins Spiel kommt. Denn während ich bei der Verführung nicht einmal etwas sagen muss, um zu lügen, muss ich nun der Lüge immer neue Nahrung geben, »sie immer weitertreiben und bekräftigen« (233), bis ich mich schließlich ganz in ihr verliere. Denn das Wesen der Treulosigkeit (z. B. in der Ehe) besteht ja gerade darin, dass ich »einer Person eine weitere Person an die Seite [stelle], derjenigen, die ich in der Öffentlichkeit vorgebe zu lieben, diejenige, die ich, privat, anfange zu lieben behaupte.« (234) Diese Verdoppelung der Personen, durch die ich die eine mit der anderen verrate, führt dazu, dass auch ich selbst mich verdoppeln muss, d. h. mir eine zweite Persönlichkeit zulegen muss, sodass am Ende schließlich niemand mehr als Person zur Erscheinung kommen wird – und sich dadurch auch die Lüge immer weiter verdoppelt. Der Irrtum zu glauben, man könne sich über den erotisierten Leib des anderen auch seiner Person versichern, kann aber noch zu weit drastischeren Fehl- bzw. Verfallsformen der Liebe führen, sobald sich die Lüge mit der Gewalt verbindet. Dabei muss diese Gewalt nicht einmal physisch ausgeübt werden, um von einem Menschen- bzw. Lustraub (236 ff.) sprechen zu können, bei dem es darum geht, den freien Willen des anderen außer Kraft zu setzen, um sich seines Leibes zu bemächtigen. Doch auch wenn es letztlich einer Einwilligung des anderen gar nicht bedarf, um den Automatismus der Erotisierung seines Leibes in Gang zu setzen, so ist gleichwohl der gewaltlose Zwang, ihn gegen seinen Willen zum Höhepunkt der Lust zu bringen, vielleicht sogar die »schlimmste Form der Gewalt« (239), da sie mit seinem Willen auch zugleich seine 245 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Person verneint. Kommt zum Menschen- und Lustraub dann noch die physische Gewalt hinzu, so handelt es sich um eine Vergewaltigung (ebd.), bei der der andere nicht nur seiner Lust beraubt wird, um sich seiner Person zu bemächtigen, sondern auch noch seines Leibes: »Es bleibt tatsächlich nur ein physischer Körper übrig, der ganze Rest (der Leib, die Erotisierung, der Wille und die Person) ist bereits verschwunden; und die letzte Stufe innerhalb dieser Logik lautet: Nur ein toter (oder eventuell ein gekaufter oder verkaufter Körper) ist ein guter Körper.« (ebd.) Weitere (Ab-)Wege, um über die Erotisierung des Leibes einen Zugang zum anderen als Person zu finden, zeigen sich in den verschiedenen Arten der Perversion (240 ff.), in denen der erotisierte Leib mit aller Macht dazu gezwungen werden soll, Leib zu bleiben und nicht wieder in den Status eines nackten und bloßen Körpers zurückzufallen. Auch wenn dafür alle möglichen Mittel und Kunstgriffe angewendet werden – Masken, Verkleidungen, Inszenierungen, Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen –, so wird man am Ende doch nur wieder enttäuscht feststellen müssen, dass es sich dabei »immer und nur um eine Inszenierung des anderen ausgehend von meinem Blick handelt und also grundsätzlich nie um ein Sichtbarwerden des anderen als Person.« (241) Die Liebe, so lässt sich also festhalten, zeigt im erotisierten Leib nur selten ihr wahres Gesicht, weil in ihm der andere als er selbst und in seiner Person verborgen bleibt. Ein Ausweg aus dieser Aporie scheint sich dort zu eröffnen, wo wir uns nicht länger von der »Herrlichkeit seines Leibes« (242) blenden lassen, sondern ihm direkt ins Angesicht schauen. Denn dieses scheint ohne Lug und Trug zu sein – zumindest in ethischer Hinsicht. Denn das Gesicht des anderen, das mich »von weit her« und ausgehend von einer »Tiefe« ins Auge fasst, erfasst mich gleichsam »von oben« und macht sich dadurch sofort als »Anruf und als Gebot« geltend: »Du sollst nicht töten!« (243) Doch dieser ethische Imperativ, der bedingungslos und also ohne Ansehen der Person gilt, müsste sich innerhalb der erotischen Reduktion nicht nur in die positive Aufforderung »Du sollst mich lieben!« umkehren – die aber aufgrund ihrer Maßlosigkeit unerfüllbar bliebe –, sondern er müsste sich zudem auch immer neu »individualisieren«, um nicht rein abstrakt und formal zu bleiben. Und schon würde auch das Gesicht, das als »ethisches« nicht lügt und auch nicht lügen kann, damit anfangen, sich von der Lüge einholen zu lassen, was sich an zwei unterschiedlichen Phänomenen deutlich machen lässt: dem Maso246 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe

chismus und dem Sadismus (247 ff.). Beim Ersteren bin ich es, der sich in seinem Gesicht vorbehaltlos öffnet und sich ungeschützt zu sehen gibt in der Hoffnung, dass der andere dies in gleicher Weise tun möge. Dieser jedoch zeigt mir nur eine Fassade, hinter die er sich zurückzieht: »Ich erfahre mich als gesehen, ohne selbst etwas zu sehen; ich bin gekommen, ich wurde gesehen und ich habe das Nachsehen; egal, wie sehr ich mich auch zeige, ich bin dennoch reingelegt worden.« (246) Und wenn ich dann aus diesem mir widerfahrenen Unrecht auch noch eine »gewisse erotische Lust« (ebd.) ziehe, dann lässt sich dies als eine Form des Masochismus bezeichnen. Beim Sadismus verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist es der andere, der mir sein offenes und ehrliches Gesicht zu sehen gibt, während ich mein eigenes Gesicht verschließe und mich dahinter verberge. Indem ich den anderen verführe und seinen Leib erotisiere, will ich zugleich Herr über mich selbst und über den anderen bleiben und sogar in der (Über-)(Durch-)Kreuzung unserer Leiber noch mein »Gesicht (be) wahren« (246). Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Entweder ich lasse mir meinen Leibe vom anderen geben und komme so zum Höhepunkt meiner Lust, indem ich ihm seinen Leib nicht gebe und ihn damit als »einen Niemand« (247) betrachte; oder ich bringe ihn durch den Automatismus der Erotisierung zum Höhepunkt seiner Lust, ohne mir meinen Leib durch ihn geben und mich so durch ihn zum Höhepunkt meiner Lust bringen zu lassen. »Ich will ihm deutlich machen, dass ich gerade in meiner Verweigerung, durch ihn und den Leib, den er mir gibt, zum Höhepunkt meiner Lust zu kommen, einen Zugang zu meiner Person gewinne und er nicht« – und dass ich daraus auch noch eine gewisse erotische Lust ziehe. (247) Dass der andere in der Erotisierung seines Leibes nicht selbst (als Person) erscheint und letztlich auch in seinem Gesicht ungreifbar bleibt, öffnet der Eifersucht (248 ff.) Tür und Tor. Sie allerdings bleibt ein durchaus ambivalentes Phänomen und kann als Fehl- bzw. Verfallsform der Liebe nur solange bezeichnet werden, wie sie in einem Irrtum über den wahren Begriff der Liebe gefangen bleibt und Rechte und Pflichten dort einfordert, wo es nichts einzufordern gilt. Eine solche Eifersucht allerdings, »die verzweifelt und blind auf Gegenseitigkeit pocht« (249), disqualifiziert sich selbst und macht sich lächerlich, da sie noch gar nicht bis zur erotischen Reduktion vorgedrungen ist. Ganz anders hingegen verhält es sich bei einer Eifersucht, die tatsächlich »der Liebe die Ehre gibt« (248), weil sie von jedem von uns – mir und dem anderen – nichts anderes verlangt, als 247 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Alwin Letzkus

»sich selbst treu zu bleiben« (252) – als Liebender – und nicht zurückzufallen hinter das, was wir mit dem ersten Schritt innerhalb der erotischen Reduktion begonnen haben. Beispielhaft dafür ist die biblische Rede von der »Eifersucht Gottes«, die uns insofern »auch dabei helfen [könnte], aus der Aporie, in der wir uns verfangen haben, wieder herauszukommen – der Aporie einer möglichen Phänomenalisierung der Person.« (252) Denn wer von einer solchen Eifersucht, die die Liebe um ihrer selbst willen verteidigen will, geplagt wird, ist nicht eifersüchtig auf den anderen als solchen, sondern auf ihn als Liebenden; er prangert nicht dessen Untreue ihm (dem Eifersüchtigen) gegenüber an, sondern dessen Untreue sich selbst und seinem Status als Liebenden gegenüber; er verlangt, dass der andere nicht ihn, sondern sich selbst nicht belügen soll; er ermahnt ihn, in seiner Entschlossenheit als Liebender nicht nachzulassen, sondern sich als ein solcher zu vervollkommnen, d. h. als Liebender aufrichtig und wahrhaftig zu sein. In einer solchen Eifersucht kommt daher letztlich – trotz der Endlichkeit des Erotischen, der unvermeidlichen Lüge und der Grenzen in der Phänomenalisierbarkeit des Leibes – nichts anderes als eine »genuin phänomenologische Forderung zum Ausdruck: Der andere möge als Person erscheinen.« (254) Auf dem Wege der (Durch-)(Über-)Kreuzung der erotisierten Leiber allein kann ihm dies allerdings nicht gelingen, da er stets auch in ihrem Automatismus gefangen bleiben wird. Diesen zu durchbrechen ist nur möglich in einer Erotisierung, die »frei gewählt« ist (259 ff.), d. h. in der ich dem anderen mit meinem Leib zugleich auch mein »liebendes Wort« (parole érotique) (264) gebe, indem ich mit ihm spreche: »Ich kann sie [die Liebe] nicht tun/›machen‹ (faire l’amour), ohne zu sprechen, und ich kann sie schon beim bloßen Sprechen tun/›machen‹«. (263) Weil das liebende Wort zunächst nur von sich selbst und »im eigenen Namen«, dann aber nach und nach auch von dem »Zwischen-uns« (ebd.) spricht, kann es den anderen in seinem Herzen rühren, ohne ihn zu berühren, also ohne mit ihm in einen körperlichen Kontakt zu treten. Es ist frei von jedem Automatismus und darum auch zur Wahrhaftigkeit verurteilt, denn der andere weiß nun sehr genau, »ob das, was ich sage, auch dem entspricht, was er empfindet« (264). Und mit dieser unwiderruflichen Wahrhaftigkeit meines Wortes ist dann auch zugleich die Aussicht darauf gegeben, dass ich den anderen als Person tatsächlich erreiche. Damit wird aber letztlich auch deutlich, dass die »frei gewählte Erotisierung« im liebenden Wort sich keineswegs nur auf die sexuelle (Über-)(Durch-)Kreuzung 248 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe

der Leiber einschränken lässt, eröffnet sich doch in ihr die Möglichkeit, »einen erotisierten Leib auch dort noch zu geben (und zu empfangen), wo die Sexualität nicht mehr hinreicht: zwischen Eltern und Kind, von Freund zu Freund, zwischen Mensch und Gott.« (265)

7.

Das Adieu – oder der kommende Dritte

Eine Liebe auf Zeit ist keine wahre Liebe. Erst die gegenseitige Treue garantiert ihre Dauer, indem sie sie auch über den Augenblick hinaus zur Erscheinung zu bringen vermag. Die Treue verkörpert das wechselseitige Versprechen – den Schwur – der Liebenden in der Zeit und zeitigt dadurch die Liebe über den Augenblick, wenn nicht gar über das Sein und die Zeit hinaus. Der Treue kommt also insofern eine über ihren ethischen oder psychologischen Status hinausgehende phänomenologische Funktion zu, als sie es dem erotischen Phänomen erlaubt, sich über die Zeit zu erstrecken, ihm also eine Sichtbarkeit zu gewährleisten, die dauerhaft ist und sich in der Wirklichkeit durchsetzt. Doch die Treue sichert nicht nur die Zukunft der Liebe, sondern sie sichert auch deren Vergangenheit, indem sie das in sich bewahrt, was ein für alle Mal geschehen und damit unwiderruflich geworden ist. Es gibt auch eine Treue gegenüber denjenigen, die mich einst geliebt haben und die ich einst geliebt habe, auch wenn ich dies heute nicht mehr wahrhaben will oder es bedauere. Denn die Tatsache, dass ich einmal versucht habe, und sei es auch nur für eine begrenzte Zeit, das »Hier, sieh mich!« zur Vollendung zu bringen, und dass ich dabei vor allem festgestellt habe, wie sich auch der andere dieses »Hier, sieh mich!« zu eigen machte, sodass wir beide mit- und füreinander dieselbe Bedeutung teilten, »prägt und verwandelt mich für alle Zeit«, verleiht mir eine »neue Gestalt« (271) und fordert daher eine Art Treue gegenüber dem, was der andere in mir ausgelöst oder mit mir gemacht hat. »Diejenigen, die ich geliebt habe, können verschwinden, nicht aber die Tatsache, dass ich sie geliebt habe, noch die Zeit, die ich ihnen gewidmet habe, und auch nicht der Liebende, der ich für sie geworden bin. Es gibt niemals ein Ex-, sondern nur die unauslöschlichen Spuren von anderen, die mich zu einem Liebenden gemacht haben, einem Liebenden mit Fehlern und Schwächen, einem zweifellos endlichen, aber dennoch definitiv und unwiderruflich Liebenden.« (272) Und dennoch bleibt die Liebe ein äußerst fragiles und unsicheres Phänomen, das in einer »kontinuierlichen Quasi-Schöpfung, die 249 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Alwin Letzkus

kein Ende und keinen Stillstand kennt« (283) immer neu hervorgebracht werden muss. Niemand könnte daher eine solche Kontinuität wohl glaubhafter garantieren und also ein besserer Zeuge dafür sein, dass die Liebe zu ihrer Vollendung gelangen wird, als ein Dritter, der selbst aus ihr hervorgegangen ist, nämlich das Kind. Denn das Kind ist der Zeuge eines nicht mehr zurücknehmbaren Schwurs, weil es ihn in seinem eigenen Leib verkörpert – auch wenn die Liebenden, aus denen es hervorgegangen ist, ihn seither gebrochen und immer wieder neu gebrochen haben. Und dennoch: Auch dieses Zeugnis wird nicht von Dauer sein, denn das Kind muss in seine eigene Zukunft hinein freigelassen werden, die seinen Ursprung immer mehr zurücktreten lässt: »Das Kind bricht auf, wie die sexuelle Lust auf ihrem Höhepunkt plötzlich abbricht – zu früh und unweigerlich« (296). In beiden manifestiert sich die unwiderrufliche Endlichkeit aller menschlichen Existenz. Da es also keinen letztgültigen Zeugen für das Phänomen der Liebe gibt, muss sie folglich ständig neu wiederholt werden, um Aussicht auf Beständigkeit zu haben. Weil sie aber dadurch Gefahr läuft, sich in einer bloßen Wiederholung zu erschöpfen und damit zur blinden Gewohnheit und einem reinen Automatismus zu verkommen – und sich dadurch letztlich wieder zu verlieren –, bleibt den Liebenden nur die Möglichkeit, so zu lieben, als ob der nächste Augenblick der letzte wäre, d. h. so zu lieben, »dass also dieser Augenblick umstandslos, bedingungslos und vorbehaltlos als die tatsächliche Erfüllung meiner Bestimmung als Liebender gelten könnte.« (299) Es müsste letztlich also darum gehen, den Augenblick in eine »letzte Instanz« (300) zu erheben und aus ihm gewissermaßen einen »eschatologischen Augenblick« (ebd.) zu machen, indem man ihn zu dem Dritten erhebt, der für immer für die Liebe zeugen würde, da ihm ja kein anderer mehr folgen würde. Das Gebot, das daraus resultieren würde, hieße folglich: »Liebe jetzt und in diesem Augenblick so, als ob es niemals mehr einen anderen geben sollte, um zu lieben.« (300) Niemals zuvor hätten die Liebenden mit einer solchen Entschiedenheit die Zukunft vorweggenommen wie mit diesem Entschluss, so zu lieben, als würden sie angesichts einer letzten Instanz lieben. Die Liebenden kämen insofern zu ihrer Vollendung, als sie in jedem Augenblick so lieben könnten, als wäre es für die Ewigkeit. Doch wohlgemerkt: Die Liebenden versprechen sich damit nicht die Ewigkeit, sondern sie »beschwören sie herauf« (301), indem sie sie einander von diesem Augenblick an geben. 250 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Vom »erotischen Phänomen« zur Gottesliebe

Das »Nunc est amandum – man muss jetzt lieben, jetzt oder nie, jetzt und für immer und ewig« (304) gleicht einem »Aufbruch ins Endgültige, der von Anfang an statthat« (ebd.), und lässt sich folglich als ein »Adieu« (ebd.) bezeichnen, als ein Aufbruch und Übergang zu Gott, den die Liebenden – ob sie es wissen oder nicht – als den letzten bzw. ersten Zeugen ihres Schwurs anrufen und der sie stets begleitet. Und plötzlich entdecken sie, entdecke ich als Liebender, dass in meinem vermeintlich ersten Schritt auf den anderen zu »der andere bereits lange vor mir damit begonnen hatte, sich als Liebender zu zeigen« (309). Indem ich mich gleichsam blind und ohne jede Sicherheit auf den Weg der erotischen Reduktion einließ, hatte ich bereits gefunden, wonach ich suchte, oder besser gesagt, hatte mich bereits gefunden und zu sich geführt, wonach ich suchte. Ich stelle am Ende also nicht nur fest, »dass mich ein anderer schon geliebt hat, noch bevor ich ihn liebe, und dass sich folglich dieser andere schon vor mir zum Liebenden gemacht hat, sondern vor allem, dass dieser erste Liebende schon von jeher Gott geheißen hat. Die höchste Transzendenz Gottes, die einzige, die ihm niemals zur Unehre gereichen kann, rührt nicht her von seiner Macht, und auch nicht von seiner Weisheit, ja nicht einmal von seiner Unendlichkeit, sondern allein von seiner Liebe. Denn die Liebe allein genügt, um jede Unendlichkeit, jede Weisheit und jede Macht ins Werk zu setzen. Gott geht uns voraus und übersteigt uns, aber zuerst und vor allem darin, dass er uns unendlich viel mehr liebt, als wir lieben und ihn lieben. Gott überragt uns als der am meisten Liebende.« (318) Und mit diesem Verweis auf bzw. Übergang in die Transzendenz Gottes findet dann die »Logik der Liebe« ihren eigentlichen Abschluss und ihre höchste Vollendung. Inwiefern daher auch der christliche Glaube der Strenge einer solchen »Logik der Liebe« gehorcht oder gehorchen muss, dies stellte Marion bereits in seinem frühen Hauptwerk »Gott ohne Sein« dar, das nun mit einer Verspätung von gut 30 Jahren auch in deutscher Sprache vorliegt. Diese Ungleichzeitigkeit bzw. Verkehrung der Chronologie in der Übersetzung seiner Werke muss aber in diesem Fall kein Nachteil sein, sondern sie kann sich hier sogar als ein Vorteil erweisen, da es jetzt möglich sein wird, »Gott ohne Sein«, wie Marion in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Werkes herausstellt, »nunmehr in seinem wirklichen Horizont zu lesen, der im ersten Augenblick noch unsichtbar ist: dem Horizont der Gebung, die selbst wiederum durch die ero-

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Alwin Letzkus

tische Reduktion eine radikalisierte ist.« 9 Und vielleicht kann sich daraus ja sogar auch ein positiver Impuls für die Rezeption von Marions Werk insgesamt – d. h. für seinen Versuch, die Erste Philosophie auf eine neue Grundlage zu stellen, um den Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft zu überwinden – ergeben, das im deutschen Sprachraum – anders als in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, wo es seit vielen Jahren im Zentrum von zahlreichen Diskussionen steht – bislang nur einem relativ kleinen Kreis von Philosophen und Theologen bekannt ist.

9

J.-L. Marion, Gott ohne Sein, S. 14.

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Die Formalität der »Sättigung« im Denken Jean-Luc Marions Kritische Rückfragen aus radikal- und religionsphänomenologischer Sicht Rolf Kühn

Die klassischen philosophisch-theologischen Lösungsversuche der jüngeren Zeit zur Gottesproblematik sind bekannt: etwa der unternommene Nachweis des »immanent Übernatürlichen« im Natürlichen (Maurice Blondel), die Analogia entis als trinitarische Bestimmung (Erich Przywara), der frei-gehorsame Übergang vom Endlichen zum Unendlichen als transzendentale Anthropologie und Christologie (Karl Rahner) 1, die »Theologie der Kenose« als »Herrlichkeit Gottes« (Hans Urs von Balthasar). 2 Dazu trat in letzter Zeit Jean-Luc Marions phänomenologischer Ansatz, in der Offenbarung Gottes und der Christologie ein hermeneutisch »überbordetes« oder »gesättigtes« Phänomen auszumachen, welches seine transzendentale Möglichkeit in sich selbst birgt, mit anderen Worten in keiner metaphysischen Vorgegebenheit mehr ruht. 3 Der Husserl’sche Begriff der 1 Vgl. etwa Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München, Kösel 1963. Zum Rückgriff auf Heidegger dabei vgl. dessen kleinere Schrift Phänomenologie und Theologie, Frankfurt/M.: Klostermann 1970. 2 Vgl. zum Beispiel »Der Zugang zur Wirklichkeit Gottes« und »Mysterium Pascale«, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hg.), Mysterium Salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln-Zürich-Köln: Benzinger 1967, Bd. 2, 15–45 u. Bd. 3/2, 133– 325. 3 Vgl. J.-L. Marion, Ėtant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 1997, § 24: »Se donner, se révéler« (325–342) (dt. »Sich geben, sich offenbaren«, in: R. Kühn [Hg.], Religio und passio. Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, Würzburg: Echter 2014, 116–138; danach Gesamtübersetzung J.-L. Marion, Gegeben sein. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München: Alber 2015, hier 392 ff.). Vgl. auch De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: PUF 2001, sowie schon sehr früh »Aspekte der Religionsphänomenologie – Grund, Horizont, Offenbarung«, in: A. Halder u. a. (Hg.), Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf: Patmos 1988, 84– 103; auch in: M. Gabel u. H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. J.-L. Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg/München: Alber 2007. Dazu K. Wolf, Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Ge-

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Sättigung meinte dabei zunächst eine Intuition, deren intentionaler Gehalt ganz von Evidenz gefüllt ist, um so die Identität von Erfahrung und Begriff zu ermöglichen, wie sie vor allem in einer geometrischen oder mathematischen Definition beispielsweise gegeben ist. Bei Marion impliziert die Sättigung 4 hingegen ein Übermaß (excès) an Anschauung, welche durch keinen Begriff bzw. keine hermeneutische Horizontverschmelzung mehr eingefangen werden kann, sondern jegliche transzendentale Kategorialität des Ego, Daseins oder Bewusstseins schlechthin in Frage stellt. 5

1.

Die Architektonik der Sättigung als Erfahrungskonzeptualisierung

Damit vermag das intentionale Korrelationsprinzip der klassischen Phänomenologie nicht mehr länger der apriorische Konstitutionsmaßstab zu sein, weil jede egologische oder subjektive Voraussetzung von der gesättigten Gegebenheit (donation) übertroffen werde, wie es Schönheit, Leiblichkeit, Gesicht des Anderen, Erotik unter anderem erkennen lassen. 6 Über die Analyse solch überbordender Phänomenalität soll sich schließlich die äußerste Möglichkeit ergeben, das genwartsphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 2006, 110–160: »Jean-Luc Marion: Vom Gegebenen zur Offenbarung«; Th. Alferi, »Worüber hinaus Größeres nicht gegeben werden kann«. Phänomenologie und Offenbarung nach J.-L. Marion, Freiburg/München: Alber 2007; S. Camilleri u. A. Takacs (Hg.), Jean-Luc Marion. Cartésianisme, phénoménologie, théologie, Paris: L’Harmattan 2012. Eine Kurzeinführung bietet L. Tengelyi, »Marion, Jean-Luc«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 242–247; U. Roth, »Jean-Luc Marions Weiterentwicklung der ›Phänomenologie der Gebung‹«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 64/4 (2009) 397–414. 4 Vgl. »La banalité de la saturation«, in: J.-L. Marion, Le Visible et le Révéle, Paris, Cerf 2005, 143–182 (dt. »Die Banalität der Sättigung«, in: H.-D. Gondek, T. N. Klass u. L. Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse, München: Fink 2011, 78– 98. 5 Vgl. bereits R. Kühn, »Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserl-Revision mit dem Problemhintergrund ›absoluter Phänomene‹ bei Jean-Luc Marion«, in: Philosophisches Jahrbuch 102/1 (1995) 144–155. 6 Hier wäre sicher auch jedes Leiden als ein solches »Phänomen des Übermaßes« im Pathos des Lebens auszumachen; vgl. etwa R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München: Alber 2017.

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Die Formalität der »Sättigung« im Denken Jean-Luc Marions

»Phänomen« der Offenbarung Gottes wie Christi angemessener als in der Vergangenheit denken zu können, weil es dann nicht mehr mit metaphysischen oder onto-theologischen Vorgaben wie Seinsbegriff, ratio, Kausalität usw. vorbelastet sei. Allerdings ist das Offenbarungsphänomen hierbei kein bloß zusätzliches Paradigma in der Hierarchie gesättigter Phänomene, wie noch zu zeigen bleibt, sondern es greift all deren Charaktere – wie auch den Gegensatz von Idol/ Ikone – auf, um eine eigenständige Manifestation der Herrlichkeit (dóxa) im Sinne der alt- oder neutestamentlichen Theophanien etwa zu bedeuten. 7 Denn das Phänomen macht sichtbar, ohne als sich-gebendes selbst sichtbar zu sein. Die richtig verstandene Phänomenologie hat demzufolge zur Aufgabe, »den Sinn, den das Phänomen sich von selbst gibt, zu erkennen« oder auch »anzuerkennen«. 8 Solche Formulierungen können und müssen bei Marion eben stets auch als religionsphilosophische bzw. »theo-logische« Vorbereitungen auf seinen rein phänomenologischen Offenbarungs-Begriff hin gelesen werden, in dem das Denken zu seinen höchsten Möglichkeiten gelangen soll. Da wir nicht die Gesamtproblematik der »Sättigung« ausgehend von den »armen Phänomenen« hierbei ausführlich analyiseren können, sei zur kurzen Orientierung folgende schematische Übersicht geboten, wie sie sich aus seinen Gesamtanalysern erheben lässt:

Vgl. auch J.-L. Marion, L’idole et la distance. Cinq études, Paris: Grasset 1977; »Idol und Bild«, in: B. Casper (Hg.), Phänomenologie des Idols, Freiburg/München: Alber 1981, 107–132; La croisée du visible, Paris, La Différence 1991 (dt. Die Öffnung des Sichtbaren, Paderborn: Schöningh 2005). Dazu S. Gorgone, »Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Beiträge zu einer Phänomenologie der Ikone«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 8 (2009) 169–200; A. Navigante, »Die Überfülle des Unsichtbaren: zum Offenbarungsbegriff bei Jean-Luc Marion«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 11 (2012) 48–61. Dass Marion in der Bestimmung der Ästhetik, die letztlich die Phänomenologie als solche charakterisieren soll, von Merleau-Ponty und Henrys Kandinsky-Interpretation Voir l’invisible (Paris, Bourin 1988) abhängig ist, erwähnen mit Recht H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011, 167 f. 8 Étant donné, 16. 7

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Rolf Kühn

Topik der Phänomene nach Jean-Luc Marion 9 1)

Einteilungsprinzip Armut/Reichtum der Anschauung

a)

Nahezu Nullanschauung (nur Begriff) Mathematik, Logik, Metaphysik

b)

Arme Anschauung Physik, Technik Metaphysik

c)

Reiche (gesättigte) Anschauung Geschichte, Kunst, Liebe, Religion [Ereignis, Ikone, Leib, Offenbarung] Phänomenologie der Gebung/Gegebenheit

2)

Phänomenologische Charaktere als Gegensatz oder Überschuss (Exzess)

a)

»Arme Phänomene« (in allen Bereichen) Anschauung entspricht Erwartung Sicherheit verleihend Gleicht dem Schon-Bekannten Objektivierbar

b)

»Reiche (gesättigte)« Phänomene (in allen Bereichen) paradoxe Anschauung blendend (Exzess) ohne Analogie (unverständlich oder widersprüchlich) nicht-objektivierbar bzw. unsichtbar / nicht-erscheinend

Auf diesem allgemeineren Hintergrund der Gegebenheitsproblematik (donation) greifen wir des Näheren die angekündigte spezifische Frage der »Sättigung« bei Marion auf, insofern hierbei am deutlichsten der Erfahrungsbegriff als solcher im Sinne der Kantischen Möglichkeitsbedingungen diskutiert wird, deren transzendentaler An9 Vgl. besonders Étant donné, § 23; dazu auch C. Chevalley, »Remarques sur la Topique des phénomènes dans Étant donné«, in: Annales de Philosophie 21 (2000) 15–24.

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Die Formalität der »Sättigung« im Denken Jean-Luc Marions

spruch prinzipiell nicht aufgegeben wird, um allerdings durch den Fall der Sättigung eine neue kritische Bestimmung zu erhalten. Wenn sowohl der Evidenzbegriff wie der Erfahrungsbegriff die apriorische Bedingung von objektiver Gegenständlichkeit als solcher meinen, so ist damit gerade noch nicht die phänomenologische Triftigkeit geklärt, ob solches Objekt-Sein der einzige Maßstab für jegliche Phänomenalität überhaupt bedeutet. Ist nämlich die Phänomenologie ihrem eigenen methodologischen Anspruch nach prinzipiell für jedes »Phänomen« offen, so kann sie sich nicht gegenüber einer Gegebenheitsweise sperren, in der gerade die kategorialen Bestimmungen durch Quantität, Qualität und Relation wie auch Modalität ins Wanken geraten – das heißt eben durch ein Überbieten jener Bedingungen, wie sie für die alltägliche oder lebensweltliche Objektwahrnehmung grundlegend sind. Mit anderen Worten wird sowohl die Univozität eines Erfahrungsbegriffs in empirischer wie transzendentaler Hinsicht in Frage gestellt, als auch die Univozität eines Subjektbegriffs im Sinne letzter (selbst-)apperzeptiver Rechtfertigung für jegliche Erfahrungskohärenz. Dadurch rückt letztlich das Phänomen des Widerstands oder auch der Passivität ebenfalls bei Marion in den Mittelpunkt, nämlich in jener Umkehr, welche dann aus dem ichlichen »Subjekt« (oder der Subjektivität) einen Zeugen bzw. einen Hingegebenen an das Phänomen mache (adonné) 10 – mithin jemanden, dem die Sättigung oder die Überfülle der Gegebenheit jegliche Herrschaft von sich allein aus über das Phänomen entreißt, wie wir dies im Folgenden dieses Beitrags im Zusammenhang mit der Henryschen Passibilität noch eingehender diskutieren werden. 11 Die kritischen Einwände, welche gegenüber diesem Konzept des gesättigten Phänomens gemacht werden können, beruhen im Wesentlichen darauf, dass man den Erfahrungsbegriff der intendierten Man findet auch die Übersetzung der »Begebene« (K. Wolf) oder die Umschreibung »das hingebungsvolle Selbst«, der »Hingebungsvolle« (H.-D. Gondek u. L. Tengelyi). Entscheidend ist, dass Marion hier eine größere Tradition bereits aus der Anruf/Anspruch-Analyse (appel) integriert, die von Heidegger und Levinas bis zu J.-L. Chrétien, L’appel et la réponse (Paris: Minuit 1992) reicht, ohne jedoch die Beschreibungen einer allgemeinen Responsivitätshese bei B. Waldenfels zu berücksichtigen; vgl. dessen Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 11 Für eine kritische Konfrontation in diesem Sinne vgl. gleichfalls den gut dokumentierten Beitrag von O. S. Podar, »Jean-Luc Marion, lecteur de Michel Henry«, in: C. Ciocan u. A. Vasiliu (Hg.), Lectures de Jean-Luc Marion, Paris: Cerf 2016, 325– 338, sowie zuvor schon X. Tilliette, »Phénoménologies autonomes: Michel Henry et Jean-Luc Marion«, in: Revista Portuguesa de Filosofia 60/2 (2004) 473–484. 10

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Anschauungserfüllung der Phänomene nicht aufgeben dürfe, nur um die formale Möglichkeit einer Offenbarung Gottes einzuberaumen. Marion betont selbst allerdings immer wieder, dass es nicht um einen theologischen Begriff der Offenbarung bei ihm gehe (der die geschichtlich einmalige Positivität derselben einschließt), sondern nur um einen solchen in seiner rein phänomenologischen Formalität. Dies beinhaltet dann allerdings, dass auch die Theologie letztlich die ihr eigentümliche Phänomenalität der Selbstoffenbarung Gottes phänomenologisch – und nicht länger metaphysisch – zu durchleuchten habe, indem auch sie sich dem phänomenologischen Prinzip stelle: »Je mehr Reduktion, desto mehr Gebung/Gegebenheit (donation)«. 12 Indem auf diesem reduktiven Weg die verschiedenen Sinnesorgane beispielhaft an Malerei, Musik, Berührung usw. analysiert werden, 13 stellt sich für Marion heraus, dass jedes »banale« oder an Intuition »arme« Phänomen (in Bezug auf seine begrifflich geläufige Bedeutung) immer auch eine diese Referenz überschreitende Sättigung implizieren kann. Diese führt ihren bloßen Vorhandenheitsoder Zuhandenheitscharakter im Heidegger’schen Sinne weiter – so wenn ich etwa die Farben einer Fahne nicht mehr nur als Zeichen oder Nationalsymbol wahrnehme, sondern als ästhetische Farben wie auf einem mural von Rothko. Gesteht man diese Möglichkeit für jedes Phänomen in seiner gänzlich entfalteten Gegebenheit als

Vgl. außer dem schon genannten Sammelband von M. Gabel u. H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, auch äußerst ablehnend L. B. Puntel, Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, E. Levinas und J.-L. Marion, Tübingen: Mohr 2010, Kap. 4.2: »J.-L. Marions verfehlte Konzeption der ›radikalen und nicht-metaphysischen Transzendenz‹ und von ›Gott ohne das Sein‹ (S. 313–426). In der Kritik steht hier vor allem Marions frühes Werk Dieu sans l’être, Paris: Fayard 1982 (dt. Gott ohne Sein, Paderborn, Schöningh 2013). Zuletzt ausgewogenere Diskussion bei B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zu seinem Werk, Dresden: Text & Dialog 2012, mit gegenseitiger Replik zwischen L. B. Puntel und H. Seubert, 47–176. Zuvor schon allgemeiner M. Staudigl, »Phänomenologie der Religion oder ›theologische Wende‹ ? Zur Problematik der methodischen ›Integrität‹ radikalisierter Phänomenologie«, in: Focus Pragensis. Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologie der Religion 1(2001), 44–63. Außerdem in jüngerer Zeit J.-L. Marion, Le croire pour le voir. Réflexions diverses sur la rationalité de la révélation et l’irrationalité de quelques croyants, Paris, Parole et Silence 2010; »Das dem Menschen Unmögliche – Gott«, in: I. U. Dalferth u. a. (Hg.), Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen: Mohr Siebeck 233–264. 13 Vgl. Le Visible et le Révélé, 157 ff. 12

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Erscheinung zu, 14 dann lässt sich des Weiteren zum prinzipiellen Einwand voranschreiten: Werden die transzendentalen Erfahrungsbedingungen durch eine Grenzphänomenalität der Sättigung aufgehoben, insofern hier eine Gegen-Erfahrung eintritt, welche nicht nur den leitenden Objektbegriff der Gegenständlichkeitskonstitution annuliert, sondern auch jene Grundannahme selbst in Frage stellt, dass sich jede Erscheinung überhaupt kategorialen »Bedingungen« zu unterwerfen habe? 15 Folge man dieser Auffassung nicht, so ergibt sich daraus für Marion nur eine fortbestehende transzendentale »Selbstinszenierung des Ich«, welches vom Privileg seiner Gegenwärtigsetzung der Objekte oder Seienden nicht lassen will, um das Seinsapriori der Dinge zur Bestätigung seines eigenen Apriori als reiner Bewusstseinsinstanz zu erheben. Man kann indes nicht leugnen, dass sowohl Kant, und vor allem dann Husserl wie Heidegger, Manifestationsweisen des Unscheinbaren (Ding an sich, Freiheit, Ereignis) angedacht haben, welche eine Gegen-Erfahrung (contre-expérience) zum Banalen oder bloß Objektiven nicht von Vornherein ausschließen. In dieser Hinsicht wäre dann zu fragen, ob Marion in Bezug auf Heideggers Fundamentalontologie die Triade von Welt – Mensch – Gott nicht nur für den dritten Bereich, der bei Heidegger in »Sein und Zeit« nämlich unerwähnt bleibt, durch das »Offenbarungsphänomen« aktualisiert, sondern ob er auch mit dem Titel des »gesättigten Phänomens« den Heidegger’schen Wahrheitsbegriff der a-letheia weiterführt, da zwischen dem Verhältnis von »Sichzeigendem« und »Sichgebendem« gerade die Problematik des Entzugs wiederkehrt – nämlich ein Nicht-Erscheinendes im Übermaß der donation. 16 Sollte man dieser Begrenztheit von transzendentalem Subjekt und universaler Objektkonstitution als so genanntem Erfahrungsapriori zustimmen, was unserer eigenen radikal- wie religionsphäno14 Vgl. zum Begriff solcher Ent-Faltung: J.-L. Marion, »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, in: R. Kühn u. M. Staudigl (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 125–137; auch in M. Gabel u. H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. 15 Vgl. Le Visible et le Révélé, 161 f.; Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn: Borengässer 2000, 13–34: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«. 16 Vgl. auch J.-L. Marion, »Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger«, in: G. Figal (Hg.), Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven (Heidegger Forum 2), Frankfurt/M.: Klostermann 2009, 102–127.

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menologischen Kritik durchaus entgegenkommt, 17 dann ergibt sich nämlich jene phänomenologisch neue Situation, dass sich ein nicht länger transzendentales »Ich« (oder wie immer man es nennen möchte) bei den gesättigten Phänomenen letztlich »nicht-konstituierbaren« Gegebenheiten gegenüber befindet. Die rein objektiven Erfahrungsbedingungen verschwinden mit anderen Worten, um eine Erfahrung oder Erprobung (épreuve) zu ermöglichen, wo die Endlichkeit dieses Ich keineswegs aufgehoben ist, sondern letzteres ausschließlich im Sinne des Hin-Gegebenen (adonné) an das Phänomen erlebt wird. Die Abwesenheit des Begriffs allein bedeutet also auch für Marion hierbei noch nicht die Faktizität eines gesättigten Phänomens. Aber zumindest muss phänomenologisch aufgeklärt werden, warum in diesem Fall eine bloße Objektbeschreibung nicht länger mehr möglich ist. In Bezug auf »Gott«, der in der Tat weder ein Begriff ist noch mit irgendeinem Begriff identifiziert werden kann, überlebt sich dann der herkömmliche Gegensatz von Theismus/Atheismus oder Gläubigem/Ungläubigem beispielsweise, weil »Gott« unter den genannten Voraussetzungen nicht mehr »zu sein« oder »nicht zu sein« hat. Geht man mit Marion außerdem so weit, dass eine »Sättigungserfahrung« die un-bedingte Gegebenheitsintentionalität aufscheinen lässt, dann handelt es sich dabei nicht nur um eine Reduktion der Gegenständlichkeit als phänomenologischem Leitfaden, sondern die radikalere Endlichkeit solcher Intention bedeutet, dass sie gegen sich selbst gewandt wird, wie dies im Übrigen schon Levinas für die ethische Intentionalität gezeigt hatte. Eine solche Gegen-Intentionalität erlebt die Grenze meiner intentionalen Schau als »Enttäuschung«, wie seinerseits Husserl ebenfalls für alle »Hemmungsphänomene« innerhalb der Evidenzverhinderung schon in seinem Werk »Erfahrung und Urteil« von 1939 (§ 76) herausgestellt hatte. Marion kennzeichnet diese Situation des intentional endlichen Ich als dessen Verfremdung oder Veränderung (altération), welche sich positiv durch ein Phänomen des Geblendetseins seitens des Übermaßes der Sättigung ausdrückt. Das enttäuschte bzw. geblendete Ich kann in solcher Situation weiterhin alle bisher bekannten Strategien durchspielen, etwa einen anderen Erfahrungsbegriff versuchen, um seine Enttäuschung zu überwinden, bzw. sich selbst letztlich ganz vom Phänomen Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang, Dresden: Text & Dialog 2017.

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des Überflusses abwenden, um seine vermeintliche Autonomie nicht zu verlieren usw. Radikal phänomenologische Tatsache bleibt jedoch, dass solche Erprobung der einen oder anderen Art jenen schon genannten Widerstand impliziert, der vor jeder singulären Ethik oder Religion eine Liebe zur »Wahrheit« herausfordere, wie sie Pascal als eine logique du coeur bereits etwa angemahnt hatte, ohne sie jedoch des Weiteren ausreichend zu präzisieren. 18 Marion versucht mit anderen Worten, jeden philosophischen Subjekt- oder Subjektivitätsbegriff bis hin zu dessen Selbst-Enteignung zu verabschieden (worin er den postmodernen Dekonstruktivismen wie unter anderem bei Derrida und Nancy folgt), 19 um einem gesättigten »Wahrheitsphänomen« gerecht zu werden, welches zwar durchaus »mich« affiziert, ohne daraus allerdings noch eine egologisch-transzendentale Bedingungsgröße solcher »Affektion« abzuleiten. Mit anderen Worten ergibt sich hiermit erneut die nicht aufhebbare Frage nach einer solchen »affektiven Widerständigkeit« als reiner Passibilität in unserem je subjektiven Leben, worin jedes »Mich« als pathisches Fleisch im Sinne Henrys wurzelt. 20 Achtet man daher genauer bei Marion auf die Figur der Zeugenschaft, welche diese phänomenologische Situation adäquat »beschreiben« soll, 21 wie es gerade auch für das Johannesevangelium schon zentral ist, so fällt jener Widerspruch auf, der sich unserer Ansicht nach gegen die letzte Konsequenz einer bloß intentionalen »Phänomenologie gesättigter Gegebenheit« als solcher wendet. Es ist zwar Vgl. auch J.-L. Marion, »Die Strenge der Liebe«, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg/München: Alber 1981, 165–187; Prolégomènes à la charité, Paris: La Différence 1986. 19 Vgl. R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un) möglichkeit Gottes, Freiburg-Basel-Wien, Herder 2013, 293 ff. Für die Diskussion mit der Tradition hierbei vgl. J.-L. Marion, Au lieu de soi. L’approche de Saint Augustin, Paris: PUF 2006; E. Falque, Saint Augustin, penseur de soi. Discussions de l’interprétation de Jean-Luc Marion, Paris: PUF 2009; J. L. Kosky, »Metaphysical Certainty and Confessing Desire for the Blessed Life: The Evidence of Self in Jean-Luc Marions Reading of St. Augustin«, in: I. U. Dalferth u. A. Hunziker (Hg.), Gott denken – ohne Metaphysik? Zu einer aktuellen Kontroverse in Theologie und Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 102–125. 20 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München: Alber 2002, 99 ff. 21 Vgl. Le Visible et le Révélé, 179 f.; für die Frage der johanneischen Zeugenschaft M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/ München: Alber 1997, Kap. 5: »Phänomenologie Christi« (S. 100–132). 18

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möglich, eine reine Affektion als passible Widerständigkeit (Pathos) zu denken, welche keine Anschauungskategorien von Raum und Zeit mehr einschließt (wie die Texte von Pierre Maine de Biran und Michel Henry zeigen), 22 aber es dürfte hingegen unmöglich sein, irgendeine Affektion ohne Subjektivität zu denken. Denn wie wüsste »ich« dann phänomenologisch konkret in meiner affektiven Individuation, dass »ich« als »Mich« 23 betroffen und zum »Zeugen« berufen bin? Diese mangelnde Erhellung einer radikal phänomenologischen Passivität – oder noch genauer Passibilität – ergibt sich bei Marion zudem daraus, dass jede Zeugenschaft für ihn noch eine Ordnung des »Gegenüber« impliziert, anders gesagt die klassische phänomenologische Grundkategorie der Distanz, Kluft, Differenz oder Transzendenz. Diese verhindern notgedrungen eine reine Sättigung durch die Unmittelbarkeit einer solch absoluten Ge-Gebenheit, die in sich selbst reine Gebung ohne jeden Horizont ist, wie wir diesen Sachverhalt radikal- wie religionsphänomenologsch anfragen – mithin eine originäre Selbstaffektion erforderlich macht, ohne die Endlichkeit des radikal passiblen »Ich« als »Mich« aufzuheben. Und definiert Marion den Zeugen als jemanden, dessen Affektion durch das gesättigte Ereignis immer ein »Zu-spät« (retard) hinsichtlich dieser Widerfahrnis impliziert, so wird dadurch wieder jene Zeitlichkeit eingeführt, die – abgesehen von der intuitiven Kategorialität – eine »unendliche Hermeneutik« heraufbeschwört, um den »Anruf« (wenn auch vielleicht nur für einen selbst) zu artikulieren, ohne ihn jemals in seiner »Sinnfülle« einzuholen. 24 Dass dabei die Reduktion auf die »reine Form« des Anrufs als Anspruch an das Mich nicht aufgegeben wird, will besagen, dass das »Selbst« sich immer schon aufgerufen vorfindet und somit die Reduktion durch den »reiVgl. P. Maine de Biran, Die innere Offenbarung des »geistigen Ich«. Drei Kommentare zum Johannes-Evangelium, Würzburg, Echter 2010, und M. Henry, Inkarnation, bes. Kap. 26–27. 23 Dieses Mich als Akkusativform soll begrifflich verdeutlichen, dass »ich« im Augenblick meiner transzendentalen Geburt eben kein konstituierendes »Ich« bin, sondern ein sich-gegebenes »Mich« im Modus reiner Empfänglichkeit oder Rezeptivität; vgl. R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/ München: Alber 2009, Kap. II,6: »Vom Ich der Vorstellung zum lebendigen Mich« (S. 165–192). 24 Vgl. Le Visible et le Révélé, 180 f. u. 99 ff. Über die immer noch methodologisch offene Frage solchen Zusammenhangs vgl. auch J. Grondin, Tournant herméneutique de la phénoménologie, Paris: PUF 2003; J. Scheidegger, Radikale Hermeneutik. Michel Henrys Phänomenologie des Lebens, Freiburg/München: Alber 2012. 22

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nen« Anruf eine Nicht-Reduzierbarkeit beinhaltet, die nicht nur einzelne Besonderungen des »Subjekts« als Bedingung aufhebt, sondern auch letzte Konstitutionsvorgaben wie Gegenständlichkeit und Sein eben. Die Trennung von Form und Gehalt zeigt dabei wohl weniger eine weiterwirkende Abhängigkeit von einem der ältesten Grundprinzipien der Metaphysik als vielmehr den Versuch, dem Träger des Anrufs – nämlich dem »Selbst« als Mir/Mich – zu verdeutlichen, dass die Verkörperung (Verleiblichung, Individualität usw.) des An-Rufs immer auch eine andere sein kann. In seiner Kritik an solcher Formalität denkt B. Waldenfels 25 seinerseits beispielsweise wohl zu stark von seiner eigenen responsorischen Homogenität des Begriffs aus, während Marion für sich das gesamte Gewicht der Levinas’schen Anruf-Ethik übernimmt.

2.

Inkarnatorische »Sättigung« als Passibilität

Selbst in solch letzter formalen Gebung wie Gegebenheit bleibt also für Marion ein Entzug (Heidegger) oder eine Geiselhaft (Levinas) bestehen, welche die herkömmlichen Grundprinzipien der Phänomenologie von Schau, Gegenüber (An-Ruf), Transzendenz und Horizont keineswegs erschüttern. Damit ist die gegenwärtige Phänomenologie als solche zwar für eine größere Achtsamkeit hinsichtlich der Sättigungsphänomene aufgerufen, aber eine eigentlich material-inhaltliche Phänomenologie der Passibilität (oder immanent affektiver Historialität bzw. Affektabilität) ist konsequent darüber hinaus zu fordern, wie es gerade die weiterführende Phänomenologiediskussion gegenwärtig nahe legt. 26 Es reicht nicht aus, den Seinsbegriff bei aller Berechtigung einer onto-theologischen Kritik durchzustreichen, ohne eine phänomenologisch absolute Materialität des Selbsterscheinens in jedem Erscheinen zu erhellen, in der Ipseität/Gegebenheit Einführung in die Phänomenologie, München: Fink 1992, 118 f. Vgl. für eine solche Kritik schon R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt/M.: Peter Lang 2003, Teil IV: »Selbstgebung und Anruf nach J.-L. Marion« (175– 238), hier bes. 211 ff. Wie hartnäckig aber die Kategorie der Zeitlichkeit als Rahmenbedingung sinnhermeneutischer Phänomenologie bis heute beibehalten wird, zeigt die sich als unumstößlich gebende Kritik an M. Henry bei H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Kap. II,1–2: »Selbstheit, Passivität und Affektivität bei Henry und Levinas« / »Der Leib, die Zeit und das Selbst« (115–133 u. 134–151).

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nicht länger auseinander fallen, sondern sich eben in einer Selbstgebung der lebendigen Affektion als originärer Verfleischlichung vereinen. 27 Erst dies erlaubt das Verständnis, wie es auch Marion prinzipiell fordert, warum gerade im Neuen Testament der Begriff der Zeugenschaft dahingehend abgelehnt wird, dass nicht irgendein anderer Zeugnis ablegt, sondern Christus »von sich selbst Zeugnis gibt« (Joh 14,17). Denn Er ist allein die fleischgewordene Wahrheit als Leben (Gottes) und kann diese somit von seinem eigenen Wesen her immanent oder rein phänomenologisch als Relation mit dem »Vater« bezeugen. 28 Diese Christusaussage impliziert somit die letzten phänomenologischen Möglichkeiten als Konkretion hinsichtlich der zu verstehenden inneren (affektiven, fleischlichen) Erscheinensrealität und ihrer unmittelbaren Selbstbestimmung, wie wir sie hier als zentrale Frage phänomenologischer und epistemologischer Natur für eine radikale Religionsphilosophie und Christologie sowie auch Sakramentenlehre und Ethik in Abgrenzung von einem einseitigen szientistischen und hermeneutischen Erfahrungs- und Objektbegriff herausstellen möchten. 29 Religionsphänomenologisch ist deshalb mit der Einfachheit wie Einheit der affektiven Transzendentalität als fleischlicher Logoswahrheit keineswegs nur eine substitutive Variante des Zugangs zur reduktiven Ursprungsphänomenalität gegeben. Vielmehr erschließt der radikale Rückgang auf dieselbe erst das Proprium jeder subjektiven Erfahrung, von welcher die »religiöse« Konsistenz als Erprobung der Passibilität die transzendentale Genealogie schlechthin darstellt und so gerade keine ideo-logische Substitution mehr einschließt, da jeder einseitig intentionale oder differe(ä)ntielle »Logos« unterlaufen wird. 30 Der fleischliche Logos und die sich daraus ergebende ReliFür eine breit angelegte Diskussion vgl. M. Enders (Hg.), Selbstgebung und Selbstgegebenheit. Zur Bedeutung eines universalen Phänomens, Freiburg/München: Alber 2018. 28 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2010; für eine weitere, damit verbundene Diskussion auch J.-L. Marion, »Die Phänomenalität des Sakraments. Wesen und Gegebenheit«, in: S. Nowotny u. M. Staudigl (Hg.), Perspektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie, Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2005, 201– 218 (ebenfalls in R. Kühn [Hg.], Religio und passio, 208–228). 29 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion, Kap. II,6.1: »Die Einheit von Leiblichkeit und Eucharistie« (132–138), sowie Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden: Text & Dialog 2017. 30 Für die diesbezüglich rein phänomenologischen Analysen vgl. R. Kühn, Praxis der 27

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gionsphänomenologie wie »Christologie« als Inkarnation (Fleisch) weiß nicht nur um die Überwindung der generativen Sinnbildung in Abhängigkeit von einer anonymen Weltkonstitution, sondern sie nimmt vor allem jene abendländisch vorherrschende Substitution zurück, welche die singulären cogitationes durch das generische oder theoretische Wesen ersetzt hat, um sie allein in einen hermeneutischen oder objektivierenden Zeithorizont einzuschreiben. Durch eine solche »Ur-Intelligibilität« (Henry) als originäre Phänomenalisierung tritt mit anderen Worten unser ab-gründiges Erfahrenkönnen als solches in den Mittelpunkt, und zwar als jene eigenwesentliche Phänomenalität, welche in der Struktur ihrer pathischen oder fleischlichen Unmittelbarkeit gerade die Selbstoffenbarung als darin sich phänomenalisierendes »Wort Gottes« im Sinne des Erstlebendigen Logos nicht ausschließt. Das »Originäre« liegt damit nicht mehr vor, hinter oder über uns, um demzufolge der nicht zu vereinheitlichenden Vielfalt der geschichtlichen Sinnbildungen einschließlich der »Religion (en)« nachspüren zu müssen, 31 wie es Marions Sättigungskonzept noch zu suggerieren scheint. Vielmehr bildet die »radikale Immanenz« die Vollzugswirklichkeit des schlechthinnigen Erfahrenkönnens selbst, das immer schon selbstaffektiv gesättigt ist – nämlich die uranfängliche Fleischwerdung als Rezeptivität des ewigen Wesens lebendigen Erscheinens in seiner unmittelbaren Selbstreferentialität als göttlichem Sich-Offenbaren, mithin als gegenseitige Innerlichkeit von Vater und Sohn, Gott und Mensch im Sinne der Proto-Relation von Leben/Leib.32 Phänomenologie, sowie mit Anwendung auf die »Religionsphilosophie« unsere Darstellung von 2009: Gottes Selbstoffenbarung als Leben, Würzburg, Echter 2009; vgl. auch S. Th. Hofmann, »Bedeutung der Religionsphilosophie Henrys für das theologische Gespräch der Gegenwart«, in: K. Dethloff, R. Langthaler, H. Nagl-Docekal u. F. Wolfram (Hg.), Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Berlin: Parados 2009, 273–298. 31 Vgl. Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (Freiburg i. Br. 2017): Lebensreligion interreligiös. 32 Mit Bezug auf die orthodoxe Tradition heute vgl. auch O. S. Podar, »La vie en tant que Vie: Lecture théologique, entre Michel Henry et saint Maxime le Confesseur«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009), 315–332. – Parallel hierzu lassen sich auch in der weiteren Philosophie Versuche ausmachen, die Wirklichkeit Jesu (Christi) rein philosophisch mit Rückgriff auf die ältere Evangelienkritik (Spinoza, Reimarus, Renan, Nietzsche) oder die idealistischen und existentiellen Christologien von Kant bis Kierkegaard zu verstehen; vgl. J.-P. Resweber (Hg.), Le Jésus des philosophes, Metz: Le Portique 2008, und F. Lenoir, Le Christ philosoph, Parf: Cerf 2007, bzw. die bekannten Arbeiten von X. Tilliette, Le Christ de la philosophie (1990) oder Jésus romantique

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Diese immanente Erscheinensweise zu jedem Augenblick unseres Erfahrenkönnens ist absolut ur-intelligibel im Johanneischen Sinne, 33 sofern sich jede Manifestation als fleischliche Erprobung zunächst nicht der intentionalen Potenzialitätsbestimmung einer zu sättigenden Horizonttypik (oder Topologie) verdankt, sondern sich als originäre Rezeptivität eben rein praktisch oder lebenspotenzialisierend selbst ergreift. In diesem Sinne ist die immanente Erprobung vor jeder Welt, und somit auch vor jeder Schöpfung, wobei diese »Ungeschaffenheit« in Übereinstimmung mit dem Johannes-Evangelium und Meister Eckhart 34 bedeutet, dass die Selbstreferentialität des einfachen Erscheinenswesens als pathische, passible oder »sohnhafte« Wirklichkeit ihre je aktuelle Selbstergreifung als Selbstübereignung ist. Dies vollzieht sich in jedem »Fleisch« als dessen innerstem »Logos« je ununterbrochen und neu und wird als das »nichtruhende Werk« des Vaters und des Sohnes in ihrer ewiglichen Einheit und prinzipiellen Anfangshaftigkeit kundgetan. 35 Eine entsprechend radikale Religionsphänomenologie wie Christologie und Ethik muss sich allerdings kritisch fragen lassen, ob sie damit die Ordnung der Vorstellung in ein »Nicht-Wissen des göttlichen Lebens« oder sogar in einen »phantastischen Essentialismus« auflöst, 36 oder ob erst so die unzerstörbare Positivität des je nur individuiert gegebenen Lebens (Gottes) begründet werden kann, welches durch diese radikale Ipseisierung in einem absolut phänomenologisch vorgegebenen göttlichen Logos sich keineswegs in eine »tautologische Innerlichkeit« abkap(2007) sowie auf Deutsch Philosophische Christologie (1999); außerdem F. Laruelle, Le Christ futur, une leçon d’hérésie, Paris: Minuit 2002. 33 Vgl. M. Enders u. R. Kühn (mit einem Beitrag von Chr. Bruns), »Im Anfang war der Logos …«. Studien zur Rezeption des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg/Br.: Herder 2011, bes. 149 ff. 34 Für den Versuch, gerade bei Meister Eckhart die Frage der »Lebensvergessenheit« als je aktuelle Wirklichkeit Gottes wie der Seele im Sinne von deren »Namenlosigkeit« zu verstehen, die über eine bloß »negative Theologie« der Namen oder Eigenschaften (Attribute) Gottes hinausgeht, nämlich den Kern menschlichen Begehrens und Leidens als incarnatio continua und immanente Selbstoffenbarung Gottes betrifft; vgl. die Diskussion zur Mystik-Rezeption bei Derrida und Marion in R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden: Text & Dialog 2018, Kap. II,7: »Mystikrezeption und Destruktion seit Heidegger«. 35 Vgl. ebenfalls B. Kanabus, Généalogie du concept d’Archi-Soi chez Michel Henry, Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2011, 87 ff. 36 Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas: Éclat 1991, 66 f.

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selt. Mit anderen Worten ist die Immanenz oder Vor-Geschöpflichkeit keineswegs bloß »formale Anzeige« eines über die Begriffsrückführung erst fundamentalontologisch zu entfaltenden »Seinssinns« wie bei Heidegger, 37 sondern diese generatio ist zugleich co-generatio mit all ihren intersubjektiven und affektiv-geschichtlichen Gegebenheiten, 38 so dass ein solch originäres religionsphänomenologisches Inkarnationsdenken genau diesen Umsturz jeglichen monistischen Intentionalitätsdenkens zugunsten ur-christologischer Praxis impliziert – nämlich in der »Macht« und »Herrlichkeit« von Freude und Schmerz, von Tod und Leben (Joh 1,12 u. 14). Die radikal operative Grundgeste der Phänomenologie besteht also nicht darin, Phänomene konstitutionstheoretisch zu begrenzen, wie wohl die aktuellsten Auseinandersetzungen zeigen, 39 und dies auch schon von Schellings faktischem Prius oder Fichtes absolutem Dass her angedacht wurde. Vielmehr will die Phänomenologie über die Reduktion mehr geben, und deshalb kann entsprechend eine adäquate inkarnatorische Religionsphänomenologie die eigenwesentliche Phänomenalität der ebenso universalen wie singulären »Religion« als ursprünglicher religio aufweisen, welche sich mit der innersten Wahrheit der ursprünglichen »Gabe« des »Lebens« identifiziert. Intentionalität, Evidenz, Egologie oder Monadologie bzw. Strenge, Triftigkeit und Apodiktizität als höherstufige »Leitfäden« im phänomenologischen Sinne zerbrechen in ihrer einsinnigen – und somit einseitigen – Operativität an der Ab-Gründigkeit jener fleischlichen Radikalisierung. Diese fordert damit sowohl der Theologie wie der Philosophie ein ganz neues Methoden- wie Problembewusstsein ab – dass nämlich auch der »Raum der Überschneidung von Vgl. S. Treyz, »Reduktion und Gegen-Reduktion – Methodologische Skizzen«, in: S. Kattelmann u. S. Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München: Alber 2012, 17–36. 38 Für eine solche Analyse immanent-affektiver »Historialität« als vorzeitlicher Geschichtlichkeit, das heißt im Ausgang von rein subjektiv-praktischen Wirklichkeitskategorien wie Leiblichkeit, Begehren, Arbeit usw. vgl. auch R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München: Alber 2008, hier bes. 48 ff., 81 ff. u. 176 ff. Dass sich damit der klassische (Kantische und letztlich auch Husserlsche) Begriff der Transzendentalität selbst verändert und sich auf diese genannte konkrete oder immanente Historialität des pathisch Affektiven (Fleischlichen) hin bewegt, dürfte auf der Hand liegen. 39 Vgl. zum Beispiel K. Novotny, Was ist Phänomen? Phänomenologiekonzepte beim frühen Husserl und in der nachklassischen Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 37

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Philosophie und Wissenschaft« keineswegs »rein« oder »unbeschrieben« ist, 40 sondern in Bezug auf den originär praktischen Logos der fleischlichen Affektivität eine Topologie der Entwirklichung begünstigt, von deren Kulturausblutung als Leid, Gewalt, Frustration und Ressentiment eine lebensbezogene Religionsphänomenologie ebenfalls nicht absehen darf. 41 Das Sich-Einschreiben in den Johanneischen Logos der »Fülle« (Joh 1,16) ist daher zugleich das notwendige Eintauchen in die je aktuelle Neugenerierung des ur-anfänglichen Lebens – und damit unmittelbar praktische Ur-Intelligibilität des Religiösen als Mensch- und Kulturwerdung selbst. 42 Hinsichtlich der von Jean-Luc Marion in seiner bisher vorgestellten phänomenologischen Analyse als Universalisierung wie Konkretisierung der Gebung/Gegebenheit (donation), 43 nämlich als »Effekt« der »EntFaltung« von jeglicher Phänomenalität bis hin zum Maximum der dargestellten »Sättigung«, tun sich daher für uns mindestens drei kritische Fragen auf: 1) Wenn der Effekt originär als passio erlebt wird, dann ist diese affektiv-sinnliche Phänomenalisierungsweise als unsichtbares Leben des Sichgebens im Erscheinen eben nicht ohne Selbst-Affektion zu denken, da es einer phänomenologischen Materialität dazu bedarf. Wie verhält sich diese radikale Affektabilität zum ek-statischen Primat der (eventuell saturierenden) Effekte bei Marion? 2) Verweist die Ent-Faltung der Gebung im Gegebenen als originäres Sich-Geben auf eine immer schon erfolgte »spontane Reduktion« (wie zum Beispiel im Kunstwerk), dann gehören Gebung und Reduktion ur-faktisch zusammen, das heißt, sie bilden eine phänomenologische Einheit vor ihrem Einsatz als (Gegen-)Methode. Die Gegen-Reduktion wäre dabei unsererseits der nahe gelegte »Begriff« für einen Vollzug, der als das »Eine« am Anfang stünde und als das Im-

Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, 81 f. Vgl. auch den auf die Frage von Theodizee und Gerechtigkeit fokussierten Sammelband von Th. Söding u. K. Held (Hg.), Phänomenologie und Theologie, Freiburg/ Br., Herder 2009. 42 Dies gilt auch gegenüber neueren Versuchen, die sich weitgehend auf die cultural studies stützen; vgl. etwa A. Nehring u. J. Valentin (Hg.), Religious Turns – Turning Religions. Veränderte religiöse Diskurse – neue religiöse Wissensformen, Stuttgart: Kohlhammer 2008; M. Döbert, Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma, Stuttgart: Kohlhammer 2008. 43 Vgl. dazu auch das jüngere Werk von J.-L. Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset & Fasquelle 2010. 40 41

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memoriale auch nicht der »Ereignis«-Kategorie wie seit Heidegger auszuliefern wäre. 44 3) Ergibt eine solch gegen-reduktive Wirklichkeit das Wesen der Gebung als »Begriff«, so findet genau die von Marion vorgeschlagene Gegen-Methode am Sichgeben der Unsichtbarkeit als Effekt/passio ihre Grenze, sofern eine solche Methode – gleich wie die klassische Reduktion seit Husserl – nur im Bereich der sichtbaren Transzendenzen und Horizonte operieren kann. Löst das Unsichtbare als NichtGegenstand die Phänomenologie aber gerade nicht von ihrer gewählten Selbstbindung an die »Methode«, um sich von einem Was her bestimmen zu lassen, das ausschließlich reines Wie ist – nämlich Sichgeben ohne isolierbare Gabe? Und dies nicht als bloß »reine Form des Anrufs«, sondern eben material-phänomenologisch als sich-offenbarende Lebendigkeit (passio) in deren ständigem Gegebensein ohne Akt irgendeiner kausalen Setzung oder Gründung. Zunächst ist in der Tat auszuschließen, dass es Phänomene absoluter Nicht-Gebung gibt, denn dann würde auch die »dritte Reduktion« auf die reine Gebung (nach der Husserl’sche n Reduktion auf die Gegenständlichkeit und nach dem Heidegger’schen »Schritt zurück« auf die Seiendheit als Dasein) keine Reduktion ohne Bedingung sein – und damit nicht die »letzte«, wie Marion sie fordert. 45 Dabei tritt als methodische Absicht seitens Marions sicher hinzu, dass er mit seiner »Topologie« der »armen und gesättigten Phänomene« den Versuch unternimmt, die phänomenologischen Annäherungen an diese Frage von Heidegger bis Didier Franck über Levinas, Henry und Chrétien zu vereinigen, um die gegenwärtigen Möglichkeiten der Phänomenologie auszuschöpfen. Insofern verweisen Effekt und Entfaltung (pli) der Donation auch auf die Integration »dekonstruktivistischer« Denker wie Derrida und Deleuze sowie auf den späten Heidegger durch das In- wie Auseinander von Erscheinung/Verbergung. Dies charakterisiert auch Marions Gabe-Verständnis, das sich als neue Bestimmung der Phänomenologie überhaupt versteht, insofern nichts mehr »metaphysisch« hinter der Gabe ist, gleichzeitig aber der »Gabenvorgang« als »Ereignis« selbst im Sich-Zeigen jedes 44 Vgl. hierzu ebenfalls S. Grätzel u. F. Seyler (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München: Alber 2013. 45 Vgl. Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: PUF 1989, 289 ff.; Kurzdarstellung in H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, 153–160 u. 162 ff. Über die Polysemie von donation, la donne, la donnée, le donner im Französischen vgl. Réduction et donation, 160 f.

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Phänomens verborgen bleibt. Thesenartig wird dies von Marion in dem Satz formuliert, den er als die einzige »These« von Étant donné ausgibt«: »Das, was sich zeigt, gibt sich zuvor« (S. 10). Denn andernfalls müsste man einen widersinnigen Parallelismus von Phänomenalität annehmen, die sich einerseits auf das Gegebene reduzieren lässt und andererseits dazu keine Möglichkeit bietet, weil keinerlei Intuition vorliegt, wie etwa für mein Geburtsgeschehen. Dem ist zu entgegnen, dass nichts geschieht, erscheint oder uns affiziert, ohne sich vorher nicht in irgendeiner Weise als Gebung (donation) vollzogen zu haben, die in sich selber als Sich-Geben unmittelbar ist. Diese Unmittelbarkeit, die unserer Analyse nach allein in einem wesenhaften (und religionsphänomenologischen) Sinne der gegenreduktiven Selbstaffektion als einer stets konkret-absoluten Selbst-Gebung zukommt, 46 muss also auch in all jenen Fällen angenommen werden, wo die Gebung ausgesetzt zu sein scheint, wie insbesondere beim Nichts, bei der Möglichkeit oder der Dunkelheit bzw. der Leere des Erscheinens. Solche Abwesenheit eines Seienden, der Wirklichkeit oder die Hemmung hyletisch affizierender Erstabhebungen von Welt in der genetischen Passivität widersprechen nicht der Gebung an sich, sondern sie kennzeichnen nur den Mangel an einem in-tuitiven Inhalt, was jedoch gerade phänomenologisch als eine positive Gegebenheitsweise untersucht werden muss. Jede Negation setzt nicht nur logisch eine Gebung voraus, wie Husserl schon für die Modalisierung des Zweifels prinzipiell gegen jede Skepsis aufgezeigt hat, sondern wir erleben ebenfalls eine Gebung ohne inhaltlich vorstellbare Gegebenheit als eine effektive Erfahrung, oder besVgl. bereits zu diesem Einwand M. Henry, »Quatre principes de la phénoménologie« (1991), in: M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. I: De la phénoménologie, Paris: PUF 2003,77–104; dazu auch der kritische Vergleich zwischen Henry und Marion bei M. Rebidoux, The Philosophy of Michel Henry (1922–2002): A French Christian Phenomenology of Life, New York: Mellen Press 2009, bes. Kap. 2,3 u. 5.3. – Marc Richir stellt aus seiner Sicht einer »hyperbolischen« Reduktionskritik Marions reduktiven Grundsatz prinzipiell in Frage, indem er schreibt: »Je mehr Reduktion, desto weniger Gegebenheit (und erst recht desto weniger Gabe)«; vgl. »Intentionnalité et intersubjectivité«, in: D. Janicaud (Hg.), L’intentionnalité en question. Entre phénoménologie et recherches cognitives, Paris: Vrin 1995, 147–162. Grund für diese Einschätzung Richirs ist seine These von der Überlagerung aller »unmittelbaren Gegebenheit« durch »symbolische Stiftungen«, welche den rein ereignishaften Ursprungssinn überlagern; vgl. schon die Diskussion darüber bei L. Tengelyi, »Richir, Marc«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert, 288–291.

46

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ser Erprobung (épreuve), so dass der Begriff der »Nicht-Gebung« – wenn man ihn dann noch beibehalten will – nur für die abwesende »Präsenz« in der Intuition seine Berechtigung hätte. In dieser Hinsicht haben wir an anderer Stelle 47 auch die Grenzphänomenalität im Sinne intuitiver Nicht-Gebung von der Gebung radikaler Passivität unterschieden, die gerade die Urphänomenalisierung des rein sichselbst-gebenden Lebens in sich schließt. Eine streng phänomenologische Nicht-Gebung ist also nicht möglich, denn die Selbst-Gebung als index sui et non dati ermöglicht sowohl den Horizont des Gegebenen wie des (intuitiv) Nicht-Gegebenen. Wenn sich bei Marion zusätzlich anfragen ließe, welches denn ein solch radikal-phänomenologischer Status der Erfahrung als »Erprobung« (épreuve) genauer sei, die nie fehle, bzw. ob die »Dunkelheit« des Erscheinens nur eine abwesende oder gehemmte »Affektion« bilde, anstatt das unsichtbare Wesen des sich-selbst-offenbarenden Lebens überhaupt auszumachen, so führen äquivoke Bemerkungen beim Beispiel des Todes, der cartesianischen res cogitans sowie bei der sich distanzierenden Ent-Faltung der Gebung in der sich zeigenden Gegebenheit zur verstärkten Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner begrifflich vereinheitlichten Gebung der letzten Reduktion. Mit Blick auf die Todesgegebenheit, die Marion – wie übrigens bei der Angst – hauptsächlich nur am Heidegger’schen Leitfaden der Welt und des endlichen Daseins in dessen Todesmöglichkeit als »Eigentlichkeit« analysiert, fällt der Satz: »Die Gebung/Gegebenheit (donation) impliziert zumindest das, dem (à quoi) sie [sich] gibt, mit welchem Namen man es auch bezeichnen mag (Ego, Bewusstsein, Subjekt, Dasein oder ›Leben‹).« 48 In dieser Aussage verbirgt sich die ganze, zuvor genannte, begrifflich formalisierte »Leere« der Gebung, denn letztere mag sich in klassischer Sichtweise an das Ego, Bewusstsein oder Dasein geben – jedoch niemals »an das Leben«, weil das rein phänomenologische oder absolute Leben als Sich-Geben diese Gebung selbst ist, was weder vom reinen Ich noch vom Dasein jemals gesagt werden kann. Solches Leben als Empfänger der Gebung vorauszusetzen, führt eine Distanz zwischen Leben und Gebung ein, die ihrerseits eine Phänomenalisierung vor dem eigentlichen SichVgl. R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neure Studien zu Michel Henry, Cham: Springer 2016, Kap. I,3: »Bewusstseinsstrom und Impressionalität« (79–93). 48 J.-L. Marion, Ėtant donné, 86; vgl. ebd., 340. 47

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Geben der lebendigen Gebung – man wüsste nicht wie – bedeuten würde, womit die transzendentale Ausschließlichkeit des subjektiven Lebens als apodiktisch-affektiver Grund jeder Phänomenalisierung in Frage gestellt wäre. Solange ich also die Gebung in ihrer Unmittelbarkeit (Immanenz) nicht selbst als ein effektiv-materiales Sichgeben in sich selbst ausgewiesen habe, bleibt eine Dichotomie zurück, die weder der Gebung noch dem Leben gerecht wird. Dies bestärkt unsere Vermutung, wie abschließend noch zu zeigen bleibt, dass Marion in seinem Identifizierungsversuch von Ruf/Antwort bzw. Gebung/Hingabe (l’adonné) zwar subtiler als das überkommene philosophische Subjekt/Objekt-Schema argumentiert, aber nichtsdestoweniger von dessen ontologisch-metaphysischem Monismus der Differenz oder des Abstandes (écart) als dem einzigen Manifestationsraum des Sichzeigens abhängig bleibt.

3.

Vor-ekstatische »Sättigung« in der »Mich«-Passibilität

Diese material-phänomenologisch nicht einsichtig zu machende Duplizität Gebung/Leben wiederholt sich gleichfalls in folgendem Satz: »Der Tod […] gibt sich dem Dasein ebenso lange wie dessen Leben – als sein Leben selbst, denn auch dieses gibt sich nur als eine reine Möglichkeit.« 49 Das Dasein ist hier dem Leben vorgeordnet, da letzteres sich diesem gibt, weil das Dasein als die existenziale Bestimmung gedacht wird, dem sich die »Wahrheit« seiner Eigentlichkeit erschließen soll, womit das Leben aus sich selbst heraus nicht diese Offenbarungsdignität zu besitzen scheint und schon wie bei Heidegger im § 10 von »Sein und Zeit« rein privativ, das heißt vom Dasein her gedacht wird, obwohl es dennoch dem Dasein »Leben gibt«, was nur bedeuten kann: kraft dessen dieses Dasein all jene Vollzüge effektiv vollzieht, die ihm ontologisch zukommen. Gibt sich der Tod »als das Leben des Daseins selbst«, so scheint damit eine gewisse, spekulativ metaphysische Dichotomie Tod/Leben aufgehoben zu sein, aber nur zugunsten einer anderen Voraussetzung, dass nämlich auch dieses »Leben im Tode« bloß »eine reine Möglichkeit« darstelle. Deutlicher wäre radikal phänomenologisch zu sagen, dass das Leben den Tod prinzipiell nicht kennt, weil die Gebung des Lebens als Sich-Geben zunächst nicht die Gesamtheit der Welterscheinungen und die 49

Etant donné., 86.

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Welt als solche betrifft (die der Tod als nicht-ontisches Ereignis auf dieser Ebene der intentionalen Antizipation aufzuheben vermag), sondern die konkret materiale Selbstbindung der Erscheinensparusie als ewige Selbstbindung an sich selbst im Sinne einer transzendentalpassiven Lebendigkeit. Letztere bedeutet dann aber keine bloß formale Möglichkeit mehr, sondern sie ist als selbstaffektives Pathos der Phänomenalität selber eine stets bestimmte Potenzialität – nämlich die jeweilig affektive Sinnlichkeit als meine individuierte Ipseität im Modus des »Ich kann«. 50 Diese Neutralität der Gebung bei Marion wiederholt sich des Weiteren in der »Analogie« zum ego sum, ego existo. Denn so wie das Ego als »Mich« eine absolute Unbezweifelbarkeit besitzt, die dem cogito im Vollzug nie fehlen kann, ebenso ließe sich nicht zweifeln, dass die Gebung nicht stattgefunden habe, wenn etwas gegeben sei – was ständig der Fall ist. Nur möchte Marion hier die Apodiktizität des Ego von jener der Gebung unterscheiden, weil das ego als cogitatio (sui) sich besitze, während die Gebung sich selbst loslasse und nichts zurückbehalte. Damit ist jedoch das Ego nicht, wie an anderen Stellen suggeriert wird, als reine Passivität im Status des »Mich« aus dem Leben als cogitatio heraus gedacht, wobei nämlich die Passivität kein für sich bewahrender Selbstbesitz mehr sein kann, weil sie keinerlei polhafte Aktivität besitzt. Vielmehr ist sie als radikale »Mich«-Passibilität die zuvor genannte unverbrüchliche Selbstbindung des Lebens an sich selbst in der konkreten Ermöglichung meiner Ipseität – mit allen Anderen – als sich gebendes oder verleiblichendes Leben, das sich prinzipiell keine Verweigerung auferlegt, weil diese eine wesenhafte Unmöglichkeit für das Leben darstellt. Marion denkt mithin das Ego selbst in seiner passiven inkarnatorischen Rekurrenz noch von einem reduktiv selbstreflektiven, existenzialen oder ethischen Modell her, das der reinen Transzendentalität dieses Ego im Sinne des »Mich« als lebendigem inconcussum nicht voll gerecht wird. 51

Vgl. M. Henry, »Potenzialität«, in: R. Kühn, Wie das Leben spricht, 351–360; M. Henry, Können des Lebens, 43 f. u. 93 ff. 51 Vgl. Etant donné, 88 f.; 374 ff. u. 427 f.; zu unserer Kritik vgl. schon R. Kühn, Individuationsprinzip als Sein und Leben. Studien zur originären Phänomenalisierung, Stuttgart: Kohlhammer 2006, Kap. II,8: »Subjektkritik und Metaphysikgeschichte«, wo auch Marions Alteritätsdeutung des cartesianischen Cogito unter der Überschrift »Descartes und die performative Ego-Existenz« (300–308) dargestellt ist. 50

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Sehen wir außerdem davon ab, dass Marion hier die onto-dologische Bestimmung der Gebung als Gabe nach Claude Bruaire ungenannt wiederholt, es sei diese nämlich in ihrem Wesen »die Verweigerung, sich verweigern zu können« 52, so ist auch die Definition des quid als eines Seienden in Bezug auf das inconcussum bei Descartes äußerst fragwürdig, weil die res cogitans als cogitatio gerade die transzendentale Affektabilität im Gegensatz zu allem körperhaften Weltsein meint. 53 Die Unbezweifelbarkeit betrifft dann kein WasPrinzip, sondern die Transzendentalität selbst, welche letztlich kein formal universales Apriori der »Möglichkeit der Erfahrung« ist, sondern das konkrete, ipseisierte Erfahren-Können als sich passiv gegebenes Leben, das genau mit seiner Gebung als Sichgeben identisch ist. Dass sich die Gebung nur a posteriori zeige, wie Marion durchgehend betont, gilt nur für den ekstatischen Raum des Sichzeigens bzw. der Entfaltung, nicht jedoch für die anfänglich absolute Gebung selbst, die a priori ist, ohne einem äußeren Maß in dieser Apriorität als Apodiktizität zu unterliegen, das nur durch eine ichhaft konstituierende Transzendentalität gebildet würde. Allein auf der Grundlage solch immer noch klassisch-phänomenologischer Lektüre von Ego und Transzendentalität kann Marion denn auch sagen: »Die Gebung ist ohne Verpflichtung für ein solches Subjekt, das sie definiert, weil sie sich daran nicht misst; sie überbordet es und – eventuell – sättigt sie es ohne Maß.« 54 Demgegenüber ist zu bemerken, dass das sichgebende Leben als absolute Selbst-Gebung die größte »Verpflichtung« – wenn nicht sogar die größte »Liebe« – mit sich bringt: nämlich zu leben, und im letzten, gegen-reduktiv gesehen, »nichts als zu Vgl. C. Bruaire, L’être et l’esprit, Paris: PUF 1983, 63 f.: »Mais donner est toujours refus refusé, négation niée«, wobei natürlich Marion um die mittelalterlichen Hintergründe wie etwa bei Thomas von Aquin weiß; vgl. zum Beispiel J.-L. Marion, »Saint Thomas d’Aquin et l’onto-théologie«, in: Revue Thomiste 1 (1993), 31–66. Für Bruaire wie Marion ist es aus methodologischen Gründen transzendentaler wie erkenntniskritischer Art klar, dass ihr Gaben-Verständnis sich weder von anthropologischen noch soziologischen Prämissen leiten lässt, so dass der Vorwurf einer »Überdehnung des Gaben-Begriffs« ohne konkrete oder situative Anthropologie, wie er manchmal erhoben wird, die ontologische Grundabsicht nicht treffen kann. Vgl. ausführlicher zu Bruaire R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart, 195–216. Für eine anthropologisch-geschichtliche Gabendiskussion siehe auch Journal für Religionsphilosophie 2(2013): Gabe – Alterität – Anerkennung. 53 Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris: PUF 1985, 43 ff. 54 J.-L. Marion, Ėtant donné, 89. 52

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leben«, wobei die »Sättigung« mit Marion immer schon erfolgt ist, weil die absolute »Ohnmacht« der Passibilität bereits alle konkreten Potenzialitäten des Lebens als des je meinigen fleischlich oder inkarnatorisch in sich birgt. Eine ekstatische Sättigung findet nur in der Welt statt, besser gesagt im Raum der Sichtbarkeit, wo auch nur ein »überflutendes« Licht gegeben sein kann, ohne allerdings die Distanz als phänomenologische Wahrheit der Welt in ihrer Transzendenz aufzuheben. 55 Wäre nicht die formale Neutralisierung, welche aber ihren aufgezeigten Grund besitzt, nämlich die material-immanent vergessene Konkretisierung des rein phänomenologischen Lebens, so ließen sich die reduktiven Ergebnisse Marions wie die folgenden gänzlich unterschreiben: »Die Gebung zerstört nie, weil sie gibt.« Sowie: »Sie ist nicht [wie eine Subsistenz] vorhanden, dauert nicht [im Sinne eines Seienden], zeigt sich nicht, lässt sich nicht sehen. Sie macht das Ereignis, aber ohne selbst zum Ereignis zu werden.« Außerdem: »Ihr Rückzug selbst bestätigt sie, ihre Abwesenheit […] bezeugt ihren Vollzug. Sie setzt sich mit Recht als Prinzip, aber unter der Bedingung, das letzte zu bleiben.« 56 Die Gebung fügt sich der Gegebenheit somit nicht als ein zweideutiger (metaphysischer oder theologischer) Hintergrund hinzu, sondern »sie kennzeichnet nur das Ereignis (advenue), welches die Gegebenheit dieser selbst übergibt« 57. Wie zuvor schon mit dem Begriff der Ent-Faltung festgehalten wurde, schreibt sich die Gebung der Gegebenheit des Gegebenen als dessen unsichtbare Immanenz ein, und zwar jetzt genauer bestimmt als ein »zwingendes Ereignis«, so dass das datum niemals in sich geschlossen ist, sondern seine Zweideutigkeit auf die Gebung hin öffnet. Diese »Öffnung auf …« ist von der Seite der Gebung her gesehen die »EntfalDieses ekstatische Bemühen findet sich auch im Kommentar J.-L. Marions zu Henrys Hauptwerk L’essence de la manifestation (Paris: PUF 1963; dt. Das Wesen des InErscheinung-Tretens, Freiburg/München: Alber 2018) wieder; vgl. J.-L. Marion, »L’invisibilité et le phénomène«, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Michel Henry (Les Dossiers H), Lausanne: L’Age d’homme 2009, 221–234. Für den zustimmenden exegetischen Nachweis der passio nach Henry als Phänomenalitätsgrund jeglicher cogitatio bei Descartes, vgl. schon J.-L. Marion, »Générosité et phénoménologie. Remarques sur l’interprétation du Cogito cartésien par Michel Henry«, in: Les Ėtudes philosophiques 1(1988), 51–72, sowie Sur la pensée passive de Descartes, Paris: PUF 2013, und die Übernahme dieser und ähnlicher Beiträge in J.-L. Marion, Figures de phénoménologie. Husserl, Heidegger, Levinas, Henry, Paris: Vrin 2012. 56 J.-L. Marion, Ėtant donné, 89 f. 57 Ebd., 89; vgl. 406 f. 55

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tung der Gabe«, das heißt, sie »öffnet sich ihrerseits als die Falte (pli) des Gegebenen: gegebene Gabe, insofern (en tant que) sie sich gemäß ihrem eigenen Ereignis gibt« 58. Öffnung, Falte, Ereignis usw. gehören jedoch zur Nomenklatur der in all diesen Fällen ekstatischen Phänomenologie, sei es nun bei Heidegger, Merleau-Ponty oder Derrida, so dass Marion im Grunde für seine begriffliche Wesensbestimmung der univoken Gebung auch bei der klassischen Phänomenalität der Differenz bleibt, um allerdings mit Recht zu betonen, dass ein Verzicht auf die Gebung überhaupt anderweitig den Aufweis aufbürden würde, ein Gegebenes phänomenologisch ohne Gebung aufzudecken. Aber argumentiert Marion gerade hier zusätzlich nicht zu sehr in verbleibender Abhängigkeit von ideologischen, metaphysischen oder epistemologischen Defizitnachweisen her, mithin auch weitgehend historisch, exegetisch, philologisch, anstatt wirklich radikal phänomenologisch, das heißt gegenreduktiv, von der einzigen Selbstgebung auszugehen, die eben niemals geleugnet werden kann, weil sie sich immer schon realisiert hat, ohne ein bloß existentielles Faktum zu sein – nämlich unser aller leibliches oder passibles »Leben«? Die Gebung soll systematisch schließlich bei Marion die fast obsessionelle Ermöglichung des vom »Ich« losreißenden Anrufs tragen, weshalb sie material inhaltlich auch so leer wie universal neutral sein muss – eine Gebung, die eigentlich nichts »gibt«. Aber verschmäht die »Gebung« wirklich die volle Gabe, die letztlich nichts anderes als ihr Sich-Selbst-Geben ist – ihre immemoriale Selbstoffenbarung des Lebens in allem Tun und Denken? Damit soll nicht geleugnet sein, dass Marion Derridas Gabenkritik aus Donner le tempts I: La fausse monnaie 59 zu entkräften weiß, indem er die notwendige Nicht-Kausalität der Gabe im Sinne eines Tausches auf die Formel bringt, dass »die Gabe sich in dem Maße gibt, indem sie darauf verzichtet, zu sein«, 60 womit der schon unterstrichene Verborgenheitscharakter der Gabe bis hin zum Vergessen gewahrt bleibt, welches bei Derrida zentral ist, ohne den Zusammenhang von Reduktion/Gabe aufgeben zu müssen: Die »Gabe« in natürlicher Einstellung wird in der Tat eingeklammert, um das »Gabenereignis« in der verborgenen Donation wirken zu lassen, womit zugleich gewahrt ist, 58 59 60

Ebd., 96. Paris: Galilée 1991 (dt. Falschgeld. Zeit geben I, München, Fink 1993). Étant donné, 116.

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dass jedes Phänomen »sich gibt« und die Phänomenologie als Aufweis solcher Annehmbarkeit und Empfangswürdigkeit (donabilité, acceptabilité, recévabilité, advenue) fungiert. 61 Hierbei ist indirekt wieder eine religionsphilosophische Offenbarungs-»Immanenz« anvisiert, die – mit Anspielung auf Spinoza in diesem Zusammenhang – eine »nicht übergebende Ursache aller Dinge« durch Gott (immanens, non vero transiens) vermeidet, um dem kausalen Metaphysikvorwurf zu entrinnen, was ein Grundanliegen bei Marion darstellt. Die »Asymmetrie« der Faltung, welche die Gebung in ihrem Prozess selbst verbirgt, verbirgt damit allerdings auch die gegenreduktive Selbstbesinnung auf unser rein phänomenologisches Wesen als nicht zu leugnende Lebendige im Leben, die alle Offenbarung durch dieses Leben empfangen haben. Die Unsichtbarkeit dieses Lebens als eigenwesentliche Natur seines nicht-ekstatischen Erscheinens ist kein »Rätsel«, das im Horizont der (selbst-)apperzeptiven Weltfragen einer Lösung harrte, denn es hat sich bereits ohne jede denkbare Verweigerung ganz gegeben – und damit in seinem Sichgeben als solchem immer schon »geantwortet«. Die »rätselhaft« verbleibende Gebung bei Marion, um schließlich »paradoxe« GrenzPhänomene »sichtbar« zu machen, die ohne eine solche im Rückzug sich ent-faltende Gebung »unzugänglich« geblieben wären, wird folglich aus der Sicht der reduktiv thematisierenden Schau her festgestellt, bei der es vorrangig epistemologisch darum geht, einen fragwürdigen erkenntnistheoretischen »Imperialismus« zu durchbrechen, der das Sichgeben des Phänomens immer noch mit einem Schein umgeben sein lässt, sofern die apriorischen Erkenntnisbedingungen wesentlicher wären als das Erscheinen des Phänomens selbst. Mit solcher an sich berechtigten Kritik treten aber nur Intentionalität/Gebung, das heißt genau die oben vermerkte ekstatische Phänomenalität, in ein strategisches Bündnis ein, um das Modell der gewöhnlichen Vorstellung zu durchbrechen. Dieser »Ruin der Vorstellung« nach einem bekannten Wort Heideggers wie Levinas’ 62 will das Sichzeigen des Phänomens rehabilitieren, und zwar als ein solches, welches das Bewusstsein durch die »Projektion der Gabe des Gegebenen« zerspringen lässt, um das Erscheinen hervorzurufen. Ebd., 165 f. Vgl. »Der Untergang der Vorstellung«, in: E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Alber 1992, 120–139.

61 62

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Damit wird Heideggers Bestimmung des Phänomens aus § 7 von »Sein und Zeit« letztlich adoptiert, dieses sei »das Sichzeigende […], so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lässt« 63, auch wenn der Leitfaden der »Seiendheit« kritisch von Marion destruiert wird. Auf diese Weise tritt aber erneut das auch religionsphänomenologische Dilemma solcher Gebung hervor, welches wir durch das lebendige Sich-Geben unterstreichen wollten. Weil jedes Phänomen sich gibt, kann solches Sich als Ipseität nicht mehr die »Selbstheit« des Daseins als entschlossenes Sich-Voraus sein, wobei es überhaupt fraglich ist, ob man von der Betonung des »Sinns des Seins des Seienden« zum »Sich« des Erscheinens von Sein/Seiendem zurückfinden kann. Nachdem Marion schon an anderer Stelle zugestanden hatte, dass »das Bewusstsein das Zerspringen des Gegebenen nur wie einen Lichtstrahl der Sichtbarkeit erfahren kann, wenn es sich selbst zunächst […] ausliefert und darbietet, [das heißt in einer] archaischen Passivität a priori,« welche seine eigene innerste Affektion ausmache, 64 greift er dennoch zur Bestimmung des »Sich« (welches genau die ipseisierende Phänomenalität dieses affektiven Bewusstseinspathos wäre) auf das Modell des Abstandes zurück: »Ein solches ›Sich‹ besteht im Abstand (écart), der das Hervorbrechen (Gebung) von seinem Gegebenen unterscheidet und damit verbindet: es ist das, was zum Erscheinen aufsteigt, unter dem Druck der Gebung dahin gelangt und mit diesem Elan beschwert ist.« 65 Damit führt Marion in seine frühere Erkenntnis von der affektiven »Selbstentzündung« des Bewusstseins durch die Selbstaffektion im Sinne Michel Henrys einen Begriff ein, nämlich Abstand, Zerspringen/Aufbrechen oder Differenz, der genau dem entgegensteht, was seine Beschreibung eigentlich suggeriert: ein »Sich«/Bewusstsein als nur mit dem Leben beladenes Sich-Erproben, das in dieser Beladenheit die ganze Last des Lebens als seinen »Elan« (Bewegung, Trieb usw.) empfängt. Marion erwähnt an dieser letzten Stelle, wie auch sonst, Henry nicht ausdrücklich, aber es ist mehr als offenkundig, dass seine Bestimmung des Sich ganz von der gegen-reduktiven Sichtweise der reinen Sich-Immanenz als Gebung inspiriert ist: »Wenn es heißt, dass J.-L. Marion, Ėtant donné, 100 f. J.-L. Marion, »Vorwort«, in: M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München: Alber 1992, 13 f. 65 Ėtant donné, 102; vgl. zur Selbstaffektion des Fleisches auch ebd., 434 f. 63 64

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das Leben sich in der Affektivität selbstempfindend ohne mögliche Distanzierung erprobt, dann besagt dies, dass es in dieser pathischen Selbsterprobung, die es unaufhörlich erfährt, sich selbst auf sich nimmt, jenen Gehalt sich auflädt, der es selbst ist und dem es nicht entkommen kann. So ist das Leben in seiner Selbstoffenbarung ein Ertragen, ein ›Sich-Selbst-Erleiden‹ […], das stärker als jede mögliche Distanzierung ist. Dank solcher Distanzierung könnte das Leben sich selbst entkommen, was durch eine Eröffnung eines Außen möglich würde, durch einen beliebigen Horizont, beispielsweise im Abstand der Zeit.« 66 Wie bewusst sich Marion der Zweideutigkeit seines Vermittlungsversuches anbetracht dieser Henry’schen Vorlage ist, nämlich den Abstand zugleich als Trennung wie Verbindung zu verstehen (l’écart qui distingue et lie le surgissement [donation] à son donné), zeigt die sofort darauf folgende Einschränkung in phänomenaler Hinsicht: »Das Erscheinen des Phänomens erlegt sich nicht wirklich auf, weil es schon den Rang von Objekt oder Seiendem erreicht hätte, sondern weil […] die Autorität einer Gebung [auf ihm] lastet und sich in ihm setzt.« 67 Er wiederholt damit nur die Schwierigkeiten Husserls hinsichtlich der originär passiven Synthesis, denn ein Erscheinen ohne Abhebung ist noch kein »Phänomen« als Gegebenheit im strikten Sinne, aber andererseits kann solche Weckung nicht ohne »affektive Kraft« gedacht werden, die ihrerseits noch vor Welt und Horizont ist. Es erstaunt im Übrigen, dass Marion die Gebungsproblematik fast nur von der wahrnehmungsgebundenen Intention her angeht, jedoch mit Ausnahme einiger von uns hier problematisierter »Grenzphänomene« wie Tod und Ich-Entzug nicht auch gerade von der passiven Triebintentionalität bei Husserl aus, was zumindest die Gegen-Methode als Abbauanalyse differenzierter gestaltet hätte. 68 So muss Marion letztlich zugestehen, was seine ganze Demonstration angesichts der Kritik an seinem Begriff »gewöhnlicher« Phä66 M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, 201; vgl. auch M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 148 f. u. ö. 67 Ėtant donné, 102.; vgl. ebd., 351 f. ähnlich betreffs Kants Rezeptivität. 68 Vgl. etwa den problematischen Hinweis auf ein »Phänomen ohne Genealogie« sowie auf die »Urimpression« ausschließlich in nicht-kausaler Hinsicht in Ėtant donné, 199, 209 f., 214, sowie zur weiteren Diskussion in Bezug auf Leib/Fleisch und Erotik in solchem Zusammenhang J.-L. Marion, Le phénomène érotique, Paris: Grasset 2003 (dt. Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg/München: Alber 2011; »Der Leib oder die Gegebenheit des Selbst«, in: M. Staudigl (Hg.), Gelebter Leib – verkörpertes Leben, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, 21–42.

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nomene im Unterschied zu »gesättigten« Phänomenen an sich zurückweisen will, dass nämlich in der Tat die Gebung das Gegebene mit einem »phänomenologischen Mangel« (tare: auch »Fehler«) belädt – mit dem Hervorbrechen selbst der Sichtbarkeit! Damit wiederholt Marion nicht nur eine klassische Geste der Metaphysik in ihrem Gründungsgeschehen, insofern hierbei stets die Endlichkeit mit einem Verfall belastet wird, um »Anderes« zur Einsicht zu bringen, sei dies die reine Idee oder Gott usw. Vielmehr muss er ebenfalls eingestehen, dass seine phänomenologische Leere der univok formalisierten Gebung aufgrund der systematisch inhärenten Abhängigkeit von Intentionalität, Sichtbarkeit oder Abstand/Differenz nur eine Lösung zulässt: entweder das Leben als absoluten Phänomenalisierungsgrund zu vergessen oder den Mangel am Gegebenen konstitutiv festzuschreiben. Gegen beides will sich Marion an sich verwahren, denn das Gegebene soll keineswegs »den Rang ohne Ehre eines einfach Hervorgebrachten« einnehmen, und jede fundamentalphilosophische Untersuchung sei naturgemäß »abstrakt« 69 – das heißt »leer« in unserem Sinne. Aber das Leben ist eben niemals abstrakt in dieser formalen Hinsicht, und besonders in seiner immanenten Selbstgebung nicht, so dass sich eine radikale (Gegen-)Reduktion diesem originären Sachverhalt angleichen muss, ohne zu vergessen, dass sich in der Tat kein Diskurs jemals dem Leben als solchem selbst zu substituieren vermag.

69 Vgl. Etant donné, 103 f. Wir haben diese Kritik hinsichtlich des »Subjekts« bereits dargestellt in unserem Beitrag »Passivität und Zeugenschaft – oder die Verdächtigung des ›Subjekts‹«, in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zu seinem Werk, 177–198.

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IV. Die Herausforderung der Hermeneutik

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Gegebenheit und Hermeneutik Jean-Luc Marion

Eine der großen Fragen in der Phänomenologie ist es, ob man von einem irreduzibel Zugrundeliegenden ausgehen kann und soll. Dabei beruht diese Fragestellung ihrerseits auf zwei Motiven: Es ist nämlich die phänomenologische Reduktion, die in ihrem Vollzug immer eine Radikalisierung mit sich bringt und darin die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit eines Nichtreduzierbaren als einer phänomenologischen Ausnahme ausweist, und sei es nur als Umkehrschluss einer Implikation. Hierbei kann man unter diesem Irreduziblen ein Phänomen verstehen, das in letzter Instanz nicht mehr einer Reduktion unterzogen werden kann 1 oder die Reduktion in ihrem Vollzug selbst ist. Diese beiden Hypothesen treffen auf zwei starke Einwände, zumindest auf den ersten Blick. Der eine Einwand bezieht sich darauf, dass die Reduktion nicht die geringste Ausnahme zulassen kann, die zweite Kritik darauf, dass die Phänomenologie stets absolut an den Akt der Reduktion gebunden ist. Diese Einwände scheinen überzeugend zu sein, widersprechen sich aber untereinander eindeutig: Das erste Argument gründet sich auf die absolute transzendentale Autorität der Reduktion, während das zweite die Aufhebung der Rolle der Reduktion als Initiator des Vollzuges der Reduktion selbst impliziert. Daher kann man die beiden Einwände nicht miteinander in Einklang bringen und muss einen von beiden privilegieren, was vielen Kritikern oft nicht klar zu sein scheint. So ist eine Entscheidung zu treffen: Entweder ist es so, dass, je mehr an Reduktion durchgeführt wird, desto weniger es an Zugrundeliegendem (und somit an Gegebenheit) geben kann, so wie es Marc

So die Frage nach Gott, wie wir diese in unserem Aufsatz »L’irréductible« entwickelten (in: J.-L. Marion: Figures de phénoménologie, Paris: J. Vrin 2012, Kap. X, Wiederabdruck aus Critique, no 706–707, 2006).

1

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Richir vertritt 2, oder es gibt umso mehr an Phänomenalität (also an Gegebenheit), wenn man den transzendentalen Status der Reduktion aufgibt, wie das Claudio Romano und ohne Zweifel auch Jocelyn Benoist in der Tradition Merleau-Pontys tun. Man entzieht sich vielleicht nie so leicht dem Vierten Prinzip der Phänomenologie »Je mehr Reduktion, desto mehr Gegebenheit«, wie wenn man abstrakte Verneinungen oder eine große Anzahl an Einschränkungen einführt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass dieses Dilemma seinerseits auf Annahmen beruht, die man zunächst einmal klar benennen sollte, bevor man sie dann in Frage stellt. Das bezieht sich also zunächst auf die Annahme, dass die Reduktion einen transzendentalen und somit metaphysischen Status bewahrt, indem sie sich auf ein seinerseits unbedingtes Ich stützt. Indessen spricht einiges dafür, dass die Entwicklung der Phänomenologie beginnend mit Husserl darin bestand, die gesetzte Transzendentalität des kantianischen und postkantianischen Ich einzuklammern, um daraus sowohl das Resultat wie auch den Ursprung zu machen, und um es gemäß des jeweiligen Reduktionstyps zu modifizieren, das sich nur so als Akt vollzieht, sich darin als Zugrundeliegendes zu erweisen. Die Diskussion über die Reduktion bleibt solange abstrakt und somit ohne Bedeutung, solange man nicht die Rückwirkung auf das, was zu Beginn der Reduktion stand und sie ausgelöst hat, berücksichtigt und somit auch die Rückwirkung auf die Definition der je konkret vorgenommenen Reduktion unberücksichtigt lässt.

»Eine reine Gebung des phänomenologisch Transzendentalen […] kann es nicht geben, und man könnte soweit gehen, zu sagen: Je mehr Reduktion, desto weniger Gebung.« (M. Richir: Intentionnalité et intersubjectivité, in: D. Janicaud (Hg.), L’intentionnalité en question, Paris: J. Vrin 1995, 154). Aber davon abgesehen, dass es sowohl unverständlich bleibt, wie das »Transzendentale« sich jemals geben könnte, wie es auch die Frage ist, wer denn diese Leistung jemals behauptet hat, fragen wir uns: Was bedeutet hier »reine Gebung«? Versteht man darunter eine unmittelbare Gegebenheit des phänomenologischen Gegenstandes, dann handelt es sich um eine Unmöglichkeit aus Prinzip, da die Gegebenheit niemals eine Sache, ein Objekt und auch keine eindeutige Bedeutung gibt (kein weltlicher Gegenstand gibt sich ganz, sondern nur in passiv-synthetischen Vorzeichnungen, wie Husserl immer wieder vorträgt; aus dem es gibt resultiert niemals eine Sache betont Heidegger). Wenn man darunter eine reine und gewisse Selbstgebung versteht, dann widerspricht man den Texten Husserls, die in den Fußnoten 18 und 19 dieses Aufsatzes zitiert werden, und die bestimmen, dass die absolute Sicherheit der Gegebenheit direkt proportional zur Reduktion wächst. 2

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Gegebenheit und Hermeneutik

Eine zweite Annahme unterliegt darin der Kritik, dass die Bestimmung des gesuchten Irreduziblen keine Selbstverständlichkeit ist. Eine recht weit zurückreichende polemische Kritik hat, (spätestens) ausgehend von Jean Cavaillès, die Phänomenologie als Bewusstseinsphilosophie ausgewiesen (in Gegensatz zu einer Philosophie, die auf einer nüchternen und rigiden Idealsprache basiert, so als ob Begriffe ohne Bewusstsein möglich wären, und wäre es nur in der Form von »reinen« Begriffen) und somit als eine auf Anschauung basierende Philosophie. Das bedeutet in der Folge, dass das angenommene Irreduzible der Phänomenologie in der Anschauung bestehen würde, so wie im Bewusstsein wahrgenommen. Diese Hypothese kann jedoch sogleich durch eine gründliche textimmanente Interpretation von Husserls Logischen Untersuchungen I zurückgewiesen werden, so wie wir sie ausgehend von Réduction et donation 3 vorgenommen haben. Husserls am Ausgang seiner Überlegungen stehender »Durchbruch« besteht zum einen in der Erkenntnis, dass die Anschauung sich nicht nur auf das in der Erscheinung Gegebene beschränkt, (sondern sich auch auf das Eidetische und Kategoriale erstreckt). Darüber hinaus besteht er darin, dass die Anschauung selbst nur soweit wirklich sein kann, wie mit und in ihr eine Gebung erfolgt, die ihr insofern zu Grunde liegt, als dass sie jede Bedeutung mit umfasst. Was zeigt nun genauer betrachtet Husserls Durchbruch hin zur Gegebenheit? Kann man ihn beiseite lassen, so als ob es sich dabei um eine randständige und somit unwahrscheinliche Idee eines venerabilis inceptor handelte? Oder könnte man sogar noch weiter gehen und darin eine fantastische Eingebung eines Epigonen sehen? Heidegger nahm sich dieser Frage an und wies ihr ab 1919 eine Schlüsselrolle zu: »Was heißt ›gegeben‹, ›Gegebenheit‹, dieses Zauberwort der Phänomenologie und der ›Stein des Anstoßes‹ bei den anderen?« 4 Es wäre dabei nicht angemessen, die Gegebenheit auf das zu reduzieren, was sie an Funktion in der Überschreitung der Anschauung und des hyletisch Gegebenen hat, da man sie so nur deswegen würdigen würde, um sie damit in der Folge zu vergessen. Was sich dem widersetzt, ist, um es noch einmal zu sagen, das Vierte Prinzip der Phänomenologie »Soviel

3 Vgl. J.-L. Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: PUF 19891, Kap. I, bes. § 7 »La donation comme question«. 4 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919/20) (Gesamtausgabe Bd. 58), Frankfurt/M.: Klostermann 1993, § 1, 5. Weiteres hierzu in Jean-Luc Marion, Figures de phénoménologie, Paris: J. Vrin 2012, Kap. III.

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Gegebenheit wie Reduktion«, das zumindest als Frage eine Herausforderung bleibt. Um diese Frage nun aufzunehmen, begeben wir uns in eine mittlerweile etablierte, aber doch ungünstig thematisierte und somit fragil bleibende Diskussion über den Zusammenhang zwischen Gegebenheit und Hermeneutik, der in der Regel als ein Ausschlussverhältnis aufgefasst wird.

1.

Gegebenheit statt Anschauung.

Man muss also dem Faktum der Gegebenheit zugestehen, die letzte Instanz zu sein, ohne davor zurückzuschrecken, so als handelte es sich bei dieser Faktizität um einen Nachteil oder ein störendes Element. Dies gilt umso mehr, als dass die Gegebenheit als Faktizität ja erst noch bestimmt werden muss, da sie als solche neutralen Charakter hat. Festzuhalten bleibt also zunächst, dass die Gegebenheit in ihrer Geltung anzuerkennen ist. Husserl lässt diesbezüglich keinen Zweifel und keine Zweideutigkeit zu, wenn er von einem ontologischen Rechtsgrund spricht: »Absolute Gegebenheit ist ein Letztes. […] Andrerseits die Selbstgegebenheit überhaupt zu leugnen, das heißt alle letzte Norm, alles der Erkenntnis Sinn gebende Grundmaß leugnen«. Er fügt hinzu, dass das Problem der reinen Erkenntnis nur »[…] in der Sphäre der letztnormierenden, weil absoluten Gegebenheit […]« 5 gelöst werden kann. Eine solche Norm erweist ihre Primordialität im Hinblick auf eine in einem anderen Sinn »unüberwindliche« Differenz zwischen der Welt in ihren einzelnen Aspekten und dem Bewusstsein, eine Differenz, die alles voneinander trennt (Immanenz/Transzendenz, Gewissheit/Kontingenz, das Absolute/das in Relation Stehende usw.), die sich aber nichtsdestotrotz in der Gegebenheit abspielt und sich in ihr entfaltet, wie Husserl schreibt: »Wir halten also fest: Während es zum Wesen der Gegebenheit durch Erscheinungen gehört, daß keine die Sache als ›Absolutes‹ gibt, statt in einseitiger Darstellung, gehört es zum Wesen der immanenten Gegebenheit, eben ein Absolutes zu geben, das sich gar nicht in Seiten darstellen und ab-

5 E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie. 5 Vorlesungen (Husserliana Bd. II), hg. v. W. Biemel, 2. Aufl., Dordrecht, London: Nijhoff 1958, 61.

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schatten kann.« 6 Wie auch immer: »Darin bekundet sich eben die prinzipielle Unterschiedenheit der Seinsweisen, die kardinalste, die es überhaupt gibt, die zwischen Bewußtsein und Realität«, sie bleibt »ein prinzipieller Unterschied der Gegebenheitsart«. 7 Auf seine eigene und von Husserl sehr zu unterscheidende Weise vollzieht Heidegger eine parallele Denkbewegung, die sich auf das Es gibt bezieht. Wir konnten an anderer Stelle diskutieren, ob diese Denkbewegung Heideggers hin zum Ereignis nicht die enigmatische Unbestimmtheit des Es (»rätselhaftes Es«) vorschnell verdeckt oder aufhebt, das Es, das als unbestimmte Macht gibt, so wie das übrigens auch in den Übersetzungen ins Französische (il y a) oder ins Englische (there is) durchklingt. 8 Nichtsdestoweniger gibt das Es, und zwar nicht als dieses Wort Es, sondern als das Wort, d. h. als sich selbst gebend. Und als Wort gibt es ohne Kontext, Vorwand und Hermeneutik: »Vom Wort dürften wir, sachgerecht denkend, dann nie sagen: Es ist, sondern: Es gibt – dies nicht in dem Sinne, daß es ›Worte‹ gibt, sondern daß das Wort selber gibt. Das Wort: das Gebende.« 9 Die Gegebenheit hat hier das letzte Wort, weil alleine das Wort gibt und sich die Gegebenheit in der gesprochenen Sprache vollzieht. In einem strikten Sinne lässt sich über die Gegebenheit nichts sagen, so wie man über sie auch nichts sagen muss, weil sie alleine redet und darin jede Diskussion aufhebt. Die Gegebenheit manifestiert sich als ein factum, halten wir uns dabei an die beiden großen Begründer der Phänomenologie, und zwar auf die Weise eines »factum rationis, ultima ratio rerum«, das sich als Letztes wie als Erstes als Rechtsgrund von allem gibt. Diese Letztgültigkeit kann nicht in Frage gestellt werden und ist irreduzibel, was das Resultat der Reduktion ist, die dort (in der Gegebenheit) bleibt oder zum Residuum von ihr wird. Von daher wird auch deutlich, wie man den Eindruck gewinnen kann, dass jede Vermittlung und jede Hermeneutik ausgeschlossen sei. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana Bd. 3/1), hg. v. K. Schuhmann, Den Haag: Nijhoff, 1977, § 44, 93. Diesbezüglich sei auf die aufschlussreiche Untersuchung Didier Francks verwiesen: Chair et corps. Sur la phénomenologie de Husserl, Paris: Minuit 1981. 7 Ebd., § 42, S. 87–88. 8 Vgl. M. Heidegger, Zeit und Sein, in: ders., Zur Sache des Denkens (Gesamtausgabe, Bd. 14), Frankfurt/M.: Klostermann 2007, 22. Zum Übergang vom es [gibt] zum Ereignis, siehe ebd. 24 und 35. 9 M. Heidegger, Das Wesen der Sprache (1957/58), in: ders., Unterwegs zur Sprache (Gesamtausgabe, Bd. 12), Frankfurt/M.: Klostermann 1985, 182. 6

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2.

Die Gegebenheit gibt niemals Dinge

Daraus ergibt sich auch eine immer wiederkehrende Kritik, die in der Klage über den Fetischismus des Gegebenen besteht. Diese Kritik ist ein Hilferuf an die Hermeneutik, damit mit ihrer Hilfe das der Behauptung nach so Missachtete wieder in seinen Rechten hergestellt wird, um also, um dies in den Worten eines Kritikers zu sagen: »eine Phänomenologie, deren Reinheit von der Gebung genommen worden ist« 10, wiederherzustellen. Dieser Einwand wurde als im Stil eines Selbstverständlichen von Jean Grondin 11 und Jean Greisch 12 eingeführt, erlangte von dort aus eine gewisse Popularität und wurde zu einem Grundargument, nicht zuletzt für die Theologen 13. Wenn man aber eine der aktuellsten Formulierungen dieses Einwandes näher untersucht, so sieht man sogleich seine Begrenztheit. So heißt es: »Der wahre Prüfstein der Phänomenologie, so wie in Etant donné dargelegt, ist die unbedingte Universalität der Gegebenheit, der nichts zu entgehen vermag, und die im Besonderen die Notwendigkeit eines Bezuges auf die Hermeneutik erübrigt.« 14 Nun besteht die ganze Frage gerade darin, zu wissen, ob »die unbedingte Universalität der Gegebenheit«, von deren Geltung einmal ausgegangen wird, den »Bezug auf die Hermeneutik« wirklich »erübrigt«: In analytischer Hinsicht jedenfalls gibt es keine Verbindung der beiden Begriffe, so dass man nicht sieht, worin die Gegebenheit als solche die Hermeneutik ausschließen würde, so wie auch nichts dafür spricht, dass sie die Hermeneutik erfordern würde. F.-D. Sebbah, L’épreuve de la limite. Derrida, Henry, Lévinas et la phénoménologie, Paris: PUF 2001, 307 11 Vgl. Grondins Aufsatz »La phénoménologie sans herméneutique«, in: ders., L’herméneutique de la pensée contemporaine, Paris: Vrin 1993 (Kap. IV, 81–90), wiederabgedruckt in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1992/2. 12 Vgl. den Aufsatz von Greisch: »L’herméneutique dans la ›phénoménologie comme telle‹. Trois questions à propos de Réduction et donation« in: Revue de Métaphysique et de Morale 1(1991) sowie ebd. »À propos de Réduction et donation de Jean-Luc Marion«, wie auch »Index sui et non dati. Les paradoxes d’une phénoménologie de la donation«, in: Transversalités, 70(1995). 13 Vgl. K. Tanner, »Theology and the limits of phenomenology«, in: K. Hart (Hg.), Counter-Experience. Reading Jean-Luc Marion, Notre-Dame: South Bent, 2007, 328; sowie H.-J. Gagey, »La théologie entre urgence phénoménologique et endurance herméneutique«, Recherches de Science religieuse, 98/1(2010). 14 C. Serban, »La méthode phénoménologique entre réduction et herméneutique«, in: Les Etudes philosophiques, 2012/1, 88. 10

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Der Einwand setzt hier gerade das voraus, was zu beweisen ist, nämlich die Unvereinbarkeit des Grundes der Phänomenalität mit der differenzierten Darlegung ihrer Sinngehalte. Diese Inkompatibilität könnte sich nicht als Denkfigur bilden, würde die Gegebenheit mit einem objektivierbaren Phänomen einhergehen, das von einer eindeutigen Bedeutung bestimmt wäre, welche keinerlei Interpretation zuließe, eben da sie bereits vollständig in einem seinerseits vollständig bestimmten Begriff determiniert wäre. Gibt aber die Gegebenheit immer oder jemals ein solches eindeutig mit einer eindeutigen Bedeutung ausgestattetes Objekt? Wird die Gegebenheit mit der Wirktatsächlichkeit, die ein eindeutig bestimmtes Objekt hervorbringt, vermengt? Kommt Geben einem Erschließen von Etwas als ImGriff-Haben oder Im-Blick-Haben gleich? Wer die Gegebenheit in diesem Sinne nur auf die Hervorbringung und Effizienz reduziert sieht, für den würde die Gegebenheit nichts mehr geben können, da in diesem Hervorbringen sich nichts mehr geben könnte. Heidegger hat dieses Missverständnis, das jeden Ansatz, der von der Gegebenheit ausgeht, im Voraus bereits mit einer Hypothek belastet, deutlich herausgestellt. Diese Hypothese bestätigt übrigens, dass die Gegebenheit, die oft zum Stein des Anstoßes wird, mehr ein Rätsel als eine Lösung darstellt, und auf jeden Fall nicht leicht zugänglich ist, wie Heidegger schreibt: »Gibt es überhaupt eine einzige Sache, wenn es nur Sachen gibt? Dann gibt es überhaupt keine Sachen; es gibt nicht einmal nichts, weil es bei einer Allherrschaft der Sachsphäre auch kein ›es gibt‹ gibt. Gibt es das ›es gibt ‹?« 15 Noch anders lässt sich das mit einer von Theodore Kisiel überlieferten Notiz eines Studenten ausdrücken: »Gibt es ein ›Es gibt‹, wenn es nur ein ›Es gibt‹ gibt?« 16 Mit anderen Worten verschwinden die Gegebenheit und das Es gibt bzw. lösen sich auf, wenn man sie auf eine einfache Hervorbringung von Dingen, also auf vollgültig und eindeutig konstituierte Objekte, reduziert. Aus eben diesem Grund kann es auch keine Ansatzpunkte für eine Interpretation geben. Dieser Ausschluss der Hermeneutik fällt mit dem Moment des Verschwindens der Gegebenheit exakt zusammen und mitnichten mit seiner Begründung. M. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie (Gesamtausgabe Bd. 56/57), Frankfurt/M.: Klostermann 1987, 62. 16 Zitiert aus: T. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley: University of California Press 1993, 42. 15

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3.

Das Gegebene gibt sich niemals unmittelbar

Dass das Gegebene unmittelbar sein soll, aber zugleich auch ein für das theoretische Erkennen geeignetes Objekt an die Hand zu geben hat, bildet den Widerspruch, den der »Mythos des Gegebenen« voraussetzt, so wie zugleich auch die immer wieder an ihm hervorgebrachte Kritik. So lesen wir bei Wilfrid Sellars: »[…] wird man sich allerdings auf den Begriff – oder besser gesagt auf den Mythos – des Gegebenen berufen, um die Möglichkeit einer direkten Bezugnahme auf unmittelbare Erfahrung zu erklären«. 17 Auf diese Weise verstanden wäre das Gegebene zunächst nicht vermittelt, was gemäß Sellars »die philosophische Idee des Gegebenseins, oder um Hegels Ausdruck zu verwenden, der Unmittelbarkeit« 18, bedeutet. Auf diese Weise ergibt sich eine Konzeption des Gegebenen wie im klassischen Empirismus John Lockes im Sinne des sense datum. Sie zieht also unfehlbar den Einwand auf sich, dass sie in ihrer Unmittelbarkeit eben auch noch keine Objekte enthalten kann, wodurch sie diesseits jeder epistemologischen Gültigkeit bleibt. Wenn sie aber auch nur den Ansatz einer epistemologischen Bedeutung in sich aufweisen würde, wäre sie nicht mehr unmittelbar, da sie in diesem Fall bereits ein konstituiertes Objekt enthielte. 19 Das klassisch empiristisch aufgefasste Gegebene wäre als Unmittelbares zugleich ein Unabhängiges – mit Sellars gesprochen ein »autonomes und nicht-inferentielles Wissen«. 20 Daraus ergibt sich Sellars entscheidende Argumentation: Ein solcherart Gegebenes kann sich nicht sogleich aus sich selbst heraus konstituieren, sondern erhält seinen epistemologischen Gehalt durch eine Konstitutionsleistung, die von einer kontingenten Abhängigkeit zeugt, gemäß der das Gegebene epistemologisch relevant wird. 17 W. S. Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, übers. v. T. Blume, Paderborn: mentis 1999, 48. 18 Ebd., 3. 19 Ebd., 3–4. An dieser Stelle wird folgendes Dilemma ausgewiesen: Was empfunden wird, ist ein spezifisch für sich Stehendes, so dass der Sinneseindruck epistemologisch keinen Wert hat; um aber als Empfundenes auch erkannt werden zu können, muss es den Status eines Gegenstandes besitzen, so dass es nicht mehr unmittelbar, noch ein einzeln Gegebenes ist. 20 Ebd., 59 ff. Die diesbezügliche Kritik, die Sellars in Hinblick darauf, dass das Gegebene notwendig nicht-konzeptuell bleibt, entwickelt, kann sogleich durch einen Hinweis auf Husserls Entdeckung der Gegebenheit der Bedeutungen (und der kategorialen Anschauung) entkräftet werden.

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Dieser zweifache Einwand lässt sich in der Kritik Quines zusammenfassen: Die Verbindung zwischen den postulierten unmittelbaren data (was x im Moment t ist, räumlich bestimmt in l usw.) und der elementaren Aussage (gemäß der semantischen Regeln), lässt sich nicht realisieren, es sei denn durch eine Synthese oder, wie wir sagen würden, Konstitution, die unweigerlich vermittelt ist. Ein strenger Reduktionismus kann somit nicht ohne Konstitutionsleistungen auskommen. 21 Anders bestimmt lassen sich mit Otto Neurath ausgedrückt keine unmittelbaren Protokollsätze finden: »Die Fiktion einer aus sauberen Atomsätzen aufgebauten idealen Sprache ist ebenso metaphysisch wie die Fiktion des Laplaceschen Geistes.« Und weiter: »Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.« 22 Die Kritik des »Mythos des Gegebenen« ergibt also eine präzise Definition dieses Gegebenen, die indessen in sich widersprüchlich ist: Sie verbindet die Unmittelbarkeit eines sense datum, das auf die Anschauung begrenzt ist, die ihrerseits wieder auf die sinnliche Anschauung beschränkt ist, und findet sich sodann in einem rein subjektiven, individuellen, unbezweifelbaren Affektivem vereinigt, das nicht mitgeteilt werden kann (als eine Privatsprache oder überhaupt jeder Sprache entzogen). Zum anderen nun profitiert es von der epistemologischen Gültigkeit eines »ersten Objektes«, verstanden als eine evidente elementare und dem Verstehen zugängliche Einheit. Ganz abgesehen von dem Widerspruch, in dem diese beiden Eigenschaften zueinander stehen (Neurath), kann man die Unmöglichkeit der beiden je für sich genommen zum Gegenstand der Kritik machen. Man setzt zunächst voraus, dass das Gegebene sich stets ohne weitere Vermittlung im Horizont des Objektes findet, wobei es unberücksichtigt bleibt, dass dieses Objekt bereits konstituiert worden ist oder noch konstituiert werden wird, da es sich um ein Seiendes handelt, dass immer schon auf die Weise der Vorhandenheit gegeben ist, also bereits durch ein objektivierendes Wissen eine stabile Form 21 Vgl. W. van Orman Quine, »Two dogmas of empiricism«, in: Philosophical Review (1960). 22 O. Neurath, »Protokollsätze«, in: Wiener Kreis, hg. v. M. Stöltzner und T. Uebel, Hamburg: Meiner 2006, 399–411, hier 311 und 313.

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besitzt. Es ginge nun zu weit, das zu wiederholen, was Claudio Romano vor kurzem diesbezüglich demonstriert hat. 23 Stattdessen konzentrieren wir uns auf das Ergebnis seiner Argumentation: Das Gegebene kann sich nur als der Seinsweise des Objektes äußerlich auffassen und als etwas, in dem es noch keine Konstitutionsleistung gibt bzw. auch nicht notwendig eine solche Realisierung des Objektes durchgeführt werden muss. Sobald das Objekthafte mit seinen Charakteristika und epistemologisch-ontologischen Ansprüchen (dauerhafte Existenz, Definierbarkeit, Universalisierbarkeit usw.) auftaucht, ist das Gegebene bereits zum Verschwinden gebracht worden. Das Gegebene kann somit nur in seiner Irreduzibilität auf das Objekthafte gedacht werden. Wenn also die Kritik, die dem Gegebenen die Rhetorik des »Mythos des Gegebenen« auferlegt, auf ihrer eigenen Unfähigkeit beruht, die Bedingungen der Objekthaftigkeit zu erfüllen, ist daraus zu schließen, dass sie sich niemals auf das Gegebene als solches richtet, sondern auf eben einen solchen Mythos. Aber die Kritik des »Mythos des Gegebenen« verleiht ihm auch eine zweite Eigenschaft, die unverzichtbar für die Bildung der Widersprüchlichkeit des Mythos ist, nämlich dass es unmittelbar bleibt. Darin findet sich eine bis in die gängigsten Interpretationen in der Phänomenologie weit verbreitete Annahme bezüglich der Bedeutung der Begriffe des Gegebenen und der Gegebenheit wieder. Nun muss man aber im Gegensatz dazu das Paradox besonders betonen, dass aus der Perspektive einer strengen Phänomenologie es gerade dem Gegebenen zukommt, sich nicht selbst unmittelbar geben zu können, und dies vor allem nicht in der Unmittelbarkeit der sense data, obwohl sich diese in einer perfekten Tatsächlichkeit geben, oder vielmehr, weil sie sich als ein unbedingtes und originäres Faktum geben. Beziehen wir uns nun auf ein Argument Husserls, das unseren Ausgangspunkt bilden soll: »Nicht das psychologische Phänomen in der psychologischen Apperzeption und Objektivation ist wirklich eine absolute Gegebenheit, sondern nur das reine Phänomen, das reduzierte.« 24 Und an anderer Stelle heißt es: »Nämlich für den singulär vorliegenden Fall einer cogitatio, etwa eines Gefühls, das wir gerade erleben, dürften wir vielleicht sagen: das ist gegeben, aber beileibe

C. Romano, Au coeur de la raison, la phénoménologie, Paris: Gallimard 2010, im Bes. Kap. XIX. 24 E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie, 7. 23

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dürften wir nicht den allgemeinsten Satz wagen: die Gegebenheit eines reduzierten Phänomens überhaupt ist eine absolute zweifellose.« 25 Solange das Phänomen noch und ausschließlich dem Erleben angehört, so dass es den Charakter der Unmittelbarkeit in sich trägt, bleibt es zweifelhaft, unbestimmt und also nicht effektiv gegeben. Denn es reicht nicht, wahrgenommen und gefühlt zu werden, um sich gegeben zu sein, denn sonst würde die Farbe einer Krawatte, je nach Lichteinfall variierend, ausreichen, um ein Gegebenes zu bilden. Das Wahrgenommene und Gefühlte werden nur durch die Durchführung der Reduktion zu einem absoluten und unbezweifelbaren Gegebenen, also in und durch die Vermittlung. 26 Das besagt aber nicht, dass das Gegebene, weil es vermittelt und nicht mehr nur in der Anschauung empfunden wird, sich dennoch als Objekt konstituieren müsste. Um das zu verstehen, gehen wir von einem zweiten Argument aus, das aus einer klar gestellten Fragestellung Heideggers stammt. »Die Problemsphäre der Phänomenologie ist also nicht unmittelbar schlicht vorgegeben; sie muß vermittelt werden. Was heißt nun: etwas ist schlicht vorgegeben? In welchem Sinne ist so etwas überhaupt möglich? Und was besagt: etwas muß vermittelt, allererst zur Gegebenheit ›gebracht‹ werden?« 27

25 Ebd., 50. Siehe im weiteren: »Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet.« (Ebd., 44). Sowie: »Eben das muß man sich ja zur Klarheit bringen, daß das absolute Phänomen, die reduzierte cogitatio uns nicht darum als absolute Gegebenheit gilt, weil sie Einzelheit ist, sondern weil sie sich im reinsten Schauen nach der phänomenologischen Reduktion eben als absolute Selbstgegebenheit herausstellt.« (Ebd., 56). 26 Eugen Fink bestätigt diesen Aspekt: »›Gegebenheit‹ bedeutet also in diesem Zusammenhang nicht ein Vorhandensein und ein Vorliegen, etwa wie die Dinge als Gegenstände der natürlich weltlichen Erfahrung ›gegeben‹, da sind; sondern bedeutet die mögliche Zugänglichkeit durch die Entfaltung der phänomenologischen Reduktion.« (E. Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, hg. v. H. Ebeling, Dordrecht: Kluwer 1988, 63–64.). So gilt: Wenn man ungeschickterweise das »Gegebene« mit der unmittelbaren sinnlichen Anschauung gleichsetzt, wie dieses fast immer außerhalb der Phänomenologie geschieht, so müsste jedes wahre Phänomen als nicht-gegeben qualifiziert werden: »Der »Gegenstand« – oder besser die Gegenstände – der konstruktiven Phänomenologie sind nicht »Gegeben«; das darauf gerichtete Theoretisieren ist nicht »ein anschauliches Gegebenhaben, ist nicht »intuitiv«, sondern als Bezogensein auf solches, was gerade durch seine transzendentale Seinsweise der Gegebenheit prinzipiell entzogen ist, ungegeben ist, konstruktiv.«. (Ebd. 62). 27 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, 27.

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Hier kommt es dem ersten Anschein nach zu einer sehr einfachen Analyse, die jedoch als Paradigma für sein Denken aufgefasst werden sollte, da sie entscheidende Bedeutung für den jungen Heidegger hatte, der über Folgendes ins Staunen geriet: »Das naive Bewußtsein […] macht schon zu viele Annahmen und Voraussetzungen, statt sich darauf zu besinnen, was unmittelbar, primär gegeben ist. Was unmittelbar gegeben ist! Jedes Wort ist hier von Bedeutung. Was besagt unmittelbar?« 28 Wenn also der Professor aufrecht vor dem Katheder stehend spricht, was nehmen dann die Studenten wahr? Oder noch genauer gefragt: Welches Phänomen erscheint ihnen, gibt sich ihnen? Im Gegensatz zu den Annahmen des Konstruktivismus und den Vorurteilen des Empirismus sind nicht die sense data gegeben, die fälschlicherweise als unmittelbar, als abstrakte und abgeleitete Unmittelbarkeit bestimmt werden: weder die Farbe des Holzes, noch die Größe des Möbels, noch die morgendlichen Lichteffekte und auch nicht die Resonanz der Töne der Stimme erscheinen zunächst, sondern es ist »mir im Kathedererlebnis unmittelbar das Katheder gegeben« 29, als Bedeutung, allen Sinnesdaten vorhergehend und unabhängig von ihnen. Selbst derjenige, der weder wüsste, was ein Katheder ist, noch ein Professor, noch was Hörer sind, noch was eine Universität ist, würde unmittelbar eine Bedeutung sehen; ohne Zweifel eine andere (etwa die eines Podiums, die einer Zeremonie dient, oder eines Totems einer Feier usw.), aber es wäre ihm in jedem Fall eine summarische Bedeutung 30 gegeben, in welcher erst nachträglich die sense data verortet werden können, nämlich auf abstrakte und vermittelte Art und Weise. Nur das Phänomen gibt sich also in einem vollgültigen Sinn, der eine Bedeutung aufweist, also das Phänomen, das durch seine eigene Bedeutung an sich vermittelt ist. Und nur das gibt, was durch sich in sich gelangt, ausgestattet mit seinem eigenen Sinn, vermittelt durch die Reduktion (Husserl) oder durch seine eigene Bedeutung (Heidegger), es sei denn, dass die inhärente Bedeutung nicht die radikalst mögliche Reduktion de facto und de jure durchführt, nämlich die der Sache an sich selbst.

M. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie (Gesamtausgabe Bd. 56/57), Frankfurt/M.: Klostermann 1987, 85. 29 Ebd., 85. Siehe auch § 14, 70 ff. 30 Ebd. § 14, 74: »[…] eine Bedeutung, ein bedeutungshaftes Moment«. Weiteres hierzu in: Figures de la phénoménologie, op.cit., Kap. III. 28

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Gegebenheit und Hermeneutik

Man muss also das »Problem der Gegebenheit« 31 als ein Rätsel ansehen, das es außerhalb der bekannten Dichotomien des Bewusstseins in natürlicher Einstellung situiert: Es ist weder unmittelbar im Sinne der sense data des subjektiven Eindrucks, noch mittelbar im Sinne der Objekthaftigkeit, die für das Bewusstsein hervorgebracht wird. Es geht nun nicht darum, unter inadäquaten Begriffen eine Lösung zu wählen und auch nicht darum, einen Mittelweg zu finden. Es wäre sogar besser, daran »zu scheitern«, es auf die richtige Weise zu »lösen«, sofern seine »Rätselhaftigkeit« 32 uns hin zu einem originären Verstehen führt, ursprünglich darin, im In-der-Welt-Sein selbst verankert zu sein. Aber noch einmal: Man muss die Frage »Was heißt ›gegeben‹, was ›Gegebenheit‹ ?« – dieses Zauberwort der Phänomenologie und der Stein ›Stein des Anstoßes‹ bei den ›Anderen‹ 33 verstehen, ein Verstehen, das bedeutet, in der Rätselhaftigkeit zu bleiben. 34 Die Unbestimmtheit des Gegebenen ergibt vielleicht seine einzige korrekte Bestimmung, eine solche, die sie von all dem unterscheidet, was folgt, von den sense data, den Objekten, den Erkenntnissen, die alle Ableger des Erlebtwerdens des Gegebenen sind. Denn es gilt das, was Paul Valéry als Frage formuliert hat: »›Natur‹ – das heißt das Gegebene. Alles Uranfängliche. Jeder Beginn; die ewige Grundlage jeder geistigen Tätigkeit, wie immer Grundlage und Tätigkeit auch seien: dies und nur dies ist Natur.« 35 An diesem Punkt nun, im Angesicht dieses unbestimmten Ursprungs, der weder mittelbar noch unmittelbar ist, vor diesem Rätsel also, tritt ein anderes Rätsel auf den Plan, das der Hermeneutik.

M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, § 6, 127. Hierzu heißt es weiter: »Und doch wieder: das Ursprungsgebiet soll nicht gegeben sein; es sei erst zu gewinnen.« (S. 29). Sowie: »Das Ursprungsgebiet ist uns nicht gegeben. Wir wissen nichts von ihm aus dem »praktischen Leben«. Es ist uns fern, wir müssen es uns methodisch näher bringen.« (203). Anders ausgedrückt gehört das Gegebene einem Vollzug an, einer Meditation, einer Methode. Diese ist: die Hermeneutik. 32 M. Heidegger, Sein und Zeit (Gesamtausgabe 2), Frankfurt/M.: Klostermann 1976, § 30, 196–197. 33 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, § 1, 5. 34 Vgl. ebd. Im Holismus und Kontextualismus wird das Gegebene als unbestimmte Frage, die zudem unlösbar ist, aufgefasst. Für Vertreter dieser Richtungen ist es einfacher, die Frage zu negieren, als sie als solche anzuerkennen. Vgl. J. Benoist, Eléments de philosophie réaliste, Paris: J. Vrin, 2011, 14 und 90. 35 P. Valéry, Werke (Frankfurter Ausgabe Bd. 5), Frankfurt/M.: Insel 1991, 181. 31

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4.

Die Interpretation

Der rätselhafte Charakter des Gegebenen, das weder unmittelbar, noch mittelbar ist (wie ein Objekt), seine Rätselhaftigkeit also, gehört dem Verstehen im Sinne Heideggers an, wenn wir uns an Sein und Zeit halten. Aber die Frage der Auslegung hängt ihrerseits von der Auffassung dieses Verstehens ab. So teilt auch sie vermittels des Heideggerschen Verstehens den Charakter des Rätselhaften des Gegebenen. Um an diesem Punkt weiterzukommen, werden wir uns nun zwei wesentlichen Problemstellungen zuwenden. Als erstes darf man die Hermeneutik nicht als eine Instanz für eine universelle Lösung zur Bestimmung der Bedeutung des Gegebenen auffassen, so als fiele sie wie selbstverständlich aus dem Reich des Intelligiblen, um so ein dunkles und problematisches Gegebenes zu erhellen. Denn der Vollzug der Interpretation ist so wenig selbstverständlich wie die Rezeption des Gegebenen, mit welcher es den Charakter der Rätselhaftigkeit teilt. Die Hermeneutik bestimmt nicht die Objekte und auch nicht die sense data, und sie verändert auch nicht deren Bedeutung nach Gutdünken, was letztlich einer Ideologie gleichkäme. Die Hermeneutik vollzieht eine Gegebenheit der Bedeutung für das Gegebene. Sie verleiht eine Bedeutung, die dem Gegebenem angemessen ist und entspricht, was auf die Weise geschieht, dass das Gegebene sich bewusst in und auf Basis seiner Manifestation befreien kann, anstatt wieder in eine dunkle Anonymität zurückzufallen. Die Hermeneutik gibt dem Gegebenen also nicht auf die Weise eine Bedeutung, indem es dieses festschreibt und über seinen Sinn entscheidet, sondern es gibt ihm stets seine Bedeutung, also das, was das Gegebene als das, was es an sich ist, erscheinen lässt, als ein Phänomen, das sich in und durch sich zeigt. Das Sich des Phänomens regelt in letzter Instanz die Gegebenheit. So handelt es sich nicht um eine Bedeutungsgebung des Ich, welches diese Bedeutung in dem Gegenstand konstituiert. Vielmehr wird es im Bewusstsein zugelassen, dass der Gegenstand zu seiner ihm eigenen Bedeutung findet, so dass dieser mehr erkannt als gekannt wird. Die von der Hermeneutik verliehene Bedeutung resultiert damit nicht so sehr aus den Bestimmungen des Hermeneutikers, sondern von dem, der das Phänomen selbst erwartet und von dem der Hermeneutiker der Entdecker ist und somit letztlich der Diener. Das Phänomen zeigt sich in dem Maße, wie der Hermeneutiker den Sinn des Gegebenen anerkennt, den es in sich trägt. Der Hermeneutiker interpretiert also nicht nur das Gegebene 296 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

Gegebenheit und Hermeneutik

in einem Phänomen, sondern muss, um zu seiner Auslegung zu gelangen, sich von dem sich phänomenalisierenden Gegebenen eine Interpretation geben lassen. Diese Struktur der gegenseitigen Interpretation wurde von Gadamer auf klare und verständliche Weise in den beiden nun folgenden Argumenten entwickelt. Das erste handelt von der Verschmelzung der Horizonte. Dabei sei von der Aporie der Geschichte, so wie von Nietzsche bestimmt, ausgegangen: Die Geschichte zerstört entweder den Horizont dessen, was sie interpretiert, in dem sie ausgehend vom Horizont des Auslegenden versteht, oder aber sie wird davon zerstört, dass der eigene Horizont in dem, der interpretiert, aufgehoben wird. Tatsächlich, so Gadamers Argumentation, kann eine Hermeneutik nicht korrekt sein, wenn die beiden Horizonte sich treffen und darin ineinander übergehen: »Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.« 36 Diese Fusion, so das zweite Argument, setzt dabei eine Vorgehensweise voraus, die eine Reziprozität zwischen dem Gegebenen (der diesbezüglich vergangene Horizont) und dem Phänomen (im vorliegenden Fall also der gegenwärtige Horizont) erfordert. Wie lässt sich aber diese Reziprozität definieren, welche die Auslegung des Hermeneutikers so verdoppelt, dass es eine Interpretation von ihm gibt und eine über ihn selbst? Gadamer hierzu: »Wir kehren also zu der Feststellung zurück, dass auch das hermeneutische Phänomen die Ursprünglichkeit des Gesprächs und die Struktur von Frage und Antwort in sich schließt«. 37 Es handelt sich also in der Auslegung historischer ÜberH.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, J. C. B. Mohr: Tübingen 1960, 289. Im weiteren gilt: »Eine Überlieferung verstehen verlangt also gewiss historischen Horizont. Aber es kann sich nicht darum handeln, dass man diesen Horizont gewinnt, indem man sich in eine historische Situation versetzt. Man muss vielmehr immer schon Horizont haben, um sich dergestalt in eine Situation versetzen zu können. Denn was heißt Sichversetzen? Gewiss nicht einfach: Von-sich-absehen. Natürlich bedarf es dessen insoweit, als man die andere Situation sich wirklich vor Augen stellen muss. Aber in diese andere Situation muss man sich selber gerade mitbringen. Das erst erfüllt den Sinn des Sichversetzens. Versetzt man sich z. B. in die Lage eines anderen Menschen, dann wird man ihn verstehen, d. h. sich der Andersheit, ja der unauflöslichen Individualität des Anderen gerade dadurch bewußt werden, dass man sich in seine Lage versetzt.« (Ebd., 288). 37 Ebd., 351 (Kursivsetzung v. Autor). Siehe im weiteren: »Die historische Methode 36

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lieferungen, die letzthin in der Interpretation von Texten besteht, um einen Dialog: »Denn die Dialektik von Frage und Antwort, die wir aufwiesen, lässt das Verhältnis des Verstehens als ein Wechselverhältnis von der Art eines Gespräches erscheinen. Zwar redet ein Text nicht so zu uns wie ein Du. Wir, die Verstehenden, müssen ihn von uns aus erst zum Reden bringen. Aber es hatte sich gezeigt, dass solches verstehendes Zum-Rede-Bringen kein beliebiger Einsatz aus eigenem Ursprung ist, sondern selber wieder als Frage auf die im Text gewärtigte Antwort bezogen ist.« 38 So erhält die Frage (die auf die Bedeutung des Gegebenen aus ist) die Bedeutung, die für das SichZeigen des Gegebenen sorgen wird, nur als die Antwort, die gar nicht die des Auslegenden ist, sondern die des Ausgelegten, also des Textes. In diesem Sinne handelt es sich um die Bedeutung des Gegebenen und der Frage. So hängt die Hermeneutik von der Struktur der Frage und der Antwort ab, d. h. von der Struktur des Anrufes und der Frage, also der Struktur des im Sichtbaren Gegebenen: Die Hermeneutik selbst konstituiert eine Auffassung zwischen dem, was sich gibt, und dem, was sich zeigt, zwischen dem Anruf des Gegebenen und der Antwort (vermittels der Bedeutung), die sich darin zeigt. So ergibt sich folgende These: Der Hermeneutiker muss sich dem Einvernehmen des Gegebenen folgend verständigen, und zwar gemäß der Figuren des Anrufes und der Antwort. Weit davon entfernt, dass die Hermeneutik die Gegebenheit überschreitet oder an deren Stelle tritt, entfaltet sie sich darin, und zwar beinahe als ein Sonderfall des ursprünglichen Verhältnisses zwischen dem, was sich gibt, und dem, was sich zeigt. Es zeigt sich nun, dass dieser phänomenologische Status der Hermeneutik (und eben nicht ein hermeneutischer Status der Phänomenologie) nur dann vollständig verstanden werden kann, wenn man auf eine Analyse Heideggers in Sein und Zeit Bezug nimmt, in welcher in den Paragraphen 31–33 die Auslegung als ein Verstehen und nicht umgekehrt gedacht wird. Etwas zu verstehen oder vielmehr verstehen zu können, besteht niemals darin, die Bedeutung eines bestehenden Gegenstandes zu verändern oder über seine (neu zu verleihende) Bedeutung zu entscheiden und die Vorhandenheit eines Gegenstandes im Sinne Heideggers auszulegen. In diesem Fall gäbe verlangt, dass man die Logik von Frage und Antwort auf die geschichtliche Überlieferung anwendet.« (Ebd., 352). 38 Ebd. 359.

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man einem Anschein nach, jenem der unbedingten Vorgängigkeit des apophantischen Als, welches aus der Evidenzsetzung eines objektiven Substrats durch eine Prädikation hervorgehen würde, also anders ausgedrückt aus der Variation eines Attributs des Substrates, was aus einem einfachen Heraussagen, das von einer angenommenen Geltung im Sinne Hermann Lotzes gestützt, erzielt würde. Tatsächlich resultiert daraus nur eine zufällige und unverständliche Dualität zwischen zwei absolut heterogenen Begriffen, der prädikativen Aussage einerseits, die rein logisch und signitiv ist, und dem innerweltlichen und effektiv Gegebenen andererseits, ohne dass dadurch irgendeine phänomenologische Legitimität hervorginge. Dieses Misslingen der Herstellung einer Verbindung zwischen dem Logischen und dem Ontischen liegt an der Inkompatibilität der jeweiligen Auffassung des Seins. Der Sinn des Seins wird sich niemals ergeben, solange man mit Heidegger gesprochen in der »[…] Nivellierung des usprünglichen ›Als‹ der umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung« 39 bleiben wird. In diesem Fall würdigt sich die Hermeneutik auf eine einfache, zufällige und durch nichts legitimierte Aussage herab.40 Verstehen setzt aber im Gegensatz dazu zumindest in der Phänomenologie, und damit auch in der Logik, das Möglichsein des Daseins voraus, und zwar in dem Sinne, in dem das Möglichsein den Rang des Existenzials des Daseins einnimmt, allerdings nicht verstanden als Modalität oder Kategorie des nicht Daseinsmäßigen (die Möglichkeit als eine einfache, noch nicht tatsächlich gegebene Kontingenz). Weit entfernt von der (positiven) Indifferenz der Willkür befreit sich das Dasein im Hinblick auf die Möglichkeit, die ihr ganz ursprünglich zu eigen ist, denn als geworfenes Dasein, entwirft es sich, vollzieht noch kein Sehen, sondern sichtet sich. 41 Die Hermeneutik handelt also niemals zunächst über den Text (als das Sehen seiner Bedeutung), sondern über das innerweltlich Seiende, das zur und von der Möglichkeit geöffnet wird (eine Öffnung, die in den Möglichkeitenhorizonten des Auslegenden zustande kommt). So gibt es in der Situation, in der das noch uneigentM. Heidegger, Sein und Zeit, § 33, 210. Ebd. 41 Ebd. § 31, 146, Zn. 22 ff., 147, Z. 1 (Sicht) & 147, Z. 3 (Sehen). Vgl. diesbezüglich eine Strophe aus Mallarmés Prosa für des Esseintes: »Ja, auf einer Insel, es lud sie / mit Sicht nicht Gesichten die Luft, / dehnte weiter sich jede Blume, / und wir redeten nicht davon«. (S. Mallarmé: Werke, Bd. I, übers. v. G. Goebel, Gerlingen: Schneider, 1993, 101). 39 40

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liche Zuhandene kein Vorgegebenes, keine Elemente und Fragmente 42 umfasst, dennoch immer schon den Sinn, verstanden als den Charakter des Daseins, nicht aber das, was das innerweltlich Seiende ausmacht. Es lässt sich sagen: »Das Verstehen als Öffnung des Da geht immer die Öffnung des Ganzen des In-der-Welt-Seins an.« 43 Von daher wird klar, dass das apophantische »Als« (Aussage), sich aus dem existenzialen »Als« als Reaktion hierauf ergibt und darauf beruht, wie bei Heidegger zu lesen ist: »Das ursprüngliche ›Als‹ der umsichtigen Auslegung (ἑρμηνεία) nennen wir das existential-hermeutische ›Als‹ im Unterschied vom apophantischen ›Als‹ der Aussage«. 44 Dieser Kreis hat nichts von einem Teufelskreis. Vielmehr ist es so, dass, um sich in einem solchen nicht zu verfangen, man darauf Acht geben muss, sich auf die richtige Weise in den hermeneutischen Zirkel zu begeben. Hieraus ergibt sich die zweite These: Wenn die Hermeneutik ihren Ursprung im Verstehen hat, und wenn das Verstehen immer mit einem Vor-verständnis einhergeht, also als Öffnung des Daseins auf seine ureigene Möglichkeit hin, doch im Übrigen so, dass die Möglichkeit das Spiel des Rufes und der Antwort frei gibt, dann kann man Einblick darin erhalten, wie die Hermeneutik mit der Frage der Gegebenheit eine Verbindung eingehen kann. Erst wenn Rezeption und Identifikation des Gegebenen implizieren, dass dieses Gegebene immer noch als Phänomen auszulegen ist, legt die hermeneutische Instanz den Ort des Gegebenen fest, weil sie sich darin selbst bestimmt. Denn man muss die Hermeneutik als solche in Hinblick auf die Rezeption und die Identifikation des Gegebenen verstehen. So ergibt sich ein letzter zu vollziehender Schritt: Es geht nicht mehr nur darum, wie die Hermeneutik selbst zu verstehen (zu interpretieren) ist, sondern wie man sie auf die Weise verstehen kann, dass sie das Gegebene versteht und dadurch auch sich selbst.

Ebd., § 32, 199, Z. 29, 37, 200–201, Z. 3, 5. Ebd., § 32,152, Z. 15–16. 44 »Das ursprüngliche ›Als‹ der umsichtigen Auslegung (ἑρμηνεία) nennen wir das existential-hermeutische ›Als‹ im Unterschied vom apophantischen ›Als‹ der Aussage« (Ebd., § 33, 210, Z. 23–26). 42 43

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Gegebenheit und Hermeneutik

5.

Vier hermeneutische Momente in der Gegebenheit

Das Gegebene gibt sich nicht unmittelbar, aber auch nicht mittelbar wie ein bereits konstituierter Gegenstand. Denn das Gegebene zeigt sich noch nicht als das, was sich in einem einfachen Sinne gibt. Diese notwendige Bedingung des Gegebenseins ist nicht hinreichend. Gewiss ist es richtig, dass das Phänomen sich nur so zeigt, dass es sich als Gegebenes vollzieht, aber es reicht nicht, dass es sich als Gegebenes ereignet, damit es in seiner ganzen Phänomenalität sich zeigend erscheint. Von Etant donné an haben wir betont, dass gilt: »Soll sich alles Sich-Zeigende zunächst geben, dann tritt gelegentlich der Fall ein, bei dem Sich-Gebendes – trotz allem – nicht zu seinem SichZeigen gelangt.« 45 Das Gegebene zeigt sich nur in seinem Abglanz, in seiner reflektorischen Rückkehr, kurz in der Antwort des passiv-rezeptiven Subjektes (adonné), das es sieht, aber nur als das, was sich von diesem Gegebenen empfängt. Anders ausgedrückt gilt: »Gerade weil das Prinzip ›Was sich gibt, zeigt sich‹ unangetastet bleibt, wird streng gesehen – eine Festlegung dessen möglich, was Endlichkeit von Phänomenalität im Kontext von Gegebenheit heißt. Denn Sich-Gebendes zeigt sich nur insofern, als es sich von einem Hingegebenen (adonné) (dessen spezifische Funktion darin besteht, das Gegebene zu erwidern, indem er es zeigt) empfangen vorfindet.« 46 Aber wenn sich das Gegebene als ein Anruf (appel) zeigt, wenn es sich nur in der Antwort des Hingegebenen zeigt, und wenn der Hingegebene per Definition ein endliches Wesen ist, dann bleibt das, was sich zeigt, ebenso immer in einem Rückstand auf das, was sich zeigt: es bleibt hinter ihm. Die Endlichkeit der Offenbarung (des Sichzeigens der Phänomene) steht im Kontrast zur Unendlichkeit der opaken Gegebenheit von dem, was noch außerhalb des Gesehenen bleibt: »Ich bin folglich von dem besessen, wovon ich nicht zulassen kann oder will, dass es sich zeigt. Eine Nacht von Ungesehenem, das gegeben

J.-L. Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 19971, 19982, 425 (dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, übers. v. Th. Alferi, Freiburg/München: Alber 2015, 507), und bereits im § 18: »Denn wenn sich alles, was sich gibt, auch zeigt, dann gibt sich noch lange nicht alles in univoker Weise.« (250, dt. Übers. 306). 46 Ebd., § 30, 426 (dt. Übers. 508). 45

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wurde, ohne nähere Gestalt anzunehmen, umhüllt also in aller Stille den unermesslichen Tag dessen, was sich bereits zeigt.« 47 Der Abstand zwischen dem, was sich gibt und jenem, was sich darin zeigt, bestimmt endgültig die Phänomenalität der Gegebenheit, weil diese direkt aus der Endlichkeit des Hingegebenen (adonné) stammt. So ergibt sich auch der verpflichtende Ort und die Funktion der Hermeneutik: Diese geht mit dem Abstand zwischen dem, was sich gibt und jenem, was sich zeigt, auf die Weise um, den Anruf (appel) (oder die Anschauung) mittels der Antwort (Begriff oder Bedeutung) zu interpretieren. Die Anschauung, zugleich gegeben und entgegen genommen, bleibt blind, zeigt noch nichts, solange der Hingegebene (adonné) nicht seinerseits die Bedeutung(en) (oder Begriffe) erkennt, die es erlauben, dass sich darin verbindlich ein Phänomen zeigt. Die Kraft der Hermeneutik ermisst also in letzter Instanz die Möglichkeit für das, was sich gibt, um sich zu zeigen. Kurz gesagt steckt sie die Maßstäbe der Phänomenalisierung der Gegebenheit ab. Somit ist es also nicht nur so, dass »[…] die unbedingte Universalität der Gegebenheit« den »Rückbezug auf die Hermeneutik« nicht »überflüssig macht« 48, da ganz im Gegenteil eine Phänomenologie der Gegebenheit Phänomene als gegeben nur so erscheinen lässt, wie sie in sich eine Hermeneutik des Gegebenen wirken lässt, und zwar in der Bestimmung des Gezeigten wie des sich Zeigenden, wie auch im Sichtbaren und vom Hingegeben (adonné) Gesehenen. Ganz in diesem Sinne haben meine Arbeiten über die Phänomenologie der Gegebenheit diese Aufgabe der Hermeneutik immer wieder herausgestellt. Als Ergebnis lassen sich vereinfacht vier ihrer Leistungen festhalten: Erstens bestimmt sich der Anruf durch seine Anonymität was die Wahrnehmung und sprachliche Manifestierung anbelangt. Nicht nur kraft des Schweigens des Rufes – es gibt keine Stimmen, die gehört werden könnten, da es kein Schallereignis oder keine innere Stimme gibt – sondern vor allem, weil der Anruf normalerweise die Intention und die Zuweisung des Signals (akustisch oder anders bestimmt, in Schweigen gegeben oder sichtbar) voraussetzt. So müssen diese (Nicht-)Töne zunächst als Anrufe verstanden werden (und nicht als Hintergrund- oder Störgeräusche usw.) und dann auch als Anrufe, die sich auf einen bestimmten Hingegebenen (adonné) richten, so dass die nachfolgende Interpretation bestimmt 47 48

Ebd., § 30, 438 (dt. Übers., 522). C. Serban, »La méthode phénoménologique«, 88.

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ist. Schließlich muss auch die Identität des Angerufenen bestimmt sein (Bezug des Anrufes auf sich), was dann die Antwort ermöglicht. Diese Interpretationen bestätigen in der Folge, dass der Anruf nur in der Antwort gehört werden kann. Die Antwort ihrerseits entscheidet nicht nur über den Inhalt des Rufes, sondern auch über seine Wirklichkeit (oder über seinen Charakter des Illusorischen). Das Gleiche gilt für die Gabe (das Phänomen der Gabe, im Gegensatz zum Austausch und zum Handel): Kein Seiendes und kein Gegenstand birgt in sich eine Gabe; es kann sich bei diesen nur um Sachen im Rohzustand handeln, um etwas, das verfügbar und ohne Bestimmung ist, so dass es auf nichts hin ausgerichtet ist. Eine solche Bestimmung ergibt sich erst in der Interpretation. Und selbst wenn es entschieden ist, dass es sich um eine Sache mit einer Bestimmung handelt, die darin besteht, dass jemand sie als eine Gabe erhalten soll: Auch dann muss man noch bestimmen, welcher Beschenkter davon profitieren soll. Zu entscheiden, ob es ein Gegebenes gibt oder nicht – dies kann nur in der Interpretation, die sich in ihrem Vollzug zeigt, geschehen. Zweitens ist es so, dass das, was vom Phänomen allgemein gilt, in noch stärkerem Maße bezüglich des gesättigten Phänomens gilt, von dem das Maß der Anschauung eine Erfassung durch mehrere hermeneutisch erbrachte Begriffe oder Bedeutungen erfordert. Der letzthin niemals überwundene Abstand zwischen sättigender Anschauung und der wenigen eindeutigen Bedeutungen oder Begriffe, muss mangels der Möglichkeit, sich aufzuheben, einige, wenn nicht alle möglichen Auslegungen der Anschauung durchlaufen. Mit Mallarmé lässt es sich so ausdrücken: »Es wisse der Geist des Bestreitens / Zu dieser unsres Schweigen Stund, / Daß mannigfacher Lilien Stengel / Zu hoch wuchs für unsre Vernunft«. 49 Die Nichtübereinstimmung der Noesis mit dem Noema, verstanden im Sinne von Levinas, wird zum Regelfall und bestimmt somit die gesättigte Phänomenalität. Man kann diese Generalisierung auch von dem her vornehmen, was wir über das Antlitz des Anderen gesagt haben, also über das gesättigte Phänomen der Ikone, wo »[…] das Antlitz des Anderen eine […] unendliche Hermeneutik erfordert.« 50

S. Mallarmé, Prosa für des Esseintes, op. cit., 103. J.-L. Marion, De Surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés, Kap. V, »L’icône ou l’herméneutique sans fin«, Paris: PUF 2001, 152.

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Das dritte hermeneutische Moment ergibt sich aus der Frage, wie zwischen den Graden der Anschauung zu unterscheiden ist, also zwischen den armen Phänomenen, den gewöhnlichen und den gesättigten Phänomenen. Näher besehen fragt sich, ob man diese drei Fälle als starre Kategorien, irreduzibel und distinkt bestimmt, auffassen muss. Oder sollte man vielmehr Übergänge von einem zum anderen annehmen, damit die Sättigung sich nicht auf außergewöhnliche und marginale Fälle beschränkt, die vernachlässigbar sind oder außerhalb jeder Norm stehen? Tatsächlich muss man die Banalität der Sättigung zugeben, da ein und dasselbe Gegebene sich zeigen (erscheinen, sich phänomenalisieren) kann, als mehr oder weniger gesättigt, je nachdem mittels welcher Hermeneutik es gesehen wird. Unter diesen Möglichkeiten ist die Hermeneutik herausgehoben, die der Hingegebene (adonné) ausführt. Es gilt: »Der Hingegebene hat nichts Passives an sich, da durch seine (hermeneutische) Antwort auf den Ruf (in Anschauung gegeben), es ihm und nur ihm möglich wird, das, was sich gibt, zu einem Teil zwar nur, aber doch in einem reell gegebenen Sinne, das zu werden, was sich zeigt.« 51 Der Übergang eines armen oder gewöhnlichen Phänomens zu einem gesättigten Phänomen bleibt Sache der Hermeneutik. Dieser Übergang lässt sich anhand einiger Beispiele aufzeigen: Die drei horizontalen Streifen einer Fahne im Vergleich zu einem Bild auf der Leinwand Rothkos, der Ton als Signal (Information, Kommunikation, Begriff, Bedeutung) im Vergleich zum Ton als Musik (Konzert ohne Bedeutung), der Wein in seinem Geschmack im Vergleich zu seiner chemischen Formel und schließlich der Geruch im Vergleich zum Parfum. Das gesättigte Phänomen erfordert also auch eine Hermeneutik, in der das existenziale »Als« es zulässt, sich einer Gegen-Erfahrung auszusetzen, also in einen Kampf einzutreten mit einer unausweichlich objektivierenden Erfahrung, die als apophantisches Als bezeichnet wird. Beide zeigen sich auf umgekehrt proportionale Weise. Das vierte Moment schließlich findet sich darin, dass das Fundament der letzten Distinktion aller Phänomene als Objekt oder als Erlebnis seinen Ursprung in einem hermeneutischen Vorgang J.-L. Marion, Le visible et le révélé, Kap. VI, »La banalité de la saturation«, Paris: Cerf 2005, 181, dt. Übers., »Die Banalität der Sättigung«, in: H.-D. Gondek, T. N. Klass & L. Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse, München: Fink 2011, 78–98.

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Gegebenheit und Hermeneutik

nimmt, der in der Radikalisierung der (bereits hermeneutischen) Banalität der Sättigung das Objekt in ein Erlebnis und umgekehrt transformiert. Wir folgen hierbei der berühmten Analyse der Differenz zwischen der Phänomenalität des Vorhandenen und des Zuhandenen, so wie sie von Heidegger anhand des Beispiels des Hammers entwickelt wurde. 52 Und wir generalisieren es in der Umkehrung der Objekthaftigkeit in seine geheime Erlebnishaftigkeit. Wie Heidegger dabei betont, wird in der Sichtweise des Hammers als Handwerkzeug, die jene des bloßen, absichtslosen Existierens ausschließt, das Existenzial des »Als« ins Spiel gebracht, das des sich der Welt gegenüber offenen Daseins, das es in einer radikalen Hermeneutik als das, zu was es nützt, sieht. Ohne Zweifel hat dabei unsere Unterscheidung zweier allgemeiner Modi der Phänomenalität auch noch andere Eigenschaften. Grundsätzlich lässt sich dabei sagen: »Aber das Entscheidende bleibt: die Unterscheidung der Modi der Phänomenalität (was sich für uns in der Unterscheidung zwischen Gegenstand und Erlebnis ausdrückt) kann sich in hermeneutischen Varianten artikulieren, die […] über die Phänomenalität des Seienden bestimmen.« 53 Die Phänomenologie der Gegebenheit geht also den Abstand zwischen dem, was sich gibt, und dem, was sich zeigt – ein Abstand, in dem das Sich des Phänomens bestimmt wird – so an, eine genuin phänomenologische Hermeneutik auszuüben. Aus dem Französischen übersetzt von Sebastian Knöpker.

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M. Heidegger, Sein und Zeit, § 33, 208, und § 63, 477. J.-L. Marion, Certitudes Négatives, § 30; Paris: Grasset, 2010, S. 304 ff.

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Interexplikationen – Entfaltungen einer Phänomenologie der interdonation Katharina Bauer

Nach Jean-Luc Marions eingehenden Untersuchungen der Gebung der Phänomene bis hin zu ihrer äußersten Sättigung mit Anschauung eröffnet sich am Ende von Étant donné kurz ein Ausblick auf eine weiterführende Fragestellung: Die Konzeption der donation wird zu einer Beziehung der interdonation erweitert, die ein spezifisches Verhältnis zwischen Personen an die neu gedeutete Phänomenalität anschließt. Ich möchte die Eröffnung der Fragestellung der interdonation aufnehmen und weiter entfalten. Die Entfaltung erfolgt auf den folgenden Ebenen: Zunächst werde ich die Implikation eines interpersonalen Geschehens des Gebens und Empfangens im Hinblick auf die donation der Phänomene aufnehmen und mit einem Vorschlag verbinden, wie es in solchen Beziehungen gelingen kann, dass Personen einander ›einen Platz geben‹ 1 – gerade angesichts einer nachmetaphysischen ›Überwindung des Subjekts‹. In Ausrichtung auf einen ›Platz des Subjekts nach dem Subjekt‹ gilt ein besonderes Augenmerk den räumlichen Metaphern seiner Delokalisierung und Verortung in Marions Diskurs. Die interdonation wird als wesentlicher Schlussstein der Phänomenologie der donation begriffen, der diese jedoch nicht Naheliegend ist hier schon aufgrund des Titels ein Bezug zu Marions »Au lieu de soi«. Dort wird der Platz des Selbst, der nur in einer Ausrichtung auf den (ganz) Anderen gewonnen werden kann, ausdrücklich zum Thema gemacht. Es handelt sich dabei letztlich um eine Fortentwicklung zentraler, von Marion bereits zuvor entwickelter Thesen zur Phänomenologie der Gebung, zur Liebe, zur Antwort usw., die in einer ausführlichen Augustinus-Interpretation zur Anwendung kommen. Im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes möchte ich zugunsten der Klarheit der Argumentation den Umweg über Augustinus weitestgehend ebenso vermeiden wie eine Ausweitung auf die theologischen Fragestellungen, die Marions Denken in einer zu seiner Entwicklung eines eigenständigen phänomenologischen Ansatzes parallelen Bewegung durchziehen. (Vgl. J.-L. Marion: Au lieu de soi. L’approche de Saint Augustin, Paris: PUF 2008.) Im Wesentlichen werde ich mich auf eine Auseinandersetzung mit der Position von Étant donné konzentrieren, an einigen Stellen aber auch Argumentationsschritte aus anderen Schriften Marions einbeziehen.

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endgültig abschließt, sondern sie gerade im Hinblick auf die Position des Subjekts (bzw. der Subjekte) in der Gebung der Phänomenalität als ein ›Stein des Anstoßes‹ 2 für ein Weiterdenken anschlussfähig macht (1.). Von diesem Anstoß ausgehend wird die interdonation auf der Ebene der Phänomenalität interpersonaler Begegnungen betrachtet (2.), schließlich aber weiterführend als Modell eines gemeinsamen phänomenologischen Erkenntnisprozesses expliziert. Die These lautet hier, dass die interdonation sich als eine Erfüllung der Phänomenologie der donation entfalten lässt und dazu als eine Inter-Explikation zu vollziehen ist (3.). 3 Von den interpersonalen Beziehungen und den damit verbundenen gegenseitigen Ent- und Verortungen in der Welt erfolgt also ein Sprung auf die Ebene einer intersubjektiven und dadurch multiperspektivischen und mehrdimensionalen gemeinsamen Entfaltung der Welt als einer vielschichtigen, ›kompliziert‹ gegebenen Struktur der Phänomenalität.

1.

Von der donation zur interdonation – Das deplatzierte Subjekt

Der Versuch, ein Phänomen anzunehmen und zu entfalten, wie es sich selbst gibt, ohne es von außen zu konstituieren und zu konstruieren, bildet für Jean-Luc Marion die zentrale und zugleich heikelste Aufgabe der Phänomenologie. Ausgangspunkt ist Husserls »Prinzip aller Prinzipien«, dass »jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der 2 Marion verweist in Étant donné unter Verwendung derselben Terminologie darauf, dass die (absolute) Gegebenheit bei Husserl als Schlussstein seines Denkens gesetzt wird, während für Heidegger die Frage, was denn Gegebenheit heiße, zu einem Stein des Anstoßes wird. Ähnlich scheinen mir auch die Ausführungen zur interdonation am Ende von Étant donné eine Herausforderung zu weiteren Fragestellungen darzustellen. (Vgl. J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF 1997, 30, Anm. 1; dt. Übers. Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München: Alber 2015, 46, Anm. 1). 3 Es handelt sich hier um eine Weiterführung einiger von mir bereits in anderen Zusammenhängen entwickelter Gedanken zur interdonation und Explikation bei Jean-Luc Marion. Vgl.: K. Bauer, Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg i. Br., München: Alber 2012. Dies.: »Von der donation zur interdonation. Interpersonale Beziehungen in der Phänomenologie Jean-Luc Marions«, in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.): Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dresden: Text & Dialog 2013, 217–236.

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›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt …«. 4 Es erscheint, unabhängig von allen Debatten über den Solipsismus der Phänomenologie Husserls, bei genauerer Betrachtung dieser Formulierung überraschend naheliegend, diesen Anspruch auf Beziehungen der Interpersonalität zu übertragen, in denen eine ganz analoge Art der rückhaltlosen Annahme des anderen, wie er sich gibt und im Rahmen durch ihn selbst gesetzter Grenzen, als ethischer Anspruch und als Bedingung des Gelingens persönlicher Beziehungen von besonderer Bedeutung sein kann. Von vornherein ist Marions Entwurf einer Phänomenologie der Gebung nicht auf ›unpersönliche‹ bzw. nicht-personale Phänomene beschränkt und er ist nicht ohne Einfluss auf das wahrnehmende Subjekt. Da die Gebung für Marion in ihrer Ausrichtung auf die gesättigte Phänomenalität eine maßlose Herausforderung für die Erkenntnis darstellt, wird auch das sie denkende Subjekt maßlos über sich selbst hinaus verwiesen und zugleich in sich selbst umgekehrt. Aus dem denkenden Subjekt, das aktiv auf die Phänomene zugreift, wird der Adressat oder der Empfänger der Gebung (attributaire), der nicht nur die übrige Phänomenalität, sondern im Prozess bzw. der Geschichte seines Empfangens von Phänomenen seine eigene individualisierte Identität mitempfängt. Das Charakteristikum eines Empfängers, der sich auf die Phänomenalität bis hin zu ihrer äußersten Sättigung einlässt, besteht darin, dass sich dieses ›Subjekt‹ vollständig aus dem empfängt, was es empfängt. Es ist sich selbst gegeben, gerade indem es sich als adonné der Gebung überlässt bzw. hingibt. Marion schließt mit seiner Entwicklung eines Subjekts nach dem Subjekt einerseits an die (post)modernen Dekonstruktionsversuche von Subjektivität an, wendet sich jedoch entschieden gegen ein Übergewicht der Destruktion. Anstatt lediglich den Tod des Subjekts zu konstatieren 5, soll der Subjekt-Begriff wie das gesamte metaphysische Denken über seinen bisherigen Gebrauch hinausgeführt werden. Zu überwinden ist ein Konzept der Subjektivität, das einen

E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (Husserliana III/1), Den Haag: Martinus Nijhoff 1950, 52. 5 Anzumerken ist hier allerdings, dass auch in Bezug auf den poststrukturalistischen Diskurs eine solche Fokussierung auf den Tod des Subjekts häufig überbewertet und einseitig interpretiert wird. 4

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Anspruch auf Authentizität und Ursprünglichkeit impliziert, und in dem das Subjekt als Ausgangspunkt der Erkenntnis vor der Gegebenheit der Phänomene verortet ist und auf diese primär aktiv zugreift. Wenn die Rolle des wahrnehmenden Subjekts nun bei Marion zunächst darin besteht, einen Bildschirm (écran) oder eine Leinwand zu bilden, auf welche die Gebung der Phänomenalität aufschlägt, um sich dort als Phänomen zu manifestieren 6, erscheint diese Vorstellung von Subjektivität in der damit verbundenen räumlichen Metaphorik zunächst im wahrsten Sinne des Wortes als eindimensional. Allerdings ist das von Marion entworfene Bild bei genauer Betrachtung bereits komplexer: Man muss sich vorstellen, dass eine Projektion in einen leeren Raum stattfindet, welche zugleich den Effekt einer Leinwand mit hervorbringt, in die sich die Wand, auf der das Bild sichtbar wird, erst mit diesem Sichtbarwerden verwandelt. Die Leinwand unterscheidet sich von der reinen Wand erst durch das Empfangen der Projektion. Das Bewusstsein darf dabei nicht eigentlich eine festgemauerte, unverrückbare Wand bilden, sondern muss (wie etwa eine Zeltwand) so beweglich bleiben, dass es auf die Bewegung der donation reagieren und sich in die Position begeben kann, in der das Bild jeweils nicht verzerrt erscheint, sondern eben so, wie es sich gibt. Man müsste sich in gewisser Weise eine ›lebendige Leinwand‹ vorstellen, die keineswegs einfach passiv und unbeweglich auf das Auftreffen der Lichtstrahlen wartet, sondern diese aktiv und flexibel in Empfang nimmt. Das Subjekt ist auch als Empfänger und adonné eben nicht auf eine rein passive Haltung zu reduzieren, auch wenn dies aufgrund der Stärke des Vokabulars, mit dem Marion zunächst die Empfängerhaltung herausarbeitet, leicht übersehen werden kann. Bemerkenswert im Bezug auf das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität des Empfängers sowie auf seinen Platz ist die Rolle, die Marion dem Subjekt (nach dem Subjekt) als Zeugen der Gebung zuweist. Hierbei konkurrieren zwei verschiedene Modelle: Einerseits wird die Rolle des Empfängers der Gebung zunächst auf die Funktion eines »aufleuchtenden Zeugen« (témoin lumineux) 7 reduziert. Er ist nicht mehr als ein Kontrolllämpchen auf einem Schaltpult, das wil-

Umgekehrt wird hier die Denkrichtung Descartes’, für den das lumen naturale der rationalen Ordnung der Erkenntnis sein Licht aus dem erkennenden Subjekt heraus auf die Objekte richtet. Stattdessen fällt das Licht der Phänomene auf die Leinwand des Bewusstseins. 7 J.-L. Marion, Gegeben sei, 303 (Étant donné, 303). 6

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lenlos aufflackert, wenn das entsprechende Signal eintrifft. Diese Art des Zeugen, der durch die Gebung von Phänomenalität konstituiert wird, folgt auf das konstituierende Subjekt und gibt den Standpunkt der ersten Person auf. Eine Individualisierung der personalen Identität des Subjekts, die für Marion seinem ausdrücklichen Anspruch gemäß ein wesentliches Ziel ist, scheint jedoch äußerst schwierig zu werden, sofern es nur eine ›Leuchtdiode‹, ein ›kleines Licht‹ unter anderen ist. Zudem dominiert hier eine eindeutige Passivität. Es geht nicht mehr darum, ›wer‹ erkennt oder denkt, sondern allein, ›wem‹ die Gebung gilt. Das Ich wird in ein Mich (moi) umgewandelt. Berücksichtigt wird jedoch durchaus eine aktivere und prominentere Rolle des Zeugen, der in den Zeugenstand gerufen seinen Platz erhält. In der Anerkennung dieser Rolle eines Zeugen, Empfängers und Adressaten der donation, dessen Zeugenaussage mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden ist, liegt für Marion nicht eine Herabminderung, sondern eine Befreiung des Subjekts von seinen metaphysischen Voraussetzungen – letztlich von seiner Rolle als Zuschauer: Der Zeuge eines Ereignisses mag zwar am Rand des Geschehens stehen, in das er nicht direkt involviert sein muss, er befindet sich aber nicht wie ein Zuschauer in einem bewusst vom Geschehen abgegrenzten eigenen Raum. Wenn jedoch jemand in den Zeugenstand gerufen und dazu aufgefordert wird, vor Gericht Zeugnis über das Geschehene abzulegen, wird ihm durchaus ein ganz bestimmter ›Raum gegeben‹ – allerdings a posteriori gegenüber dem Geschehen. Der Zuschauer kann schon während der Aufführung oder in unmittelbarem Anschluss daran sein Wohlgefallen oder Missfallen äußern, der Zeuge jedoch erhält seinen eigentlichen Platz erst in deutlicher Verspätung gegenüber dem Ereignis. Seine Aufgabe besteht zudem nicht darin, das Gesehene zu bewerten oder zu kommentieren, sondern es so treu wie möglich wiederzugeben, und zwar so, wie es sich selbst ereignet hat. Letztlich geht jedoch die Aufgabe des Subjekts als adonné auch über die nachträgliche Wiedergabe des Gegebenen hinaus. – Was sich gibt, erschöpft sich nicht darin, sich selbst auf einer Bühne zu inszenieren, es muss das Subjekt von seinem Platz im Zuschauerraum aufschrecken und mit ins Spiel bringen, damit sich in ihm das Spiel der Gebung geben kann, um dabei zugleich dem sich gebenden Phänomen und dem Empfänger eine Identifizierung zu ermöglichen. Mit der Zuweisung des Platzes eines Zeugen ist Marions Verständnis von Subjekten als Personen keinesfalls erschöpft. Insbeson310 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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dere aus der Perspektive anderer Empfänger erscheint der Empfangende jeweils nicht nur als Aufschlagspunkt oder Filter von Gebungen, sondern gibt sich selbst als Phänomen. Hiermit verkompliziert sich in gewisser Weise Husserls Paradoxie der Subjektivität, die darin besteht, dass jedes Subjekt zugleich ein (die Welt) konstituierendes (transzendentales und intentionales) Subjekt ist, wie auch aus der Perspektive anderer Personen ein (durch sie) konstituiertes Objekt. Das Subjekt ist nun Phänomenempfänger – also ›lebendige Leinwand‹ und Zeuge der Gebung – und zugleich nicht nur passiv erkanntes Objekt, sondern vielmehr auch ein sich aktiv gebendes Phänomen, das zugleich auf die Entgegennahme und Bezeugung durch einen anderen Empfänger angewiesen ist. Ebenso unhintergehbar und unwillkürlich, wie wir immer schon Empfänger von Gebung sind, sind wir zugleich auch Gebende – wie es in »La raison du don« heißt in jedem Augenblick und mit jedem Atemzug. 8 Wir geben uns selbst als Phänomene anderen Phänomenempfängern zu erkennen. Nicht zu unterschätzen ist, dass wir uns selbst und auch anderen Personen zudem Phänomene zu erkennen geben. Ignoriert man diese kommunikative Dimension, müsste die Frage offen bleiben, an wen sich die Antwort richtet, die der Empfänger der donation gibt, oder die Zeugenaussage, zu der er aufgerufen ist. Gerade in Étant donné wird unermüdlich die Voraussetzung der Immanenz betont: Es geht also nicht darum, die Gebung zu einem transzendenten Ursprung zurückzuverfolgen oder diesem etwas ›zurückzugeben‹. Daher kann sich die Antwort, die Benennung und Bezeugung der Phänomene nur entweder einfach offen in die Phänomenalität und in die Welt hineinsprechen, oder aber sie richtet sich an andere Personen, an andere Subjekte (nach dem Subjekt). Und dies ist die Variante, die auch für die philosophische Ausdrucksform der Phänomenologie, also u. a. für den Text Étant donné selbst gilt. Wenn wir geben, insbesondere wenn wir zu erkennen geben, geben wir jemandem etwas – »quelque chose à quelqu’un«, (s. o.). Wie lässt sich nun in Marions Konzeption diese interpersonale Dimension des Einander-Gebens genauer fassen?

»Nous donnons sans compter. Nous donnons sans compter, dans toutes les acceptions du mot. – D’abord parce que nous donnons sans cesse : nous donnons comme nous respirons, à chaque instant, en toutes circonstances, du matin au soir, et aucun jour ne se passe sans que, d’une manière ou d’une autre, nous n’ayons donné quelque chose à quelqu’un, voire que nous n’ayons parfois ›tout donné‹.« J.-L. Marion, »La raison du don«, in: Philosophie 78 (2003), 3–32, hier 3.

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Mit dem Modell des Zeugen und der Zeugenaussage wird indirekt ein Modell interpersonaler Kommunikation vorausgesetzt, ebenso wie mit der sehr deutlich privilegierten Darstellung der Gebung als Ruf. Marion schließt in Réduction et donation mit der Figur des Rufs an Heideggers Gewissensruf an, möchte aber zugleich Husserls transzendentale Reduktion auf die Gegenständlichkeit und Heideggers existenzielle Reduktion auf das Sein durch die dritte Reduktion auf die Gebung überwinden. Es besteht dabei auch ein deutlicher Bezug zu Levinas, allerdings nicht im Hinblick auf den Ruf eines konkreten Anderen, sondern im Hinblick auf die Idee eines reinen Rufes, der dazu auffordert, diesen zu hören und zu empfangen, ohne ihn (mit Heidegger) als Anspruch des Seins oder eben als von einem Rufenden ausgehend zu interpretieren. Der Ruf spielt wiederum in Étant donné eine wesentliche Rolle für die Individualisierung des Subjekts als Phänomenempfänger. Die Hervorrufung des adonné vollzieht sich für Marion auch hier nicht nur unmittelbar in der Konfrontation mit einer anderen Person, sondern durch einen Ruf, der von jedem gesättigten Phänomen ausgeht. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die interlocution, die das Subjekt ›aus der Fassung bringt‹ (interloquer), es ›delokalisiert‹ oder ›deplatziert‹ und die im Hinblick auf die Ausrichtung auf die Interpersonalität von besonderem Interesse ist. Schon in seiner Descartes-Interpretation bringt Marion eine solche Vorstellung einer zwar immanenten, aber dennoch nach dialogischem Modell entworfenen Interlokution ins Spiel: Mit der Hypothese des täuschenden Gottes, der dem Ego der »Meditationes« seine Gedanken eingegeben haben könnte, öffnet sich das Ego einer Relation. Auch wenn der genius malignus eine fiktive Hypothese des Denkenden bleibt und selbst wenn der Denkende nicht mehr als eine Täuschung des genius malignus bliebe – entscheidend ist, dass es nicht mehr möglich ist, hinter die entstandene Beziehung zu einem anderen (als autre und autrui) zurückzukehren. Es entsteht ein Zwischenraum, der nicht mehr auf einen rein solipsistischen Nullpunkt zurückgeführt werden kann. 9 Angelegt ist hier durchaus eine wechselseitige Beziehung, die sich in der Reflexion über den Ruf in Étant donné wiederholt. Während der genius malignus dem Ego (jedenfalls potentiell) seine GeDieser eröffnet sich auch durch den zeitlichen Prozess des Denkens: Das Ego kann in diesem Denkprozess auf sich selbst immer nur als ein bereits (von sich selbst oder anderen) Gedachtes Bezug nehmen.

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danken eingibt, (es also denkt), benennt und denkt das Ego wiederum erst diesen Gedankengeber. Ebenso vervollständigt sich der Ruf, der von den Phänomenen ausgeht, erst in der Antwort des Empfängers, allerdings gerade dann, wenn er in dieser zunächst einmal sein Gerufensein anerkennt (im »me voici«), ohne vorschnell eine rufende Instanz zu identifizieren oder den Inhalt des Rufes begrifflich auf ein Objekt festzulegen. Marion illustriert diese Konstellation anhand von Caravaggios »Berufung des heiligen Matthäus«: Aus der rechten Bildhälfte weisen zwei im Halbdunkeln stehende Figuren, Christus und Petrus, in die Richtung der Gruppe von Personen, mit denen Matthäus am Tisch sitzt. Der Betrachter des Gemäldes kann aber erst aus den Gesichtszügen des Matthäus und aus seiner erstaunt und fragend auf ihn selbst verweisenden Geste ablesen, dass dieser und keiner der anderen sich als gerufen erkennt. Erst durch seine Reaktion also wird der Ruf als seine Berufung vervollständigt. Ausgehend von der hervorgehobenen Bedeutung des Verhältnisses zwischen Ruf und Antwort entwickelt Marion ein radikales und umfassendes Verständnis von Verantwortung, denn in jedem adonné steht letztlich die gesamte Phänomenalität, also alles auf dem Spiel. Das Risiko des Spiels trägt der Empfänger. Er gibt seine Antworten und benennt das Gegebene, ohne dafür eine Bestätigung zurückzuerhalten. 10 Hier lässt sich von Husserl ausgehend eine Ergänzung denken: Für diesen kann eine Bestätigung des eigenen Bewusstseinserlebnisses immerhin dahingehend erfolgen, dass man einander durch einen sprachlichen Austausch vergewissert, dasselbe Phänomen wahrzunehmen und zu identifizieren. »Von der Richtigkeit des solchermaßen sprachlich Vermittelten«, so Michael Theunissen, »kann sich wiederum nachträglich jeder von uns dank der ›Möglichkeit des Austauschs durch Platzwechsel‹ selber überzeugen«. 11 Damit ist noch keine Objektivierung erreicht, aber immerhin eine Intersubjektivität, die die rein subjektive und solipsistische Wahrnehmung des Empfängers überschreitet und so wohl auch die Verantwortung für die Phänomenalität zu einer mit anderen geteilten Verantwortung macht. Das bei Husserl noch zentrale Subjekt wird, sofern es Vgl. J.-L. Marion, Gegeben sei, S. 499–500 (Étant donné, S. 419). M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin: New York: 1977, De Gruyter, 74. Theunissen zitiert hier: E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana IV), Den Haag: Martinus Nijhoff 1952, 168. 10 11

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nach einer Bestätigung durch eine Überschreitung seiner Eigenheit strebt und sich vom ungeteilten ›Risiko‹ entlasten möchte, dazu herausgefordert, seinen Platz zumindest für einen Moment aufzugeben, ihn einem anderen zu überlassen und dessen ›Platz des Subjekts‹ und damit eine andere Perspektive einzunehmen. Dass dieser Platzwechsel, diese Perspektivüberschreitung sowie auch die kommunikative Verständigung immer nur nachträglich erfolgen, mag im Kontext der Phänomenologie Husserls eher defizitär erscheinen, ist ausgehend von Marions prinzipieller Hervorhebung der Aposteriorizität jedoch wesentlich unproblematischer. Allerdings geht es ihm, wenn er die ›kommunikative Dimension‹ zunächst auf das Spiel von Ruf und Antwort zwischen Gebung und Empfänger reduziert, wohl gerade darum, die Radikalität des Risikos für den Einzelnen hervorzuheben, um eine ›Verantwortungsdiffusion‹ zu vermeiden, aber dadurch auch die Bedeutung der Aufgabe als Phänomenempfänger zu stärken, in dem jeweils ›eine ganze Welt‹ auf dem Spiel steht. Die kommunikative Dimension erfährt nun eine interessante Modifikation, wenn das Phänomen, das so empfangen und zur Manifestation gebracht wird, wie es sich gibt, eine andere Person ist. Hier wird der Kommunikationsprozess von Ruf und Antwort in einem kontinuierlichen Wechselspiel auf eine konkrete, explizite Weise fortgesetzt. Wir finden uns in unserer lebensgeschichtlichen Entwicklung zunächst immer schon als von anderen Angesprochene vor (insbesondere von den Eltern, die uns rufen und uns einen Namen geben, uns möglicherweise schon vor unserer Geburt ansprechen), entdecken dies, und damit auch die Sprache, aber erst nachträglich in unserer eigenen, aktiven Antwort. Wir lernen sprechen, indem wir sprechen und damit nicht mehr nur benannt werden, sondern selbst benennen. Nimmt man die fundamentale ›Antworthaftigkeit‹ (repons) beim Wort, die das ›Subjekt nach dem Subjekt‹ definiert, der es nicht entgehen kann und für die es den Anspruch und den Platz eines herrschenden, zentralen Subjekts zugunsten der Anerkennung des Angesprochenseins aufgeben muss, so besteht seine Aufgabe gerade darin, das, was sich gibt, zu erkennen zu geben: es zu bezeugen, in Worte zu fassen oder auf andere (nicht verbale) Weise auszudrücken und sichtbar zu machen. Und in der Erfüllung dieser Aufgabe, findet es seinen Platz. Dabei sind unsere Ausdrucksformen und Antworten in der Lebenswirklichkeit immer in irgendeiner Form (sei es noch so indirekt) an andere gerichtet. Die Umwendung des klassischen Subjektverständnisses in die 314 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Figur des adonné erfordert und ermöglicht einen neuen Zugang zum anderen sowohl im Sinne der Phänomene, die auf den Empfänger einströmen, als auch zum personalen Anderen. Ausgehend von einem Subjekt, das auf die Welt zugreift und Gegenstände konstituiert und objektiviert, wird klassischerweise auch der Andere letztlich auf ein Objekt reduziert – Marion verweist hier auf Descartes und Sartre –, oder aber er ist wie bei Husserl nur in einer Appräsentation zugänglich. Eine Phänomenologie, die sich prinzipiell für die Sättigung der Phänomenalität offenhält, stellt den Anspruch, auch das Phänomen der anderen Person in seiner gesättigten Gegebenheit entgegenzunehmen und zu entfalten. Die Besonderheit dieses Phänomens besteht gegenüber anderen gesättigten Phänomenen nicht mehr in seiner Komplexität oder im Grade seiner Individualisierung, sondern noch einmal zusammengefasst darin, dass der Andere selbst auch Phänomene wahrnehmen, zur Manifestation bringen, auf die Gebung oder den Ruf antworten und sich selbst dem ihn wahrnehmenden Empfänger geben kann: »Vor allem vermag der Hingegebene die Möglichkeit zu erahnen, sich einem exzeptionell Gegebenen hinzugeben – einem Gegebenen, das sich selbst nach der Weise eines Hingegebenen zeigen würde, das seinerseits befähigt ist, sich aus dem, was sich ihm gibt, zu empfangen. Wenn sich der Andere zeigt, dann handelt es sich nämlich um einen Hingegebenen, der sich einem anderen Hingegebenen hingibt […].« 12

Für Marion besteht daher die zentrale Frage einer Phänomenologie des Anderen nicht mehr darin zu erklären, wie ein Bewusstsein mit einem anderen in Verbindung treten kann, sondern es geht darum, wie der Andere sich mir gibt, und zwar unter der Voraussetzung, dass dieser Andere und ich selbst als adonné aufzufassen sind. Die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen wird zu einem komplexen wechselseitigen Austausch des Gebens – zu einer interdonation. Nun dürfen Marions Ansatz gemäß weder die Strukturen des Subjekts noch ethische Forderungen und Spielregeln der Intersubjektivität a priori festlegen, wie die Welt verfasst zu sein hätte. Das heißt auch, dass kein ethisches Postulat einer Privilegierung des Phänomens ›Person‹ vor anderen Phänomenen der phänomenologischen Reduktion auf die donation vorauszusetzen ist. Dass die Umwendung in der Perspektive auf das Subjekt, die es nicht an den Anfang, son12

J.-L. Marion, Gegeben sei, 527 (Étant donné, 442 f.).

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dern an das Ende des phänomenologischen Prozesses setzt, seine Bedeutung jedoch nicht verringert, wird besonders deutlich an einem Punkt, wo Marion schon vor der Entwicklung seines phänomenologischen Neuansatzes wesentliche Elemente dieser Umwendung vorwegnimmt. Zugleich wird hierbei eine spezifische Ausrichtung und Lokalisierung dieses veränderten Subjektverständnisses deutlich: Der Perspektivenwechsel, den Marion in seinem Denken grundlegend vollzieht, spiegelt sich in zwei räumlichen Metaphern, die Descartes und Pascal zur Beschreibung ihrer jeweiligen philosophischen Perspektive verwenden. Klassisch ist Descartes’ Beschreibung des Blicks aus dem Fenster in der Dritten Meditation, in der die unten vorbeilaufenden Passanten durch den Beobachter der Methodik des Zweifels unterzogen werden. Handelt es sich um Menschen oder um Maschinen? Pascal hingegen wechselt die Perspektive, er verlässt den neutralen Beobachterposten und versetzt sich in die Position des Vorbeigehenden, der wiederum dem Blick eines Beobachters am Fenster ausgesetzt ist und sich fragt, ob dieser dort sitzt, um ihn zu sehen. 13 Im Mittelpunkt steht somit nicht mehr der Erkennende und die Frage, wie er (sicher) erkennt, sondern das Gesehen- und Erkanntwerden – das denkende Ego wird auch hier in ein Moi umgewandelt, das gesehen wird, während es am Fenster vorbeigeht. Was aber geschieht unten auf der Straße, zwischen den sich begegnenden Passanten?

2.

Die Phänomenalität interpersonaler Begegnungen – Einander begegnen, einander lieben, einander einen Platz geben

Mit dem von Pascal hergeleiteten Perspektivwechsel, also mit der Aufgabe des cartesischen Fensterplatzes ist, wie es Marion betont, ein Übergang zur Ebene des ordo amoris verbunden. Es geht nicht nur um das Erkanntwerden, sondern gleichermaßen darum, geliebt und anerkannt zu werden: »Au regard inversé, je devenu un moi ne demande ni de connaître, ni même d’être connu, mais d’être reconnu,

»Un homme qui se met à la fenêtre pour voir les passants; si je passe par là, puis je dire qu’il s’est mis là pour me voir?« (J.-L. Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes. Constitutions et limites de l’onto-théo-logie dans la pensée cartésienne, Paris: PUF 1986, 344.) Marion zitiert aus den Pensées, in: B. Pascal, Œuvres complètes, hrsg. v. L. Lafuma, Paris: Seuil 1963, § 688 / 323.

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c’est à dire aimé.« 14 Das Selbst, das Marion dem cartesischen Ego gegenüberstellt, ist nicht nur ein moi pensé, sondern ebenso wesentlich ein moi aimé. 15 In der Ordnung der Liebe gibt das Ich seine Zentralität als Ausgangspunkt der Erkenntnis auf, um sich selbst als geliebte und anerkannte Person zurückzuerhalten. 16 Nicht nur das Subjekt als neutrale Instanz der Erkenntnis, sondern auch als universaler Stellvertreter ethischer Überlegungen wird zugunsten einer Partikularität zurückgewiesen, die nur in der Liebe erfasst werden kann: »Denn ich will und darf diesen Anderen nicht nur als universell-abstrakten Pol der Gegen-Intentionalität betrachten, bei der jeder das Antlitz des Antlitzes annehmen kann, sondern ich will und muss ihn in seiner unersetzlichen Partikularität erreichen, in der er sich wie kein Anderer gibt. Diese Individuation trägt einen Namen: Liebe.« 17

Wie wesentlich die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Liebe auch auf die Phänomenologie der donation zurückwirkt, zeigt sich daran, dass Marion in seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Erotischen noch einmal die gesamte Phänomenwelt nach Maßgabe der Liebesordnung betrachtet. 18 Die Gestimmtheit des Liebens oder Hassens strukturiert unsere räumlichen und zeitlichen Bezüge zu anderen Personen sowie zu allen Phänomenen, indem sie die Differenzen zwischen räumlicher und zeitlicher Nähe und Ferne auf besondere Weise erfahrbar macht und eröffnet. Die Liebe weist einer Person im Koordinatensystem zwischenmenschlicher Beziehungen ihren Platz in der Welt zu – »denn sie gibt mir mein Hier«. 19 Aus der Frage, ob es geliebt wird, erhält das Selbst keine Antwort auf die Frage, wer es selbst ist, aber es erhält die Möglichkeit, zeitlich und räumlich im Koordinatensystem zwischenmenschlicher Beziehungen seinen Platz in der Welt zu bestimmen und von dort aus zur J.-L. Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, 345. Ebd. 16 »Central dans la pensée, l’ego se révèle périphérique dans la charité. Je ne puis plus être qu’un moi, excentré de je au point que, déjà, je est un autre – non un autre moi, ni un autre que moi mais un autre que je. Je suis aliéné, ou, littéralement, je est autre que je, à savoir (un) moi. Je ne suis pas (un) je, parce-que je suis (est) un moi.« (J.-L. Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, 347). 17 J.-L. Marion, Gegeben sei, 528 (Étant donné, 443). 18 Vgl. J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen. Sechs Meditationen, übers. a. d. Französischen von A. Letzkus, Freiburg i. Br., München: Alber 2011. 19 Ebd., 64. 14 15

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Welt und zu den Anderen in Beziehung zu treten. Für diese Verortung und Absicherung reicht eine ursprüngliche Eigenliebe nicht aus, sondern es müssen eine Entscheidung, ein Ereignis und eine Gabe von außen erfolgen. Sich selbst könnte das jeweilige Subjekt immer nur geben, was es bereits besitzt, ohne sich etwas anderes hinzuzufügen. Das reine In-sich-selbst-Bleiben oder die reine Selbsterhaltung eines conatus in suo esse perseverandi kann für Marion aber einer Darstellung des menschlichen Selbst niemals vollständig gerecht werden. Schon in einem ganz alltäglichen Selbstverständnis stellen sich Personen bereits die über sie selbst hinausweisende Frage, ob ihre Existenz vergeblich ist oder ob sie geliebt und gewollt werden. Und sie sind selbst in der Lage und genötigt, zu wollen, zu entscheiden, zu lieben und zu geben. Ein vorauszusetzender Besitz, eine spezifische Eigenheit des Selbst bleibt auch für Marion notwendig, wo es darum geht, sich als Knotenpunkt eines Netzes von Beziehungen des alltäglichen ökonomischen und kommunikativen, intersubjektiven Austauschs zu verstehen und zu verorten. Hier ist ein eigener, sozial gesicherter Platz vorauszusetzen, von dem aus ich mit anderen in verschiedene Arten von Beziehungen treten kann, die eben nicht alle im ordo amoris aufgehen. 20 Zugleich muss die Sättigung der Phänomenalität, mit der die andere Person begegnet, für Marion durch eine gewisse Anonymität oder durch die Beschränkung auf eine soziale Rolle ausgeblendet werden, um das alltägliche Miteinander nicht vollständig zu überfordern. Einander tatsächlich als Person einen Platz zu geben, heißt aber, wie es Robert Spaemann hervorhebt, gerade nicht, sich gegenseitig auf ein möglichst leicht handhabbares ›So bist du eben‹ zu reduzieren. Es geht nicht um eine Festlegung auf ein bestimmtes rein passives Gegebensein oder ein unüberschreitbares Eigenes, auf eine soziale Rolle, auf einen Besitz oder auf einen ein für allemal festgelegten Charakter. Das Personsein zeichnet sich für Spaemann durch das »in

Interessant ist hier als Ergänzung Paul Ricœurs Interpretation des Modells der Gabe, die Personen symbolisch austauschen und deren besondere Bedeutung darin besteht, sich bzw. die jeweiligen Plätze der Personen eben nicht gegeneinander auszutauschen. Man tauscht, so Ricœur, Gaben, aber nicht den Platz. Man erkennt einander dabei wechselseitig in der Fähigkeit an, nicht nur zu empfangen und pflichtgemäß zu erwidern, sondern selbst frei und spontan geben zu können. (Vgl.: P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, übers. von U. Bokelmann und B. Herber-Schärer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.).

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freier Anerkennung wahrgenommene« aus 21: »Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben«. 22 Zwar nimmt jeder Mensch seinen einzigartigen Platz qua Geburt schon ein, es »gibt sie (die Person, K. B.) nur zusammen mit diesem Platz«, es gibt aber zugleich »den Platz nur durch sie« 23 und in der Gemeinschaft wechselseitiger Anerkennungsbeziehungen, denn die Möglichkeit des Hier und Jetzt geht überhaupt erst aus der Perspektive von Personen hervor. Spaemann weist nun zurück, dass das Selbstsein ›als Phänomen‹ gegeben sein könnte. Ich halte es jedoch für sinnvoll gerade die Phänomenalität von Personen hervorzuheben, um Spaemanns Argument zu stützen, dass eine davon abstrahierende ›Idee‹ der Person zurückzuweisen ist. Jede positive Definition des Menschen birgt auch für Marion die Gefahr, andere zu negieren, die aus dem Rahmen dieser (u. a. politisch durchgesetzten oder ökonomisch kalkulierten) Definition herausfallen. Deshalb gilt für ihn das Gebot, sich gegenseitig als Mensch anzuerkennen, ohne sich auf eine starre Definition zu beschränken, indem man einander eine prinzipielle Undefinierbarkeit und Unobjektivierbarkeit als negative Gewissheit zuschreibt. 24 Das gesättigte Phänomen der Person verlangt statt einer eindeutigen und unverrückbaren Identifizierung die Arbeit einer unendlichen Hermeneutik, die keine andere, endliche menschliche Person jemals vollständig erfüllen kann. 25 Persönliche Begegnungen sind im Raum der Liebe sowie auch im Empfangen der Ikonizität des Anderen von ›profaneren‹, anonymeren interpersonalen und sozialen Beziehungen nicht vollständig abzutrennen. Zu beachten ist, dass sich hieraus auch wichtige Wechselwirkungen ergeben. Dass Personen einander mittels der Liebe ihren Platz in der Welt und in der Zeit (zu erkennen) geben, kann beispielsR. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart: Klett-Cotta 1996, 194. 22 Ebd., 193. 23 Ebd., 78. 24 In Certitudes négatives führt Marion den Begriff der negativen Gewissheit als Alternative dazu ein, den Anspruch einer Gewissheit der Erkenntnis auf die positive Evidenz zu beschränken. Das Phänomen des personalen Selbst bildet hierbei das erste Beispiel einer solchen negativen Gewissheit, darauf folgen die Vorstellung Gottes als (Un)Möglichkeit und Auseinandersetzungen mit den Paradoxien der Gabe sowie mit dem Ereignis. Vgl. J.-L. Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010. 25 Vgl. J.-L. Marion, »L’icône ou l’herméneutique sans fin«, in: ders., De Surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: PUF 2001, 125–153. 21

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weise besonders entscheidend werden, wenn dieser Platz in der gesellschaftlichen Ordnung der Gerechtigkeit bedroht ist. So heißt es in André Gortz Brief an D.: »Gemeinsam mussten wir uns, einer durch den anderen, den Platz in der Welt schaffen, der uns ursprünglich abgesprochen war.« 26 Ebenso kann die Erschütterung einer sozialen, von anderen anerkannten Identität auch dazu führen, dass es für eine Person erschwert wird, sich anderen in Liebe zu widmen, und ein gesicherter, anerkannter Standpunkt im Netzwerk der Gesellschaft kann es wesentlich erleichtern, den nötigen Spielraum zu gewinnen, um bereit zu sein, das gesättigte Phänomen der anderen Person zumindest annähernd angemessen in Empfang zu nehmen. Seinen Platz in der Welt zu finden, gelingt Gorz, der als österreichischer Jude in Frankreich das Gefühl der Heimatlosigkeit und des Ausgeschlossenseins empfindet, sonst nur durch die Veröffentlichungen seiner Bücher, insbesondere seiner sehr erfolgreichen Autobiographie. Diese Tatsache verweist auf die Möglichkeit, sich und anderen einen Platz nicht nur unmittelbar in interpersonalen Beziehungen zu geben, sondern sich solche Plätze vermittelt über schriftliche Zeichen quasi ›zuzuschreiben‹ : Marcel Proust expliziert genau dies in den letzten Sätzen seiner großen Suche nach der verlorenen Zeit als eine der Aufgaben des Schreibens. Es geht dem Erzähler nicht nur darum, die Zeit zu durchmessen, sondern auch darum, den ihm begegnenden Menschen und ihrem Leben im Erzählen »einen Platz in der Zeit« zu geben. 27 Proust betont die Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit des individuellen Lebens, die sich insbesondere »im Schöpfungsakt« des Künstlers manifestiert, »bei dem kein anderer uns ersetzen oder auch nur mit uns zusammenwirken kann.« 28 Deshalb zieht sich der Erzähler am Ende seiner Erzählung aus der Gesellschaft zurück, in die »Nächte« des Schreibens. 29 Aber es geht dabei A. Gorz, Brief an D. Geschichte einer Liebe, übers. a. d. Französischen von E. Moldenhauer, Zürich: Rotpunktverlag 2004, S. 17. Durch die Veröffentlichung fühlte sich Gorz gezwungen, »mich neu zu definieren und mich ständig weiterzuentwickeln, um nicht im Bild, das die anderen sich von mir machten, gefangen zu bleiben« (ebd., 52). Der Blick der Anderen (Gorz hat eng mit Sartre zusammengearbeitet), die ihm eine Identität zuschreiben, fordert ihn dazu heraus, sich gerade nicht zu sehr festlegen zu lassen, sondern seine Identität als ein Werden zu entwickeln. 27 M. Proust, Die wiedergefundene Zeit. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 7., übers. a. d. Französischen von E. Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 528. 28 Ebd., 277. 29 Ebd., 520. 26

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letztlich darum, aus dem Rückzug heraus, zu einem künstlerischen Ausdruck zu kommen und nicht in sich selbst zu beharren. Die Kunst ermöglicht einen intersubjektiven Austausch der Plätze, indem sie es uns erlaubt, »aus uns herauszutreten und uns bewusst zu werden, wie ein anderer das Universum sieht«. 30 Sie öffnet den Horizont und die Perspektive des Einzelnen und gewährt ihm die Möglichkeit, sich fiktional an den Platz eines anderen zu versetzen, ohne ihm diesen Platz streitig zu machen oder den anderen zu ersetzen. Es vollzieht sich dabei nicht ein wechselseitiger Tausch der Perspektiven im unmittelbaren kommunikativen Austausch, wie bei Husserl dargestellt, sondern eher eine Einübung in das eigenständige Hin- und Herwechseln zwischen möglichen Perspektiven, die über das künstlerische Werk vermittelt werden. Ähnlich wie bei Spaemann nimmt für Proust jeder Mensch seinen Platz in der Zeit ohnehin ein, der Raum der »Tiefe der Jahre« 31, der sich in der Tiefe des Augenblicks eröffnet, bliebe aber ohne den erzählerischen Ausdruck unsichtbar. Der Platz des Selbst erschiene so wie eine punktuelle Festlegung, deren Tiefendimension erst erschlossen und entfaltet werden muss. Auch in der künstlerischen interdonation können wir einander also vergewissern, dass uns ein Platz in der Welt zusteht, aber auch, dass wir frei und fähig sind, unsere Plätze bzw. unsere Perspektiven auszutauschen und mit Tiefe und Bedeutung zu versehen, ohne uns selbst gegeneinander auszutauschen oder miteinander zu verwechseln oder unsere Plätze aufgeben zu müssen. Die künstlerische Tätigkeit kann dabei als eine wesentliche (wenn auch sicher nicht als die einzige) Form betrachtet werden, die Aufgabe einer Bezeugung und Entfaltung der Phänomenalität zu erfüllen. Ebenso wie die philosophische Tätigkeit kann sie zudem bestimmte Haltungen des Empfangens der Gebung, ihre Reduktion und Entfaltung vermitteln. Die interdonation als Überkreuzung der Gebung personaler Phänomene verlangt eine Haltung, die der Herausforderung begegnet, eine wechselseitige Anerkennung auszutauschen, in der man einander als ›du und kein anderer‹ in einer unverwechselbaren Individualität und gesättigten Phänomenalität wahrnimmt, ohne sich gegenseitig auf ein ›so bist du eben‹ festzulegen. Die jeweilige Gebung des Anderen wird wechselseitig beantwortet, indem man diesen an30 31

Ebd., 301. Ebd., 527.

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spricht oder benennt und zugleich sich selbst als Empfänger manifestiert und zu erkennen gibt. Ein gelingendes Zusammenspiel der interdonation in der interpersonalen Begegnung ist keineswegs unmittelbar selbstverständlich. Auf einer mittelbaren Ebene der Verständigung ist deshalb die Fähigkeit wichtig, einander wechselseitig auf Zeichen hinzuweisen, Beispiele zu geben und Erkenntnisse weiterzugeben, die die Unaustauschbarkeit der partikularen personalen Identitäten verdeutlichen und zugleich die Universalität eines Aufrufes zu einer bestimmten Haltung der Verantwortlichkeit des Entgegennehmens, Gebens und Sich-Hingebens vermitteln. Diese Haltung gilt es auch gegenüber der ebenso unaustauschbaren Gebung der gesamten Phänomenalität bis hin zu ihrer äußersten Sättigung einzunehmen. Es handelt sich nicht um eine Haltung, die automatisch aus dem Empfangen von Phänomenen hervorgeht, sondern um eine Haltung, die erlernt werden muss. Nun ist dabei erfreulicherweise nicht jeder einzelne Phänomenempfänger auf ein individuelles, immer wieder neues ›learning by doing‹ angewiesen, da eben die Möglichkeit besteht, sich miteinander kommunikativ auszutauschen und Erkenntnisse weiterzugeben – indem man beispielsweise eine Abhandlung über die Phänomenologie der Gebung verfasst, in der vermittelt wird, wie die Gebung der Phänomene erfolgt und wie sie möglichst unmittelbar so zu empfangen ist, wie sie sich gibt.

3.

Eine weitere Entfaltung: Erfüllung der Phänomenologie der donation als interdonation und ›Inter-Explikation‹

Eine Annäherung an das gesättigte Phänomen der Ikone und damit auch an das Gesicht und die individuelle Persönlichkeit des anderen ist für Marion, wie bereits angedeutet, nur in einer (annäherungsweise) unendlichen Hermeneutik und daher in einer Weitergabe von Zeugnissen und Erkenntnissen über Generationen hinweg möglich. Auch die Durchführung einer Phänomenologie der donation kann sich, wenn sie einen Anspruch der Vollständigkeit vertritt oder zumindest eine möglichst weite Ausdehnung der Bühne erzielen will, die der Phänomenalität bereitet werden soll 32, nicht in einem Phänomenempfänger erfüllen, sondern verlangt die möglichst umfassende 32 In der Vorbemerkung zu Certitudes négatives erklärt Marion diesen Anspruch der auf Étant donné folgenden Schriften: »Dans tous les cas, il ne s’agit que de travailler à

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und kontinuierliche Ergänzung verschiedener Perspektiven. Diese Vorstellung deckt sich mit der u. a. von Dan Zahavi in Husserls Überlegungen zur Intersubjektivität herausgearbeiteten Voraussetzung, dass der Anspruch auf Objektivität im Umgang mit den Phänomenen überhaupt erst aus dem Wissen um die Perspektive anderer Subjekte gewonnen und nur durch eine Pluralität transzendentaler Subjekte erfolgreich konstituiert werden kann. 33 Ausgehend von Marion lässt sich nun auch diese intersubjektive Konstituierungsleistung als Prozess einer interdonation beschreiben. Kehren wir noch einmal zum Ende von Étant donné zurück, so deutet sich dort (wenn auch zunächst mit dem vorsichtigen ›peutêtre‹) eine Sonderstellung der interdonation als äußerste Erfüllung der Phänomenalität an (»son développement le plus avancé et, peutêtre, de son accomplissement«, s. o.). Es lässt sich im Anschluss an die bisherigen Überlegungen nun Fragen, ob dies nur gilt, weil es ein normatives Ziel ist, der Partikularität der anderen Person und der Besonderheit interpersonaler Beziehungen gerecht zu werden, oder auch deshalb, weil die Bedeutung der Interpersonalität bzw. Intersubjektivität schon im Hinblick auf das (phänomenologische) Philosophieren und das richtige Entgegennehmen der Phänomene angelegt ist, insbesondere dort, wo die gesättigten Phänomene die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Einzelnen an ihre Grenzen führen und die notwendige Ergänzung durch andere Perspektiven quasi mit hervorrufen. Wenn nicht das richtige Entgegennehmen der Phänomene und die Entfaltung ihrer Gegebenheit ein multiperspektivisches Zusammenspiel verlangen würden, sondern unmittelbar in der einzelnen Person möglich wären, wäre im Grunde genommen keine so komplexe philosophische Kommunikation, Verständigung und Weitergabe von phänomenologischen Überlegungen, Methoden und Analysen notwendig, wie sie auch in Jean-Luc Marions Werk und in seiner Diskussionsbereitschaft und Lehrtätigkeit vorliegt. In ihrer Durchführung erfüllt sich also die Phänomenologie der donation als eine wechselseitige philosophische interdonation, und zwar in einem un élargissement du théâtre de la phénoménalité …« J.-L. Marion, Certitudes négatives, 9. 33 Vgl. D. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, Dordrecht u. a.: Kluwer 1996, 27 f. Sowie: M. Wallner, »Husserls ›Paradoxie der Intersubjektivität‹. Zur hermeneutischen Dimension der Transzendentalphänomenologie«, in: I. Römer (Hg.), Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie, Würzburg: Ergon 2011, 95–107.

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Prozess sprachlicher Vermittlung und in einem Kontext überlieferter Interpretationen. 34 Ich möchte nun abschließend skizzieren, inwiefern diese philosophische interdonation als eine ›Inter-Explikation‹ zu vollziehen ist: Marion entlehnt seinen Umgang mit dem Ausdruck ›pli‹ von Gill Deleuze. 35 Für Deleuze ist das Spiel von Differenz und Wiederholung durch ein beständiges Ineinandergreifen und Einanderablösen von Implikation (als Komplikation) und Explikation gekennzeichnet. Es gibt dabei keine Transzendenz, keinen äußerlichen, objektiven Maßstab für die Erkenntnis der Welt, sondern nur eine unendlich differenzierte innere Faltung und Strukturierung der Immanenz. Deleuze versucht das Paradoxon einer Differenz zu denken, die »weiterhin an sich impliziert (ist), wenn sie sich außerhalb ihrer selbst expliziert«. 36 Analog dazu bleibt bei Marion die Gebung im Phänomen impliziert, gerade indem es sich gibt. Diese Implikation soll durch die phänomenologische Reduktion und die Konzentration auf die Immanenz der donation sichtbar gemacht, expliziert und zugleich doch als implizierte Gebung des Phänomens bewahrt werden. Würde keine Entfaltung erfolgen, wären die ›Faltungen‹ in der Immanenz des Zu-Entfaltenden nicht zu erkennen. Wenn ich ein Stück Papier entfalte, führe ich es aber nicht einfach in die ursprüngliche Form eines glatten Blattes zurück, analog dazu, wie das phänomenologisch in Empfang genommene und erforschte Phänomen dadurch keinesfalls zum Ursprungspunkt seiner Gebung ›zurückgegeben‹ werden kann. Vielmehr bleiben Knicke und Falten darauf sichtbar, anhand derer ich erkennen Davon ausgehend erscheint eine methodische Ergänzung um eine hermeneutische Perspektive, wie sie beispielsweise Jean Greisch vorschlägt, durchaus als sinnvoll. Für ihn interpretiert der Empfänger das Phänomen als gegeben, wenn er es der phänomenologischen Reduktion unterzieht. Vgl. J. Greisch, »Index sui et non dati: Les paradoxes d’une phénoménologie de la donation«, in: Transversalités. Revue de L’Institut Catholique de Paris 70 (1999), 27–54, hier 36. 35 So äußert Marion in einem Interview besonders deutlich: »Mein Bezugspunkt bei ›pli‹ ist (…) Deleuze. (…) Deleuze spricht wiederholt von ›pli de l’immanence‹. Bei Deleuze verbleibt die Philosophie grundsätzlich in der Immanenz. Aber es ist eine Immanenz, über die verschiedene verneinende Sätze gebildet werden können. So gerät bei ihm die Immanenz nahe an die Transzendenz. Um die Immanenz gewissermaßen ein wenig abzustufen, spricht er von ›pli de l’immanence‹. Diesen Terminus habe auch ich übernommen und ihn auf meine Weise verwendet.« (J.-L. Marion und J. Wohlmuth, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn: Borengässer 2000, 63 f.). 36 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. von J. Vogl, München: W. Fink 1992, 289. 34

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kann, wie das Blatt zuvor zusammengefaltet war. Die Faltung wird also entfaltet und zugleich bewahrt. Diese Metapher der Entfaltung des Papiers lässt sich anhand von Deleuze’ Lektüre von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« 37 nun noch weiter entfalten. Deleuze interpretiert Prousts Darstellung als eine Lehre über das Entgegennehmen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Kontexten gegebener Zeichen, die es auf der Suche nach der Wahrheit zu entfalten gilt. Sie geben bzw. zwingen zu denken. Der Zeichenbegriff ist bei Deleuze ebenso weit gefasst wie der Phänomenbegriff bei Marion, so dass eine Übertragung dessen, was hier über den Umgang mit den Zeichen ausgesagt wird, auf die Entgegennahme der Gebung der Phänomenalität legitim erscheint. Um für das Empfangen der Begegnung mit den Zeichen offen sein zu können und die Fähigkeit zur Interpretation zu üben, spielt neben der Begegnung mit möglichst unterschiedlichen Zeichen oder Phänomenen die interpersonale Begegnung eine wesentliche Rolle. Deleuze unterscheidet im Hinblick auf das Erlernen des Umgangs mit den Zeichen zwei Modelle: Die Philosophie zeichnet sich im sokratischen Dialog dadurch aus, dass Sokrates die Begegnung mit den Zeichen, die den Lernprozess in Bewegung setzten, voraussieht, organisiert und mittels seiner Ironie hervorruft. Er gibt also mit einem vorgeschalteten Verstand zu erkennen, indem er seine Dialogpartner im Zusammenspiel von Frage und Antwort gezielt auf die Zeichen hinführt, die ihnen zu denken geben und ihre eigenen Antworten und Fragen hervorrufen sollen. Proust hingegen breitet – wie Deleuze betont ohne eine vorgeschaltete logische Ordnung, also Marions Forderung der Aposteriorizität erfüllend 38 – das Bild einer Fülle der Zeichen so vor uns aus, wie sie uns im Verlauf der Zeit begegnen könnten. »Implikation und Explikation, Einhüllung und Entwicklungen sind die Kategorien der Recherche. Anfangs ist die Bedeutung im Zeichen impliziert; sie ist wie ein Ding, das in ein anderes eingerollt ist. […] Der empfindungsfähige Mensch befreit die in den Dingen implizierten Seelen: etwa so, als ob man zusieht, wie die Papierstückchen des japanischen Spiels sich im Wasser entfalten, sich ausfalten oder explizieren und Blumen, Häuser und Personen bilden.« 39 37 Vgl. G. Deleuze, Proust und die Zeichen, übers. a. d. Französischen von H. Beese, Berlin: Merve 1993. 38 »Der Verstand kommt immer nachher, er ist gut, wenn er nachher kommt, er ist nur gut, wenn er nachher kommt.« (G. Deleuze, Proust und die Zeichen, 83 f.). 39 Ebd., 74 f.

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Mit diesem japanischen Spiel vergleicht Proust das berühmte Madeleine-Erlebnis, bei dem seine Erinnerung aus dem Duft einer Tasse Tee und des Gebäcks aufsteigen. 40 Interessant ist, dass in diesem Bild die Entfaltung eben kein simples Auseinanderfalten des Papiers meint, sondern eine Manifestation komplizierter Formen. Zwischen Sokrates und Proust zeichnen sich nun also zwei Alternativen einer interdonation als gemeinsamer Explikation der Phänomenalität ab: Die eine besteht in einem von vornherein eindeutig gezielten und geordneten philosophischen Hinweisen auf einzelne Aspekte, Figuren und Zusammenhänge des Gegebenen – auf einzelne Papierstücke und die Art und Weise, wie sie sich im Wasser entfalten. Es ist dabei nicht nur möglich, Ordnungsmuster aufzuzeigen, sondern ebenso denkbar, auch auf Lücken in scheinbar vorgegebenen Ordnungen hinzuweisen und etablierte Kategorien in Frage zu stellen. Die andere Alternative besteht darin, das reine Sich-Zeigen oder Sich-Geben der Phänomene mehr oder weniger mimetisch nachzuahmen, wie es sich gibt, und ihm auf diese Weise eine Bühne zu bereiten. Der Gestaltende – in diesem Fall also Proust – greift jedoch immer auf irgendeine Weise in die Ordnung des Erscheinens ein, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu lenken wie ein Gemälde in einer Anamorphose. Der Begriff Anamorphose bezeichnet ein Stilmittel der Malerei, in der ein Bild oder Bildelement nur aus einem bestimmten Blickwinkel oder durch Einsatz optischer Instrumente, beispielsweise eines Spiegels, richtig erkannt werden kann. Marion rekurriert in Étant donné auf dieses Stilmittel, um das Verhältnis zwischen Gebung und Empfänger zu illustrieren. Er stellt sich den Weg, den die donation zurücklegen muss, als eine gradlinig verlaufende Achse vor. Diese bildet zugleich die ›Sichtachse‹, die das Sehen des Sichtbarwerdenden bzw. das Empfangen der Gebung ermöglicht und die dazu notwendige Haltung des Empfängers bestimmt. Interessant ist hier nun auch der ursprüngliche Sinn des Wortes Anamorphose: Es handelt sich dabei um eine Umformung, die durch den Blick und die Position des Betrachters zustande kommt. Entscheidend ist in Marions Verständnis, dass das sich gebende Phänomen vor der Rezeption durch einen Empfänger zwar bereits seine spezifische Form besitzt, aber noch nicht in Vgl. M. Proust, In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, übers. a. d. Französischen von E. Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, 66 f.

40

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eine Figur gefasst wurde, die es vom Hintergrund der gesamten Phänomenalität abhebt und von allen anderen Phänomenen unterscheidet. Die dazu notwendige Umformung – oder Um-Formung – vollzieht sich für Marion nun wesentlich aus der Initiative des Phänomens heraus. Im Gemälde leitet eine Irritation in der sich nicht auf den ersten Blick erschließenden Darstellung den Betrachter dazu an, seinen Standpunkt und seine Perspektive zu verändern, um die Darstellung zu enträtseln. Zwar kann der Betrachter sich dabei frei bewegen, ebenso wie er auch nicht gezwungen werden kann, überhaupt zu versuchen, das Dargestellte zu erkennen, aber der Standpunkt, den er notwendig einnehmen muss, um die Umformung vorzunehmen und die entscheidende Implikation zu erkennen – dieser Standpunkt ist im Bild selbst vor der Rezeption durch den Betrachter festgelegt. Der Empfänger kann jede beliebige eigene Perspektive wählen, aber nur eine Perspektive, aus der ihm das Selbst des Phänomens wirklich zugänglich wird, aus der er es so entgegennehmen kann, wie es sich selbst gibt. In der Konfrontation mit einem gesättigten Phänomen reicht nun aber wiederum wie erläutert eine eindeutige Perspektive zur Entgegennahme der Gebung nicht aus. Dies wird interessanterweise am gesättigten Phänomen des Kunstwerks besonders deutlich, auch und gerade wenn es eine Anamorphose enthält: Würde der Betrachter von vornherein nur den Standpunkt einnehmen, der die Entschlüsselung ermöglicht, dann könnte er die Anamorphose überhaupt nicht als solche erkennen. Dazu ist gerade die Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel auf das Gemälde notwendig, ohne sich von vornherein auf eine Sichtachse festzulegen. Um die Sättigung der Phänomenalität eines Kunstwerkes in seiner Einzigartigkeit annäherungsweise zu erfassen, und es nicht nur auf eine Art perspektivisches Bilderrätsel zu reduzieren, ist zudem eine Wahrnehmung und Interpretation durch eine Vielzahl von Empfängern und Betrachtern vorauszusetzen. Marion verweist auf das klassische Beispiel des Gemäldes »Die Gesandten« von Hans Holbein dem Jüngeren, in dessen Vordergrund als Vanitas-Symbolik ein verzerrter Totenkopf abgebildet ist, der nur aus einem bestimmten Blickwinkel als realistische und proportional korrekte Darstellung zu erkennen ist. Ein isolierter Betrachter könnte nun durch die Einnahme verschiedener Blickwinkel den Totenkopf als Teil eines menschlichen Skeletts erkennen – ihn eben als VanitasSymbol zu interpretieren und damit dem Gemälde in seiner Gesamtheit gerecht zu werden, verlangt aber eine darüber hinausgehende 327 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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Verstehensleistung, die wohl nur durch die Einbettung der Rezeption in eine Tradition kultureller Vermittlungsleistungen und Interpretationen zu gewährleisten ist. Zudem fordert auch das Stilmittel der Anamorphose selbst dazu heraus, es nicht nur zu enträtseln, sondern beispielsweise auch ganz generelle Fragen über die Sicherheit der Wahrnehmung, das Sichtbare und Unsichtbare und über die Mittel der Kunst zu stellen. Weder in einem Umgang mit den Zeichen nach Sokrates noch nach Proust geht es einfach darum, eine eindeutige Bedeutung zu entfalten, auf die das Zeichen verweist. Wesen und Ziel des beschriebenen japanischen Spiels ist es nicht nur, das Ergebnis der entfalteten Figuren zu sehen – die Faltung und Entfaltung könnte dann wegfallen: Proust müsste nicht erst das Madeleine-Erlebnis beschreiben, wenn es ihm lediglich darum ginge, die Erinnerung an Combray vor den Augen des Lesers auszubreiten. Das Wesen der künstlerischen Darstellung ebenso wie das Prinzip des phänomenologischen Philosophierens liegt hier vielmehr darin, uns den Zusammenhang und den Prozess von Faltung und Entfaltung vor Augen zu führen und zu erkennen zu geben. Was für Marion expliziert werden soll, ist die Gebung, die im Phänomen impliziert, also wie die Spuren in das Blatt Papier in dieses ›hineingefaltet‹ ist bzw. sich selbst darin impliziert und, indem das Phänomen sich gibt, zugleich für eine Entfaltung exponiert. Es geht nun also in der Phänomenologie gerade nicht nur um ein passives Entgegennehmen, auch nicht nur um ein Beschreiben oder Bezeugen der Phänomene, so wie sie sich geben. Es geht darum, die Zusammenhänge aufzuzeigen, in denen das Phänomen zum Empfänger gelangt, die Weise, wie es sich gibt und wie es durch diesen in Empfang genommen und zur Manifestation gebracht wird, indem es gedanklich verarbeitet und in irgendeiner Form sprachlich expliziert wird. Es geht auf Seiten des Empfängers nicht nur darum, eine Schale mit Wasser bereitzustellen, in das die Papierstücke fallen, um sich dann zu entfalten, oder einen Bildschirm des Bewusstseins, auf das die Phänomene auftreffen, woraufhin dieser kurz aufleuchtet. Alle phänomenologischen, philosophischen, künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Tätigkeiten gehen über diese Art des Empfangens hinaus, wenn sie auf unterschiedliche Art und Weise versuchen – mit oder ohne bewusst vertretenen Totalisierungsanspruch, durch eine Ausbreitung der Kontingenz des Gegebenen oder in einer philosophischen Ordnung – die Gesamtheit des Spiels der Faltungen und Entfaltungen zu erkennen zu geben. Es geht dabei also um eine Er328 https://doi.org/10.5771/9783495823736 .

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fassung jenes Spiel der gesamten Phänomenalität, die letztlich in jedem einzelnen Phänomenempfänger also in jeder Person auf dem Spiel steht, wobei aber um dieses Auf-dem-Spiel-Stehen zu erfassen, die Perspektive des Einzelnen immer schon überschritten werden muss. Um die phänomenologische Reduktion durchführen zu können, indem ich mich quasi auf eines der ins Wasser fallenden Papiere, auf sein Auftreffen auf der Wasseroberfläche, auf seine Faltung und Entfaltung konzentriere, darf ich den Zusammenhang dieser Faltung und Entfaltung nicht ausblenden. Vor dem Beginn der gedanklichen Arbeit ist vorauszusetzen, dass mein Denken durch die Idee motiviert wird, dass ich mittels Reduktion etwas freilegen und entfalten kann. Bevor ich also tatsächlich die Faltung und Entfaltung des einzelnen Papiers erfassen kann, ohne darin einfach nur die zuvor hineingefaltete und nun entfaltete komplizierte Form zu erkennen oder aber das wieder mehr oder weniger geglättete Blatt, muss ich wohl wenigstens eine Ahnung des Zusammenhangs des gesamten japanischen Spiels bzw. im übertragenen Sinne des Zusammenspiels der Phänomenalität als Welt besitzen. Um diesen Zusammenhang der Phänomenalität auch nur ansatzweise zu begreifen, reicht jedoch meine individuelle Beobachterperspektive oder Zeugenschaft niemals aus. Ich muss dazu nicht nur das annehmen, was sich meiner Wahrnehmung unmittelbar gibt, sondern auch das, was mir durch Andere, beispielsweise durch das Werk Prousts oder durch die Lektüre philosophischer Werke, zu erkennen gegeben worden ist. Ich greife dabei immer schon auf die sprachliche Benennung von Phänomenen durch andere in einer Gemeinschaft der Kommunikation zurück. Was ergibt sich nun aus dieser interdonation als Inter-Explikation für den Platz des Subjekts? Proust schreibt nicht nur den Figuren des Romans einen Platz in der Zeit zu, sondern entfaltet mit dem Erzählen auch die narrative Identität seines Erzählers, die gerade nicht auf eine Identifizierung festzulegen ist. Die Figur des Erzählers bleibt am Rand des Geschehens, sie bleibt zum Teil sehr vage, vielleicht deshalb, weil, so Deleuze, in dieser Erzählung »jede ›Explikation‹ eines Gegenstandes die Auferstehung eines Ich« bildet 41, die Identität also aus den empfangenen Zeichen und ihrer Explikation immer wieder neu hervorgeht. Dennoch lässt sich aus der Reihe dieses Empfangens und Explizierens eine Geschichte des Empfangens 41

G. Deleuze, Proust und die Zeichen, 96 f.

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und der Antworten erzählen, die den Empfänger individualisiert und ihn unverwechselbar und an seinem Platz unaustauschbar macht. Eingeordnet wird das Selbst damit in eine Geschichtlichkeit der Überlieferung, die die reine Präsenz des Erscheinens und Empfangens von Phänomenen von vornherein auf eine zeitliche Tiefendimension öffnet. Vorauszusetzen ist wiederum, dass die Empfänger von Phänomenalität diese auch bezeugen, benennen und so das darin angelegte Wechselspiel von Implikation und Explikation Anderen zu erkennen geben – über den Moment hinaus und offen in die Zukunft hinein. Dafür ist wiederum die Bereitschaft vorauszusetzen, etwas anzunehmen, die Motivation zum Erkennen und das Begehren, zu erkennen zu geben. Anderen etwas zu erkennen zu geben kann, wie es in Deleuze’ Rekurs auf Sokrates und Proust deutlich wird, auch dadurch gelingen, sie immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise auf die Zeichen oder Phänomene hinzuweisen, die ihnen zu denken geben sollen, und sie so zur Entfaltung ihrer eigenen Antworthaftigkeit anzuleiten. Im Entwurf der interdonation scheint mir wie anfänglich dargestellt die Referenz darauf ausbaufähig, dass ein wesentlicher Teil der Phänomene, die uns begegnen, uns affizieren und dabei auch individualisieren, Personen sind. Bei einem ebenso wesentlichen Teil handelt es sich wiederum um Phänomene, die auf verschiedenste Art und Weise auf andere Personen verweisen, von diesen hergestellt, gedacht und vermittelt werden. Dies geschieht u. a. in dem von Marion so deutlich privilegierten Beispiel des Kunstwerks aber auch in der Philosophie, im Vollzug und der Weitergabe eines Denkens, in dem sich die Person des Denkenden wie das Ich in »Das Erotische. Ein Phänomen« mehr oder weniger direkt selbst mit zu erkennen gibt. 42 Das Subjekt nach dem Subjekt ist eingebunden in eine interdonation durch seine Empfänglichkeit für die Phänomenalität, die es mit jeder anderen Person teilt, sowie auch durch die Fähigkeit und Freiheit, zu geben, weiterzugeben und zu erkennen zu geben, was sich ihm gibt. Das Empfangen und Weitergeben erfolgt aus seiner ganz individuellen Position und Perspektive, die durch das geprägt ist, was ihm, wie in den priviMarion verweist im Vorwort der Meditationen über das Erotische ausdrücklich darauf, dass er hier aus einer individuellen Ich-Perspektive spricht, wenn auch zugleich im Namen des Lesers, weil zu dieser Thematik kein objektiver neutraler Zugang möglich sei. Vgl. J.-L. Marion, Das Erotische, 22 f.

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Interexplikationen – Entfaltungen einer Phänomenologie der interdonation

legierten Beispielen des Namens und der Sprache, durch andere Personen in einer ganz bestimmten sozio-kulturellen und historischen Situation mit auf den Weg gegeben wird sowie auch durch den Platz, den ihm diese in den Ordnungen der Anerkennung und Liebe geben. Seine persönliche Art des Empfangens und Zu-erkennen-Gebens ist auch durch die Begegnung mit den anderen Passanten geprägt, die gemeinsam am cartesischen Fenster vorbeigehen. Die Aufgabe des klassischen Subjektverständnisses, das seinen Fensterplatz aufgibt, lässt sich als gemeinsame Aufgabe zur Bezeugung und Explikation der Welt, zum Empfangen, Entfalten und Weitergeben von Phänomenalität im Austausch mit anderen begreifen – als Aufgabe, die Phänomenologie der donation im Prozess einer interdonation als Inter-Explikation zu vollziehen.

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Welt und Gegebenheit. Eine Revision des vierten Prinzips der Phänomenologie Émilie Tardivel

»Die Welt ist originär gegeben, aber nicht alles in ihr auf gleiche Weise.« Jan Patočka, Ms. 3G/17.

Das seit kurzem bemerkbare Wiederaufleben der Debatten um die Formel, mit der Jean-Luc Marion in Réduction et donation seinen phänomenologischen Fortschritt zusammenfasst, muss einen Leser Patočkas ansprechen. Die Formel, die von Henry zum »vierten Prinzip der Phänomenologie« 1 erhoben wurde, lautet: »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit« 2. Marion bekräftigt damit, in konsequenter Nachfolge Husserls, die Reduktion als die phänomenologische Methode oder besser als »Gegen-Methode«. 3 In Étant donné schreibt er: »Die phänomenologische Methode beschränkt sich selbst da, wo sie die Phänomene konstituiert, darauf, sie sich manifestieren zu lassen.« 4 Sie re-konstituiert sie nicht gemäß einer Ordnung oder eines Maßes, sie bringt sie nicht hervor. Im Gegensatz zur klassischen wissenschaftlichen Methode ergreift die phänomenologische Methode die Initiative nur, um sie sogleich wieder zu verlieren zugunsten der Phänomene selbst, ihrer Selbst-Manifestation, und noch mehr ihrer Selbst-Gegebenheit. Denn die Reduktion besteht darin, das zu legitimieren, was sich in der Manifestation absolut gibt, d. h. sich in absolut sicherer Weise gibt, und ist also die Rechtsquelle der Erkenntnis. Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit, genauer Selbst-Gegebenheit der Phänomene. Die gebende Anschauung des »Prinzips der Prinzipien«, das von Husserl im § 24 der Ideen I entwickelt worden und von Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, De la phénoménologie I, Paris: PUF 2003, 77. 2 Jean-Luc Marion, Réduction et donation, Paris: PUF 1989 (1. Aufl.), 2004 (2. überarbeitete Auflage), 303. 3 Jean-Luc Marion, Étant donné, Paris PUF 1997 (1. Auflage.), 1998 (2. überarbeitete Auflage), 17 (dt. Übers., Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München: Alber 2015, 32: »Antimethode«). 4 Ebd., 16 (vgl. dt. Übers., 30). 1

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Henry unter der Bezeichnung »zweites Prinzip der Phänomenologie« 5 aufgegriffen worden ist, muss paradoxerweise als eine schützende Intuition verstanden werden, als Blick, der im Sinn des lateinischen »intuitus« sich um das sorgt, was er beobachtet, und also darüber wacht, dass nichts die Manifestation der Phänomene durch sie selbst hindert. Einige, wie Claude Romano, haben dieses Paradox, das in Étant donné vollständig anerkannt ist, nichtsdestotrotz verdächtigt, einen unlösbaren Widerspruch zu verbergen: »Wie könnte das Subjekt durch eine einfache Änderung des Blicks, die Phänomene dazu bringen, gemäß ihrer eigenen Initiative zu erscheinen?« Und er schließt daraus: »Eins von beiden: Entweder handelt es sich hier gar nicht um ein Ereignis (oder um ein gesättigtes Phänomen), oder man muss die Idee fallen lassen, dass seine Ereignishaftigkeit vom subjektiven Verfahren der Reduktion abhängt«. 6 Man muss sich folglich zwischen der Reduktion und der Gegebenheit entscheiden. Da die Reduktion ein subjektives Verfahren ist – nicht nur, weil sie bei Husserl zum Subjekt zurückführt, sondern auch und vor allem, weil sie immer durch das Subjekt ausgeführt wird –, könnte man sich nämlich fragen, wie die Gegebenheit zugleich durch sich selbst und durch die Reduktion zustande kommt. Im Hinblick auf das Phänomen läuft das auf die Frage hinaus, wie es sich zugleich durch sich selbst und durch das Subjekt, also durch etwas von ihm selbst verschiedenem, geben kann. Das scheint doch, wenn man dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten folgt, unmöglich zu sein. Die Entscheidung Romanos für das Ereignis, und damit für die Gegebenheit, bringt ihn so dazu, die Reduktion zurückzuweisen und die Hermeneutik »zur einzig möglichen Methode für die Phänomenologie« 7 zu erklären. Es kommt Claudia Serban zu, die Debatte wieder in Gang gebracht zu haben mit einem kürzlich erschienenen Artikel über die phänomenologische Methode, der den genauen Titel trägt »Die phänomenologische Methode, zwischen Reduktion und Hermeneutik« 8. Obwohl der Artikel zu dem Schluss kommt, dass es unmöglich ist, der Phänomenologie eine einzige Methode zuzuweisen, überprüft Serban Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 77. Claude Romano, »Remarques sur la méthode phénoménologique dans Étant donné«, Annales de Philosophie, 21(2000), 11. 7 Claude Romano, »Phénoménologie, herméneutique, scepticisme«, Studia Phaenomenologica 1–2(2002), 249. 8 Claudia Serban, »La méthode phénoménologique, entre réduction et herméneutique«, Études philosophiques, 1(2012), 81–100. 5 6

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in durchaus kritischer Absicht das vierte Prinzip der Phänomenologie, indem sie den Einwand Romanos aufgreift: »Erfordert also die Annahme einer Gegen-Methode, die der Selbst-Gegebenheit der Phänomene gerecht wird, nicht vor allem eine Kritik der Reduktion und der Konstitution?« 9 Aber was muss man sich unter dieser Kritik der Reduktion vorstellen? Impliziert sie den Verzicht der Reduktion, wie es Romano und vor ihm bereits Merleau-Ponty – aber auch die »merleau-pontianische Familie« 10 – verlangen oder doch zumindest praktisch umsetzen? Oder erfordert sie im Gegenteil eine Wiederaufnahme des Problems der Reduktion im Hinblick auf eine Freilegung von deren legitimem Kernstück, wie Rolf Kühns rätselhafter Ausdruck der »Gegen-Reduktion« 11 andeuten könnte? Serbans Artikel antwortet auf diese Problematik nur negativ, indem mit Sachkenntnis die alternativen französischen Phänomenologien vorgestellt werden, um dann auf die thematische, aber vor allem auch methodische Pluralität der Phänomenologie zu schließen. Ein solcher Schluss hat nichtsdestotrotz einen positiven Aspekt, denn er akzeptiert die Vorstellung, dass eine Phänomenologie ohne Reduktion möglich ist, wohingegen Marion in Étant donné ausdrücklich behauptet: »Doch kein Verfahren ohne Reduktion verdient das Prädikat ›phänomenologisch‹« 12. Die Debatte ist also sicherlich wieder in Gang gekommen, aber sie verläuft immer noch in denselben Bahnen, sodass sich keine Lösung am Horizont abzuzeichnen scheint. Könnte man jedoch nicht versuchen, eine positivere Antwort zu finden, indem man den noch unerforschten Weg einer Wiederaufnahme des Problems der Reduktion im Hinblick auf eine Freilegung von deren legitimem Kernstück beschreitet? Wie eingangs schon angedeutet, wird diese Problematik einen Leser Patočkas ansprechen, sofern er sich nur an die Formulierung erinnert, die die kritische Position des Ebd., 83. Zu dieser Bezeichnung siehe vor allem Carla Canullo, La fenomenologia rovesciata. Percorsi tentati in Jean-Luc Marion, Michel Henry e Jean-Louis Chrétien, Turin: Rosenberg & Sellier 2004, 23 ff., 51, 80, 100, usw. Zitiert und kommentiert durch Claudia Serban, »La méthode phénoménologique, entre réduction et herméneutique«, 86–87. 11 Betreffs des vierten Prinzips der Phänomenologie schreiben Rolf Kühn und Michael Staudigl: »Die Reduktion als Gegen-Methode muss radikale Gegen-Reduktion werden.« (In: R. Kühn und M. Staudigl (Hrsg.), Épochè und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 23.). 12 Jean-Luc Marion, Étant donné, 23 (dt., 38). 9

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tschechischen Phänomenologen zusammenfasst: »Eine Phänomenologie ohne Reduktion ist also vielleicht möglich; aber keine Phänomenologie ohne Épochè« 13. Es wird darum gehen, mit dieser Formulierung einen dritten Begriff in die Debatte zwischen Reduktion und Hermeneutik einzuführen: die Épochè. Aber als ein dritter Begriff, der das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten aufsprengt, dürfte die Épochè doch nicht einfach als das Andere der Reduktion und der Hermeneutik erscheinen. Eine solche Lösung würde in dieselben Aporien führen. Man müsste die Épochè im Gegenteil verstehen als, wie Patočka schreibt, »Kernstück der Reduktion« 14 und als das von der Hermeneutik Vorausgesetzte. 15 Auf diese Weise würde die Épochè vielleicht erlauben, die scheinbar widersprüchlichen Positionen zu versöhnen. Patočka erklärt anlässlich seines Versuchs, die Positionen von Husserl und Heidegger zu versöhnen, dass diese Perspektive nicht das Ziel hat, in einem Eklektizismus zu enden, sondern zu einer kritischen Position führen soll. Das Gleiche wird für den Versuch einer Versöhnung der Positionen Marions und derjenigen Phänomenologen gelten, die die Reduktion zugunsten der Hermeneutik oder einer einseitigen Erforschung dessen, was sie für unreduzierbar halten (die Welt, Gott usw.), aufgeben. Aber kritische Position bedeutet hier nicht Übernahme einer anderen Position. Es bedeutet Erklärung der eigentümlichen Potenzialitäten einer Position, die wir als Erbvorbezug erhalten haben. Es geht also nicht etwa darum, ein fünftes Prinzip der Phänomenologie aufstellen zu wollen. Es geht einfach um den Versuch einer Revision des vierten Prinzips der Phänomenologie, aufgrund der gegen es vorgebrachten Kritik – und zwar einer Revision im Licht der Unterscheidung zwischen Épochè und Reduktion, die wir Patočka verdanken. Es könnte nämlich sein, dass die

Jan Patočka, »Epoché und Reduktion«, Die Bewegung der menschlichen Existenz, Stuttgart: Klett-Cotta 1991, 423. 14 Jan Patočka, »Was ist Phänomenologie?«, in: ders., Die Bewegung der menschlichen Existenz, 444. 15 Patočka erklärt nämlich: »Die Epoché, radikal gefasst, öffnet den Weg zum Sein des Seienden jeder Seinsweise. Aber was zur ›Reinigung der Subjektivität‹ benötigt wird, ist nicht nur Epoché, sondern die Einsicht in einen geschichtlichen Zusammenhang der Seinsauffassungen«. Siehe ebd., 438. Siehe auch ebd., 438–439. Die Epoché ist der Hermeneutik keineswegs entgegengesetzt, sie ist im Gegenteil – so behauptet zumindest Patočka – die phänomenologische Voraussetzung jeder historischen Hermeneutik. 13

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»dritte Reduktion« 16, die die Phänomene auf den »reinen Anruf« 17 reduziert, und sie so mit »der weitesten Gegebenheit, vor und außerhalb der Gegenständlichkeit und der Seinsfrage« 18 sich manifestieren lässt, in Wahrheit nichts anderes ist, als die »Universalität der Épochè« 19. Die dritte Reduktion radikalisiert nicht die Reduktion, sondern die Epoché, weil sie weder auf das Bewusstsein, noch auf das Sein, noch auf sonst eine regionale Instanz reduziert. Der Anruf ist keine zusätzliche regionale Instanz, die weiter als das Bewusstsein oder tiefer als das Sein wäre. Der Anruf »ist« nicht einmal, sondern er beschreibt die Wirkung der Phänomene auf das, dem sie sich geben, und das nicht mehr angemessen ego genannt werden kann, nicht einmal Dasein, sondern »Angesprochener« 20 oder auch »Hingegebener« 21. Die Reduktion auf den Anruf liefert so das Paradox einer Reduktion, die nicht reduziert, ja sogar zeigt, dass letztlich keine Reduktion reduziert, sondern erweitert und gibt. Ungeachtet seiner ungerechtfertigten Kritik am Formalismus des Anrufs hat Henry genau gesehen, dass das große Verdienst des vierten Prinzips darin besteht, »der Reduktion ihre positive Bedeutung zurückzugeben« 22. Man könnte sich also fragen, warum Marion den Begriff »Reduktion« beibehält, trotz des Streits, den dieser erregt. Wenn die Bedeutung der Reduktion vor allem darin besteht, dass »sie ›absurde Theorien‹, falsche Realitäten der natürlichen Einstellung, die objektive Welt usw. aufhebt« 23, zeigt das nicht, dass sie in Wahrheit der Epoché gleichkommt? Würde das vierte Prinzip nicht gewinnen, wenn es revidiert würde in »Wie viel Epoché, so viel Gegebenheit«? Unter welchen Bedingungen wäre eine solche Modifikation im Rahmen einer Phänomenologie der Gegebenheit akzeptabel und würde erlauben, eine Methodengemeinschaft mit anderen Ansätzen – nicht zuletzt der Hermeneutik – ins Auge zu fassen? 24 Nach einer kritischen DarJean-Luc Marion, Réduction et donation, 305. Ebd., 296. 18 Ebd., 305. 19 Jan Patočka, »Epoché und Reduktion«, 258. 20 Jean-Luc Marion, Réduction et donation, 300. 21 Jean-Luc Marion, Étant donné, 366 (vgl. dt. Übers, 438: »Hingegebener«). 22 Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 88. 23 Jean-Luc Marion, Étant donné, 16 (vgl. dt. Übers., 30). 24 Das Verhältnis zwischen der Phänomenologie der Gegebenheit und der Hermeneutik ist kürzlich von Marion selbst behandelt worden, und zwar im Rahmen eines Vortrags, der zuerst auf Einladung von Romano im Dezember 2011 am Centre d’herméneutique phénoménologique der Universität Paris-Sorbonne gehalten wurde. Dieser 16 17

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stellung zweier gewichtiger Einwände gegen die dritte Reduktion werde ich mich im Folgenden vor allem darum bemühen, die Relevanz und Fruchtbarkeit der Épochè für eine Phänomenologie der Gegebenheit aufzuzeigen.

1.

Die dritte Reduktion als Problem

1.1. Die Reduktion auf den reinen Anruf: nur formell? Ein erster gewichtiger Einwand gegen die dritte Reduktion ist der von Henry in seinem Artikel »Quatre principes de la phénoménologie« 25 vorgebrachte, dessen erste Fassung aus dem Jahr 1991 direkt auf die Veröffentlichung von Réduction et donation folgte. Obwohl Henry die Wichtigkeit bzw. sogar die Vorrangstellung der Regel »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit« anerkennt, denn immerhin macht er daraus eine »Voraussetzung, die verborgen, aber immer schon am Werk ist« 26, hält er ihr dennoch die gleiche Kritik entgegen, die er auch den anderen Regeln vorhält: »Trotz ihres Anspruchs an Radikalität, der in ihrem wörtlichen Ausdruck anklingt, bleiben sie von Grund auf unbestimmt.« 27 Die Unbestimmtheit, von der Henry hier spricht, ist umso schlimmer, als sie sich in jedem Fall auf das erstreckt, was er, wie übrigens auch Patočka, als die phänomenologische HauptFrage erachtet: das Erscheinen als solches. Das erste Prinzip »Soviel Schein, soviel Hindeutung aufs Seyn« 28 legt das Augenmerk nämlich Vortrag, der für die 2013 Père Marquette Lecture in Theology auf englisch übersetzt und unter dem Titel Givenness and Hermeneutics als zweisprachige Version veröffentlicht wurde, antwortet auf den Einwand einer angeblichen Inkompatibilität zwischen der Phänomenologie der Gegebenheit und der Hermeneutik. Marion behauptet das genaue Gegenteil wie die aus einer verfehlten Deutung der Gegebenheit entstandene Kritik und zieht folgendes Fazit: »Die Phänomenologie der Gegebenheit geht also den Abstand zwischen dem, was sich gibt, und dem, was sich zeigt, ein Abstand, in dem das Sich des Phänomens bestimmt wird, so an, eine genuin phänomenologische Hermeneutik auszuüben.« (Übersetzung hier und bei allen folgenden Zitaten aus diesem Text von Sebastian Knöpker) Givenness and Hermeneutics, Milwaukee: Marquette University Press 2013, 62. Es handelt sich sicherlich um einen entscheidenden Text, auf den wir zurückkommen werden, jedoch lässt er den sich auf die Methode beziehenden Einwand, der uns hier vorrangig interessiert, außer Acht. 25 Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 77–104. 26 Ebd., 78. 27 Ebd. 28 Ebd., 77. Zu dieser von Husserl und Heidegger geteilten These, die ursprünglich

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lediglich auf die notwendige Korrelation zwischen dem Erscheinen und dem Sein, ohne etwas über den Inhalt des Erscheinens selbst auszusagen, außer dass es die Zugangsweise zum Sein bildet. Das Gleiche gilt für das dritte Prinzip »Zu den Sachen selbst!« 29. Wenn es dem ersten nicht widersprechen soll, so bekräftigt es es nur, indem es implizit das Erscheinen in dem Wort »zu« ausdrückt, also der Zugangsweise zu den Sachen selbst. Was das zweite Prinzip betrifft, das »jede originär gebende Anschauung als Rechtsquelle der Erkenntnis« einsetzt 30, so begrenzt es, selbst wenn es dem Erscheinen einen Inhalt gibt – die Anschauung – das Erscheinen doch dermaßen, dass es es vom Sein trennt. Das zweite Prinzip gibt dem Erscheinen einen Inhalt, aber einen paradoxerweise abstrakten Inhalt, und also einen unbestimmten. Bleibt noch das vierte Prinzip »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit«, das perfekt erfüllt ist in der dritten Reduktion, d. h. in der Reduktion auf den reinen Anruf. Das vierte Prinzip gibt dem Erscheinen also ebenfalls einen Inhalt, indem es das Erscheinen mit der »reinen Form des Anrufs« 31 identifiziert. Das Problem besteht jetzt darin herauszufinden, ob das vierte Prinzip – so wie das zweite – dem Erscheinen lediglich einen abstrakten und daher unbestimmten Inhalt geben kann. Für Henry ist die Antwort klar: »Diese reine Form des Anrufs erinnert an den unausgearbeiteten univoken Begriff aus den Anfängen der Phänomenologie« 32. Henry kritisiert also den Formalismus der Reduktion auf den reinen Anruf, aufgrund der Gleichsetzung des Erscheinens mit einer reinen Form. Aber ist es so sicher, dass die reine Form des Anrufs so formal ist, wie es ihre Bezeichnung vermuten lässt? Die Reduktion auf den reinen Anruf ist eine Reduktion, die im Erscheinen die Wirkung legitimiert, die die Phänomene auf das, dem sie sich geben, hervorrufen: eine Wirvon J.-F. Herbart (1776–1841) eingeführt worden ist, siehe auch die Analyse von Marion in Étant donné, 19–20, v. a. die Fußnote 1 auf 19 (vgl. dt. Übers, 33 f., Fußn. 2). 29 Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 77; vgl. auch Jean-Luc Marion, Étant donné, 20 (dt., S. 34). 30 Ebd., 77. Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch (Husserliana III/1), § 24, 43. Im Hinblick auf das zweite Prinzip spricht J.-L. Marion im Gegensatz zu Henry zwar nicht von einem »Mord« (siehe ebd., 87), aber er erwähnt durchaus einen »Verrat an der Phänomenalität« in dem Sinn, dass die Intuition die Phänomenalität herabstuft auf den Rang eines Gegenstands des intentionalen Anvisierens, aber ohne ihr jede Manifestation zu verbieten. Siehe Étant donné, 20–23 (dt., 34 ff.). 31 Jean-Luc Marion, Réduction et donation, 296. 32 Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 104.

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kung, deren Ursache zuerst unbestimmt ist, eine Wirkung der Überraschung, die die erste der Leidenschaften erregt, die Descartes »Bewunderung« 33 nennt. Die reine Form des Anrufs ist nicht formal, sondern phänomenal unbestimmt, weil sie, wie es Marion ausdrückt, »die Unklarheit, die Unentschiedenheit bzw. die Verworrenheit der ansprechenden Instanz« 34 bedeutet. Des Weiteren unterscheidet sich die Unbestimmtheit des Anrufs nicht von der Leidenschaft, die er hervorruft, der Bewunderung. Die Kritik Henrys lässt sich Stück für Stück umkehren: Weit davon entfernt, das Erscheinen von allem konkreten Inhalt zu entleeren, gibt die reine Form des Anrufs dem Erscheinen »phänomenologisch eindrückliche Materie« 35. Die Reduktion auf den reinen Anruf ist also keineswegs eine formalistische Reduktion des Erscheinens, sondern eine Öffnung auf seine eindrückliche Materialität.

1.2. Eine Reduktion des Ich: widersprüchlich? Ein zweiter gewichtiger Einwand gegen die dritte Reduktion ist der von Romano vorgebrachte, in seinem Artikel »Remarques sur la méthode phénoménologique dans Étant donné«, erschienen im Jahr 2000. Er folgt also auf die Systematisierung der dritten Reduktion im Hauptwerk von 1997. Die Kritik Romanos besteht darin, den Subjektivismus eines Verfahrens aufzuzeigen, das im Gegensatz zum phänomenologischen Fortschritt von Étant donné steht – nämlich der Entdeckung der Selbst-Gegebenheit der Phänomene. Das Problem besteht darin zu verstehen, wie sich eine Methode, die radikal subjektiv ist, und ein Thema, das radikal a-subjektiv ist, in Einklang bringen lassen. Die Kritik erstreckt sich hier also nicht mehr auf den Formalismus der Reduktion auf den reinen Anruf, sondern auf dessen Subjektivismus, vor allem auf den Widerspruch zwischen einem solchen Subjektivismus und dem, was er zu zeigen versucht. Der Widerspruch steckt in der Vorstellung, dass die Reduktion auf den reinen Jean-Luc Marion, Réduction et donation, 290–291. Siehe auch Étant donné, 371 (vgl. dt. Übers, 444). Hier sind auch die Grenzen dieser Analogie herausgestellt, denn die Bewunderung bei Descartes geschieht nur einem bereits konstituierten ego, während sie in einer Phänomenologie der Gegebenheit das ego konstituiert, indem sie ihm geschieht. Zu Descartes siehe Passions de l’âme, § 53, AT XI, 373. 34 Ebd., 302. 35 Michel Henry, »Quatre principes de la phénoménologie«, 87–88. 33

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Anruf auch eine Reduktion des Ich ist, d. h. eine Reduktion des transzendentalen Subjekts, das nichtsdestoweniger der Ausführende der Reduktion bleibt, und daher deren Bedingung der Möglichkeit ist. Die dritte Reduktion ist paradoxerweise eine Selbst-Reduktion. Im bisher Gesagten wurde daran erinnert, dass die Reduktion auf den reinen Anruf das Ich auf eine Leidenschaft reduziert, – die Bewunderung –, von der ausgehend es sich als Ich ereignet. Die dritte Reduktion hebt also die ursprüngliche Passivität des Ich hervor. Sie entkleidet es seines »transzendenzialistischen Purpurs« 36, um eine Formulierung aus De surcroît aufzugreifen. Die Reduktion auf den reinen Anruf zeigt, dass das Ich ursprünglich passiv ist. Aber wie lässt sich dann verstehen, dass das Ich sich entscheidet, sich selbst zu reduzieren, in seine Passivität, seine ursprüngliche A-subjektivität zurückzukehren? In dieser Frage scheint der eigentliche Knackpunkt der Kritik Romanos zu liegen: »Wie könnte das Subjekt durch eine einfache Änderung des Blicks, die Phänomene dazu bringen, gemäß ihrer eigenen Initiative zu erscheinen?« 37 Auf eine solche Formulierung des Problems ließe sich nämlich antworten: Das Subjekt bringt die Phänomene dazu, gemäß deren eigener Initiative zu erscheinen, indem es sich selbst auf seine ursprüngliche A-subjektivität reduziert. Aber die Frage wäre damit nur verschoben: Wie könnte das Subjekt sich entscheiden, sich selbst auszulöschen angesichts der Phänomene? Was würde im transzendentalen Subjekt zur Selbst-Auslöschung des transzendentalen Subjekts motivieren? Dieses Problem verlangt zwei Bemerkungen: (a) Die erste ist, dass die dritte Reduktion nicht die Phänomene, sondern das transzendentale Subjekt reduziert, wohingegen die Reduktion ein Verfahren ist, das sich auf die Phänomene erstreckt 38, sodass es unzulässig erscheint, oder zumindest unnötig polemisch, den Begriff der »Reduktion« beizubehalten; (b) Die zweite Bemerkung ist, dass die Reduktion des transzendentalen SubJean-Luc Marion, De surcroît, Paris: PUF 2001, 54. Claude Romano, »Remarques sur la méthode phénoménologique dans Étant donné«, 11. 38 Marion anerkennt das selbst, wenn er Husserls Die Idee der Phänomenologie (Husserliana II), Den Haag: Nijhoff 1958) hinzuzieht, um die Regel »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit« zu etablieren. Siehe Jean-Luc Marion, Étant donné, 24–25, besonders die Schlussfolgerung auf S. 25: »Ein Phänomen wird nur in dem Maß zu einem absolut Gegebenen, in dem es reduziert wurde, aber die Reduktion vollzieht sich umgekehrt nur phänomenologisch – nämlich um das Phänomen absolut zu geben, also erscheinen zu lassen.« (Vgl. dt. Übers., 40). 36 37

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jekts absolut keine subjektive Motivation hat, wohingegen die Reduktion ein Verfahren ist, das seinen Ursprung im Subjekt 39 hat, sodass es auch in dieser Hinsicht kontraproduktiv erscheint, den Begriff der »Reduktion« beizubehalten. Die Reduktion des Subjekts hat ihren Ursprung nicht im Subjekt, sondern in einer Leidenschaft, die sich, wie die Bewunderung, dem Subjekt ereignet: eine solche Leidenschaft, die den Status einer Stimmung hat, wie sie von Heidegger analysiert worden ist, heißt »Angst« oder noch tiefgründiger »Langeweile« 40. Aber im Gegensatz zur Bewunderung setzt die Langeweile das Subjekt nicht ein, sondern setzt es vielmehr ab, führt es zu seiner ursprünglichen Passivität. Die Reduktion des Ich ist also keineswegs formell, aber sie bleibt terminologisch widersprüchlich, weil sie sich auf das Subjekt erstreckt und von einer Leidenschaft abhängt – nicht von einem Willensentschluss.

2.

Die Gegebenheit: eine Épochè ohne Reduktion

2.1. Die Gegebenheit und die Frage der Welt Noch ein weiterer, etwas neuerer Hinweis, der von Marion selbst stammt, regt zur terminologischen Revision der dritten Reduktion an. Es geht um einen Artikel, der 2013 in einer von mir koordinierten Ausgabe der Zeitschrift Philosophie erschienen ist, die dem Thema Patočka und die Frage der Welt gewidmet ist. Der Text, der im Anschluss an eine ein Jahr vorher am Institut Catholique de Paris abgehaltene Debatte veröffentlicht ist, trägt den Titel »La donation, disRomano erinnert daran ausdrücklich, wenn er schreibt, dass »die Reduktion – und genau darin ist sie eine transzendentale Methode – nur eine Veränderung des erzeugenden Blicks, eine Veränderung des Erscheinens ist, weil sie im Innern des Subjekts vor sich geht.« Siehe Claude Romano, »Remarques sur la méthode phénoménologique dans Étant donné«, 12. Man kann sich auch auf Husserl selbst beziehen, der behauptet, dass in der Reduktion »das Subjekt […], indem es sich zum philosophischen Subjekt bestimmt, einen auf sein gesamtes zukünftiges Erkenntnisleben gerichteten Willensentschluss« fasse. Siehe Edmund Husserl, Erste Philosophie. (1923/4). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana VIII), Den Haag: Nijhoff 1956, 6–7. 40 Siehe Marions Aufgreifen der Heideggerschen Analyse der Angst aus der Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« (1929), und deren Radikalisierung in der als »Gegen-Existenzial« gedeuteten Langeweile, in Réduction et donation, Kap. II § 7 resp. Kap. VI § 5. 39

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pense du monde« 41. Ungeachtet der Doppeldeutigkeit des Titels, besteht das Ziel des Texts nicht darin, den häufig gegen die Phänomenologie der Gegebenheit vorgebrachten Vorwurf ihrer angeblichen »Weltvergessenheit« 42 zu erhärten. Im Gegenteil, die Welt erlangt hier einen privilegierten Status, weil sie nicht nur der Ort, sondern auch die Instanz der Gegebenheit wird: »Die Welt spendet das Gegebene« 43. Das ist ein bemerkenswertes Fazit, das ohne Zweifel eine Wende im Vergleich zu Réduction et donation anerkennt, aber darum doch nicht weniger die eigentümlichen Potenzialitäten einer Phänomenologie der Gegebenheit vertieft. Zunächst eine Wende. Indem die Welt das Gegebene spendet, wird sie zur ansprechenden Instanz: »Die Welt ruft den Hingegebenen« 44. Aber wie war es möglich, den Schleier von der ansprechenden Instanz zu nehmen, und den reinen Anruf zum Anruf der Welt zu verwandeln? Die Möglichkeit einer solchen Entschleierung war in Réduction et donation sicherlich nicht verbaut worden: »Es bleibt noch zu bestimmen, was, vor oder ohne das Sein, den Anruf aussendet« 45. Man hätte aber zugleich auch bezweifeln können, dass eine solche Bestimmung auf die Welt hinauslaufen würde, insofern der Nachweis der Langeweile als »Gegen-Existenzial« das Ziel hatte zu zeigen, dass der Anruf zutiefst von der Welt als »Seiendes im Ganzen« 46 abwenden kann. Widerspricht die Gleichsetzung des reinen Anrufs mit dem Anruf der Welt nicht dieser gegenexistenzialen Analyse der Langeweile, und löst so die Kritik, die Marion an Heidegger richtet, auf? Dem ist nicht so. Die Identifikation der Welt mit der ansprechenden Instanz modifiziert sicherlich diese Analyse, aber sie widerspricht ihr nicht, weil die Modifikation sich vor allem auf die Bedeutung der Welt erstreckt. Wenn der Anruf Jean-Luc Marion, »La donation, dispense du monde«, Philosophie 118(2013), 78– 90. 42 Claudia Serban knüpft z. B. daran an, indem sie sagt, dass »der Bezug zur Welt im Werk J.-L. Marions eher nicht vorkommt: Die Reduktion des Phänomens auf die Gegebenheit ist nicht Gegebenheit in einer Welt, die Selbstgegebenheit des Phänomens ist nicht Gegebenheit in einer Welt.« Siehe »La méthode phénoménologique, entre réduction et herméneutique«, 87. Siehe auch Shaun Mackinlay, »Phenomenality in the Middle. Marion, Romano and the Hermeneutics of the Event«, in: I. Leask, E. Cassidy (eds.), Givenness and God. Questions of Jean-Luc Marion, New York: Fordham University Press 2005, 167–181 und 179. 43 Jean-Luc Marion, »La donation, dispense du monde«, 90. 44 Ebd., 90. 45 Jean-Luc Marion, Réduction et donation, 297. 46 Ebd., 283 f. 41

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nicht mehr von der Welt abwenden kann, sondern notwendig ihr aussetzt, dann deswegen, weil die Welt nicht mit dem »Seienden im Ganzen« identifiziert werden kann. Wenn die Langeweile vom Seienden im Ganzen abwendet, so wendet sie doch nicht von der Welt ab. Sie eröffnet vielmehr den Zugang zu einer ursprünglicheren Bedeutung der Welt: nicht mehr als Seiendes, sondern als Gegebenes. Der entscheidende Beitrag Patočkas für die Phänomenologie der Gegebenheit besteht darin, dass er sie sich von einer existenzialen Sicht der Welt verabschieden lässt, zugunsten einer radikaler ereignishaften Sicht. Auch wenn man die Welt mit dem Gegebenen, genauer mit dem Gegebenen in Ganzheit, identifiziert, versteht man sie dennoch als das, was sich in Ganzheit gibt, vor jeder Entschlossenheit des Daseins. Deswegen besteht Patočka gegen eine immer noch »subjektive« Sicht der Öffnung der Welt in Sein und Zeit so sehr auf ihrer Selbst-Öffnung: »Nicht ich bin es, der die Welt von Möglichkeiten entwerfe; aber weil ich ein Möglichkeitswesen bin, in der Situation verankert, spricht die Weltmöglichkeit, das Weltmöglichkeitsfeld mich an« 47. Der Ereignischarakter der Welt kommt also nicht allein von der »Ersetzung der Wirklichkeit durch die Möglichkeit« 48 – wie sie schon von Heidegger durchgeführt wurde –, sondern in einer radikalen Deutung der Möglichkeit der Welt ausgehend von der Gegebenheit.

2.2. Wie viel Épochè, so viel Gegebenheit Trotz der gegen die Phänomenologie der Gegebenheit vorgebrachten Kritiken, was die Frage der Welt betrifft, hat diese Phänomenologie jetzt also ihre Fähigkeit bewiesen, selbst die radikalste Deutung der Welt, die die Phänomenologie heute zu bieten hat, zu integrieren: die ereignishafte Deutung. Es ist seitdem möglich zu behaupten, dass die Reduktion des Phänomens auf die Gegebenheit eine Rückkehr zur Welt ist, die es spendet. Die Selbst-Gegebenheit des Phänomens ist paradoxerweise Gegebenheit in und durch die Welt. Aber kann man hier noch von »Reduktion« sprechen? Erzwingt die Rückkehr zur Welt nicht vielmehr eine Kritik der Reduktion, nicht um diese aufzugeben, sondern um das Kernstück ihrer Legitimität aufzuspüren? Jan Patočka, »Tělo, možnosti, svět, pole zjevování«, Péče o duši, t. 3, Praha: Archivní soubor 1980, S. 2.16.11. 48 Jean-Luc Marion, »La donation, dispense du monde«, 84. 47

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Anerkennt J.-L. Marion das nicht selbst, wenn er ganz auf der Linie von Patočka behauptet: »Die Welt und die Welt als Ganzheit findet sich immer schon gegeben, denn alle Reduktionen heben immer nur besondere Thesen auf, d. h. die Voraussicht (enttäuscht oder nicht) der einzelnen Objekte, die die unbezweifelbare Ganzheit voraussetzen und sie so umso mehr manifestieren.« 49

Müsste man aber nicht in diesen Befund die dritte Reduktion miteinbeziehen, die immer nur eine besondere These der Welt aufhebt: die These der Welt als »Seiendes im Ganzen« oder nach einer späteren Formulierung als »gegeben Seiendes in Ganzheit« 50? Wenn die Phänomenologie der Gegebenheit beschließt, sich der Frage der Welt anzunehmen, wird sich dies nur um den Preis einer Revision ihrer Methode machen lassen. Die dritte Reduktion muss der Épochè Platz machen, die nunmehr ohne Reduktion vollzogen wird, weil sie allein fähig ist, die Selbst-Öffnung der Welt als »Gegebenes in Ganzheit« 51 zu manifestieren. Es ist Patočka zu verdanken, diese Épochè ohne Reduktion im Ausgang von Husserl selbst ans Licht gebracht zu haben. In einem vorbereitenden Manuskript des Artikels »Épochè und Reduktion« (1975) betont Patočka nämlich, dass es scheint, dass die Entdeckung der Épochè »in ihrer merkwürdigen Originalität« von Husserl erst »nach der Reduktion« gemacht worden ist. Er fügt hinzu: »Jedenfalls sind die Fünf Vorlesungen noch so abgefasst, dass zwischen Épochè und Reduktion noch kein klarer Unterschied gemacht wird« 52. Patočka findet diesen klaren Unterschied zwischen Épochè und Reduktion in erster Linie in den Ideen I, wobei Husserl die Épochè einer Einschränkung unterwirft, deren Ziel es ist, die Phänomenologie als Wissenschaft zu gründen 53. Die Reduktion scheint so unEbd., 83 (Hervorhebungen von ET). Jean-Luc Marion, Le visible et le révélé, Paris: Cerf 2005, 92. 51 Émilie Tardivel, »La liberté comme expérience du monde«, Philosophie 118(2013), 74. 52 Jan Patočka, »Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen als solchem«, in: Vom Erscheinen als solchem: Texte aus dem Nachlass, Freiburg/München: Alber 2000, 144. Das Fehlen der Unterscheidung zwischen Épochè und Reduktion in Die Idee der Phänomenologie könnte auch erklären, warum Marion den Ausdruck »Reduktion« beibehält. Von den Werken Husserls ist zu Beginn von Étant donné allein Die Idee der Phänomenologie zitiert, um das Prinzip »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit« zu begründen. Siehe Étant donné, 23 ff. (dt., 38 ff.). 53 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, § 32, 56. 49 50

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trennbar verbunden mit einer Einschränkung der Épochè auf die Welt als »Bewusstseinskorrelat« 54. Die merkwürdige Originalität der Épochè liegt aber im Gegenteil in der Aufhebung jeder These, inklusive der These eines Bewusstseins, das sich selbst setzt. Es geht hier nicht darum, diese These in Zweifel zu ziehen (sie ist übrigens unbezweifelbar). Es geht einfach darum, sie nicht mehr einzusetzen, um herauszufinden, ob sie nicht eine noch ursprünglichere These voraussetzt: »Nicht zum unendlichen Seienden führt die konsequent zu Ende geführte Épochè, sondern zum A priori, welches in keiner Weise als Seiend angesprochen werden kann« 55. Indem sie das Bewusstsein aufhebt, manifestiert die Épochè die unbezweifelbare Öffnung der Welt der Welt als nichtseiendes A priori, das nichtsdestoweniger gegeben ist. Der Zugang zur Welt als originär Gegebenes hängt also nicht von einer Ausweitung der Reduktion ab, sondern von einer Rückkehr zur Épochè als »Kernstück der Reduktion« 56. Patočka öffnet so den Weg zu einer Revision des vierten Prinzips hin zu: »Wie viel Épochè, so viel Gegebenheit«.

3.

Die Welt, der Hingegebene und die Manifestation

3.1. Die Verwandlung des Subjekts zum Hingegebenen Bevor man allerdings eine solche Revision des vierten Prinzips bejahen kann, muss man zunächst sehen, ob sie auf Romanos Einwand etwas erwidern kann. Bleibt nicht auch die Épochè, wie die Reduktion, ein durch und durch subjektives Verfahren, und folglich im Widerspruch zu dem, wozu sie Zugang verschaffen soll. In einem im Vergleich zu »Épochè und Reduktion« späteren Artikel mit dem Titel »Was ist Phänomenologie?« (1976) geht Patočka dieses Problem an: »Wie wäre aber ein solches Verhalten, eine derartige Freiheit möglich, wenn ihr nicht eine Erfahrung der grundsätzlichen Distanzmöglichkeit von jeder Aktivität, auch der urteilenden, zugrunde läge?« 57 Die Épochè als Akt der Freiheit wäre demnach ermöglicht von etwas anderem als der Freiheit selbst, soweit man darunter die Freiheit des 54 55 56 57

Ebd., § 47, 87. Jan Patočka, »Épochè und Reduktion«, 422. Jan Patočka, »Was ist Phänomenologie?«, 444. Ebd., 442.

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Subjekts versteht. Im Gegensatz zur Reduktion wäre die Épochè kein durch und durch subjektives Verfahren: Sie würde ermöglicht durch eine vorgängige Erfahrung, die asubjektiv ist – was das heißt, muss noch bestimmt werden – und, wie gezeigt, Anlass gibt zur Aufhebung des Subjekts, was die unbezweifelbare Öffnung der Welt als A priori manifestiert. Es stellt sich damit die Frage, was diese vorgängige und asubjektive Erfahrung ist, die die Épochè ermöglicht und zu ihr Anlass gibt. Patočkas Strategie im Artikel von 1976 ist, sich dabei auf Heidegger, genauer auf »Was ist Metaphysik?« zu stützen, um zu zeigen, dass die Épochè von der Angst und der Erfahrung des Nichts, die diese im Subjekt hervorruft, ermöglicht wird: »Die Möglichkeit einer Épochè und ihrer Schwebe ist in der Erfahrung der Nichtung angelegt« 58. Die Angst gibt, wenn sie sich dem Subjekt ereignet, Anlass zur Épochè, zur Aufhebung jeder These, die das Seiende betrifft, darunter auch das Bewusstsein. Die Methode der Épochè ist also im eigentlichen Sinn phänomenologisch, weil sie ihren Ursprung in einer Erfahrung, genauer in einem Ereignis hat: dem Ereignis des Nichts, das untrennbar von der Leidenschaft ist, durch die es sich gibt – der Angst. Die Angst gibt so nicht nur Zugang zum Nichts, zum Nicht-Seienden, sondern auch zu einem Subjekt ohne Bewusstsein, einem paradoxerweise asubjektiven Subjekt. Aber was muss man hier unter »Nicht-Seiendem« verstehen? Um hierauf eine Antwort zu finden, muss die Épochè einer »Hermeneutik des Nicht-Seienden« Platz machen: »Die Épochè warnt uns davor, Seiendes als das einzige mögliche Wissensthema zu betrachten, und sie sprengt das entsprechende Vorurteil. Aber um die im Sein selbst erfolgenden Verstellungen, Verdeckungen und Verschüttungen zu enthüllen, reicht sie nicht hin« 59. Ohne auf das im Vorigen schon Gezeigte zurückzukommen, sollen nun nur noch die Schlussfolgerungen daraus gezogen werden: Bei Patočka, wie auch im Rahmen einer Phänomenologie der Gegebenheit, läuft diese Hermeneutik des Nicht-Seienden auf seine ereignishafte Deutung hinaus, als Modus der Gegebenheit der Welt. Das Nicht-Seiende, der Überschuss, der sich in jedem gegebenen Seienden gibt, bezeichnet einen Modus der Gegebenheit der Welt: den Modus ihres Entzugs. Das Nicht-Seiende bedeutet also den Entzug des in Ganzheit Gegebenen, seine Nicht-Manifestation und zugleich seinen

58 59

Ebd. Ebd., 438.

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Anruf zur Manifestation, seinen »Anruf zur Klarheit« 60. Soweit die Épochè dem Subjekt Zugang zum Anruf des in Ganzheit Gegebenen verschafft, verwandelt sie das Subjekt vollständig in den Hingegebenen, dessen Aufgabe genau darin besteht, »die Gegebenheit zu vollenden, indem er sie in Manifestation verwandelt« 61.

3.2. Die Welt gibt, der Hingegebene manifestiert Die Épochè ist keine phänomenologische Methode, die im Widerspruch zur ereignishaften Hermeneutik Romanos zu stehen scheint, weil sie ein durch und durch asubjektives Verfahren ist. Aber die Épochè modifiziert diese Hermeneutik an der gleichen Stelle, wie die Phänomenologie der Gegebenheit: Sie eröffnet ihr den Zugang zu einer ursprünglicheren Bedeutung von Welt, in Bezug auf ihre Ereignishaftigkeit. Die Welt ist nicht nur das, was durch das Ereignis gegeben ist, sie bezeichnet auch und vor allem das Ereignis selbst, das gibt. Die ereignishafte Hermeneutik kann also nicht auskommen ohne ihre phänomenologische Voraussetzung: die Épochè 62. Denn es ist tatsächlich nicht falsch zu behaupten, dass »das Ereignis im ereignishaften Sinn nicht in der Welt ist, sondern eine Welt für den Ereignenden öffnet« 63. Aber diese Behauptung bleibt ungenau, solange sie ohne die Épochè aufgestellt wird. Man müsste eher sagen: Das Ereignis im ereignishaften Sinn ist nicht in der Welt, sondern ist die Welt, die sich öffnet für den Ereignenden. Die Welt öffnet sich, indem sie das Gegebene spendet, aber sie manifestiert es dennoch nicht. Es kommt dem Hingegebenen zu, oder auch dem Ereignenden, das von der Welt Gegebene auch zu manifestieren. Wir stoßen hier auf die höchst wichtige Unterscheidung zwischen Gegebenheit und Manifestation, die Marion in Étant donné 64 herausgearbeitet hat. Diese Unterscheidung ist entscheidend, weil sie die Falte der Gegebenheit ans Licht bringt gegen den »Mythos der reinen oder unmittelbaren GeJan Patočka, »Analýza vnitr\/ního vědomí času«, Úvod do Husserlovy fenomenologie, Filosofický časopis XIV/3(1966), 305. 61 Jean-Luc Marion, Étant donné, 364 (dt. Übers. modifiziert, 436). 62 Man müsste so, wie Marion, von einem »phänomenologische[n] Status der Hermeneutik (und eben nicht [von einem …] hermeneutische[n] Status der Phänomenologie)« sprechen. (Jean-Luc Marion, Givenness and Hermeneutics, 46). 63 Claude Romano, L’événement et le monde, Paris: PUF 1998, 56. 64 Siehe Jean-Luc Marion, Étant donné, 361 ff. (dt., 43 ff.). 60

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gebenheit« 65. Die Gegebenheit ist nie eine unmittelbare, eine vollendete Gegebenheit. Genauer, die Gegebenheit ist unmittelbar, aber Unmittelbarkeit bedeutet nicht Vollendetheit der Gegebenheit. Die Gegebenheit ist un-mittelbar in dem Sinn, dass sie keine Vermittlung durch den Hingegebenen benötigt, um sich zu geben. Aber sie bleibt un-vollendet, denn sie verlangt die Vermittlung des Hingegebenen, um sich zu manifestieren. Der Hingegebene ist derjenige, der die Manifestation durchführt: Er vollendet die Gegebenheit, die die Welt unmittelbar, ohne Vermittler, spendet. Ohne diese Unterscheidung zwischen Gegebenheit und Manifestation gäbe es keine Épochè, noch eine Hermeneutik. Sowohl die Épochè als auch die Hermeneutik sind die Durchführungen dessen, der die Manifestation durchführt, die Durchführungen des Hingegebenen. Die Hermeneutik muss folglich eine vor-hermeneutische Ebene zulassen, nicht nur in ihrer Methode, sondern auch in den »Sachen selbst« 66. Ohne Épochè hat der Hermeneut keinen Zugang zu dem, was sich in der Manifestation unmittelbar gibt – die Welt. Ohne unmittelbare Gegebenheit der Welt hat der Hermeneutiker nichts zu deuten. Aber man darf wohlgemerkt die unmittelbare Gegebenheit der Welt nicht mit einer vollendeten Gegebenheit verwechseln. Die unmittelbare Gegebenheit der Welt ist die schlichte Gewissheit ihrer Existenz, wie Merleau-Ponty erklärt:

Jean Greisch, »›L’herméneutique événementiale.‹ De la mondification à la temporalisation du temps«, in: Critique, Nr. 648(2001), 420. In Givenness and Hermeneutics zeigt J.-L. Marion einen internen Widerspruch der Kritik eines angeblichen Mythos der unmittelbaren Gegebenheit auf. Diese setzt voraus, dass das Gegebene zugleich die Unmittelbarkeit eines sense datum des subjektiven Eindrucks und die epistemologische Validität eines ersten Objekts hat. Dies ist sicherlich unmöglich, nicht nur aufgrund eines Konflikts des Status (sense datum und Objekt), sondern auch aufgrund einer Verkennung des Status des Gegebenen: Jedes Gegebene gibt sich nur vermittelt durch seine eigentümliche Bedeutung, im Gegensatz zum sense datum, und bleibt in Erwartung seiner epistemologischen Validierung, im Gegensatz zum Objekt. Darum hat das Gegebene weder unmittelbar (im Sinn des sense datum), noch mittelbar (im Sinn des Objekts) den Status eines »unbestimmten Ursprungs«. Das Gegebene hat einen »rätselhaften Charakter«, der sich in und durch die Reduktion – oder vielmehr die Épochè – manifestiert und eine Hermeneutik verlangt. (Givenness and Hermeneutics, 24–38). 66 Man wird Romano also darin zustimmen, dass es eine vor-hermeneutische Ebene in den »Sachen selbst« gibt, Aber wir werden diesen Gedanken, im Gegensatz zu ihm, auch auf die Methode ausweiten: »Die Hermeneutik muss die Existenz einer vorhermeneutischen Ebene zugeben, nicht in ihrer Methode, aber in den ›Sachen selbst‹« Siehe »L’horizon de la phénoménologie«, in: Annales de Philosophie 28(2007), 32. 65

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»Es gibt eine Welt« oder besser »Es gibt die Welt« 67. Was die vollendete Gegebenheit betrifft, die dieser Gewissheit der Existenz einen Inhalt gibt, so hängt sie von einer Deutung ab. Insofern sie unter der Épochè durchgeführt ist, ist diese Deutung nicht unvoreingenommen, denn sie vollzieht sich ausgehend von dem, was sich in der Manifestation auf unmittelbar gewisse Weise gibt. Aber sie ist notwendiger Weise teilhaft, weil sie immer nur einen besonderen Teil dessen, was sich gibt, manifestiert: »Gemäß der Entfaltung dieser Falte vollzieht sich die Umwandlung der Welt in ein Ereignis durch Intervention der Freiheit, die aus einem gewissen Kanton des Gegebenen eine Erscheinung eines Phänomens macht« 68. Die Gegebenheit steht also nicht im Widerspruch zur Geschichtlichkeit der Manifestation: Sie ist im Gegenteil deren Bedingung. * * * Am Ende dieser Untersuchung scheint es möglich zu sein, zu sagen, dass eine Revision des Prinzips, auf das die Phänomenologie der Gegebenheit sich stützt, sowohl sachgerecht als auch fruchtbar wäre. Es ginge darum, die Regel »Wie viel Reduktion, so viel Gegebenheit« zu ersetzen durch »Wie viel Épochè, so viel Gegebenheit«. Diese Revision weist wenigstens drei Vorzüge auf. (a) Der erste ist, dass sich der insbesondere von Romano angezeigte Widerspruch zwischen einer subjektiven Methode und einem asubjektiven Thema vermeiden lässt, ohne deshalb mit Husserl und Heidegger, was die Methode betrifft, brechen zu müssen. Im Gegensatz zur Reduktion erstreckt sich die Épochè nicht nur auf die Phänomene, sondern auch auf das transzendentale Subjekt, und so schon bei Husserl – zumindest lässt die Vorstellung einer notwendigen Einschränkung der Épochè im § 32 der Ideen I das vermuten. Ohne Zweifel liegt hier der Grund, warum der Rekurs Heideggers auf den Begriff »Reduktion« ein Hapax legomenon bleibt, wie Romano bemerkt: »Die Frage der Reduktion erscheint hier nicht mehr wie eine einfach methodologische Frage: sie fällt zusammen mit der Frage der Überwindung oder dem Verlassen der Subjektivität« 69. Man kann aber auch wie Patočka dafür halten, Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1992, XI. 68 Jean-Luc Marion, »La donation, dispense du monde«, 89. 69 Claude Romano, »Remarques sur la méthode phénoménologique dans Étant 67

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dass »eine Interpretation von ›Was ist Metaphysik?‹ möglich ist, welche als implizite Auseinandersetzung mit der Husserlschen Épochè als Kernstück der Reduktion, oder doch zumindest als eine solche Auseinandersetzung enthaltend charakterisiert werden kann« 70. Das Husserl und Heidegger gemeinsame methodologische Merkmal bestünde nicht in der Reduktion, sondern in der Épochè als »Schritt zurück vor dem Seienden« 71. Um die Subjektivität zu überwinden, wäre es folglich nicht nötig, die Reduktion aufzugeben, sondern auf das Kernstück ihrer Legitimität zurückzukommen: die Épochè. Ein solcher »Schritt zurück vor dem Seienden« führt nämlich ein paradoxerweise asubjektives Verfahren ein, weil er das Ich in radikaler Weise ausschaltet: Das Ich schaltet sich nicht selbst aus, es wird ausgeschaltet durch das Sich-Ereignen einer Leidenschaft (der Angst oder auch der Langeweile), die es vom Seienden abweist. Die Abweisung vom Seienden öffnet so das Ich für eine ursprünglichere Bedeutung der Welt: die Welt als Gegebenes und also als Ereignis. Die Öffnung des Ich zur Welt als Ereignis, die das Ich dem Anruf aussetzt, ruft das Sich-Ereignen einer neuen Leidenschaft hervor: der Bewunderung. Die Épochè lässt das Ich also von einer Leidenschaft zur anderen übergehen: Sie lässt es von der Angst oder auch der Langeweile, die es als transzendentales Subjekt absetzen, übergehen zur Bewunderung, die es einsetzt als Hingegebener. Im »Schritt zurück vor dem Seienden« wird das Ich nicht vernichtet, sondern zurückversetzt in seine ursprüngliche Passivität, in der es sich empfängt von dem, was es empfängt. (b) Der zweite Vorzug einer solchen Revision ist, wie gezeigt, dass die Frage der Welt, die bisher im Hintergrund der Phänomenologie der Gegebenheit verblieben war, berücksichtigt wird. Das bisherige Zurückstehen dieser Frage erklärt sich dadurch, dass die Welt nicht zuallererst ein Phänomen ist, das reduzierbar wie die anderen den Rang eines Gegeben-Seienden einnähme, sondern die donné«, S. 11. Dieser Hapax legomenon findet sich im § 5 der Grundprobleme der Phänomenologie: »Für uns bedeutet die phänomenologische Reduktion die Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins (Entwerfen auf die Weise seiner Unverborgenheit) dieses Seienden.« Siehe M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie. (Sommersemester 1927), Frankfurt/M.: Klostermann 1997 (GA 24), § 5, S. 29. Zur »extensiven« Auslegung dieser Stelle durch Marion siehe Réduction et donation, S. 101 ff. 70 Jan Patočka, »Was ist Phänomenologie?«, 444. 71 Ebd., 450.

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Welt und Gegebenheit

Gegebenheit selbst ist. Die Sättigung (als Überschuss, der sich in einigen bzw. allen Gegeben-Seienden gibt) muss sich selbst verstehen als Modus der Gegebenheit der Welt. (c) Der dritte Vorzug besteht, wie angedeutet wurde, darin, eine Methodengemeinschaft insbesondere mit der Hermeneutik zu schaffen. Die Gegebenheit der Welt verbietet die Geschichtlichkeit ihrer Manifestation nicht, sondern ermöglicht sie vielmehr. Die Gegebenheit der Welt hat einen »rätselhaften Charakter« 72, der sich in und durch die Épochè manifestiert und eine Hermeneutik verlangt. Übersetzt von Benedikt Schick

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V. Der Primat der Gegebenheit und die Frage des inter-religiösen und inter-konfessionellen Diskurses

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Gabe und Erlösung Zum Primat der Gegebenheit im Kontext religiöser Traditionen Indiens Marcus Schmücker

Kann eine Philosophie der Gabe wie sie Jean-Luc Marion in kritischer Auseinandersetzung mit Marcel Mauss entwickelt hat, auch für südasiatische Traditionen, speziell für die religiösen Traditionen des Hinduismus, bedeutsam sein? Für Marcel Mauss sind Geben, Nehmen und Erwidern Grundaktivitäten, durch die sich archaische Gesellschaften sozial wie religiös erhalten. Diese Grundaktivitäten realisieren gesellschaftliche Beziehungen und bilden einen Kreislauf: Kein Akt des Gebens ist einmalig oder bleibt folgenlos, weil er den Empfänger zur Gegengabe verpflichtet oder in ein Schuldverhältnis bringen kann.