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German Pages 144 Year 2015
Paul Tillich Der Mut zum Sein
Paul Tillich
Der Mut zum Sein Mit einem Vorwort von Christian Danz
2. Auflage
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-037432-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040726-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041120-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Titelbild: Masako Miyashita, International House, Tokio Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Paul Tillich veröffentlichte seine äußerst erfolgreiche und vielgelesene Schrift Der Mut zum Sein im Jahre 1952. Anlässlich seines 50. Todestages am 22. Oktober 2015 erscheint der Band nun in der Reihe de Gruyter Texte als mit einer Einleitung versehene Neuausgabe. Das schmale Bändchen geht auf Tillichs Dwight H. Terry Lectures an der Yale University vom Herbst 1950 zurück und fasst zentrale Gedanken und Aspekte seines theologischen Gesamtwerkes brennpunktartig zusammen. Die Neuausgabe von Der Mut zum Sein wäre ohne die vielfältigste Unterstützung nicht möglich gewesen. Herr Thomas Scheiwiller (Wien) hat dankenswerter Weise die Register für den Band erstellt. Danken möchte ich auch Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag de Gruyter, von dem die Initiative zur Neuausgabe der Schrift ausging, für die gute und konstruktive Zusammenarbeit. Wien, Oktober 2014
Christian Danz
Inhalt Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt I
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15 Sein und Mut Mut und Tapferkeit: Von Plato zu Thomas von Aquino 19 Mut und Weisheit: Die Stoiker 25 Mut und Selbstbejahung: Spinoza Mut und Leben: Nietzsche 28
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33 Sein, Nichtsein und Angst Ontologie der Angst 33 33 Der Sinn von Nichtsein Die wechselseitige Abhängigkeit von Furcht und Angst 37 Typen der Angst Die drei Typen der Angst und das Wesen des Menschen 39 Die Angst vor Schicksal und Tod 41 Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Die Angst vor Schuld und Verdammung 45 46 Die Bedeutung der Verzweiflung Epochen der Angst 48
III Pathologische Angst, Vitalität und Mut Das Wesen der pathologischen Angst 57 Angst, Religion und Medizin Vitalität und Mut 61
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IV Mut und Partizipation. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein 66 Sein, Individuation und Partizipation 66 Kollektivistische und halbkollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, 68 Teil eines Ganzen zu sein Neukollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, Teil eines Ganzen zu 72 sein Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, im demokratischen 76 Konformismus V
Mut und Individuation. Der Mut, man selbst zu sein 83 Das Aufkommen des modernen Individualismus und der Mut, man selbst zu 83 sein
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Inhalt
Romantische und naturalistische Erscheinungsformen des Mutes, man selbst zu sein 85 89 Existentialistische Formen des Mutes, man selbst zu sein 89 Existentielle Haltung und Existentialismus Der existentialistische Gesichtspunkt 91 94 Der Verlust des existentialistischen Gesichtspunktes Existentialismus als Protest 96 98 Der gegenwärtige Existentialismus und der Mut der Verzweiflung Mut und Verzweiflung 98 Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Kunst und 100 Literatur Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Philosophie 104 Der Mut der Verzweiflung in der unschöpferischen existentialistischen 105 Haltung Die Grenzen des Mutes, man selbst zu sein 106 VI Mut und Transzendenz. Der Mut, sich zu bejahen als bejaht 108 109 Die Macht des Seins als Quelle des Mutes zum Sein Die mystische Erfahrung und der Mut zum Sein 109 Die göttlich-menschliche Begegnung und der Mut zum Sein 111 113 Schuld und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Schicksal und der Mut, sich zu bejahen als bejaht 115 117 Der absolute Glaube und der Mut zum Sein 122 Der Mut zum Sein als Schlüssel zum Sein-Selbst 122 Das Nichtsein erschließt das Sein Die Überwindung des Theismus 124 126 Der Gott über Gott und der Mut zum Sein Namenregister Sachregister
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Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt I Im Jahre 1952 erschien Paul Tillichs kleine Schrift The Courage to Be. ¹ Sie machte den 1933 aus Deutschland emigrierten Theologen zu einem der meistgelesenen und bekanntesten religiösen Denker in den Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Rundschreiben aus dem Jahre 1953 klagt der gefragte Redner seinen deutschen Freunden, er komme aufgrund „eine[r] unendliche[n] Fülle von Aufgaben, die an mich herankamen, nachdem ich besonders durch mein letztes Buch ‚The Courage to Be‘ in America sehr bekannt geworden bin“, nicht zum Beantworten ihrer Briefe.² Einladungen zu zahlreichen bedeutenden Vorlesungen wie den Gifford Lectures in Aberdeen u. a. waren die Folge. In den 1950er Jahren befand sich Tillich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs in Nordamerika. Als einer der wenigen Theologen zierte er am 16. März 1959 das Cover des Time Magazin, und 1955 ernannte man ihn zum University Professor an der Harvard University in Cambridge, eine der höchsten akademischen Ehren in den USA. Seine eindringliche Analyse des ‚age of anxiety‘, sein Vorschlag einer ‚theology of despair‘ wurde zu einem Bestseller und gehörte zur Pflichtlektüre an amerikanischen Universitäten.³ Eine deutsche Übersetzung von Gertie Siemsen erschien bereits im Jahre 1953 unter dem Titel Der Mut zum Sein, und schließlich wurde die Schrift in den 1969 erschienenen Band 11 der Gesammelten Werke Paul Tillichs in einer Neubearbeitung der Übersetzung durch Ingeborg C. Henel aufgenommen.⁴
P. Tillich, The Courage to Be, New Haven/London 1952. 22000. 32014. Rundbrief Paul Tillichs aus dem Jahre 1953, in: P. Tillich, Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1980, 328 f. Vgl. P. J. Gomes, Introduction to the second Edition, in: P. Tillich, The Courage to Be, New Haven/London 32014, XXVII-XLVI. P. Tillich, Der Mut zum Sein, dt. Übersetzung von G. Siemens, Stuttgart 1953. Hamburg 1965; ders., Der Mut zum Sein (dt. Übersetzung von I. C. Henel), in: ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie (= Gesammelte Werke, Bd. XI), Stuttgart 1969, 13 – 139; als Separatdruck Berlin/New York 1991. Weiterhin wurde die Schrift in die sechsbändige Ausgabe der Hauptwerke Tillichs aufgenommen. Vgl. P. Tillich, The Courage to Be, in: ders., Writings on Religion/Religiöse Schriften (= Main Works/Hauptwerke, Bd. 5), hrsg. v. R. P. Scharlemann, Berlin/New York 1988, 141–230. Die Ausgabe aus den Gesammelten Werken bildet die Grundlage der hier vorliegenden Edition. Sie ist noch einmal durchgesehen, und offensichtliche Rechtschreibefehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Seitenangaben auf dem inneren Kolumnentitel beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt
Dem erfolgreichen Buch Tillichs liegen seine vier Dwight Harringthon Terry Foundation Lectures on Religion in the Light of Science and Philosophy zugrunde, welche er vom 30. Oktober bis zum 2. November 1950 an der Yale University in New Haven gehalten hat. Die renommierten Terry-Lectures verdanken sich einer 1905 erfolgten Stiftung von Dwight H. Terry, wurden aber erst seit 1923 jährlich abgehalten. Ihr Anliegen ist es, religiöse Probleme im Horizont von Science und Philosophie zu thematisieren. Namhafte Intellektuelle, wie Erich Fromm, der 1949 über Psychoanalyses and Religion sprach, oder Charles Hartshorn, wurden als Referenten für die Vorlesungsreihe eingeladen. Tillich hielt die 27. Terry-Lecture. In einem Rundbrief vom 14. März 1950 berichtet er seinen deutschen Freunden, er sei „im Januar aufgefordert worden, im Herbst eine Foundation-Lectureship zu übernehmen, die sogenannten Terry-Lectures in Yale University, eine Aufforderung, die niemand ausschlagen kann. Das schließt ein die druckfertige Vorbereitung eines kleinen Buches, das unter weitester und schärfster Kritik stehen wird.“⁵ Die Entwürfe zu den vier Vorlesungen der Vortragsreihe vom Herbst 1950 sind im Paul-Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, aufbewahrt. Sie tragen folgende Überschriften: 1. Being and Courage, 2. The Courage to Be a Part, 3. The Courage to Be Oneself und 4. The Courage to Accept Acceptance.⁶ Diese Vorträge hat Tillich in den sechs Kapiteln der Schrift The Courage to Be aufgenommen, die 1952 in dem Verlag Yale University Press in New Haven und London erschien. Mit dem Verhältnis von Gewissheit und Zweifel, dem Glauben als Mut zum Sein sowie der Rede von einem ‚Gott über Gott‘ greift die zeitdiagnostisch angelegte Schrift Themen und Motive auf, welche sich im gesamten Werk des prominenten Theologen finden.Werkgeschichtlich betrachtet gehört Der Mut zum Sein in die späte Schaffensphase Tillichs. 1951 erschien der ersten Band der Systematic Theology. ⁷ Der gedankliche Gehalt der Themen, welche die Schrift von 1952 in der Beschreibung des Glaubens als Mut verdichtet, der die Bedrohung durch das Nichtsein in sich aufnimmt, erschließt sich allererst vor dem Hintergrund der denkerischen Entwicklung des deutsch-amerikanischen Theologen.
Rundbrief Paul Tillichs vom 14. März 1950, in: P. Tillich, Ein Lebensbild in Dokumenten, 325. Paul-Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, Cambridge, Mass., NL Nr. bMS 649/70 (2). P. Tillich, Systematic Theology, Vol. 1, Chicago 1951, dt.: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 1955; überarbeitet 21957.
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II Paul Tillich, 1886 in Starzeddel bei Guben geboren und 1965 in Chicago gestorben, studierte von 1904 bis 1908 Theologie in Berlin, Tübingen, Halle und nochmals Berlin.⁸ Von entscheidender Bedeutung für seinen weiteren Bildungsgang war sein viersemestriges Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Halle von 1905 bis 1907. Hier wurde er durch den Privatdozenten der Philosophie und Fichte-Forscher Fritz Medicus mit der um die Jahrhundertwende einsetzenden Idealismusrenaissance bekannt gemacht.⁹ Sie schlägt sich in seinen beiden Graduierungsarbeiten zur Spätphilosophie Schellings ebenso nieder¹⁰ wie in seinen ersten eigenständigen theologischen Entwürfen, der 1911 verfassten Thesenreihe Die christliche Gewißheit und der historische Jesus ¹¹ und dem zwei Jahre später geschriebenen Entwurf einer Systematischen Theologie.¹² Die genannten Texte lassen das Interesse des jungen Theologen an Begründungsfragen einer modernegemäßen Theologie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten über die „Krisis des Historismus“ (Ernst Troeltsch) erkennen, welche ihren Ausgangspunkt bei dem Gedanken des Absoluten nimmt. Das Absolute, in der Systematischen Theologie von 1913 als absoluter Wahrheitsgedanke verstanden, ist das Prinzip der Theologie. Im Kontext derartiger Überlegungen begegnet in der 1915 an der Theologischen Fakultät der Universität Halle eingereichten Habilitationsschrift Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität – dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher die markante Wendung von einem Gott über Gott. „Der Inbegriff aller Realität und Vollkommenheit“, so schreibt er hier mit kritischem Bezug auf die supranaturalistische Theologie der späten Aufklärung, „müßte sowohl über Gott wie über den anderen Wesen stehen: Ist das Naturgesetz der Gott unter Gott, so das Absolute der ‚Gott über Gott‘. Das Supra führt einerseits zu weit, ande-
Vgl. zum Folgenden auch W. Schüßler/E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007. 22014; W. Pauck/M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. 1: Leben, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1978. Vgl. hierzu F.W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: ZNThG 11 (2004), 52– 78. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: ders., Frühe Werke, Berlin/New York 1997, 156 – 272; ders., Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: ders., Frühe Hauptwerke, Stuttgart 21959, 13 – 108. Die christliche Gewißheit und der historische Jesus, in: ders., Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, Frankfurt a. M. 1983, 31– 50. P. Tillich, Systematische Theologie von 1913, in: ders., Frühe Hauptwerke, 278 – 434.
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Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt
rerseits nicht weit genug über die Welt hinaus.“¹³ Gott ist als das Absolute zu denken, aber beide sind nicht identisch. Das Absolute überschreitet jeden Gottesbegriff und ist in diesem Sinne der Gott über Gott. Die Wendung hat sichtlich die Funktion, eine Fassung des Gottesgedankens auszuarbeiten, welche gegenüber religionskritischen Einwänden bestehen kann. Das Absolute als Grundlage des menschlichen Selbstbewusstseins geht jeder Fassung des Gottesgedankens als endliche Bestimmung in einem logischen Sinne voran. Deshalb hat das Supra keinen Begriff, sondern eine Dialektik. Die Habilitationsschrift fällt in eine Umbruchphase des Denkens des jungen Theologen. Während des Ersten Weltkriegs verändert er die Fassung der prinzipientheoretischen Grundlagen seiner Theologie und Religionsphilosophie. In den vor dem Krieg verfassten Schriften fungiert das Absolute gewissermaßen als gegenüber dem Individuum übergeordneter Bezugsrahmen des theologischen Systems. Diese Konstruktion gibt er auf. Das Absolute, so heißt es nun, „ist ein Götze“.¹⁴ Der Gehalt des Absoluten verschwindet indes nicht. Es wird gleichsam in den religiösen Akt verlagert und neu bestimmt. Das Unbedingte, so die dominante Beschreibung ab 1918, sei kein Seiendes, sondern Sinn. Zur methodischen Grundlage der Theologie und Religionsphilosophie avanciert jetzt der Sinnbegriff in einem objektiven Sinne. Er wird im Anschluss an die sinntheoretischen Debatten im Neukantianismus und in der Phänomenologie als Medium verstanden.¹⁵ Das hat Folgen für den Begriff der Religion. Sie sei, wie die vielfach gebrauchte Wendung der 1920er Jahre lautet, Richtung auf das Unbedingte. An dem in der Habilitationsschrift von 1915 ausgeführten Gedanken einer Dialektik des Supra, die zu der Bestimmung eines Gottes über Gott führt, hat er, wie er in einem Brief an seinen Freund Emanuel Hirsch am 20. Februar 1918 schreibt, allerdings festgehalten.¹⁶ Geändert hat sich jedoch die systematische Konstruktion dieses Gedankens. Die ersten Hinweise auf die angesprochenen Veränderungen in der systematischen Grundlegung seiner Theologie finden sich in einem Brief an Hirsch vom 12. November 1917. Gleich zu Beginn des Schreibens heißt es: „Meine Fassung des P. Tillich, Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität – dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, in: ders., Frühe Werke, 435 – 592, hier 474. Brief Tillichs an Emanuel Hirsch vom Dezember 1917, in: P. Tillich, Briefwechsel und Streitschriften, 99. Vgl. hierzu U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89 – 123. Vgl. den Brief Tillichs an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918, in: P. Tillich, Briefwechsel und Streitschriften, 116.
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Rechtfertigungsgedankens hat mich bis zu der Paradoxie des ‚Glaubens ohne Gott‘ getrieben. Denn wenn das Denken ein Tun, ein Werk ist (vergl. den Begriff des sacrificium intellectus) und wenn Gott als irgendwie seiend gedacht eben die Setzung eines gegenständlichen Denkens ist, so kann er gewissermaßen das Werk dieses Gedankens nicht von jemand verlangen, den er rechtfertigen will.“ Und Tillich fährt fort, auch „der ‚Atheist‘ kann in seinem Atheismus sich ‚gerechtfertigt‘ glauben von einer Ordnung oder Realität oder Tiefe, die noch über dem steht, was er als ‚Sein Gottes‘ verneint. Jene ‚Ordnung‘ ist natürlich nicht als ein Sein zu denken, was ein Circulus wäre, sondern als ‚Tiefe‘ oder ‚Sinn‘ etc.“¹⁷ Ganz ähnlich formulierte er kurze Zeit später in einem Brief an Maria Klein vom 5. Dezember 1917. Er schreibt hier: „Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des ‚Glaubens ohne Gott‘ gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet.“¹⁸ Auch hier geht es noch um die Dialektik des Supra. Die Objektivationen der religiösen Gewissheit in Form von inhaltlichen Gegenständen sind Produkte des religiösen Bewusstseins. Sie sind der Religionskritik ebenso ausgesetzt wie dem Zweifel an der religiösen Gewissheit. Um den Gottesgedanken vor dem religionskritischen Einwand zu bewahren, er sei eine bloße Setzung des Bewusstseins, ist dieser als Grundlagenfunktion des Bewusstseins zu fassen. Er repräsentiert die Voraussetzung aller inhaltlichen Setzungen des Bewusstseins. Die konkreten Begriffe von Gott, die stets vom Menschen geschaffen sind, haben den epistemischen Status von Deutungen der religiösen Gewissheit. Sie sind deren Ausdruck, aber nicht mit dem Unbedingten identisch. Letzteres transzendiert jede seiner (endlichen) Bestimmungen, und zugleich kann es nur durch solche repräsentiert werden. Freilich ist das Unbedingte nicht im Sinne einer bewusstseinstranszendenten Substanz oder ähnlichem zu verstehen, da eine solche der Dialektik des Supra nicht entgehen würde.¹⁹ Es ist die Einheits- und Grundlagenfunktion des menschlichen Bewusstseins. Der
Brief Tillichs an Emanuel Hirsch vom 12. November 1917, in: P. Tillich, Briefwechsel und Streitschriften, 97. Brief Paul Tillichs an Maria Klein vom 5. Dezember 1917, in: P. Tillich, Ein Lebensbild in Dokumenten, 121. Vgl. den Brief Tillichs an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918, 115: „Es gibt eine flachköpfige Rede, daß die menschliche Vernunft aus architektonisch-ästhetischen Gründen monistisch sei. Sie ist es aber so notwendig, daß ihre Existenz daran hängt. Angenommen, sie bejaht die denkbar größte Dualität, so würde doch immer sie es sein, die bejaht, und, da sie nicht über ihren Schatten springen kann, nach ihres Wesens Gesetz bejaht. Das ‚Gedachtsein‘ ist das ‚monistische‘ Land, das selbst noch größere Gegensätze als die von Himmel und Erde verbinden würde.“
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Transzendenzbegriff muss folglich im Horizont eines, wie es Tillich nennt, „Monismus des Sinnes“ reformuliert werden.²⁰ Das Problem der Objektivationen des religiösen Bewusstseins, an dem sich unter den Bedingungen der Moderne das Spannungsverhältnis von Zweifel und Gewissheit entzündet und das zu der Dialektik des Supra treibt, wie sie in der Formel von einem Gott über Gott aufgenommen ist, hat Tillich in seinen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg durch die Ausarbeitung einer sinntheorischen Religionstheorie auf einer geistphilosophischen Grundlage weiter bearbeitet. Die erste, noch schwankende systematische Ausführung der neuen Konzeption liegt in dem 1919 entstandenen Entwurf Rechtfertigung und Zweifel vor, von dem im Nachlass zwei Versionen überliefert sind.²¹ Das Anliegen der Ausarbeitung, die anlässlich seiner 1919 erfolgten Umhabilitierung an die Theologische Fakultät der Berliner Universität entstanden ist, ist die Begründung eines theologischen Prinzips, durch das der Gegensatz von Religion und moderner, autonomer Kultur überwunden werden soll.²² Dieser Gegensatz findet seine Auflösung in dem Glaubensakt, der als Bejahung des absoluten Paradoxes verstanden wird. Als methodische Grundlage des Glaubensbegriffs fungiert eine unter Aufnahme von Motiven Edmund Husserls ausgearbeitete intentionalitätstheoretische Fassung des religiösen Bewusstseins. Im religiösen Akt, so heißt es in dem Entwurf, werde das Unbedingte „durch bedingte Vorstellungen hindurch“ gemeint.²³ Religion wird hier als ein Reflexionsgeschehen im kulturschaffenden Bewusstsein verstanden. Das Bewusstsein richtet sich im religiösen Akt auf das Unbedingte, aber es kann dies nur unter Aufnahme der bedingten kulturellen Formen. Das Unbedingte wird durch die kulturellen Formen hindurch gemeint. Im Glaubensakt wird sich das menschliche Bewusstsein einerseits in seiner reflexiven Tiefenstruktur verständlich, und andererseits fungieren die bedingten Vorstellungsformen als
Brief Tillichs an Emanuel Hirsch vom 9. Mai 1918, in: P. Tillich, Briefwechsel und Streitschriften, 127. Zur Debatte zwischen Tillich und Hirsch in den Jahren 1917 und 1918 vgl. F. Wittekind, ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: C. Danz (Hrsg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 135– 172, bes. 148 – 155. P. Tillich Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933) 1. Teil, Berlin/New York 1999, 128 – 185 (1. Version). 185 – 230 (2. Version). In dem ebenfalls 1919 veröffentlichten Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur hat dieses Programm seine erste publizierte Ausgestaltung erhalten. Vgl. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Stuttgart 1967, 13 – 31. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 225.
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Darstellungen der religiösen Gewissheit und nicht als Beschreibung einer transzendenten religiösen Gegenwartssphäre.²⁴ Die Negativität der Subjektivität und die Gewissheit des Glaubens sind hier miteinander verbunden. In der Negativität des Zweifels aktualisiert sich die Subjektivität, und zugleich ist sie darin in ihrer Wahrheit. Rechtfertigung meint damit die Einsicht des endlichen Subjekts in seine eigene paradoxe Verfassung, sich trotz eigener Unbedingtheit nur als bedingt erfassen zu können. „Es bleibt nur der paradoxe Ausweg, im Glauben zu bejahen, daß der Zweifel das Stehen in der Wahrheit nicht aufhebt.“²⁵ Der Zweifel ist somit selbst die Form, in der sich die religiöse Gewissheit in der Geschichte realisiert. Er treibt „zu einem Gott über Gott, zu einem Gott des Zweiflers, ja des Atheisten“.²⁶ Tillich hat diese aus seiner Theorie des religiösen Bewusstseins resultierende Figur in den Schriften der 1920er Jahre vielfach variiert und systematisch in ihren kulturtheologischen und religionsphilosophischen Konsequenzen durchbuchstabiert.²⁷ Ihre systematisch dichteste Gestalt hat seine Kulturtheologie in dem 1923 erschienenen System der Wissenschaften sowie der zwei Jahre später publizierten Religionsphilosophie erhalten.²⁸ Im Frühjahr 1924 erhielt der Berliner Privatdozent der Theologie einen vergüteten Lehrauftrag als außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg. Schon ein Jahr später wechselte er auf eine Professur für Religionswissenschaft an der Technischen Hochschule Dresden und schließlich zum Sommersemester 1929 an die Universität Frankfurt, wo er einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik inne hatte. Am Ende dieses Jahrzehntes unterzog er allerdings seine bisherige sinn- und geisttheoretische Konzeption einer Transformation. Sichtbar wird sie an dem Hervortreten von ontologischen Überlegungen im Horizont einer anthropologischen Konzeption. Das Unbedingte wird nun als Jenseits von Sein und Sinn bzw. als „Jenseits von Sein und Freiheit“ bestimmt.²⁹
Tillich verwendet in der ersten Version von Rechtfertigung und Zweifel erstmals den Symbolbegriff für die religiösen Vorstellungsgehalte. Wie schwankend die Konzeption in dieser Zeit noch ist, wird an der zweiten Version ersichtlich, in der der Symbolbegriff durch die cum grano salis Hegelsche Unterscheidung von Anschauung und Begriff reformuliert wird. Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 172 f. und 221. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 218. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 219. Vgl. hierzu F. Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 6, Berlin/Boston 2011, 89 – 119. P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: ders., Frühe Hauptwerke, 111– 293; ders., Religionsphilosophie, in: ders., Frühe Hauptwerke, 297– 364. P. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip [1929], in: ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Stuttgart 1962, 29 – 53, hier 41.
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Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt
Explizit wird in dem Prolog zu dem geplanten Buch Die Gestalt der religiösen Erkenntnis von 1928 eine anthropologische Grundlegung gefordert. „Damit aber erhebt sich eine neue Möglichkeit, den Menschen zu betrachten, eine Anthropologie ungegenständlicher Art, ein Versuch das menschliche Sein zu erfassen, nicht wie ein Seiendes unter anderem Seiendem [sic!], sondern im Hinblick auf das Sein selbst, als eine, ja als die Antwort auf die Frage nach dem Sein. Eine solche Anthropologie könnte man als ontologische Anthropologie neben die wissenschaftliche stellen. Sie fragt: Was ist das Sein des Menschen im Hinblick auf den Sinn des Seins? Wie kommt im Menschen der Sinn des Seins zur Anschauung seiner selbst?“³⁰ Die Kulturtheologie sowie der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs konzipierte religiöse Sozialismus erhalten fortan eine Begründung in einer Lehre vom Menschen.³¹ Diese Umorientierung spiegeln auch die Frankfurter Vorlesungen Tillichs. Die Philosophie wird in der im Wintersemester 1929/30 gehaltenen Vorlesung Sein und Geschehen (Geschichtsphilosophie) als Begegnungsanalyse durchgeführt.³² Grundlegende Bestandteile der sinntheoretischen Geistphilosophie werden allerdings von dem Frankfurter Ordinarius beibehalten. Der Geistbegriff wird durch den der historischen Zeit ersetzt. In ihr erfasst sich das Selbst als solches in der Selbstbegegnung, „in der das Lebendig-Gespannte sich von sich losreißt, eben damit aber auch von jedem anderen Begegnenden sich losreißt und auf das immer Übernächste oder die Welt zugeht. Welthaben ist die Vollendung des Sich-Habens“.³³ In der historischen Zeit konstituiert sich das Selbst als Sinnbewusstsein, so dass es zum Übergang vom Sein zum Geschehen kommt. Auch die neue Begegnungsanalyse mündet in eine Sinnphilosophie. Die Frankfurter Jahre Tillichs, die Arbeitsgemeinschaft mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, repräsentieren eine Übergangszeit. Sie ist durch den Versuch gekennzeichnet, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen theologischen und philosophischen Debatten die bisherige Geistphilosophie gleichsam ‚tiefer‘ zu legen. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die systematischen Veränderungen seiner Konzeption dürften die Etablierung der philosophischen An P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925 – 1927), Berlin/New York 2005, 435 – 440, hier 437. Vgl. P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: ders., Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften (Mainworks/Hauptwerke, Bd. 3), Berlin/New York 1998, 283 – 419, hier 293: „Die Wurzeln des politischen Denkens sind nicht wieder Gedanken, sondern menschliches Sein, also Sein, das in sich gedoppelt ist, bewußtes Sein. Das bedeutet: Politisches Denken ist notwendig Ausdruck eines politischen Seins, einer Gesellschaftslage.“ Vgl. P. Tillich, Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/ 30), Berlin/New York 2007, 9. P. Tillich, Geschichtsphilosophie, 28.
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thropologie in den 1920er Jahren³⁴ und vor allem Martin Heideggers 1927 erschienenes Werk Sein und Zeit gespielt haben.³⁵ Mehrfach hat Tillich auf die Bedeutung dieser Schrift Heideggers und vor allem auf dessen Kant-Buch von 1929 hingewiesen.³⁶ Die ontologische Anthropologie des Frankfurter Ordinarius zielt auf das konkrete, geschichtlich bestimmte Selbstverständnis des Einzelnen in seiner spezifischen Situation. Ontologie meint in diesem Zusammenhang keine gegenstandsorientierte Konzeption, sondern ähnlich wie bei Martin Heidegger eine ungegenständliche, vollzugsgebundene Explikation des geschichtlich eingebundenen Selbstverständnisses des Menschen. In den USA, in die Tillich nach seiner Beurlaubung von seiner Frankfurter Professur Ende 1933 emigrierte, hat er dieses Programm zunächst weitergeführt. Durch Vermittlung des einflussreichen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr erhielt er das Angebot, als Gastprofessor am Union Theological Seminary in New York sowie an der Columbia University zu lehren. Ende 1933 traf Tillich mit seiner Familie noch in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Deutschland in New York ein. Jene Hoffnung zerschlug sich freilich. Aus dem Exilanten wurde ein amerikanischer Staatsbürger. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1955 lehrte er am Union Theological Seminary. Seine ersten 1934 und 1935 im Exil gehaltenen Vorlesungen galten der Anthropologie, die unter dem programmatischen Titel ‚Lehre vom Menschen‘ vorgetragen wurden.³⁷ Sie sei, wie der deutsche Theologe seinen amerikanischen Hörern erklärt, „der gegenwärtig notwendige Zugang zur Theologie“.³⁸ Die in Frankfurt konzipierte nichtgegenständliche Anthropologie wird hier weiter ausgeführt. Der Lehre vom Menschen geht es nicht um eine gegenständliche, objektive Beschreibung des Menschen. Der Mensch ist kein Ding, dessen Eigenschaften man wie einen Gegenstand beschreiben kann. Sein Grundzug ist „Sich-selbst-Haben“ und das heißt „gleichzeitig Sich-selbst-Ändern, Bestimmtsein durch sich selbst, Bedrohtsein durch sich selbst usw.“³⁹ Der Mensch ist frei und endlich. Aufgrund seiner Freiheit kann er dieser selbst widersprechen. Tillich führt diesen Gedanken, der in den sündentheologischen Überlegungen seiner beiden Dissertationen zu Schelling bereits begegnet, nun in der für sein Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/München 71966; H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 41973. Vgl. P. Tillich, Lehre vom Menschen, in: ders., Frühe Vorlesungen im Exil (1934– 1935), Berlin/Boston 2012, 157– 347. P. Tillich, Die Lehre vom Menschen als der gegenwärtige Zugang zur Theologie, in: ders., Frühe Vorlesungen im Exil, 193 – 214, hier 195. P. Tillich, Die Lehre vom Menschen als der gegenwärtige Zugang zur Theologie, 198.
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gesamtes weiteres Werk signifikanten Unterscheidung von Essenz und Existenz aus. „Des Menschen Endlichkeit ist des Menschen Trennung von seiner eigenen Unendlichkeit. Endlichkeit-Haben ist eine besondere Qualität des UnendlichkeitHabens, nämlich die Qualität des Unendlichkeit-haben-Müssens und des Von-IhrAusgeschlossenseins.“⁴⁰ Der Ausdruck der Endlichkeit des Menschen ist Angst und Verzweiflung. In beiden Stimmungen wird der Mensch seiner endlichen Freiheit inne. Angst ist eine „allgemeine Qualität menschlicher Existenz“.⁴¹ Sie formt „unser Uns-selbst-Haben, unseren Körper und unseren Geist viel stärker als jede andere existentielle Qualität“.⁴² Die Angst ist ähnlich wie für Kierkegaard und Heidegger eine Grundbefindlichkeit menschlichen Seins und keine bloß subjektive Emotion. In den anthropologischen Überlegungen Tillichs aus den 1930er Jahren treten die Themen in den Fokus seiner Aufmerksamkeit, die auch für die 1952 erschienene Schrift Der Mut zum Sein bestimmend sind. Gleichwohl repräsentiert die anthropologische Konzeption der frühen Jahre im Exil eine Übergangsphase hin zum Spätwerk. In diesem wird die Ontologie zum grundlegenden Explikationsrahmen des Denkens von Tillich.⁴³ Freilich ist die Ontologie des Spätwerkes keine solche im klassischen Sinne der vorkantischen Metaphysik. Sie ist weder ein deduktives System noch kommt den ontologischen Strukturen ein zeitenthobener, universaler apriorischer Status zu, wie bei Platon oder Kant. Tillich beschreibt seine Ontologie als eine Methode. Ihr Thema ist die Erfahrung, so dass er sie geradezu als „Erfahrung der Erfahrung“ definieren kann.⁴⁴ Sie fragt nach den „Strukturen, die allem Seienden, allem, das am Sein teilhat, zugrundeliegen“.⁴⁵ Damit expliziert die Ontologie „die Strukturen, die in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorausgesetzt sind“.⁴⁶ In diesem Sinne erörtert er die Aufgabe der Ontologie im ersten Band der Systematischen Theologie. „Die Ontologie ist kein
P. Tillich, Die Lehre vom Menschen, 204. P. Tillich, Die Lehre vom Menschen, 207. P. Tillich, Die Lehre vom Menschen, 208. Vgl. hierzu S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 399 – 433; G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 349 – 353; C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000. P. Tillich, Ontologie (Sommersemester 1951), in: ders., Berliner Vorlesungen III (1951– 1958), Berlin/New York 2009, 1– 168, hier 9. P. Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, in: ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Stuttgart 1969, 143 – 225, hier 155. P. Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, 157.
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spekulativer oder phantastischer Versuch, eine Welt hinter der Welt aufzubauen; sie ist die Analyse jener Strukturen des Seins, die wir in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorfinden.“⁴⁷ Allerdings erschöpft sich die Ontologie Tillichs nicht in einer Kategorienlehre und Strukturtheorie. Sie zielt auf eine vollzugsgebundene Theorie des Lebens aus der Perspektive des Lebensvollzugs selbst. Lebensphilosophische Motive treten in der Ontologie des Spätwerkes in den Vordergrund. Dadurch soll die erkenntnistheoretische Alternative von Idealismus und Realismus überwunden werden, ein Anliegen, welches bereits die sinntheoretische Geistphilosophie der 1920er Jahre in Angriff nahm.⁴⁸ Der Begegnungscharakter des konkreten Lebens tritt sowohl an die Stelle eines erkenntnistheoretischen Subjekts als auch an die eines Gegenstands. Der Ontologie obliegt die Aufgabe, in Form einer Begegnungsanalyse diejenigen grundlegenden vortheoretischen Strukturen und Elemente zu explizieren, welche die Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit ermöglichen. Diese Bedingungen der Möglichkeit der Begegnung sind indes relativ auf diesen Vollzug, so dass deren Status im Unterschied etwa zu Kant als der eines relativen Apriori zu bezeichnen ist.⁴⁹ Auch das Unbedingte erhält eine neue Deutung. Im begrifflichen Rahmen der Ontologie des Spätwerkes wird es als Sein-Selbst bestimmt.⁵⁰ Vor diesem konzeptionellen Hintergrund führt Tillich nun die Dialektik des Supra aus, die zu einem Gott über Gott führt.
III Den grundbegrifflichen Rahmen von Tillichs Schrift Der Mut zum Sein bildet die Ontologie des Spätwerkes, wie sie von ihm in dem zeitgleich erschienenen ersten Band der Systematischen Theologie ausgearbeitet wurde. Im Fokus steht ein ontologischer Begriff des Mutes, der als „Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Situation“ (15) dienen soll.⁵¹ Diesen Begriff des Mutes expliziert er in
P. Tillich, Systematische Theologie Bd. 1, Stuttgart 21959, 28. Vgl. schon P. Tillich, Religionsphilosophie, 307. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 196 f.: „Ontologische Begriffe sind im strengen Sinn des Wortes a priori. Sie bestimmen das Wesen der Erfahrung. Sie sind gegenwärtig, wann immer etwas erfahren wird. A priori heißt nicht, daß ontologische Begriffe vor der Erfahrung gewußt sind, und der Begriff a priori sollte nicht aufgefaßt werden, als ob er dies bedeutet. Im Gegenteil, sie sind das Ergebnis einer kritischen Analyse der Erfahrung. Ebenso heißt a priori nicht, daß die ontologischen Begriffe eine statische und unveränderliche Struktur der Erfahrung konstituieren, die einmal entdeckt, für immer gültig ist.“ Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 273 – 280. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe von Der Mut zum Sein.
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den sechs Abschnitten der systematisch aufgebauten Schrift.⁵² Einsetzend mit einer ontologischen Bestimmung des Mutes erörtert der zweite Abschnitt die Angst als Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz. Im dritten Kapitel werden mit der pathologischen Angst unangemessene Umgangsweisen mit der menschlichen Grundbefindlichkeit ausgeführt. Auf die grundbegrifflichen Klärungen in den ersten drei Abschnitten folgen zwei Kapitel, welche den Existenzvollzug am Leitfaden des Selbst-Welt-Verhältnisses in den Blick nehmen. Und schließlich erörtert das letzte Kapitel gleichsam die theologische Antwort auf die analysierte menschliche Grundsituation in der Perspektive des absoluten Glaubens und des Gottes über Gott. Die Grundbefindlichkeiten von Mut und Angst sind das zentrale Thema der zeitdiagnostisch und kulturtheologisch angelegten Schrift. Mut, so die grundlegende Bestimmung, „ist Selbstbejahung ‚trotz‘ […] alles dessen, was dazu beiträgt, das Selbst an der Bejahung seiner selbst zu hindern“ (33). Angst hingegen ist „der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins“ (35). Obwohl Mut und Angst subjektive Befindlichkeiten sind, kommt ihnen ähnlich wie bereits in den frühen Vorlesungen aus dem Exil ein existentieller Status zu. Ihr ontologischer Charakter beruht darauf, dass sie Grundbestimmungen der endlichen Existenz sind. In der Angst erschließt sich dem Menschen seine Freiheit und Endlichkeit im Vollzug seiner Selbstbestimmung. Hierzu muss sich der Mensch, der ein Selbstverhältnis ist, verhalten. Tillich unterscheidet drei Grundtypen der Angst, denen er unterschiedliche Epochen zuordnet: Die Angst vor Schicksal und Tod ist für die Antike und das Mittelalter konstitutiv, die Angst vor Schuld und Verdammung für die beginnende Neuzeit und schließlich die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit für die Moderne. Alle drei Typen treten zwar zusammen auf, da Angst eine Grundbestimmung menschlicher Existenz ist, aber in unterschiedlichen Kulturen kann ein Typ die Oberherrschaft übernehmen.Vor dem Hintergrund dieses Epochenschemas der abendländischen Philosophie- und Christentumsgeschichte tritt die westeuropäische Gesellschaft der Mitte des 20. Jahrhunderts als age of anxiety in den Blick. Der für Tillichs Kultur signifikante Typus ist der der Angst „von Leere und Sinnlosigkeit“ (41 ff.). Facettenreich beschreibt der Autor den Umgang des Menschen der modernen Kultur mit sich selbst in den Grundformen von Kollektivismus und Individualismus, denen der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, sowie der Mut, man selbst zu sein, entsprechen. Aufgrund seiner Freiheit
Vgl. hierzu M. Harant, Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich, Frankfurt a. M. 2009, 161– 186.
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ist der Mensch mit keiner seiner Bestimmungen identisch. Deshalb hat sich das Selbst, und „zugleich versucht es, sich zu erreichen“ (31). Die Erfassung des Selbst auf dem Grund der Verzweiflung (Søren Kierkegaard) kommt im modernen Existentialismus, vorbereitet durch Reformation, Pietismus, Aufklärung und Romantik, zum Ausdruck. Tillich räumt der Darstellung der existentialistischen Literatur seiner Gegenwart von Franz Kafka bis hin zu Jean-Paul Sartre und Albert Camus einen breiten Raum ein. In der Moderne, die den Menschen aus allen traditionalen Bindungen herausgelöst hat, ist das Individuum das, „was es aus sich selbst macht“ (106). „Das Selbst, das von der Partizipation an seiner Welt abgeschnitten ist, ist eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit. Es muß handeln, weil es lebt, aber es muß jede Handlung wieder zurücknehmen, weil das Handeln den Handelnden in den Gegenstand seiner Handlung verwickelt.“ (Ebd.) In der existentialistischen Selbstbejahung des Einzelnen, seinem Versuch, er selbst zu sein, artikuliert sich nichts anderes als die Verzweiflung des Selbst an sich selbst. Der Existentialismus des 20. Jahrhunderts wirft ebenso wie die unterschiedlichen Formen eines kollektivistischen Mutes, Teil eines Ganzen, einer Gesellschaft, Nation oder Gruppe zu sein, die Frage nach einem „Mut zum Sein“ auf, der „beide Formen vereint, indem er beide transzendiert“ (107). Damit ist das Thema des letzten Abschnitts von Der Mut zum Sein benannt. Er lotet die Bedingungen einer Selbstbejahung des Einzelnen aus, welche in der Lage ist, die Bedrohungen durch Leere und Sinnlosigkeit, Schicksal und Tod sowie Schuld und Verdammung in das Selbstverständnis aufzunehmen. Jene repräsentiert der absolute Glaube. Er vereint sowohl mystische als personale Aspekte der religiösen Erfahrung und transzendiert sie. Er ist „Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, dem Grund unseres Seins und Sinnes. Der Mut zum Sein ist ein Ausdruck des Glaubens, und was Glaube ist, muß verstanden werden vom Mut zum Sein aus. Mut ist Selbstbejahung des Seienden trotz der immer gegenwärtigen Drohung des Nichtseins“ (118). Es ist der bereits in dem frühen Entwurf Rechtfertigung und Zweifel nach dem Ersten Weltkrieg ausgeführte Gedanke, das Stehen im Zweifel hebe die Wahrheit nicht auf, der hier im ontologischen Rahmen des Spätwerkes als absoluter Glaube zur Geltung gebracht wird.⁵³ Im Glaubensakt
Vgl. auch P. Tillich, Der Mut zum Sein, 119 f.: „Die Antwort muß den Zustand der Sinnlosigkeit als gegeben voraussetzen; sie ist keine Antwort, wenn sie die Aufhebung dieses Zustandes verlangt, denn gerade das kann nicht geschehen. […] Wenn man nicht versucht, dieser Frage auszuweichen, gibt es nur eine Antwort, nämlich die, daß der Mut, der Verzweiflung standzuhalten, selber Glaube ist und Mut zum Sein gleichsam an seiner äußersten Grenze ausdrückt. […] Aber da dieser Zweifel selbst ein Akt des Lebens ist, ist er etwas Positives trotz seines negativen Inhalts.“ Vgl. hierzu J. Dierken, Gewissheit und Zweifel. Über die religiöse Bedeutung skeptischer Reflexion bei Paul Tillich, in: C. Danz (Hrsg.), Theologie als Religions-
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erfasst sich der endliche Mensch in seiner Tiefenstruktur und kommt auf diese Weise zu sich selbst. Das unterscheidet den absoluten Glauben von der logischen Einsicht, dass aller Negation eine Position vorangeht. Der absolute Glaube „ist ohne spezifischen Inhalt, aber er ist nicht ohne Inhalt. Der Inhalt des absoluten Glaubens ist der ‚Gott über Gott‘“ (124).⁵⁴ Der mit dem absoluten Glauben verbundene Gottesgedanke soll eine Alternative zu dem Gott des Theismus darstellen, der unter den Bedingungen der Moderne und der mit ihr verbundenen Erfahrung von Leere und Sinnlosigkeit seine Plausibilität verloren hat. Es ist der frühe Gedanke einer Dialektik des Supra, die Formel von einem ‚Glauben ohne Gott‘ bzw. von einem Gott des Zweiflers und Atheisten, welche Tillich hier aufnimmt und vor dem Hintergrund seiner späten Ontologie neu bestimmt. Das nun ontologisch als Sein-Selbst bestimmte Absolute ist die Grundlagenfunktion des menschlichen Selbst-Welt-Verhältnisses. Es liegt allen menschlichen Bestimmungsakten bereits zugrunde und geht diesen voran. Dem Einzelnen erschließt sich der Grund von Sein und Sinn freilich allein dadurch, dass er sich in der Struktur seiner endlichen Existenz in der Welt verständlich wird. Diese existentielle Gewissheitserfahrung vor dem Hintergrund von Zweifel und Verzweiflung repräsentiert der Gottesgedanke in Der Mut zum Sein. „Der Mut, die Angst vor der Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen, ist die Grenze, bis zu der der Mut zum Sein gehen kann. Jenseits dieser Grenze ist bloßes Nichtsein. In diesem Mut werden alle Formen des Mutes wiedergeboren aus der Macht des Gottes über dem Gott des Theismus. Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.“ (128 f.) Christian Danz
philosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 107– 133, bes. 126 – 130. Vgl. auch P. Tillich, The God above God, in: ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 401– 405. Vgl. hierzu T. Koch, Die Macht des Seins im Mut zum Sein. Tillichs Gottesverständnis in seiner „Systematischen Theologie“, in: H. Fischer (Hrsg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a. M. 1989, 169 – 206.
I Sein und Mut In dem Begriff „Mut“ sind theologische, soziologische und philosophische Gehalte vereinigt. Wenige Begriffe sind so wie er geeignet, als Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Situation zu dienen. Mut ist vor allem ein ethischer Begriff, aber er verweist auf den ganzen Bereich der menschlichen Existenz, und seine Wurzeln reichen in die Tiefe des Seins selbst. Er muß ontologisch betrachtet werden, wenn er ethisch verstanden werden soll. Dies wird an einer der frühesten philosophischen Erörterungen des Mutes deutlich, an Platos Dialog „Laches“. Im Verlauf dieses Dialogs werden verschiedene Versuche, den Begriff Mut zu definieren, verworfen. Dann versucht Nikias, der berühmte General, eine Definition zu geben. Als militärischer Führer sollte er wissen, was Mut ist, und sollte es auch sagen können. Aber seine Definition erweist sich als ebenso ungenügend wie die der anderen. Wenn Mut, wie er behauptet, das Wissen von dem ist, „was gefürchtet und was gewagt werden soll“, dann wird die Frage des Mutes zu einem universalen Problem, denn um sie beantworten zu können, muß man ein „Wissen von allem haben, was, unter welchen Umständen auch immer, das Gute und das Falsche ist“. Diese Definition widerspricht jedoch der vorangegangenen Behauptung, daß Mut ein Teil der Tugend sei. „Also“, so schließt Sokrates, „ist es uns nicht gelungen, festzustellen, was Mut wirklich ist“. Dies ist im Rahmen des sokratischen Denkens ein schwerwiegendes Versagen; denn nach Sokrates ist Tugend Wissen, und Unwissen über das Wesen des Mutes macht auch das Handeln in Übereinstimmung mit dem wahren Wesen des Mutes unmöglich. Aber dieser mißlungene Versuch des Sokrates ist wichtiger als die meisten der scheinbar gelungenen Definitionen, auch diejenigen von Plato und Aristoteles eingeschlossen; denn die Unfähigkeit, eine Definition des Mutes als einer Tugend unter anderen zu geben, offenbart ein Grundproblem der menschlichen Existenz. Sie zeigt, daß ein Verständnis des Mutes ein Verständnis des Menschen und seiner Welt, ihrer Strukturen und Werte, voraussetzt. Nur wer diese versteht, weiß, was er bejahen und was er verneinen soll. Die ethische Frage nach dem Wesen des Mutes führt unausweichlich zu der ontologischen Frage nach dem Wesen des Seins und umgekehrt: die onto | logische Frage nach dem Wesen des Seins kann in Form der ethischen Frage nach dem Wesen des Mutes gestellt werden. Mut kann uns zeigen, was Sein ist, und Sein kann uns zeigen, was Mut ist. Deshalb handelt das erste Kapitel dieser Schrift von „Sein und Mut“. Obwohl nicht zu erwarten ist, daß mir gelingt, was Sokrates nicht gelungen ist, so mag doch der Mut, ein fast unvermeidliches Mißlingen auf mich zu nehmen, dazu beitragen, daß das sokratische Problem lebendig bleibt.
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Mut und Tapferkeit: Von Plato zu Thomas von Aquino Der Titel dieser Schrift, „Der Mut zum Sein“, vereint in sich beide Bedeutungen des Begriffs Mut, die ethische und die ontologische. Mut als menschlicher Akt, als Ausdruck einer Wertung, ist ein ethischer Begriff. Mut als universale und essentielle Selbstbejahung ist ein ontologischer Begriff. Der Mut zum Sein ist der moralische Akt, in dem der Mensch sein eigenes Sein bejaht trotz der Elemente in seiner Existenz, die im Widerspruch zu seiner essentiellen Selbstbejahung stehen. In der Geschichte des abendländischen Denkens finden sich fast überall beide Bedeutungen von Mut. Da wir uns mit der stoischen und neostoischen Idee des Mutes in besonderen Kapiteln befassen werden, möchte ich mich hier auf die Auffassung des Mutes beschränken, wie sie sich in der philosophischen Tradition findet, die von Plato zu Thomas von Aquino führt. In Platos „Staat“ wird der Mut mit dem Element der Seele verbunden, das thymos (Lebenskraft, Kühnheit) genannt wird, und beide werden der Gesellschaftsschicht der phylakes (Wächter) zugeordnet. Thymos liegt zwischen dem intellektuellen und dem sinnlichen Element im Menschen. Es ist der unreflektierte Drang nach dem, was edel ist, und hat als solcher eine zentrale Stellung in der Struktur der Seele: er überbrückt die Kluft zwischen Vernunft und Begierde. Zumindest hat er die Möglichkeit, sie zu überbrücken. Tatsächlich war die Hauptrichtung des platonischen Denkens und der platonischen Tradition jedoch dualistisch, sie betonte den Konflikt zwischen dem Vernünftigen und dem Sinnlichen. Die Brücke wurde nicht benutzt. Noch bei Descartes und Kant wirkt sich die Ausschaltung des dritten Elements im menschlichen Sein, des thymoeides, auf die Ethik und die Ontologie aus. Sie lag Kants moralischem Rigorismus zugrunde und der Spaltung des Seins in „Denken“ und „Ausdehnung“ bei Descartes. Die soziologischen Veränderungen, mit denen diese Entwicklung zusammenhing, sind bekannt genug. Die platonischen phylakes sind die waffentragende Aristokratie, die Repräsentanten dessen, was edel und | schön ist. Aus dieser Schicht gehen die Träger der Weisheit hervor, die dem Mut die Weisheit hinzufügen. Aber diese Aristokratie und die Werte, die sie repräsentierte, zerfielen. In der Spätantike und im modernen Bürgertum spielen sie keine Rolle mehr. An ihre Stelle treten die Vertreter der aufgeklärten Vernunft und die von praktischen Gesichtspunkten organisierten und geleiteten Massen. Plato selbst jedoch hat das thymoeides als eine wesentliche Funktion des Menschen betrachtet, als einen ethischen Wert und eine soziologische Qualität. Das aristokratische Element in der Lehre vom Mut wurde durch Aristoteles zugleich bewahrt und eingeschränkt. Nach ihm sollen Leid und Tod mutig er-
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tragen werden, weil das edel ist und das Gegenteil verächtlich wäre.⁵⁵ Der Mensch handelt mutig „um des Edlen willen, denn das Edle ist das Ziel der Tugend“ (Nik. Ethik, III, 7). „Edel“ an dieser und anderen Stellen ist die Übersetzung von kalos und „verächtlich“ die Übersetzung von aischros, Worten, die gewöhnlich als „schön“ und „häßlich“ übersetzt werden. Eine schöne oder edle Tat ist eine lobenswerte Tat. Der Mutige tut, was lobenswert ist, und unterläßt, was verächtlich ist. Lobenswert ist das, wodurch ein Wesen seine Potentialitäten erfüllt oder seine Vollkommenheit aktualisiert. Mut ist die Bejahung der eigenen essentiellen Natur, des eigenen inneren Ziels, der Entelechie. Aber sie ist eine Bejahung, die den Charakter des „trotzdem“ hat. Sie bringt das mögliche und zuweilen unausweichliche Opfer von Elementen mit sich, die uns, obwohl sie Teil unseres Selbst sind, an dem Erreichen unserer aktuellen Erfüllung hindern würden, wenn wir sie nicht opferten. Dieses Opfer kann die Aufgabe von Vergnügen, Glück, ja, die Hingabe des eigenen Lebens bedeuten. Auf jeden Fall ist das mutige Handeln lobenswert, weil sich in ihm der wesentlichere Teil unseres Selbst gegen den weniger wesentlichen durchsetzt. Der Mut ist schön und gut, weil in ihm das Schöne und Gute aktualisiert wird. Das macht ihn edel. Vollkommenheit wird nach Aristoteles (ebenso wie nach Plato) stufenweise erreicht, auf der natürlichen, der persönlichen und der gesellschaftlichen Stufe; und Mut als Bejahung des eigenen essentiellen Seins tritt in einigen dieser Stufen deutlicher zutage als in anderen. Da die größte Probe des Mutes die Bereitschaft ist, das größte Opfer zu bringen, d. h. das Opfer des eigenen Lebens, und da der Beruf des Kriegers die ständige Bereitschaft zu diesem Opfer verlangt, hat der Mut des Kriegers von jeher als das hervorragende Beispiel des Mutes gegolten. | Das griechische Wort für Mut andreía (Männlichkeit) und das lateinische Wort fortitudo (Stärke) weisen auf den militärischen Aspekt des Mutes hin. Solange die Aristokratie die waffentragende Schicht war, fielen die aristokratische und die militärische Seite des Mutes zusammen. Als die aristokratische Tradition untergegangen war und Mut als das universale Wissen von dem, was gut und was böse ist, definiert werden konnte, kamen Weisheit und Mut zur Deckung, und der wahre Mut wurde vom Mut des Kriegers unterschieden. Der Mut des sterbenden Sokrates war rational-demokratisch, nicht heroisch-aristokratisch. Aber die aristokratische Seite lebte im frühen Mittelalter wieder auf. Mut wurde wieder ein Kennzeichen des Adels. Der Ritter repräsentiert Mut als Krieger und als Edelmann. Er hat hôhen muot, einen hochherzigen, edlen und kühnen Geist. Die deutsche Sprache hat neben „mutig“ auch das Wort „tapfer“; es be-
Nik. Ethik. III, 9. Zitiert nach der Übersetzung von Eugen Rolfes; Philos. Bibliothek. Bd. 5. Leipzig 1921.
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deutet ursprünglich entschlossen, fest, wichtig und weist auf die Seinsmächtigkeit der oberen Schicht in der feudalen Gesellschaft hin. Mut ist eine Seelenregung, eine Stimmung, was noch in dem englischen Wort mood zum Ausdruck kommt und in Kombinationen wie Schwermut, Hochmut, Kleinmut. Mut ist eine Sache des Herzens, des Zentrums der Person; deshalb kann man für mutig auch beherzt sagen (das französische und englische Wort courage ist von coeur abgeleitet). Während Mut diese umfassendere Bedeutung beibehalten hat, wurde die Bedeutung von Tapferkeit immer mehr auf die besondere Tugend des Kriegers eingeengt, der nicht mehr mit dem Edelmann identisch war. In den Begriffen Mut und courage tritt das ontologische Moment deutlich zutage, während die Begriffe fortitudo und Tapferkeit in ihrer heutigen Bedeutung keinen derartigen Sinn enthalten. Der Titel dieser Schrift könnte unmöglich „Die Tapferkeit zum Sein“ lauten, es muß „Der Mut zum Sein“ heißen. Diese philologischen Bemerkungen verdeutlichen die mittelalterliche Situation in bezug auf den Begriff des Mutes und weisen so auf die Spannung zwischen der heroisch-aristokratischen Ethik des frühen Mittelalters und der rational-demokratischen Ethik hin, die ein Erbe der christlich-humanistischen Tradition ist und am Ende des Mittelalters wieder in den Vordergrund tritt. Diese Situation findet klassischen Ausdruck bei Thomas von Aquino in seiner Lehre vom Mut. Thomas erkennt und erörtert die doppelte Bedeutung des Mutes. Mut ist Geistesstärke, die alles überwindet, was die Erlangung des höchsten Gutes bedroht. Zusammen mit Weisheit, Mäßigung und Gerechtigkeit gehört er zu den vier Kardinaltugenden. Diese sind, wie eine genaue Analyse zeigt, nicht gleichen Ranges. Mut, mit | Weisheit vereint, umfaßt Mäßigung in bezug auf die eigene Person und Gerechtigkeit in bezug auf andere. Das läßt die Frage offen, ob Mut oder Weisheit die umfassendere Tugend ist. Die Antwort hängt von dem Ergebnis des berühmten Streites darüber ab, ob im Wesen des Seins und folglich auch in der menschlichen Persönlichkeit der Intellekt oder der Wille den Vorrang hat. Da Thomas sich eindeutig für die Priorität des Intellekts entscheidet, muß er notwendigerweise den Mut der Weisheit unterordnen. Eine Entscheidung für die Priorität des Willens würde auf eine größere, wenn auch nicht vollständige, Unabhängigkeit des Mutes von der Weisheit schließen lassen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gedankenrichtungen ist entscheidend für die Bewertung des „wagenden Mutes“, in religiöser Terminologie: für das Wagnis des Glaubens. Unter der Vorherrschaft der Weisheit ist der Mut wesentlich Geistesstärke, die den Gehorsam gegen die Forderungen der Vernunft (oder der Offenbarung) möglich macht, während der wagende Mut dazu beiträgt, Weisheit zu schaffen. Die offensichtliche Gefahr der ersten Auffassung ist unschöpferische Stagnation, wie sie sich oft in katholischem und in rationalistischem Denken findet, während die ebenso offensichtliche Gefahr der zweiten Auffassung richtungslose Willkür ist,
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wie sie sich in gewissen protestantischen Richtungen und in den meisten Formen des Existentialismus findet. Thomas verteidigt jedoch auch den engeren Begriff des Mutes als eine Tugend unter anderen (diesen bezeichnet er immer als fortitudo, Tapferkeit). Wie in den Erörterungen des Mutes in diesem engeren Sinne üblich, weist er auf den Mut des Kriegers als ein hervorragendes Beispiel hin. Dies steht in Einklang mit der allgemeinen Tendenz des Thomas, die aristokratische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft mit den universalistischen Elementen des Christentums und des Humanismus zu vereinen. Der vollkommene Mut ist nach Thomas eine Gabe des göttlichen Geistes. Durch den göttlichen Geist wird die natürliche Geistesstärke in den Stand übernatürlicher Vollkommenheit erhoben. Dies bedeutet, daß der Mut mit den spezifisch christlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe,vereint ist. So beginnt sich eine Entwicklung abzuzeichnen, in der die ontologische Seite des Mutes in den Glauben (der die Hoffnung einschließt) hineingenommen wird, während die ethische Seite des Mutes in die Liebe, d. h. das ethische Prinzip, aufgenommen wird. Die Aufnahme des Mutes in den Glauben, der die Hoffnung miteinschließt, erscheint schon ziemlich früh, zum Beispiel in Ambrosius’ Lehre vom Mut. Er folgt der antiken Tradition, wenn er die fortitudo „eine höhere Tugend als die übrigen Tugenden“ nennt, obwohl sie sich | niemals als einzige Tugend ohne die anderen Tugenden findet. Der Mut hört auf die Vernunft und führt aus, was diese verlangt. Er ist die Stärke der Seele, die in der äußersten Gefahr den Sieg erringt, wie bei jenen Märtyrern im Alten Testament, die in Hebräer 11 genannt werden. Der Mut verleiht Trost, Geduld und Erfahrung und läßt sich nicht mehr von Glaube und Hoffnung unterscheiden. Diese Entwicklung zeigt, daß uns jeder Versuch, den Mut zu definieren,vor die Alternative stellt, das Wort Mut als Bezeichnung für eine Tugend unter anderen zu gebrauchen und die umfassendere Bedeutung des Wortes mit Glauben und Hoffnung zu verschmelzen, oder die umfassendere Bedeutung des Wortes zu erhalten und Glauben durch eine Analyse des Mutes zu interpretieren. Ich folge hier dem zweiten Weg, und zwar in erster Linie, weil ich der Ansicht bin, daß der Begriff Glaube mehr als irgendein anderer religiöser Begriff der Neuinterpretation bedarf.
Mut und Weisheit: Die Stoiker Der umfassendere Begriff des Mutes, der ein ethisches und ein ontologisches Element enthält, gewinnt am Ausgang des Altertums und am Beginn der Neuzeit außerordentliche Bedeutung, besonders im Stoizismus und im Neostoizismus. Beide sind philosophische Schulen, aber sie sind zugleich mehr, nämlich die
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Form, in der einige der edelsten Gestalten der Spätantike und ihre Nachfolger in der Neuzeit die Frage der Existenz beantworteten und die Angst vor Schicksal und Tod überwanden. In diesem Sinne ist der Stoizismus eine religiöse Haltung, gleich, ob er theistische, atheistische oder transtheistische Formen annimmt. Aus diesem Grunde ist der Stoizismus in der abendländischen Welt die einzige wirkliche Alternative zum Christentum. Das ist eine erstaunliche Behauptung angesichts der Tatsache, daß es die Gnosis und der Neuplatonismus waren, gegen die sich das Christentum auf religiös-philosophischem Gebiet zu behaupten hatte, und das Römische Reich, gegen das es auf religiös-politischem Gebiet zu kämpfen hatte. Die hochgebildeten, individualistischen Stoiker scheinen für das Christentum keine Gefahr gewesen zu sein, im Gegenteil, sie waren bereit, Elemente des christlichen Theismus aufzunehmen. Aber diese Auffassung beruht auf einer oberflächlichen Analyse. Das Christentum und der religiöse Synkretismus der antiken Welt hatten eine gemeinsame Grundlage: die Idee, daß ein göttliches Wesen zur Erlösung der Welt vom Himmel herabkommen werde. In den religiösen Bewegungen, die | von dieser Idee getragen waren, wurde die Angst vor dem Schicksal und vor dem Tode durch die Partizipation des Menschen an dem göttlichen Wesen, das Schicksal und Tod auf sich genommen hatte, besiegt. Obwohl das Christentum einen ähnlichen Glauben vertrat, war es dem Synkretismus überlegen, und zwar dadurch, daß der Erlöser Jesus Christus ein individuelles Wesen war und daß es sich auf das konkret-historische Fundament des Alten Testaments stützen konnte. Deshalb konnte das Christentum viele Elemente des religiös-philosophischen Synkretismus der antiken Welt assimilieren, ohne sein geschichtliches Fundament zu verlieren, aber es konnte sich nicht die eigentlich stoische Haltung aneignen. Das ist besonders bemerkenswert, wenn wir an den ungeheuren Einfluß denken, den die stoische Logoslehre und das natürliche Moralgesetz auf die christliche Dogmatik und Ethik ausübten. Diese weitgehende Aufnahme stoischer Ideen konnte jedoch die Kluft nicht überbrücken, die zwischen der stoischen Haltung einer kosmischen Resignation und dem christlichen Glauben an eine kosmische Erlösung besteht. Der Sieg der christlichen Kirche drängte den Stoizismus in den Hintergrund, aus dem er erst am Beginn der modernen Zeit wieder hervortrat. Ebensowenig bildete das Römische Reich eine Alternative zum Christentum. Hier ist wiederum bemerkenswert, daß es nicht die launenhaften Tyrannen vom Typ Neros oder die fanatischen Reaktionäre vom Typ Julians waren, die eine ernste Gefahr für das Christentum bedeuteten, sondern die aufrichtigen Stoiker vom Typ Marc Aurels. Das hat seinen Grund darin, daß der Stoiker einen persönlichen und gesellschaftlichen Mut besitzt, der eine echte Alternative zum christlichen Mut ist. Der stoische Mut ist keine Erfindung der stoischen Philosophen. Diese gaben ihm klassischen Ausdruck in rationalen Begriffen; aber seine Wurzeln gehen
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zurück auf Mythen und Heroensagen, alte Weisheitssprüche, frühe Dichtungen und Tragödien und eine Jahrhunderte alte philosophische Tradition, die alle vor dem Aufkommen des Stoizismus bestanden. Ein besonderes Ereignis gab dem Mut der Stoiker seine bleibende Kraft: der Tod des Sokrates. Er war für die gesamte antike Welt nicht nur ein Geschehnis, sondern auch ein Symbol, in dem die menschliche Situation angesichts von Schicksal und Tod zum Ausdruck gekommen war. In ihm hatte sich der Mut gezeigt, der das Leben bejahen konnte, weil er den Tod bejahen konnte. Er rief eine tiefgreifende Veränderung in der traditionellen Bedeutung des Mutes hervor. Durch Sokrates wurde der heroische Mut der Vergangenheit zum rationalen und universalen Mut. Der aristokratischen Idee des Mutes wurde eine demokratische entgegengesetzt; die Tapferkeit des Kriegers wurde | durch den Mut der Weisheit transzendiert. In dieser Form brachte er vielen Menschen in einer Zeit der Katastrophen und Umwälzungen „den Trost der Philosophie“. Die Beschreibung des stoischen Mutes durch einen Mann wie Seneca zeigt die wechselseitige Abhängigkeit der Furcht vor dem Tode und der Furcht vor dem Leben einerseits, wie des Mutes zum Leben und des Mutes zum Sterben andrerseits. Seneca weist auf die Menschen hin, die „nicht leben wollen und nicht zu sterben wissen“. Er spricht von einer libido moriendi, die der genaue lateinische Ausdruck für Freuds „Todestrieb“ ist. Er berichtet von Menschen, die das Leben als sinnlos und überflüssig empfinden und die, ähnlich wie im Buch des Predigers im Alten Testament, sagen: Ich kann nichts Neues tun, ich kann nichts Neues sehen! Diese Haltung ist nach Seneca eine Folge des Lustprinzips oder des Verlangens nach „einer guten Zeit“, wie Seneca es nennt, einen amerikanischen Ausdruck vorwegnehmend – eine Haltung, die er besonders in der Jugend findet. Wie bei Freud der Todestrieb die negative Seite der niemals befriedigten libido ist, so führt nach Seneca das Lustprinzip notwendigerweise zu Ekel und Verzweiflung am Leben. Aber Seneca wußte (wie Freud), daß die Unfähigkeit, das Leben zu bejahen, nicht die Fähigkeit bedeutet, den Tod zu bejahen. Die Angst vor dem Schicksal und vor dem Tod beherrscht selbst das Leben derer, die den Willen zum Leben verloren haben. Deshalb richtet sich die stoische Aufforderung zum Selbstmord nicht an die, die dem Leben unterlegen sind, sondern an die, die Herr über das Leben geworden sind, die zu leben und zu sterben wissen und in Freiheit zwischen beidem wählen können. Selbstmord aus Furcht, als Ausflucht, widerspricht dem stoischen Mut zum Sein. Der stoische Mut ist Mut zum Sein im ontologischen wie im ethischen Sinn. Er beruht auf der Herrschaft der Vernunft im Menschen. Aber Vernunft bedeutet weder bei den alten noch bei den neuen Stoikern dasselbe, was sie im heutigen Sprachgebrauch bedeutet. Vernunft im stoischen Sinn ist nicht die Fähigkeit, zu überlegen und verständig zu urteilen auf Grund von Erfahrung und mit Hilfe der
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allgemeinen oder der mathematischen Logik. Für die Stoiker ist Vernunft logos, die sinnvolle Struktur der Wirklichkeit im ganzen und des menschlichen Geistes im einzelnen. „Wenn es kein anderes Attribut gibt, das dem Menschen als solchem zugehört, als die Vernunft“, sagt Seneca, „dann wird diese das eine Gut sein, das alles andere aufwiegt.“ Das bedeutet, daß die Vernunft die wahre oder essentielle Natur des Menschen ist, der gegenüber alles andere zufällig ist. Der Mut zum Sein ist der Mut, die eigene vernünftige Natur gegen alles bloß Zufällige zu behaupten. Es ist deut | lich, daß Vernunft, so verstanden, sich auf das Zentrum der Person bezieht und alle geistigen Funktionen umfaßt. Überlegungen anstellen und Schlüsse ziehen ist eine rein kognitive Funktion, etwas vom persönlichen Zentrum Verschiedenes, das niemals Mut in uns erzeugen könnte. Man kann der Angst nicht durch Begründungen Herr werden. Das ist keine erst neuerdings gemachte Entdeckung der Psychoanalyse. Die Stoiker waren sich dessen bewußt, wenn sie die Vernunft verherrlichten. Sie wußten, daß die Angst nur kraft der universalen Vernunft überwunden werden kann, die in dem Weisen Begierde und Furcht besiegt. Der stoische Mut setzt die Hingabe des persönlichen Zentrums an den logos des Seins voraus; er ist Partizipation an der göttlichen Macht der Vernunft, in der der Bereich der Leidenschaften und Ängste transzendiert ist. Der Mut zum Sein ist der Mut, unsere eigene vernünftige Natur zu behaupten trotz alles dessen in uns, was der objektiven Vernunft des Seins selbst widerstreitet. Dem Mut der Weisheit widerstehen in uns Begierde und Furcht. Die Stoiker haben eine Analyse der Angst gegeben, die ebenfalls an jüngste Einsichten erinnert. Sie haben entdeckt, daß der Gegenstand der Furcht die Furcht selbst ist. „Nichts an den Dingen“, sagt Seneca, „ist fürchterlich außer der Furcht selbst.“ Und Epiktet sagt: „Nicht Tod oder Not sind das Fürchterliche, sondern die Furcht vor ihnen“. Unsere Angst setzt allen Dingen und Menschen furchterregende Masken auf. Wenn wir ihnen diese Masken nehmen, erscheint ihr eigenes Antlitz, und die Furcht, die sie erregten, verschwindet. Das gilt sogar vom Tode. Da Tag für Tag ein kleiner Teil von uns dahinschwindet – da wir jeden Tag sterben –, bringt nicht erst die letzte Stunde, in der unser Leben aufhört, den Tod, in ihr vollendet sich nur der Prozeß des Sterbens. Die Schrecken, die wir mit dem Tod verbinden, sind Einbildung; sie verschwinden, wenn wir dem Tod die Maske abnehmen. Was diese Maske schafft und sie Menschen und Dingen aufsetzt, sind unsere unbeherrschten Begierden. Freuds Theorie von der libido ist von Seneca, allerdings in umfassenderer Form, vorweggenommen. Er unterscheidet zwischen natürlichen Begierden, die begrenzt sind, und solchen, die falschen Ansichten entspringen und unbegrenzt sind. Die Begierde als solche ist nicht unbegrenzt. In ihrer unverzerrten natürlichen Form ist sie durch natürliche Bedürfnisse begrenzt und kann folglich befriedigt werden. Die verzerrte Phantasie des Menschen jedoch geht über die natürlichen Bedürfnisse hinaus und damit über die Möglichkeit der Befriedigung
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(„Wer sich verirrt hat, wandert endlos“). Dies und nicht die Begierde als solche erzeugt in uns das „unweise (inconsulta) Verlangen nach dem Tode“. | Die Bejahung des eigenen essentiellen Seins trotz aller Begierden und Ängste erzeugt Freudigkeit. Seneca ermahnt Lucillus, „zu lernen, froh zu sein“. Er meint damit nicht die Freude über die Erfüllung der Begierde, denn wirkliche Freude ist eine „ernste Sache“, sondern die Glückseligkeit einer Seele, die „über alle Zufälle erhaben ist“. Diese Freude begleitet die Bejahung unseres essentiellen Seins trotz der Behinderung durch die zufälligen Elemente in uns. Freude ist der gefühlsmäßige Ausdruck des mutigen Ja zu unserem wahren Sein. In dieser Verbindung von Mut und Freude wird der ontologische Charakter des Mutes deutlich.Wenn der Mut nur als ethischer Begriff verstanden wird, ist seine Beziehung zur Freude der Selbsterfüllung nicht erklärt. In dem ontologischen Akt der Bejahung des eigenen essentiellen Seins fallen Mut und Freude zusammen. Der stoische Mut ist weder atheistisch noch theistisch im wörtlichen Sinn. Die Stoiker stellen die Frage nach der Beziehung des Mutes zu der Idee von Gott, beantworten sie jedoch in einer Weise, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet – eine Tatsache, in der der existentielle Ernst der stoischen Lehre vom Mut zum Ausdruck kommt. Seneca stellt drei Behauptungen auf über die Beziehung des Mutes der Weisheit zur Religion. Die erste lautet: „Weder von Angst gequält noch durch Vergnügungen verdorben, werden wir uns weder vor dem Tode noch vor den Göttern fürchten.“ In diesem Satz stehen die Götter für das Schicksal; sie sind die Mächte, die das Geschick des Menschen bestimmen und die Bedrohung durch das Schicksal repräsentieren. Der Mut, der die Angst vor dem Schicksal überwindet, überwindet auch die Angst vor den Göttern. Der Weise transzendiert durch die Bejahung seiner Partizipation an der universalen Vernunft den Bereich der Götter. Der Mut zum Sein transzendiert die polytheistischen Schicksalsmächte. Die zweite Behauptung ist, daß die Seele des Weisen Gott ähnlich sei. Der Gott, der hier gemeint ist, ist der göttliche logos; in Einheit mit ihm besiegt der Mut der Weisheit das Schicksal und transzendiert die Götter. Er ist „der Gott über Gott“. In der dritten Behauptung tritt der Unterschied zwischen der Idee einer kosmischen Resignation und der Idee einer kosmischen Erlösung in theistischen Begriffen zutage. Seneca sagt, daß der wahre Stoiker über dem Leiden steht, während Gott jenseits des Leidens ist. Das bedeutet, daß Leiden der Natur Gottes widerspricht. Es ist ihm nicht möglich zu leiden; er ist jenseits des Leidens. Der Stoiker als menschliches Wesen dagegen hat die Fähigkeit zu leiden. Aber das Zentrum seiner vernünftigen Natur braucht nicht vom Leiden angegriffen zu werden. Er kann sich über das Leiden erheben, weil das Leiden nicht zu seiner essentiellen Natur gehört, son | dern eine Folge des Zufälligen in ihm ist. Die Unterscheidung zwischen „jenseits“ und „über“ schließt ein Werturteil ein. Der Weise, der Begierde, Leid und Angst besiegt, „übertrifft Gott selbst“. Er steht über Gott, der durch seine
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natürliche Vollkommenheit und Seligkeit jenseits oder außerhalb von Begierde, Leid und Angst ist. Auf Grund dieser Wertung konnte der Mut der Weisheit und der Resignation durch den Mut des Glaubens an die Erlösung ersetzt werden, d. h. des Glaubens an einen Gott, der auf paradoxe Weise am menschlichen Leiden teilnimmt. Der Stoizismus selbst jedoch kann diesen Schritt nicht tun. Der Stoizismus erreicht seine Grenze, wenn er vor die Frage gestellt wird: Wie ist der Mut der Weisheit möglich? Obwohl die Stoiker die Gleichheit aller Menschen, insofern sie am universalen logos teilhaben, betonten, konnten sie doch die Tatsache nicht leugnen, daß Weisheit nur einer unendlich kleinen Elite geschenkt ist. Die Masse der Menschen besteht, wie sie zugaben, aus „Toren“, die von Begierden und Ängsten beherrscht werden. Obwohl sie mit ihrem essentiellen oder vernünftigen Wesen am göttlichen logos teilhaben, befinden sie sich in Wirklichkeit in Konflikt mit ihrer eigenen Vernunft und sind deshalb nicht fähig, ihr essentielles Sein zu bejahen. Diese Situation konnten die Stoiker nicht erklären, obwohl sie sie nicht leugnen konnten. Und es war nicht nur die Tatsache, daß die Toren die überwiegende Mehrheit bilden, die sie nicht erklären konnten, sondern die Weisen selbst stellten sie vor ein Problem, das ihnen Schwierigkeit bereitete. Seneca sagt, daß es keinen größeren Mut gebe als den aus der äußersten Verzweiflung geborenen. Aber kann der Stoiker als Stoiker – so muß man fragen – den Zustand der äußersten Verzweiflung erreichen? Kann er ihn auf dem Boden seiner eigenen Philosophie erreichen? Oder fehlt seiner Verzweiflung etwas und folglich auch seinem Mut? Der Stoiker als Stoiker kennt die Verzweiflung der persönlichen Schuld nicht. Epiktet zitiert als Beispiel Sokrates’ Worte aus Xenophons „Memorabilien:“ „Ich habe Selbstbeherrschung bewahrt“ und „Ich habe weder im privaten noch im öffentlichen Leben je etwas Unrechtes getan“. Und Epiktet selbst behauptet, daß er gelernt habe, sich um nichts zu kümmern, was außerhalb des Bereichs seines moralischen Zieles liege. Aber aufschlußreicher als solche Behauptungen ist die allgemeine Haltung von Überlegenheit und Selbstgefälligkeit, die die stoischen diatribai kennzeichnet, ihre moralischen Ermahnungen und öffentlichen Anklagen. Der Stoiker kann nicht wie Hamlet sagen, daß das Gewissen aus uns allen Feiglinge mache. Er sieht den universalen Abfall aus der essentiellen Vernünftigkeit in die existentielle Torheit nicht als eine Frage der Verantwortung und der Schuld. Der Mut | zum Sein ist für ihn der Mut, sich trotz Schicksal und Tod zu bejahen, und nicht der Mut, sich trotz Sünde und Schuld zu bejahen. Anders konnte es nicht sein, denn der Mut, der eigenen Schuld ins Auge zu sehen, führt zu der Frage nach der Erlösung und nicht zur Resignation.
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Mut und Selbstbejahung: Spinoza Der Stoizismus trat in den Hintergrund, als der Glaube an die kosmische Erlösung den Mut zur kosmischen Resignation ersetzte. Aber er trat wieder in den Vordergrund, als das mittelalterliche System, das sich auf die Idee der Erlösung stützte, zu zerfallen begann. Und er wurde wieder wichtig für eine intellektuelle Elite, die den Weg der Erlösung verwarf, ohne ihn jedoch durch den stoischen Weg der Resignation zu ersetzen. Es war dem Einfluß des Christentums zuzuschreiben, daß das Wiederaufleben der antiken Philosophie in der abendländischen Welt am Beginn der Neuzeit nicht nur eine Wiederbelebung war, sondern auch eine Verwandlung bedeutete. Das gilt von der Erneuerung des Platonismus wie von der des Skeptizismus und des Stoizismus; es gilt von der Wiedergeburt der Künste und der Literatur, der Staatstheorie und der Religionsphilosophie. In allen diesen Fällen wurde die Negativität des spätantiken Lebensgefühls in eine positive christliche Haltung verwandelt, die sich in der Idee von der Schöpfung und der Inkarnation ausdrückt, und die auch vorhanden war, wo diese Ideen selbst ignoriert oder geleugnet wurden. Die geistige Substanz des Renaissance-Humanismus war christlich, ebenso wie die geistige Substanz des antiken Humanismus heidnisch war – trotz der Kritik, die der griechische Humanismus am Heidentum und der moderne Humanismus am Christentum übte. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Typen des Humanismus zeigt sich in den Antworten, die sie auf die Frage gaben, ob das Sein seinem Wesen nach gut ist oder nicht. Während das Symbol von der Schöpfung die klassische christliche Lehre ausdrückt, daß „das Sein als solches gut ist“ (esse qua esse bonum est), ist in der Lehre von der „widerstrebenden Materie“ in der griechischen Philosophie das heidnische Gefühl ausgedrückt, daß das Sein notwendigerweise zweideutig ist, da es sowohl an der schöpferischen Form wie an der widerstrebenden Materie teilhat. Dieser Gegensatz in den ontologischen Grundlagen hat entscheidende Folgen. Während die verschiedenen Formen des metaphysischen und religiösen Dualismus in der Spätantike mit dem asketischen Ideal, der Negation der Materie, verbunden waren, wurde in der Renaissance die asketische Haltung | durch die schöpferische Gestaltung der Materie ersetzt. Und während im Altertum die tragische Auffassung der Existenz Leben und Denken beherrschte, besonders die Haltung zur Geschichte, begann mit der Renaissance eine Bewegung, die auf die Zukunft und das Schöpferisch-Neue in ihr ausgerichtet war. Die Hoffnung trat an die Stelle des tragischen Lebensgefühls und der Fortschrittsglaube an die Stelle der Resignation in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Eine dritte Folge dieses fundamentalen ontologischen Unterschieds ist der Unterschied in der Bewertung des Individuums im antiken und im modernen Humanismus. Während das Altertum dem Individuum als solchem keinen Wert zuschrieb, sondern es als Re-
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präsentanten eines Universalen, z. B. einer Tugend, betrachtete, sah die Renaissance in dem Individuum als solchem einen einmaligen Ausdruck des Universums, der in sich unvergleichlich, unersetzbar und von unendlicher Bedeutung ist. Offensichtlich mußten diese Unterschiede wichtige Unterschiede in der Deutung des Mutes zur Folge haben. Damit meine ich hier nicht den Gegensatz von Resignation und Erlösung, denn auch der moderne Humanismus ist Humanismus und verwirft die Idee der Erlösung. Aber der moderne Humanismus verwirft auch die Idee der Resignation. Er setzt an ihre Stelle eine Art von Selbstbejahung, die über die stoische hinausgeht, indem sie die materielle, geschichtliche, individuelle Existenz einschließt. Trotzdem gibt es so viele Punkte der Übereinstimmung zwischen dem modernen und dem antiken Stoizismus, daß wir von einem Neostoizismus sprechen können. Sein Hauptrepräsentant ist Spinoza. Er hat wie kein anderer Philosoph die Ontologie des Mutes entwickelt. Indem er sein ontologisches Hauptwerk „Ethik“ nannte, wies er schon durch den Titel auf seine Absicht hin, die ontologische Grundlage für die moralische Existenz des Menschen, die auch den Mut zum Sein einschließt, darzustellen. Aber für Spinoza – wie für die Stoiker – drückt sich in dem Mut zum Sein nicht ein beliebiger Akt neben anderen aus, sondern der essentielle Akt alles dessen, was am Sein teilhat, nämlich die Selbstbejahung. Die Lehre von der Selbstbejahung ist von zentraler Bedeutung in Spinozas Philosophie und kommt in Lehrsätzen wie dem folgenden zum Ausdruck: „Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist weiter nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst“ (Ethik III, Lehrsatz 7).⁵⁶ Das lateinische Wort für Streben ist conatus, das Streben auf etwas hin. Dieses Streben ist weder eine zufällige Seite an einem Ding, noch ist es bloß ein Ele | ment seines Seins neben anderen, sondern es ist seine essentia actualis; das heißt, es macht ein Ding zu dem, was es ist, so daß, „wenn es aufgehoben wird, das Ding notwendig aufgehoben wird“ (Ethik II, Definition 2). Das Streben nach Selbstbewahrung oder Selbstbejahung macht ein Ding zum Ding. Spinoza nennt dieses Streben, das die Essenz eines Dinges ist, auch seine Kraft, und er sagt von der Seele, daß sie ihre eigene Wirkungskraft (ipsius agendi potentiam) bejaht oder setzt (affirmat sive ponit, Ethik III, Lehrsatz 54). So wird das wahre Wesen oder die Seinsmächtigkeit mit Selbstbejahung identifiziert. Und weitere Identifizierungen folgen: Die Seinsmächtigkeit wird mit der Tugend identifiziert und folglich mit der essentiellen Natur. Tugend ist die Kraft, ausschließlich so zu handeln, wie es der essentiellen Natur entspricht. Und der Grad der Tugend entspricht dem Grad, in dem der Mensch danach strebt und es ihm gelingt, sein eigenes Wesen zu bejahen. „Keine Tugend kann vor dieser (nämlich vor dem Streben nach Selbsterhaltung)
Spinoza: Ethik. (Übers. v. Otto Baensch) Philos. Bibliothek. Bd. 92. Leipzig 1922.
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begriffen werden“ (Ethik, IV, Lehrsatz 22). Selbstbejahung ist sozusagen Tugend schlechthin. Aber Selbstbejahung ist Bejahung der eigenen essentiellen Natur, und die Erkenntnis der eigenen essentiellen Natur wird durch die Vernunft vermittelt, die Kraft der Seele, richtige Ideen zu formen. Deshalb ist tugendhaft handeln nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft handeln, und das heißt, sein essentielles Sein oder seine wahre Natur bejahen (Ethik IV, Lehrsatz 24). Auf dieser Grundlage wird die Beziehung von Mut und Selbstbejahung beschrieben. Spinoza gebraucht dabei zwei Begriffe, fortitudo und animositas (Ethik III, Lehrsatz 59). Fortitudo ist (wie im scholastischen Sprachgebrauch) Seelenstärke, die Kraft zu sein, was man seinem Wesen nach ist. Animositas, von anima = Seele abgeleitet, ist Mut als Akt der totalen Person. Spinoza definiert sie folgendermaßen: „Unter animositas verstehe ich nämlich die Begierde (cupiditas), mit der jeder strebt, sein Sein allein nach dem Gebote der Vernunft zu erhalten“ (Ethik III, Lehrsatz 59, Anmerkung). Diese Definition könnte zu einer weiteren Identifizierung führen, nämlich der des Mutes mit der Tugend im allgemeinen. Aber Spinoza unterscheidet noch zwischen animositas und generositas, der Begierde, mit der jeder strebt, seine Mitmenschen zu unterstützen und sich in Freundschaft zu verbinden. Diese doppelte Bedeutung des Mutes als eines allumfassenden und eines begrenzten Begriffs entspricht der gesamten Entwicklung der Idee des Mutes, auf die wir hingewiesen haben. Dies ist in einer systematischen Philosophie von der Strenge und Folgerichtigkeit des Spinoza eine bemerkenswerte Tatsache und zeigt, daß die zwei Erkenntnis-Aspekte, die alle Lehren | vom Mut bestimmen, der universal-ontologische und der spezifischethische, auch hier zum Ausdruck kommen. Das hat für eines der schwierigsten ethischen Probleme, die Beziehung von Selbstbejahung und Liebe zu anderen Menschen, eine wichtige Folge. Für Spinoza ist diese in jener enthalten. Da Tugend und die Macht der Selbstbejahung identisch sind, und da generositas der Akt ist, durch den wir in einem wohlwollenden Affekt anderen entgegenkommen, kann kein Widerspruch zwischen Selbstbejahung und Liebe möglich sein. Das setzt natürlich voraus, daß die Selbstbejahung sich von der „Selbstsucht“ nicht nur unterscheidet, sondern daß sie ihr genaues Gegenteil ist. Selbstbejahung ist das ontologische Gegenteil von „Seinsreduktion“ durch Affekte, die der essentiellen Natur widersprechen. Erich Fromm hat den Gedanken ausführlich entwickelt, daß die rechte Selbstliebe und die rechte Liebe zu anderen voneinander abhängig sind. Spinozas Lehre von der Selbstbejahung schließt sowohl die rechte Selbstliebe wie die rechte Liebe zu anderen ein (obwohl er den Ausdruck „Selbstliebe“ nicht gebraucht und auch ich zögere, ihn zu gebrauchen). Selbstbejahung ist nach Spinoza Partizipation an der göttlichen Selbstbejahung: „Die Kraft, vermöge derer die Einzeldinge und folglich auch der Mensch ihr Sein erhalten, ist die Macht Gottes“ (Ethik IV, Lehrsatz 4). Die Partizipation der
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Seele an der göttlichen Macht wird unter den Begriffen der Erkenntnis und der Liebe beschrieben.Wenn die Seele sich sub specie aeternitatis erkennt, erkennt sie, daß sie in Gott ist (Ethik V, Lehrsatz 30). Und diese Erkenntnis von Gott und dem eigenen Sein in Gott ist die Ursache der vollkommenen Glückseligkeit und folglich einer vollkommenen Liebe zu der Ursache dieser Glückseligkeit. Diese Liebe ist geistig (intellectualis), da sie ewig ist und folglich ein Affekt, der den Leidenschaften, die mit der körperlichen Existenz verbunden sind, nicht unterworfen ist (Ethik V, Lehrsatz 34). Sie ist Partizipation an der unendlichen geistigen Liebe, mit der Gott sich selbst anschaut und liebt und im Sich-selbst-Lieben auch das liebt, was zu ihm gehört, die menschlichen Wesen. Diese Behauptungen enthalten die Antwort auf zwei Fragen nach dem Wesen des Mutes, die unbeantwortet geblieben waren. Sie erklären, warum Selbstbejahung die essentielle Natur jedes Wesens ist und folglich sein höchstes Gut. Vollkommene Selbstbejahung ist kein einzelner Akt, der seinen Ursprung im Individuum hat, sondern Partizipation an dem universalen oder göttlichen Akt der Selbstbejahung, der die ursprüngliche Kraft in jedem individuellen Akt ist. In diesem Gedanken hat die Ontologie des Mutes ihren fundamentalen Ausdruck gefunden. Und eine zweite Frage wird beantwortet, die Frage, welche Macht den Sieg über Be | gierde und Angst möglich macht. Die Stoiker hatten keine Antwort auf diese Frage. Spinoza findet auf Grund seiner jüdischen Mystik die Antwort in der Idee der Partizipation. Er weiß, daß ein Affekt nur durch einen anderen Affekt überwunden werden kann und daß der einzige Affekt, der die Affekte der Leidenschaften überwinden kann, der Affekt der Seele ist, die geistige oder intellektuelle Liebe der Seele zu ihrem eigenen ewigen Grund. Dieser Affekt ist Ausdruck der Partizipation der Seele an der göttlichen Selbstliebe. Der Mut zum Sein ist möglich, weil er Partizipation an der Selbstbejahung des Seins-Selbst ist. Eine Frage bleibt jedoch bei Spinoza wie bei den Stoikern unbeantwortet. Es ist die Frage, die Spinoza selbst am Ende seiner Ethik aufwirft. Warum, so fragt er, wird der Weg des Heils (salus), den er gezeigt hat,von den meisten Menschen nicht begangen? Und er antwortet mit dem melancholischen letzten Satz seines Buches: weil es ein schwerer Weg ist und wie alles Erhabene selten gefunden wird. Das war auch die Antwort der Stoiker; aber es ist nicht die Antwort der Erlösung, sondern die Antwort der Resignation.
Mut und Leben: Nietzsche Spinozas Begriff der „Selbstbewahrung“ stellt uns ebenso wie unser interpretierender Begriff der „Selbstbejahung“, wenn er ontologisch verstanden wird, vor eine schwierige Frage. Was bedeutet Selbstbejahung, wenn es kein Selbst gibt,
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zum Beispiel im anorganischen Bereich oder in der unendlichen Substanz, dem Sein-Selbst? Ist die Unmöglichkeit, weiten Bereichen der Wirklichkeit und dem Grund aller Realität Mut als Attribut zuzuschreiben, nicht ein Argument gegen die ontologische Interpretation des Mutes? Ist Mut nicht eine menschliche Qualität, die selbst den höheren Tieren nur als Analogie, aber nicht eigentlich zuerkannt werden kann? Ist dies nicht ein Beweis für die moralische und gegen die ontologische Interpretation des Mutes? Dieses Argument erinnert an ähnliche Argumente gegen fast alle metaphysischen Begriffe in der Geschichte des menschlichen Denkens. Gegen Begriffe wie Weltseele, Mikrokosmus, Instinkt, Wille zur Macht usw. ist eingewandt worden, daß sie dem objektiven Bereich der Dinge subjektive Qualitäten zuschreiben. Aber diese Einwände sind unzutreffend. Sie mißverstehen den Sinn ontologischer Begriffe. Es ist nicht die Funktion dieser Begriffe, die ontologische Natur der Wirklichkeit in Begriffen zu beschreiben, die der subjektiven oder objektiven Seite unserer gewöhnlichen Erfahrung entnommen sind. Die Funktion eines onto | logischen Begriffs ist, aus gewissen Bereichen der Erfahrung zu schöpfen, um auf Charakteristika des Seins-Selbst hinzuweisen, die über der Spaltung in Subjektivität und Objektivität liegen und deshalb nicht in wörtlich verstandenen Begriffen aus der einen oder der anderen Sphäre ausgedrückt werden können. Die Ontologie spricht in Analogien. Sein als Sein transzendiert die Subjektivität sowohl wie die Objektivität. Aber um es erkenntnismäßig zu erfassen, muß man Material aus beiden Bereichen gebrauchen; das ist berechtigt, weil beide in dem wurzeln, was sie transzendiert, im Sein-Selbst. Von diesem Standpunkt müssen die hier erwähnten Begriffe interpretiert werden. Sie dürfen nicht wörtlich, sondern müssen als Analogien verstanden werden. Das bedeutet nicht, daß sie willkürlich erfunden sind und ohne weiteres durch andere Begriffe ersetzt werden können. Ihre Wahl ist Sache der Erfahrung und der Überlegung und ist Kriterien unterworfen, die über das Maß ihrer Angemessenheit oder Unangemessenheit zu entscheiden haben. Das gilt auch von Begriffen wie Selbstbewahrung und Selbstbejahung, wenn sie ontologisch verstanden werden, und es gilt von allen Teilen einer Ontologie des Mutes. Selbstbeharrung und Selbstbejahung bedeuten logisch die Überwindung von etwas, das zumindest potentiell das Sein bedroht oder verneint. Für dieses „etwas“ gibt es weder im Stoizismus noch im Neostoizismus eine Erklärung, obwohl es in beiden vorausgesetzt ist. Innerhalb des spinozistischen Systems erscheint es unmöglich, das Vorhandensein eines solchen negativen Elements zu begründen. Wenn alles mit Notwendigkeit aus der Natur der ewigen Substanz folgt, so hat kein Seiendes die Macht, die Selbstbewahrung eines anderen Seienden zu bedrohen. Alles ist, wie es ist, und Selbstbejahung ist eine übertriebene Bezeichnung für die einfache Identität eines Dinges mit sich selbst. Aber das ist gewiß nicht Spinozas Meinung. Er spricht von einer wirklichen Bedrohung und sogar von seiner Er-
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fahrung, daß die meisten Menschen dieser Bedrohung unterliegen. Er spricht von conatus, dem Streben nach Selbstverwirklichung, und von potentia, der Macht der Selbstverwirklichung. Dürfen diese Worte auch nicht wörtlich genommen werden, so dürfen sie doch nicht als bloße Metaphern beiseite geschoben werden: sie müssen als Analogien verstanden werden. Der Begriff der „Macht“ spielt in der Ontologie seit Plato und Aristoteles eine wichtige Rolle. Begriffe wie dynamis, potentia (Leibniz) als Bezeichnung für die wahre Natur des Seins bereiten Nietzsches Begriff des „Willens zur Macht“ vor ebenso wie die Bezeichnung der letzten Wirklichkeit als „Wille“ bei Augustin und Duns Scotus bis zu Böhme, Schelling und Schopenhauer. Der „Wille zur Macht“ vereinigt in sich beide Begriffe und muß im Sinne ihrer | ontologischen Bedeutung verstanden werden. Paradox ausgedrückt, könnte man sagen, daß Nietzsches „Wille zur Macht“ weder Wille noch Macht ist, nämlich weder Wille im psychologischen noch Macht im soziologischen Sinn des Wortes. „Wille zur Macht“ bezeichnet die Selbstbejahung des Lebens als Leben und schließt Selbstbewahrung und Wachstum ein. Der Wille strebt also nicht nach etwas, was er nicht hat, nach einem Objekt außerhalb seiner selbst, sondern setzt sich selbst in der doppelten Weise des Sich-Bewahrens und des SichTranszendierens. Das ist seine Macht, die zugleich Macht über sich selbst ist. Der „Wille zur Macht“ ist die Selbstbejahung des Willens als letzter Realität. Nietzsche ist der eindrucksvollste und einflußreichste Vertreter einer Philosophie, die man Lebensphilosophie nennen kann. „Leben“ in diesem Ausdruck bedeutet den Prozeß, durch den die Seinsmacht sich aktualisiert; und indem sie sich aktualisiert, überwindet sie das im Leben, was das Leben negiert, obwohl es zum Leben gehört. Man könnte es den Willen nennen, der dem Willen zur Macht entgegensteht. In dem Kapitel des „Zarathustra“ „Von den Predigern des Todes“ weist Nietzsche auf die verschiedenen Weisen hin, in denen das Leben in Versuchung geführt wird, in die Negation seiner selbst zu verfallen: „Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder ein Leichnam; und gleich sagen sie ‚das Leben ist widerlegt!‘ Aber nur sie sind widerlegt und ihr Auge, welches nur das Eine Gesicht sieht am Dasein.“ (Teil I, 9). Das Leben hat viele Gesichter, es ist zweideutig. Nietzsche hat diese Zweideutigkeit am besten im letzten Fragment der Fragmentensammlung, „Der Wille zur Macht“ benannt, beschrieben. Mut ist die Macht des Lebens, sich trotz dieser Zweideutigkeit zu bejahen, während die Negation des Lebens wegen ihrer Negativität ein Ausdruck der Feigheit ist. Aus diesen Voraussetzungen entwickelt Nietzsche eine Prophetie und Philosophie des Mutes in Opposition gegen ein Zeitalter der Mittelmäßigkeit und Dekadenz, das er kommen sah. Wie die älteren Philosophen betrachtet Nietzsche im „Zarathustra“ den Krieger (den er vom bloßen Soldaten unterscheidet) als ein hervorragendes Beispiel des Mutes. „,Was ist gut?‘ fragt ihr. Tapfer sein ist gut“ (I, 10), – nicht
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wünschen, lange am Leben zu bleiben und verschont zu werden, es nicht wünschen gerade aus Liebe zum Leben. Der Tod des Kriegers und des reifen Mannes soll für die Erde keine Lästerung sein (I, 21). Selbstbejahung ist Bejahung des Lebens und des Todes, der zum Leben gehört. Wie für Spinoza ist für Nietzsche Tugend Selbstbejahung. In dem Kapitel „Von den Tugendhaften“ (II, 5) heißt es: „Es ist euer Liebstes selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu | erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring.“ Diese Analogie beschreibt besser als irgendeine Definition den Sinn, den die Selbstbejahung in der Lebensphilosophie hat: Das Selbst hat sich, aber zugleich versucht es, sich zu erreichen. Hier wird Spinozas conatus zu einem dynamischen Begriff, wie man überhaupt sagen kann, daß Nietzsche eine Erneuerung Spinozas in dynamischen Begriffen ist: „Leben“ ist bei Nietzsche, was die „Substanz“ bei Spinoza war. Und das gilt nicht nur für Nietzsche, sondern für die meisten Lebensphilosophen. Die Wahrheit der Tugend liegt darin, daß das Selbst in der Tugend ist und daß die Tugend nicht etwas Äußeres ist, „ein Fremdes, … eine Bemäntelung“. „Daß euer Selbst in der Handlung sei, wie die Mutter im Kinde ist: das sei mir euer Wort von Tugend!“ (II, 5). Insofern Mut Bejahung des eigenen Selbst ist, ist er Tugend schlechthin. Das Selbst, dessen Selbstbejahung Tugend und Mut ist, ist das Selbst, das sich selbst überwindet: „Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir: ,Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muß‘.“ (II, 12). Durch den Sperrdruck der letzten Worte deutet Nietzsche an, daß sie eine Definition der essentiellen Natur des Lebens enthalten. „… siehe, da opfert sich Leben – um Macht!“ fährt er fort und sagt mit diesen Worten, daß für ihn Selbstbejahung Selbstverneinung einschließt, nicht um der Verneinung willen, sondern um der größtmöglichen Bejahung willen, um dessentwillen, was er „Macht“ nennt. Das Leben schafft und liebt, was es geschaffen hat, aber dann muß es sich dagegen wenden: „so will es mein Wille“. Deshalb ist es falsch, von einem „Willen zum Dasein“ oder gar von einem „Willen zum Leben“ zu sprechen, man muß vom „Willen zur Macht“ sprechen, das heißt zu mehr Leben. Das Leben, das gewillt ist, sich zu überwinden, ist das gute Leben, und das gute Leben ist das mutige Leben. Es ist das Leben der „mächtigen Seele“ und des „sieghaften Leibes“, dessen Selbst-Lust Tugend ist. Eine solche Seele verbannt „alles Feige; sie spricht: Schlecht – das ist feige“ (III, 10). Aber um diesen Adel zu erreichen, ist es nötig, zu gehorchen und zu befehlen und im Befehlen noch zu gehorchen. Dieser Gehorsam, der zum Befehlen gehört, ist das Gegenteil von Unterwürfigkeit. Diese ist Feigheit, die nicht wagt, sich einzusetzen. Das unterwürfige Selbst ist das Gegenteil des selbstbejahenden Selbst, auch wenn es sich einem Gott unterwirft. Es will dem Schmerz des Verletzens und Verletztwerdens entgehen. Das gehorsame Selbst dagegen ist das Selbst, das, wenn es sich selber
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befiehlt, „sich selber daran wagt“ (II, 12). Indem es sich selber befiehlt, wird es sich selber zum Richter und Opfer. Es befiehlt sich selber nach dem Gesetz des Lebens, dem Gesetz der | Selbst-Transzendierung. Der Wille, der sich selbst befiehlt, ist schöpferischer Wille. Er macht aus den Bruchstücken und Rätseln des Lebens ein Ganzes. Er blickt nicht zurück, er steht über dem schlechten Gewissen, er verwirft den „Geist der Rache“, der der Kern der Selbstanklage und des Schuldbewußtseins ist; er transzendiert die Versöhnung, denn er will Höheres – er ist der Wille zur Macht (II, 20). In ihm ist das mutige Selbst mit dem Leben selbst und seinem Geheimnis geeint (II, 12). Wir können Nietzsches Ontologie des Mutes mit dem folgenden Zitat abschließen: „Habt ihr Mut, o meine Brüder? … Nicht Mut vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Mut, dem auch kein Gott mehr zusieht? … Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, – wer mit Adlers-Krallen den Abgrund faßt: Der hat Mut“ (IV, 13). Diese Worte zeigen die andere Seite in Nietzsche, die ihn zum Existentialisten macht: den Mut, in den Abgrund des Nichtseins zu blicken in der totalen Einsamkeit dessen, der die Botschaft annimmt, daß „Gott tot ist“. Über diese Seite wird in den folgenden Kapiteln noch mehr zu sagen sein. An dieser Stelle müssen wir unseren historischen Überblick abbrechen, denn wir wollten keine Geschichte der Idee des Mutes geben. Wir verfolgten vielmehr einen anderen, doppelten Zweck. Als erstes sollte gezeigt werden, daß das ontologische Problem des Mutes die schöpferische Philosophie von Platos „Laches“ bis zu Nietzsches „Zarathustra“ beschäftigt hat, teils weil die moralische Seite des Mutes ohne seine ontologische Seite unverständlich bleibt, teils weil die Erfahrung des Mutes sich als höchst geeigneter Schlüssel für die ontologische Interpretation der Wirklichkeit erweist. Und zweitens sollte der historische Überblick das begriffliche Material für die systematische Behandlung des Problems des Mutes bereitstellen; hierzu gehört vor allem der Begriff der ontologischen Selbstbejahung, ihre Grundbedeutung wie ihre verschiedenen Interpretationen.
II Sein, Nichtsein und Angst Ontologie der Angst Der Sinn von Nichtsein Mut ist Selbstbejahung „trotz“, nämlich trotz alles dessen, was dazu beiträgt, das Selbst an der Bejahung seiner selbst zu hindern. Im Unterschied zur stoischneostoischen Lehre vom Mut haben die Lebensphilosophien das, wogegen sich Mut stellt, ernst genommen und positiv behandelt. Denn wird Sein als Leben oder Prozeß oder Werden verstanden, so ist Nichtsein ontologisch ebenso grundlegend wie Sein. Die Anerkennung dieser Tatsache bedeutet keine Entscheidung über die Priorität des Seins gegenüber dem Nichtsein, aber sie verlangt, daß dem Nichtsein in der Grundlegung der Ontologie ein Platz eingeräumt wird. Spricht man vom Mut als Schlüssel zum Verständnis des Seins-Selbst, so kann man sagen, daß dieser Schlüssel, indem er den Zugang zum Sein erschließt, zugleich das Sein und die Negation des Seins und ihre Einheit findet. Nichtsein ist einer der schwierigsten und umstrittensten Begriffe. Parmenides versuchte, ihn als Begriff abzuschaffen. Aber dazu mußte er das Leben opfern. Demokrit setzte den Begriff wieder ein und identifizierte ihn mit dem leeren Raum, um die Bewegung denkbar zu machen. Plato gebrauchte den Begriff des Nichtseins, weil ohne ihn der Gegensatz zwischen der Existenz und den reinen Wesenheiten unverständlich ist. In Aristoteles’ Unterscheidung von Materie und Form ist er impliziert. Plotin konnte mittels dieses Begriffs den Selbstverlust der menschlichen Seele beschreiben, und Augustin konnte mit seiner Hilfe eine ontologische Interpretation der menschlichen Sünde geben. Bei Dionysios Areopagita wurde das Nichtsein zum Prinzip seiner mystischen Gotteslehre. Der protestantische Mystiker und Lebensphilosoph Jakob Böhme stellte die klassische These auf, daß alle Dinge in einem Ja und einem Nein wurzeln. In Leibniz’ Lehre von der Endlichkeit und vom Bösen und in Kants Analyse der Endlichkeit der kategorialen Formen ist das Nichtsein vorausgesetzt. Hegels Dialektik macht die Negation zur dynamischen Kraft in Natur und Geschichte, | und die Lebensphilosophie gebraucht seit Schelling und Schopenhauer den Begriff des Willens als ontologische Grundkategorie, weil er die Macht hat, sich zu negieren, ohne sich zu verlieren. Die Begriffe „Prozeß“ und „Werden“ bei Philosophen wie Bergson und Whitehead umfassen Nichtsein ebenso wie Sein. Der jüngere Existentialismus, besonders bei Heidegger und Sartre, hat das Nichtsein (das Nichts, le Néant) in das Zentrum des ontologischen Denkens gerückt, und Berdjajew, ein Schüler von Dionysios und Böhme, hat eine Ontologie des Nichtseins entwickelt, die die
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„meontische“ Freiheit in Gott und Mensch erklärt. Diese verschiedenen Weisen, in denen die Philosophie den Begriff des Nichtseins verwendet, können im Zusammenhang mit der religiösen Erfahrung von der Vergänglichkeit alles Geschaffenen und der Macht des „Dämonischen“ in der menschlichen Seele und der Geschichte gesehen werden. In der biblischen Religion haben diese Negativitäten einen entscheidenden Platz trotz der Schöpfungslehre; und das dämonische, widergöttliche Prinzip, das trotz seiner negativen Charakteristika an der Macht des Göttlichen partizipiert, tritt an den dramatischen Höhepunkten der biblischen Geschichte in Erscheinung. Angesichts dieser Situation ist es von geringer Bedeutung, daß einige Logiker das Nichtsein als Begriff leugnen und ihm keinen Platz in der Philosophie einräumen wollen, es sei denn in Form negativer Urteile. Denn die Frage ist: Was besagt die Tatsache negativer Urteile über die Natur des Seins? Was ist die ontologische Voraussetzung negativer Urteile? Was ist die Struktur eines Bereiches, in dem negative Urteile möglich sind? Gewiß ist Nichtsein kein Begriff wie andere. Es ist die Negation aller Begriffe; aber als solche ist es ein notwendiger Denkinhalt und, wie die Geschichte des Denkens zeigt, der wichtigste nach dem Sein-Selbst. Auf die Frage: Was ist das Verhältnis von Sein und Nichtsein? kann man nur in Metaphern antworten und sagen: Das Sein schließt sich selbst und das Nichtsein ein. Das Sein hat das Nichtsein in sich als das,was im Prozeß des göttlichen Lebens ewig gegenwärtig und ewig überwunden ist. Der Grund alles Seienden ist keine tote Identität ohne Bewegung und Werden, sondern er ist lebendiges Schaffen. Schaffend bejaht er sich selbst, indem er ewig sein eigenes Nichtsein überwindet. Das macht den Grund des Seins zum Urbild der Selbstbejahung alles Seienden und zur Quelle des Mutes zum Sein. Mut wird gewöhnlich als die Macht des Geistes, Furcht zu überwinden, beschrieben. Der Sinn von Furcht schien zu offensichtlich zu sein, als daß er eine Untersuchung erforderte. Aber in den letzten Jahrzehnten hat die Tiefenpsychologie in Zusammenarbeit mit der existentia | listischen Philosophie zu einer scharfen Unterscheidung zwischen Furcht und Angst geführt und zu einer genaueren Definition beider Begriffe. Soziologische Analysen der Gegenwart haben auf die Bedeutung der Angst als Gruppenphänomen hingewiesen. Literatur und Kunst haben die Angst zu einem Hauptanliegen ihrer Schöpfungen gemacht, das sowohl im Inhalt wie im Stil zum Ausdruck kommt. Die Wirkung war das Bewußtwerden der eigenen Angst, zumindest bei den Gebildeten, und das Eindringen von Vorstellungen und Symbolen, die sich auf die Angst beziehen, ins öffentliche Bewußtsein. Heute ist es zum Klischee geworden, unsere Zeit ein „Zeitalter der Angst“ zu nennen. Das gilt in gleichem Maße von Amerika wie von Europa.
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Trotzdem ist es für eine Ontologie des Mutes notwendig, eine Ontologie der Angst zu entwerfen, da beide voneinander abhängig sind. Und es ist zu erwarten, daß im Lichte einer Ontologie des Mutes fundamentale Aspekte der Angst sichtbar werden. Die erste Aussage, die man über das Wesen der Angst machen muß, ist folgende: Die Angst ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins. „Existentiell“ in diesem Satz bedeutet, daß nicht das abstrakte Wissen vom Nichtsein Angst erzeugt, sondern die Erfahrung, daß das Nichtsein Teil des eigenen Seins ist. Nicht die Einsicht in die universale Vergänglichkeit, auch nicht die Erfahrung des Todes anderer, sondern die Wirkung, die diese Ereignisse auf das immer latente Wissen um unser eigenes Sterbenmüssen haben, erzeugt die Angst. Angst ist Endlichkeit erfahren als unsere eigene Endlichkeit. Das ist die natürliche Angst des Menschen als Mensch und in gewisser Weise die Angst aller Lebewesen. Es ist die Angst vor dem Nichtsein, das Gewahrwerden der Endlichkeit als eigener Endlichkeit.
Die wechselseitige Abhängigkeit von Furcht und Angst Angst und Furcht haben die gleiche ontologische Wurzel, aber in der Aktualität sind sie nicht das gleiche. Das ist allgemein bekannt, ist aber in einem Maße betont und überbetont worden, daß eine Reaktion dagegen einsetzen kann, die nicht nur die Übertreibungen, sondern auch die Wahrheit dieser Unterscheidung gefährden würde. Furcht hat im Unterschied zu Angst – und darin herrscht allgemeine Übereinstimmung – ein bestimmtes Objekt, dem man sich stellen, das man analysieren, bekämpfen, ertragen kann. Man kann sich mit ihm auseinandersetzen und, indem man dies tut, an ihm partizipieren, sei es selbst in Form eines Kampfes. Auf diese Weise kann man es in die eigene Selbst | bejahung hineinnehmen. Der Mut kann jedem Objekt der Furcht begegnen, eben weil es ein Objekt ist und Partizipation ermöglicht. Der Mut kann die Furcht, die von einem bestimmten Objekt erzeugt wird, in sich hineinnehmen, weil dieses Objekt, so furchtbar es sein mag, eine Seite hat, mit der es an uns und wir an ihm partizipieren. Man kann sagen, daß die Liebe die Furcht, solange es ein Objekt der Furcht gibt, in der Partizipation besiegen kann. Aber so steht es nicht mit der Angst, denn Angst hat kein Objekt oder, paradox ausgedrückt, ihr Objekt ist die Negation jedes Objekts. Deshalb sind in bezug auf Angst Partizipation, Kampf und Liebe unmöglich.Wer in Angst ist, ist ihr, insofern sie reine Angst ist, hilflos ausgeliefert. Die Hilflosigkeit im Zustand der Angst kann bei Tieren und Menschen gleichermaßen beobachtet werden. Sie drückt sich in Richtungsverlust aus oder in falschen Reaktionen, im Mangel an „Intentionalität“
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(dem Bezogensein auf sinnvolle Inhalte der Erkenntnis oder des Willens). Der Grund für dieses auffallende Verhalten ist das Fehlen eines Objekts, auf das sich das Subjekt im Zustand der Angst konzentrieren kann. Das einzige Objekt ist die Bedrohung selbst, nicht die Wurzel der Bedrohung, denn die Wurzel der Bedrohung ist das Nichts. Man könnte fragen, ob dieses drohende Nichts nicht das Unbekannte, die noch unbestimmte Möglichkeit einer wirklichen Bedrohung sei. Hört die Angst nicht in dem Augenblick auf, in dem ein Objekt der Furcht erkennbar wird? Angst wäre also die Furcht vor dem Unbekannten. Aber das wäre eine unzureichende Erklärung der Angst; denn es gibt unzählige Bereiche des Unbekannten – verschiedene für verschiedene Menschen, denen man ohne Angst entgegentreten kann. Es ist ein Unbekanntes besonderer Art, dem man mit Angst begegnet. Es ist das Unbekannte, das nicht gekannt werden kann auf Grund seines eigensten Wesens, da es das Nichtsein ist. Furcht und Angst sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Sie sind einander immanent: Der Stachel der Furcht ist Angst, und die Angst strebt zur Furcht. Furcht fürchtet sich vor etwas, einem Schmerz, der Ablehnung durch eine Person oder Gruppe, dem Verlust einer Sache oder eines Menschen, dem Augenblick des Sterbens. Aber in der Antizipation der Bedrohung, die diese Dinge enthalten, ist das Furchterregende nicht die Negativität selbst, die sie über das Subjekt bringen, sondern die Angst vor den möglichen Implikationen dieser Negativität. Ein hervorragendes Beispiel – und mehr als ein Beispiel – ist die Furcht vor dem Sterben. Insoweit sie Furcht ist, ist ihr Objekt das antizipierte Ereignis des Sterbens an Krankheit oder durch Unfall, der antizipierte | Todeskampf und der Verlust aller Dinge, den das Sterben mit sich bringt. Insoweit sie Angst ist, ist ihr Objekt das absolut unbekannte „Nach dem Tode“, das Nichtsein, das Nichtsein bleibt, selbst wenn es mit Bildern aus unserer gegenwärtigen Erfahrung ausgefüllt wird. Die Träume, von denen Hamlet in dem Monolog „Sein oder Nichtsein“ sagt, daß sie uns im Todesschlaf kommen mögen, machen „Feige aus uns allen“ und sind so fürchterlich nicht wegen ihres offenbaren Inhalts, sondern weil sie die Bedrohung durch das Nichts symbolisieren, in religiöser Sprache: die Drohung des „ewigen Todes“. Die Symbole der Hölle, die Dante geschaffen hat, erregen Angst nicht durch ihre bildhafte Darstellung, sondern weil sie das Nichts ausdrücken, dessen Macht in der Angst vor der Schuld erlebt wird. Jeder einzelnen Situation, die im „Inferno“ beschrieben wird, könnte der Mut durch Partizipation und Liebe begegnen. Aber der Sinn dieser Bilder liegt eben darin, daß sie nicht wirkliche Situationen beschreiben, sondern das Gegenstandslose, das Nichtsein, symbolisieren. Das Element der Angst in jeder Furcht ist durch die Furcht vor dem Tode bestimmt. Angst, wenn sie nicht durch die Furcht vor einem Objekt gemäßigt ist,
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Angst in ihrer Nacktheit, ist immer Angst vor dem letzten Nichtsein. Oberflächlich betrachtet, ist Angst das schmerzliche Gefühl, mit der Drohung einer besonderen Situation nicht fertig werden zu können. Aber eine genauere Analyse zeigt, daß in jeder Angst vor einer besonderen Situation die Angst vor der menschlichen Situation als solcher enthalten ist. Die Angst, die jeder Furcht zugrunde liegt und das furchterregende Element in ihr ausmacht, ist die Angst, das eigene Sein zu verlieren. In dem Augenblick, in dem die „nackte Angst“ die Seele ergreift, hören die ehemaligen Objekte der Furcht auf, bestimmte Objekte zu sein. Sie erscheinen als das, was sie teilweise immer schon waren, als Symptome der Grundangst des Menschen. Als solche entziehen sie sich auch noch dem mutigsten Angriff auf sie. Diese Situation treibt das von Angst ergriffene Wesen dazu, Gegenstände der Furcht zu schaffen. Die Angst strebt danach, zur Furcht zu werden, denn der Furcht kann durch Mut begegnet werden. Einem endlichen Wesen ist es unmöglich, die nackte Angst länger als einen Augenblick zu ertragen. Menschen, die solche Augenblicke erlebt haben wie gewisse Mystiker in ihren Visionen von der „Nacht der Seele“ oder Luther in der Verzweiflung über dämonische Anfechtungen oder Nietzsche-Zarathustra in der Erfahrung des „großen Ekels“, haben uns von ihrem unvorstellbaren Entsetzen berichtet. Dieses Entsetzen wird gewöhnlich dadurch vermieden, daß sich die Angst in Furcht verwandelt, was auch ihr Gegenstand sei. Der menschliche Geist schafft | sich nicht nur ständig Götzen, wie Calvin sagt, sondern auch ständig Gegenstände der Furcht – jene, um Gott zu entfliehen, diese, um der Angst zu entfliehen; das eine steht in Beziehung zum andern. Denn dem Gott, der wirklich Gott ist, gegenüberzustehen, bedeutet zugleich, der absoluten Drohung des Nichtseins standzuhalten. Das „nackte Absolute“, um einen Ausdruck Luthers zu gebrauchen, erzeugt „nackte Angst“; denn es ist das Verlöschen aller endlichen Selbstbejahung und kein Gegenstand, dem Furcht und Mut begegnen können (siehe unten Teil V und VI). Aber letztlich sind die Versuche, die Angst in Furcht zu verwandeln, vergebens. Die Grundangst, die Angst eines endlichen Wesens vor der Drohung des Nichtseins, kann nicht aufgehoben werden. Sie gehört zur Existenz selbst.
Typen der Angst Die drei Typen der Angst und das Wesen des Menschen Nichtsein ist abhängig von dem Sein, das es negiert. „Abhängig“ bedeutet zweierlei. Es weist als erstes auf die ontologische Priorität des Seins vor dem Nichtsein hin. Schon das Wort Nichtsein deutet sie an, und sie ist logisch notwendig. Es kann keine Negation geben ohne vorhergehende Bejahung, die negiert
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werden kann. Zwar kann man das Sein als Nicht-Nichtsein umschreiben und eine solche Umschreibung dadurch rechtfertigen, daß man auf das erstaunliche prärationale Faktum hinweist, daß „etwas“ ist und nicht „nichts“. Man könnte sagen, daß „Sein die Negation der uranfänglichen Nacht des Nichtseins“ ist. Aber dann muß man sich vergegenwärtigen, daß ein solches ursprüngliches Nichts weder „nichts“ noch „etwas“ wäre und daß es „nichts“ erst im Gegensatz zu „etwas“ wird, mit anderen Worten, daß der ontologische Rang des Nichtseins als Nichtsein abhängig vom Sein ist. Zweitens ist das Nichtsein abhängig von den besonderen Qualitäten des Seins. In sich selbst hat das Nichtsein keine Differenzierung von Qualitäten; es erhält sie erst durch Beziehung zum Sein: die Negation des Seins ist qualitativ bestimmt durch dasjenige im Sein, was negiert wird. Das ermöglicht es, von Qualitäten des Nichtseins und folglich von Typen der Angst zu sprechen. Bis jetzt haben wir den Ausdruck „Nichtsein“ ohne Differenzierung gebraucht, während wir bei der Erörterung des Mutes verschiedene Formen der Selbstbejahung erwähnten. Diese entsprechen verschiedenen Formen der Angst und sind nur in Korrelation zu ihnen verständlich. | Ich schlage vor, daß wir drei Typen der Angst unterscheiden entsprechend den drei Formen, in denen das Nichtsein das Sein bedroht. Das Nichtsein bedroht die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes. Das Nichtsein bedroht die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit. Das Nichtsein bedroht die moralische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Schuld, absolut in Form der Verdammung. Das Gewahrwerden dieser dreifachen Bedrohung ist Angst, die in drei Formen auftritt: als Angst vor dem Schicksal und vor dem Tode (kurz: die Angst vor dem Tode), als Angst vor der Leere und dem Sinnverlust (kurz: die Angst vor der Sinnlosigkeit) und als Angst vor der Schuld und der Verdammung (kurz: die Angst vor der Verdammung). In allen drei Formen ist die Angst existentiell in dem Sinne, daß sie zur Existenz als solcher gehört und nicht zu einem abnormen Geisteszustand wie die neurotische (und psychotische) Angst. Das Wesen der neurotischen Angst und ihre Beziehung zur existentiellen Angst sollen in einem besonderen Kapitel erörtert werden. Wir haben es jetzt mit den drei Formen der existentiellen Angst zu tun, zuerst mit ihrer Realität im Leben des Individuums, dann mit ihren sozialen Manifestationen in besonderen Epochen der abendländischen Geschichte. Wir müssen betonen, daß die Unterscheidung von Typen der Angst nicht bedeutet, daß sie einander ausschließen. Im ersten Kapitel haben wir z. B. gesehen, daß der Mut zum Sein, wie er bei den antiken Stoikern erscheint, nicht nur die Furcht vor dem Tode, sondern auch die Drohung der Sinnlosigkeit besiegt. Bei Nietzsche fanden wir, daß er, obwohl bei ihm die Drohung der Sinnlosigkeit die vorherrschende ist, leidenschaftlich gegen die Angst vor dem Tode und vor der Verdammung ankämpft. Alle Vertreter des klassischen Christentums betrachten Tod
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und Sünde als verbündete Gegner, gegen die der Glaubensmut ankämpfen muß. Die drei Formen der Angst (und des Mutes) sind einander immanent, aber gewöhnlich hat eine von ihnen das Übergewicht.
Die Angst vor Schicksal und Tod Schicksal und Tod sind die Formen, in denen unsere ontische Selbstbejahung vom Nichtsein bedroht wird. „Ontisch“, vom griechischen on = Sein abgeleitet, bedeutet hier die fundamentale Selbstbejahung eines Seienden in seinem einfachen Dasein. („Ontologisch“ bezeichnet die philosophische Analyse des Wesens des Seins.) Die Angst vor Schicksal und Tod ist fundamental, universal und unausweichlich. Alle Ver | suche, sie mit Argumenten aus dem Weg zu räumen, sind vergeblich. Selbst wenn die sogenannten Beweise für die „Unsterblichkeit der Seele“ Beweiskraft hätten (was sie nicht haben), könnten sie existentiell nicht überzeugen; denn existentiell ist sich jedermann bewußt, daß das biologische Verlöschen den völligen Verlust des Selbst mit sich bringt. Der einfache Geist weiß instinktiv, was die Ontologie wissenschaftlich formuliert: daß die Wirklichkeit die Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation besitzt und daß beim Verschwinden der einen Seite, der Welt, die andere Seite, das Selbst, ebenfalls verschwindet. Was bleibt, ist ihr gemeinsamer Grund, aber nicht ihre strukturelle Korrelation. Man hat beobachtet, daß die Angst vor dem Tode mit der Zunahme der Individualisierung zunimmt und daß Menschen in kollektivistischen Kulturen diesem Typ der Angst weniger ausgesetzt sind. Diese Beobachtung ist richtig, aber die Erklärung, daß es in kollektivistischen Kulturen die Grundangst vor dem Nichtsein nicht gebe, ist falsch. Der Unterschied gegenüber stärker individualisierten Zivilisationen wird dadurch hervorgerufen, daß der besondere Typ des Mutes, der den Kollektivismus charakterisiert (siehe unten, S. 68 ff), die Angst vor dem Tode mildert, solange er unerschüttert ist. Aber die Tatsache, daß der Mut durch innere und äußere (psychologische und rituelle) Handlungen und Symbole erst geschaffen werden muß, zeigt, daß auch im Kollektivismus die Grundangst überwunden werden muß. Ohne ihr zumindest potentielles Vorhandensein wären weder Kriege noch Strafgesetze in diesen Zivilisationen erklärlich. Gäbe es keine Furcht vor dem Tode, so bliebe die Bedrohung durch eine Strafe oder durch einen überlegenen Feind ohne Wirkung – was offensichtlich nicht der Fall ist. Der Mensch als Mensch ist sich in jeder Kultur der Drohung des Nichtseins voller Angst bewußt und bedarf des Mutes, um sich ihr gegenüber zu behaupten. Die Angst vor dem Tode ist der dauernde Horizont, innerhalb dessen die Angst vor dem Schicksal am Werk ist. Denn die Bedrohung der ontischen Selbstbejahung des Menschen ist nicht nur absolute Bedrohung durch den Tod, sondern auch
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relative Bedrohung durch das Schicksal. Allerdings überschattet die Angst vor dem Tode alle konkreten Formen der Angst und verleiht ihnen den letzten Ernst. Aber sie haben trotzdem eine gewisse Unabhängigkeit und üben in der Regel eine unmittelbarere Erschütterung aus als die Angst vor dem Tode. Die Bezeichnung „Schicksalsangst“ für diese ganze Gruppe von Ängsten legt den Nachdruck auf ein Element, das ihnen allen gemeinsam ist: ihre Zufälligkeit, die Unmöglichkeit, sie vorauszusagen und einen Sinn oder Zweck in ihnen zu entdecken. Das läßt sich in Begriffen der kategorialen Struktur | unserer Erfahrung beschreiben: Man kann auf die Zufälligkeit unseres zeitlichen Seins hinweisen, die Tatsache, daß wir in dieser und keiner anderen Zeit leben, unser Leben in einem zufälligen Augenblick beginnen und in einem zufälligen Augenblick beenden, ein Leben, das erfüllt ist mit Erfahrungen, die in Hinsicht auf Qualität und Quantität ebenfalls zufällig sind. Man kann auf die Zufälligkeit unseres räumlichen Seins hinweisen, die Tatsache, daß wir uns an diesem und keinem anderen Ort befinden, daß uns dieser Ort trotz seiner Vertrautheit fremd ist; auf die Zufälligkeit des Ortes – und das heißt unserer selbst –, von dem aus wir auf unsere Welt blicken, und die Zufälligkeit der Wirklichkeit, auf die wir blicken, d. h. unserer Welt. Beide könnten anders sein: darin liegt ihre Zufälligkeit, und diese erzeugt die Angst vor unserer räumlichen Existenz. Man kann auf die Zufälligkeit des Kausalzusammenhangs hinweisen, dessen Teil wir sind sowohl in bezug auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart, die Unbeständigkeit unserer Welt und die unbekannten Kräfte in der Tiefe unseres Selbst. Zufällig bedeutet nicht kausal indeterminiert, sondern bedeutet, daß die determinierenden Ursachen unserer Existenz keine letzte Notwendigkeit haben. Sie sind gegeben und können logisch nicht abgeleitet werden. Zufällig sind wir in das Gewebe kausaler Beziehungen hineingestellt. Zufällig sind wir durch sie in jedem einzelnen Augenblick bestimmt und zufällig werden wir von ihnen im letzten Augenblick unseres Lebens ausgestoßen. Schicksal bedeutet die Herrschaft der Zufälligkeit, und die Angst vor dem Schicksal wurzelt in dem Bewußtsein des endlichen Wesens, daß es in jeder Beziehung zufällig ist und keine letzte Notwendigkeit hat. Gewöhnlich wird Schicksal mit Notwendigkeit im Sinne einer unausweichlichen kausalen Determination identifiziert. Aber nicht die kausale Notwendigkeit macht das Schicksal zu einem Grund der Angst, sondern das Fehlen einer letzten Notwendigkeit, d. h. die Irrationalität, die undurchdringliche Dunkelheit des Schicksals. Die Bedrohung der ontischen Selbstbejahung des Menschen durch das Nichtsein ist absolut in der Drohung des Todes, relativ in der Bedrohung durch das Schicksal. Aber die relative Bedrohung ist nur Bedrohung, weil im Hintergrund die absolute Drohung steht. Das Schicksal würde keine unausweichliche Angst erzeugen, wenn nicht der Tod dahinter stünde. Und der Tod steht nicht erst im letzten Augenblick hinter dem Schicksal und seinen Zufälligkeiten, wenn wir aus der
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Existenz gestoßen werden, sondern in jedem einzelnen Augenblick der Existenz. Das Nichtsein ist allgegenwärtig und erzeugt Angst, selbst da, wo keine unmittelbare Todesdrohung vorhanden ist. Es steht hinter der Erfah | rung, daß wir, zusammen mit allen anderen Dingen, aus der Vergangenheit in die Zukunft getrieben werden, ohne je Gegenwart zu haben, in der wir ruhen könnten. Es steht hinter der Unsicherheit und Heimatlosigkeit unserer sozialen und individuellen Existenz. Es steht hinter der Bedrohung unserer Seinsmächtigkeit durch Schwäche, Krankheit und Unfälle. In all diesen Formen verwirklicht sich unser Schicksal, sie erzeugen in uns die Angst vor dem Nichtsein. Wir versuchen, die Angst in Furcht zu verwandeln und den Objekten, in denen die Bedrohung sich verkörpert, mutig zu begegnen. Das gelingt uns zum Teil; aber irgendwie sind wir der Tatsache gewahr, daß nicht die Schicksalsfälle, gegen die wir ankämpfen, die Angst erzeugen, sondern daß es die menschliche Situation selbst ist. Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es einen Mut zum Sein, einen Mut, sich zu bejahen trotz der Bedrohung, der die ontische Selbstbejahung des Menschen ausgesetzt ist?
Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Das Nichtsein bedroht den gesamten Menschen und bedroht deshalb zugleich mit seiner ontischen auch seine geistige Selbstbejahung. Geistige Selbstbejahung vollzieht sich in jedem Augenblick, in dem der Mensch innerhalb der verschiedenen Sinnsphären schöpferisch ist. Schöpferisch bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, originelle Werke schaffen wie das Genie, sondern durch spontanes Handeln und Reagieren am kulturellen Leben teilnehmen. Um geistig schöpferisch zu sein, muß man kein sogenannter schöpferischer Künstler, Wissenschaftler oder Staatsmann sein; aber man muß fähig sein, sinnvoll an ihren originellen Schöpfungen zu partizipieren. Eine solche Partizipation ist schöpferisch, weil sie, wenn auch in noch so geringem Maße, verwandelt, woran sie partizipiert. Ein gutes Beispiel ist schöpferische Verwandlung einer Sprache durch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Dichter oder Schriftsteller und den vielen, auf die er unmittelbar oder mittelbar einwirkt und die spontan auf ihn reagieren. Jeder, der schöpferisch in Sinnbezügen lebt, bejaht sich selbst, indem er an diesen Sinnbezügen teilhat. Er bejaht sich als einer, der die Wirklichkeit schöpferisch aufnimmt und verwandelt. Er liebt sich als einen, der am geistigen Leben teilhat und dessen Inhalte liebt. Er liebt sie, weil er sich in ihnen erfüllt und weil sie durch ihn verwirklicht werden. Der Wissenschaftler liebt sowohl die Wahrheit, die er entdeckt, als auch sich selber als ihr Entdecker: er ist ergriffen von dem Inhalt seiner Entdeckung. Dies ist, was man „geistige Selbstbejahung“ nennen kann. Und auch wenn er die Entdeckung nicht selbst gemacht hat, son-
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dern | nur an ihr teilnimmt, kann man immer noch von geistiger Selbstbejahung sprechen. Eine derartige Erfahrung setzt voraus, daß das geistige Leben ernst genommen wird, daß es uns unbedingt angeht. Und dies setzt wiederum voraus, daß in ihm und durch es sich letzte Realität manifestiert. Ein geistiges Leben, in dem dies nicht erfahren wird, ist bedroht vom Nichtsein in den beiden Formen, in denen es die geistige Selbstbejahung erschüttert, in Form der Leere und in Form der Sinnlosigkeit. Wir gebrauchen den Ausdruck „Sinnlosigkeit“ für die absolute und den Ausdruck „Leere“ für die relative Bedrohung der geistigen Selbstbejahung durch das Nichtsein. Sie sind ebensowenig identisch wie Todesdrohung und Schicksalsdrohung. Aber im Hintergrund der Leere steht die Sinnlosigkeit, wie im Hintergrund der Unbeständigkeit des Schicksals der Tod steht. Die Angst vor der Sinnlosigkeit ist die Angst vor dem Verlust dessen, was uns letztlich angeht, dem Verlust eines Sinnes, der allen Sinngehalten Sinn verleiht. Diese Angst wird durch den Verlust eines geistigen Zentrums erzeugt, durch das Ausbleiben einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wie symbolisch und indirekt diese Antwort auch sein mag. Die Angst vor der Leere wird durch die Drohung des Nichtseins gegen die besonderen Inhalte des geistigen Lebens erweckt. Ein Glaube bricht auf Grund äußerer Ereignisse oder innerer Prozesse zusammen; wir sind von der schöpferischen Teilnahme an einer Kultursphäre abgeschnitten; etwas ist uns nicht gelungen, wofür wir uns leidenschaftlich eingesetzt haben; wir werden aus der Hingabe an den einen Gegenstand zur Hingabe an einen anderen getrieben und wiederum an einen anderen, weil einer nach dem anderen seines Sinnes entleert wird und der schöpferische eros sich in Gleichgültigkeit oder Abneigung verwandelt. Alles wird versucht, und nichts ist befriedigend. Die traditionellen Inhalte, wie vortrefflich sie auch einmal erschienen, wie gepriesen und geliebt sie auch waren, verlieren ihre Macht, dem Heute einen Sinn zu verleihen; und die gegenwärtige Kultur kann ihn uns noch weniger geben.Voll Angst wenden wir uns von allen konkreten Inhalten ab und suchen nach einem letzten Sinn, nur um zu entdecken, daß es gerade der Verlust eines geistigen Zentrums war, was den konkreten Inhalten des geistigen Lebens den Sinn raubte. Aber ein geistiges Zentrum kann nicht bewußt geschaffen werden, ein solcher Versuch erzeugt nur tiefere Angst. Die Angst vor der Leere treibt zum Abgrund der Sinnlosigkeit. Leere und Sinnverlust sind Ausdruck für die Bedrohung des geistigen Lebens durch das Nichtsein. Diese Drohung ist potentiell mit der End | lichkeit des Menschen gegeben und in seiner Entfremdung aktualisiert. Sie kann als Zweifel beschrieben werden – Zweifel sowohl in seiner schöpferischen wie in seiner zerstörerischen Funktion. Der Mensch kann fragen, weil er von dem getrennt ist, nach
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dem er fragt, und zugleich an ihm partizipiert. In jeder Frage ist ein Element des Zweifels enthalten, nämlich das Bewußtsein eines Nichthabens. Im systematischen Fragen drückt sich systematischer Zweifel aus (z. B. der Zweifel des cartesianischen Typs). Diese Art des Zweifels ist eine Voraussetzung alles geistigen Lebens. Dieses ist nicht durch den Zweifel, der ein Element in ihm ist, bedroht, sondern durch den radikalen Zweifel. Wenn das Bewußtsein des Nichthabens das Bewußtsein des Habens völlig verschlingt, hört der Zweifel auf, methodisches Fragen zu sein und wird existentielle Verzweiflung. Auf dem Wege dahin versucht das geistige Leben sich so lange wie möglich zu behaupten, indem es sich an Überzeugungen klammert, die noch nicht untergraben sind, seien es Traditionen, autonome Ideen oder Gefühlswerte. Wenn es sich als unmöglich erweist, den Zweifel zu überwinden, so nimmt man ihn mutig auf sich, ohne seine Überzeugungen aufzugeben. Man nimmt das Wagnis auf sich, in die Irre zu gehen, und die Angst, die in diesem Wagnis liegt. Auf diese Weise vermeidet man die extreme Situation, bis sie sich nicht mehr vermeiden läßt und die Verzweiflung an der Wahrheit radikal wird. Dann sucht der Mensch einen anderen Ausweg. Der Zweifel entspringt der Trennung des Menschen vom Ganzen der Wirklichkeit, seinem Mangel an universaler Partizipation, der Isolierung seiner individuellen Existenz. Deshalb versucht der Mensch, aus dieser Situation auszubrechen und sich mit einem Überindividuellen zu identifizieren, seine Trennung und Selbstbezogenheit aufzugeben. Er flieht aus seiner Freiheit, Fragen zu stellen und selber Antworten zu suchen, in eine Situation, in der keine Fragen mehr gestellt werden können und ihm die Antworten auf seine früheren Fragen durch Autorität aufgezwungen werden. Um dem Wagnis des Fragens und Zweifelns zu entgehen, gibt er das Recht zu fragen und zu zweifeln auf. Er gibt sich selbst auf, um sein geistiges Leben zu retten. Er „flieht vor der Freiheit“ (Erich Fromm), um der Angst vor der Sinnlosigkeit zu entgehen. Nun ist er nicht mehr einsam, nicht mehr in existentiellem Zweifel, nicht mehr in Verzweiflung; er partizipiert an etwas und bejaht durch diese Partizipation die Inhalte seines geistigen Lebens. Der Sinn ist gerettet, aber das Selbst ist geopfert. Und da der Sieg über den Zweifel ein Opfer bedeutet, nämlich das Opfer der Freiheit des Selbst, hinterläßt er ein Stigma auf der wiedergewonnenen Freiheit in Form einer fanatischen | Selbstbehauptung. Fanatismus ist das Korrelat der geistigen Selbstaufgabe: die Angst, die der Mensch besiegen wollte, zeigt sich jetzt darin, daß er mit unmäßiger Heftigkeit jeden angreift, der ihm nicht beistimmt und durch seine Ablehnung Elemente in dem geistigen Leben des Fanatikers enthüllt, die dieser in sich unterdrücken muß. Weil er sie in sich selbst unterdrücken muß, muß er sie auch in dem anderen unterdrücken. Seine Angst zwingt ihn dazu, Andersdenkende zu verfolgen. Die Schwäche des
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Fanatikers liegt darin, daß diejenigen, die er bekämpft, eine geheime Gewalt über ihn ausüben, und dieser Schwäche muß er schließlich unterliegen. Es ist nicht immer persönlicher Zweifel, der ein System untergräbt und es seiner Ideen und Werte entleert. Es kann auch sein, daß diese Ideen und Werte nicht mehr verstanden werden und ihre ursprüngliche Macht verloren haben, die menschliche Situation auszudrücken und existentielle menschliche Fragen zu beantworten. (Das gilt weithin für die Dogmen und Symbole des Christentums.) Oder die geistigen Inhalte verlieren ihren Sinn, weil die Bedingungen der gegenwärtigen Zeit sich verändert haben seit den Zeiten, in denen diese Inhalte geschaffen wurden, so daß neue Inhalte geschaffen werden müssen. (Dies war weithin der Fall in bezug auf künstlerische Ausdrucksformen vor der industriellen Revolution.) In solchen Situationen unterliegen die geistigen Inhalte einem langsamen Abnutzungsprozeß, der zunächst kaum bemerkt wird, bis er so zunimmt, daß man sich seiner schockartig bewußt wird und schließlich in der Angst vor der Sinnlosigkeit endet. Ontische und geistige Selbstbejahung müssen voneinander unterschieden werden, können aber nicht voneinander getrennt werden. Das Wesen des Menschen schließt seine Beziehung zu Sinngehalten ein. Er ist nur dadurch Mensch, daß er in der Wirklichkeit – in seiner Welt und in sich selbst – Sinngehalte und Werte erkennt und gestaltet. Sein Sein ist geistig, auch noch in den primitivsten Ausdrucksformen primitiver menschlicher Wesen. In dem „ersten“ sinnvollen Satz ist aller Reichtum des geistigen Lebens potentiell gegenwärtig. Deshalb ist die Bedrohung des geistigen Lebens des Menschen eine Bedrohung seines Seins überhaupt. Diese Tatsache drückt sich am deutlichsten in dem menschlichen Verlangen aus, lieber die eigene ontische Existenz wegzuwerfen als die Verzweiflung über Leere und Sinnlosigkeit zu ertragen. Der „Todestrieb“ ist kein ontisches, sondern ein geistiges Phänomen. Freud hat diese Reaktion auf die Sinnlosigkeit der nie endenden und nie befriedigten libido mit der essentiellen Natur des Menschen identifiziert. Aber sie ist nur ein Ausdruck seiner existentiellen Selbstentfremdung und der Auflösung seines geistigen Lebens in Sinnlosigkeit. Wenn dagegen | die ontische Selbstbejahung durch das Nichtsein geschwächt ist, so können daraus geistige Indifferenz und Leere folgen, was zu einem Zirkel von ontischer und geistiger Negativität führt. Das Nichtsein droht von beiden Seiten, der ontischen und der geistigen, und wenn es die eine Seite bedroht, so bedroht es gleichzeitig auch die andere.
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Die Angst vor Schuld und Verdammung Das Nichtsein droht noch von einer dritten Seite, es bedroht die moralische Selbstbejahung des Menschen. Das Sein des Menschen, das ontische wie das geistige, ist ihm nicht nur gegeben, sondern ist ihm auch aufgegeben. Er ist dafür verantwortlich; im wörtlichen Sinn ist er aufgefordert zu antworten, wenn er gefragt wird, was er aus sich gemacht hat. Der ihn fragt, ist sein Richter, und das ist er selbst, er, der zugleich gegen sich selber steht. Aus dieser Situation entspringt die Angst, die in ihrer relativen Form Angst vor Schuld ist und in ihrer absoluten Form Angst vor Selbstverwerfung und Verdammung. Der Mensch ist seinem Wesen nach „endliche Freiheit“, d. h. Freiheit nicht im Sinne von Indeterminiertheit, sondern in dem Sinne, daß er sich selbst determinieren kann durch Entscheidungen, die er aus dem Zentrum seines Seins fällt. Als endliche Freiheit ist der Mensch frei innerhalb der Zufälligkeiten seiner Endlichkeit. Auch innerhalb dieser Grenzen ist von ihm gefordert, daß er sich zu dem macht, was er werden soll, d. h. daß er seine Bestimmung erfüllt. In jedem Akt moralischer Selbstbejahung trägt der Mensch zu der Erfüllung seiner Bestimmung bei, zu der Aktualisierung dessen, was er potentiell ist. Es ist Aufgabe der Ethik, das Wesen dieser Erfüllung in philosophischen oder theologischen Begriffen zu beschreiben. Aber was auch die Norm sein mag, die so beschrieben wird, der Mensch hat die Macht, gegen sie zu handeln, seinem essentiellen Wesen zu widersprechen, seine Bestimmung zu verfehlen. Und unter den Bedingungen der Entfremdung des Menschen von sich selbst ist dies eine Aktualität. Selbst in dem, was er als seine beste Tat betrachtet, ist das Nichtsein gegenwärtig und verhindert ihre Vollkommenheit. Eine tiefe Zweideutigkeit, die Verflochtenheit von Gut und Böse, durchdringt alles, was er tut, denn sie durchdringt sein persönliches Sein als solches. In seiner moralischen wie in seiner geistigen und seiner ontischen Selbstbejahung ist Nichtsein mit Sein gemischt. Das Bewußtsein dieser Zweideutigkeit ist Schuldbewußtsein. Der Richter, der er selbst ist und der gegen ihn selbst steht, er, der alles „mitweiß“ (conscientia), was er tut und ist, fällt ein negatives Urteil, das von ihm als Schuld erfahren wird. Die Angst vor der Schuld zeigt die | gleichen komplexen Charakteristika wie die Angst vor dem ontischen und geistigen Nichtsein. Sie ist in jedem Augenblick der moralischen Erfahrung gegenwärtig und kann zu völliger Selbstverurteilung treiben – zu dem Gefühl des Verdammtseins nicht durch äußere Bestrafung, sondern durch die Verzweiflung darüber, die eigene Bestimmung verfehlt zu haben. Um diese extreme Situation zu vermeiden, versucht der Mensch, die Angst vor der Schuld in sittliche Tat umzusetzen ohne Rücksicht auf ihre Unvollkommenheit und Zweideutigkeit. Mutig nimmt er das Nichtsein in seine moralische Selbstbejahung auf. Dies kann er, entsprechend der Dualität von tragischen und per-
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sönlichen Elementen in der menschlichen Situation, auf zweierlei Weise tun: er kann sich auf die Zufälligkeiten seines Schicksals stützen oder auf die Verantwortlichkeit seiner Freiheit. Der erste Weg kann zu einer Verachtung der negativen Urteile und der moralischen Forderungen, auf denen jene sich gründen, führen, der zweite Weg zum moralischen Rigorismus und zur Selbstzufriedenheit, die diesem entspringt. In beiden – gewöhnlich als Anomismus und Legalismus bezeichnet – bleibt die Angst vor der Schuld im Hintergrund bestehen und bricht immer wieder hervor, bis sie in der extremen Situation der moralischen Verzweiflung endet. Das Nichtsein im moralischen Bereich muß vom ontischen und geistigen Nichtsein unterschieden werden, kann aber nicht von diesen getrennt werden. Die Angst des einen Typs ist den Ängsten der anderen Typen immanent. Das berühmte Wort des Paulus über die „Sünde als Stachel des Todes“ weist darauf hin, daß die Angst vor der Schuld der Angst vor dem Tode immanent ist. Die Bedrohung durch Schicksal und Tod hat stets Schuldbewußtsein erweckt und es verstärkt. Die Drohung des moralischen Nichtseins wird immer in der Drohung des ontischen Nichtseins und durch dieses erfahren. Man hat die Zufälligkeiten des Schicksals moralisch erklärt: das Schicksal vollzieht das negative moralische Urteil, indem es das ontische Fundament der moralisch verurteilten Person erschüttert und möglicherweise zerstört. Die beiden Formen der Angst verursachen und verstärken sich gegenseitig. Auf die gleiche Weise sind geistiges und moralisches Nichtsein voneinander abhängig. Gehorsam gegen das moralische Gesetz, d. h. gegen das eigene essentielle Sein, schließt Leere und Sinnlosigkeit in ihren radikalen Formen aus. Haben die geistigen Inhalte ihre Macht verloren, so kann durch die Selbstbejahung der moralischen Persönlichkeit wieder ein Sinn gefunden werden. Der bloße Ruf zur Pflicht kann von der Leere erretten, während der Verfall des moralischen Bewußtseins den Boden für den fast unwiderstehlichen Einbruch des geistigen Nichtseins abgibt. | Andrerseits kann der existentielle Zweifel die moralische Selbstbejahung untergraben, indem er nicht nur jedes Moralprinzip, sondern auch den Sinn der moralischen Selbstbejahung selbst in den Abgrund der Skepsis versinken läßt. In diesem Fall wird der Zweifel als Schuld empfunden, während die Schuld zugleich vom Zweifel untergraben wird.
Die Bedeutung der Verzweiflung Die drei Typen der Angst sind derart ineinander verwoben, daß einer von ihnen zwar den jeweils herrschenden Charakter der Angst bestimmt, aber alle an dem Zustand der Angst teilhaben. Jeder von ihnen und ihre grundsätzliche Einheit sind existentiell, d. h. sie sind in der Existenz des Menschen als Menschen, in seiner
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Endlichkeit und seiner Entfremdung, enthalten. Sie nehmen radikalen Charakter an in der Situation der Verzweiflung, zu der sie alle beitragen.Verzweiflung ist eine letzte Situation oder eine „Grenzsituation“. Man kann nicht über sie hinausgehen. Ihr Wesen ist in dem Wort despair = ohne Hoffnung ausgedrückt. Ein Ausweg in die Zukunft ist nicht sichtbar. Das Nichtsein wird als absoluter Sieger empfunden; aber der Sieg hat eine Grenze: das Nichtsein wird als Sieger empfunden, und Empfinden setzt Sein voraus. Es ist genug Sein geblieben, um die unwiderstehliche Macht des Nichtseins zu empfinden, und dies ist die Verzweiflung in der Verzweiflung. Der Schmerz der Verzweiflung besteht darin, daß ein Sein seiner selbst bewußt wird als unfähig, sich gegen die Macht des Nichtseins zu bejahen. Folglich will es dieses Bewußtsein und dessen Voraussetzung, das Sein, das Subjekt des Bewußtseins, aufgeben. Es will sich selbst loswerden und vermag es nicht. Die Verzweiflung erscheint, in Form der Verdoppelung, als der verzweifelte Versuch, der Verzweiflung zu entfliehen. Wäre die Angst nur die Angst vor Schicksal und Tod, so wäre der freiwillige Tod der Ausweg aus der Verzweiflung. Der geforderte Mut wäre der Mut zum Nichtsein. Die endgültige Form der ontischen Selbstbejahung wäre der Akt der ontischen Selbstverneinung. Aber die Verzweiflung ist auch Verzweiflung über Schuld und Verdammung. Und hier gibt es keinen Ausweg, nicht einmal durch ontische Selbstverneinung. Der Selbstmord kann von der Angst vor Schicksal und Tod befreien – wie die Stoiker wußten, aber er kann nicht von der Angst vor Schuld und Verdammung befreien – wie die Christen wissen. Das ist eine höchst paradoxe Behauptung, so paradox wie das Verhältnis der moralischen Sphäre zur ontischen Existenz im allgemeinen. Aber es ist eine wahre Behauptung, von denen bezeugt, die die | totale Verzweiflung über die Verdammung erfahren haben. Es ist nicht möglich, die Unentrinnbarkeit der Verdammung in ontischen Begriffen auszudrücken, d. h. in Vorstellungen von der „Unsterblichkeit der Seele“. Denn jede ontische Behauptung muß die Kategorien der Endlichkeit verwenden, und die „Unsterblichkeit der Seele“ wäre die endlose Verlängerung der Endlichkeit und der Verzweiflung über die Verdammung (ein begrifflicher Widerspruch in sich selbst). Deshalb muß die Erfahrung, daß der Selbstmord kein Ausweg aus der Schuld ist, vom qualitativen Charakter der moralischen Forderung her und vom qualitativen Charakter seiner Verwerfung her verstanden werden. Schuld und Verdammung sind qualitativ, nicht quantitativ, unendlich. Sie haben unendliches Gewicht und können nicht durch einen endlichen Akt ontischer Selbstverneinung aus dem Wege geräumt werden. Das macht die Verzweiflung verzweifelt, nämlich unausweichlich. Es gibt keinen Ausweg aus ihr, wie Sartre in „Huis clos“⁵⁷ gezeigt hat.
In deutscher Übersetzung: „Geschlossene Gesellschaft“ oder „Bei geschlossenen Türen“.
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Auch die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit partizipiert an beiden Elementen der Verzweiflung, dem ontischen und dem moralischen. Insoweit sie Ausdruck der Endlichkeit ist, kann ihr durch ontische Selbstverneinung begegnet werden: die radikale Skepsis treibt zum Selbstmord. Insoweit sie eine Folge moralischer Auflösung ist, führt sie zu dem gleichen Paradox wie das moralische Element in der Verzweiflung: es gibt aus ihr keinen ontischen Ausweg. Das verhindert selbstmörderische Tendenzen in der Verzweiflung über Leere und Sinnlosigkeit, man erkennt ihre Vergeblichkeit. Im Hinblick auf diesen Charakter der Verzweiflung ist es verständlich, daß das ganze menschliche Leben als ein beständiger Versuch, der Verzweiflung zu entgehen, interpretiert wird. Dieser Versuch ist meistens erfolgreich. Extreme Situationen sind selten und werden von manchen vielleicht niemals erlebt. Die Analyse einer solchen Situation soll keine gewöhnliche menschliche Erfahrung aufzeigen, sondern extreme Möglichkeiten, in deren Licht die gewöhnlichen Situationen verstanden werden müssen. Wir sind uns nicht immer dessen bewußt, daß wir sterben müssen, aber wenn wir uns dessen bewußt werden, erfahren wir unser ganzes Leben anders. Ebenso ist die Angst, die Verzweiflung ist, nicht immer gegenwärtig; aber die seltenen Fälle, in denen sie gegenwärtig ist, bestimmen unser Verständnis der Existenz als ganzer. |
Epochen der Angst Die Unterscheidung der drei Typen der Angst wird durch die Geschichte der abendländischen Kultur gestützt. Wir finden, daß am Ende des Altertums die ontische Angst vorherrscht, am Ende des Mittelalters die moralische Angst und am Ende der Neuzeit die geistige Angst. Obwohl immer ein Typus der Angst vorherrscht, sind doch auch die anderen immer gegenwärtig und wirksam. Über das Ende des Altertums und seine Angst vor Schicksal und Tod haben wir in Verbindung mit der Analyse des stoischen Mutes genug gesagt. Der soziologische Hintergrund ist bekannt: der Konflikt zwischen den Großmächten, Alexanders Eroberung des Ostens, der Krieg zwischen seinen Nachfolgern, die Eroberung des Ostens und des Westens durch das republikanische Rom, die Verwandlung des republikanischen in das kaiserliche Rom durch Caesar und Augustus, die Tyrannis der nachaugusteischen Kaiser, die Vernichtung der unabhängigen Polis und der Nationalstaaten, die Ausrottung der ehemaligen Träger der aristokratisch-demokratischen Gesellschaftsstruktur, das Bewußtsein des Individuums, in den Händen von – natürlichen wie politischen – Mächten zu sein, die völlig außerhalb seiner Kontrolle und seines Einflusses liegen, all dies erzeugte eine ungeheure Angst und die Frage nach einem Mut, der der Bedrohung durch Schicksal und Tod
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begegnen kann. Zugleich machte die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit es vielen, vor allem den Gebildeten, unmöglich, ein Fundament für solch einen Mut zu finden. Von Anfang an vereinigte der antike Skeptizismus der Sophisten gelehrte und existentielle Elemente. In seiner spätantiken Form wurde er zur Verzweiflung über die Möglichkeit rechten Handelns und rechten Denkens. Diese Verzweiflung trieb die Menschen in die Wüste, wo die Notwendigkeit, Entscheidungen zu fällen – praktische wie theoretische –, auf ein Mindestmaß beschränkt ist. Die meisten von denen, die die Angst vor der Leere und die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit erlebten, versuchten, ihnen mit einer zynischen Verachtung der geistigen Selbstbejahung zu begegnen. Aber sie konnten die Angst nicht unter dem Deckmantel skeptischer Arroganz verbergen. Die Angst vor Schuld und Verdammung erfüllte die Gruppen, die sich in den Mysterienkulten mit ihren Entsühnungs- und Reinigungsriten zusammenfanden. Soziologisch waren diese Kreise von Eingeweihten nicht festzulegen. Zu den meisten wurden sogar Sklaven zugelassen. Jedoch wird in der gesamten nicht-jüdischen antiken Welt mehr die tragische als die persönliche Schuld empfunden. Schuld ist Verunreinigung der Seele durch den Einfluß des Materiellen und durch dämonische Mächte. | Deshalb bleibt die Angst vor der Schuld wie die Angst vor der Leere ein sekundäres Element innerhalb der beherrschenden Angst vor Schicksal und Tod. Erst unter der Einwirkung der jüdisch-christlichen Botschaft veränderte sich diese Situation, und zwar so radikal, daß die Angst vor Schuld und Verdammung gegen Ende des Mittelalters die entscheidende war.Wenn eine Epoche den Namen „Zeitalter der Angst“ verdient, so ist es die Zeit der Vorreformation und der Reformation. Die Angst vor Verdammung, symbolisch als „Zorn Gottes“ ausgedrückt und durch die Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer gesteigert, trieb die Menschen des späten Mittelalters von einem Versuch, ihre Angst zu überwinden, zum nächsten: Pilgerfahrten zu heiligen Stätten, wenn möglich nach Rom, asketische Übungen, zuweilen von äußerster Strenge, Verehrung von Reliquien, die oft massenweise angesammelt waren, das Aufsichnehmen von Kirchenstrafen und das Verlangen nach Ablaß, übertriebene Beteiligung an Messen und Bußübungen, häufiges Beten und Almosengeben. Kurzum, die Menschen fragten unablässig: Wie kann ich den Zorn Gottes beschwichtigen, wie kann ich der göttlichen Gnade teilhaftig werden, wie kann ich die Vergebung der Sünden erwirken? Diese vorherrschende Form der Angst umfaßte auch die beiden anderen Formen. Die personifizierte Gestalt des Todes erschien in der Malerei, in der Dichtung und in der Predigt. Aber es war der Tod in Vereinigung mit der Schuld. Tod und Teufel waren in den Angstvorstellungen dieser Zeit verbündet. Die Angst vor dem Schicksal kehrte unter dem Einfluß der Spätantike wieder. Fortuna wurde in der Kunst der Renaissance zu einem beliebten Symbol, und selbst die Reformatoren waren nicht frei von Astrologen-Aberglauben und -Furcht. Und die Angst vor dem
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Schicksal wurde noch gesteigert durch die Furcht vor dämonischen Mächten, die unmittelbar oder durch menschliche Wesen Krankheit, Tod und alle Arten von Zerstörung bewirkten. Zugleich wurde das Schicksal über den Tod hinaus auf eine vorletzte Stufe des Fegefeuers und eine letzte Stufe der Hölle oder des Himmels ausgedehnt. Die Dunkelheit des letzten Schicksals konnte jedoch nicht beseitigt werden; selbst die Reformatoren waren dazu nicht imstande, wie ihre Prädestinationslehre zeigt. In allen diesen Formen erscheint die Angst vor dem Schicksal als ein Element innerhalb der alles beherrschenden Angst vor der Schuld und des dauernden Bewußtseins von der drohenden Verdammung. Das späte Mittelalter war kein Zeitalter des Zweifels, und die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit trat nur zweimal in Erscheinung; beide Male war ihr Auftreten jedoch bemerkenswert und von Wichtigkeit | für die Zukunft. Das eine Mal trat sie in der Renaissance hervor, als der theoretische Skeptizismus wieder auflebte und die Frage nach dem Sinn einige der feinfühligsten Geister quälte. In Michelangelos Propheten und Sibyllen und in Shakespeares Hamlet finden sich Andeutungen einer potentiellen Angst vor der Sinnlosigkeit. Der andere Fall, in dem die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zum Ausdruck kam, waren die dämonischen Anfechtungen Luthers, die weder Versuchungen im moralischen Sinn noch Verzweiflung über die drohende Verdammung waren, sondern Erlebnisse, in denen der Glaube an sein Werk und seine Botschaft erschüttert und aller Sinn verloren war. Ähnliche Erfahrungen von der „Wüste“ oder der „Nacht der Seele“ finden sich häufig bei den Mystikern. Wir müssen jedoch betonen, daß in allen diesen Fällen die Angst vor der Schuld die vorherrschende blieb und daß erst, nachdem sich der Humanismus und die Aufklärung als religiöse Grundlage der abendländischen Welt durchgesetzt hatten, die Angst vor dem geistigen Nichtsein vorherrschend werden konnte. Die soziologische Voraussetzung der Angst vor Schuld und Verdammung, wie sie am Ende des Mittelalters herrschte, ist nicht schwer zu erkennen. Im allgemeinen kann man sagen, daß es die Auflösung der religiös fundierten mittelalterlichen Kultur und ihrer Schutz gewährenden Einheit war. Aber im einzelnen muß man auf das Aufkommen einer gebildeten Mittelklasse in den größeren Städten hinweisen. Dies waren Menschen, die versuchten, was bloß ein objektives, hierarchisches System von Lehren und Sakramenten gewesen war, in eigene Erfahrung und in persönlichen Glauben umzusetzen. Bei diesem Versuch wurden sie jedoch in geheimen oder offenen Konflikt mit der Kirche getrieben, deren Autorität sie noch anerkannten. Ferner muß man die Konzentration der politischen Macht bei den Fürsten und ihrer bürokratisch-militärischen Verwaltung erwähnen, die die Unabhängigkeit der unteren Schichten des Feudalsystems vernichtete. Man muß auf den Staatsabsolutismus hinweisen, der die Massen der unteren Klassen in Stadt und Land in „Untertanen“ verwandelte, deren einzige Pflicht war, zu
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arbeiten und zu gehorchen und die keine Macht hatten, der Willkür der absoluten Herrscher zu widerstehen. Man muß auf die Wirtschaftskatastrophen hinweisen, die mit dem Frühkapitalismus verbunden waren, mit dem Goldimport, der Enteignung der Bauern, usw. In all diesen Veränderungen, die oft beschrieben worden sind, ist es der Konflikt zwischen der Entwicklung unabhängiger Tendenzen innerhalb aller Gesellschaftsgruppen einerseits und dem Aufkommen einer absolutistischen Machtkonzentration andrerseits, der die Angst vor der | Schuld weitgehend zur beherrschenden gemacht hat. Der irrationale, fordernde, absolute Gott des Nominalismus und der Reformation ist zum Teil durch den sozialen, politischen und geistigen Absolutismus dieses Zeitalters geformt worden, und die Angst, die sein Bild erzeugt, ist ihrerseits zum Teil Ausdruck einer Angst, die ihre Wurzel in dem sozialen Grundkonflikt des verfallenden Mittelalters hat. Der Zusammenbruch des Absolutismus, die Entwicklung des Liberalismus und der Demokratie, das Aufkommen einer technischen Zivilisation, die alle gegnerischen Kräfte verdrängt, und der Beginn auch ihrer Auflösung – das sind die soziologischen Voraussetzungen für die dritte bedeutende Epoche der Angst. In ihr herrscht die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit vor. Wir sind vom geistigen Nichtsein bedroht. Auch die Drohungen des moralischen und ontischen Nichtseins sind vorhanden, aber sie sind mit den anderen Drohungen verbunden und sind nicht ausschlaggebend. Diese Situation ist von grundlegender Bedeutung für die Frage, die in diesem Buche behandelt wird. Deshalb erfordert sie eine eingehendere Analyse als die Formen der Angst, die in den beiden früheren Epochen herrschend waren, und muß in Korrelation zu der konstruktiven Lösung (vgl.Teil V und VI) betrachtet werden. Es ist bemerkenswert, daß alle drei Hauptformen der Angst am Ende einer Ära auftreten. Die Angst, die in ihren verschiedenen Formen potentiell in jedem Individuum vorhanden ist, wird allgemein, wenn die traditionellen Strukturen des Sinnes, der Macht, des Glaubens und der Ordnung zerfallen. Solange diese Strukturen bestehen, wird die Angst durch Partizipation des Individuums an einem System, in dem kollektiver Mut verkörpert ist, niedergehalten. Durch Partizipation an Institutionen und Lebensformen eines solchen Systems wird das Individuum zwar nicht von seinen persönlichen Ängsten befreit, aber es hat die Möglichkeit, sie mit allgemein bekannten Methoden zu überdecken. In Zeiten großer Umwälzungen sind diese Methoden jedoch nicht mehr wirksam. Konflikte zwischen dem Alten, das sich (oft durch neue Mittel) zu erhalten sucht, und dem Neuen, das das Alte seiner inneren Macht beraubt, erzeugen Angst in jeder Form. Das Nichtsein hat in einer solchen Situation ein doppeltes Gesicht, ähnlich den zwei Typen von Angstträumen, in denen sich vielleicht ein Bewußtsein von diesen beiden Aspekten des Nichtseins ausdrückt. Der eine Typ ist die Angst vor vernichtender Enge, der Unmöglichkeit des Entkommens und dem Schrecken, ge-
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fangen zu sein. Der andere Typ ist die Angst vor vernichtender Weite, vor dem unendlichen, gestaltlosen Raum, in | dessen Bodenlosigkeit man versinkt. Gesellschaftliche Situationen wie die beschriebenen besitzen sowohl den Charakter einer Enge ohne Ausweg wie den Charakter einer leeren, dunklen und unbekannten Weite. Diese beiden Gesichter der gleichen Realität erwecken in jedem Individuum, das ihrer ansichtig wird, latente Angst; und heute werden sie von den meisten Menschen gesehen.
III Pathologische Angst, Vitalität und Mut Das Wesen der pathologischen Angst Wir haben drei Formen der existentiellen Angst erörtert, die mit der menschlichen Situation als solcher gegeben sind. Die Frage einer nichtexistentiellen Angst, nämlich einer Angst, die das Ergebnis zufälliger Geschehnisse im menschlichen Leben ist, haben wir nur gestreift. Jetzt ist es Zeit, diese Frage systematisch zu behandeln. Natürlich kann eine Ontologie der Angst und des Mutes, wie sie in diesem Buch entwickelt wird, nicht versuchen, eine psychotherapeutische Theorie der neurotischen Angst aufzustellen. Eine Reihe von Theorien stehen zur Diskussion, und einige der führenden Psychotherapeuten, insbesondere Freud selber, haben verschiedene Erklärungen der neurotischen Angst gegeben. Ihnen allen gemeinsam ist folgende Feststellung: Angst ist das Ergebnis ungelöster Konflikte zwischen den Strukturelementen der Persönlichkeit, wie z. B. von Konflikten zwischen unbewußten Trieben und Normen, die sie verdrängen, von Konflikten zwischen verschiedenen Trieben, die das Zentrum der Persönlichkeit zu beherrschen suchen, von Konflikten zwischen einer Phantasiewelt und der Erfahrung der wirklichen Welt, von Konflikten zwischen dem Streben nach Größe und Vollkommenheit und dem Bewußtsein von der eigenen Geringfügigkeit und Unvollkommenheit, von Konflikten zwischen dem Wunsch, von anderen Menschen, von der Gesellschaft oder von dem Universum angenommen zu werden, und der Erfahrung des Verworfenseins, von Konflikten zwischen dem Willen zum Sein und der untragbaren Last des Seins, einem Konflikt, der den offenen oder versteckten Wunsch, nicht zu sein, erweckt. Wenn diese Konflikte unbewußt oder unterbewußt und uneingestanden sind oder wenn sie bewußt und ungelöst sind, dann machen sie sich in plötzlichen oder dauernden Angstzuständen bemerkbar. Gewöhnlich wird eine von diesen Erklärungen der Angst als die fundamentale betrachtet. Praktische und theoretische Analytiker suchen nach der Grundangst – nicht als kulturellem, sondern als psychologischem Phänomen. Aber den meisten von diesen Versuchen scheint ein Kriterium dafür zu fehlen, was das Grundphänomen und was das abgeleitete Phänomen ist. Jede von diesen Erklärungen | weist auf wirkliche Symptome und Grundstrukturen hin; aber wegen der Vielfalt des beobachteten Materials ist es gewöhnlich nicht überzeugend, wenn einem einzelnen Phänomen die Bedeutung eines Grundphänomens zugeschrieben wird. Ein weiterer Grund für die Verwirrung, in der sich die psychotherapeutische Theorie der Angst trotz ihrer glänzenden Einsichten befindet, ist das Fehlen einer klaren Unterscheidung zwischen existentieller und pathologischer Angst einerseits und zwischen den Hauptformen der existentiellen Angst andrerseits. Solche
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Unterscheidungen sind Sache der Ontologie und können durch tiefenpsychologische Analyse allein nicht gefunden werden. Nur im Lichte eines ontologischen Verständnisses der menschlichen Natur kann aus dem riesigen Material, das Psychologie und Soziologie liefern, eine konsequente und umfassende Theorie der Angst entwickelt werden. Die pathologische Angst ist ein Zustand, zu dem die existentielle Angst unter besonderen Bedingungen führt. Die allgemeine Natur dieser Bedingungen hängt von der Beziehung der Angst zu Selbstbejahung und Mut ab. Wir haben gesehen, daß die Angst danach strebt, Furcht zu werden, um einen Gegenstand zu haben, dem sie durch Mut begegnen kann. Der Mut löst die Angst nicht auf; da sie existentiell ist, kann sie nicht aufgelöst werden. Aber der Mut nimmt die Angst des Nichtseins in sich hinein. Mut ist Selbstbejahung „trotz“, nämlich trotz der Drohung des Nichtseins.Wer mutig handelt, nimmt in seiner Selbstbejahung die Angst des Nichtseins auf sich. Beide Präpositionen, „in“ und „auf“, sind hier metaphorisch gebraucht und weisen auf die Angst als ein Element innerhalb der Gesamtstruktur der Selbstbejahung hin, nämlich das Element, das der Selbstbejahung die Qualität des „trotzdem“ gibt und sie in Mut verwandelt. Angst treibt uns zum Mut, denn die Alternative ist Verzweiflung. Der Mut widersteht der Verzweiflung, indem er die Angst in sich hineinnimmt. Diese Analyse liefert den Schlüssel für das Verständnis der pathologischen Angst. Wem es nicht gelingt, die Angst auf sich zu nehmen, der kann die extreme Situation der Verzweiflung vermeiden, indem er in die Neurose ausweicht. Er bejaht sich noch, aber er bejaht sich als ein beschränktes Selbst. Die Neurose ist der Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht. Im neurotischen Zustand fehlt die Selbstbejahung nicht, sie kann sogar sehr stark und betont sein; aber das Selbst, das bejaht wird, ist ein reduziertes Selbst. Einigen oder vielen von seinen Potentialitäten wird keine Gelegenheit zur Verwirklichung gegeben, weil die Verwirklichung des Seins die Annahme des Nichtseins und die Angst vor dem Nichtsein einschließt. Wer einer machtvollen Selbstbejahung trotz der Angst vor dem Nichtsein | nicht fähig ist, wird zu einer ängstlichen, reduzierten Selbstbejahung gezwungen. Er bejaht ein Selbst, das weniger als sein essentielles oder potentielles Sein ist. Er opfert einen Teil seiner Potentialitäten, um die übrigen zu retten. Diese Struktur erklärt die Ambivalenz des neurotischen Charakters; er ist gegen die Drohung des Nichtseins empfindlicher als der normale Mensch. Und da das Nichtsein das Mysterium des Seins erschließt (vgl. Kap. VI), kann er schöpferischer sein als der Durchschnittsmensch. Die begrenzte Extensität seiner Selbstbejahung kann ausgeglichen werden durch größere Intensität, aber durch eine Intensität, die sich auf einen engen Kreis konzentriert und von einer verzerrten Beziehung zur Wirklichkeit begleitet ist. Selbst wenn die pathologische Angst psychotische Züge annimmt, kann sie schöpferische Augenblicke
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haben. Das Leben schöpferischer Menschen liefert dafür genügend Beispiele. Und wie das Beispiel der Besessenen im Neuen Testament zeigt, können sogar Menschen, die tief unter dem Durchschnitt stehen, Erleuchtungen haben, die die Massen und selbst die Jünger Jesu nicht haben: die tiefe Angst, die die Gegenwart Jesu hervorrief, enthüllte ihnen schon in der frühen Zeit seines Auftretens seinen messianischen Charakter. Die Geschichte der menschlichen Kultur beweist, daß die neurotische Angst die Mauern der gewöhnlichen Selbstbejahung immer wieder durchbricht und Schichten der Wirklichkeit erschließt, die gewöhnlich verdeckt sind. Das führt zu der Frage, ob die gewöhnliche Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen nicht noch begrenzter ist als die pathologische Selbstbejahung des Neurotikers und ob also der Zustand der pathologischen Angst und Selbstbejahung nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen ist. Es ist oft behauptet worden, daß in jedem Menschen neurotische Elemente vorhanden seien und daß der Unterschied zwischen der kranken und der gesunden Psyche nur quantitativ sei. Diese Theorie ließe sich durch den Hinweis auf den psychosomatischen Charakter der meisten Krankheiten und auf die Gegenwart von Krankheitselementen selbst im gesunden Körper stützen. Insoweit die psychosomatische Korrelation stichhaltig ist, ließe sie auf die Gegenwart von Krankheitselementen auch in der gesunden Psyche schließen. Die Frage ist, ob eine begrifflich scharfe Unterscheidung zwischen der neurotischen und der normalen Psyche möglich ist angesichts der Tatsache, daß die Wirklichkeit nur Übergangsstufen aufweist. Der Unterschied zwischen der gesunden (wenn auch potentiell neurotischen) und der neurotischen Persönlichkeit ist folgender: Die neurotische Persönlichkeit hat sich auf Grund ihrer größeren Sensibilität und folglich ihrer größeren Angst gegenüber dem Nichtsein mit einer | fixierten, wenn auch begrenzten und unrealistischen Selbstbejahung abgefunden. Das ist gleichsam die Festung, in die sie sich zurückgezogen hat und die sie mit allen Mitteln psychologischen Widerstandes gegen alle Angriffe verteidigt, gleich ob sie von der Wirklichkeit oder von dem Analytiker herrühren. Dieser Widerstand entbehrt nicht instinktiver Klugheit. Der Neurotiker ist sich der Gefahr einer Situation bewußt, in der seine begrenzte Selbstbejahung zusammenbricht, ohne daß eine realistische Selbstbejahung an ihre Stelle tritt. Dann besteht die Gefahr, daß er entweder in eine andere und besser verteidigte Neurose zurückfällt oder daß er mit dem Zusammenbruch seiner begrenzten Selbstbejahung in unbegrenzte Selbstverneinung, in Verzweiflung, verfällt. Bei der normalen Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen ist diese Situation anders. Auch hier ist die Selbstbejahung fragmentarisch. Der Durchschnittsmensch bewahrt sich vor der extremen Situation, indem er mutig den konkreten Objekten der Furcht entgegentritt. Er ist sich gewöhnlich des Nichtseins
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und der Angst in der Tiefe seiner Person nicht bewußt. Seine fragmentarische Selbstbejahung ist nicht fixiert und wird nicht gegen eine überwältigende Drohung der Angst verteidigt. Er ist der Wirklichkeit in weiteren Grenzen angepaßt als der Neurotiker; er ist diesem an Extensität überlegen, aber ihm fehlt die Intensität, die den Neurotiker zum schöpferischen Menschen machen kann. Seine Angst treibt ihn nicht zur Konstruktion einer eingebildeten Welt. Er bejaht sich in Übereinstimmung mit den Teilen der Welt, denen er begegnet und die nicht bestimmt umschrieben sind. Das macht ihn im Vergleich mit dem Neurotiker zu einem gesunden Menschen. Dieser ist krank und bedarf der Heilung, weil er sich in Konflikt mit der Wirklichkeit befindet. In diesem Konflikt wird er von der Wirklichkeit, die beständig in seine Verteidigungsstellung und die hinter ihr liegende Phantasiewelt einbricht, verletzt. Seine begrenzte und fixierte Selbstbejahung bewahrt ihn einerseits vor unerträglichen Anfällen von Angst und zerstört ihn andrerseits, indem sie ihn gegen die Wirklichkeit und die Wirklichkeit gegen ihn kehrt und so einen neuen unerträglichen Einbruch der Angst verursacht. Die pathologische Angst ist trotz ihrer schöpferischen Potentialitäten Krankheit und Gefahr und muß geheilt werden, indem sie in den Mut zum Sein hineingenommen wird, der extensive wie intensive Kraft hat. Es gibt eine Situation, in der die Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen neurotisch wird, nämlich wenn Veränderungen der Wirklichkeit, der er sich angepaßt hat, den fragmentarischen Mut bedrohen, mit dem er die gewohnten Gegenstände der Furcht gemeistert hat. Wenn | das geschieht – und es geschieht wiederholt in kritischen Epochen der Geschichte –, wird die Selbstbejahung pathologisch. Die Gefahren, die mit der Veränderung verknüpft sind, das Unbekannte dessen, was auf einen zukommt, die Dunkelheit der Zukunft, machen den Durchschnittsmenschen zum fanatischen Verteidiger der bestehenden Ordnung: er verteidigt sie so zwangsweise, wie der Neurotiker die Festung seiner Phantasiewelt verteidigt. Er verliert seine relative Offenheit der Wirklichkeit gegenüber, er erlebt eine ungeheure Tiefe der Angst. Und wenn er diese Angst nicht in seine Selbstbejahung hineinnehmen kann, verwandelt sie sich in Neurose. Das ist die Erklärung für die Massenneurosen, die gewöhnlich am Ende einer Ära auftreten. In derartigen Epochen ist die existentielle Angst in einem solchen Maße mit der neurotischen Angst gemischt, daß Historiker und Analytiker keine genaue Grenzlinie zwischen ihnen ziehen können. Wann zum Beispiel wird die Angst vor der Verdammung, die der Askese zugrunde liegt, pathologisch? Ist die Angst vor dem Dämonischen immer neurotisch oder gar psychotisch? Bis zu welchem Grade beruhen die zeitgenössischen existentialistischen Beschreibungen der menschlichen Situation auf neurotischer Angst?
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Angst, Religion und Medizin Diese Fragen führen zu einer Erörterung der Heilung, über deren Methoden Theologen und Mediziner sich widersprechen. Die Mediziner, vor allem die Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, behaupten meist, daß das Heilen der Angst ihre Aufgabe sei, da alle Angst pathologisch sei. Heilen bedeutet nach ihrer Ansicht, die Angst beseitigen, denn Angst ist Krankheit, meist im psychosomatischen, manchmal nur im psychologischen Sinn. Alle Formen der Angst können geheilt werden, und da die Angst keine ontologische Wurzel hat, gibt es keine existentielle Angst. Ärztliche Einsicht und ärztliche Hilfe – das ist die Schlußfolgerung – sind der Weg zum Mut zum Sein; der medizinische Beruf ist der einzige Heilberuf.Wenn diese extreme Stellung auch von einer immer geringeren Zahl von Ärzten und Psychotherapeuten vertreten wird, so bleibt sie theoretisch doch wichtig. Sie enthält implizit eine Auffassung von der Natur des Menschen, die explizit gemacht werden muß trotz des positivistischen Widerstandes gegen die Ontologie. Der Psychiater, der behauptet, daß Angst immer pathologisch sei, kann nicht leugnen, daß die Krankheit in der menschlichen Natur potentiell immer gegenwärtig ist. Er muß dem Vorhandensein von Endlichkeit, | Zweifel und Schuld in jedem menschlichen Wesen Rechnung tragen. Unter seiner eigenen Voraussetzung muß er die Universalität der Angst anerkennen. Er kann das Problem der menschlichen Natur nicht umgehen, da er bei der Ausübung seines Berufs zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen existentieller und pathologischer Angst unterscheiden muß. Das ist der Grund, warum Vertreter der Medizin im allgemeinen und der Psychotherapie im besonderen in immer stärkerem Maße eine Zusammenarbeit mit den Philosophen und Theologen verlangen. Und es ist der Grund dafür, daß sich durch diese Zusammenarbeit eine Praxis der Beratung entwickelt hat, die – wie jede angestrebte Synthese – sowohl gefährlich wie fruchtbar für die Zukunft ist. Die medizinische Wissenschaft bedarf einer Lehre vom Menschen, um ihre theoretische Aufgabe zu erfüllen; und sie kann keine Lehre vom Menschen finden ohne die beständige Zusammenarbeit mit allen Wissenschaften, deren Hauptgegenstand der Mensch ist. Der medizinische Beruf hat zum Ziel, dem Menschen zu helfen, einige seiner existentiellen Probleme zu lösen – nämlich diejenigen, die gewöhnlich als Krankheit bezeichnet werden. Aber er kann dem Menschen nicht helfen ohne die beständige Zusammenarbeit mit allen anderen Berufen, deren Zweck es ist, dem Menschen als Menschen zu helfen. Die Lehre vom Menschen sowie die Hilfe, derer er bedarf, sind Gegenstand der Zusammenarbeit unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten. Nur auf diese Art ist es möglich, das Wesen des Menschen, seine essentielle Selbstbejahung und seinen Mut zum Sein zu verstehen und zur Verwirklichung zu bringen.
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Theologie und praktische Seelsorge haben das gleiche Problem wie theoretische und praktische Medizin. Sie setzen eine Lehre vom Menschen und damit eine Ontologie voraus. Dies ist einer der Gründe, warum die Theologie immer wieder die Hilfe der Philosophie in Anspruch genommen hat trotz aller theologischen und populär-religiösen Proteste (die ein Gegenstück zu den Protesten der praktischen Medizin gegen eine Philosophie der Medizin bilden). In beiden Fällen macht die Notwendigkeit einer Lehre vom Menschen die Umgehung der Philosophie unmöglich. Deshalb haben sich Theologie und Medizin, sobald es sich um die Interpretation der menschlichen Existenz handelte, notgedrungen mit der Philosophie verbunden, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht. Zur Zeit werden sie sich dessen mehr und mehr bewußt, auch wenn ihr Verständnis des Menschen immer noch in entgegengesetzter Richtung liegt. Theologen und Seelsorger suchen die Zusammenarbeit mit Medizinern und Ärzten, und es sind bereits viele Formen der Zusammenarbeit entstanden. Aber das Fehlen einer | ontologischen Analyse der Angst und einer scharfen Unterscheidung zwischen existentieller und pathologischer Angst hindert zahlreiche Theologen und Pfarrer, sich mit voller Überzeugung dieser Zusammenarbeit anzuschließen. Viele Theologen sind nicht gewillt, die neurotische Angst ebenso zu betrachten wie körperliche Krankheiten, nämlich als ein Objekt ärztlicher Hilfe. Aber wenn einem Menschen, der pathologisch auf eine begrenzte Selbstbejahung fixiert ist, letzter Mut, der Mut des Glaubens, gepredigt wird, so kann das gefährliche Folgen haben. Entweder leistet der Neurotiker dem Inhalt der Predigt zwangsmäßig Widerstand und verhärtet sich darin; oder er benutzt den Inhalt, um seine neurotische Selbstbejahung zu verstärken und jede Begegnung mit der Wirklichkeit zu verhindern. Es ist für den Seelsorger eine Versuchung, die willige Annahme seiner Botschaft durch den Neurotiker als positives Zeichen zu begrüßen. Aber er sollte dieser Versuchung widerstehen. Die religiöse Begeisterung muß vom Standpunkt einer realistischen Selbstbejahung häufig mit Mißtrauen betrachtet werden. Die Selbstbejahung, die von der Religion erzeugt wird, zeigt häufig alle Merkmale der angstvollen Selbstbegrenzung und des Versuchs, die Religion zu neurotischer Selbstbehauptung zu benutzen. Und auch wenn die Religion nicht zu pathologischer Selbstreduktion verleitet oder diese nicht unmittelbar unterstützt, so kann sie doch die Offenheit des Menschen für die Wirklichkeit, vor allem die Wirklichkeit, die er selbst ist, verringern. Auf diese Weise kann die Religion eine potentiell neurotische Anlage unterstützen und verstärken. Diese Gefahren muß der Seelsorger erkennen, und er muß ihnen mit der Hilfe des Arztes oder des Psychotherapeuten zu begegnen suchen. Aus unserer ontologischen Analyse können gewisse Prinzipien für die gemeinsame Behandlung der Angst durch theologische und medizinische Wissenschaft abgeleitet werden. Als Grundprinzip muß gelten, daß die existentielle Angst
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in ihren drei Formen nicht das Anliegen des Arztes als Arzt ist, obgleich er sich ihrer bewußt sein muß; umgekehrt ist die neurotische Angst in allen ihren Formen nicht das Anliegen des Seelsorgers als Seelsorger, obgleich er ihrer bewußt sein muß. Der Seelsorger stellt die Frage nach einem Mut zum Sein, der die existentielle Angst in sich hineinnimmt. Der Arzt stellt die Frage nach einem Mut zum Sein, in dem die neurotische Angst überwunden wird. Aber die neurotische Angst ist, wie unsere ontologische Analyse gezeigt hat, die Unfähigkeit, die existentielle Angst auf sich zu nehmen. Deshalb umfaßt die Aufgabe des Seelsorgers auch die Aufgabe des Arztes. Aber keine von diesen Aufgaben ist völlig an die gebunden, die sie beruflich ausüben: der Arzt, besonders der Psychotherapeut, kann implizit Mut | zum Sein und die Kraft, die existentielle Angst auf sich zu nehmen, auf den Patienten übertragen. Aber er wird dadurch nicht zum Seelsorger, und er sollte niemals versuchen, diesen zu ersetzen. Er kann dem Patienten jedoch zu letzter Selbstbejahung verhelfen und so eine seelsorgerliche Funktion ausüben. Umgekehrt kann der Seelsorger oder irgendein anderer zum ärztlichen Helfer werden. Er wird dadurch kein Arzt, und kein Seelsorger sollte anstreben, als Seelsorger Arzt zu sein; aber er kann heilende Kraft für Geist und Körper ausstrahlen und so helfen, die neurotische Angst zu überwinden. Wenn dieses Grundprinzip auf die drei Hauptformen der existentiellen Angst angewandt wird, können andere Prinzipien daraus abgeleitet werden. Die Angst vor Schicksal und Tod erzeugt ein natürliches Streben nach Sicherheit. Weite Bereiche der Zivilisation dienen dem Zweck, dem Menschen Sicherheit gegen die Drohung von Schicksal und Tod zu geben. Er weiß, daß keine absolute und keine endgültige Sicherheit erreicht werden kann, er weiß auch, daß das Leben immer wieder Mut erfordert, eine gewisse oder sogar alle Sicherheit für eine volle Selbstbejahung aufzugeben. Trotzdem versucht er, die Macht des Schicksals und die Drohung des Todes so weit wie möglich einzuschränken. Die pathologische Angst vor Schicksal und Tod treibt den Menschen dazu, sich in einer Sicherheit zu verschanzen, die der Sicherheit eines Gefängnisses vergleichbar ist. Wer in einem solchen Gefängnis lebt, ist nicht fähig, die Sicherheit zu verlassen, die ihm die selbstauferlegten Beschränkungen gewähren. Aber diese Beschränkungen sind nicht auf ein volles Bewußtsein von der Wirklichkeit gegründet. Deshalb ist die Sicherheit des Neurotikers unrealistisch: er fürchtet, was er nicht zu fürchten braucht, und er hält für sicher, was nicht sicher ist. Die Angst, die er nicht auf sich nehmen kann, erzeugt in ihm Bilder, die kein Fundament in der Wirklichkeit haben, aber sie weicht vor dem Anblick der Dinge zurück, die er fürchten müßte. Der Neurotiker vermeidet besondere Gefahren, die kaum wirkliche sind, und er unterdrückt das Bewußtsein von der eigenen Sterblichkeit, obwohl sie eine immer gegenwärtige Realität ist. Furcht am unangebrachten Ort ist eine Folge der pathologischen Form der Angst vor Schicksal und Tod.
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Die gleiche Struktur kann in den pathologischen Formen der Angst vor Schuld und Verdammung beobachtet werden. Die normale existentielle Angst vor der Schuld treibt den Menschen zu dem Versuch, dieser Angst zu entgehen, indem er der Schuld entgeht. Moralische Selbstzucht und Gewohnheit sollen moralische Vollkommenheit schaffen, obwohl man im Innersten weiß, daß sie die Unvollkommenheit nicht beseitigen können, die mit der existentiellen Situation des Menschen, mit seiner | Entfremdung von seinem wahren Sein, gegeben sind. Neurotische Angst wirkt sich ebenso aus, aber auf eine beschränkte, fixierte und unrealistische Art. Die Angst davor, schuldig zu werden, der Schrecken in dem Bewußtsein, verdammt zu sein, sind so stark, daß sie verantwortliche Entscheidungen und jede Art moralischen Handelns fast unmöglich machen. Aber da Entscheidungen und Handlungen nicht zu vermeiden sind, werden sie auf ein Mindestmaß beschränkt, und hier glaubt man, absolut vollkommen handeln zu können. Der Bereich, innerhalb dessen sich die Handlungen vollziehen, wird gegen jede Aufforderung, ihn zu überschreiten, verteidigt. Auch hier hat die Entfremdung von der Wirklichkeit zur Folge, daß sich das Schuldbewußtsein am falschen Ort einstellt. Die moralische Selbstverteidigung des Neurotikers läßt ihn Schuld erblicken, wo keine oder nur eine sehr indirekte Schuld vorhanden ist. Aber das Bewußtsein von der wirklichen Schuld, die mit der existentiellen Selbstentfremdung des Menschen identisch ist, wird unterdrückt, weil der Mut fehlt, der es in sich aufnehmen könnte. Die pathologischen Formen der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zeigen ähnliche Charakteristika. Die existentielle Angst im Zweifel treibt den Menschen dazu, Gewißheit in Systemen von Sinnbezügen zu suchen, die durch Tradition und Autorität gestützt sind.Trotz des Elements des Zweifels, das mit der Endlichkeit der menschlichen Geistigkeit gegeben ist, und trotz der Drohung der Sinnlosigkeit, die mit der Entfremdung des Menschen gegeben ist, wird die Angst durch diese Methoden, Gewißheit zu schaffen und zu erhalten, verringert. Die neurotische Angst baut eine enge Festung der Gewißheit auf, die verteidigt werden kann und mit äußerster Hartnäckigkeit verteidigt wird. Die Macht des Menschen, Fragen zu stellen, wird unter diesen Bedingungen daran gehindert, aktuell zu werden, und wenn die Gefahr besteht, daß sie durch die Fragen anderer aktualisiert werden könnte, reagiert der Neurotiker mit fanatischer Abwehr. Aber die Festung der unbezweifelbaren Gewißheit ist nicht auf dem Fels der Wirklichkeit erbaut. Die Unfähigkeit des Neurotikers, ein richtiges Verhältnis zur Wirklichkeit zu finden, macht seinen Zweifel wie seine Gewißheit unrealistisch. Beide erscheinen bei ihm am falschen Ort. Er bezweifelt, was praktisch über dem Zweifel steht, und er glaubt Gewißheit zu haben, wo Zweifel angemessen wäre.Vor allem läßt er die Frage nach dem Sinn in ihrer universalen und radikalen Bedeutung nicht aufkommen. Die Frage ist in ihm, wie sie in jedem Menschen als Menschen unter den Bedingungen
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der existentiellen Entfremdung vorhanden ist, aber er kann sie nicht laut werden lassen, weil er den Mut nicht hat, die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen. | Die Analyse der pathologischen Angst in ihrem Verhältnis zur existentiellen Angst hat die folgenden Prinzipien erkennen lassen: 1. Die existentielle Angst hat ontologischen Charakter und kann nicht beseitigt werden, sondern muß in den Mut zum Sein hineingenommen werden. 2. Die pathologische Angst tritt auf, wenn das Selbst nicht fähig ist, seine Angst auf sich zu nehmen. 3. Die pathologische Angst treibt zu einer Selbstbejahung, die sich auf eine begrenzte, fixierte und unrealistische Basis stützt, und zu einer zwangsmäßigen Verteidigung dieser Basis. 4. Die pathologische Angst schafft sich in bezug auf die Angst vor Schicksal und Tod eine unrealistische Sicherheit; in bezug auf die Angst vor Schuld und Verdammung eine unrealistische Vollkommenheit; in bezug auf die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit eine unrealistische Gewißheit. 5. Die pathologische Angst ist, wenn sie als solche erkannt ist, Gegenstand ärztlicher Hilfe; die existentielle Angst ist Gegenstand priesterlicher Hilfe. Weder die ärztliche noch die priesterliche Funktion sind an ihre beruflichen Vertreter gebunden: der Seelsorger kann ein Heilender und der Psychotherapeut ein Priester sein, und jeder Mensch kann für den „Nächsten“ beides sein. Aber die Funktionen sollten nicht verwechselt werden, und ihre Vertreter sollten ihre Stellen nicht vertauschen. Beide haben die Aufgabe, dem Menschen zu helfen, zur vollen Selbstbejahung zu gelangen, den Mut zum Sein zu finden.
Vitalität und Mut Angst und Mut haben psychosomatischen Charakter. Sie sind zugleich biologische und psychologische Phänomene. Vom biologischen Standpunkt würde man sagen, daß Furcht und Angst die Wächter sind, die einem Lebewesen die Drohung des Nichtseins ankünden und in ihm Schutzvorkehrungen und Widerstand gegen diese Bedrohung veranlassen. Furcht und Angst müssen als Ausdruck der „Selbstbejahung auf der Hut“ betrachtet werden. Ohne vorausahnende Furcht und unwiderstehliche Angst könnte kein endliches Wesen existieren. Mut ist demgemäß die Bereitschaft, Negativitäten, die in der Furcht antizipiert werden, für eine reichere Posivität auf sich zu nehmen. Biologische Selbstbejahung bedeutet das Auf-sich-Nehmen von Not, Mühsal, Unsicherheit, Schmerz, möglicher Vernichtung. Ohne diese Selbstbejahung könnte Leben nicht bewahrt oder vermehrt werden. Je mehr Lebenskraft ein Sein hat, umso besser ist es imstande, sich trotz der Gefahren, die ihm durch Furcht und Angst angezeigt werden, zu bejahen. Jedoch würde es der biologischen Funktion von Furcht und Angst widerspre | chen,
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wenn der Mut ihre Warnungen mißachtete und Handlungen von unmittelbar selbstzerstörerischen Folgen veranlaßte. Das ist es, was Aristoteles mit seiner Lehre vom Mut als der rechten Mitte zwischen Feigheit und Kühnheit meinte. Die biologische Selbstbejahung setzt ein Gleichgewicht von Mut und Furcht voraus. Ein solches Gleichgewicht findet sich in allen Wesen, die fähig sind, ihr Sein zu erhalten und zu vermehren. Wenn die Warnungen der Furcht nicht mehr beachtet werden, wenn der Mut seine Kraft verloren hat, so geht das Leben unter. Der Trieb nach Sicherheit, Vollkommenheit und Gewißheit, den wir erwähnten, ist biologisch notwendig. Aber er wird biologisch zerstörerisch, wenn das Wagnis der Unsicherheit, der Unvollkommenheit und der Ungewißheit nicht mehr eingegangen wird. Ein Wagnis, das eine Grundlage in unserem Selbst und unserer Welt hat, ist biologisch gefordert; aber ein Wagnis, dem diese Grundlage fehlt, ist selbstzerstörerisch. Das Leben enthält sowohl Furcht wie Mut als Elemente des Lebensprozesses, in dem das Gleichgewicht zwischen ihnen zwar wechselt, aber essentiell bestehen bleibt. Solange das Leben ein solches Gleichgewicht besitzt, kann es dem Nichtsein widerstehen. Ungehemmte Furcht und ungehemmter Mut zerstören das Leben, das zu erhalten und zu vermehren die Funktion des Gleichgewichts zwischen Furcht und Mut ist. Ein Leben, das dieses Gleichgewicht besitzt und damit Seinsmächtigkeit hat, hat – in der Sprache der Biologie – Vitalität, das heißt Lebenskraft. Der rechte Mut wie die rechte Furcht müssen daher als Ausdruck einer vollkommenen Vitalität verstanden werden. Der Mut zum Sein ist eine Funktion der Vitalität. Schwindende Vitalität hat demnach schwindenden Mut zur Folge. Die Vitalität stärken heißt den Mut zum Sein stärken. Neurotischen Menschen und neurotischen Zeiten fehlt es an Vitalität. Ihre biologische Substanz hat sich zersetzt. Sie haben die Macht einer vollen Selbstbejahung, des Mutes zum Sein,verloren. Ob dies geschieht oder nicht, hängt von biologischen Prozessen ab, es ist biologisches Schicksal. Die Epochen eines geschwächten Mutes zum Sein sind Epochen der biologischen Schwäche in Individuen und in der Geschichte. Die drei Hauptepochen der ungehemmten Angst sind Epochen reduzierter Vitalität; sie treten am Ende einer Ära auf und können nur durch den Aufstieg vital starker Gruppen überwunden werden, die an die Stelle der vital geschwächten treten. Bis jetzt haben wir den biologischen Standpunkt vertreten, ohne kritische Einwände zu machen. Wir müssen nun die Gültigkeit seiner verschiedenen Behauptungen untersuchen. Die erste Frage, die gestellt werden muß, bezieht sich auf den bereits entwickelten Unterschied von | Furcht und Angst. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Furcht, die sich auf ein bestimmtes Objekt richtet, die biologische Funktion hat, Drohungen des Nichtseins anzukünden und Schutzund Widerstandsmaßnahmen zu veranlassen. Aber die Frage ist, ob das auch von der Angst gilt. Unsere biologische Erörterung hat sich vorwiegend des Ausdrucks
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„Furcht“ und nur ausnahmsweise des Ausdrucks „Angst“ bedient. Das war beabsichtigt; denn biologisch gesprochen, ist die Angst eher zerstörend als schützend. Die Furcht kann zu Maßnahmen führen, durch die wir die Objekte der Furcht meistern, aber die Angst kann das nicht, denn sie hat kein Objekt. Die Tatsache, auf die wir bereits hingewiesen haben, daß das Leben versucht, Angst in Furcht zu verwandeln, zeigt, daß die Angst biologisch ohne Nutzen ist und nicht als Schutz des Lebens erklärt werden kann. Sie führt vielmehr zu Verhaltensweisen, die das Leben gefährden. Deshalb transzendiert die Angst durch ihr Wesen als solches den biologischen Standpunkt. Der zweite Punkt, auf den hingewiesen werden muß, bezieht sich auf den Begriff der Vitalität. Die Bedeutung der Vitalität ist zu einem wichtigen Problem geworden, seit Faschismus und Nationalsozialismus die theoretische Betonung der Vitalität aufs Politische übertragen und im Namen der Vitalität die meisten Werte der westlichen Welt angegriffen haben. In Platos „Laches“ wird das Verhältnis von Mut und Vitalität in Form der Frage erörtert, ob Tiere Mut haben. Es läßt sich viel für eine positive Antwort sagen: das Gleichgewicht zwischen Furcht und Mut ist im tierischen Bereich gut ausgebildet. Tiere werden durch Furcht gewarnt, aber unter besonderen Bedingungen vergessen sie ihre Furcht und setzen sich Schmerz und Vernichtung aus für diejenigen, die Teil ihrer eigenen Selbstbejahung sind, ihre Jungen oder ihre Herde. Trotzdem verwirft Plato den tierischen Mut. Und das ist berechtigt, denn wenn der Mut das Wissen von dem ist, was wir vermeiden und was wir wagen sollen, dann kann der Mut nicht vom Menschen als rationalem Wesen getrennt werden. Vitalität, Lebensmacht, steht in Wechselbeziehung zu der Art des Lebens, der sie Macht gibt. Die Macht des menschlichen Lebens kann nicht getrennt werden von dem, was die mittelalterlichen Philosophen „Intentionalität“ nannten, nämlich der Ausrichtung auf Sinngehalte. Die Vitalität des Menschen ist so stark wie seine Intentionalität, beide sind voneinander abhängig. Das macht den Menschen zum vitalsten aller Lebewesen. Er kann jede gegebene Situation in jeder Richtung transzendieren, und diese Möglichkeit treibt ihn ständig dazu, über sich hinauszugehen. Vitalität ist die Macht, sich zu transzendieren, ohne sich zu verlieren. Je mehr Macht der Selbsttranszendierung ein Wesen hat, | um so mehr Vitalität hat es. Die Welt der Technik ist der sichtbarste Ausdruck für die Vitalität des Menschen und ihrer unendlichen Überlegenheit über die tierische Vitalität. Nur der Mensch hat vollständige Vitalität, weil er allein vollständige Intentionalität hat. Wir haben „Intentionalität“ als „Ausrichtung auf Sinngehalte“ definiert. Der Mensch lebt in Sinnbezügen, in dem, was gültig ist – in logischer, ästhetischer, ethischer, religiöser Hinsicht. Seine Subjektivität ist von Objektivität durchdrungen. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit sind die Strukturen von Selbst und
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Welt in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gegenwärtig. Der fundamentalste Ausdruck dieser Tatsache ist die Sprache, die dem Menschen die Macht gibt, von dem konkret Gegebenen zu abstrahieren und, nachdem er von ihm abstrahiert hat, zu ihm zurückzukehren, um es zu verstehen und umzuformen. Das vitalste Wesen ist das Wesen, welches das Wort besitzt und durch das Wort von der Verhaftung an das Gegebene befreit ist. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit ist der Mensch schon über diese Begegnung hinaus. Er weiß von ihr, er vergleicht sie mit anderen, er wird durch andere Möglichkeiten versucht, er nimmt die Zukunft voraus und er erinnert sich der Vergangenheit. Das ist seine Freiheit, und in dieser Freiheit besteht die Macht seines Lebens. Sie ist die Quelle seiner Vitalität. Wenn die Wechselbeziehung von Vitalität und Intentionalität recht verstanden wird, kann man die biologische Interpretation des Mutes innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit annehmen. Gewiß ist der Mut eine Funktion der Vitalität, aber die Vitalität ist nicht etwas, das von der Totalität des Menschen getrennt werden kann, von seiner Sprache, seiner schöpferischen Kraft, seinem geistigen Leben, von seinem letzten Anliegen. Es war eine der unglücklichsten Folgen der Intellektualisierung des geistigen Lebens, daß das Wort „Geist“ verloren ging und durch „Intellekt“ ersetzt wurde und daß das Element der Vitalität, das im Geist vorhanden ist, von ihm getrennt und als unabhängige biologische Kraft verstanden wurde. Der Mensch wurde so in einen blutlosen Intellekt und eine sinnleere Vitalität gespalten. Das verbindende Mittelglied, die geistige Seele, in der Vitalität und Intentionalität vereint sind, wurde nicht mehr gesehen. Am Ende dieser Entwicklung war es für den reduktiven Naturalismus leicht, Selbstbejahung und Mut von der rein biologischen Vitalität abzuleiten. Aber im Menschen gibt es nichts „rein Biologisches“, ebensowenig wie es etwas „rein Geistiges“ gibt. Jede Zelle seines Körpers partizipiert an seiner Freiheit und seiner Geistigkeit, und jeder Akt seiner geistigen Tätigkeit wird von seiner Vitalität genährt. | Diese Einheit ist in dem griechischen Wort areté vorausgesetzt. Es kann mit „Tugend“ übersetzt werden, aber nur, wenn die moralistischen Nebenbedeutungen von „Tugend“ ausgeschlossen werden. Der griechische Ausdruck vereint in sich Stärke und Wert, Seinsmächtigkeit und Sinnerfüllung. Der aretés ist der Träger hoher Werte, und die letzte Probe seiner areté ist seine Bereitschaft, sich für sie zu opfern. Sein Mut drückt ebenso sehr seine Intentionalität wie seine Vitalität aus. Es ist seine geistig geformte Vitalität, die ihn zum aretés macht. Hinter dieser Terminologie steht die antike Beurteilung des Mutes als etwas Edlem. Das Vorbild des mutigen Menschen ist nicht der sich selbst wegwerfende Barbar, dessen Vitalität nicht ganz menschlich ist, sondern der gebildete Grieche, der die Angst vor dem Nichtsein kennt, weil er den Wert des Seins kennt. Wir können hinzufügen, daß das lateinische Wort virtus und seine Ableitungen – der italienische Re-
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naissance-Begriff virtú und der englische Renaissance-Begriff virtue – eine ähnliche Bedeutung wie areté haben. Sie bezeichnen die Qualität derer, die männliche Stärke (vir-tus) mit sittlichem Adel vereinen. Vitalität und Intentionalität sind in diesem Ideal menschlicher Vollkommenheit vereint, das von Barbarei und Moralismus gleich weit entfernt ist. Im Lichte dieser Betrachtungen könnte man dem biologischen Standpunkt vorwerfen, daß er hinter dem, was die klassische Antike Mut nannte, zurückbleibt. Vitalismus im Sinne einer Trennung des Vitalen vom Intentionalen führt mit Notwendigkeit das Barbarische wieder als Ideal des Mutes ein. Obgleich dies im Namen der Wissenschaft geschieht, drückt es – gewöhnlich gegen die Absicht seiner naturalistischen Verteidiger – eine prähumanistische Haltung aus und kann, von Demagogen gebraucht, zu dem barbarischen Ideal des Mutes führen, wie es im Faschismus und Nationalsozialismus erschienen ist. „Reine Vitalität“ im Menschen ist niemals rein, sondern immer verzerrt, weil die Lebensmacht des Menschen seine Freiheit ist und seine Geistigkeit, in der Vitalität und Intentionalität geeint sind. Es gibt jedoch einen dritten Punkt in der biologischen Interpretation des Mutes, zu dem wir Stellung nehmen müssen: das ist die Antwort des Biologismus auf die Frage, woher der Mut zum Sein stammt. Die biologische Antwort lautet: aus der Vitalkraft, die ein natürliches Geschenk ist, eine Sache des biologischen Schicksals. Das gleicht der antiken und mittelalterlichen Antwort, in der eine Verbindung von biologischem und geschichtlichem Schicksal, die aristokratische Situation, als günstige Voraussetzung für die Entwicklung des Mutes betrachtet wurde. In beiden Fällen ist der Mut eine Möglichkeit, die nicht von Willenskraft oder Einsicht abhängt, sondern ein Geschenk ist, das dem | Handeln vorausgeht. Die tragische Weltanschauung der frühen Griechen und die deterministische Weltanschauung des modernen Naturalismus stimmen in diesem Punkt überein: die Macht zur „Selbstbejahung trotz“, d. h. der Mut zum Sein, ist eine Sache des Schicksals. Das verbietet nicht die moralische Bewertung des Mutes, aber es verbietet seine moralistische Bewertung: der Mut zum Sein kann nicht befohlen und nicht durch Gehorsam gegen ein Gebot gewonnen werden. Religiös gesprochen: er ist ein Geschenk der Gnade.Wie oft in der Geschichte des Denkens hat der Naturalismus den Weg zu einem neuen Verständnis der Gnade bereitet, während der Idealismus ein solches Verständnis verhindert hat.Von diesem Gesichtspunkt aus ist der biologische Standpunkt wichtig und muß ernst genommen werden, insbesondere von der Ethik, trotz der Verzerrung des Begriffs der Vitalität im biologischen wie im politischen Vitalismus. Die Wahrheit in der vitalistischen Interpretation der Ethik ist die Gnade. Mut ist Gnade – das ist ein Ergebnis und eine Frage.
IV Mut und Partizipation. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein Sein, Individuation und Partizipation Dies ist nicht der Ort, eine Lehre von der ontologischen Grundstruktur und der Elemente, die sie konstituieren, zu entwickeln. Das ist zum Teil in meiner „Systematischen Theologie“, Band I, Teil I, geschehen. Die hier angestellten Betrachtungen müssen sich auf die Ergebnisse jener Kapitel stützen, ohne deren Beweisführung zu wiederholen. Ontologische Prinzipien haben polaren Charakter gemäß der polaren Grundstruktur des Seins, der Selbst-Welt-Struktur. Die ersten polaren Elemente sind Individuation und Partizipation. Ihre Bedeutung für das Problem des Mutes ist offensichtlich, wenn Mut als Selbstbejahung des Seins trotz des Nichtseins definiert wird. Wenn wir fragen: Was ist das Subjekt dieser Selbstbejahung, müssen wir antworten: das individuelle Selbst, das an der Welt partizipiert, d. h. an dem strukturierten Universum des Seins. Die Selbstbejahung des Menschen hat zwei Seiten, die voneinander unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden können. Die eine Seite ist die Bejahung des Selbst als ein Selbst, nämlich als ein einzelnes, zentriertes, individualisiertes, unvergleichbares, freies, sich-selbst-bestimmendes Selbst. Das ist es, was in jedem Akt der Selbstbejahung bejaht wird. Das ist es, was gegen das Nichtsein verteidigt wird und was mutig bejaht wird, indem man die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt. Das Bewußtsein von dem drohenden Verlust des Selbst ist die Essenz der Angst, und das Bewußtsein von konkreten Bedrohungen ist die Essenz der Furcht. Die ontologische Selbstbejahung hat Priorität vor allen Unterscheidungen zwischen metaphysischen, ethischen oder religiösen Definitionen des Selbst. Sie ist weder naturhaft noch geistig, weder gut noch böse, weder immanent noch transzendent. Diese Unterschiede sind erst möglich auf Grund der ontologischen Selbstbejahung des Selbst als Selbst. In gleicher Weise liegen die Begriffe, die das individuelle Selbst charakterisieren, vor den verschiedenen Wertbegriffen: Trennung ist nicht Entfremdung, Selbstzentriertheit ist nicht Selbstsucht, Selbstbestimmung ist nicht Sündhaftigkeit. Dies sind Strukturbeschreibungen und Voraussetzungen für | Liebe wie für Haß, für Verdammung wie für Erlösung. Es ist an der Zeit, die üble Gewohnheit aufzugeben, bei jedem Wort, in dem die Silbe „Selbst“ vorkommt, in moralische Entrüstung auszubrechen. Auch moralische Entrüstung wäre nicht möglich ohne ein zentriertes Selbst und ohne ontologische Selbstbejahung. Das Subjekt der Selbstbejahung ist das zentrierte Selbst. Als solches ist es ein individualisiertes Selbst. Es kann vernichtet, aber es kann nicht geteilt werden: jedes seiner Teile hat das Signum dieses und keines anderen Selbst. Auch kann es
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nicht vertauscht werden: seine Selbstbejahung ist auf sich als dieses einmalige, unwiederholbare und unersetzliche Individuum gerichtet. Die theologische These, daß jede menschliche Seele unendlichen Wert hat, folgt aus der ontologischen Selbstbejahung als Bejahung eines unteilbaren, unverwechselbaren Selbst, die „der Mut, man selbst zu sein“ genannt werden kann. Aber das Selbst ist nur Selbst, weil es Welt hat, ein strukturiertes Universum, zu dem es gehört und von dem es zugleich getrennt ist. Selbst und Welt stehen in Korrelation zueinander, und ebenso Individuation und Partizipation. Denn Partizipation bedeutet gerade dieses: Teil sein von etwas, von dem man zugleich getrennt ist. Wörtlich heißt Partizipation „Teil-nehmen“. Das kann drei Bedeutungen haben: die Bedeutung von „etwas teilen“, wie man z. B. ein Zimmer mit jemandem teilt; die Bedeutung von „gemeinhaben“, der metexis, wie Plato es nennt, dem „Mithaben“ oder Anteilhaben des Individuellen am Universalen; oder die Bedeutung von „Teil von etwas sein“, z. B. von einer politischen Bewegung. In jedem Fall ist Partizipation teilweise Identität und teilweise Nicht-Identität. Ein Teil des Ganzen ist nicht identisch mit dem Ganzen, zu dem es gehört. Aber das Ganze wäre nicht, was es ist, ohne den Teil. Das Verhältnis des Körpers zu seinen Gliedern ist hierfür das beste Beispiel. Das Selbst ist ein Teil der Welt, die es als seine Welt hat. Die Welt wäre nicht, was sie ist, ohne dieses individuelle Selbst. Man sagt, daß jemand sich mit einer Bewegung identifiziert. Diese Partizipation macht sein Sein und das Sein der Bewegung teilweise zu ein und demselben. Um das höchst dialektische Wesen der Partizipation zu verstehen, muß man, anstatt in Dingbegriffen zu denken, den Begriff der Mächtigkeit gebrauchen. Die teilweise Identität von vollkommen getrennten Dingen kann nicht gedacht werden; aber die Seinsmächtigkeit kann von verschiedenen Individuen geteilt werden. Die Seinsmächtigkeit eines Staates kann von allen seinen Bürgern geteilt werden und, in überragender Weise, von seinem Herrscher. Seine Mächtigkeit ist teilweise ihre Mächtigkeit, obwohl seine Mächtigkeit die ihre transzendiert und ihre Mächtigkeit die seine. | Die Identität in der Partizipation ist eine Identität in der Seinsmächtigkeit. In diesem Sinne ist die Seinsmächtigkeit des individuellen Selbst teilweise identisch mit der Seinsmächtigkeit seiner Welt und umgekehrt. Für die Begriffe der Selbstbejahung und des Mutes bedeutet dies, daß die Selbstbejahung des Selbst als eines individuellen Selbst immer die Bejahung der Seinsmächtigkeit, an der das Selbst partizipiert, einschließt. Das Selbst bejaht sich als partizipierend an der Mächtigkeit einer Gruppe, einer Wesenheit, der Macht des Seins-Selbst. Wenn sich diese Selbstbejahung trotz der Drohung des Nichtseins vollzieht, ist sie Mut zum Sein, aber nicht der Mut, man selbst zu sein, sondern der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Der Ausdruck „Mut, Teil eines Ganzen zu sein“ stellt uns vor ein Problem. Während es offensichtlich Mut erfordert, man selbst zu sein, scheint der Wille, Teil
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eines Ganzen zu sein, gerade Mangel an Mut auszudrücken, nämlich den Wunsch, unter dem Schutz eines größeren Ganzen zu leben. Nicht Mut, sondern Schwäche scheint uns dazu zu führen, uns als Teil eines Ganzen zu bejahen. Aber Selbstbejahung schließt notwendig die Bejahung des Selbst als partizipierendes Selbst ein, und diese Seite unserer Selbstbejahung ist ebenso durch Nichtsein bedroht wie die andere Seite, die Selbstbejahung als Bejahung des individuellen Selbst. Wir stehen nicht nur unter der Bedrohung unseres individuellen Selbst, sondern auch unter der Bedrohung unserer Partizipation an unserer Welt. Deshalb erfordert die Bejahung unseres Selbst als Teil eines Ganzen ebenso Mut wie die Bejahung unseres Selbst als individuelles Selbst. Es ist ein und derselbe Mut, der eine doppelte Drohung des Nichtseins in sich aufnimmt. Der Mut zum Sein ist wesensmäßig immer beides: der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und der Mut, man selbst zu sein, in wechselseitiger Abhängigkeit. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil des Mutes, man selbst zu sein, und der Mut man selbst zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Aber unter den Bedingungen der menschlichen Endlichkeit und Entfremdung wird das, was essentiell geeint ist, existentiell gespalten. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, trennt sich von dem Mut, man selbst zu sein, und umgekehrt; und in ihrer Isolierung lösen sich beide auf. Die Angst, die sie in sich hineingenommen hatten, wird entfesselt und wirkt zerstörerisch. Diese Situation bestimmt den Weg unserer weiteren Untersuchung: Wir werden zuerst Manifestationen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, behandeln, dann Manifestationen des Mutes, man selbst zu sein, und zuletzt werden wir nach einem Mut fragen, in dem beide Seiten vereint sind. |
Kollektivistische und halbkollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist der Mut, sein eigenes Sein durch Partizipation zu bejahen. Man partizipiert an der Welt, zu der man gehört und von der man zugleich getrennt ist. Aber an der Welt partizipieren wird aktualisiert durch die Partizipation an denjenigen ihrer Dimensionen, die den Inhalt des eigenen Seins konstituieren. Die Welt als ein Ganzes ist Potentialität, nicht Aktualität. Aktuell sind nur diejenigen Bereiche, mit denen man teilweise identisch ist. Je mehr Selbstbezogenheit ein Sein hat, um so besser ist es, der polaren Struktur der Wirklichkeit entsprechend, fähig zur Partizipation. Der Mensch als völlig zentriertes Wesen oder als Person kann an allem partizipieren, aber er partizipiert vermittels desjenigen Bereiches der Welt, der ihn zu einer Person macht. Nur in der fortwährenden Begegnung mit anderen Personen wird die Person zur Person und
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bleibt Person. Der Ort dieser Begegnung ist die Gemeinschaft. Die Partizipation des Menschen an der Natur ist unmittelbar, insoweit er durch seine leibliche Existenz ein bestimmter Teil der Natur ist. Seine Partizipation an der Natur ist mittelbar und durch die Gemeinschaft vermittelt, insoweit er die Natur transzendiert, indem er sie erkennt und gestaltet. Ohne Sprache gibt es keine Universalien, ohne Universalien kein Transzendieren der Natur – kein Verhältnis zu ihr als Natur. Aber die Sprache ist gemeinschaftlich, nicht individuell. Der Bereich der Wirklichkeit, an der der Mensch unmittelbar partizipiert, ist die Gemeinschaft, der er angehört. Durch sie und nur durch sie wird die Partizipation an der Welt als ganzer und an all ihren Teilen vermittelt. Deshalb hat derjenige, der den Mut hat, Teil eines Ganzen zu sein, den Mut, sich als Teil der Gemeinschaft, an der er partizipiert, zu bejahen. Seine Selbstbejahung ist Teil der Selbstbejahung der Gruppen, die die Gesellschaft, der er angehört, konstituieren. Daraus scheint zu folgen, daß es nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Selbstbejahung gibt, und daß auch diese durch Nichtsein bedroht ist, woraus die kollektive Angst entspringt, die den kollektiven Mut erfordert. Man könnte sagen, das Subjekt dieser Angst und dieses Mutes sei ein Wir-Selbst im Unterschied zu den Ichs, die seine Teile sind. Aber eine solche Erweiterung des Begriffs Selbstheit muß abgelehnt werden. Selbstheit ist Selbstzentriertheit. In einer Gruppe gibt es aber kein Zentrum in der Weise, wie es eine Person besitzt. Es kann zwar eine | Zentral-Macht, einen König, einen Präsidenten, einen Diktator geben, der der Gruppe seinen Willen aufzwingen kann. Aber es ist dann nicht die Gruppe, die entscheidet, wenn er entscheidet, auch in den Fällen, in denen ihm die Gruppe folgt. Deshalb ist es weder berechtigt, von einem Wir-Selbst zu sprechen, noch ist es angebracht, Ausdrücke wie Kollektivangst und Kollektivmut zu gebrauchen. Als wir von den drei Epochen der Angst sprachen, wiesen wir auf die Tatsache hin, daß große Massen von Menschen von einem besonderen Typ der Angst ergriffen wurden, weil sie die gleiche angsterregende Situation erlebten und weil Angstausbrüche ansteckend sind. Es gibt keine Kollektivangst, aber es gibt eine Angst, die viele oder alle Glieder einer Gruppe ergreift und die sich dadurch, daß sie allgemein wird, steigert und verändert. Das gleiche gilt von dem, was fälschlich Kollektivmut genannt wird. Es gibt keine Wesenheit „Wir-Selbst“ als Subjekt des Mutes. Es gibt Selbste, die an einer Gruppe partizipieren und deren Charakter teilweise durch die Partizipation bestimmt wird. Das angenommene Wir-Selbst ist eine gemeinsame Qualität von Ichs innerhalb einer Gruppe. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist wie alle Formen des Mutes eine Qualität individueller Selbste. Eine kollektivistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Existenz und das Leben des Individuums durch die Existenz und die Institutionen der Gruppe bestimmt sind. In kollektivistischen Gesellschaften ist der Mut des Indi-
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viduums der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Blickt man auf sogenannte primitive Gesellschaften, so findet man typische Formen von Angst und typische Institutionen, in denen der Mut Ausdruck findet. Die individuellen Glieder der Gruppen entwickeln die gleichen Ängste und die gleiche Furcht, und sie verwenden die gleichen Methoden, Mut und Tapferkeit zu entwickeln, die durch Traditionen und Institutionen vorgeschrieben sind. Von diesem Mut wird vorausgesetzt, daß ihn jedes Glied der Gruppe besitze. Der Mut, Schmerz auf sich zu nehmen, ist bei vielen Stämmen der Prüfstein für volle Mitgliedschaft in der Gruppe; und der Mut, den Tod auf sich zu nehmen, ist im Leben der meisten Gruppen ein ständiger Prüfstein. Der Mut dessen, der diese Prüfungen besteht, ist der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Er bejaht sich durch die Gruppe, an der er partizipiert. Die potentielle Angst, sein Selbst in der Gruppe zu verlieren, wird nicht aktuell, weil die Identifikation mit der Gruppe vollständig ist. Das Nichtsein in Form der Drohung des Selbstverlustes ist noch nicht in Erscheinung getreten. Die Selbstbejahung innerhalb einer Gruppe schließt den Mut ein, die Schuld und ihre Folgen als öffentliche Schuld auf sich zu nehmen, gleich, ob man selbst oder ein anderer die Schuld | trägt. Schuld ist ein Problem der Gruppe und muß gebüßt werden um der Gruppe willen; und die Methoden der Bestrafung und Genugtuung, die von der Gruppe gefordert werden, werden vom Individuum akzeptiert. Individuelles Schuldbewußtsein gibt es nur in bezug auf eine Abweichung von den Institutionen und Regeln des Kollektivs. Wahrheit und Sinn sind in den Traditionen und Symbolen der Gruppe verkörpert, und autonomes Fragen und Zweifeln gibt es nicht. Aber auch in einem primitiven Kollektiv gibt es wie in jeder menschlichen Gemeinschaft einzelne, die aus der Gruppe herausragen: die Träger der Tradition und die Wegbereiter der Zukunft. Sie müssen genügend Abstand von der Menge haben, um urteilen und ändern zu können. Sie müssen Verantwortung auf sich nehmen und Fragen stellen. Das hat notwendigerweise individuellen Zweifel und persönliche Schuld zur Folge. Trotzdem ist das herrschende Vorbild des Mutes für alle Glieder einer primitiven Gruppe der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Als wir in unserem ersten Kapitel den Begriff des Mutes behandelten, haben wir auf das Mittelalter und seine aristokratische Interpretation des Mutes hingewiesen. Der Mut des Mittelalters wie der jeder Feudalgesellschaft ist im Grunde der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die sogenannte „realistische“ Philosophie des Mittelalters ist eine Philosophie der Partizipation. Sie setzt voraus, daß die Universalien logisch und die Kollektive aktuell mehr Wirklichkeit haben als das Individuum. Das Partikulare (wörtlich: ein kleiner Teil) hat seine Seinsmächtigkeit durch Partizipation am Universalen. Die Selbstbejahung, die in der Selbstachtung des Individuums Ausdruck findet, ist beispielsweise Selbstbejahung als Gefolgsmann eines Feudalherrn, als Mitglied einer Zunft, als Student in einer akademischen Körperschaft oder als Träger einer besonderen Funktion, wie der eines
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Handwerks, eines Gewerbes oder eines akademischen Berufs. Aber trotz seiner primitiven Elemente ist das Mittelalter nicht primitiv. In der antiken Welt waren zwei Dinge geschehen, die den mittelalterlichen Kollektivismus entschieden vom primitiven Kollektivismus trennen. Das eine war die Entdeckung der persönlichen Schuld, von den Propheten als Schuld vor Gott verstanden – der entscheidende Schritt zum Durchbruch des Persönlichen in Religion und Kultur. Das andere war der Anfang des autonomen Fragens in der griechischen Philosophie – der entscheidende Schritt zur Infragestellung von Kultur und Religion. Beide Elemente wurden den mittelalterlichen Völkern durch die Kirche vermittelt. Mit ihnen verband sich die Angst vor Schuld und Verdammung wie die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit. Wie in der Spätantike hätte diese Situation den Mut, man selbst zu sein, notwendig | machen können. Aber die Kirche hatte eine Gegenkraft gegen die Drohung der Angst und der Verzweiflung, nämlich sich selbst, ihre Tradition, ihre Sakramente, ihre Erziehung und ihre Autorität. Die Angst vor der Schuld wurde in den Mut aufgenommen, Teil der sakramentalen Gemeinschaft zu sein. Die Angst im Zweifel wurde in den Mut aufgenommen, Teil der Gemeinschaft zu sein, in der Offenbarung und Vernunft geeint sind. In dieser Weise war der mittelalterliche Mut zum Sein trotz seiner Verschiedenheit vom primitiven Kollektivismus der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Spannung, die durch diese Situation geschaffen wurde, fand ihren theoretischen Ausdruck in dem Kampf des Nominalismus gegen den mittelalterlichen Realismus und in dem ständigen Konflikt zwischen diesen beiden. Der Nominalismus sieht die letzte Wirklichkeit in dem Individuum und hätte viel früher, als es tatsächlich geschah, zur Auflösung des mittelalterlichen Systems der Partizipation geführt, wenn die ungeheuer angewachsene Autorität der Kirche dies nicht zunächst verhindert hätte. Im religiösen Leben fand die gleiche Spannung in der Dualität von dem Sakrament der Messe und dem Sakrament der Buße Ausdruck. Das Sakrament der Messe vermittelte die objektive Erlösungsmacht, an der jeder partizipierte, wenn möglich durch die tägliche Teilnahme an der Messe. Infolge dieser universellen Partizipation wurden Schuld und Gnade nicht nur als eine persönliche, sondern auch als eine kollektive Angelegenheit empfunden. Die Bestrafung des Sünders hatte repräsentativen Charakter: die ganze Gemeinschaft litt mit ihm. Und die Befreiung des Sünders von der Bestrafung auf Erden und im Fegefeuer war zum Teil abhängig von der Heiligkeit der stellvertretenden Heiligen und der Liebe derer, die Opfer für seine Befreiung brachten. Nichts ist für das mittelalterliche System der Partizipation charakteristischer als diese wechselseitige Stellvertretung. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein und die Ängste des Nichtseins auf sich zu nehmen, ist in den mittelalterlichen Institutionen ebenso verkörpert wie in den primitiven Lebensformen. Aber als der antikollektivistische Pol, durch das Sakrament der
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Buße vertreten, in den Vordergrund rückte, zerfiel der mittelalterliche Halbkollektivismus. Das Prinzip, daß nur die contritio, die persönliche und totale Annahme des Gerichts und der Gnade, die objektiven Sakramente wirksam macht, führte zu einer Beschränkung und schließlich zur Aufgabe der objektiven Elemente, der Stellvertretung und der Partizipation. Im Akt der Reue steht jeder Mensch allein vor Gott, und es war schwierig für die Kirche, dieses Element mit dem objektiven zu verbinden. Schließlich erwies es sich als unmöglich, und das System löste sich auf. Zur gleichen Zeit gewann die nominalistische | Tradition an Macht und befreite sich von der Heteronomie der Kirche. In der Reformation und der Renaissance brachen der mittelalterliche Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und das zu ihm gehörige halbkollektivistische System zusammen, und es setzten Entwicklungen ein, die die Frage nach dem Mut, man selbst zu sein, in den Vordergrund rückten.
Neukollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein Als Reaktion auf den Mut, man selbst zu sein, der in der neueren abendländischen Geschichte vorherrschte, erhoben sich Bewegungen von neukollektivistischem Charakter: Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus. Ihr grundlegender Unterschied vom primitiven Kollektivismus und mittelalterlichen Halbkollektivismus ist dreifach: Erstens geht dem Neukollektivismus die Befreiung der autonomen Vernunft und die Schaffung einer technischen Zivilisation voraus, deren wissenschaftliche und technische Errungenschaften er für seine Zwecke verwendet. Zweitens ist der Neukollektivismus in einer Situation hochgekommen, in der viele konkurrierende Tendenzen bestanden, sogar innerhalb der neukollektivistischen Bewegung selbst. Deshalb ist er weniger stabil und sicher als die älteren Formen des Kollektivismus. Dies führt zu dem dritten und deutlichsten Unterschied: den totalitären Methoden des heutigen Kollektivismus in Form eines Nationalstaates oder eines übernationalen Imperiums. Ursache für die Entwicklung ist die Notwendigkeit einer zentralisierten technischen Organisation und – in noch stärkerem Maße – die Notwendigkeit, Tendenzen zu unterdrücken, die das kollektivistische System durch Alternativlösungen und individuelle Entscheidungen zersetzen können. Aber diese drei Unterschiede verhindern nicht, daß der Neukollektivismus viele Züge des primitiven Kollektivismus aufweist, vor allem die ausschließliche Betonung der Selbstbejahung durch Partizipation oder des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Der Rückfall in den Stammeskollektivismus war im Nationalsozialismus leicht erkennbar. Die deutsche Idee vom „Volksgeist“ bildete eine gute Grundlage für
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ihn, die „Blut und Boden“-Mythologie verstärkte diese Tendenz, und die mythische Vergottung des Führers tat das übrige. Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus war der ursprüngliche Kommunismus eine rationale Eschatologie, eine Bewegung der Kritik und der Erwartung, in vielerlei Hinsicht den prophetischen | Ideen verwandt. Nach der Errichtung des kommunistischen Staates in Rußland wurden jedoch die rationalen und eschatologischen Elemente verstoßen, sie verschwanden, und der Rückfall in den Stammeskollektivismus setzte sich in allen Lebensbereichen durch. Der russische Nationalismus mit seinen politischen und mystischen Formen wurde mit der kommunistischen Ideologie verschmolzen. Heutzutage ist „Kosmopolit“ in kommunistischen Ländern die Bezeichnung für die schlimmsten Ketzer. Der Kommunismus hat trotz seines prophetischen Hintergrundes, trotz seiner positiven Bewertung der Vernunft und seiner ungeheuren technischen Produktivität fast die Stufe des Stammeskollektivismus erreicht. Deshalb kann man den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, im Neukollektivismus am besten analysieren, indem man sich auf seine kommunistische Erscheinungsform konzentriert. Ihre weltgeschichtliche Bedeutung muß im Lichte einer Ontologie der Selbstbejahung und des Mutes gesehen werden. Man würde das Wesen des kommunistischen Neukollektivismus verkennen, wenn man seinen Charakter aus sekundären Faktoren erklären wollte wie dem russischen Charakter, der Geschichte des Zarentums, dem stalinistischen Terror, der Dynamik eines totalitären Systems, der weltpolitischen Konstellation. Alle diese Dinge haben zu seiner Bildung beigetragen, aber sie sind nicht seine Ursache. Sie helfen, das System zu erhalten und zu verbreiten, aber sie konstituieren nicht sein Wesen. Sein Wesen ist der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, den er den Massen eingibt, die unter einer wachsenden Drohung des Nichtseins und einem wachsenden Angstgefühl leben. Die traditionellen Lebensformen, aus denen sie Formen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, schöpften, und die neuen Möglichkeiten des Mutes, man selbst zu sein, wie sie seit dem 19. Jahrhundert bestanden, waren in der modernen Welt schnell untergraben worden. Das war sowohl in Europa wie im entferntesten Asien und Afrika geschehen und geschieht noch immer – es ist eine weltweite Entwicklung. Der Kommunismus gibt denen, die ihre alte kollektivistische Selbstbejahung verloren haben oder dabei sind, sie zu verlieren, einen neuen Kollektivismus und damit einen neuen Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Sehen wir uns die überzeugten Anhänger des Kommunismus an, so finden wir überall die Bereitwilligkeit, jede individuelle Erfüllung der Selbstbejahung der Gruppe und dem Ziel der Bewegung zu opfern. Aber der kommunistische Kämpfer würde vermutlich eine derartige Beschreibung seiner Haltung nicht gelten lassen; er hätte vermutlich wie alle fanatischen Gläubigen in allen Bewegungen nicht das Gefühl, daß er ein Opfer bringt. Vermutlich glaubt er, daß er den einzigen Weg einge | schlagen habe, auf dem er seine eigene Erfüllung erreichen könne. Wenn er
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sich bejaht, indem er das Kollektiv, an dem er partizipiert, bejaht, empfängt er sich von dem Kollektiv zurück, von ihm ausgefüllt und erfüllt. Er gibt viel von dem auf, was zu seinem individuellen Selbst gehört, vielleicht seine Existenz als partikulares Sein in Raum und Zeit, aber er empfängt mehr zurück, weil sein wahres Sein im Sein der Gruppe eingeschlossen ist. Indem er sich selbst der Sache des Kollektivs hingibt, gibt er das in sich hin, was nicht in der Selbstbejahung des Kollektivs mit eingeschlossen ist, und dies erachtet er nicht für bejahenswert. So wird die Angst vor dem individuellen Nichtsein in die Angst um das Kollektiv verwandelt, und die Angst um das Kollektiv wird besiegt durch den Mut, der sich durch die Partizipation am Kollektiv bejaht. Das kann in bezug auf die drei Haupttypen der Angst gezeigt werden. Wie in jedem menschlichen Wesen ist in dem überzeugten Kommunisten die Angst vor Schicksal und Tod vorhanden. Kein Wesen kann sein eigenes Nichtsein ohne negative Reaktion akzeptieren. Der Terror des totalitären Staates wäre zwecklos, wenn er nicht Angst in seinen Untertanen erzeugte. Aber die Angst vor Schicksal und Tod wird hineingenommen in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, durch dessen Terror man bedroht ist. Durch die Partizipation bejaht man das, was zum vernichtenden Schicksal oder sogar zur Ursache des eigenen Todes werden kann. Eine genauere Analyse deckt die folgende Struktur auf: Partizipation ist teilweise Identität und teilweise Nichtidentität. Derjenige Teil des Selbst, der nicht mit dem Kollektiv, an dem es partizipiert, identisch ist, kann durch Tod und Schicksal Schaden leiden oder vernichtet werden. Aber es gibt einen anderen Teil des Selbst, der teilweisen Identität in der Partizipation gemäß, und dieser andere Teil wird durch die Forderungen und Handlungen des Ganzen weder beschädigt noch vernichtet. Er transzendiert Schicksal und Tod. Er ist ewig in dem Sinne, in dem das Kollektiv als ewig gilt, nämlich als eine essentielle Manifestation des universalen Seins. Dies braucht den Gliedern des Kollektivs nicht bewußt zu sein, aber es lebt in ihren Empfindungen und Handlungen. Ihr unendliches Anliegen ist die Erfüllung der Gruppe; aus diesem Anliegen leiten sie ihren Mut zum Sein ab. Der Begriff „ewig“ darf nicht mit dem Begriff „unsterblich“ verwechselt werden. Weder der alte noch der neue Kollektivismus kennen die Idee der individuellen Unsterblichkeit. Das Kollektiv, an dem das Individuum partizipiert, ersetzt die individuelle Unsterblichkeit. Es handelt sich aber auch nicht um ein resignierendes Sich-Schicken in die Vernichtung – sonst wäre kein Mut zum Sein möglich –, sondern um etwas, | das jenseits von Unsterblichkeit und Vernichtung liegt: es ist die Partizipation an etwas, das den Tod transzendiert, nämlich am Kollektiv und durch das Kollektiv am Sein-Selbst. Wer diese Haltung einnimmt, glaubt sich in dem Augenblick, in dem er sein Leben opfert, in das Leben des Kollektivs aufgenommen und durch dies in das Leben des Universums als ein Element von ihm, wenn auch nicht als partikulares Sein. Diese Haltung gleicht dem stoischen
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Mut zum Sein, und letztlich beruht sie auf dem Stoizismus. Heute wie in der Spätantike ist die stoische Haltung, selbst in ihrer kollektivistischen Form, die einzige ernsthafte Alternative zum Christentum. Der Unterschied zwischen dem echten Stoiker und dem Neukollektivisten besteht darin, daß dieser in erster Linie an das Kollektiv gebunden ist und erst an zweiter Stelle an das Universum, während der Stoiker sich in erster Linie auf den universalen Logos bezog und erst an zweiter Stelle auf mögliche menschliche Gruppen. In beiden Fällen wird die Angst vor Schicksal und Tod in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, hineingenommen. Auf die gleiche Weise wird die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den neukollektivistischen Mut hineingenommen. Die Stärke der kommunistischen Selbstbejahung verhindert den Ausbruch des Zweifels und der Angst vor der Sinnlosigkeit. Der Sinn des Lebens ist der Sinn des Kollektivs. Selbst diejenigen, die als Opfer des Terrors auf der tiefsten Stufe der sozialen Hierarchie leben, bezweifeln nicht die Gültigkeit der Prinzipien. Was ihnen geschieht, ist ein Problem des Schicksals und erfordert den Mut, die Angst vor Schicksal und Tod zu überwinden und nicht die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit. In dieser Gewißheit blickt der Kommunismus voll Verachtung auf die westliche Gesellschaft. Dort beobachtet er ein Übermaß an Angst und Zweifel, das er als Symptom für die Morbidität und das nahende Ende der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Das ist in den neukollektivistischen Ländern einer der Gründe für die Ausrottung und das Verbot moderner künstlerischer Bewegungen, obwohl sie in der vorkollektivistischen Periode wichtige Beiträge zur Entstehung und Entwicklung der modernen Kunst geleistet haben und obwohl der Kommunismus in der Zeit seines Kampfes um die Macht ihre antibürgerlichen Elemente für seine Propaganda benutzt hatte. Mit der Herrschaft des Kollektivs und der ausschließlichen Betonung der Selbstbejahung als Teil eines Ganzen mußten diese Ausdrucksformen des Mutes, man selbst zu sein, abgelehnt werden. Der Neukollektivismus kann auch die Angst vor Schuld und Verdammung in seinen Mut, Teil eines Ganzen zu sein, hineinnehmen. Nicht die persönliche Sünde erzeugt die Schuld-Angst, sondern eine tatsäch | liche oder mögliche Sünde gegen das Kollektiv. Das Kollektiv ersetzt in dieser Hinsicht den Gott des Gerichts, der Rache, der Strafe und der Vergebung. Der Mensch beichtet dem Kollektiv, oft in Formen, die an das Frühchristentum oder an spätere Sektengruppen erinnern. Von dem Kollektiv nimmt er Urteil und Strafe an; an das Kollektiv richtet er seine Bitte um Vergebung und sein Versprechen, sich zu ändern. Wird er von ihm angenommen, so ist seine Schuld überwunden, und ein neuer Mut zum Sein ist möglich. Diese auffallenden Züge in der kommunistischen Lebensform können kaum verstanden werden, wenn man nicht auf ihre ontologischen Wurzeln zu-
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rückgeht und auf ihre existentielle Macht in einem System, das auf den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, gegründet ist. Dies ist eine typologische Beschreibung wie die Beschreibung der älteren Formen des Kollektivismus. Eine typologische Beschreibung als solche setzt voraus, daß der Typus selten in Reinheit erscheint. In der Wirklichkeit gibt es Grade der Annäherung an ihn, Mischungen, Übergänge und Abweichungen. Es war jedoch nicht meine Absicht, ein Bild von der russischen Situation als solcher zu geben, z. B. von der Bedeutung der griechisch-orthodoxen Kirche oder von den verschiedenen nationalen Bewegungen oder von einzelnen Andersdenkenden. Ich wollte vielmehr die neukollektivistische Struktur und ihren Typ des Mutes beschreiben, wie er in erster Linie im heutigen Rußland verwirklicht ist.
Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, im demokratischen Konformismus In gleicher Weise wie der Neukollektivismus soll nun die Lebensform behandelt werden, die man demokratischen Konformismus nennen könnte. Seine deutlichste Verwirklichung findet sich in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber seine Wurzeln reichen weit zurück in die europäische Vergangenheit. Wie der Neukollektivismus kann auch er nicht aus zufälligen Faktoren erklärt werden, wie der „Pionier-Situation“, der Notwendigkeit, viele Nationalitäten miteinander zu verschmelzen, der langen Zurückhaltung von aktiver Weltpolitik, dem Einfluß des Puritanismus usw. Um den demokratischen Konformismus zu verstehen, muß man fragen: Welcher Typ des Mutes liegt ihm zugrunde, wie wird er mit der Angst der menschlichen Existenz fertig, und was ist sein Verhältnis zu der neukollektivistischen Selbstbejahung einerseits und zu den Manifestationen des Mutes, man selbst zu sein, | andrerseits? Dabei muß folgendes beachtet werden: Seit Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts ist Amerika Einflüssen aus Europa und Asien ausgesetzt, die entweder extreme Formen des Mutes, man selbst zu sein, darstellen oder Versuche, die Angst unserer Epoche durch verschiedene Formen eines transzendenten Mutes zu überwinden.Vorläufig sind diese Einflüsse noch auf die Intelligenz beschränkt und auf Menschen, die unter dem Eindruck der welthistorischen Ereignisse auf Fragen aufmerksam geworden sind, wie sie der jüngste Existentialismus stellt. Die neuen Strömungen haben noch in keiner sozialen Gruppe die Masse des Volkes erreicht, und sie haben die gefühlsmäßigen und verstandesmäßigen Grundtendenzen und die diesen entsprechenden Haltungen und Institutionen nicht verändert. Im Gegenteil: die Tendenz, sich als Teil eines Ganzen zu empfinden und das eigene Sein durch Partizipation an gegebenen
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Lebensstrukturen zu bejahen, wächst weiter. Die Konformität nimmt zu, aber sie ist noch nicht Kollektivismus geworden. Die Neostoiker der Renaissance haben die Form des Mutes zum Sein, wie sie im demokratischen Konformismus Amerikas herrscht, vorbereitet, indem sie den im antiken Stoizismus geübten Mut, das Schicksal passiv hinzunehmen, in ein aktives Ringen mit dem Schicksal verwandelten. In der Symbolik der Renaissancekunst wird das Schicksal durch den Wind dargestellt, der die Segel eines Schiffes aufbläst, während der Mensch am Steuer steht und die beabsichtigte Richtung soweit wie möglich einzuhalten sucht. Der Mensch versucht, seine sämtlichen Potentialitäten zu aktualisieren, und seine Potentialitäten sind unerschöpflich. Denn er ist der Mikrokosmos, in dem alle kosmischen Kräfte potentiell gegenwärtig sind und der an allen Sphären und Dimensionen des Universums partizipiert. Durch den Menschen setzt das Universum den schöpferischen Prozeß fort, der ihn ursprünglich als Ziel und Zentrum der Schöpfung erschaffen hat. Jetzt muß der Mensch seine Welt und sich selbst gestalten, je nach den produktiven Kräften, die ihm gegeben sind. In ihm kommt die Natur zu ihrer Erfüllung, sie wird in seine Erkenntnis und seine verwandelnde technische Tätigkeit hineingenommen. In den bildenden Künsten wird die Natur in die menschliche Sphäre hineingezogen, und der Mensch wird in die Natur hineingestellt, und beide werden in den letzten Möglichkeiten ihrer Schönheit gezeigt. Träger dieses schöpferischen Prozesses ist das Individuum, das als Individuum ein einmaliger Repräsentant des Universums ist. Am wichtigsten ist das schöpferische Individuum, das Genie, in dem, wie Kant später sagte, die unbewußte schöpferische Kraft der Natur in das | Bewußtsein des Menschen bricht. Menschen wie Pico della Mirandola, Leonardo da Vinci, Giordano Bruno, Shaftesbury, Goethe, Schelling waren von dieser Idee einer Partizipation am schöpferischen Prozeß der Natur inspiriert. In diesen Männern vereinten sich Enthusiasmus und Rationalität. Ihr Mut war sowohl der Mut, man selbst zu sein, wie der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Lehre vom Individuum als dem Mikrokosmos, der am schöpferischen Prozeß des Makrokosmos partizipiert, hatte die Möglichkeit zu dieser Synthese geschaffen. Die schöpferische Kraft des Menschen bewegt sich von der Potentialität zur Aktualität auf solche Weise, daß alles Aktualisierte Potentialitäten für weitere Aktualisierung enthält. Das ist die Grundstruktur des Fortschritts. Obwohl der Fortschrittsglaube in aristotelischer Terminologie beschrieben ist, ist er doch etwas völlig anderes als die Haltung des Aristoteles und der gesamten antiken Welt. Bei Aristoteles ist die Bewegung von der Potentialität zur Aktualität vertikal; sie geht von den niederen zu den höheren Formen des Seins. Im modernen Fortschrittsglauben ist sie horizontal, zeitlich, futuristisch. Und das ist die Hauptform, in der sich die Selbstbejahung der modernen westlichen Menschheit manifestiert.
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Es ist eine Form des Mutes, die die wachsende Angst der Neuzeit in sich hineinnimmt – eine Angst, die teilweise durch das wachsende Wissen vom Universum und von unserer Erde ausgelöst ist. Kopernikus und Galilei hatten die Erde aus dem Zentrum der Welt verstoßen. Die Erde war klein geworden, und trotz des „heroischen Affektes“, mit dem Giordano Bruno sich in die Unendlichkeit des Universums gestürzt hatte, hatte sich in die Herzen vieler Menschen das Gefühl eingeschlichen, in dem Ozean kosmischer Körper und unter den unerschütterlichen Gesetzen ihrer Bewegungen verloren zu sein. Der Mut der Neuzeit war kein einfacher Optimismus. Er mußte in einem Universum ohne Grenzen und ohne menschlich verständlichen Sinn die tiefe Angst des Nichtseins in sich aufnehmen. Diese Angst konnte in den Mut hineingenommen, aber sie konnte nicht aufgelöst werden und kam folglich immer wieder zum Ausbruch, wenn der Mut geschwächt war. Das ist die wichtigste Quelle für den Mut, ein Teil im schöpferischen Prozeß der Natur und der Geschichte zu sein, wie er sich in der abendländischen Kultur und am deutlichsten in der Neuen Welt entwickelte. Aber er unterlag vielen Veränderungen, ehe er zum konformistischen Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, wurde, der die heutige amerikanische Demokratie kennzeichnet. Der kosmische Enthusiasmus der Renaissance verschwand unter dem Einfluß des Protestantismus und des Rationalismus, und als er in den klassisch-romantischen Bewegun | gen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wieder hervortrat, konnte er keinen großen Einfluß mehr auf die industrielle Gesellschaft ausüben. Die Synthese von Individualität und Partizipation, die auf dem kosmischen Enthusiasmus fußte, hatte sich aufgelöst. Es kam zu einer unausgesetzten Spannung zwischen dem Mut, man selbst zu sein, wie er in dem Individualismus der Renaissance enthalten war, und dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie er in dem Universalismus der Renaissance enthalten war. Den extremen Formen des Liberalismus stellten sich reaktionäre Versuche entgegen, wieder einen mittelalterlichen Kollektivismus einzuführen, oder utopische Versuche, eine neue organische Gesellschaft zu schaffen. Liberalismus und Demokratie konnten auf zweierlei Weise miteinander in Konflikt geraten: der Liberalismus konnte die Herrschaft der Demokratie untergraben, oder die Demokratie konnte tyrannisch werden und eine Übergangsstufe zum totalitären Kollektivismus bilden. Neben diesen dynamischen und aggressiven Bewegungen konnte eine statische und inaggressive Entwicklung einhergehen, d. h. es konnte eine demokratische Konformität entstehen, die alle extremen Formen des Mutes, man selbst zu sein, zurückdrängte, ohne die liberalen Elemente zu zerstören, die sie vom Kollektivismus unterscheiden. Dies war vor allem der Weg Großbritanniens. Die Spannung zwischen Liberalismus und Demokratie erklärt ebenfalls viele Züge des amerikanischen demokratischen Konformismus. Aber unter all diesen Veränderungen blieb eines unveränderlich,
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nämlich der Mut, ein Teil im schöpferischen Prozeß der Geschichte zu sein. Und das macht den gegenwärtigen amerikanischen Mut zu einem der großen Typen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Seine Selbstbejahung ist die Bejahung des Selbst, das an der schöpferischen Entwicklung der Menschheit partizipiert. Für einen Beobachter aus Europa hat der amerikanische Mut etwas Erstaunliches. Obwohl als seine Symbole vor allem die frühen Pioniere gelten, findet er sich noch immer in der großen Mehrheit des amerikanischen Volkes. Ein Amerikaner kann eine Katastrophe erlebt haben, einen vernichtenden Schicksalsschlag, den Zusammenbruch seiner Überzeugungen, er kann sogar Schuld und Verzweiflung durchgemacht haben – trotzdem hält er sein Leben weder für zerstört noch für sinnlos, hält sich nicht für verdammt und verliert die Hoffnung nicht. Ein römischer Stoiker, der die gleichen Katastrophen erlebte, nahm sie mit dem Mut der Resignation hin.Wenn der typische Amerikaner die Grundlage seiner Existenz verloren hat, baut er sich eine neue Grundlage auf. Das gilt von dem Individuum und von der Nation als ganzer. Man kann es wagen, Experimente anzustellen, weil das Mißlingen | eines Experiments keine Entmutigung mit sich bringt. Der schöpferische Prozeß, an dem man partizipiert, schließt natürlicherweise Wagnisse, Mißerfolge, Katastrophen ein. Aber sie untergraben den Mut nicht. Das bedeutet: die Mächtigkeit und Bedeutung des Seins ist in dem schöpferischen Akt selbst gegenwärtig. Damit ist eine Frage teilweise beantwortet, die oft von ausländischen Beobachtern gestellt wird, besonders von Theologen, die Frage nämlich: wozu? Was ist der Zweck all dieser großartigen Mittel, die die produktive Energie der amerikanischen Gesellschaft erzeugt? Verschlingen die Mittel nicht die Ziele, und bedeutet die uneingeschränkte Produktion von Mitteln nicht, daß die Ziele fehlen? Selbst viele geborene Amerikaner sind heutzutage geneigt, die letzte Frage zu bejahen. Aber es geht bei der Produktion der Mittel um mehr. Nicht die Werkzeuge und die technischen Geräte aller Art sind das telos, das innere Ziel der Produktion, sondern die Produktion an sich ist Ziel. Die Mittel sind mehr als bloße Mittel; sie werden als Schöpfungen betrachtet, als Symbole für die unendlichen Möglichkeiten, die mit der Produktivität des Menschen gegeben sind. Das Sein selbst ist essentiell produktiv. Die Rückhaltlosigkeit, mit der das ursprünglich religiöse Wort „schöpferisch“ von Christen und Nichtchristen auf die produktive Tätigkeit des Menschen angewandt wird, zeigt, daß der schöpferische Prozeß der Geschichte als göttlich empfunden wird. In dieser Eigenschaft verleiht er den Mut, an ihm teilzunehmen. (Es scheint mir richtiger, in diesem Zusammenhang von einem produktiven als von einem schöpferischen Prozeß zu sprechen, da es sich um technische Produktion handelt.) Ursprünglich war der demokratisch-konformistische Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, ausgesprochen mit der Fortschrittsidee verknüpft. Der Mut, Teil im
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Fortschritt der Gruppe zu sein, zu der man gehört, seiner Nation, der ganzen Menschheit, kommt in allen spezifisch amerikanischen Philosophien zum Ausdruck: im Pragmatismus, in der Prozeßphilosophie, in der Ethik des Wachstums, in der progressiven Erziehung, in den Weltverbesserungsexpeditionen der Demokratie. Aber dieser Typ des Mutes wird nicht notwendig zerstört, wenn, wie heute, der Glaube an den Fortschritt erschüttert wird. Fortschritt kann zweierlei bedeuten. In jeder Tätigkeit, in der etwas über das Gegebene hinaus produziert wird, wird ein Fortschritt gemacht – wird fortgeschritten. In diesem Sinne sind Tätigkeit und Fortschrittsglaube nicht zu trennen. In seiner anderen Bedeutung steht Fortschritt für ein universales metaphysisches Gesetz fortschreitender Evolution, in der akkumulativ immer höhere Formen und Werte produziert werden. Die Wahrheit eines derartigen Gesetzes kann nicht bewiesen werden. Die | meisten Prozesse zeigen, daß sich Gewinn und Verlust die Waage halten. Trotzdem ist ein neuer Gewinn notwendig, da sonst alle früheren Gewinne ebenfalls verloren wären. Der Mut der Partizipation am produktiven Prozeß hängt nicht von der metaphysischen Fortschrittsidee ab. Der Mut, Teil im produktiven Prozeß zu sein, nimmt die Angst in ihren drei Hauptformen in sich auf. Wie er der Angst vor dem Schicksal begegnet, ist schon beschrieben worden. Diese Form des Mutes ist besonders bemerkenswert in einer Gesellschaft, in der ein radikaler Konkurrenzkampf ausgefochten wird und in der die Sicherheit des Individuums fast auf den Nullpunkt reduziert ist. Die Angst, die in dem Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, besiegt wird, ist beachtlich, denn es ist die Angst vor dem, was für uns heute Schicksal ist: vor der Drohung, von der Partizipation durch Arbeitslosigkeit und den Verlust einer wirtschaftlichen Grundlage ausgeschlossen zu sein. Nur wenn diese Situation erkannt wird, kann die ungeheure Erschütterung verstanden werden, die die Krise der dreißiger Jahre im amerikanischen Volke auslöste, und der häufige Verlust des Mutes zum Sein während dieser Krise. Der Angst vor dem Tod begegnet der Konformist auf zweifache Art: erstens, indem er die Wirklichkeit des Todes soweit wie möglich aus dem täglichen Leben ausschließt. Man darf dem Toten nicht ansehen, daß er tot ist; er wird in eine Maske des Lebenden verwandelt. Der andere und wichtigere Weg, sich damit abzufinden, daß man sterben muß, ist der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode, „Unsterblichkeit der Seele“ genannt. Das ist keine christliche und kaum eine platonische Idee. Das Christentum spricht von Auferstehung und Ewigem Leben, der Platonismus von einer Partizipation der Seele an der überzeitlichen Sphäre der Wesenheiten. Aber nach der modernen Vorstellung bedeutet Unsterblichkeit eine nie endende Partizipation am produktiven Prozeß („Zeit und Welt ohne Ende“). Nicht die ewige Ruhe in Gott, sondern sein nie aufhörender Beitrag zur Dynamik des Universums gibt dem Individuum den Mut, dem Tode entgegenzusehen. Für diese Art von Hoffnung ist die Idee von
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Gott fast überflüssig. Gott kann als Garant der Unsterblichkeit betrachtet werden, aber auch ohne ihn wird der Glaube an diese nicht notwendigerweise erschüttert. Für den Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, ist die Idee der Unsterblichkeit und nicht die Idee Gottes entscheidend, außer wo Gott, wie bei einigen amerikanischen Theologen, mit dem produktiven Prozeß selbst identifiziert wird. Die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit ist potentiell ebenso groß wie die Angst vor Schicksal und Tod. Sie wurzelt | in der Natur der Produktivität, die endlich ist. Obgleich, wie wir sahen, nicht das Werkzeug als solches wichtig ist, sondern das Werkzeug als Ergebnis menschlicher Produktivität, kann die Frage nach dem Wozu nicht gänzlich unterdrückt werden. Sie ist zum Schweigen gebracht worden, kann aber jederzeit wieder laut werden. Heute erleben wir ein Anwachsen dieser Angst und eine Schwächung des Mutes, der sie in sich hineinnimmt. Die Angst vor Schuld und Verdammung ist tief in der amerikanischen Seele verwurzelt, ursprünglich eine Folge des Puritanismus, zu dem später der Einfluß evangelisch-pietistischer Bewegungen kam. Aber selbst wenn ihre religiösen Fundamente untergraben sind, ist die Angst noch vorhanden. In Verbindung mit dem Mut, Teil im produktiven Prozeß zu sein, hat sie sich jedoch verändert. Als Schuld wird die offensichtlich unzulängliche Leistung und die ungenügende Anpassung an das Leben der Gesellschaft empfunden. Die soziale Gruppe, an der man produktiv partizipiert, ist es, die den Menschen verurteilt, ihm vergibt und ihn wieder in seine Rechte einsetzt, nachdem die Anpassung gelungen und die Leistung vollbracht ist. Das ist der Grund dafür, daß die Erfahrung der Rechtfertigung oder der Vergebung der Sünden existentiell unwichtig ist im Vergleich zu dem Streben nach Heiligung und Verwandlung der eigenen Person wie der eigenen Welt. Ein neuer Anfang wird gefordert und versucht. Das ist der Weg, auf dem der Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, die Angst vor der Schuld in sich hineinnimmt. Die Partizipation am produktiven Prozeß verlangt Konformität und Anpassung an die Produktionsmethoden der Gesellschaft. Beide werden um so notwendiger, je gleichförmiger und umfassender die Produktionsmethoden werden. Die technische Gesellschaft schafft definitive Modelle. Die Konformität auf den Gebieten, die das glatte Funktionieren der großen Produktions- und Konsumtionsmaschine aufrecht erhalten, nimmt zu mit dem zunehmenden Einfluß der öffentlichen Kommunikationsmedien. Das weltpolitische Denken, der Kampf gegen den Kollektivismus zwingt denen, die gegen ihn kämpfen, kollektivistische Züge auf. Dieser Prozeß ist noch im Gange und kann zu einer Stärkung der konformistischen Elemente in dem amerikanischen Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, führen. Der Konformismus kann sich dem Kollektivismus annähern, weniger in wirtschaftlicher Hinsicht und nicht allzusehr auf politischem Gebiet, aber sehr stark in Formen des täglichen Lebens und des gewöhnlichen Denkens.
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Ob dies tatsächlich geschehen wird oder nicht, hängt zum Teil von der Widerstandskraft derer ab, die die verschiedenen Erscheinungsformen des Mutes, | man selbst zu sein, repräsentieren. Das bezieht sich sowohl auf seine älteren Formen, die in Amerika auch heute noch eine große Rolle spielen, wie auf die Einbrüche des existentialistischen Mutes man selbst zu sein in die amerikanische Situation. Entscheidend ist dabei, ob die führenden Gruppen in Amerika zu einer Haltung finden, die sich über die Alternative von Individualismus und Kollektivismus erhebt.
V Mut und Individuation. Der Mut, man selbst zu sein Das Aufkommen des modernen Individualismus und der Mut, man selbst zu sein Individualismus ist die Selbstbejahung des individuellen Selbst als individuelles Selbst ohne Rücksicht auf seine Partizipation an der Welt. Deshalb steht er im Gegensatz zum Kollektivismus, der Bejahung des Selbst als Teil eines größeren Ganzen ohne Rücksicht auf seinen Charakter als individuelles Selbst ist. Der Individualismus hat sich aus der Gebundenheit des Individuums im primitiven Kollektivismus und im mittelalterlichen Halbkollektivismus entwickelt. Er konnte unter dem Schutze der demokratischen Konformität wachsen und ist in gemäßigter oder radikaler Form in der existentialistischen Bewegung offen zutage getreten. Der primitive Kollektivismus war durch die Erfahrung der persönlichen Schuld und die Macht des individuellen Fragens untergraben worden. Beide übten am Ende des Altertums eine starke Wirkung aus und führten den radikalen Nonkonformismus der Zyniker und Skeptiker herbei, den gemäßigten Nonkonformismus der Stoiker und die Versuche des Stoizismus, der Mystik und des Christentums, eine transzendente Grundlage für den Mut zum Sein zu finden. Alle diese Motive waren im mittelalterlichen Halbkollektivismus vorhanden, der wie der frühe Kollektivismus durch die Erfahrung der persönlichen Schuld und die zersetzende Macht des radikalen Fragens aufgelöst worden war. Aber das hatte noch nicht zum Individualismus geführt. Der Protestantismus war trotz seiner Betonung des individuellen Gewissens ein streng autoritäres und konformistisches System, ähnlich dem seiner Gegner, der katholischen Kirche der Gegenreformation. In den großen konfessionellen Gruppen gab es keinen Individualismus, und außerhalb der Kirchen gab es nur versteckten Individualismus, da die Kirchen die individualistischen Tendenzen in sich einbezogen und ihrer kirchlichen Konformität angepaßt hatten. Diese Situation hielt hundertfünfzig Jahre an, nicht länger. Nach dieser Zeit der konfessionellen Orthodoxie rückte das persönliche Ele | ment wieder in den Vordergrund. Der Pietismus und der Methodismus legten entscheidenden Nachdruck auf die persönliche Schuld, das persönliche Erlebnis und die individuelle Vollkommenheit. Es lag zwar nicht in ihrer Absicht, von der kirchlichen Konformität abzuweichen, aber es war unvermeidlich; die subjektive Frömmigkeit erwies sich als Brücke für den neuen siegreichen Einzug der autonomen Vernunft, und der Pietismus bildete die Brücke zur Aufklärung. Aber selbst die Aufklärung be-
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trachtete sich nicht als individualistisch. Sie glaubte zwar nicht an eine Konformität, die sich auf die biblische Offenbarung stützt, aber man glaubte an eine Konformität, die auf die in allen Individuen vorhandene Macht der Vernunft gegründet werden kann. Die Prinzipien der praktischen und theoretischen Vernunft galten als allgemein menschlich und als fähig, eine neue Konformität mit Hilfe von Wissenschaft und Erziehung herbeizuführen. Diese ganze Epoche glaubte an das Prinzip der „Harmonie“ – wobei unter Harmonie das Gesetz des Universums verstanden wurde, nach dem die Handlungen des Individuums, wie individualistisch sie auch gemeint und ausgeführt werden, „hinter dem Rücken“ des Individuums zu einem harmonischen Ganzen führen, zu einer Wahrheit, der zumindest eine große Mehrheit beistimmen kann, zu einem Guten, an dem immer mehr Menschen teilhaben können, zu einer Konformität, die auf der freien Tätigkeit jedes Einzelnen fußt. Das Individuum kann frei sein, ohne dadurch die Gruppe zu zerstören. Die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Liberalismus schien diese Ansicht zu bestätigen: die Marktgesetze produzieren hinter dem Rücken der Konkurrenten die größtmögliche Warenmenge für jedermann. Die Leistungsfähigkeit der liberalen Demokratie bewies, daß die Freiheit des Individuums, politische Entscheidungen zu treffen, nicht notwendig die politische Konformität zerstören muß. Der Fortschritt in den Wissenschaften bewies, daß die individuelle Forschung und die Meinungsfreiheit in wissenschaftlichen Fragen eine weitgehende Übereinstimmung in der Wissenschaft nicht verhindert. Die liberale Erziehung bewies, daß die Betonung der freien Entwicklung des einzelnen Kindes seine Chancen nicht verringert, ein nützliches Glied der konformistischen Gesellschaft zu werden. Und die Geschichte des Protestantismus bestätigte den Glauben der Reformatoren, daß die freie Auseinandersetzung eines jeden Menschen mit der Bibel trotz aller persönlichen konfessionellen Unterschiede eine kirchliche Konformität möglich macht. Deshalb war es keineswegs absurd, daß Leibniz das Gesetz der prästabilierten Harmonie aufstellte, nach dem die Monaden, aus denen die Dinge bestehen, auch ohne Türen oder Fenster zu haben, durch die sie miteinander in | Verbindung sind, an der gleichen Welt partizipieren, die in jeder von ihnen – klarer oder dunkler bewußt – gegenwärtig ist. Das Problem von Individuation und Partizipation schien philosophisch wie praktisch gelöst zu sein. Der Mut, man selbst zu sein, wie er in der Aufklärung verstanden wurde, ist ein Mut, bei dem die individuelle Selbstbejahung die Partizipation an der universalen rationalen Selbstbejahung einschließt. Es ist nicht das individuelle Selbst als solches, das sich bejaht, sondern das individuelle Selbst als Träger der Vernunft. Der Mut, man selbst zu sein, ist der Mut, der Vernunft zu folgen und sich irrationaler Autorität zu widersetzen. In dieser Hinsicht – aber nur in dieser – ist er Neostoizismus, denn der Mut zum Sein der Aufklärung ist kein resignierter Mut. Er
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wagt nicht nur, den Schicksalsfällen und der Unentrinnbarkeit des Todes standzuhalten, sondern er wagt auch, sich zu bejahen als einer, der die Wirklichkeit den Forderungen der Vernunft entsprechend umgestaltet. Es ist ein kämpfender, wagender Mut. Er besiegt die Drohung der Sinnlosigkeit durch mutige Tat. Er besiegt die Drohung der Schuld, indem er Irrtümer, Mängel und Untaten im persönlichen Leben wie im Leben der Gesellschaft als unvermeidlich akzeptiert und zugleich glaubt, sie durch Erziehung überwinden zu können. In der Aufklärung ist der Mut, man selbst zu sein, der Mut, sich zu bejahen als Übergang von einer niederen zu einer höheren Stufe der Rationalität. Es ist offensichtlich, daß diese Form des Mutes zum Sein in dem Augenblick zu einer konformistischen werden muß, in dem der revolutionäre Kampf gegen das, was der Vernunft widerspricht, aufhört, nämlich im siegreichen Bürgertum.
Romantische und naturalistische Erscheinungsformen des Mutes, man selbst zu sein Die Romantik hat einen Begriff der Individualität geschaffen, der sich gleichermaßen von dem des Mittelalters wie dem der Aufklärung unterscheidet und Elemente von beiden enthält. Das Individuum wird als einmaliger, unvergleichlicher und unendlich bedeutsamer Ausdruck des Seinsgrundes verstanden. Nicht die Konformität, sondern die Differenzierung ist das Ziel der „Wege Gottes“. Die Bejahung der eigenen Einmaligkeit und die Annahme der Forderungen, die das eigene individuelle Wesen an den Menschen stellt, sind der rechte Mut zum Sein. Das muß noch nicht Willkür und Irrationalität bedeuten, denn die Einmaligkeit der eigenen Individualität wird in ihren schöpferischen Möglichkeiten gesehen, aber die Gefahr ist vorhanden. Die romantische | Ironie erhob das Individuum über alle Inhalte und entleerte es auf diese Art: es war nicht mehr verpflichtet, ernstlich an irgend etwas zu partizipieren. Bei einem Mann wie Friedrich Schlegel brachte der Mut, ein individuelles Selbst zu sein, die vollständige Vernachlässigung der Partizipation mit sich, aber er erzeugte andrerseits, als Reaktion auf die Leere dieser Selbstbejahung, das Verlangen, in ein Kollektiv zurückzukehren. Schlegel und mit ihm viele radikale Individualisten der letzten hundert Jahre sind zum Katholizismus übergetreten. Der Mut, man selbst zu sein, war zusammengebrochen, und man wandte sich einer institutioneilen Verkörperung des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, zu. Eine solche Umkehr war durch die andere Seite im romantischen Denken vorbereitet, die Vorliebe für die kollektiven und halbkollektiven Gemeinschaftsformen der Vergangenheit, für das Ideal der „organischen Gesellschaft“. Der Organismus war wieder, wie so oft in der Vergangenheit, zum Symbol für ein Gleichgewicht zwischen Individuation und Partizipation gewor-
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den. Trotzdem bestand seine geschichtliche Bedeutung am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht darin, daß er das Bedürfnis nach einem Gleichgewicht ausdrückte, sondern darin, daß er die Sehnsucht nach dem kollektivistischen Pol befriedigte. Er wurde von allen reaktionären Gruppen dieser Epoche aufgegriffen, die – sei es aus politischen, sei es aus geistigen Gründen oder aus beiden – versuchten, ein „neues Mittelalter“ zu errichten. So brachte die Romantik beides hervor: eine radikale Form des Mutes, man selbst zu sein, und den (unerfüllten) Wunsch nach einer radikalen Form des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Die Romantik als Haltung hat die Romantik als geschichtliche Bewegung überdauert. Die sogenannte „Boheme“ ist eine Fortsetzung des romantischen Mutes, man selbst zu sein. Sie setzte den romantischen Angriff auf das etablierte Bürgertum und seinen Konformismus fort. Beide Bewegungen, die Romantik wie die Boheme, haben entscheidend zum heutigen Existentialismus beigetragen. Aber Boheme und Existentialismus haben Elemente einer anderen Bewegung in sich aufgenommen, in der sich der Mut, man selbst zu sein, ausdrückt: des Naturalismus. Das Wort Naturalismus wird auf verschiedene Erscheinungen angewandt. Für unsere Zwecke genügt es, den Typ des Naturalismus zu erörtern, in dem die individualistische Form des Mutes, man selbst zu sein, zum Ausdruck kommt. Nietzsche ist ein hervorragender Vertreter dieses Naturalismus. Er ist ein romantischer Naturalist und zugleich einer der wichtigsten – vielleicht der wichtigste – Vorläufer des existentialistischen Mutes, man selbst zu sein. Der Ausdruck „romantischer Naturalist“ scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein: Die Selbsttranszendierung der Romantik und die natu | ralistische Selbstbeschränkung auf das empirisch Gegebene scheinen durch eine tiefe Kluft getrennt zu sein. Aber Naturalismus bedeutet die Identifizierung des Seins mit der Natur und die daraus folgende Leugnung eines Übernatürlichen. In dieser Definition bleibt die Frage nach dem Wesen des Natürlichen völlig offen. Die Natur kann als Mechanismus beschrieben werden oder als Organismus; sie kann als gesetzmäßig fortschreitende Integration oder als schöpferische Evolution beschrieben werden; sie kann als ein System von Gesetzen und Strukturen oder als eine Mischung von beiden beschrieben werden. Der Naturalismus kann von dem absolut Konkreten, dem individuellen Sein, wie wir es im Menschen finden, ausgehen oder von dem absolut Abstrakten, den mathematischen Gleichungen, die den Charakter von Kraftfeldern bestimmen. Dies alles und noch vieles andere kann Naturalismus bedeuten. Aber nicht alle Typen des Naturalismus sind Ausdrucksformen des Mutes, man selbst zu sein. Nur wenn der individualistische Pol in der Struktur des Natürlichen als entscheidend betrachtet wird, kann der Naturalismus romantischen Charakter annehmen und mit der Boheme und dem Existentialismus verschmelzen. Das ist der Fall bei den voluntaristischen Typen des Naturalismus.
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Wenn die Natur (und das heißt für den Naturalisten „das Sein“) als schöpferischer Ausdruck eines unbewußten Willens oder als Objektivierung des Willens zur Macht verstanden wird, oder als Produkt des élan vital, dann sind die Zentren des Willens, die Individuen, für die Bewegung des Ganzen entscheidend. In der individuellen Selbstbejahung bejaht sich das Leben. Selbst wenn die Individuen einer letzten kosmischen Bestimmung unterworfen sind, bestimmen sie ihr eigenes Sein in Freiheit. Ein großer Teil des amerikanischen Pragmatismus gehört zu dieser Gruppe. Trotz des amerikanischen Konformismus und seines Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, hat der Pragmatismus viele Begriffe mit der Lebensphilosophie gemein. Sein ethisches Prinzip ist Wachstum, seine Erziehungsmethode die Selbstbejahung des Individuums, sein bevorzugter Begriff das Schöpferische. Die Pragmatiker sind sich nicht immer der Tatsache bewußt, daß der Mut zum schöpferischen Handeln den Mut, das Alte durch das Neue zu ersetzen, einschließt – das Neue, für das es keine Normen und Kriterien gibt, das Neue, das ein Wagnis ist und das, gemessen am Alten, unberechenbar ist. Ihre soziale Konformität verbirgt den amerikanischen Pragmatikern, was in Europa offen und bewußt bejaht wird. Sie vergegenwärtigen sich nicht, daß der Pragmatismus in seiner logischen Konsequenz (wenn er nicht durch christliche oder humanistische Konformität modifiziert ist) zu dem Mut, man selbst zu sein | führt, der von den radikalen Existentialisten vertreten wird. Der pragmatische Typ des Naturalismus ist in seinem Charakter, nicht in seiner Intention, ein Nachfolger des romantischen Individualismus und ein Vorläufer des existentialistischen Independentismus. Das Wesen des richtungslosen Wachstums unterscheidet sich nicht von dem Wesen des Willens zur Macht und des élan vital. Aber der Naturalismus ist verschieden in den beiden Erdteilen: Die europäischen Naturalisten sind konsequent und selbstzerstörerisch, die amerikanischen Naturalisten werden durch eine glückliche Inkonsequenz gerettet: sie haben noch den konformistischen Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Der Mut, man selbst zu sein, hat in allen diesen Gruppen den Charakter einer Bejahung des individuellen Selbst als individuelles Selbst trotz der Elemente des Nichtseins, die es bedrohen. Die Angst vor dem Schicksal wird besiegt durch die Selbstbejahung des Individuums als eines unendlich bedeutsamen mikrokosmischen Repräsentanten des Universums. Das Individuum ist ein Mittler der Seinsmächtigkeiten, die in ihm konzentriert sind. Es trägt sie in sich in seinem Wissen, und es gestaltet sie in seinem Handeln. Das Individuum bestimmt den Lauf seines Lebens, und es kann Tragik und Tod ertragen im „heroischen Affekt“ und in der Liebe zu dem Universum, das es spiegelt. Selbst die Einsamkeit ist nicht absolut, weil das Individuum die Inhalte des Universums in sich trägt. Diese Art Mut unterscheidet sich von dem der Stoiker hauptsächlich dadurch, daß er die Einmaligkeit des individuellen Selbst betont in Übereinstimmung mit einer
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Denkrichtung, die in der Renaissance anhebt und über die Romantik zur Gegenwart führt. Beim Stoizismus ist es die Weisheit des Weisen, die in jedem wesentlich die gleiche ist, aus der der Mut zum Sein entspringt. In der modernen Welt ist es die Bejahung des Individuums als Individuum. Hinter dieser Wandlung liegt die christliche Bewertung der individuellen Seele als von ewiger Bedeutsamkeit. Aber nicht diese Lehre ist es, die dem modernen Menschen den Mut zum Sein verleiht, sondern die Lehre vom Individuum als Spiegel des Universums. Die Begeisterung für das Universum, die das erkennende wie das schöpferische Individuum erfüllt, löst auch das Problem des Zweifels und der Sinnlosigkeit. Der Zweifel ist das notwendige Werkzeug des Erkennens, und die Sinnlosigkeit ist keine Drohung, solange die Begeisterung für das Universum und für den Menschen als sein Zentrum lebt. Die Angst vor der Schuld ist behoben, die Symbole von Tod, Gericht und Hölle verlieren ihr Gewicht. Es wird alles getan, sie ihres Ernstes zu berauben. Der Mut der Selbstbejahung wird nicht durch die Angst vor Schuld und Verdammung erschüttert. | Die Spätromantik erschloß eine neue Dimension der Schuld-Angst und ihrer Überwindung: sie entdeckte die zerstörerischen Triebe in der menschlichen Seele. In ihrer zweiten Phase löste sich die Romantik sowohl in der Philosophie wie in der Dichtung von dem Harmoniegedanken, der von der Renaissance bis zur Klassik und Frühromantik entscheidend gewesen war. In dieser Periode, in der Philosophie vom späten Schelling und von Schopenhauer vertreten, in der Literatur von Männern wie E.T. A. Hoffmann, wurde eine Art dämonischer Realismus geboren, der den Existentialismus und die Tiefenpsychologie stark beeinflußte. Der Mut, sich selbst zu bejahen, mußte den Mut, die eigene dämonische Tiefe zu bejahen, einschließen. Dies stand in radikalem Widerspruch zu dem moralischen Konformismus des Durchschnittsprotestanten und des Durchschnittshumanisten, wurde aber von der Boheme und vom romantischen Naturalismus begierig aufgenommen. Die Form, in der die Angst vor der Schuld überwunden wurde, war der Mut, die Angst vor dem Dämonischen auf sich zu nehmen, obwohl es Zerstörung und Verzweiflung mit sich bringen konnte. Aber dies war nur möglich, weil in der vorangegangenen Entwicklung das Böse als persönliche Qualität negiert worden war und nun durch das kosmische Böse ersetzt werden konnte, das eine Struktur ist und keine persönliche Verantwortung impliziert. Der Mut, die Angst vor der Schuld auf sich zu nehmen, wurde zu dem Mut, die dämonischen Triebe im eigenen Selbst zu bejahen. Dieser Mut war nur möglich, weil das Dämonische nicht als unzweideutig negativ angesehen wurde, sondern als Teil der schöpferischen Seinsmacht. Das Dämonische als zweideutiger Grund des Schöpferischen – das war eine Entdeckung der Spätromantik, und der Existentialismus des 20. Jahrhunderts übernahm sie auf dem Weg über die Boheme und den Naturalismus. Ihre wissenschaftliche Bestätigung war die Tiefenpsychologie.
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In gewisser Hinsicht sind alle diese Formen des individualistischen Mutes zum Sein Vorläufer des Radikalismus des 20. Jahrhunderts, in dem der Mut, man selbst zu sein, durch die existentialistische Bewegung seinen mächtigsten Ausdruck fand. Der hier gebrachte Überblick zeigt, daß der Mut, man selbst zu sein, niemals völlig getrennt ist von dem anderen Pol, dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein; und er zeigt weiter, daß in der Art, wie die Isolierung des Individuums überwunden wird und wie der Gefahr, durch die Bejahung des Selbst als Individuum die Welt zu verlieren, begegnet wird, beide, das Selbst und die Welt, transzendiert werden. Ideen wie die vom Mikrokosmos, der das Universum spiegelt, oder von der Monade, die das Weltall repräsentiert, oder von | dem Willen zur Macht des Individuums, in dem sich der Wille zur Macht im Leben selbst ausdrückt –, weisen alle auf eine Lösung hin, in der die beiden Typen des Mutes zum Sein transzendiert sind.
Existentialistische Formen des Mutes, man selbst zu sein Existentielle Haltung und Existentialismus Die Spätromantik, die Boheme und der romantische Naturalismus haben den heutigen Existentialismus vorbereitet – die radikalste Form des Mutes, man selbst zu sein. Trotz der umfangreichen Literatur über den Existentialismus, die in den letzten Jahren erschienen ist, ist es für unseren Zweck notwendig, ihn unter dem Gesichtspunkt seines ontologischen Charakters und seines Verhältnisses zum Mut zum Sein zu behandeln. Zunächst müssen wir zwischen der existentiellen Haltung und dem philosophischen oder künstlerischen Existentialismus unterscheiden. Die existentielle Haltung ist eine Haltung des Engagements im Gegensatz zu einer rein theoretischen, distanzierten Haltung. Sie kann demgemäß als Partizipation an einer Situation, insbesondere einer Erkenntnissituation, beschrieben werden, bei der unsere gesamte Existenz beteiligt ist. Diese schließt zeitliche, räumliche, geschichtliche, psychologische, soziologische und biologische Bedingungen ein; und sie schließt die endliche Freiheit ein, die auf diese Bedingungen reagiert und sie verändert. Existentielle Erkenntnis ist eine Erkenntnis, an der alle diese Elemente und folglich die gesamte Existenz dessen, der erkennt, partizipieren. Das scheint der notwendigen Objektivität des Erkenntnisaktes und der Distanzierung, die von dem Erkennenden verlangt wird, zu widersprechen. Aber Erkenntnis ist abhängig von ihrem Objekt. Es gibt Bereiche der Wirklichkeit oder präziser: der Abstraktion von der Wirklichkeit, in denen die möglichst vollständige Distanzierung der adäquate Zugang zur Erkenntnis ist. Alles, was in quantitativen Be-
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griffen ausgedrückt werden kann, besitzt diesen Charakter. Aber für die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer unendlich vielfältigen Konkretheit ist dieser Zugang höchst unangemessen. Ein Selbst zum Beispiel, das zu einem Gegenstand der Berechnung und Handhabung gemacht worden ist, hat aufgehört, ein Selbst zu sein. Es ist ein Ding geworden. Man muß an einem Selbst partizipieren, um zu erkennen, was es ist. Aber indem man an ihm partizipiert, verändert man es. In jeder existentiellen Erkenntnis werden durch den Akt des Erkennens als solchen sowohl Subjekt | wie Objekt verändert. Existentielle Erkenntnis gründet in einer Begegnung, in der ein neuer Sinn geschaffen und erkannt wird. Die Erkenntnis einer anderen Person, die Erkenntnis der Geschichte, die Erkenntnis einer geistigen Schöpfung, die religiöse Erkenntnis – sie haben alle existentiellen Charakter. Das schließt theoretische Objektivität, die sich auf Distanzierung gründet, nicht aus, aber es reduziert die Distanzierung auf nur ein Element in dem umfassenden Akt der kognitiven Partizipation. Man kann eine genaue objektive Kenntnis von einer anderen Person haben, von ihrem psychologischen Typ und von ihren berechenbaren Reaktionen. Aber damit kennt man die Person noch nicht, ihr zentriertes Selbst, ihr Selbst-Verständnis. Nur durch die Partizipation an ihrem Selbst, durch einen existentiellen Durchbruch in das Zentrum ihres Wesens wird man sie in der Situation dieses Durchbruchs zu ihr erkennen. Das ist die erste Bedeutung von „existentiell“, nämlich existentiell als Haltung der Partizipation an einer anderen Existenz mit der gesamten eigenen Existenz. In seiner anderen Bedeutung bezeichnet „existentiell“ einen Inhalt und keine Haltung. Es steht für eine besondere Form der Philosophie: den Existentialismus. Dieser ist für uns wichtig, weil er der Ausdruck der radikalsten Form des Mutes, man selbst zu sein, ist. Aber bevor wir darauf eingehen, müssen wir zeigen, warum beide, Haltung wie Inhalt, mit Worten beschrieben werden, die von dem gleichen Wort „Existenz“ abgeleitet sind. Existentielle Haltung und existentialistischer Inhalt haben ein Verständnis der menschlichen Situation gemein, das in Widerspruch steht zu einem nicht-existentiellen Verständnis. Letzteres glaubt, daß der Mensch – im Erkennen und im Leben – imstande ist, die Endlichkeit, die Entfremdung und die Zweideutigkeit der menschlichen Existenz zu transzendieren. Hegels System ist ein klassischer Ausdruck dieses Essentialismus. Als Kierkegaard sich von Hegels System der Essenzen lossagte, tat er zweierlei: er brachte eine existentielle Haltung zum Ausdruck, und er begründete eine Philosophie der Existenz. Er sah ein, daß die Erkenntnis dessen, was uns unendlich angeht, nur möglich ist in einer Haltung des unendlichen Interesses, in einer existentiellen Haltung. Zugleich entwickelte er eine Lehre vom Menschen, die die Entfremdung des Menschen von seiner essentiellen Natur in Form von Angst und Verzweiflung beschreibt. In der existentiellen Situation der Endlichkeit und der Entfremdung kann der Mensch die Wahrheit nur in einer existentiellen Haltung erreichen. Der
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Mensch „sitzt nicht auf dem Thron Gottes“ und partizipiert nicht an seiner essentiellen Erkenntnis alles dessen, was ist. Der Mensch hat keinen Ort reiner | Objektivität über Endlichkeit und Entfremdung. Als Erkennender ist er existentiell ebenso bedingt wie in seinem ganzen Sein. Hier liegt die Verbindung der beiden Bedeutungen von „existentiell“.
Der existentialistische Gesichtspunkt Wenden wir uns nun zum Existentialismus – nicht als Haltung, sondern als Inhalt –, so können wir drei Bedeutungen von Existentialismus unterscheiden: Existentialismus als Gesichtspunkt, Existentialismus als Protest, Existentialismus als Ausdrucksform. Der existentialistische Gesichtspunkt ist in der Theologie sehr häufig und in der Philosophie, der Kunst und der Literatur oft zu finden. Aber er bleibt ein Gesichtspunkt, oft ohne als solcher erkannt zu werden. Nach vereinzelten Vorläufern wurde der Existentialismus als Protest in dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer bewußten Bewegung, die das Schicksal des 20. Jahrhunderts weithin bestimmte. Existentialismus als Ausdrucksform kennzeichnet Philosophie, Kunst und Literatur in der Epoche der Weltkriege, der Epoche einer alles beherrschenden Angst vor Leere und Sinnlosigkeit. Er ist Ausdruck unserer eigenen Situation. Zunächst sollen ein paar Beispiele für den existentialistischen Gesichtspunkt gegeben werden. Am charakteristischsten und zugleich am entscheidendsten für die gesamte Entwicklung aller Formen des Existentialismus ist Plato. Er folgt orphischen Beschreibungen der menschlichen Situation und lehrt die Trennung der menschlichen Seele von ihrer „Heimat“ in dem Bereich der reinen Wesenheiten. Der Mensch ist entfremdet von dem, was er essentiell ist. Seine Existenz in einer vergänglichen Welt widerspricht seiner essentiellen Partizipation an der ewigen Welt der Ideen. Das wird in mythologischen Bildern ausgedrückt, weil die Existenz nicht begrifflich erfaßt werden kann. Nur der Bereich der Wesenheiten erlaubt eine Strukturanalyse. Wenn Plato einen Mythos verwendet, so beschreibt er damit immer den Übergang vom essentiellen Sein zur existentiellen Entfremdung und die Rückkehr zu ersterem. Die platonische Unterscheidung zwischen dem essentiellen und dem existentiellen Bereich ist grundlegend für alle späteren philosophischen Entwicklungen. Sie liegt selbst dem heutigen Existentialismus zugrunde. Ein anderes Beispiel für den existentialistischen Gesichtspunkt ist die christliche Lehre vom Fall, von der Sünde und von der Erlösung. Ihre Struktur ist der platonischen Unterscheidung analog.Wie bei Plato ist die essentielle Natur des Menschen und seiner Welt gut. Sie ist für das christliche Denken gut, weil sie
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göttliche Schöpfung ist. Aber der Mensch | hat die essentielle oder geschöpfliche Gutheit verloren. Der Fall und die Sünde haben nicht nur seine ethischen, sondern auch seine kognitiven Qualitäten verdorben. Er ist den Konflikten der Existenz verfallen, und seine Vernunft ist davon nicht ausgenommen. Aber wie bei Plato das übergeschichtliche Gedächtnis nie verloren werden kann, selbst nicht in der größten Entfremdung der menschlichen Existenz, so ist im Christentum die essentielle Struktur des Menschen und seiner Welt durch die erhaltende und lenkende Schöpferkraft Gottes bewahrt, die nicht nur Gutes, sondern auch Wahres möglich macht. Nur aus diesem Grunde kann der Mensch die Konflikte seiner existentiellen Situation erfahren und die Wiederherstellung seines essentiellen Seins erhoffen. Der Platonismus wie auch die klassische christliche Theologie vertreten den existentialistischen Gesichtspunkt; er bestimmt ihr Verständnis der menschlichen Situation. Aber keiner von beiden ist existentialistisch im engeren Sinne des Wortes. Der existentialistische Gesichtspunkt wirkt sich innerhalb ihrer essentialistischen Ontologie aus. Das gilt nicht nur für Plato, sondern auch für Augustin, obgleich seine Theologie tiefere Einsichten in die Negativitäten der menschlichen Situation enthält als die irgendeines anderen Denkers im Frühchristentum und obgleich er seine Lehre vom Menschen gegen den essentialistischen Moralismus des Pelagius zu verteidigen hatte. In der Nachfolge der augustinischen Analyse der menschlichen Situation brachten die mönchische und die mystische Selbstprüfung reiches tiefenpsychologisches Material ans Licht, das in die Theologie einging, in die Kapitel von der Geschöpflichkeit, der Sünde und der Heiligung des Menschen. Es kam auch im mittelalterlichen Verständnis des Dämonischen zum Ausdruck und wurde von den Beichtvätern, besonders in den Klöstern, verwandt. Vieles von dem, was heute in der Tiefenpsychologie und dem zeitgenössischen Existentialismus diskutiert wird, war den religiösen „Analytikern“ des Mittelalters nicht unbekannt. Es war den Reformatoren noch bekannt, besonders Luther, dessen dialektische Beschreibung der Zweideutigkeit des Guten, der dämonischen Verzweiflung und der Notwendigkeit des Glaubens tiefe Wurzeln in der mittelalterlichen Erforschung der menschlichen Seele und ihrem Verhältnis zu Gott hat. Der größte dichterische Ausdruck des existentialistischen Gesichtspunktes im Mittelalter ist Dantes „Göttliche Komödie“. Sie bleibt wie die religiöse Tiefenpsychologie der Mönche in den Grenzen der scholastischen Ontologie. Aber innerhalb dieser Grenzen dringt sie in die tiefsten Tiefen menschlicher Selbstzerstörung und Verzweiflung vor und zugleich in die höchsten Höhen des Mutes und der Erlösung und | gibt in dichterischen Symbolen eine allumfassende existentialistische Lehre vom Menschen. Einige Künstler der folgenden Zeit haben in Zeichnungen und Gemälden die heutige existentialistische Kunst vorweggenommen. Die dämoni-
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schen Gegenstände, die Männer wie Bosch, Breughel, Grünewald, die Spanier und die Süditaliener, die spätgotischen Meister von Massenszenen und viele andere darstellten, sind Ausdrucksformen eines existentialistischen Verständnisses der menschlichen Situation (z. B. die Breughelschen Bilder vom Turmbau zu Babel). Aber in keinem von diesen war mit der mittelalterlichen Tradition völlig gebrochen worden. Sie waren erst Ausdruck des existentialistischen Gesichtspunktes, noch nicht des Existentialismus selbst. In Verbindung mit der Entwicklung des modernen Individualismus erwähnten wir die nominalistische Aufspaltung der Universalien in individuelle Dinge. Es gibt Seiten im Nominalismus, die Motive des jüngsten Existentialismus vorwegnehmen. Die erste ist sein Irrationalismus, der aus dem Zusammenbruch der essentialistischen Philosophie unter dem Angriff von Duns Scotus und Ockham folgte. Die Betonung der Zufälligkeit alles Existierenden macht den Willen Gottes wie das Sein des Menschen zu etwas gleich Zufälligem. Sie gibt dem Menschen das Gefühl, daß es keine letzte Notwendigkeit gibt, weder in bezug auf sich selbst noch in bezug auf seine Welt; und sie erweckt in ihm die Angst vor dem Zufall. Ein anderes Motiv im jüngsten Existentialismus, das der Nominalismus vorweggenommen hatte, ist die Flucht in die Autorität, die eine Folge der Auflösung der Universalien ist und der Unfähigkeit des vereinzelten Individuums zu dem Mut, man selbst zu sein. Deshalb hatten die Nominalisten sich eine Brücke zum kirchlichen Autoritarismus gebaut, der alles Autoritäre im frühen und späten Mittelalter übertraf und schließlich zu dem modernen katholischen Kollektivismus führte. Aber trotz alledem war der Nominalismus kein Existentialismus, wenn er auch einer der wichtigsten Vorläufer des existentialistischen Mutes, man selbst zu sein, war. So weit konnte er nicht gehen, weil selbst der Nominalismus nicht aus der mittelalterlichen Tradition ausbrechen wollte. Was ist der Mut zum Sein in einer Situation, in der der existentielle Gesichtspunkt den essentiellen Rahmen noch nicht gesprengt hat? Im allgemeinen kann man sagen, daß es der Mut ist, Teil eines Ganzen zu sein. Aber diese Antwort genügt nicht. Wo ein existentialistischer Gesichtspunkt vorhanden ist, ist das Problem der individuellen menschlichen Situation vorhanden. Am Schluß des Dialogs „Gorgias“ bringt Plato die Individuen vor den Richter der Unterwelt, Rhadamanthys, der über ihre persönliche Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit urteilt. | Im klassischen Christentum betrifft das ewige Gericht das Individuum; bei Augustin ändert die Universalität der Erbsünde nichts an dem Dualismus in dem ewigen Schicksal des Individuums; die mönchische und mystische Selbstprüfung betrifft das individuelle Selbst; Dante weist die Individuen, ihrem besonderen Charakter entsprechend, den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit zu; die Maler des Dämonischen rufen das Gefühl hervor, daß das Individuum einsam ist in der Welt, so wie sie ist; der Nominalismus isoliert die Individuen. Trotzdem ist in
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allen diesen Fällen der Mut zum Sein nicht der Mut, man selbst zu sein. Es ist ein umfassendes Ganzes, aus dem der Mut zum Sein gewonnen wird: die himmlische Sphäre, das Reich Gottes, die göttliche Gnade, die von der Vorsehung bestimmte Struktur der Wirklichkeit, die Autorität der Kirche. Es ist kein Rückfall in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein; es ist vielmehr ein Fortschritt und eine Erhebung zu einer Quelle des Mutes, die beides transzendiert, den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein.
Der Verlust des existentialistischen Gesichtspunktes Der existentialistische Protest des 19. Jahrhunderts ist eine Reaktion gegen den Verlust des existentialistischen Gesichtspunktes seit dem Anfang der Neuzeit. Während die Frühzeit der Renaissance, durch Nikolaus Cusanus, die florentinische Akademie und die Malerei der Frührenaissance vertreten, noch von der augustinischen Tradition bestimmt war, machte sich die Spätrenaissance von ihr los und schuf einen neuen wissenschaftlichen Essentialismus. Bei Descartes ist die antiexistentialistische Haltung vollendet. Die Existenz des Menschen und seiner Welt wird „eingeklammert“, wie es Husserl nennt, der seine „phänomenologische Methode“ von Descartes ableitet. Der Mensch wird reines Bewußtsein, ein nacktes erkenntnistheoretisches Subjekt; die Welt (einschließlich der psychosomatischen Seite des Menschen) wird ein Objekt wissenschaftlicher Untersuchung und technischer Handhabung. Der Mensch in seiner existentiellen Situation verschwindet. Es ist durchaus konsequent, wenn der jüngste philosophische Existentialismus darauf hinweist, daß hinter dem sum in Descartes’ cogito ergo sum das Problem des Wesens dieses sum liegt, das mehr als bloße cogitatio (Bewußtsein) ist – nämlich Existenz in Zeit und Raum, und zwar unter den Bedingungen der Endlichkeit und der Entfremdung. Der Protestantismus schien mit seiner Ablehnung der Ontologie den existentialistischen Gesichtspunkt zu erneuern. Und tatsächlich unterstützten die protestantische Beschränkung des Dogmas auf die Gegen | überstellung von menschlicher Sünde und göttlicher Vergebung und die Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Gegenüberstellung den existentialistischen Gesichtspunkt – allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: die Fülle des existentialistischen Materials, das im Mittelalter in Verbindung mit der mönchischen Selbstprüfung entdeckt worden war, war verschwunden, nicht bei den Reformatoren selbst, aber bei ihren Nachfolgern, die den Nachdruck auf die Lehren von der Rechtfertigung und der Vorsehung legten. Die protestantischen Theologen betonten den unbedingten Charakter des göttlichen Gerichts und die Unabhängigkeit der göttlichen Vergebung. Sie mißtrauten der Analyse der menschlichen Existenz; die Relativitäten und
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Zweideutigkeiten der menschlichen Situation waren für sie ohne Bedeutung. Im Gegenteil: sie glaubten, daß derartige Betrachtungen das absolute Ja und Nein abschwächten, das die göttlich-menschliche Beziehung charakterisiert. Die unexistentielle Methode der protestantischen Theologie hatte zur Folge, daß die dogmatischen Begriffe der biblischen Botschaft als objektive Wahrheit verkündet wurden, ohne den Versuch zu machen, die Botschaft dem Menschen in seiner psychosomatischen und psychosozialen Existenz nahezubringen. (Erst unter dem Druck der sozialen Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts begann der Protestantismus, sich den existentiellen Problemen der Gegenwart zu öffnen.) Im Calvinismus und in den Sekten wurde der Mensch immer mehr zu einem abstrakten sittlichen Subjekt gemacht, wie er bei Descartes zum erkenntnistheoretischen Subjekt gemacht worden war. Und als sich im 18. Jahrhundert der Inhalt der protestantischen Ethik den rationalen Forderungen der aufkommenden Industriegesellschaft anpaßte, verschmolzen antiexistentialistische Philosophie und antiexistentialistische Theologie. Das rationale Subjekt ersetzte in moralischer und wissenschaftlicher Hinsicht das existentielle Subjekt, seine Konflikte und Verzweiflungen. Einer der Führer dieser Entwicklung, Immanuel Kant, der Lehrer der moralischen Autonomie, räumte dem existentialistischen Gesichtspunkt in seiner Philosophie zwei Stellen ein: eine in seiner Lehre von der unendlichen Distanz zwischen dem endlichen Menschen und dem Sein-Selbst und eine andere in seiner Lehre von der Verderbtheit der menschlichen Vernunft durch das radikale Böse. Aber wegen dieser existentialistischen Ideen griffen ihn viele seiner Bewunderer an, auch die größten unter ihnen, Goethe und Hegel. Beide waren vorwiegend antiexistentialistisch. In Hegels Versuch, die gesamte Realität als ein System von Essenzen zu interpretieren, dessen mehr oder weniger angemessener Ausdruck die existierende Welt ist, erreichte die essentia | listische Richtung der modernen Philosophie ihren Höhepunkt. Die Existenz war in die Essenz aufgelöst. Die Welt ist vernünftig, so wie sie ist. Die Existenz ist ein notwendiger Ausdruck der Essenz. Die Weltgeschichte ist die Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz. Ihr Gang kann verstanden und gerechtfertigt werden. Einen Mut, der die Negativitäten des individuellen Lebens besiegt, können die gewinnen, die an der Weltgeschichte partizipieren, in der sich der absolute Geist aktualisiert. Die Angst vor Schicksal, Schuld und Sinnlosigkeit wird überwunden durch die Erhebung über die verschiedenen Grade von Sinngehalten hinweg zu einem höchsten Sinn, der philosophischen Betrachtung des Universalprozesses selbst. Hegel versucht, den Mut, Teil eines Ganzen zu sein (besonders eines Volkes), mit dem Mut, man selbst zu sein (besonders als Denker), in einem Mut zu vereinen, der beide transzendiert und einen mystischen Untergrund hat.
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Aber die existentialistischen Elemente in Hegel dürfen nicht übersehen werden. Sie sind stärker, als man gewöhnlich annimmt.Vor allem ist sich Hegel der Ontologie des Nichtseins bewußt. Die Negation ist die dynamische Kraft in seinem System, die die absolute Idee (das Essentielle) zur Existenz antreibt und die Existenz zur absoluten Idee zurücktreibt (die sich in dem Prozeß als absoluter Geist aktualisiert). Hegel weiß von dem Geheimnis des Nichtseins und der Angst vor ihm. Aber er nimmt es in die Selbstbejahung des Seins hinein. Ein zweites existentialistisches Element in Hegel ist seine Einsicht, daß ohne Interesse und Leidenschaft nichts Großes innerhalb der Existenz vollbracht wird. Diese Behauptung in der Einleitung zu seiner „Philosophie der Geschichte“ zeigt, daß Hegel sich der Einsichten in die nichtrationalen Schichten der menschlichen Natur ebenso bewußt war wie die Romantiker und die Lebensphilosophen. Das dritte Element, das zusammen mit den beiden anderen Hegels existentialistische Feinde stark beeinflußt hat, ist die realistische Beurteilung der menschlichen Situation innerhalb der Weltgeschichte. „Die Weltgeschichte“, sagt er in der gleichen Einleitung, „ist nicht der Boden für das Glück“ des Individuums. Das bedeutet entweder, daß sich das Individuum über die Weltgeschichte zu ihrer philosophischen Betrachtung erheben muß oder daß das existentielle Problem des Individuums nicht gelöst werden kann. Dies machte der Existentialismus zum Ausgangspunkt seines Protestes gegen Hegel und gegen die Welt, die sich in ihm spiegelt. |
Existentialismus als Protest Der Protest gegen Hegels essentialistische Philosophie bediente sich der existentialistischen Elemente, die in Hegel selbst, wenn auch nur implizit, vorhanden waren. Der erste existentialistische Angriff kam von Hegels ehemaligem Freund Schelling, unter dessen Einfluß Hegel einmal gestanden hatte. Schelling hatte in seinem Alter die sogenannte „positive Philosophie“ entwickelt, deren Begriffe von den protestierenden Existentialisten des 19. Jahrhunderts zum großen Teil aufgegriffen wurden. Schelling nannte den Essentialismus „negative Philosophie“, weil er von der realen Existenz abstrahiert, und er stellte ihr die „positive Philosophie“ entgegen, wie er das Denken des Individuums nannte, das aus seiner geschichtlichen Situation heraus lebt, denkt und entscheidet. Er war der erste, der den Ausdruck „Existenz“ in Opposition gegen den philosophischen Essentialismus verwandte. Obgleich seine Philosophie nicht akzeptiert wurde, weil sie den christlichen Mythos philosophisch in existentialistischen Begriffen neu deutete, übte er auf viele großen Einfluß aus, in erster Linie auf Kierkegaard.
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Schopenhauer nahm in seinem antiessentialistischen Denken die voluntaristische Tradition auf. Er entdeckte aufs neue Charakteristika der menschlichen Seele und der existentiellen Situation des Menschen, die durch die essentialistische Tendenz des modernen Denkens verdeckt worden waren. Zur gleichen Zeit wies Feuerbach auf die materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz hin und leitete den religiösen Glauben von dem Wunsch des Menschen ab, seine Endlichkeit in einer transzendenten Welt zu überwinden. Max Stirner schrieb ein Buch, in dem der Mut, man selbst zu sein, als ein praktischer Solipsismus erschien, der jede Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch vernichtete. Marx gehört insofern zum existentialistischen Protest, als er die tatsächliche Existenz des Menschen im frühkapitalistischen System Hegels essentialistischer Beschreibung der Versöhnung des Menschen mit sich selbst in der Gegenwart entgegenstellte. Der bedeutendste von allen Existentialisten war Nietzsche, der in seiner Beschreibung des europäischen Nihilismus eine Welt aufzeigte, in der die menschliche Existenz ihren letzten Sinn verloren hat. Die Lebensphilosophen und die Pragmatiker versuchten, von der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt auf etwas zurückzugehen, das beiden zugrunde liegt: „das Leben“, und die objektivierte Welt als Selbstverneinung des schöpferischen Lebens zu deuten (Dilthey, Bergson, Simmel, James). Der Soziologe Max Weber, einer der größten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, sah die tragische Selbst | zerstörung des Lebens kommen, nachdem die technische Vernunft zur Herrschaft gelangt ist. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren alle diese Stimmen noch Protest, die Situation selbst hatte sich noch nicht sichtbar verändert. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestimmt der Protest gegen die verdinglichte Welt Kunst und Literatur. Während die großen französischen Impressionisten trotz der Betonung des subjektiven Elements die Spaltung in Subjektivität und Objektivität nicht transzendierten, sondern das Subjekt selbst als wissenschaftliches Objekt behandelten, hat sich die Situation mit Cézanne,van Gogh und Munch geändert.Von dieser Zeit an erschien das Problem der Existenz in den beunruhigenden Formen des künstlerischen Expressionismus. – Der existentialistische Protest brachte in allen seinen Phasen ein reiches psychologisches Material zutage. Die existentialistischen Revolutionäre wie Baudelaire und Rimbaud in der Lyrik, Flaubert und Dostojewski im Roman, Ibsen und Strindberg im Drama, haben in den Wüsten und Dschungeln der menschlichen Seele neue Entdeckungen gemacht. Ihre Einsichten sind durch die Tiefenpsychologie, die am Ende des Jahrhunderts aufkam, bestätigt und methodisch begründet worden. Als das 19. Jahrhundert mit dem 31. Juli 1914 zu Ende ging, hörte der Existentialismus auf, Protest zu sein und wurde zum Spiegel einer erfahrenen Wirklichkeit. Was die revolutionären Existentialisten des 19. Jahrhunderts zum Protest trieb, war die Drohung eines unendlichen Verlustes, nämlich des Verlustes der indivi-
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duellen Person. Sie sahen, daß eine Entwicklung im Gange war, die die Person zum Ding machte, zu einem Stück Wirklichkeit, das die Wissenschaft berechnen und die Technik manipulieren kann. Die idealistische Richtung des bürgerlichen Denkens machte die Person zu einem mehr oder minder angemessenen Träger von Universalien. Die naturalistische Richtung machte sie zu einem leeren Feld, das Sinneseindrücke aufnimmt und sich von ihnen je nach dem Grade ihrer Intensität beherrschen läßt. In beiden Fällen ist das individuelle Selbst leerer Raum oder Gefäß für einen Inhalt, der ihm fremd ist und durch den es sich selbst entfremdet. Idealismus und Naturalismus sind sich in ihrer Haltung zur existierenden Person darin gleich, daß sie beide deren unendlichen Wert aufheben und sie zu einem Raum machen, durch den etwas Fremdes hindurchgeht. Beide Philosophien sind Ausdruck einer Gesellschaftsform, die zur Befreiung des Menschen entworfen war, aber unter die Knechtschaft der Objekte geriet, die sie selbst geschaffen hatte. Die Sicherheit, die durch gut funktionierende Mechanismen für die technische Beherrschung der | Natur, durch die verfeinerte psychologische Manipulation der Person und durch die schnell anwachsende organisatorische Lenkung der Gesellschaft gewährleistet wird, diese Sicherheit wird mit einem hohen Preis erkauft: der Mensch, für den all dies als Mittel erfunden worden war, wird selbst zum Mittel im Dienst von Mitteln. Das liegt Pascals Angriff auf die Herrschaft der mathematischen Vernunft im 17. Jahrhundert zugrunde; es liegt dem romantischen Angriff auf die Herrschaft der moralischen Vernunft im späten 18. Jahrhundert zugrunde; es liegt Kierkegaards Angriff auf die Herrschaft der entpersönlichenden Logik in Hegels Denken zugrunde. Es liegt dem Kampf von Marx gegen die wirtschaftliche Entmenschlichung zugrunde sowie Nietzsches Kampf für das schöpferische Leben und Bergsons Kampf gegen den Raum als Bereich toter Objekte. Es liegt dem Bestreben der meisten Lebensphilosophen zugrunde, die versuchen, das Leben vor der zerstörerischen Macht der Objektivierung zu retten. Sie haben für die Erhaltung der Person gekämpft, für die Selbstbejahung des Selbst in einer Situation, in der das Selbst immer mehr in seiner Welt unterging. Sie haben unter Bedingungen, die das Selbst vernichten und es durch das Ding ersetzen, nach einem Weg für den Mut man selbst zu sein gesucht.
Der gegenwärtige Existentialismus und der Mut der Verzweiflung Mut und Verzweiflung Im 20. Jahrhundert tritt der Existentialismus in seiner eindrucksvollsten und drohendsten Form hervor. In ihr gelangt die Entwicklung zu einem Punkt, über
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den sie nicht hinausgehen kann. Der Existentialismus ist in allen Ländern der westlichen Welt eine Realität geworden. Er hat in allen Bereichen des geistigen Schaffens Ausdruck gefunden, er bewegt alle gebildeten Klassen. Er ist nicht die Erfindung eines philosophischen Bohemiens oder eines neurotischen Romanschreibers. Er ist keine Übertreibung, die der Sensation oder des Profits halber gemacht wird; er ist kein morbides Spiel mit Negativitäten. Alle diese Elemente sind in ihn eingegangen, aber er selbst ist etwas anderes: Er ist Ausdruck der Angst vor der Sinnlosigkeit und des Versuchs, diese Angst in den Mut, man selbst zu sein, hineinzunehmen. Die jüngste Entwicklung des Existentialismus muß von diesen beiden Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Er ist nicht einfach Individualismus vom rationalistischen, romantischen oder naturalistischen Typ. | Was ihn von diesen Bewegungen, die ihn vorbereitet haben, unterscheidet, ist, daß er den allgemeinen Zusammenbruch aller Sinngehalte erlebt hat. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat eine sinnvolle Welt verloren und ein Selbst, das aus einem geistigen Zentrum in Sinnbezügen lebt. Die vom Menschen geschaffene Welt der Dinge hat den, der sie schuf, verschlungen, er hat in ihr seine Subjektivität verloren. Er ist das Opfer seiner eigenen Geschöpfe. Aber der Mensch weiß noch, was er verloren hat und ständig verliert. Er ist noch Mensch genug, um seine Entmenschlichung in seiner Verzweiflung zu erfahren. Er weiß zwar keinen Ausweg, aber er versucht, seine Menschlichkeit dadurch zu retten, daß er diese ausweglose Situation zum Ausdruck bringt. Er reagiert auf sie mit dem Mut der Verzweiflung, dem Mut, diese Verzweiflung auf sich zu nehmen und der radikalen Drohung des Nichtseins durch den Mut, man selbst zu sein, zu widerstehen. Jede Analyse des gegenwärtigen Existentialismus in Philosophie, Kunst und Literatur kann seine zweideutige Struktur aufzeigen: die Sinnlosigkeit, die zur Verzweiflung treibt, die leidenschaftliche Enthüllung dieser Situation und den – geglückten oder mißglückten – Versuch, die Angst vor der Sinnlosigkeit in den Mut, man selbst zu sein, hineinzunehmen. Es ist nicht überraschend, daß diejenigen, die unerschüttert sind in ihrem Mut, Teil eines Ganzen zu sein – sei es in der Weise des Kollektivismus oder des Konformismus –, von der Form beunruhigt werden, in der sich der existentialistische Mut der Verzweiflung ausdrückt. Sie können nicht verstehen,was heute vor sich geht. Sie können die echte Angst im Existentialismus nicht von der neurotischen unterscheiden. Sie greifen als morbides Verlangen nach Negativität an, was in Wirklichkeit mutiges Aufsichnehmen der Negativität ist. Sie bezeichnen als Verfall, was in Wirklichkeit die schöpferische Enthüllung des Verfalls ist. Sie lehnen als sinnlos ab, was der sinnvolle Versuch ist, die Sinnlosigkeit unserer Situation aufzudecken. Die Ursache für den weitverbreiteten Widerstand gegen den jüngsten Existentialismus liegt nicht in der Schwierigkeit, diejenigen zu
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verstehen, die in Philosophie und Kunst neue Wege gehen, sondern in dem Wunsch, die Sicherheit zu retten, die ein sich selbst beschränkender Mut, Teil eines Ganzen zu sein, mit sich zu bringen scheint. Man ahnt irgendwie, daß dies keine wirkliche Sicherheit ist, man muß eine gewisse Neigung bekämpfen, sich den existentialistischen Visionen hinzugeben, man genießt sie sogar, wenn sie auf dem Theater oder in Romanen dargestellt werden; aber man weigert sich, sie ernst zu nehmen, d. h. als Enthüllungen der eigenen existentiellen Sinnlosigkeit und verborgenen Verzweiflung zu verstehen. Die heftige Reaktion gegen die moderne Kunst, sowohl in kollektivistischen | wie in konformistischen Gruppen (im Nationalsozialismus und im Bolschewismus wie in der amerikanischen Demokratie), zeigt, daß man sich von ihr ernstlich bedroht fühlt. Aber niemand fühlt sich von etwas ernstlich bedroht, das nicht Element des eigenen Selbst ist. Und da es ein Symptom des neurotischen Verhaltens ist, dem Nichtsein durch Reduzierung des Seins zu widerstehen, könnte der Existentialismus den häufigen Vorwurf des Neurotischen damit erwidern, daß er den neurotischen Verteidigungsmechanismus des antiexistentialistischen Wunsches nach traditioneller Sicherheit aufzeigt. Es sollte keine Frage sein, was die christliche Theologie in dieser Situation zu tun hat: Sie sollte sich für die Wahrheit gegen die Sicherheit entscheiden, selbst wenn die Sicherheit von den Kirchen sanktioniert und unterstützt wird. Es gibt zwar einen kirchlichen Konformismus seit den Anfängen der Kirche und einen kirchlichen Kollektivismus, oder zumindest Halbkollektivismus, in den verschiedenen Perioden der Kirchengeschichte; aber das sollte die christlichen Theologen nicht dazu verleiten, den christlichen Mut mit dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein, zu identifizieren. Sie sollten verstehen, daß der Mut, man selbst zu sein, ein notwendiges Korrektiv des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, ist – selbst wenn sie zu Recht behaupten, daß keine dieser Formen des Mutes zum Sein die endgültige Lösung ist.
Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Kunst und Literatur In den Existentialisten des 20. Jahrhunderts manifestieren sich der Mut der Verzweiflung, die Erfahrung der Sinnlosigkeit und die Selbstbejahung trotz der Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit ist ihrer aller Problem. Wie wir gesehen haben, ist die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit die Angst unserer Zeit. Die Angst vor Schicksal und Tod und die Angst vor Schuld und Verdammung sind in ihr enthalten, aber sie sind nicht entscheidend. Wenn Heidegger von der Vorwegnahme des eigenen Todes spricht, geht es ihm dabei nicht um die Frage der Unsterblichkeit, sondern um die Frage, was die Vorwegnahme des Todes für die menschliche Situation bedeutet. Wenn Kierkegaard das Problem der Schuld be-
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handelt, bewegt ihn dabei nicht die theologische Frage von Sünde und Vergebung, sondern die Frage, wie angesichts persönlicher Schuld persönliche Existenz möglich ist. Es ist die Sinnfrage, die die jüngsten Existentialisten beunruhigt, auch wenn sie von Endlichkeit und Schuld reden. Der Frage nach dem Sinn und der Verzweiflung über die Sinnlosig | keit im 20. Jahrhundert liegt ein entscheidendes Erlebnis des 19. Jahrhunderts zugrunde, nämlich das Erlebnis, daß Gott tot ist. Feuerbach hatte Gott als Produkt der unendlichen Sehnsucht des menschlichen Herzens erklärt und damit geleugnet; Marx hatte ihn als ideologischen Versuch, sich über die gegebene Realität zu erheben, aufgelöst, Nietzsche als Symptom für das Erschlaffen des Willens zum Leben. Das Ergebnis war die Feststellung, daß „Gott tot ist“ und mit ihm das ganze System von Werten und Sinnbezügen, in denen man gelebt hatte. Das wird zugleich als Verlust und als Befreiung empfunden. Es führt entweder zum Nihilismus oder zu dem Mut, der das Nichtsein in sich hineinnimmt. Wahrscheinlich hat keiner den modernen Existentialismus so stark beeinflußt wie Nietzsche, und wahrscheinlich hat niemand den Willen, man selbst zu sein, konsequenter und so bis zum Widersinn verfochten wie er. In ihm führt die Erfahrung der Sinnlosigkeit bis zur Verzweiflung und Selbstzerstörung. Auf diesen Voraussetzungen entwickelte der Existentialismus, d. h. die große Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, den Mut, der Angst vor der Sinnlosigkeit zu begegnen, sie auszuhalten und zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein schöpferischer Mut, der sich in den schöpferischen Ausdrucksformen der Verzweiflung zeigt. Sartre nennt eines seiner stärksten Stücke „Huis clos“, was soviel wie kein Ausweg bedeutet, eine klassische Metapher für die Situation der Verzweiflung. Aber er selbst besitzt einen Ausweg, er kann sagen: „Kein Ausweg“ und so die Situation der Sinnlosigkeit auf sich nehmen. T. S. Eliot nennt sein erstes großes Gedicht „Das wüste Land“ (The Waste Land); es beschreibt die Zersetzung der Zivilisation, den Mangel an Überzeugung, die Richtungslosigkeit, die Armut und die Hysterie des modernen Bewußtseins (wie einer seiner Kritiker es analysiert hat). Aber es ist der schön gepflegte Garten eines großen Gedichts, in dem Eliot die Sinnlosigkeit des „wüsten Landes“ beschreibt und in dem er den Mut der Verzweiflung zum Ausdruck bringt. In Kafkas Romanen „Das Schloß“ und „Der Prozeß“ werden die Unerreichbarkeit der Quelle des Sinns und die Dunkelheit der Quelle der Gerechtigkeit in einer Sprache beschrieben, die rein und klassisch ist. Der Mut, die Einsamkeit eines solchen Schaffens und die Qual solcher Visionen auf sich zu nehmen, sind ein großartiger Ausdruck für den Mut, man selbst zu sein. Der Mensch ist von den Quellen des Mutes getrennt – aber nicht vollständig; er ist noch fähig, seine Entfremdung zu erkennen und anzunehmen. In W. H. Audens „Zeitalter der Angst“ (Age of Anxiety) offenbart sich der Mut, die Angst in einer Welt, die ihren Sinn
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verloren hat, auf sich zu nehmen, ebenso deutlich wie das | tiefe Erlebnis dieses Verlustes: die beiden Pole, die in dem Ausdruck „Mut der Verzweiflung“ vereint sind, haben das gleiche Gewicht. In Sartres „Zeitalter der Vernunft“ (L’âge de raison) hält der Held einer Situation stand, in der ihn sein leidenschaftlicher Wunsch, er selbst zu sein, zur Ablehnung jeder menschlichen Verantwortung treibt. Er weigert sich, irgend etwas zu akzeptieren, das seine Freiheit beschränken könnte. Nichts hat endgültigen Sinn für ihn, weder Liebe und Freundschaft, noch Politik. Das einzig Unveränderliche ist die unbeschränkte Freiheit, sich zu ändern und diese inhaltslose Freiheit zu bewahren. Dieser Held repräsentiert eine der extremsten Formen des Mutes, man selbst zu sein, nämlich ein Selbst zu sein, das frei von jeder Bindung ist und dafür den Preis völliger Leere zahlt. Durch die Erfindung einer solchen Gestalt beweist Sartre seinen Mut der Verzweiflung. Von der anderen Seite wird das gleiche Problem in der Erzählung „Der Fremde“ (L’étranger) von Camus behandelt. Camus steht auf der Grenze zum Existentialismus, sieht aber das Problem der Sinnlosigkeit ebenso scharf wie die Existentialisten. Sein Held ist ein Mensch ohne Subjektivität. Er ist in keiner Weise außergewöhnlich: er handelt, wie ein gewöhnlicher Beamter in einer untergeordneten Stellung handeln würde. Er ist ein Fremder, weil er in nichts eine existentielle Beziehung zu sich oder zu seiner Welt erreicht.Was ihm auch widerfährt, hat für ihn keine Wirklichkeit und keinen Sinn: eine Liebe, die keine wirkliche Liebe ist; ein Gerichtsverfahren, das kein wirkliches Gerichtsverfahren ist; eine Hinrichtung, die keine Rechtfertigung in der Wirklichkeit besitzt. Er kennt weder Schuld noch Vergebung, weder Verzweiflung noch Mut. Er ist nicht als Person, sondern als psychologischer Prozeß beschrieben, der von allen Seiten determiniert ist, ob er arbeitet, liebt oder tötet, ißt oder schläft. Er ist ein Ding unter Dingen, das keinen Sinn in sich selbst hat und deshalb auch keinen Sinn in seiner Welt finden kann. Er repräsentiert das Schicksal absoluter Verdinglichung, gegen das alle Existentialisten ankämpfen. Er repräsentiert es auf die radikalste Art, ohne irgendwelche Versöhnung. Der Mut, diese Gestalt zu schaffen, gleicht dem Mut, der Kafka die Gestalt des K. schaffen ließ. Ein Blick auf das Theater zeigt das gleiche Bild. Besonders in Amerika ist die Bühne angefüllt mit Darstellungen der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung, und in manchen Dramen wird nichts anderes gezeigt wie in Arthur Millers „Tod des Handlungsreisenden“ (Death of a Salesman), während in anderen die Negativität weniger unbedingt ist wie in Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ (A Streetcar Named Desire). Aber es kommt selten bis zur Positivität; selbst relativ positive Lösungen werden vom Zweifel und von dem Bewußtsein von | der Zweideutigkeit aller Lösungen untergraben. Es ist erstaunlich, daß diese Stücke in einem Lande große Zuschauermassen anziehen, dessen vorherrschender Mut der Mut ist, Teil in einem System demokratischer Konformität zu sein. Was bedeutet
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das für die Situation in Amerika und damit in der Welt überhaupt? Man unterschätzt die Bedeutung dieses Phänomens, wenn man auf die unbestreitbare Tatsache hinweist, daß selbst die größten Zuschauermassen nur einen unendlich geringen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung darstellen. Man kann die Anziehungskraft, die das existentialistische Theater für viele hat, damit abtun, daß es eine importierte Mode sei, die ihren Reiz bald verlieren wird. Es kann aber auch sein, daß die verhältnismäßig wenigen (wenige auch dann noch, wenn man ihnen all die Zyniker und Verzweifelten an den amerikanischen akademischen Bildungsstätten zuzählt) eine Avantgarde sind, die eine große Umwälzung in der geistigen und sozialpsychologischen Situation ankündet. Es kann sein, daß die Grenzen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, von mehr Menschen erkannt werden, als die wachsende Konformität vermuten läßt.Wenn dies die Begründung für die Anziehungskraft des Existentialismus im Theater ist, so sollte man sie genau beobachten und verhindern, daß sie zum Wegbereiter kollektivistischer Formen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, wird – eine Gefahr, deren Ernst von der Geschichte vielfach bestätigt wird. Das Erlebnis der Sinnlosigkeit und der Mut, man selbst zu sein, bilden in ihrer Verbindung den Schlüssel für die Entwicklung der bildenden Künste seit der Jahrhundertwende. Im Expressionismus und Surrealismus werden die Oberflächenstrukturen der Wirklichkeit zerbrochen. Die Kategorien, die die gewöhnliche Erfahrung konstituieren, haben ihre Macht verloren. Die Kategorie der Substanz gilt nicht mehr: massive Gegenstände werden wie Stricke verdreht. Der Kausalzusammenhang der Dinge wird nicht mehr beachtet: die Dinge erscheinen in völliger Zufälligkeit. Die zeitliche Aufeinanderfolge ist unwichtig geworden: es kommt nicht darauf an, ob ein Ereignis vor oder nach einem anderen stattfindet. Die räumlichen Dimensionen werden reduziert oder in eine schreckenerregende Unendlichkeit aufgelöst. Die organischen Lebensstrukturen werden zerstückelt, und die Stücke werden willkürlich (vom biologischen, nicht vom künstlerischen Standpunkt) wieder zusammengesetzt: Glieder werden verstreut, Farben von ihren natürlichen Trägern abgelöst. Der psychologische Prozeß (dies gilt mehr von der Literatur als von der Kunst) wird umgekehrt: man lebt von der Zukunft in die Vergangenheit und das ohne Rhythmus oder irgendwelche sinnvolle Gliederung. Die Welt der Angst ist eine Welt, | in der die Kategorien, die Strukturen der Wirklichkeit, ihre Gültigkeit verloren haben. Jedem müßte es schwindlig werden, wenn die Kausalität plötzlich nicht mehr gültig wäre. In der existentialistischen Kunst (wie ich sie nenne) hat sie ihre Gültigkeit verloren. Man hat die moderne Kunst als Vorläufer des Totalitarismus angegriffen. Die Antwort, daß alle totalitären Systeme damit begannen, daß sie sich gegen die moderne Kunst stellten, genügt nicht, denn man könnte entgegnen, daß die totalitären Systeme gerade deshalb gegen die moderne Kunst kämpfen, weil sie die
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in ihr ausgedrückte Sinnlosigkeit bekämpfen wollten. Die wirkliche Antwort liegt tiefer: die moderne Kunst ist nicht Propaganda für eine Situation, sondern ihre Enthüllung. Sie zeigt unsere Existenz, wie sie ist; sie versucht nicht, die Wirklichkeit, in der wir leben, zu verdecken. Deshalb müssen wir fragen: Ist die Enthüllung einer Situation Propaganda für diese Situation? Wenn das der Fall wäre, müßte alle Kunst unredliche Verschönerung werden. Die Kunst, wie sie von beiden, dem Totalitarismus und dem demokratischen Konformismus, gepflegt wird, ist solch unredliche Schönfärberei. Sie ist idealisierter Naturalismus, der bevorzugt wird, weil er die Gefahr beseitigt, daß die Kunst kritisch und revolutionär wird. Die Schöpfer der modernen Kunst haben die Sinnlosigkeit unserer Existenz erkannt; sie partizipieren an ihrer Verzweiflung. Zugleich haben sie den Mut, ihr standzuhalten und sie in ihren Gemälden und Bildwerken zum Ausdruck zu bringen. Sie haben den Mut, man selbst zu sein.
Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Philosophie Die Existenzphilosophie hat theoretisch formuliert, was wir in Kunst und Literatur als den „Mut der Verzweiflung“ bezeichneten. In „Sein und Zeit“ (das seine philosophische Bedeutung behält trotz Kritik und Widerruf seines Autors) beschreibt Heidegger den „Mut der Verzweiflung“ in philosophisch exakten Begriffen. Er arbeitet die Begriffe Nichtsein, Endlichkeit, Angst, Sorge, das Sein zum Tode, Schuld, Gewissen, Selbst usw. sorgfältig aus. Danach analysiert er ein Phänomen, das er „Entschlossenheit“ nennt. Mit diesem Wort weist er auf das symbolische Aufschließen dessen hin, was Angst, Unterwerfung unter die Konformität und Selbstabschließung verschlossen haben. Sobald dieses „entschlossen“ ist, kann man handeln, aber nicht nach Normen, die von irgend jemandem oder irgend etwas gegeben sind. Niemand kann dem „entschlossenen“ Individuum Anweisungen für seine Handlungen geben, kein Gott, keine Konvention, kein Vernunftgesetz, keine Norm und kein Prinzip.Wir müssen wir selbst sein, wir selbst müssen entscheiden, | wohin wir gehen wollen. Unser Gewissen ist der Ruf zu uns selbst. Es sagt uns nichts Konkretes, es ist weder die Stimme Gottes, noch die Anerkennung ewiger Prinzipien. Es ruft uns zu uns selbst aus dem „man“, aus dem „Gerede“, aus der „Uneigentlichkeit“, aus der Anpassung, dem Hauptprinzip des konformistischen Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Aber wenn wir diesem Ruf folgen, werden wir unausweichlich schuldig, nicht durch unsere moralische Schwäche, sondern durch unsere existentielle Situation. In dem Mut, wir selbst zu sein, werden wir schuldig, und es wird von uns verlangt, diese existentielle Schuld auf uns zu nehmen. Der Sinnlosigkeit in allen ihren Aspekten kann nur standhalten, wer entschlossen die Angst vor Endlichkeit und Schuld auf sich nimmt. Es
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gibt keine Norm, kein Kriterium für das, was recht oder unrecht ist. Die Entschlossenheit macht das zum Rechten, was recht sein soll. Es war eine geschichtliche Funktion Heideggers, die existentialistische Analyse des Mutes, man selbst zu sein, radikaler und – historisch gesehen – zerstörerischer durchzuführen als irgendein anderer. Sartre zog aus dem frühen Heidegger Konsequenzen, die der späte Heidegger nicht akzeptierte. Aber es bleibt zweifelhaft, ob Sartre nicht historisch im Recht war. Es war für Sartre leichter, diese Konsequenzen zu ziehen, als für Heidegger, denn Heideggers Ontologie liegt der mystische Seinsbegriff zugrunde, während Sartre vom Humanismus abhängig ist. So konnte Sartre Heideggers existentialistische Analysen weiterführen, ohne durch einen mystischen Seinsbegriff beschränkt zu sein. Aus diesem Grunde konnte er zum Symbol des zeitgenössischen Existentialismus werden, eine Stellung, die er weniger für die Originalität seiner Grundbegriffe verdient als für den Radikalismus, die Konsequenz und das psychologische Verständnis, mit denen er seine Philosophie durchgeführt hat. Ich weise vor allem auf seine These hin, daß die Essenz des Menschen seine Existenz ist. Dieser Satz ist wie ein Blitz, der die ganze existentialistische Situation erhellt. Man könnte ihn den verzweifeltsten und den mutigsten Satz in der ganzen existentialistischen Literatur nennen. Er besagt, daß es eine essentielle Natur des Menschen nicht gibt mit Ausnahme des einen Punktes, daß der Mensch aus sich machen kann, was er will. Der Mensch macht sich zu dem, was er ist. Es ist ihm nichts gegeben, was seine Tätigkeit bestimmt. Die Essenz seines Seins – das,was er sein sollte – ist nichts, was er vorfindet, er schafft sie. Der Mensch ist, was er aus sich macht. Und der Mut, man selbst zu sein, ist der Mut, aus sich zu machen, was man sein will. Andere Existentialisten sind weniger radikal. Karl Jaspers empfiehlt eine neue Konformität in Form eines allumfassenden „philosophi | schen Glaubens“; andere sprechen von einer philosophia perennis; Gabriel Marcel geht von einem existentialistischen Radikalismus zu einer Haltung über, die auf dem Halbkollektivismus des mittelalterlichen Denkens fußt. In der Philosophie wird der Existentialismus mehr als von irgendwelchen anderen von Heidegger und Sartre vertreten.
Der Mut der Verzweiflung in der unschöpferischen existentialistischen Haltung In den letzten Abschnitten haben wir von denen gesprochen, die ihr schöpferischer Mut befähigt, die existentielle Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht viele Menschen sind schöpferisch, und es gibt auch eine unschöpferische existentialistische Haltung, den sogenannten Zynismus. Heute verstehen wir unter einem Zyniker nicht mehr das gleiche wie die Griechen. Für die Griechen war ein
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Zyniker ein Mensch, der ihre Kultur vom Standpunkt der Vernunft und der Naturgesetze kritisierte; er war ein revolutionärer Rationalist, ein Anhänger des Sokrates. Die modernen Zyniker wollen nicht als Anhänger irgendeiner Schule gelten. Sie glauben nicht an die Vernunft, sie kennen kein Kriterium der Wahrheit, kein Wertsystem und keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Sie versuchen jede Norm, die ihnen gegeben wird, zu untergraben. Ihr Mut findet keinen schöpferischen Ausdruck, aber er drückt sich in ihrer Lebenshaltung aus. Sie verwerfen mutig jede Lösung, die sie der Freiheit beraubt, alles zu verwerfen, was sie verwerfen wollen. Die modernen Zyniker sind einsam, obwohl sie der Gesellschaft bedürfen, um ihre Einsamkeit zeigen zu können. Sie kennen weder vorläufige Sinnbezüge noch einen letzten unbedingten Sinn und fallen deshalb leicht der neurotischen Angst zum Opfer. Zwanghafte Selbstbejahung wie fanatische Selbstaufgabe sind häufig Ausdruck des nicht-schöpferischen Mutes, man selbst zu sein.
Die Grenzen des Mutes, man selbst zu sein Das führt zu der Frage nach den Grenzen des Mutes, man selbst zu sein, in seinen schöpferischen wie in seinen unschöpferischen Formen. Mut ist Selbstbejahung „trotz“, und der Mut, man selbst zu sein, ist die Bejahung des Selbst als eines Selbst. Aber die Frage ist: Was ist dieses Selbst, das sich selbst bejaht? Der radikale Existentialismus antwortet: Es ist das, was es aus sich selbst macht. Das ist alles, was er sagen kann, weil alles weitere die absolute Freiheit des Selbst beschränken würde. Das Selbst, das von der Partizipation an seiner Welt abgeschnitten ist, | ist eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit. Es muß handeln, weil es lebt, aber es muß jede Handlung wieder zurücknehmen, weil das Handeln den Handelnden in den Gegenstand seiner Handlung verwickelt. Es verleiht ihm Inhalt und beschränkt darum seine Freiheit, aus sich zu machen, was er will. In der klassischen Theologie, der katholischen wie der protestantischen, hat nur Gott dieses Vorrecht: er ist a se (aus sich) oder absolute Freiheit. Nichts ist in ihm, was nicht durch ihn ist. Der Existentialismus gibt dem Menschen auf Grund der Feststellung, daß Gott tot ist, die göttliche Aseität. Nichts soll im Menschen sein, was nicht durch ihn ist. Aber der Mensch ist endlich, er findet sich als das, was er ist. Er hat sein Sein empfangen und mit ihm die Struktur seines Seins, die Struktur der endlichen Freiheit eingeschlossen, und endliche Freiheit ist nicht Aseität. Der Mensch kann sich nur bejahen, wenn er nicht eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit, bejaht, sondern die Struktur des Seins, in der er sich vor allem Handeln und Nichthandeln vorfindet. Endliche Freiheit hat eine bestimmte Struktur, und wenn das Selbst versucht, gegen diese Struktur zu verstoßen, endet es mit dem Verlust seines
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Selbst. Der nicht-partizipierende Held in Sartres L’âge de raison ist in einem Netz von Zufälligkeiten gefangen, die zum Teil aus den unterbewußten Schichten seines eigenen Selbst stammen, zum Teil aus seiner Umwelt, von der er sich nicht zurückziehen kann. Das angeblich leere Selbst ist gefüllt mit Inhalten, die es versklaven, gerade weil es sie nicht als seine Inhalte erkennt oder annimmt. Das gilt auch für den Zyniker, wie wir oben gezeigt haben. Er kann den Mächten seines Selbst, die ihn in den völligen Verlust der Freiheit treiben, nicht entrinnen. Im 20. Jahrhundert vollzieht sich auf der ganzen Welt die dialektische Selbstzerstörung der radikalen Formen des Mutes, man selbst zu sein, in Form der totalitären Reaktion gegen den revolutionären Existentialismus des 19. Jahrhunderts. Der existentialistische Protest gegen die Entmenschlichung und Verdinglichung mit seinem Mut, man selbst zu sein,verkehrt sich in die raffiniertesten und bedrückendsten Formen des Kollektivismus, die die Geschichte kennt. Es ist die tiefe Tragik unserer Zeit, daß der Marxismus, der als Bewegung zur Befreiung aller Menschen gemeint war, in ein System der Versklavung aller Menschen verwandelt wurde,von dem auch die nicht ausgenommen sind, die die Versklavung anderer in der Hand haben. Es ist schwer, sich die Unermeßlichkeit dieser Tragik vorzustellen, besonders die psychologische Zerrüttung innerhalb der Intelligenz. Der Mut zum Sein war in zahllosen Menschen untergraben, weil er Mut zum Sein im Sinne des revolutionären Existentialismus des 19. Jahrhunderts gewesen war. Als er | zusammenbrach, wandten sich diese Menschen entweder in einer fanatischneurotischen Reaktion gegen die Ursache ihrer tragischen Enttäuschung einem neokollektivistischen System zu, oder sie fielen in eine zynisch neurotische Indifferenz gegenüber allen Systemen und Inhalten. Ähnliches vollzog sich bei der Verwandlung von Nietzsches Typ des Mutes, man selbst zu sein, in die faschistisch-nationalsozialistischen Formen des Neokollektivismus. Die totalitären Systeme, die in diesen Bewegungen geschaffen wurden, verkörperten fast alles, wogegen der Mut, man selbst zu sein, ursprünglich revoltiert hatte. Sie wandten alle denkbaren Mittel darauf an, einen solchen Mut nicht aufkommen zu lassen. Obgleich diese Systeme, im Gegensatz zum Kommunismus, zusammengebrochen sind, haben sie Verwirrung, Indifferenz und Zynismus verursacht. Und das ist der Boden, auf dem der Wunsch nach Autorität und nach einem neuen Kollektivismus wächst. Die beiden letzten Kapitel über den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein, haben gezeigt, daß ersterer in seiner radikalen Form zum Verlust des Selbst im Kollektivismus führt und daß letzterer zum Verlust der Welt im Existentialismus führt. Damit kommen wir zu der Frage des letzten Kapitels: Gibt es einen Mut zum Sein, der beide Formen vereint, indem er beide transzendiert?
VI Mut und Transzendenz. Der Mut, sich zu bejahen als bejaht Mut ist die Selbstbejahung des Seienden trotz des Nichtseins. Er ist der Akt des individuellen Selbst, in dem es die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt, entweder durch die Bejahung seines Selbst als eines Teils in einem umfassenden Ganzen oder durch die Bejahung seines Selbst als eines individuellen Selbst. Mut ist immer vom Nichtsein bedroht und schließt immer ein Wagnis ein, sei es das Wagnis, sich selbst zu verlieren und ein Ding in der Gesamtheit der Dinge zu werden, oder sei es das Wagnis, die Welt in einer leeren Selbstbezogenheit zu verlieren. Der Mut bedarf der Macht des Seins-Selbst, einer Macht, die das Nichtsein transzendiert, das in der Angst vor Schicksal und Tod erfahren wird, in der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit gegenwärtig ist und in der Angst vor Schuld und Verdammung wirkt. Der Mut, der diese dreifache Angst in sich hineinnimmt, muß in einer Seinsmacht wurzeln, die größer ist als die Macht des eigenen Selbst und die Macht unserer Welt. Weder die Bejahung des Selbst als Teil eines Ganzen noch die Bejahung des Selbst als eines Selbst transzendiert die vielfältige Bedrohung durch das Nichtsein. Viele von denen, die diese Formen des Mutes repräsentieren, versuchen, sich selbst ebenso zu transzendieren wie das, woran sie partizipieren, und die Macht des Seins-Selbst zu finden und einen Mut, zum Sein, der jenseits der Drohung des Nichtseins liegt. Das ist bei fast allen Existentialisten sichtbar und bedeutet, daß der Mut zum Sein eine offene oder verborgene religiöse Wurzel hat, denn Religion ist der Zustand, in dem wir von der Macht des SeinsSelbst ergriffen sind. In einigen Fällen ist die religiöse Wurzel sorgfältig verdeckt, in anderen wird sie leidenschaftlich geleugnet, bei manchen Menschen liegt sie in der Tiefe, bei anderen an der Oberfläche. Aber niemals fehlt sie gänzlich; denn alles, was ist, partizipiert am Sein-Selbst, und jeder hat ein gewisses Bewußtsein von dieser Partizipation, besonders in Augenblicken, in denen er sich vom Nichtsein bedroht weiß. Dies führt uns zu einer abschließenden Betrachtung, nämlich zu der doppelten Frage: Wie ist der Mut zum Sein im Sein-Selbst verwurzelt? Und wie müssen wir im Lichte des Mutes zum Sein | das Sein-Selbst verstehen? In der ersten Frage geht es um den Seinsgrund als Quelle des Mutes zum Sein, in der zweiten um den Mut zum Sein als Schlüssel zum Seinsgrund.
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Die Macht des Seins als Quelle des Mutes zum Sein Die mystische Erfahrung und der Mut zum Sein Da das Verhältnis des Menschen zu dem Grund seines Seins in Symbolen ausgedrückt werden muß, die der Struktur des Seins entnommen sind, müssen wir sagen, daß die Polarität von Partizipation und Individuation den besonderen Charakter dieses Verhältnisses bestimmt, ebenso wie sie den besonderen Charakter des Mutes zum Sein bestimmt. Wenn Partizipation vorherrscht, hat das Verhältnis zum SeinSelbst mystischen Charakter, wenn Individuation vorherrscht, hat es personhaften Charakter, und wenn beide Pole akzeptiert und transzendiert werden, hat es den Charakter des Glaubens. In der Mystik erstrebt das individuelle Selbst eine Partizipation am Seinsgrund, die sich der Einswerdung nähert. Unsere Frage ist nicht, ob dieses Ziel jemals von einem endlichen Wesen erreicht werden kann, sondern ob und in welcher Weise die Mystik eine Quelle des Mutes zum Sein sein kann.Wir haben auf den mystischen Untergrund von Spinozas System hingewiesen, nämlich darauf, daß er die Selbstbejahung des Menschen von der Selbstbejahung der göttlichen Substanz ableitet, an der er partizipiert. Auf ähnliche Weise ziehen alle Mystiker ihre Kraft der Selbstbejahung aus der Erfahrung von der Macht des Seins-Selbst, mit dem sie geeint sind. Aber man könnte fragen, ob der Mut überhaupt mit der Mystik verbunden werden kann. In Indien scheint der Mut z. B. als die Tugend des kshatriya (des Ritters) betrachtet zu werden, der auf einer tieferen Stufe als der Brahmane oder der asketische Heilige steht. Die mystische Einswerdung transzendiert die aristokratische Tugend des mutigen Selbstopfers. Sie ist Selbsthingabe in einer höheren, vollständigeren und radikaleren Form; sie ist eine vollkommene Form der Selbstbejahung. Aber das heißt, daß sie Mut im weiteren, nicht im engeren Sinn des Wortes ist. Der asketische und ekstatische Mystiker bejaht sein eigenes essentielles Sein gegen die Elemente des Nichtseins, die in der endlichen Welt vorhanden sind, gegen den Bereich der Maja. Es erfordert ungeheuren Mut, der Verlockung der Erscheinungen zu widerstehen. Die Macht des Seins, die sich in einem solchen Mut offenbart, ist so groß, daß selbst die Götter vor ihr zittern. Der | Mystiker sucht sich mit dem Seinsgrund, der allgegenwärtigen und alles durchdringenden Brahman-Macht, zu vereinen. Auf diese Art bejaht er sein essentielles Sein, das eins ist mit der Brahman-Macht, während alle, die sich in der Knechtschaft der Maja bejahen, nicht ihr wahres Selbst bejahen, gleich, ob sie Tiere, Menschen oder Götter sind. Dies erhebt die Selbstbejahung des Mystikers über den Mut, der die besondere Tugend des aristokratisch-soldatischen Standes ist; aber es erhebt sie nicht über den Mut überhaupt.Was vom Standpunkt der
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endlichen Welt als Selbstverneinung erscheint, ist vom Standpunkt des letzten Seins die vollkommenste Selbstbejahung, die radikalste Form des Mutes zum Sein. In der Kraft dieses Mutes besiegt der Mystiker die Angst vor Schicksal und Tod. Da das Sein in Zeit und Raum und unter den Kategorien der Endlichkeit im letzten Grunde unwirklich ist, sind die Schicksalsfälle, die ihm entspringen, und das endgültige Nichtsein, das es beendet, ebenso unwirklich. Nichtsein ist keine Bedrohung, da das endliche Sein im letzten Grunde Nichtsein ist. Der Tod ist die Negation dessen, was negativ ist, und die Bejahung dessen, was positiv ist. Auf die gleiche Weise wird die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den mystischen Mut zum Sein hineingenommen. Der Zweifel richtet sich auf alles, was ist und was, seinem Maja-Charakter entsprechend, zweifelhaft ist. Er zerstört den Schleier der Maja, er untergräbt die Verteidigung bloßer Meinungen, die die letzte Wirklichkeit verhüllen. Diese selbst ist dem Zweifel nicht ausgesetzt, denn sie ist die Voraussetzung für jeden Akt des Zweifelns. Ohne ein Bewußtsein von der Wahrheit an sich wäre die Frage nach der Wahrheit nicht möglich. Die Angst vor der Sinnlosigkeit wird besiegt, wenn nicht ein bestimmter Sinn als letzter Sinn gilt, sondern der Abgrund jedes bestimmten Sinns. Der Mystiker erfährt von Stufe zu Stufe, daß es keinen Sinn gibt in den verschiedenen Sphären der Wirklichkeit, die er erreicht, durchlebt und wieder verläßt. Solange er auf diesem Weg vorwärts schreitet, überwindet er auch die Angst vor Schuld und Verdammung. Diese Bedrohungen fehlen jedoch nicht. Schuld kann der Mensch auf jeder Stufe auf sich laden, entweder weil er ihre besonderen Forderungen nicht erfüllt oder weil er nicht über die Stufe hinausgeht. Aber solange er der endgültigen Erfüllung gewiß ist, wird die Angst vor der Schuld nicht zur Angst vor der Verdammung. Es gibt in der asiatischen Mystik automatische Bestrafung nach dem Gesetz des Karma, aber es gibt keine Verdammung. Der mystische Mut zum Sein lebt so lange, wie die mystische Situation anhält. Ihre Grenze ist der Zustand, in dem das Sein leer geworden und | der Sinn verloren ist, ein Zustand des Entsetzens und der Verzweiflung, den die Mystiker beschrieben haben. In solchen Augenblicken ist der Mut zum Sein auf die Annahme selbst dieses Zustandes reduziert als eines Weges durch die Dunkelheit zum Licht, durch die Leere zur Fülle. Solange die Abwesenheit der Macht des Seins in der Verzweiflung erlebt wird, ist es die Macht des Seins, die sich in der Verzweiflung fühlbar macht. Darin, diese Situation zu erkennen und auszuhalten, besteht der Mut des Mystikers, der den Zustand der Leere erfahren hat. Obgleich die Mystik in ihren extrem positiven wie in ihren extrem negativen Formen relativ selten ist, ist ihre Grundhaltung – das Streben nach einer Einung mit der letzten Wirklichkeit und der entsprechende Mut, Nichtsein und Endlichkeit auf sich zu nehmen – zur Lebensform großer Menschheitsgruppen geworden, die sie gestaltet hat.
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Aber Mystik ist mehr als ein besonderes Verhältnis zum Seinsgrund; sie ist ein Element in jedem derartigen Verhältnis. Da alles, was ist, an der Macht des Seins partizipiert, kann das Element der Identität, auf dem die Mystik beruht, in keiner religiösen Erfahrung fehlen. Es gibt keine Selbstbejahung eines endlichen Wesens und keinen Mut zum Sein, in denen nicht der Grund des Seins und seine Macht, das Nichtsein zu besiegen, wirksam wäre. Die mystische Erfahrung von der Gegenwart dieser Macht ist ein Element auch in der Ich-Du-Begegnung mit Gott.
Die göttlich-menschliche Begegnung und der Mut zum Sein In der religiösen Erfahrung der personhaften Begegnung mit Gott herrscht der Pol der Individuation. Der Mut, der aus dieser Erfahrung erwächst, ist der Mut des Vertrauens auf die personhafte Wirklichkeit, die sich in der religiösen Erfahrung offenbart. Im Unterschied zur mystischen Einswerdung könnte man sagen, daß dieses Verhältnis eine persönliche Teilhabe an der Quelle des Mutes ist. Obgleich die beiden Typen im Gegensatz zueinander stehen, schließen sie einander nicht aus, denn sie sind durch die polare Beziehung zwischen Individuation und Partizipation miteinander verbunden. Man hat häufig, besonders im Protestantismus, den Mut des Vertrauens mit dem Mut des Glaubens identifiziert. Aber das ist nicht berechtigt, denn Vertrauen ist nur ein Element im Glauben; Glaube umfaßt beides, mystische Partizipation und persönliches Vertrauen. In den meisten Teilen der Bibel wird die religiöse Begegnung in ausgesprochen personalistischen Begriffen beschrieben. Der Biblizismus, besonders der der Reformatoren, tut das gleiche. Luther griff die objektiven, quantitativen und unper | sönlichen Elemente im Katholizismus an. Er kämpfte für eine unmittelbare Ich-Du-Begegnung zwischen Gott und Mensch. Bei ihm erreichte der Mut des Vertrauens seine höchste Stufe in der Geschichte des christlichen Denkens. Alle Werke von Luther, besonders seine frühen, sind erfüllt von diesem Mut. Immer wieder findet sich in ihnen das Wort „trotz“. Trotz aller Negativitäten, die er erfahren hatte, trotz der Angst, die sein Zeitalter beherrschte, gewann er aus seinem unerschütterlichen Vertrauen auf Gott und aus der persönlichen Begegnung mit ihm den Mut zur Selbstbejahung. Die Negativitäten, die sein Mut besiegen mußte, sind – entsprechend den Ausdrucksformen der Angst in seiner Zeit – in den Figuren von Tod und Teufel symbolisiert. Man hat mit Recht gesagt, daß Dürers Holzschnitt „Ritter, Tod und Teufel“ den Geist der lutherischen Reformation und – wie wir hinzufügen können – den lutherischen Mut des Vertrauens, seine Form des Mutes zum Sein, in klassischer Form zum Ausdruck bringt: ein Ritter reitet in voller Rüstung durch einen Hohlweg, von der Gestalt des Todes und der des Teufels begleitet; aber er blickt furchtlos, gesammelt und vertrauensvoll geradeaus. Er ist allein, aber er ist
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nicht verlassen. In seiner Einsamkeit partizipiert er an der Macht, die ihm den Mut gibt, sich zu bejahen trotz der Negativitäten der Existenz. Sein Mut ist gewiß nicht der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Reformation hatte sich aus dem Halbkollektivismus des Mittelalters gelöst. Luthers Mut des Vertrauens wurzelt in einem persönlichen Vertrauen, das aus der Ich-Du-Begegnung mit Gott gewonnen ist.Weder der Papst noch Konzilien konnten ihm dieses Vertrauen eingeben. Diese hatten sich auf eine Lehre verlassen, die den Mut des Vertrauens nicht aufkommen ließ, deshalb mußte Luther sie verwerfen. Sie sanktionierten ein System, in dem die Angst vor Tod und Schuld niemals völlig besiegt war. Sie gaben viele Zusicherungen, aber keine Gewißheit, viele Stützen für den Mut des Vertrauens, aber kein unbezweifelbares Fundament. Das Kollektiv bot verschiedene Wege dar, der Angst zu widerstehen, aber keinen Weg, auf dem das Individuum seine Angst auf sich nehmen konnte. Der Mensch hatte niemals Gewißheit, er konnte sein Sein niemals mit unbedingtem Vertrauen bejahen. Er konnte dem Unbedingten niemals direkt und mit seinem ganzen Sein in einer unmittelbaren persönlichen Begegnung gegenübertreten. Abgesehen von den mystischen Bewegungen war das Individuum auf die Vermittlung durch die Kirche angewiesen, auf eine indirekte und begrenzte Begegnung zwischen Gott und der Seele. Als die Reformation diese Vermittlung abschaffte und einen unmittelbaren, totalen und persönlichen Zugang zu Gott eröffnete, machte sie einen neuen, nichtmystischen Mut zum Sein möglich. Er tritt | in den heroischen Vertretern des kämpfenden Protestantismus zutage, in der calvinistischen wie der lutherischen Reformation, aber am sichtbarsten im Calvinismus. Der Heroismus dieser Menschen besteht nicht darin, daß sie sich dem Märtyrertum aussetzen, den Autoritäten Widerstand leisten, die Struktur der Kirche und der Gesellschaft zu verändern suchen, sondern es ist der Mut des Vertrauens, der diese Männer zu Helden macht und die Grundlage für die anderen Formen ihres Mutes bildet. Man könnte sagen – und der liberale Protestantismus hat es oft gesagt –, daß der Mut der Reformatoren der Beginn der individualistischen Form des Mutes, man selbst zu sein, ist. Aber in dieser Interpretation wird eine mögliche geschichtliche Wirkung mit der Sache selbst verwechselt. In dem Mut der Reformatoren ist der Mut, man selbst zu sein, zugleich bejaht und transzendiert. Im Gegensatz zu der mystischen Form der Selbstbejahung bejaht der protestantische Mut des Vertrauens das individuelle Selbst als individuelles Selbst in der Begegnung mit Gott als Person. Das unterscheidet den Personalismus der Reformation radikal von allen späteren Formen des Individualismus und des Existentialismus. Der Mut der Reformatoren ist nicht der Mut, man selbst zu sein, wie er auch nicht der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist. Er transzendiert und vereint beide; denn der Mut des Vertrauens wurzelt nicht in dem Vertrauen auf sich selbst. Die Reformation verkündet das Gegenteil: Wir können Vertrauen in bezug auf unsere Existenz nur haben, wenn wir unser Ver-
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trauen nicht mehr auf uns selber gründen. Aber der Mut des Vertrauens ist auch nicht auf etwas Endliches außer uns gegründet, nicht einmal auf die Kirche. Er gründet sich auf Gott und allein auf Gott, den wir in einer einmaligen und persönlichen Begegnung erfahren. Der Mut der Reformation transzendiert sowohl den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, man selbst zu sein. Er ist weder durch den Verlust unseres Selbst noch durch den Verlust unserer Welt bedroht.
Schuld und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Im Mittelpunkt des protestantischen Mutes des Vertrauens steht der Mut, sich zu bejahen als bejaht trotz des Wissens um unsere Schuld. Luther selbst wie seine ganze Zeit erlebten die Angst vor allem als Angst vor Schuld und Verdammung. Der Mut, sich trotz dieser Angst zu bejahen, ist der Mut, den wir den Mut des Vertrauens genannt haben. Er wurzelt in der persönlichen, totalen und unmittelbaren Gewißheit von der göttlichen Vergebung. Der Glaube an die Vergebung ist in allen Formen des menschlichen Mutes zum Sein, sogar im Neokollektivismus, | vorhanden. Aber es gibt keine Interpretation der menschlichen Existenz, in der er so beherrschend ist wie im ursprünglichen Protestantismus, und es gibt in der Geschichte keine Bewegung, in der er ebenso tief und ebenso paradox ist. In Luthers Ausspruch, daß „der Ungerechte gerecht ist“ (d. h. in der Sicht der göttlichen Vergebung), oder in moderner Terminologie, daß „der, der unannehmbar ist, angenommen wird“, ist der Sieg über die Angst vor Schuld und Verdammung prägnant zum Ausdruck gebracht. Man könnte sagen: der Mut zum Sein ist der Mut, uns anzunehmen als angenommen trotz unserer Unannehmbarkeit. Die Theologen brauchen nicht daran erinnert zu werden, daß dies der echte Sinn der paulinisch-lutherischen Lehre von der „Rechtfertigung durch den Glauben“ ist – einer Lehre, die in ihrer ursprünglichen Formulierung sogar Theologiestudenten unverständlich geworden ist. Aber Theologen und Seelsorger müssen darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Psychotherapie in ihrem Kampf gegen die Angst vor der Schuld der Idee der „Annahme“ das gleiche Gewicht beigelegt hat, das in der Reformationszeit Ausdrücke wie „Vergebung der Sünden“ oder „Rechtfertigung durch den Glauben“ besaßen. Annehmen, daß wir angenommen sind, obwohl wir unannehmbar sind, das ist die Grundlage für den Mut des Vertrauens. Entscheidend für diese Selbstbejahung ist, daß sie von allen moralischen, intellektuellen oder religiösen Voraussetzungen unabhängig ist. Nicht die Guten, Weisen oder Frommen sind berechtigt zu dem Mut, anzunehmen, daß sie angenommen sind, sondern die, denen diese Eigenschaften fehlen und die sich dessen bewußt sind, daß sie unannehmbar sind. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie sich in ihrer Zufälligkeit annehmen. Es handelt sich nicht um eine Rechtfertigung
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unserer zufälligen Individualität. Dieser Mut darf nicht mit dem existentialistischen Mut, man selbst zu sein, verwechselt werden.Vielmehr ist die Annahme der paradoxe Akt, in dem wir von dem, was unser individuelles Selbst unendlich transzendiert, angenommen werden. In der Erfahrung der Reformatoren ist sie die Aufnahme des unannehmbaren Sünders in die richtende und verwandelnde Gemeinschaft mit Gott. Der Mut zum Sein ist der Mut, die Vergebung der Sünden anzunehmen, nicht als abstrakte Idee, sondern als fundamentale Erfahrung in unserer Begegnung mit Gott. Selbstbejahung trotz der Angst vor Schuld und Verdammung setzt Partizipation an etwas voraus, was das Selbst transzendiert. In der Gemeinschaft zwischen Heilendem und Krankem, z. B. in der psychoanalytischen Behandlung, partizipiert der Patient an der heilenden Kraft des Arztes,von dem er angenommen wird, obwohl er sich als unannehmbar empfindet. Der Heilende steht in diesem | Verhältnis nicht für sich selbst als Individuum, sondern er repräsentiert eine objektive Macht, die annimmt und bejaht. Diese Macht wirkt durch den Heilenden auf den Patienten. Allerdings muß diese Macht in einer Person verkörpert sein, die Schuld erkennen kann, die urteilen kann und die trotz des Urteils annehmen kann. Eine Annahme durch etwas, das weniger als persönlich wäre, könnte niemals die persönliche Selbstverwerfung überwinden. Eine Wand, der ich beichte, kann mir nicht vergeben. Selbstannahme ist nicht möglich ohne Annahme in einer Ich-Du-Beziehung. Aber selbst wenn wir persönlich angenommen sind, bedürfen wir eines selbsttranszendierenden Mutes, um diese Annahme anzunehmen, wir bedürfen des Mutes des Vertrauens. Denn angenommen sein bedeutet nicht, daß die Schuld geleugnet ist. Der Heilende, der seinen Patienten davon zu überzeugen versuchte, daß er nicht wirklich schuldig ist, würde ihm einen außerordentlich schlechten Dienst erweisen. Er würde ihn daran hindern, seine Schuld in seine Selbstbejahung hineinzunehmen. Er kann ihm helfen, falsche neurotische Schuldgefühle in echte zu verwandeln, sie sozusagen auf den richtigen Gegenstand zu konzentrieren, aber er darf ihm nicht sagen, daß er ohne Schuld ist. Er nimmt den Patienten in die Gemeinschaft mit sich auf, ohne irgendetwas in ihm zu verdammen oder zu verdecken. An diesem Punkt jedoch transzendiert das religiöse Sich-Annehmen als angenommen das Heilen durch den Arzt. Die Religion fragt nach der letzten Quelle der Macht, die durch die Annahme des Unannehmbaren heilt; sie fragt nach Gott. Die Annahme durch Gott, seine Vergebung oder Rechtfertigung, ist die einzige und letzte Quelle des Mutes zum Sein, der die Angst vor Schuld und Verdammung in sich hineinzunehmen vermag. Denn die letzte Macht der Selbstbejahung kann nur die Macht des Seins-Selbst sein. Alles, was weniger ist, die endliche Macht des eigenen Seins oder die eines anderen, kann nicht die radikale Drohung des Nichtseins überwinden, die wir in der Verzweiflung der Selbstverdammung er-
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fahren. Aus diesem Grunde betont der Mut des Vertrauens, der in einem Manne wie Luther Ausdruck gefunden hat, unaufhörlich das ausschließliche Vertrauen auf Gott und verwirft alles andere als Fundament seines Mutes zum Sein, nicht nur weil es unzureichend ist, sondern weil es ihn in größere Schuld und tiefere Angst treibt. Die ungeheure Befreiung, die die Botschaft der Reformatoren den Menschen des 16. Jahrhunderts brachte, und ihr unbezwingbarer Mut, sich zu bejahen als bejaht, war der Lehre der sola fide zu verdanken, nämlich der Botschaft, daß der Mut des Vertrauens durch nichts Endliches bedingt ist, sondern allein durch das, was selbst unbedingt ist und was wir als Unbedingtes in einer Ich-Du-Begegnung erfahren. |
Schicksal und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Wie die symbolischen Figuren von Tod und Teufel zeigen, war die Angst dieses Zeitalters nicht auf die Angst vor der Schuld beschränkt; es kannte auch die Angst vor Tod und Schicksal. Die astrologischen Vorstellungen der Spätantike, die die Renaissance neu belebt hatte, beeinflußten sogar die Humanisten, die sich der Reformation anschlossen. Wir haben bereits auf den neostoischen Mut hingewiesen, der in Renaissancebildern zum Ausdruck kommt, auf denen der Mensch gezeigt wird, der das Schiff seines Lebens lenkt, obgleich es von den Winden des Schicksals getrieben wird. Luther begegnete der Angst vor dem Schicksal auf einer anderen Ebene. Für ihn war die Angst vor dem Schicksal mit der Angst vor der Schuld verbunden. Es ist das unruhige Gewissen, das die irrationale Furcht im täglichen Leben verursacht. Wen Schuldgefühle quälen, der erschrickt beim Rascheln des trockenen Laubes. Deshalb ist die Überwindung der Angst vor der Schuld zugleich die Überwindung der Angst vor dem Schicksal. Der Mut des Vertrauens nimmt die Angst vor dem Schicksal ebenso in sich hinein wie die Angst vor der Schuld. Er sagt sein „Trotzdem“ zu beiden. Das ist der ursprüngliche Sinn der Lehre von der Vorsehung. Vorsehung ist keine Theorie über gewisse Handlungen Gottes, sondern das religiöse Symbol für den Mut des Vertrauens in bezug auf Schicksal und Tod; denn der Mut des Vertrauens sagt „Trotzdem“ selbst zum Tode. Wie Paulus wußte Luther, daß die Angst vor der Schuld mit der Angst vor dem Tode verbunden ist. Nach dem Stoizismus und dem Neostoizismus ist das essentielle Selbst nicht vom Tode bedroht, denn es gehört zum Sein-Selbst und transzendiert das Nichtsein. Sokrates, der in der Macht seines essentiellen Seins die Angst vor dem Tode besiegte, ist zum Symbol für den Mut geworden, der den Tod auf sich nimmt. Das ist der wahre Sinn von Platos Lehre von der Unsterblichkeit der Seele.Wenn wir diese Lehre diskutieren, sollten wir die Beweise für die
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Unsterblichkeit übergehen, selbst diejenigen in Platos „Phaidon“, und uns auf das Bild des sterbenden Sokrates konzentrieren. Diese Beweise, die von Plato selbst skeptisch behandelt werden, sind Versuche, den Mut des Sokrates zu erklären, den Mut, den Tod in die Selbstbejahung aufzunehmen. Sokrates weiß, daß das Selbst, das der Scharfrichter vernichtet, nicht das gleiche Selbst ist, das sich in seinem Mut zum Sein bejaht. Er sagt nicht viel aus über das Verhältnis der beiden Selbste; er kann es nicht, denn es sind nicht zahlenmäßig zwei verschiedene Selbste, sondern ein und dasselbe Selbst, unter zwei verschiedenen Aspekten gesehen. Aber er macht klar, daß der Mut zum | Sterben der Prüfstein für den Mut zum Sein ist. Eine Selbstbejahung, die die Bejahung des Todes nicht in sich hineinzunehmen vermag, beweist damit, daß sie nicht fähig ist, dem Nichtsein in seiner radikalen Form zu begegnen. Der gewöhnliche Unsterblichkeitsglaube, der in der abendländischen Welt das christliche Symbol der Auferstehung weitgehend ersetzt hat, ist eine Mischung aus Mut und Flucht. Er versucht, die Selbstbejahung aufrechtzuerhalten, selbst angesichts des Todes. Aber er tut es, indem er die Endlichkeit, und das heißt den schließlichen Tod, ins Unendliche hinausgeschoben denkt, so daß der tatsächliche Tod niemals eintritt. Das ist jedoch eine Illusion und, logisch ausgedrückt, ein Widerspruch in sich selbst. Was ex definitione zu einem Ende kommen muß, wird als endlos gedacht. Angesichts des Todes ist „die Unsterblichkeit der Seele“ ein armseliges Symbol für den Mut zum Sein. Der Mut des Sokrates fußte nach Plato nicht auf der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, sondern auf der Bejahung seines Selbst in seinem essentiellen unzerstörbaren Sein. Er weiß, daß er zwei Ordnungen der Wirklichkeit angehört und daß die eine der beiden Ordnungen eine überzeitliche ist. Der Mut des Sokrates offenbart deutlicher als irgendeine philosophische Überlegung der antiken Welt, daß jeder Mensch einer zeitlichen und einer ewigen Ordnung angehört. Aber der sokratische (stoische und neostoische) Mut hatte eine Voraussetzung, nämlich die Fähigkeit des Individuums, an beiden Ordnungen zu partizipieren, der ewigen wie der zeitlichen. Diese Voraussetzung erkennt das Christentum nicht an. Nach seiner Lehre sind wir von unserem essentiellen Sein entfremdet; wir sind nicht frei, unser essentielles Sein zu verwirklichen, wir sind gezwungen, ihm zu widersprechen. Deshalb kann der Tod nur in dem Mut des Vertrauens, in dem der Tod aufgehört hat, der „Sünde Sold“ zu sein, hingenommen werden. Das aber ist der Zustand unseres Angenommenseins trotz unserer Unannehmbarkeit. In dieser Hinsicht hat das Christentum die antike Welt verwandelt, und Luthers Mut, dem Tod ins Auge zu sehen, hat hier seine Wurzel. Diesem Mut liegt nicht die fragwürdige Theorie der Unsterblichkeit zugrunde, sondern das Bewußtsein, in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu sein. Die Begegnung mit Gott ist für Luther nicht nur die Grundlage des Mutes, sich trotz
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Sünde und Schuld zu bejahen, sondern sie ist auch die Quelle der Selbstbejahung trotz Schicksal und Tod. Denn Gott begegnen heißt, der Quelle der Gnade begegnen, die annimmt, was unannehmbar ist, und an der Ewigkeit teilhaben läßt, was der Zeit angehört. Luther durchlebte in dem, was er Anfechtungen nannte, die Drohun | gen vollkommener Sinnlosigkeit. Alles wurde ihm in diesen Augenblicken fragwürdig: sein christlicher Glaube, das Vertrauen in sein Werk, die Reformation, die Vergebung seiner Sünden. Alles brach in diesen Augenblicken der Verzweiflung zusammen, und vom Mut zum Sein war nichts mehr übrig. In diesen Erfahrungen und in den Beschreibungen, die er von ihnen gibt, nahm Luther voraus, was der Existentialismus später beschrieben hat. Aber für Luther war dies nicht das Endgültige; das Endgültige für ihn war das erste Gebot, die Aussage, daß Gott Gott ist. Es gemahnte ihn an das unbedingte Element in der menschlichen Erfahrung, das uns selbst im Abgrund der Sinnlosigkeit bewußt sein kann. Und dieses Bewußtsein rettete ihn. Wir sollten nicht vergessen, daß der große Gegner Luthers, der Wiedertäufer und religiöse Sozialist Thomas Münzer, ähnliche Erfahrungen beschreibt. Er spricht von einem letzten Stadium, in dem alles Endliche seine Endlichkeit offenbart, in dem das Endliche an sein Ende gelangt ist, in dem die Angst unser Herz ergreift und alle vorläufigen Sinngehalte zusammengebrochen sind. Gerade aus diesem Grunde kann sich uns in diesem Stadium der göttliche Geist offenbaren und kann unseren Zustand in Mut zum Sein verwandeln, der in der revolutionären Tat Ausdruck findet. Während Luther den kirchlichen Protestantismus vertritt, vertritt Münzer den evangelischen Radikalismus. Beide Männer haben die Geschichte beeinflußt, und Amerika ist sogar von den Ideen, die Münzer vertrat, stärker beeinflußt worden als von Luther. Beide Männer erlebten die Angst vor der Sinnlosigkeit und beschrieben sie in Ausdrucksformen, die der christlichen Mystik entstammen, aber indem sie das taten, transzendierten sie den Mut des Vertrauens, der zur persönlichen Begegnung mit Gott gehört. Sie mußten Elemente aus der mystischen Form des Mutes zum Sein aufnehmen. Dies führt zu der letzten Frage, nämlich der, ob die zwei Typen des Mutes, sich zu bejahen als bejaht, vereinigt und in ihrer Isolierung transzendiert werden können. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für unser Zeitalter, für das die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit charakteristisch ist.
Der absolute Glaube und der Mut zum Sein Wir haben das Wort „Glaube“ in der Beschreibung sowohl der mystisch wie der personalistisch gefärbten Teilnahme an dem Grund des Seins vermieden. Das war
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zum Teil in der Tatsache begründet, daß das Wort „Glaube“ wie kaum ein anderes Wort der religiösen Sprache verfälscht ist und den Sinn angenommen hat: „Unglaubhaftes glauben“. Aber neben diesem mehr äußerlichen Grund hat uns noch etwas Wich | tigeres zu der Vermeidung des Wortes geführt: keiner der beiden Typen des religiös begründeten Mutes zum Sein erfüllt den Sinn von „Glauben“ vollständig. Sicherlich ist in der mystischen Erhebung des Endlichen zum Unendlichen Glaube wirksam. Und sicherlich ist die vertrauensvolle Begegnung der Person mit dem persönlichen Gott eine Sache des Glaubens. Aber im Begriff des Glaubens ist noch mehr enthalten. Glaube ist Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, dem Grund unseres Seins und Sinns. Der Mut zum Sein ist ein Ausdruck des Glaubens, und was Glaube ist, muß verstanden werden vom Mut zum Sein aus. Mut ist Selbstbejahung des Seienden trotz der immer gegenwärtigen Drohung des Nichtseins. In jedem Akt des Mutes zum Sein ist die Selbstbejahung des Seins-Selbst in einem Seienden wirksam. Glaube ist die Erfahrung der Macht des Seins-Selbst, die einem Seienden den Mut zum Sein gibt. Diese Erfahrung hat paradoxen Charakter, sie ist die Bejahung dessen, daß man bejaht ist, und die Selbstbejahung auf Grund dieser Bejahung. Der Grund des Seins transzendiert das endliche Sein unendlich. Gott transzendiert den Menschen unbedingt. In der Paradoxie des Glaubens wird diese Kluft überbrückt. Der Glaube sagt „ja“, weil er „trotzdem“ sagen kann; und in dem „trotzdem“ des Glaubens ist das „trotzdem“ des Mutes zum Sein geboren. Der Glaube ist nicht die theoretische Annahme von etwas, das erkenntnismäßig zweifelhaft ist, sondern er ist die existentielle Bejahung von etwas, das alle gegenständliche Erfahrung transzendiert. Er ist keine Meinung, sondern ein Zustand. Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins von der Macht des Seins-Selbst, die alles transzendiert und an der alles partizipiert. Wer von dieser Macht ergriffen ist, kann sich bejahen, weil er weiß, daß er bejaht ist. Das ist der Punkt, in dem der mystisch und der personal begründete Mut zum Sein eins sind. Das ist entscheidend für ein Zeitalter wie das unsrige, in dem die Angst vor Zweifel und Sinnlosigkeit herrscht. Gewiß fehlt unserer Zeit auch die Angst vor Schicksal und Tod nicht. Die Angst vor dem Schicksal ist in dem Maße gewachsen, in dem die schizophrene Spaltung unserer Welt die letzten Reste einer ehemaligen Sicherheit zerstört hat. Auch die Angst vor Schuld und Verdammung fehlt nicht. Es ist überraschend, welch ein Maß von Schuldangst in psychoanalytischer und persönlicher Beratung zutage kommt. Jahrhunderte von puritanischen und bürgerlichen Verdrängungen vitaler Triebe haben fast ebensoviel Schuldgefühl verursacht wie im Mittelalter die Drohung mit Hölle und Fegefeuer. Aber trotz dieser Einschränkungen muß man sagen, daß die Angst, die unsere Zeit charakterisiert, die Angst des Zweifels, die Angst vor | Leere und Sinnlosigkeit ist.Wir fürchten, den Sinn unserer Existenz verloren zu haben oder ihn verlieren zu
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müssen. In dem Existentialismus der Gegenwart kommt diese Situation zum Ausdruck. Welcher Mut ist imstande, das Nichtsein in Form des Zweifels und der Sinnlosigkeit in sich aufzunehmen? Das ist die wichtigste und beunruhigendste Frage in der Suche nach dem Mut zum Sein; denn die Angst vor der Sinnlosigkeit untergräbt das, was durch die Angst vor Schicksal und Tod und die Angst vor Schuld und Verdammung noch nicht erschüttert worden ist. In der Angst vor Schuld und Verdammung hat der Zweifel noch nicht die Gewißheit einer letzten Verantwortung untergraben. Wir sind bedroht, aber noch nicht vernichtet. Wenn jedoch Zweifel und Sinnlosigkeit herrschen, stehen wir an dem Abgrund, in dem der Sinn des Lebens und die Wahrheit einer letzten Verantwortung untergehen. Sowohl der Stoiker, der die Angst vor dem Schicksal durch den sokratischen Mut der Weisheit überwindet, wie der Christ, der die Angst vor der Schuld durch den protestantischen Mut, mit dem er die Vergebung annimmt, überwindet, befinden sich in einer anderen Lage. Sogar in der Verzweiflung der Todesangst und der Selbstverdammung ist ein Sinn bejaht und eine Gewißheit erhalten. Aber in der Verzweiflung des Zweifels und der Sinnlosigkeit werden beide vom Nichtsein verschlungen. Die Frage ist also: Gibt es einen Mut, der die Angst vor der Sinnlosigkeit und den Zweifel besiegen kann? Oder mit anderen Worten: Kann der Glaube, der bejaht, daß man bejaht ist, der Macht des Nichtseins in seiner radikalsten Form Widerstand leisten? Gibt es einen Glauben, der angesichts von Zweifel und Sinnlosigkeit bestehen kann? Diese Fragen führen zu dem letzten und aktuellsten Aspekt unseres Problems, nämlich zu der Frage: Wie ist Mut zum Sein möglich, wenn alle Wege zu ihm durch die Erfahrung ihrer Unzulänglichkeit verschlossen sind? Wenn das Leben so sinnlos wie der Tod ist und die Vollkommenheit so fragwürdig wie die Schuld, wenn das Sein nicht sinnvoller als das Nichtsein ist, worauf kann sich dann der Mut zum Sein gründen? Einige Existentialisten neigen dazu, diese Fragen durch einen Sprung aus dem Zweifel in die dogmatische Gewißheit zu beantworten. Sie fliehen aus der Sinnlosigkeit in ein System von Symbolen, in denen sich der Geist einer kirchlichen oder politischen Gruppe verkörpert. Dieser Sprung kann auf verschiedene Weisen erklärt werden. Er kann Ausdruck eines Verlangens nach Sicherheit sein; er kann so willkürlich sein, wie nach existentialistischen Auffassungen jede Entscheidung ist; in ihm kann sich die Empfindung ausdrücken, daß die christliche Botschaft die | Antwort auf die Fragen enthält, die mit der menschlichen Existenz gegeben sind; er kann eine echte Bekehrung bedeuten, die unabhängig von der prinzipiellen Situation ist – auf jeden Fall ist er keine Lösung für das Problem des radikalen Zweifels. Er verleiht den Bekehrten zwar Mut zum Sein, aber er beantwortet die Frage nicht, wie ein solcher Mut überhaupt möglich ist. Die Antwort muß den
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Zustand der Sinnlosigkeit als gegeben voraussetzen; sie ist keine Antwort, wenn sie die Aufhebung dieses Zustandes verlangt, denn gerade das kann nicht geschehen. Wer von Zweifel und Sinnlosigkeit überwältigt ist, kann sich nicht von ihnen befreien; er verlangt nach einer Antwort, die innerhalb dieser Situation gültig ist und nicht außerhalb liegt. Er fragt nach dem letzten Fundament für das, was wir den „Mut der Verzweiflung“ genannt haben. Wenn man nicht versucht, dieser Frage auszuweichen, gibt es nur eine Antwort, nämlich die, daß der Mut, der Verzweiflung standzuhalten, selber Glaube ist und Mut zum Sein gleichsam an seiner äußersten Grenze ausdrückt. In dieser Situation ist der Sinn des Lebens auf den Zweifel an dem Sinn des Lebens reduziert. Aber da dieser Zweifel selbst ein Akt des Lebens ist, ist er etwas Positives trotz seines negativen Inhalts. Zynisch gesprochen könnte man sagen, daß es der Wahrheit des Lebens entspricht, ihm zynisch zu begegnen. In religiöser Sprache würde man sagen, daß man sich bejaht als bejaht trotz des Zweifels an dem Sinn einer solchen Bejahung. Das Paradoxe in jeder radikalen Negation ist, daß sie sich als lebendigen Akt bejahen muß, um imstande zu sein, radikal zu verneinen. Es gibt in jeder Verzweiflung ein Element verborgener Lust, das von dem Paradox der Verzweiflung Zeugnis ablegt. Das Negative lebt von dem Positiven, das es negiert. Der Glaube, der den Mut der Verzweiflung möglich macht, ist das Ergriffensein von der Macht des Seins trotz der überwältigenden Erfahrung des Nichtseins. Selbst in den Augenblicken, in denen wir am Sinn verzweifeln, bejaht sich der Sinn durch uns. Der Akt, in dem wir Sinnlosigkeit auf uns nehmen, ist ein sinnvoller Akt: er ist ein Akt des Glaubens. Wir haben gesehen, daß, wer den Mut hat, sich trotz Schicksal und Schuld zu bejahen, Schicksal und Schuld nicht aufgehoben hat. Er bleibt von ihnen bedroht und wird von ihnen getroffen. Aber er bejaht, daß er bejaht ist in der Macht des Seins-Selbst, an der er teilhat und die ihm den Mut gibt, die Angst vor Schicksal und Schuld auf sich zu nehmen. Das gleiche gilt von Zweifel und Sinnlosigkeit. Der Glaube, der den Mut erzeugt, sie in sich hineinzunehmen, hat keinen besonderen Inhalt. Er ist einfach Glaube – ohne auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, absoluter Glaube. Er ist undefinierbar, da alles Definierte durch Zweifel und Sinnlosigkeit aufgelöst ist. Trotzdem ist absoluter Glaube | nicht eine Entladung subjektiver Gefühle oder eine Stimmung ohne objektives Fundament. Eine Analyse des Wesens des absoluten Glaubens deckt die folgenden Elemente in ihm auf: als erstes die Erfahrung von der Macht des Seins, die selbst angesichts der radikalen Manifestation des Nichtseins vorhanden ist. Wenn man sagt, daß in dieser Erfahrung die Vitalität der Verzweiflung widersteht, muß man hinzufügen, daß die Vitalität des Menschen seiner Intentionalität entspricht. Die Vitalität, die dem Abgrund der Sinnlosigkeit standhalten kann, ist sich eines verborgenen Sinnes selbst in der Zerstörung bewußt. Das zweite Element im ab-
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soluten Glauben ist, daß die Erfahrung des Nichtseins von der Erfahrung des Seins abhängt und die Erfahrung der Sinnlosigkeit von der Erfahrung des Sinnes. Selbst im Zustand der Verzweiflung am Sinn des Seins ist es die Macht des Seins, die die Verzweiflung möglich macht. Das dritte Element des absoluten Glaubens ist die Erfahrung des Bejahtseins. Sie schwingt durch den Zustand der Sinnlosigkeit hindurch, auch wenn sie nicht als solche erkannt wird. Es ist der Sinn der religiösen Antwort, dieses Element des Bejahtseins ausdrücklich zum Gegenstand zu machen.Wo das geschieht, ist der absolute Glaube seiner selbst bewußt geworden. Er weiß um sich als einen Glauben, der durch den Zweifel jeden konkreten Inhalt verloren hat, aber trotzdem Glaube ist und die Quelle der höchst paradoxen Manifestation des Mutes zum Sein. Dieser Glaube transzendiert sowohl die mystische Erfahrung wie die göttlichmenschliche Begegnung. Die mystische Erfahrung scheint dem absoluten Glauben näher zu sein, ist es aber nicht. Der absolute Glaube schließt ein Element der Skepsis ein, das in der mystischen Erfahrung nicht vorhanden ist. Zwar transzendiert auch die Mystik alle besonderen Inhalte, aber nicht, weil sie diese bezweifelt oder sinnlos gefunden hat, sondern weil sie sie als vorläufige betrachtet. Die Mystik verwendet die besonderen Inhalte als Stufen, über die sie hinwegschreitet, nachdem sie sich auf ihnen emporgehoben hat. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit jedoch leugnet diese Inhalte, ohne sie sich nutzbar gemacht zu haben. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit ist radikaler als die Mystik; deshalb transzendiert sie die mystische Erfahrung. Der absolute Glaube transzendiert auch die göttlich-menschliche Begegnung. In dieser Begegnung herrscht das Subjekt-Objekt-Schema: ein bestimmtes Subjekt (der Mensch) begegnet einem bestimmten Objekt (Gott). Man kann diese Behauptung umkehren und sagen, daß ein bestimmtes Subjekt (Gott) einem bestimmten Objekt (dem Menschen) begegnet. Aber der Zweifel untergräbt in beiden Fällen die Subjekt- | Objekt-Struktur. Die Theologen, die so überzeugt und selbstsicher von der göttlich-menschlichen Begegnung sprechen, sollten bedenken, daß es eine Situation gibt, in der diese Begegnung durch radikalen Zweifel verhindert wird und nichts bleibt als der absolute Glaube. Einer solchen Situation religiöse Gültigkeit zuzuerkennen, führt jedoch dazu, daß die konkreten Inhalte des gewöhnlichen Glaubens der Kritik und der Verwandlung unterworfen werden müssen. Der Mut zum Sein in seiner radikalen Form ist der Schlüssel zu einer Gottesidee, die beide transzendiert, die Mystik wie die göttlich-menschliche Begegnung.
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Der Mut zum Sein als Schlüssel zum Sein-Selbst Das Nichtsein erschließt das Sein Der Mut zum Sein in allen seinen Formen hat in sich selbst offenbarenden Charakter. Er zeigt das Wesen des Seins, er zeigt, daß die Selbstbejahung des Seins eine Bejahung ist, die die Negation überwindet. Metaphorisch – und jede Aussage über das Sein ist entweder metaphorisch oder symbolisch – könnte man sagen, daß Sein Nichtsein einschließt, aber daß das Nichtsein dem Sein gegenüber machtlos ist. „Einschließen“ ist eine räumliche Metapher, die anzeigt, daß das Sein sich und das,was ihm entgegensteht, das Nichtsein, umfaßt. Nichtsein gehört zum Sein, es kann nicht von ihm getrennt werden. Wir können das Sein nicht denken ohne eine doppelte Negation: Sein muß als Negation der Negation des Seins gedacht werden. Aus diesem Grund beschreiben wir das Sein am besten durch die Metapher „Seinsmächtigkeit“. „Mächtigkeit“ ist die Möglichkeit eines Seienden, sich gegen den Widerstand anderer Seiender und gegen sein eigenes teilweises Nichtsein zu realisieren. Wenn wir nun – symbolisch – von der Macht des Seins-Selbst sprechen, so sagen wir damit, daß das Sein-Selbst sich gegen und durch das Nichtsein bejaht. Wir haben uns auf die dynamische Interpretation des Seins durch die Lebensphilosophen berufen. Das Sein kann aber nur dann als dynamisch verstanden werden, wenn das Nichtsein zu ihm gehört. Nur dann kann es der Grund von endlich Seiendem sein. Ohne das Nichtsein wäre die Selbstbejahung des Seins noch nicht Selbstbejahung, sondern unveränderliche SelbstIdentität. Nichts wäre manifest, nichts wäre zum Ausdruck gebracht, nichts wäre offenbar. Aber das Nichtsein treibt das Sein aus seiner Abschließung, es zwingt es, sich selbst dynamisch zu bejahen. Die Philosophie hat immer von der dynamischen Selbstbejahung des Seins-Selbst gesprochen, wenn sie dialektisch | gesprochen hat, vor allem im Neuplatonismus, bei Hegel und den Lebens- und Prozeßphilosophen. Die Theologie hat das gleiche getan, sobald sie die Idee des lebendigen Gottes ernst genommen hat, am deutlichsten in der Trinitätslehre, in der sie das innere Leben Gottes symbolisierte. Spinoza vereint trotz seines statischen Substanz-Begriffes (seine Bezeichnung für die letzte Seinsmacht) philosophische und mystische Tendenzen, wenn er von der Liebe und dem Wissen spricht, in denen Gott sich selbst liebt und erkennt durch die Liebe und das Wissen endlicher Wesen. Das Nichtsein (dasjenige in Gott, das seine Selbstbejahung dynamisch macht) läßt Gott aus seiner Selbstabschließung herausgehen und zeigt ihn als Macht und Liebe. Das Nichtsein macht Gott zum lebendigen Gott. Ohne das Nein, das er in sich und in seinem Geschöpf überwinden muß, wäre das göttliche Ja zu sich selbst tot. Es gäbe keine Offenbarung des Seinsgrundes, es gäbe kein Leben.
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Aber wo es Nichtsein gibt, gibt es Endlichkeit und Angst.Wenn wir sagen, daß Nichtsein zum Sein-Selbst gehört, sagen wir, daß Endlichkeit und Angst zum SeinSelbst gehören. Wenn immer Philosophen oder Theologen von der göttlichen Seligkeit gesprochen haben, haben sie implizit (und zuweilen explizit) von der Angst der Endlichkeit gesprochen, die auf ewig in die Seligkeit der göttlichen Unendlichkeit hineingenommen ist. Das Unendliche umfaßt sich selbst und das Endliche; das Ja schließt sich selbst und das Nein ein, das es in sich hineinnimmt; die Seligkeit enthält sich selbst und die Angst, deren Überwindung sie ist. All dies ist gemeint, wenn man sagt, daß das Sein das Nichtsein einschließt und daß das Sein sich durch das Nichtsein offenbart. Es ist eine symbolische Sprache, die wir hier verwenden. Aber ihr Symbolcharakter tut ihrer Wahrheit keinen Abtrag, im Gegenteil, er ist eine Bedingung ihrer Wahrheit. Unsymbolisch über das SeinSelbst zu sprechen, wäre unwahr. Die göttliche Selbstbejahung ist die Macht, die die Selbstbejahung des endlichen Seins, den Mut zum Sein, möglich macht. Nur weil das Sein-Selbst den Charakter der Selbstbejahung trotz des Nichtseins hat, ist Mut möglich. Der Mut partizipiert an der Selbstbejahung des Seins-Selbst, er partizipiert an der Macht des Seins, die sich gegen das Nichtsein behauptet. Wer diese Macht in einem Akt des mystischen oder des persönlichen oder des absoluten Glaubens empfängt, ist sich der Quelle seines Mutes zum Sein bewußt. Der Mensch ist sich ihrer nicht immer bewußt; im Zustand des Zynismus und der Indifferenz ist er es nicht. Aber er lebt aus ihr in jedem Akt des Mutes zum Sein. In ihm wird die Seinsmächtigkeit in uns wirksam, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Jeder Akt des Mutes ist eine | Manifestation des Seinsgrundes, wie fragwürdig der Inhalt des Aktes auch sein mag. Der Inhalt kann das wahre Sein verbergen oder verzerren, der Mut in ihm offenbart es. Die wahre Natur des Seins wird nicht durch Beweise offenbart, sondern durch den Mut zum Sein. Dadurch daß wir unser Sein bejahen, partizipieren wir an der Selbstbejahung des SeinsSelbst. Es gibt keine stichhaltigen Beweise für die „Existenz“ Gottes, aber es gibt Akte des Mutes, in denen wir die Macht des Seins bejahen, ob wir es wissen oder nicht. Wissen wir es, so bejahen wir bewußt, daß wir bejaht sind. Wissen wir es nicht, so bejahen wir es nichtsdestoweniger und partizipieren so an der Macht des Seins. Und in unserer Bejahung dessen, wovon wir nicht wissen, ist die Macht des Seins in uns wirksam. Der Mut hat offenbarende Kraft, der Mut zum Sein ist der Schlüssel zum Sein-Selbst.
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Die Überwindung des Theismus Der Mut, die Sinnlosigkeit in sich hineinzunehmen, setzt eine Beziehung zum Seinsgrund voraus, die wir „absoluten Glauben“ genannt haben. Er ist ohne spezifischen Inhalt, aber er ist nicht ohne Inhalt. Der Inhalt des absoluten Glaubens ist der „Gott über Gott“. Der absolute Glaube und das, was aus ihm entspringt: der Mut, der den radikalen Zweifel, den Zweifel an Gott, in sich hineinnimmt, transzendieren die theistische Gottesidee. Theismus kann die nicht-spezifizierte Bejahung Gottes bedeuten. In diesem Sinne sagt er nicht aus, was er unter dem Namen Gottes versteht. Wegen der traditionellen und psychologischen Assoziationen, die mit dem Namen „Gott“ verbunden sind, kann ein solch leerer Theismus in ehrfürchtige Stimmung versetzen, wenn er von Gott spricht. Politiker, Diktatoren und andere, die ihre Zuhörer mit rhetorischen Mitteln zu beeinflussen suchen, gebrauchen das Wort Gott gern in diesem Sinne. Es erzeugt bei den Zuhörern das Gefühl, daß der Redner es ernst meint und moralisch vertrauenswürdig ist. Diesen Erfolg hat der Redner besonders, wenn er seine Gegner als Atheisten brandmarken kann. Auf einer höheren Stufe des Theismus gibt es Menschen ohne eine bestimmte religiöse Bindung, die sich gern als Theisten bezeichnen, nicht aus praktischen Gründen, sondern weil sie eine Welt ohne Gott, was auch dieser Gott sein mag, nicht ertragen können. Sie haften an einigen Vorstellungen, die mit dem Wort Gott verbunden sind, und sie schrecken vor dem, was sie Atheismus nennen, zurück. Auf der höchsten Stufe dieser Art von Theismus wird der Name Gottes als poetisches oder praktisches Symbol gebraucht, in dem sich ein tiefes emotionales Erlebnis oder eine höchste | sittliche Idee ausdrückt. Es ist ein Theismus, der auf der Grenze zwischen dem zweiten Typ des Theismus und dem, was wir „transzendierten Theismus“ nennen, steht. Aber er ist noch zu unbestimmt, um diese Grenze überschreiten zu können. – Die atheistische Verneinung dieses Theismus ist so unbestimmt wie der Theismus selbst. Sie kann Ehrfurchtlosigkeit erzeugen und eine ärgerliche Reaktion von seiten derjenigen, die ihre theistische Bejahung ernst nehmen. Der Atheismus kann sogar als gerechtfertigt empfunden werden angesichts des rhetorisch-politischen Mißbrauchs des Gottesnamens; aber er ist im Grunde so belanglos wie der Theismus, den er verneint. Er kann ebensowenig zur letzten Verzweiflung durchdringen, wie der Theismus, den er bekämpft, zum letzten Glauben durchdringen kann. Theismus kann noch eine andere Bedeutung haben, die im Gegensatz zu der ersten steht: er kann die Bezeichnung für das sein, was wir die göttlichmenschliche Begegnung genannt haben. In diesem Fall weist er auf die Elemente der jüdisch-christlichen Tradition hin, die das Ich-Du-Verhältnis zu Gott betonen. Diese Form des Theismus beruft sich auf die personalistischen Aussagen in der
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Bibel und in den protestantischen Bekenntnissen, auf das personalistische Gottesbild, auf das Wort als das Werkzeug der Schöpfung und der Offenbarung, auf den ethischen und sozialen Charakter des Reiches Gottes, auf den persönlichen Charakter des menschlichen Glaubens und der göttlichen Vergebung, auf die geschichtliche Sicht des Universums, auf die Idee eines göttlichen Zweckes, auf die unendliche Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf, auf die absolute Trennung zwischen Gott und Welt, auf den Konflikt zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen, auf den persönlichen Charakter von Gebet und Andacht. Theismus in diesem Sinne ist die nicht-mystische Seite der biblischen Religion und des geschichtlichen Christentums. Atheismus, vom Standpunkt dieses Theismus gesehen, ist der menschliche Versuch, der göttlich-menschlichen Begegnung zu entgehen. Er stellt ein existentielles und kein theoretisches Problem dar. Theismus hat eine dritte, rein theologische Bedeutung. Der theologische Theismus ist wie jede Theologie von der religiösen Substanz abhängig, die er in Begriffe faßt. Er ist von dem Theismus in der ersten Bedeutung des Wortes abhängig, insofern er die Notwendigkeit, Gott auf irgendeine Weise zu bejahen, zu beweisen sucht; er vertritt gewöhnlich die sogenannten Beweise für die „Existenz“ Gottes. Aber er ist noch mehr von dem Theismus in der zweiten Bedeutung des Wortes abhängig, insofern er eine Lehre von Gott aufzustellen sucht, in der die IchDu-Begegnung mit Gott in eine Lehre über zwei Personen verwandelt | ist, die sich begegnen oder auch nicht begegnen können und von denen jede eine Realität besitzt, die unabhängig von der anderen ist. Der Theismus in der ersten Bedeutung des Wortes muß transzendiert werden, weil er belanglos ist; der Theismus in der zweiten Bedeutung muß transzendiert werden, weil er einseitig ist; der Theismus in der dritten Bedeutung muß transzendiert werden, weil er falsch ist. Er ist schlechte Theologie. Das kann durch eine eingehendere Analyse gezeigt werden. Der Gott des theologischen Theismus ist ein Wesen neben anderen und als solches ein Teil der gesamten Wirklichkeit. Er wird zwar als deren wichtigster Teil betrachtet, aber doch als ein Teil und deshalb als der Struktur der Wirklichkeit unterworfen. Es wird zwar behauptet, daß er jenseits der ontologischen Elemente und Kategorien sei, die die Wirklichkeit konstituieren. Aber jede Behauptung über ihn unterwirft ihn diesen. Er wird als ein Selbst betrachtet, das eine Welt hat, als ein Ich, das auf ein Du bezogen ist, als eine Ursache, die von ihrer Wirkung getrennt ist, als ein Sein, das einen bestimmten Raum und eine endlose Zeit hat. Er ist ein Sein, nicht das Sein-Selbst, und als solches ist er an die Subjekt-Objekt-Struktur der Wirklichkeit gebunden. Er ist ein Objekt für uns als Subjekte, zugleich sind wir Objekte für ihn als Subjekt. Und das ist der entscheidende Grund, warum der theologische Theismus transzendiert werden muß. Denn Gott als Subjekt macht mich zu einem Objekt, das nichts als Objekt ist. Er beraubt mich meiner Subjektivität, weil er allmächtig und allwissend ist. Dagegen
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wehre ich mich und versuche, ihn zu einem Objekt zu machen, aber es mißlingt mir, und ich ende in Verzweiflung. Gott erscheint als der unbesiegbare Tyrann, das Wesen, dem gegenüber alle anderen Wesen ohne Freiheit und Subjektivität sind. Er erscheint uns wie die Tyrannen unserer Zeit, die mit Hilfe des Terrors Menschen in bloße Objekte zu verwandeln suchen, in Dinge unter Dingen, in Rädchen einer Maschine, die sie dirigieren. Er wird zum Muster alles dessen, wogegen der Existentialismus revoltiert. Er ist der Gott, von dem Nietzsche den Mörder Gottes sagen läßt, daß er getötet werden mußte, weil niemand ertragen kann, zu einem bloßen Objekt absoluten Wissens und absoluter Beherrschung gemacht zu werden. Hier liegt die tiefste Wurzel des Atheismus. Es ist ein Atheismus, der gerechtfertigt ist als Reaktion gegen den theologischen Theismus und dessen erdrückende Konsequenzen. Hier liegt auch die tiefste Wurzel der existentialistischen Verzweiflung und der weitverbreiteten Angst vor dem Sinnverlust in unserer Zeit. Der Theismus in allen seinen Formen wird in der Erfahrung transzendiert, die wir absoluten Glauben genannt haben. Er ist das Bejahen des Bejahtseins ohne jemanden oder etwas, das uns bejaht. Es ist die | Macht des Seins-Selbst, die bejaht und den Mut zum Sein verleiht. Das ist der höchste Punkt, zu dem unsere Analyse uns führen kann. Der Gott über Gott kann nicht beschrieben werden, wie der Gott aller Formen des Theismus beschrieben werden kann. Er kann auch nicht auf mystische Weise benannt werden. Er transzendiert sowohl Mystik wie persönliche Begegnung, ebenso wie der absolute Glaube sowohl den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, man selbst zu sein, transzendiert.
Der Gott über Gott und der Mut zum Sein Die letzte Quelle des Mutes zum Sein ist der Gott über Gott; zu dieser Einsicht führt uns die Notwendigkeit, den Theismus zu transzendieren. Nur wenn der Gott des Theismus transzendiert wird, können der Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den Mut zum Sein hineingenommen werden. Der Gott über Gott ist das Ziel aller mystischen Sehnsucht, aber auch die Mystik muß transzendiert werden, um ihn zu erreichen. Die Mystik nimmt das Konkrete und den Zweifel in bezug auf das Konkrete nicht ernst. Sie versenkt sich unmittelbar in den Grund des Seins und läßt das Konkrete, die Welt endlicher Werte und Sinngehalte, hinter sich. Deshalb kann sie das Problem der Sinnlosigkeit nicht lösen. In bezug auf die gegenwärtige religiöse Situation bedeutet das, daß die östliche Mystik keine Lösung für die Probleme des westlichen Existentialismus ist, obwohl viele Menschen diese Lösung anstreben. Der Gott über dem Gott des Theismus stellt keine Abwertung der Sinngehalte dar, die der Zweifel in den Abgrund der Sinnlosigkeit gestoßen hat,
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sondern er ist ihre potentielle Restitution. Trotzdem stimmt der absolute Glaube mit dem Glauben der Mystik überein, insofern beide die theistische Objektivierung eines Gottes als eines Seienden transzendieren. Für die Mystik ist ein solcher Gott nicht realer als irgendein endliches Wesen; für den Mut zum Sein ist er mit allen anderen Werten und Sinngehalten in dem Abgrund der Sinnlosigkeit untergegangen. Der Gott über dem Gott des Theismus ist in jeder göttlich-menschlichen Begegnung gegenwärtig, wenn auch nicht offenbar. Die biblische Religion wie die protestantische Theologie wissen um den paradoxen Charakter dieser Begegnung. Sie wissen, daß Gott, wenn er dem Menschen begegnet, weder Objekt noch Subjekt ist und folglich über dem Schema steht, in das ihn der Theismus gezwungen hat. Sie wissen, daß dem Personalismus in bezug auf Gott durch eine überpersönliche Gegenwart des Göttlichen das Gleichgewicht gehalten werden muß. Sie wissen, daß die Vergebung nur angenommen werden kann, wenn die | Macht der Vergebung im Menschen wirksam ist – biblisch gesprochen: wenn die Macht der Gnade in ihm wirkt. Sie wissen um den paradoxen Charakter jedes Gebets, in dem zu jemandem gesprochen wird, mit dem man nicht sprechen kann, weil es kein jemand ist; in dem an jemanden eine Bitte gerichtet wird, von dem man nichts erbitten kann, weil er gibt, oder nicht gibt, ehe man ihn bittet; in dem man „Du“ zu jemandem sagt, der dem Ich näher ist als das Ich sich selbst. Jedes von diesen Paradoxen treibt das religiöse Bewußtsein zu einem Gott, der über dem Gott des Theismus ist. Der Mut zum Sein, der in der Erfahrung des Gottes über dem Gott des Theismus wurzelt, vereint in sich den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein, und transzendiert sie beide. Er vermeidet beides, den Verlust des Selbst durch Partizipation und den Verlust der Welt durch Individuation. Die Bejahung des Gottes über dem Gott des Theismus macht uns zu einem Teil dessen, was selbst kein Teil ist, sondern der Grund des Ganzen. Deshalb ist unser Selbst nicht in einem Kollektiv verloren, das selbst begrenzt ist. Wenn das Selbst an der Macht des Seins-Selbst partizipiert, empfängt es sich zurück, denn die Macht des Seins wirkt durch die Macht des individuellen Selbst. Sie verschlingt es nicht, wie es jedes begrenzte Ganze, jeder Kollektivismus und jeder Konformismus tut. Aus diesem Grund kann die eine Kirche, die für die Macht des Seins-Selbst steht und für den Gott, der den Gott der Religionen transzendiert, den Anspruch erheben, Mittler des Mutes zum Sein zu sein. Eine Kirche, die sich auf die Autorität des Gottes des Theismus stützt, kann einen solchen Anspruch nicht erheben. Sie muß sich zwangsläufig zu einem kollektivistischen oder halbkollektivistischen System entwickeln. Aber eine Kirche, die sich in ihrer Verkündigung und ihrer Andacht zu dem Gott über dem Gott des Theismus erhebt, ohne ihre konkreten Symbole zu opfern,
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kann einen Mut vermitteln, der Zweifel und Sinnlosigkeit in sich hineinnimmt. Einzig die Kirche unter dem Kreuz vermag das zu tun, die Kirche, die den Gekreuzigten predigt, der den Gott anrief, der Gott blieb, nachdem der Gott des Vertrauens ihn in dem Dunkel der Verzweiflung und der Sinnlosigkeit verlassen hatte. Teil einer solchen Kirche sein heißt, einen Mut zum Sein empfangen, in dem man sein Selbst nicht verliert und seine Welt wieder empfängt. Absoluter Glaube oder der Zustand des Ergriffenseins von dem Gott über Gott ist kein Zustand, der uns neben anderen Seelenzuständen zuteil wird. Er ist nichts Abgegrenztes oder Bestimmtes, kein Geschehnis, das isoliert und beschrieben werden könnte. Er ist immer ein Zustand in und zusammen mit anderen Seelenzuständen. Er ist die Situa | tion auf der Grenze menschlicher Möglichkeiten – er ist diese Grenze. Deshalb ist er sowohl der Mut der Verzweiflung wie der Mut in allem Mut und über allem Mut. Er ist kein Ort, wo man leben kann; er ist ohne die Sicherheit, die Worte und Begriffe vermitteln, er ist ohne Namen, ohne Kirche, ohne Kult, ohne Theologie. Aber er ist in der Tiefe von ihnen allen wirksam. Er ist die Macht des Seins, an dem sie alle partizipieren und dessen fragmentarische Ausdrucksformen sie sind. Wir können uns seiner bewußt werden in der Angst vor Schicksal und Tod, wenn die traditionellen Symbole, die dem Menschen halfen, die Schicksalsfälle und den Schrecken des Todes zu ertragen, ihre Macht verloren haben. Wenn die „Vorsehung“ zum Aberglauben geworden ist und die „Unsterblichkeit“ zu einer Phantasievorstellung, kann die Macht, die einmal in diesen Symbolen lebte, noch gegenwärtig sein und trotz der Erfahrung einer chaotischen Welt und einer endlichen Existenz in uns den Mut zum Sein schaffen. Der stoische Mut taucht wieder auf, aber nicht als Glaube an die universale Vernunft, sondern als absoluter Glaube, der Ja sagt zum Sein, ohne daß sich ihm etwas Konkretes zeigt, das das Nichtsein in Schicksal und Tod besiegen könnte. Und der Gott über dem Gott des Theismus kann uns bewußt werden in der Angst vor Schuld und Verdammung, wenn die traditionellen Symbole, die dem Menschen halfen, die Angst vor Schuld und Verdammung auszuhalten, ihre Macht verloren haben. Wenn das „Gericht Gottes“ als ein bloß psychologisches Phänomen gedeutet wird und die „Vergebung“ als ein Überrest des Vaterbildes, kann die Macht, die einmal in diesen Symbolen lebte, noch gegenwärtig sein und trotz der Erfahrung einer unendlichen Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein sollen, in uns den Mut zum Sein schaffen. Der Mut Luthers kehrt wieder, aber nicht durch den Glauben an einen richtenden und vergebenden Gott gestützt, sondern als absoluter Glaube, der Ja sagt, obwohl es keine bestimmte Macht gibt, die die Schuld überwindet. Der Mut, die Angst vor der Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen, ist die Grenze, bis zu der der Mut zum Sein gehen kann. Jenseits dieser Grenze ist bloßes Nichtsein. In diesem Mut werden alle Formen des Mutes wie-
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dergeboren aus der Macht des Gottes über dem Gott des Theismus. Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.
Namenregister Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 90, 95– 98, 122 Heidegger, Martin 9 f., 33, 100, 104 f. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 88 Horkheimer, Max 8 Husserl, Edmund 6, 94
Adorno, Theodor W. 8 Alexander III. von Makedonien 48 Ambrosius von Mailand 19 Aquino, Thomas von 16, 18 f. Aristoteles 15–17, 30, 33, 62, 77 Auden, Wystan Hugh 101 Augustin von Hippo 30, 33, 92 f. Augustus, Gaius Octavius 48 Baudelaire, Charles-Pierre 97 Berdjajew, Nikolai Alexandrowitsch Bergson, Henri 33, 97 f. Böhme, Jakob 30, 33 Bosch, Hieronymus 93 Breughel der Ältere, Pieter 93 Bruno, Giordano 77 f.
Ibsen, Henrik 97
33
Caesar, Gaius Iulius 48 Calvin, Johannes 37 Camus, Albert 102 Cézanne, Paul 97 Cusanus, Nikolaus 94 Dante, Alighieri 36, 92 f. Demokrit 33 Descartes, René 16, 94 f. Dilthey, Wilhelm 97 Dionysios Areopagita 33 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 97 Dürer, Albrecht 111 Duns Scotus 30, 93 Eliot, Thomas Stearns 101 Epiktet 22, 24 Feuerbach, Ludwig 97, 101 Flaubert, Gustave 97 Freud, Sigmund 21 f., 44, 53 Fromm, Erich 2, 27, 43 Galilei, Galileo 78 Goethe, Johann Wolfgang von 77, 95 Grünewald, Matthias 93
James, William 97 Jaspers, Karl 105 Jesus 3, 20, 55 Julian Apostata 20 Kafka, Franz 13, 101 f. Kant, Immanuel 9–11, 16, 77, 95, Kierkegaard, Søren 10, 13, 90, 96, 98, 100 Kopernikus, Nikolaus 78 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30, 33, 84 Leonardo da Vinci 77 Lucillus Iunior 23 Luther, Martin 37, 50, 92, 111–113, 115–117, 128 Marcel, Gabriel 105 Marc Aurel 20 Marx, Karl 97 f., 101 Medicus, Fritz 3 Michelangelo 50 Miller, Arthur 102 Münzer, Thomas 117 Munch, Edvard 97 Nero 20 Niebuhr, Reinhold 9 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 28, 30–32, 37 f., 86, 97 f., 101, 107, 126 Nikias 15 Ockham, Wilhelm von Parmenides 33 Pascal, Blaise 98
93
Namenregister
Pelagius 92 Pico della Mirandola, Giovanni 77 Plato 10, 15–17, 30, 32 f., 63, 67, 91–93, 115 f. Plotin 33 Rimbaud, Arthur
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 77 Simmel, Georg 97 Sokrates 15, 17, 21, 24, 106, 115 f. Spinoza, Baruch de 25–29, 31, 109, 122 Stirner, Max 97 Strindberg, August 97
97 Troeltsch, Ernst 3
Sartre, Jean-Paul 13, 33, 47, 101 f., 105, 107 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 3, 9, 30, 33, 77, 88, 96 Schlegel, Friedrich von 85 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 3 Schopenhauer, Arthur 30, 33, 88, 97 Seneca 21–24
Van Gogh, Vincent
97
Weber, Max 97 Whitehead, Alfred North 33 Williams, Tennessee 102
131
Sachregister Absoluter Glaube, siehe Glaube Absolutismus 50 f. Adel 17, 31, 65 Aktualität 35, 45, 68, 77 Amerika/amerikanisch 1 f., 9, 21, 34, 76– 82, 87, 100, 102 f., 117 Angst 10, 12, 22–24, 28, 33–35, 46, 51 f., 62, 66, 68, 70, 76, 90, 93, 103, 111, 117, 123 – A. und Endlichkeit 10, 35, 104, 123 – A. und Furcht 34–38, 41, 54, 59, 61–63, 70, 115 – A. und Verzweiflung 10, 48, 54, 71, 90, 119 – A. vor dem Nichtsein 12, 35, 37–39, 41 f., 45, 50, 54–56, 61, 64 f., 69, 71, 73 f., 78, 96, 104, 108, 123 – A. vor Leere (des Zweifels) und der Sinnlosigkeit 12, 14, 38, 41–43, 48–51, 60 f., 71, 75, 81, 91, 95, 99–101, 104, 108, 110, 117– 119, 126, 128 f. – A. vor Schicksal und Tod 12, 20–23, 38– 40, 46–50, 59, 61, 74 f., 80 f., 87 f., 95, 100, 104, 108, 110, 112, 115, 118–120, 128 – A. vor Schuld und Verdammung 12, 38, 45–47, 49–51, 56, 60 f., 71, 75, 81, 88, 95, 100, 104, 108, 110, 112–115, 118–120, 128 – existentielle A. 38, 53 f., 56–61 – geistige A. 48 – Grundangst 37, 39, 53 – kollektive/kollektivistische A. 69 – moralische A. 48 – neurotische A. 38, 53, 55 f., 58–60, 99, 106 – ontische A. 48 – pathologische A. 12, 53–58, 60 f. – psychotische A. 38, 54, 56 Aristokratie/aristokratisch 16–19, 21, 48, 65, 70, 109 Aseität 106 Askese 25, 49, 56, 109 Astrologie 49, 115 Atheismus/atheistisch 5, 7, 14, 20, 23, 124– 126
Aufklärung 3, 13, 50, 83–85 Autorität/autoritär 43, 50, 60, 71, 83 f., 93 f., 107, 112, 127 Begierde 16, 22–24, 27 Bejahung, siehe Selbstbejahung Beratung, Praxis der 57 Bibel/biblisch/Biblizismus 34, 84, 95, 111, 125, 127 Biologie/biologisch 39, 61–65, 89, 103 Boheme 86, 88 f. Brahman 109 Calvinismus 95, 112 Christentum/christlich 3, 12, 18–20, 25, 38, 44, 49, 75, 80, 83, 87 f., 91–93, 96, 100, 111, 116 f., 119, 124 f. Conatus 26, 30 f. Dämonische, das 34, 37, 49 f., 56, 88, 92 Dekandenz, siehe Verfall Demokratie/demokratisch 17 f., 21, 48, 51, 76–80, 83 f., 100, 102, 104 Durchschnittsmensch 54–56 Edel, siehe Adel Einsamkeit 32, 87, 101, 106, 112 Endlichkeit 10, 12, 33, 45, 47 f., 57, 60, 68, 90 f., 94, 97, 101, 104, 110, 116 f. – siehe auch Angst und Endlichkeit Entelechie 17 Entfremdung/entfremdet 42, 44 f., 47, 60 f., 66, 68, 90–92, 94, 98, 101, 116 Enthusiasmus, kosmischer 78 Entmenschlichung 98 f., 107 Erkenntnis, existentielle 89 f. Erlösung 20, 24, 26, 28, 66, 71 – kosmische E. 20, 23, 25 Essentialismus/Essenz/essentiell 10, 26, 66, 90–97, 105 Ethik/Moral 16–18, 20, 24, 26, 28 f., 32, 38, 45–48, 50 f., 60, 64–66, 80, 88, 92, 95, 98, 104, 113, 124 Europa/europäisch 34, 73, 76, 79, 87, 97
Sachregister
Existentialismus 13, 19, 33, 76, 86, 88–94, 96–103, 105–107, 112, 117, 119, 126 – existentialistischer Protest 91, 94, 96 f., 107 – existentieller Gesichtspunkt 91–95, 99 – essentialistisch/existentialistisch 10, 91 f., 95–97, 105 Expressionismus 97, 103 Fanatiker/Fanatismus 20, 43 f., 56, 60, 73, 106 f. Faschismus 63, 65, 72, 107 Fegefeuer 49 f., 71, 118 Fortschritt (-sglaube) 25, 77, 79 f., 84, 94 Freiheit 7, 9, 12, 21, 34, 43, 46, 64 f., 84, 87, 102, 106 f., 126 – endliche F. 10, 45, 89, 106 Freude, siehe Mut Furcht 15, 21–23, 32, 34–39, 49 f., 55 f., 61– 63, 66, 118, – siehe auch Angst und Furcht Geschichte 7, 12, 16, 25, 29, 32–34, 38, 48, 55 f., 62, 65, 72 f., 78 f., 84, 90, 95 f., 100, 103, 107, 111, 113, 117 Gesellschaft 12 f., 16–20, 48, 51–53, 69 f., 75, 78–81, 84 f., 95, 98, 106, 112 – organische G. 78, 85 Gewißheit 2 f., 5–7, 14, 60–62, 75, 112 f., 119 Glaube 5–7, 19 f., 42, 49–51, 80 f., 84, 92, 97, 105 f., 109, 111, 113, 116–121, 124 f., 127 f. – absoluter G. 12–14, 117, 120 f., 123 f., 126–128 – Wagnis des G. 18 Gnade 49, 65, 71 f., 94, 117, 127 Gnosis 20 Gott – G. des Theismus, siehe Theismus – göttlich-menschliche Begegnung/Beziehung 95, 111, 121, 125, 127 – Gott über Gott 2–4, 6 f., 11 f., 14, 23, 124, 126–129 – Ich-Du-Begegnung/Verhältnis zu G. 111 f., 114 f., 124 f. – Zorn Gottes 49
133
Griechen/griechisch 17, 25, 39, 64 f., 71, 76, 105 Großbritannien 78 Grund des Seins, siehe Seinsgrund Halbkollektivismus, siehe Kollektivismus Harmonie 84, 88 – Harmonieprinzip 84 – prästabilierte H. 84 Heilen/Heilung 56 f., 59, 61, 114 Heiligung 56 f. Hoffnung 19, 25, 47, 79 f. Humanismus 18 f., 25 f., 50, 65, 87 f., 105, 115 Ich-Du-Begegnung/Verbindung, siehe Gott Idealismus 3, 11, 65, 98 Impressionismus 97 Individuum/Individualität/Individuation 4, 13, 25 f., 28, 38, 48, 51 f., 66 f., 69–71, 74, 77–80, 83–85, 87–89, 93, 96, 104, 109, 111 f., 114, 116, 127 Intensität/Extensität 54, 56, 98 Intentionalität 6, 35, 63–65, 120 Karma 110 Katholizismus/katholisch 18, 83, 85, 93, 106, 111 Kirche 20, 49 f., 71 f., 76, 83, 94, 100, 112 f., 127 f. Kollektivismus/Kollektiv/kollektivistisch 12 f., 39, 68 f., 72, 74 f., 78, 81–83, 85 f., 93, 99 f., 103, 107, 127 – primitiver/älterer K. 70–72, 74, 76, 83 – Halbkollektivismus/mittelalterlicher K. 68, 72, 78, 83, 85, 100, 105, 112, 127 – Neu-/Neokollektivismus 72–76, 107, 113 Kommunismus/Kommunist 72–75, 107 Konformismus/Konformität 76–81, 83–88, 99 f., 102–105, 127 Korrelation 38 f., 51, 55, 67 Kreuz 128 Kultur 6–8, 12, 39, 41 f., 48, 50, 53, 55, 71, 78, 106 Kunst/Künstler 25, 34, 41, 44, 49, 91, 97, 99–101, 103 f. – bildende K. 77, 103
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Sachregister
– existentialistische K. 89, 92, 103 – moderne K. 6, 75, 100, 103 f., Leben 11, 16 f., 21, 25, 30–33, 40, 48, 61, 63–65, 74 f., 80, 87, 89 f., 97 f., 115, 119 f., 122 – siehe auch Mut – geistiges L. 41–44, 64 – Lebensmacht (Macht des Lebens), siehe Vitalität – Lebensphilosophie, siehe Philosophie – Sinn des L.s 75, 119 f. Letztlich, was uns letztlich angeht 42 Liberalismus 51, 78, 84 Liebe 19, 27 f., 102, 122 – geistige L. 28 – L. und Partizipation 35 f., 71 Logos 20, 22–24, 75 Macht, siehe Wille zur Macht Mächtigkeit, siehe Seinsmächtigkeit Marxismus 107 Massenneurose, siehe Neurose Medizin 57 f. Menschen, Lehre vom 8 f., 57 f., 90, 92 Mikrokosmos/mikrokosmisch 29, 77, 87, 89 Mittelalter 12, 17–19, 25, 48–51, 63, 65, 70– 72, 78, 83, 85 f., 92–94, 105, 112, 118 Moral, siehe Ethik Mut – M. des Vertrauens 111–117 – M. und Freude 23 – M. und Glauben 2, 13, 19, 24 f., 39, 58, 111, 120 – M. und Leben 21, 28, 30, 59, 62 f., 70, 95 – M. und Selbstbejahung 17 f., 34, 39, 54 – M. und Tugend 15, 17–19, 27, 109 – M. und Vernunft 18 f., 22, 71, 84, 128 – M. und Verzweiflung 54, 98–102, 104 f., 120, 128 – M. und Weisheit 16–19, 21–24, 88, 119 – (neu-) kollektiver/kollektivistischer M. 13, 39, 51, 68 f., 71, 73, 75 Mystik/mystisch 13, 28, 33, 37, 50, 73, 83, 92 f., 95, 105, 109–112, 117 f., 121 f., 125–127 Mythos 21, 73, 91, 96
Nationalsozialismus 63, 65, 72 f., 100, 107 Natur 27, 33, 54, 57, 69, 77 f., 86 f., 96, 98 – essentielle N. 17, 22 f., 26–28, 31, 44, 90, 105 – Naturgesetz 3, 106 – vernünftige N. 22 f. Naturalismus 64 f., 86–89, 98, 104 Negation 14, 25, 30, 33–35, 37 f., 96, 110, 120, 122 – doppelte N. 122 Neostoizismus/Neustoiker, siehe Stoizismus Neukollektivismus, siehe Kollektivismus Neuplatonismus, siehe Platonismus Neurose/neurotisch 38, 53–56, 58–60, 62, 99 f., 106 f., 114 – Massenneurose 56 Nichts, das 33, 36, 38 Nichtsein 2, 12–14, 32–42, 44–47, 50 f., 54 f., 61 f., 64, 66–71, 73 f., 78, 87, 96, 99–101, 104, 108–111, 114–116, 118–123, 128 – siehe auch Angst und Nichtsein – geistiges N. 45 f., 50 f. – ontisches N. 33, 45 f., 51, 96 – sittliches/moralisches N. 46, 51 Nominalismus 51, 71 f., 93 Ontologie 9–11, 29 f., 33, 39, 54, 57 f., 73, 92, 94, 96, 105 – O. des Mutes 26, 28 f., 32, 35, 53, 73 – ontologisch und ethisch 15 f., 19, 21, 23, 26 f., 29 Opfer 17, 31–33, 43, 54, 64, 71, 73–75, 99, 106, 109, 127 Originalität 41, 105 Partizipation/partizipieren 13, 20, 22 f., 27 f., 34–36, 41, 43, 48, 51, 64, 66–72, 74, 76–81, 83–85, 89–91, 95, 104, 106– 109, 111 f., 114, 116, 118, 123, 127 f. Person/Persönlichkeit/Personalismus 18, 22, 27, 46, 53, 55 f., 68 f., 71, 81, 90, 98, 111–114, 117, 124 f., 127 Philosophie – Lebensphilosophie 11, 30 f., 33, 87, 96– 98, 122 – Prozeßphilosophie 33, 80, 122
Sachregister
– Religionsphilosophie 4 f., 7, 20, 25 Pietismus 13, 81, 83 Platonismus/platonisch 16, 25, 80, 91 f. – Neuplatonismus 20, 122 Potentialität 17, 54, 56, 68, 77 Prädestinationslehre 50 Pragmatismus 80, 87 Produktion/produktiver Prozeß 80 f. Protestantismus/protestantisch 19, 33, 78, 83 f., 88, 94 f., 106, 111–113, 117, 119, 125, 127 Psyche – Psychoanalyse/psychoanalytisch (Tiefenpsychologie) 2, 22, 34, 54, 57, 88, 92, 97, 114, 118 – psychologisch 30, 39, 53–55, 57, 61, 89 f., 97 f., 102 f., 105, 107, 124, 128 – psychosomatisch 55, 57, 61, 94 f. – Psychotherapie/Psychotherapeut 53, 57– 59, 61, 113 Puritanismus 76, 81 Radikalismus 89, 105 – evangelischer R. 117 Realismus 11, 71, 88 Rechtfertigung 5–7, 13, 81, 94, 102, 113 f. Reformation/Reformatoren 13, 49–51, 72, 83 f., 92, 94, 111–115, 117 Religion 2, 4–6, 18, 23, 34, 57 f., 71, 108, 114, 125, 127 Renaissance 3, 25 f., 49 f., 65, 72, 77 f., 88, 94, 115, Resignation 20, 23–26, 28, 79 Romantik/romantisch 13, 78, 85–89, 96, 98 f. Rom 20, 48 f., 79 – siehe auch Katholizismus Russland/russisch 73, 76 Schicksal 23, 62, 65, 77, 79, 91, 93, 102, 120 – siehe auch Angst vor Schicksal und Tod Schöpfung 25, 34, 77, 90, 92, 125 – schöpferisch (kulturell) 32, 34, 41 f., 54– 56, 64, 77–79, 85–88, 90, 97 f., 101, 104– 106 – siehe auch Originalität
135
Schuld 24, 32, 46, 49, 57, 60, 70 f., 83, 85, 100–102, 104, 113 f., 117, 119 f., 128 – siehe auch Angst vor Schuld und Verdammung Seele 16, 18 f., 23, 26–29, 31, 33 f., 37, 49 f., 64, 67, 81, 88, 91 f., 97, 112, 128 – Unsterblichkeit der S. 39, 47, 80, 115 f. Sein – Ja zum S. 23, 128 – Mysterium des S.s 54 – Sein-Selbst 11, 14, 29, 34, 74, 95, 108 f., 115, 122 f., 125 – Seinsgrund 34, 85, 108 f., 111, 117 f., 122– 124, 126 – Seinsmächtigkeit 18, 26, 41, 62, 64, 67, 70, 87, 122 f. Sekten 75, 95 Selbst – Selbstliebe 27 f. – Selbstmord 21, 47 f. – Selbstsucht 27, 66 – Selbsttranszendierung/Sich transzendieren 30, 32, 63, 86, 89, 108, 114 – Selbstverneinung 31, 47 f., 55, 97, 110 Selbstbejahung 12 f. 16, 25–31, 33 f., 37– 39, 54–59, 61, 63–70, 72–77, 79, 83 f., 87, 89, 96, 98, 100, 106 f., 109–114, 116–118, 122 f. – begrenzte S. 55 f., 58, 61 – biologische S. 61 f. – essentielle S. 16, 57 – geistige S. 38, 41–44, 49 – göttliche S. 27, 123 – (neu-) kollektive/kollektivistische S. 69, 73 – moralische S. 38, 45 f. – neurotische S. 56, 58 – ontische/ontologische S. 32, 38–41, 44 f., 47, 66 f., 73 – pathologische S. 55 f. – realistische S. 55, 58 – S. und Leben 30 f., 61, 87 – S. und Liebe 27 – S. und Tugend 27, 31 – zwanghafte S. 106 Sicherheit 59, 61 f., 80, 98, 100, 118 f., 128
136
Sachregister
Sinnlosigkeit, siehe Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Skepsis/Skeptizismus 25, 46, 48–50, 83, 121 Soldat 30, 109 Sophismus/Sophist 49 Sprache 17, 41, 62, 64, 69 – religiöse Sprache 36, 118, 120 – symbolische Sprache 123 Stalinismus 73 Stellvertretung 71 f. Stoizismus 19–21, 24–26, 29, 75, 77, 83, 88, 115 – Neostoizismus/Neustoiker 19, 26, 29, 84, 115 Sünde 24, 33, 39, 46, 49, 71, 75, 81, 91–94, 101, 113 f., 116 f. Surrealismus 103 Symbol/symbolisch 21, 25, 34, 36, 39, 42, 44, 49, 70, 77, 79, 85, 88, 92, 104 f., 109, 111, 115 f., 119, 122–124, 127 f. Synkretismus 20
Universalien 69 f., 93, 98 Unsterblichkeit 39, 47, 74, 80 f., 100, 115 f., 128
Theismus/theistisch 14, 20, 23, 124–129 Theologie 3 f., 7–9, 58, 91 f., 95, 100, 106, 113, 122, 125, 127 f. Tod 16, 21–23, 30 f., 35 f., 50, 70, 74, 80, 87 f., 104, 110, 116, 119 – siehe auch Angst vor Schicksal und Tod – Maske des T.es 22, 80 – T. und Teufel 49, 111, 115 – Todestrieb 21, 44 Totalitarismus 103 f. Tragik/tragisch 25, 45, 49, 65, 87, 97, 107 Trinität 122 Trotzdem 115 Tugend 26, 64 – siehe auch Mut
Weisheit, siehe Mut Widerstand 55, 58, 61 f., 82 Wille 18, 21, 30–33, 36, 53, 65, 67, 69, 87, 93, 101 – W. zur Macht 29–32, 87, 89 Wirklichkeit 10 f., 29 f., 32, 39–41, 43 f., 54–56, 58–60, 63 f., 69 f., 76, 80, 85, 89 f., 93 f., 97 f., 102, 104, 111, 116, 125 – letzte W. 30, 71, 110 – Strukturen der W. 22, 68, 103, 125
Unbewußt 53, 77, 87
Vaterbild 128 Verfall 30, 46, 99 Verteidigungsmechanismus, neurotischer 100 Vertrauen, siehe Mut Vergebung 49, 75, 81, 94, 101 f., 113 f., 117, 119, 125, 127 f. Vernunft 16, 21–24, 27, 72 f., 83–85, 92, 95, 97 f., 102, 104, 106 Verzweiflung 13 f., 21, 24, 37, 43–50, 54 f., 79, 88, 92, 95, 98–102, 104, 110, 114, 117, 119–121, 124, 126, 128 Vitalität/Vitalismus/vital 53, 61–65, 87, 118, 120 Voluntarismus 86, 97 Vollkommenheit 3, 17, 19, 24, 45, 53, 60– 62, 65, 83, 119 Vorsehung 94, 115, 128
Zufälligkeit 40, 45 f., 93, 103, 107, 113 Zweifel 2, 5–7, 13 f., 42–44, 46, 50, 57, 60, 70 f., 75, 81, 88, 100, 102, 110, 118–121, 124, 126, 128 f. Zynismus/Zyniker/zynisch 49, 83, 103, 105– 107, 120, 123