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German Pages 488 Year 1900
DER MARXISMUS
DER MARXISMUS UND DAS
WESEN DER SOZIALEN FRAGE VON
PAUL WEISENGRÜN.
LEIPZIG, VERLAG
VON
V E I T & COMP.
1900.
Druck von Metzger A Wittig in Leipzig.
Vorrede.
D
ie folgende Schrift enthält nicht nur eine Kritik des Marxismus, wie man wohl aus dem Titel derselben entnehmen könnte. Die Defensive gegen den mechanischen und metaphysischen Sozialismus ist des öfteren zu Gunsten einer Offensive verlassen worden. Es wurde nicht allein danach gestrebt, die wichtigsten Lehrmeinungen, welche der Schöpfer des „Kapital" aufgestellt, innerlich zu überwinden, sondern es war auch die Absicht vorhanden, eine zum Teile neue geschichtsphilosophisclie, soziologische und nationalökonomische Betrachtungsweise zur Darstellung zu bringen. Mein Leitstern war dabei der Gedanke, mit der Anwendung der modernen E r k e n n t n i s t h e o r i e auf die verschiedensten sozialwissenschaftlichen Grundprobleme Ernst zu machen. Wohl ertönen schon seit geraumer Zeit aiich im sozialwissenschaftlichen Lager die Rufe: Zurück auf K A N T oder F. A. L A N G E , wohl ist es seit den Bestrebungen B E R N S T E I N ' S zu allgemeiner Kenntnis gelangt, daß der neue Flügel der wissenschaftlichen Sozialisten auch eine erkenntnistheoretische Revision des Marxismus in sein Programm aufgenommen habe; aber es blieb leider einerseits beim bloßen Wollen, andererseits erstarrten selbst die bedeutsamsten methodischen Errungenschaften in eine formale Erkenntnistheorie. Demgegenüber begann ich (auf den einzigen mir bekannten Vorgänger Prof. R I C H A R D v. S C H U B E R T - S O L D E R N habe ich in meiner Schrift hingewiesen) mit der gleichmäßigen Anwendung gewisser realerkenntnistheoretischer Leitsätze auf Philosophie der Geschichte wie Soziologie, auf theoretische Nationalökonomie wie auf die allgemeinen Grundsätze der Volkswirtschaft. Während meine Anwendung erkenntnistheoretischer Betrachtungsweise nur in der Form etwas Neues bringt, scheint mir die in diesem Werke vorgetragene T h e o r i e d e r sozialen K o m p l i k a tion eine von der üblichen fundamental verschiedenen Grundauffassung der Historie und Soziologie zu sein. Daß eine solche Lehre
VI
Vorrede.
die so notwendigen Bestrebungen nach einer psychologischen Motivation der realen Triebfedern der Geschichte und Wirtschaft durchwegs nicht erschöpft, darüber bin ich mir vollkommen klar. Aber ich halte diese sicherlich nach der Ausdehnung und Vervollkommnung überaus fähige Theorie für fruchtbar und methodisch brauchbar. In der Revision der sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe wird man die Zerstörung des Begriffes „Gesellschaft" vielfach für eine Art sozialwissenschaftlicher Begriffsspalterei halten, die von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt erscheint. Aber die Analyse dieses Begriffes und seine positive sozialpsychologische Ergänzung durch den Begriff „ O r g a n i s a t i o n " scheint mir doch fiir die Neugestaltung einer unmetaphysischen Soziologie durchaus notwendig zu sein. Ein ebenso großes Gewicht wie auf die vorgetragenen theoretischen Anschauungen lege ich auf die praktischen Vorschläge meiuer hier skizzierten Ü b e r g a n g s p o l i t i k , die dem Leser beweisen dürfte, daß die Beschäftigung mit Philosophie und theoretischer Ökonomie doch den Blick für das praktisch Unmittelbare und Notwendige nicht immer zu trüben braucht. Meine Schrift erscheint am Beginne eines neuen Säkulums. War der Sinn des 19. Jahrhunderts darauf gerichtet, dem sozialen Gedanken überhaupt erst Geltung zu verschaffen, so wird das 20. sich bereits mit seiner spezifischen Ausgestaltung beschäftigen müssen. Ein heftiger Kampf zwischen • der alten rein materialistischen und der neuen möglichst voraussetzungslosen Weltanschauung wird entbrennen, es wird sich darum handeln, ob auch in der Sozialwissenschaft die Metaphysik der Heuristik, die rein schematisierende und dogmatisierende Nationalökonomie einer lebensfähigen, konkret-entwickelungshistorischen Richtung Platz machen wird oder nicht. Ebenso wie die heranwachsende Generation von Theoretikern sich für oder gegen den sozialen Dogmatismus wird entscheiden müssen, so wird die Arbeiterklasse selbst, um deren teuerste Güter hier gekämpft wird, im neuen Jahrhundert schon dazu genötigt sein, eine reale, von allen Vorurteilen befreite Politik zu der ihrigen zu machen. Möge auch diese Schrift zur Klärung der theoretischen und praktischen Schwierigkeiten, mit denen das neue Jahrhundert zu ringen haben wird, etwas beitragen. W i e n , im Februar 1900. l)r. P a u l Wcisengriiii.
Inhalt. Einleitung. Erstes Kapitel. Die soziale Frage und die Politik des Proletariats Zweites Kapitel. Von Erfurt bis Hannover . . . . . . . Drittes Kapitel. Bernstein und Masaryk Viertes Kapitel. Philosophie und Nationalökonomie Erster
Seito
1—5 6—15 15—29 29—36
Teil.
K r i t i k des soziologischen Marxismus. Erstes Kapitel. Der soziologische und der ökonomische Marxismus 37 — 41 Zweites Kapitel. Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung 41—48 Drittes Kapitel. Die philosophischen Grundlagen des Marxismus 48—60 Viertes Kapitel. Die erkenntnistheoretische Umkräinpelung des Marxismus 66—72 Fünftes Kapitel. Einige Kritiker des soziologischen Marxismus . 73—83 Sechstes Kapitel. Der Haupteinwand gegen die materialistische Geschichtsauffassung 83—95 Siebentes Kapitel. Historische und soziale Gesetze 96—125 Achtes* Kapitel. Der Marxismus und die Geschichtsforschung . 125—132 Neuntes [Kapitel. Das Wesen der provisorisch-heuristischen Geschichtsauffassung 132—145 Zehntes Kapitel. Die soziale Komplikation 145—196 Elftes Kapitel. Versuch einer psychologischeu Theorie sozialen Geschehens 197—202 Zwölftes Kapitel. Darwinismus, Marxismus und Komplikationstheorie 202—212
Zweiter Teil. Kritik des ökonomischen Marxismus. Erstes Kapitel. Der Grundcharakter des „Kapital" Zweites Kapitel. Die ökonomische MABx-Kritik Drittes Kapitel. Metaphysik und Sozialwissenschaft
213—218 219—233 234—247
Inhalt.
VIII
Viertes Kapitel. Der ökonomische Wertbegriff FQnftes Kapitel. Die immanenten Gesetze der kapitalistischen Entwickelang Sechstes Kapitel. Die theoretischen Grundlagen der „Verjüngungstendenz" des Kapitalismus Siebentes Kapitel. Die theoretischen Grundlagen des Genossenschaftssozialismus Achtes Kapitel. Skizze einer anschaulichen, „kategorienlosen" Nationalökonomie Neuntes Kapitel. Die Gesamtbilanz des Marxismus
Seite
247—256 256—294 295—307 307—332 332—348 348—352
Dritter T e i l Revision der sozial wissenschaftlichen Grundbegriffe. Erstes Kapitel. Das Gemeinschaftliche sozialistischer Systeme . 353—361 Zweites Kapitel. Die Metaphysik des Individualismus . . . . 362—369 Drittes Kapitel. Der Begriff „Gesellschaft" 370—389 Viertes Kapitel. Der Begriff „Organisation" 389—395 Fünftes Kapitel. Das soziale Endziel 396—406 Sechstes Kapitel. Auflösung oder Umformung der Soziologie? . 406—421
Vierter Teil. Die Weltpolitik des Proletariats. Erstes Kapitel. /weites Kapitel. Drittes Kapitel. Viertes Kapitel.
Das Endziel und der soziale Optimismus . . . 422—439 Das soziale Endziel und der Kollektivismus . 439—444 Die Synthese des praktischen Sozialismus . . 445—451 Die Übergangspolitik 451—480
Einleitung. Erstes Kapitel.
Die soziale Frage und die Politik des Proletariats.
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ie soziale Frage beherrscht Europa. Aus einem Lieblingstheorem feiner und subtiler Köpfe, aus Gedankenkeimen feuriger Utopisten heraus ist sie an der Jahrhundertwende zum Angelpunkt aller modernen Bestrebungen, zur Zentralsonne unseres gesamten geistigen Lebens geworden. Einem breiten und gewaltigen Strome vergleichbar, hat die soziale Frage im Laufe weniger Dezennien all die unzähligen Dämme niedergerissen, welche die niedrigsten sozialen Instinkte der Massen, die Vorurteile der Philister, eine Pseudowissenschaft und, last not least, die stärksten Interessen der kleinen aber mächtigen Kapitalistenpartei in mühseliger und jahrelanger Arbeit errichtet hatten. Aus kleinen und unansehnlichen Anfängen heraus ist sie zur gewaltigsten, intensivsten und elementarsten Bewegung der Epoche geworden. Sie ist zugleich in die Breite und Tiefe gegangen; sie hat alle Bevölkerungsschichten der Kulturvölker ergriffen. Sie setzt den Arbeiter und Handwerksmeister, den Großkaufmann und den Fabrikanten, wenn auch nicht immer bewußt, gleichmäßig in Bewegung. Man spricht von ihr in der Fabrik und im Laden, auf dem Katheder und im Salon; sie beherrscht die Presse und die Tribünen, den Roman und vor allem das Theater, Schon mehren sich die breiten und oft langwierigen Abhandlungen, die sich bemühen, den Wert alles Dramatischen ausschließlich durch soziale Motive bestimmen zu lassen. Sie ist aufs innigste verknüpft mit den Problemen vieler einzelwissenschaftlicher Disziplinen; sogar die Philosophie ist aufs eifrigste bestrebt, aus der Berührung mit ihr uralten Fragen neues Leben einzuhauchen. Aber so stark ist ihr Einfluß geworden, so selbstverständlich ihre WBISENGRÜN , M a r x i s m u s .
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2
Einleitung.
tiefe Einwirkung auf die verschiedensten Gebiete, daß man allmählich beginnt, sich der Einheitlichkeit des Problems nicht mehr bewußt zu werden. Seitdem die Bedeutung der sozialen Frage allgemein anerkannt ist, beginnt man in verschiedenen Lagern zugleich auch von der Verschiedenheit, von der Vielheit sozialer Fragen zu sprechen. Die Komplexität tritt in den Vordergrund, man scheut sich fast, die allgemeine, umfassende, das Gemeinsame der Dinge betonende Bezeichnung zu gebrauchen. Vor den vielen sozialen Einzelproblemen beginnt man die eine gewaltige soziale Frage nicht mehr zu sehen. Es ist auf jeden Fall schon weithin sichtbar die Tendenz vorhanden, im Bewußtsein die notwendige Einheit der Problemstellung zu verwischen. Diese beginnende antizentralistische, allzu spezialisierende Richtung erklärt sich nicht allein durch den spezialistisch rein fachwissenschaftlichen Charakter der meisten einzelwissenschaftlichen Disziplinen; man schwärmt für diese Art der Behandlung der sozialen Frage nicht allein, weil es heutzutage auch in Geschichte und Philologie, in Zoologie und Physiologie, in Physik und Chemie sehr vielen Köpfen an der einheitlichen Auffassung gebricht. Es kann nicht geleugnet werden, daß gerade die eingehendere Beschäftigung mit sozialen und insbesondere mit rein wirtschaftlichen Erscheinungen selbst den an allgemeines Denken Gewöhnten förmlich dazu zwingt, die soziale Frage zu zerlegen und wenigstens für den Augenblick die ganze Wucht der Zusammenhänge in seinem Bewußtsein untertauchen zu lassen, um den konkreten Einzelfallen schärfer ins Auge sehen zu können. So bedingt gerade die eingehendere Beschäftigung mit den sozialen Dingen gar häufig eine provisorische, eine m e t h o d i s c h notwendige Verzichtleistung auf das Einheitliche und Zusammenhängende in der sozialen Frage. Auf den ersten Blick scheint es in der That nur verschiedene einzelne soziale Fragen zu geben. Von der entschieden richtigen formalen Definition ausgehend, daß man die soziale Frage als das Problem der richtigen Verteilung der wirtschaftlichen Güter unter alle Mitglieder der Gesellschaft aufzufassen habe, kann man sehr leicht dazu gelangen, überall nur Teilprobleme zu sehen. Denn, so könnte man mit Recht argumentieren, jede Klasse der Bevölkerung hat in einer anderen Weise das Recht auf die gesunde und möglichst vollkommene Verteilung der wirtschaftlichen Güter formuliert. Nicht um allgemeine Wünsche theoretischer Sozialisten, könnte man sagen, handelt es sich also in erster Linie, sondern um die
Einleitung.
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Beurteilung konkreter Forderungen. Nicht wie sich in irgend einem noch so sehr gelehrten System die Tendenz zur vollkommeneren Verteilung wirtschaftlicher Güter wiederspiegelt, sondern wie die einzelnen Schichten der Bevölkerung sich den allmählichen Weg zur Realisierung besserer Lebensbedingungen vorstellen, das müssen wir in wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht zunächst in Berücksichtigung ziehen. Die Systeme siftd historisch wertvolle Erscheinungen, die politische Wirklichkeit und die Wissenschaft aber habe es nur mit den Forderungen einzelner Bevölkerungsschichten zu thun, denn eine jede volkswirtschaftliche Politik ohne Kenntnis der nun einmal empirisch gegebenen Zustände, ohne Rücksichtnahme auf konkrete Wünsche und Forderungen sei unrealistisch, utopisch und unhaltbar. Der Weg zur gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Güter ist ein sehr langer, und man kann ihn nur beschreiten, wenn man Schritt für Schritt auf der breiten Heerstraße der konkret-politischen Forderungen nach der momentanen Verbesserung der Lebenslage wandert. So scheint es denn, daß jede größere Bevölkerungsschicht ihre eigene soziale Frage habe. Nach dieser Auffassung haben zunächst die Großgrundbesitzer ihre soziale Frage. Sie besteht darin, wie man aus der Verschuldung kommt und in welcher Weise man die überseeische Konkurrenz wirksam bekämpft. In der That geberden sich ja auch viele Großgrundbesitzer so, als ob die Allgemeinheit und der Staat fast noch mehr wie sie selbst ein Interesse an der möglichst bald zu erfolgenden, möglichst vollkommenen Verbesserung ihrer Lage besitzen. Man denke nur an den Antrag Kanitz, der in seiner Art und Weise ja thatsächlich für die Agrarier eine Lösung großen Stiles bedeutet hätte. Der kleine und mittlere Bauer hat auch seine soziale Frage. Auch ihn bedrückt die überseeische Konkurrenz; aber sein eigentliches Problem besteht mehr darin, wie man das Bauerngut konservieren könne, ohne die jüngeren Geschwister des erbenden Bauern verhungern zu lassen. Durch die Auszahlungen des Bauern, welcher das Gut übernimmt, an die Miterben wird hauptsächlich die wirtschaftliche Lage des Klein- und Mittelbauern zu seinen Ungunsten beeinflußt. Das ist sein Hauptproblem. Der ländliche Tagelöhner hat wieder seine soziale Frage. Der Handwerker ebenfalls: Er verlangt vom Staate Schutz vor der Großindustrie, er wettert gleichmäßig gegen den Kapitalismus und gegen das Proletariat, das in zahlreichen Einrichtungen, wie Konsumvereinen u. s. w., auch seine Existenz bedroht. Der Handwerker hat seine eigene soziale Frage, die von der Arbeiterfrage wieder voll1*
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Einleitung.
kommen verschieden ist. Wo ist also hier das einheitliche Band zwischen so verschiedenen konkreten Forderungen und Wünschen? Scheinbar existiert eine einheitliche soziale Frage nicht Aber wer tiefer zusieht, wird bald den Eindruck gewinnen, daß dieser Standpunkt eben nur auf einer vergleichsmäßig primitiven Stufe konkreter Erforschung sozialer Erscheinungen möglich ist. Wer endgültig bei dieser Auffassung der Dinge verharrt, verallgemeinert unnötigerweise eine für die Betrachtung gewisser Phänomene wohl notwendig gewesene wissenschaftliche Betrachtungsweise, er vergewaltigt jene provisorische, methodisch notwendige wissenschaftliche Isolirungsarbeit, von der früher die Bede war, indem er sie auf Problemstellungen und Lösungen verwendet, die ihr längst entwachsen sind. Es ist richtig, nicht allein die Arbeiterklasse, nicht allein das organisierte Proletariat stellt eine Beihe konkreter Forderungen auf, die wissenschaftlich und praktisch berücksichtigt werden müssen, alle die genannten Bevölkerungsschichten haben ihre sozialen Wünsche. Die Frage entsteht, welche allgemeine Bedeutung, welchen inneren Bewertungsgrad diese konkreten wirtschaftlichen und politischen Forderungen haben. In welchen dieser konkreten Forderungen liegt ein grösseres Quantum allgemeinen Interesses? Nur wer diese Fragen unbeantwortet läßt, kann sich endgültig auf den Standpunkt der inneren organischen Verschiedenheit sozialer Probleme stellen. Sicher ist eines: Da fast alle Klassen und fast alle Schichten der Bevölkerung klagen, so sind sie alle mehr oder minder krank. In der That, der größte Teil der Bevölkerung ist mit der modernen Weltwirtschaft unzufrieden. Aus welchen Ursachen und aus welchen Motiven diese Unzufriedenheit entspringt, ob sie berechtigt oder unberechtigt ist, ob das Leiden ein wirkliches oder eingebildetes ist, ob überhaupt nur die m o d e r n e W e l t w i r t s c h a f t k r a n k ist oder n i c h t , das werden wir später berühren; zunächst ist uns das gleichgültig. Die Thatsache ist nicht hinwegzulengnen, daß die Masse der Bevölkerung unzufrieden ist. Das Bewußtwerden dieser Unzufriedenheit ist, wenn man so will, die erste, primitivste, aber auch wichtigste Äußerungsform, in der sich uns die soziale Frage offenbart. Alle anderen Fragen können wir ohne eine weitverzweigte, in Tiefe und Breite zugleich gehende Untersuchung nicht beantworten, aber an die nicht hinwegzuleugnende Thatsache allgemeiner Unzufriedenheit dürfen, können, ja müssen wir anknüpfen. Eine erschöpfende Realdefinition der sozialen Frage am Anfange einer Untersuchung zu geben, hat keinen Zweck. Lehnen wir uns
Einleitung.
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daher an die obige formale Definition an. Wenn es wahr ist, daß die soziale Frage das Yerteilungsproblem wirtschaftlicher Güter ist, so ist es nicht minder wahr, daß die erste und wichtigste Äußerungsform der sozialen Frage sich als die Tendenz eben zu dieser Verteilung, d. h. als Wunsch, als Streben, als Verlangen der Massen nach ihr uns offenbart. D i e e r s t e , g r e i f b a r s t e Ä u ß e r u n g s f o r m der sozialen F r a g e ist eine B e w e g u n g der unzufriedenen B e v ö l k e r u n g s s c h i c h t e n der K u l t u r v ö l k e r E u r o p a s . Wer spielt nun in dieser Bewegung die weitaus größte Rolle, wer führt sie an, wer ist, und das ist das wichtigste, sich ihrer vor allem am bewußtesten? Sicherlich das industrielle Proletariat und diejenige, heute gar nicht mehr so kleine Änzahl rein intellektueller Elemente, die in einer mehr oder minder innigen Verknüpfung zu ihren Forderungen steht. Alles kann streitig sein. Man kann darüber polemisieren, ob diese Bewegung der Unzufriedenen eine rein wirtschaftliche sei oder nicht, ob die Formen, welche sie angenommen habe, dauernde seien oder nicht, ob diese Bewegeng in laugsamem oder raschem Tempo zum Siege kommen wird, ob sie überhaupt jemals dazu gelangen dürfte u. s. w. Aber, worüber man nicht debattieren kann, ist, daß es eine solche allgemeine Unzufriedenheit giebt, daß der bewußte Ausdruck derselben die Proletarierbewegung ist. Aus dieser Betrachtung der Dinge geht also hervor, daß die dezentralisierende Richtung Unrecht behält, daß es wohl ein einheitliches Problem giebt, daß gerade die realistisch konkrete Auffassung wirtschaftlicher und politischer Erscheinungen zu der Annahme des einen Grundproblems zwingt. Die soziale Frage ist zunächst, gerade wenn man das empirisch Gegebene vor allem im Auge behält, an die Äußerungsform proletarischer Weltpolitik gebunden. F ü r die praktische Lösung der sozialen Frage wenigstens kommt zunächst nur die Proletarierpolitik in Betracht. Aus welchen Ursachen hat sie sich entwickelt? Ist sie richtig oder unrichtig? Welche neuen Wege muß man ihr zeigen, wenn sie unrichtig ist? Das sind klar umschriebene, festbegrenzte Probleme, um die es sich hier zunächst handelt. Alle, selbst die reinsten theoretischen Untersuchungen, die scheinbar weitab von diesem so eng gesteckten Ziele liegen, sind auf das innigste mit ihnen verknüpft.
Zweites Kapitel.
Von Erfurt bis Hannover. Aus der unbestreitbaren Thatsache, daß die Proletarierbewegung die bewußteste, sichtbarste und wichtigste Äußerungsform der sozialen Frage ist, kann man noch keineswegs ohne weiteres folgern, daß sie auch absolut berechtigt sei, daß es außer ihrer Bewegungslinie keine anderen brauchbaren Maßstäbe und Wertschätzungen gebe und daß sich der objective Beurteiler durchaus mit ihr zu identifizieren habe, sofern er nur auf Wissenschaftlichkeit Anspruch zu machen gesonnen sei. Es wurde eben nur konstatiert, welche innere Bedeutung der Proletarierpolitik zukomme, daß sie gleichsam, wenn es erlaubt ist sich so auszudrücken, die Einheitlichkeit der sozialen Frage nach außen hin verkörpere. Daraus folgt keineswegs eine irgendwie geartete Verzichtleistung auf ein Weitergehen, auf eine Enlwickelung über diese Proletarierpolitik und -Bewegung hinaus. Mit den früheren Äußerungen sollte nur ein für allemal der Platz fixiert werden, welchen die Proletarierpolitik innerhalb des sozialen Getriebes einzunehmen berechtigt ist In demselben Maße, wie die Proletarierpolitik die wichtigste und bewußteste Äußerungsform der sozialen Frage überhaupt ist, so ist der theoretische und praktische Marxismus die bewußteste und wichtigste Äußerungsform, gleichsam die nach außen hin projizierte Verkörperung der Proletarierbestrebungen. Diese Anerkennung der Stärke und Intensität marxistischer Bewegung besagt natürlich gemäß unserer Auffassung nichts für ihre Richtigkeit, ja nicht einmal etwas für die Dauerhaftigkeit der Gesamtstellung, die sie heute in unserem sozialen und geistigen Leben einnimmt; diese Anerkennung besagt nur so viel, daß, wer sich mit dem Wesen der sozialen Frage beschäftigen zu müssen glaubt, in erster Linie sein Augenmerk auf alle spezifischen Erscheinungen, die mit dem theoretischen und praktischen Marxismus direkt und indirekt zusammenhängen, wird richten müssen. Die D i n g e stehen h e u t z u t a g e so, d a ß m a n n u r auf dem Umwege des M a r x i s m u s in d a s Wesen d e r sozialen F r a g e einz u d r i n g e n vermag. Wer sich dagegen sträubt, wem es unbehaglich ist, all die Probleme des Marxismus wieder aufzurollen, wird es auch in der Erkenntnis unseres Grundproblems nicht weit bringen. Man kann am Marxismus, und wenn man noch so originell denkt,
Einleitung.
heute mit gelegentlichen
Bemerkungen
7 nicht vorheihuschen.
Ein
jedes neues soziales System muß mit einer direkten Polemik, mit einer breiten Auseinandersetzung des Umfanges und der Intensität marxistischer Bestrebungen einsetzen, wie einst jede kritische Philosophie gezwungen war, sich mit dem rationalisierenden Dogmatismus auseinanderzusetzen. Der Marxismus ist zugleich eine theoretische und praktische Bewegung; er ist eine Weltanschauung, eine Soziologie, eine theoretische Ökonomie, eben so sehr aber eine Politik, ja man kann fast sagen eine Generaltaktik,
ein
nivellierendes und
Reglement für die Proletarier aller Länder.
generalisierendes
Ob die verschiedenen
theoretischen Bestandteile, die materialistische Geschichtsauffassung, die Wertlehre, die immanenten Gesetze kapitalistischer Entwickelung richtig sind oder nicht, damit wollen wir uns zunächst nicht befassen. Ea soll hier vor allem ein Blick geworfen werden auf den
prak-
tischen Marxismus, wie er sich greifbar im letzten Dezennium deutscher Proletarierbewegung abgespielt hat.
Der praktische Marxismus ist
am stärksten in Deutschland; in keinem Lande hat die Proletarierbewegung ihr Schicksal so sehr an den Marxismus gebunden, keine Proletarierpolitik irgend eines Volkes ist so sehr durchdrungen vom marxistischen Geiste.
Daher muß folgende kurze Skizze mit dem
Beispiele der letzten deutschen Entwickelung einsetzen. A l s die deutschen Sozialdemokraten im Jahre 1890 auf ihrem ersten Parteitage same Lage vor.
zu Halle zusammenkamen, fanden sie eine seltDer äußere Feind, so konnte man damals wenigstens
ohne viel Übertreibung
denken, war aufs Haupt geschlagen, das
Sozialistengesetz war beseitigt, das Kartell so gut wie zersprengt und vor Allem war der grimmige Erzfeind BISMARCK entlassen oder, wie viele Sozialdemokraten damals behaupteten, gefallen aus innerer Notwendigkeit, gestürzt, weil sich die Sozialdemokratie als die stärkere Macht erwiesen hatte. Von 750 000 Stimmen hatte sich in drei Jahren die Wählerschaft der Sozialdemokratie auf l'/ 2 Millionen verstärkt und, was noch bemerkenswerter schien, dieses riesige Anwachsen war nicht ausschließlich auf Grund von Stimmen aus reinen Industriegegenden erfolgt. Schon damals gab es tausende von Wählern aus halb oder ganz ländlichen Wahlkreisen.
Aber so recht konnte sich die Sozial-
demokratie ihres glänzenden Sieges doch nicht freuen. Lager selbst erhob der innere Feind seine Stimme. rechts polemisierte man gegen die Taktik
Im eigenen
Von links und
der Parteiführer.
Be-
sonders der linke Flügel unter WERNER und WILDBERGER geberdete
8
Einleitung.
sich überaus revolutionär. Man sprach von Versumpfung, von Verflachung, man wetterte gegen den großen Sieg, der aus der einst so revolutionären Partei eine kleinbürgerliche Bewegung zu machen drohte. Aber B E B E L besiegte mit Leichtigkeit den bösen W E B N E K , wobei ihn der „Staatsanwalt der Sozialdemokraten", wie man damals A U E R nannte, nicht wenig unterstützte und nach außen hin konnte man mit wirklicher iunerer Berechtigung stolz die Einigkeit verkünden. Auch der innere Feind war geschlagen worden. Im Jahre 1891 kam der wichtige Erfurter Parteitag, in welchem sich die Sozialdemokratie selbst ihr Programm gab. Die Durchblätterung des Protokolles dieses Parteitages ist recht interessant. Gleich am Anfange kann man die Thatsache feststellen, welche innere Einigkeit damals noch in Bezug auf das Programm, auf die theoretischen Grundsätze, auf das allgemeine Ziel vorhanden war. Vier Anträge werden unter den Vorlagen an dem Parteitage am Anfange des Protokolles vermerkt. Der oppositionelle Entwurf der Genossen A L B E R T AUERBACH, P A U L K A M P F F M E Y E R u. S. W. fußt ebenso wie der Entwurf des Parteivorstandes auf rein marxistischer Anschauung. Manchmal wird mit denselben Worten auf die im Wesen der kapitalistischen Produktion begründete Planlosigkeit, die immer länger werdenden Krisen, auf den Zusammenbruch des Kleinbetriebes hingewiesen. Der Entwurf K A U T S K Y ' S (Redaktion der „Neuen Zeit" in Stuttgart) betont etwas schärfer den Untergang des Kleinbetriebes. Der Entwurf des Genossen S T E R N rückt den Einfluß der Dampfmaschine als Produktionsmittel und den Gegensatz der Sozialisten- zur Gesellschaftsordnung stärker in den Vordergrund. Aber alle Entwürfe sind aus demselben theoretischen Geiste geboren.1 Ebenso interessant sind die Anschuldigungen der Berliner Opposition, besonders das berühmte Flugblatt der WERNER'schen Richtung, in welchem behauptet wird, daß die Partei und der Parteivorstand mit der „reaktionären Masse" paktiert, daß diese Taktik ein Verrat an -der Sache des Proletariats sei, daß das Unglück darin bestehe, daß die Partei nicht mehr jung und nur zur kleineren Hälfte aus Proletariern zusammengesetzt sei, denn früher sei eine solche Taktik unmöglich gewesen.2 Auf dem Parteitage selbst erlitten die Revolutionären eine definitive Niederlage. Aber auch VON VOLLMAR, der 1 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Erfurt. Berlin 1891, S. 13—25. ' Vgl. S. 68.
Einleitung.
9
den entgegengesetzten, heute würde man sagen BERNSTEIN'schen, Standpunkt vertrat, war so ziemlich isoliert. Er protestierte schon damals, daß man in einem raschen Tempo in einen sozialdemokratischen Staat hineinkomme. E r spricht davon, daß man durch die Betonung der augenblicklichen, der Tagesbedürfnisse des Volkes erst recht die Massen gewinnen werde.1 „Gerade der Umstand", sagt VOLLMAR wörtlich, „daß zu den praktischen Forderungen unseres Parteiprogramms die meisten Zusatz- und Abänderungsanträge aus der Partei eingereicht sind, zeigt deutlich, welche Wichtigkeit man allgemein diesem Punkte beilegt." Gegen diese Ausführungen VOLLMAR'S wettern die Genossen recht heftig. So fuhrt z. B. SCHÖNLANK aus, daß man die Reden des VOLLMAR als volksparteiliche, nicht mehr als sozialdemokratische bezeichnen müsse.2 Das Interessanteste ist die Verhandlung über den ursprünglichen Punkt 4 der Tagesordnung: Beratung des Programmentwurfes. LIEBKNECHT besteigt die Tribüne und hält unter allgemeinem Beifall eine große Rede, in welcher der Marxismus eines KAUTSKY an Orthodoxismus noch weit übertroffen wird, trotz der Erklärung LIEBKNECHT'S, daß er in der Praxis andere Wege gehe wie M A R X (S. 327). Selten ist in einer Rede ein doktrinärer Standpunkt so kraß vertreten worden. „Die Spaltung der Gesellschaft", heißt es da, „wird immer tiefer und vollständiger, die Mittelschichten verschwinden gänzlich" (S. 339). Gegen diese Programmrede erhebt sich kein Widerspruch, B E B E L und A U E R , VOLLMAR und W E R N E R beugen sich vor LIEBKNECHT. Jede Opposition verstummt vor dieser Programmrede, welche von Trivialitäten förmlich trieft, ja, die Redelust der Genossen verschwindet mit einem Male. Mit einer sehr großen Majorität wird der Antrag auf ein Absehen von jeglicher Diskussion angenommen (S. 358). Zwei charakteristische Merkmale weist also der Erfurter Parteitag auf: 1. Die vollkommene Besiegung der Opposition von links und rechts und 2. die vollkommene Einheit aller Gruppen in Bezug auf das Programm. Wenige Jahre haben genügt, um die Lage der Dinge vollkommen zu ändern. Schon der Stuttgarter Parteitag weist ein ganz anderes Bild auf. Man diskutiert nicht allein über die Taktik, man wagt sich auch an das Programm heran, M A R X selbst wird in die Debatte gezogen. Eine Erörterung über das Programm oder die Endziele der Partei stand nicht auf der Tagesordnung; aber plötzlich, man 1 1
Vgl. S. 181. Vgl. S. 219.
10
Einleitung.
weiß eigentlich nicht recht warum, wurde inmitten einer Diskussion über den Bericht des Parteivorstandes die Frage aufgeworfen, warum man die Endziele der Bewegung eigentlich verschleiere. Nun wurde immer weiter gefragt und zwischen Erörterungen über trockene Wahlziffern und kleinliche Beschwerden begann sich eine Debatte zu entspinnen über die wichtigsten sozialen und politischen Probleme, die es überhaupt giebt. Was hierbei zu Tage trat, war die völlige Ratlosigkeit der sozialdemokratischen Führer in Bezug auf die grundlegenden Theorien des Sozialismus. Die Debatte ergab, daß man trotz der entgegengesetzten Ansicht des alten L I E B K N E C H T von einer geschlossenen, streng einheitlichen wissenschaftlichen Weltanschauung innerhalb der Partei kaum mehr sprechen könne. Der Reichstagsabgeordnete STADTHAGEN kann wohl für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die Debatte hierüber angeregt zu haben. Man dürfe, meinte er, mit den Resultaten der letzten Reichstagswahlen nicht zufrieden sein. Noch immer sei der Prozentsatz der sozialdemokratischen Anhängerschaft im Verhältnisse zur Zahl der Wahlberechtigten überhaupt ein geringer und während er bis zum Jahre 1890 rapid steigt, so nimmt er von da an immer nur sehr langsam zu und man hätte demnach keinen Grund zur besonderen Zufriedenheit, da die Gefolgschaft der Partei im ganzen 18 °/0 der gesamten deutschen Wählerschaft nur unerheblich übersteigt. Die Ursachen hierfür liegen hauptsächlich im Verschleiern der Endziele. Iu Sachsen, wo man dieselben immer stramm hervorgekehrt habe, wo auch die schroffere und radikale Richtung der Sozialdemokratie in der „Sächsischen Arbeiterzeitung" ihren charakteristischen Ausdruck gefunden hat, habe man die größten Erfolge erzielt. Hieran wurde in der Debatte angeknüpft. Der Berliner Rechtsanwalt H E I N E , welcher unter den schwierigsten Umständen im dritten Berliner Wahlkreise ein Mandat sich erobert hatte, der Dessauer PEUS, von verschiedenen Dii minores ganz zu schweigen, verteidigten nun die Taktik der großen Verschleierung jeglicher Endziele der Partei. Bald hieß es, man müsse Rücksicht auf die Landbevölkerung nehmen, bald wurde betont, daß sich das Endziel von selbst ergeben werde. Es wurde von der natürlichen wirtschaftlichen Entwickelung gesprochen, die besser wie alle Theorien die Beschleunigungsarbeit im Tempo der sozialen Bewegung besorge. Es wurde erzählt, wie sehr man in der Agitation bei Kleinbürgern, Handwerkern und „besseren" Bauern unter dem Radikalismus der starren Anhänger des Programms zu leiden habe und mit den großen Schlagworten, die wohl in Berlin
11
Einleitung. zündeten, nicht
aber
in Dessau
oder Bielefeld,
von
ostelbischen
Gegenden oder mecklenburgischen Wahlkreisen ganz zu schweigen. Mit einem Worte, die Herren Praktiker geberdeten sich sehr zahm und der Tenor ihrer Reden ging dahin: Eine Partei, die mit so gewaltiger äußerer Mächt
sich emporgerankt
hat, habe die
Pflicht,
positiver zu werden und das Hauptgewicht nicht auf programmatische Erörterungen, sondern auf praktische Tagesfragen zu legen.
Heftig
wurden ob dieser Äußerungen die Vertreter dieser Richtung von extremen Marxisten angegriffen. des vielleicht
SCHÖNLANK insbesondere,
der Herausgeber
ein Nationalökonom
besten Parteiblattes,
zeichnete sich hierbei geradezu aus.
von Fach,
E r , der noch vor wenigen Jahren
in seiner ausgezeichneten Abhandlung über die Kartelle den Marxisten nur halb herausstrich, der auf dem .Breslauer Parteitage gar manches gut possibilistische, j a sozialreformatorische Wort gesprochen hatte, wollte diesmal marxischer sein als MARX selbst. neun Zehntel der Partei auf dem Boden
E r glaube, daß
der alten
revolutionären
Taktik stehen; die Verschleierung des Entzieles führe sicherlich zur Versumpfung.
Auch
die D a m e n
CLARA Z E T K I N u n d ROSA
LUXEN-
BURG vertraten, mit der Frauen oft eigentümlichen Heftigkeit, denselben Standpunkt,
Die Debatte bekam indes einen Stich ins Große,
als BEBEL auf der Tribüne
erschien und einen Brief BERNSTEIN'S
verlas, der, seine Artikelserie in der „Neuen Zeit", betitelt „Probleme des Sozialismus", noch einmal zusammenfassend, den Parteitag in diesem Sinne bestimmen wollte.
Die Sozialdemokratie, sagt BERN-
STFIN, dürfte ihre Taktik nicht durch die Aussicht auf eine große soziale handen,
Katastrophe
bestimmen,
es
seien
daß dieselbe nicht eintreten
Anzeichen
wird.
Man
dafiir
müsse
vor-
zugeben,
daß die Entwickelung der modernen Gesellschaft eine andere sei, als der Marxismus glaube.
Das kommunistische Manifest spiegele die
sozialen Verhältnisse nicht mehr richtig wieder.
Dadurch, daß die
Entfaltung zum Sozialismus hin eine viel größere Spanne Zeit, als bisher angenommen,
erfordere,
müsse
sie auch ganz andere, im
kommunistischen Manifest nicht vorhergesehene Formen
annehmen.
Die Konzentrierung der Produktion vollzieht sich in der Industrie langsamer.
Nicht allein in der Landwirtschaft sondern aueh in der
Industrie giebt es starke Mittelschichten.
Die
Katastrophentheorie
sei falsch für alle Länder, aber sie habe noch einen gewissen Sinn bei politisch rückständigen Völkern.
Die Staaten, welche über wirk-
lich demokratische Einrichtungen verfügen können, entwickeln sich nur überaus langsam und allmählich zum Sozialismus hin. I n solchen
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Einleitung.
Ländern sei selbst unter den günstigsten Umständen, beim ungeheuersten Zuwachs der Sozialdemokratie ein ökonomisch-politischer Zusammenbruch absolut undenkbar. Mit diesen Thatsachen müsse sich die Arbeiterschaft eben abfinden, darauf müsse sie ihre Taktik einrichten. In diesem, und nur in diesem Sinne müsse man sagen, daß das Endziel nichts sei, die Bewegung alles. B E B E L fügte diesem Briefe B E R N S T E I N ' S nur wenige Worte hinzu, aus welchen hervorgeht, daß er sich nicht auf den Standpunkt B E R N S T E I N ' S stelle, aber die Ausfuhrungen desselben für sehr anregend halte. Der Mann, der noch vor Jahren vom großen Kladderadatsch gesprochen, entrüstete sich nicht einmal ob der Aussicht auf die ungeheuere Verlangsamung im Tempo der sozialdemokratischen Entwicklung. Energisch verteidigte auf dem Stuttgarter Parteitage den Marxismus älterer Observanz eigentlich nur einer: K A R L K A U T S K Y , der Herausgeher der „Neuen Zeit". Er führte ganz zutreffend aus, daß, wenn B E R N STEIN'S Ansichten richtig wären, der Zeitpunkt des sozialdemokratischen Sieges nicht nur sehr weit herausgeschoben, sondern fast aufgehoben wäre. Man kam dann einfach nicht mehr ans Ziel. Er verdrehte die Worte B E R N S T E I N ' S und ließ ihn sagen, daß die Kapitalisten im Zunehmen seien und nicht die Besitzlosen. Er erklärte die Anschauung B E R N S T E I N ' S durch sein Fernbleiben von Deutschland und durch seine Unkenntnis der ^tatsächlichen reichsdeutschen Verhältnisse. Die Ansicht von B E R N S T E I N beruhe auf sehr richtigen Thatsachen, aber dieselben seien nicht in Deutschland zu finden, sondern in England. Dank seiner Geschichte, seiner isolaren Lage und der geringen Anzahl, der Bevölkerung habe sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in England nicht so zugespitzt. Dort ist eine friedliche Lösung der Frage im sozialistischen Sinne möglich, aber nicht in den anderen Staaten. Glaubt B E R N S T E I N wirklich, meint K A U T S K Y am Schlüsse seiner Ausfuhrung, daß in diesen Ländern der Sieg möglich sei ohne Katastrophe? Man müsse es wünschen, aber man könne nicht daran glauben. Der Liberalismus habe abgedankt, die Demokratie und hiermit das Proletariat werden in den Hintergrund gedrängt und im kontinentalen Europa bereiten sich überall große Katastrophen vor. Kämpft das demokratische Frankreich nicht einen schweren Kampf mit dem Militarismus und redet man selbst in Deutschland nicht von Abschaffung des Wahlrechts und von einer Zuchthausvorlage? Mit der Antwort K A U T S K Y ' S auf B E R N S T E I N ' S Brief war die eigentliche Debatte großen Stiles zu Ende und die späteren ßedner kamen dann vom Hundertsten ins Tausendste.
Einleitung.
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Man sieht aus dieser kurzen Darstellung des Stuttgarter Parteitages, wie sehr sich die Lage hier geändert, wie sehr man von den bloß taktischen Kontroversen in Erfurt abgewichen und sich vor der Programmdebatte nicht mehr scheut. Hätte man in Stuttgart L I E B KNECHT über das Programm reden lassen, dasselbe wäre weder einstimmig angenommen worden, noch hätte man sich getraut, eine Debatte überhaupt aufkommen zu lassen. Der Verlauf des Parteitages zu Hannover ist ja allbekannt. BERNSTEIN, dessen Buch im Frühling vorigen Jahres erschienen war, sollte im Herbst theoretisch vernichtet werden. Es läßt sich nicht leugnen, daß er, wenn man die Dinge äußerlich betrachtet, eine schwere Niederlage erlitten hat. Die Ungeschicklichkeit mancher seiner Verteidiger, das Unklare und Unpräzise der definitiven Formulierung seines Standpunktes, die Zusammensetzung des Parteitages, die rhetorische Geschicklichkeit BEBEL'S, der Appell an das proletarische Bewußtsein und schließlich die Thatsache, daß er und seine Anhänger erklärten, der Resolution BEBEL'S zuzustimmen, waren solche Umstände, die den Erfolg des älteren Marxismus auf diesem Parteitage erklären lassen. Trotzdem aber geht der Marxismus überaus geschwächt aus den Hannoverschen Tagungen hervor. BEBEL'S 6 stündige Rede war ein oratorisches Meisterstück, aber es wurde dadurch erst jedem Klardenkenden zum Bewußtsein gebracht, wie groß die theoretische und praktische Ratlosigkeit selbst der begabtesten Führer der Sozialdemokraten sei. Aber nicht hierin liegt die entschiedene Niederlage des Marxismus, sie liegt vielmehr in der Thatsache, daß über das Erfurter Programm überhaupt so debattiert werden konnte. B E R N S T E I N hatte doch eine nennenswerte Anzahl von Anhängern, was nicht genug hervorgehoben werden kann. Selbst der praktische, schlau witternde, stets die Stimmung der Sozialdemokratie aufs genaueste kennende A U E R schloß sich ihm fast ganz an. Der praktischte Kopf der Partei vermählte sich hier mit dem Nurtheoriker BERNSTEIN. Sogar BERNSTEIN'S nicht einmal richtige und, wie wir noch im Laufe dieses Buches sehen werden, stark übertriebene wirtschaftliche Erhaltung des Kleinbetriebes wurde von recht vielen Rednern unbesehen mit in den Kauf genommen. Man denke nur an diese Veränderung der Situation. Im Jahre 1891, als die Partei schon über 1 1 / 3 Millionen Stimmen hatte und, wohlgemerkt, der Parteivorstand, besonders vom linken Flügel, aufs heftigste angegriffen wurde, existierte eine Programmerörterung überhaupt nicht. Man folgte blindlings dem strengsten Nurmarxisten, dem alten LIEBKNECHT;
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Einleitung.
man glaubte ihm formlich aufs Wort, so unstrittig, so selbstverständlich, so festgelegt, so festwurzelnd und in alle Ewigkeit hineinragend schien der Marxismus aufgebaut zu sein. In Stuttgart giebt selbst KATJTSKY, der Getreueste der Treuen, allerlei Zweifel und Bedenken zu und in Hannover erklärt A U E R geradezu, es handle sich um praktische Arbeit, man müsse nicht immer marxistisch denken. Ebenso selbstverständlich, wie in Erfurt der Marxismus für alle war, so selbstverständlich ist schon in Hannover seine Nichtberücksichtigung für einen Teil der Sozialdemokraten. Zu behaupten, es existieren keine entscheidenden Kontroversen mehr, weil die Minorität der Majorität durch die Annahme der BEBEI/schen Resolution eine Konzession gemacht hat, ist eine unhaltbare Annahme. Konzessionen macht man ja auch gegnerischen Parteigruppen und Bichtungen. Eine Konzession an die Majorität der eigenen Parteigenossen bedeutet nur die momentane Verschleierung, die provisorische Zurückhaltung des Programmstreites, dies um so mehr, als der Stuttgarter Parteitag bewiesen hat, daß man manche scheinbar auf ewig begrabenen Anklagen und Vorwürfe der Opposition wieder aufgenommen hat. Sicherlich bedeutet diese Auffassung nicht, daß man nunmehr an ein Auseinandergehen der Bernsteinianer und Anhänger KAUTSKY'S glauben müsse. Aber der Parteitag zu Hannover läßt das für möglich erscheinen, was dem objektiven Beobachter auf dem Erfurter Parteitage eben unmöglich schien: einen Sieg der BERNSTEIN'schen Idee, die in Erfurt ungeklärt, embryonenhaft in dem Kopfe des einzigen VOLLMAR spukte. Der Weg von Erfurt nach Hannover ist ein sehr langer, und trotzdem wurde er in sehr kurzer Zeit zurückgelegt. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß die geringere oder stärkere Betonung der politischen Tagesarbeit das Wesentliche in dieser Entwickelung der Dinge bedeutet. Dieser Gegensatz zwischen schwächerer und stärkerer Betonung momentaner Bedürfnisse und konkreter Forderungen des deutschen Volkes war schon 1891 ziemlich stark ausgeprägt. VOLLMAR war schon zu Erfurt der Anwalt der praktischen Politik, die heute AüER'sche Richtung heißt. Das Wesentliche in der Entwickelung scheint mir darin zu liegen, daß in Erfurt niemand, selbst VOLLMAR nicht, klar und präzise daran dachte, daß man eine Revision der gesamten Grundlagen des Marxismus vornehmen müsse, während in Hannover eine ganze Minorität für diese Revision vorhanden war. Man sage nicht, dies habe mit der Praxis nichts zu thun; im Gegenteile, die Diskussion darüber, ob man Tagesfragen
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in den Vordergrund zu stellen hat oder nicht, ist eine theoretische, da man sie sowieso in den Vordergrund stellt, da in der Praxis des politischen Getriebes schon seit Jahren die AuER'sche Richtung herrscht. Aber schließlich ist es doch auch praktisch von Belang, zu wissen, ob und in ungefähr welcher Zeit die Expropriation der Expropriateure einzutreten hat, und noch von größerem praktischen Interesse ist es für den Arbeiter, zu erfahren, ob es eine dauerhafte Produktionskrisis giebt oder nicht, er muß doch seine Politik darauf einrichten. Und hier setzt die Entwickelung von Erfurt nach Hannover gerade ein. Vor wenigen Jahren noch glaubte man allgemein bis auf VOLLMAR, der sich selbst noch darüber im Unklaren war, diese marxistischen Annahmen seien richtig, heute zweifelt man zum Teile daran und giebt auf jeden Fall ihre praktische Bedeutung dadurch fast auf. Diese kurze Skizze der Geschichte des praktischen Marxismus im letzten Dezennium hat trotz der notwendigen Flüchtigkeit, glaube ich, eines erwiesen: E i n A n s a t z zur i n n e r e n S t r u k t u r v e r s c h i e d e n h e i t d e r S o z i a l d e m o k r a t i e w u r d e k o n s t a t i e r t . Sie beginnt, und zwar in sehr raschem Tempo, aus einer Partei von Gläubigen eine Partei von Skeptikern und Kritikern zu werden.
Drittes Kapitel.
Bernstein und Masaryk. Unsere flüchtige Skizze der Entwickelungsgeschichte des praktischen Marxismus während des letzten Dezenniums gipfelt in dem Nachweise, daß die Sozialdemokratie in Bezug auf ihre Absichten und Pläne großen Stiles und in Bezug auf die über die gewöhnliche Tagesarbeit hinausschauende und hinausragende Politik, in Bezug auf ihre Endziele unschlüssig, zaghaft, schwankend geworden ist. Der praktische Marxismus bricht im gewöhnlichen Sinne noch nicht zusammen. Es ist nicht richtig, daß aus der revolutionären eine sozialreformatorische, aus der rein proletarischen eine kleinbürgerliche Partei werden wird. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein innerer Wendepunkt eingetreten ist, wächst von Tag zu Tag. Man ist sich einig über die Tagespolitik, man beginnt sich in hohem Maße uneinig zu werden über die großen Ziele, und es ist mehr als
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eine bloße Möglichkeit, es ist e i n e s t a r k e W a h r s c h e i n l i c h k e i t , d a ß die G e s c h i c h t e des n ä c h s t e n D e z e n n i u m s d e u t s c h e r S o z i a l d e m o k r a t i e vor a l l e m eine H i s t o r i e i h r e r I n s t i n k t u n s i c h e r h e i t b e d e u t e n wird. Viel mehr noch wie der praktische Marxismus hat der theoretische eine starke Erschütterung erlitten. Man traut sich kaum mehr, es stolz zu verkünden, daß der Marsismus eine unerschütterliche Wissenschaft für sich sei, wie man es ehedem gethan hat. Ein wichtiger Bestandteil des theoretischen Marxismus, die sogenannte Wertlehre, mit all ihren Anhängseln und Verästungen ist so gut wie aufgegeben worden, an den immanenten Gesetzen volkswirtschaftlicher Entwickelung wird aufs heftigste gerüttelt und nur die materialistische Geschichtsauffassung wird noch hoch in Ehren innerhalb dieser Kreise gehalten, obwohl auch sie mancherlei Anfechtungen zu erleiden hat, die man vor einem Dezennium noch für unmöglich gehalten hätte. So erscheint es demnach wohl angebracht, bevor man zu weiterer Untersuchung schreitet, zunächst zu den bedeutendsten Erscheinungen der marxistischen Gesamtkritik letzter Zeit Stellung zu nehmen, denn einerseits wird dadurch auch der in diesen Dingen nicht ganz erfahrene Leser am besten über die Problemstellungen und Lösungsversuche, die hierbei in Betracht kommen, in knappen und allgemeinen Umrissen orientiert werden, andererseits wird der in der sozialen Wissenschaft auch vollauf Bewanderte dadurch gleich die Grundrichtung erfahren, in der sich unsere sozialwissenschaftliche Analyse bewegen wird. Unter den vielen Schriftstellern, welche in der letzten Zeit über MARX gesprochen, haben zwei mit Recht insbesondere die Aufmerk-
samkeit eines größeren wissenschaftlichen Publikums erregt: BERNSTEIN und MASARYK. Es wäre falsch, anzunehmen, daß BERNBTEIN'S Streitschrift 1 nur dadurch so sehr gewirkt habe, weil man überall gewußt, daß es ein intimer Freund von MARX und ENGELS sei, der in solcher Weise seines kritischen Amtes walte. Sicher hat dieser Faktor zur Verbreitung der Schrift wesentlich beigetragen, aber auch ohne diese begleitenden Umstände hätte die Schrift, die alle Probleme des Marxismus berührt, durch die Aufrichtigkeit der wissenschaftlichen Gesinnung, durch die geschickte Problemstellung und vor allem durch den Umstand, daß sie zur richtigen Zeit gekommen, 1
Vgl. B E R N S T E I N , Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899.
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gewirkt. M A S A R Y K 1 hat aus ganz anderen Gründen eine, wenn auch naturgemäß viel geringere Beachtung gefunden. E r hat in einer breiten und gelehrten Darstellung es versucht, uns vor allem die Philosophie des Marxismus zu zeigen. Nachdem nun einmal von B E R N S T E I N die Parole ausgegeben war, man müsse den Marxismus revidieren, so war eine Revision seiner philosophischen Grundlagen vor allem vonnöten. Weil nun im großen Publikum und sogar bei einem Teile der Wissenschaftler die Anschauung durchzudringen beginnt, daß man nach B E R N S T E I N und M A S A R Y K jetzt über den Marxismus kaum mehr etwas zu sagen habe, so muß gerade an der Kritik der beiden Autoren gezeigt werden, daß B E R N S T E I N und in noch viel höherem Maße M A S A R Y K den A n f a n g und nicht das E n d e der Marxkritik bedeuten. Was will B E R N S T E I N in seinem Buche sagen? In der Vorrede hebt B E R N S T E I N hervor, daß er sich wohl bewußt sei, in verschiedenen wichtigen Punkten von den Theorien MARX'
und
ENGELS'
abzuweichen,
und
fügt
bezeichnenderweise
hinzu, daß diese Entfernung nicht von heute datiere, sondern eine lange Entwickelungsgeschichte hinter sich habe und das Endprodukt langer innerer Kämpfe bilde. Er beginnt sein Buch mit einer Auseinandersetzung über die Wissenschaftselemente des Marxismus, worin er ausführt, daß die materialistische Geschichtstheorie, die Lehre von den Klassenkämpfen, die Mehrwertlehre, sowie die Entwickelungstendenzen kapitalistischer Gesellschaft das Gebäude des rein wissenschaftlichen Marxismus ausmachen (S. 4). Die verschiedenen Schlußfolgerungen, weitere Entwickelungen dieser Lehrsätze bilden die angewandte sozialistische Wissenschaft. Weiterhin bekennt sich BERNSTEIN als Anhänger der materialistischen Geschichtstheorie. Aber auch hier sucht er zu beweisen, daß man nicht auf die Worte des Meisters zu schwören habe, und weist ausdrücklich darauf hin, wie sehr die materialistische Geschichtstheorie in ihrer zweiten Fassung verschieden von der ersten war. In der letzten Periode waren M A R X und E N G E L S nach der Auffassung von B E R N S T E I N lange nicht so deterministisch gewesen, wie in der ersten. Hierauf folgt eine kritische Skizze über die Lehre vom Klassenkampf. Interessant in dieser theoretischen Ausfuhrung ist folgender Satz, der sich auf Seite 19 findet: „Die Fortentwickelung und Ausbildung der 1
Vgl. TH. G . MASARYK , D i e philosophischen Grundlagen des Marxismus.
Studien zur sozialen Frage. WEISENORÜN , Marxismus.
Wien 1899. 2
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marxistischen Lehre muß mit ihrer Kritik beginnen." Sodann macht sich BERNSTEIN an die HEGEL'sche Dialektik und warnt ausdrücklich vor ihren Fallstricken. Er zitiert F. A. LANGE, diesen milden, ungemein kultivierten Philosophen, diesen, bei aller Objektivität und Nachgiebigkeit in der Form, gefährlichsten Gegner des philosophischen Materialismus, der zugleich ein Gegner HEGEL'scher Dialektik gewesen und nach BERNSTEIN sehr richtig behauptet, daß im Leben der Individuen wie der Gesamtheit der dialektische Gegensatz sich nicht so leicht und radikal, wie in der spekulativen Konstruktion vollziehe (S. 22). Unser Autor glaubt nun, daß die geschichtliche Selbsttäuschung, die sich im kommunistischen Manifest vorfindet, verschiedene falsche Prophezeiungen etc. sich einfach durch den Grundfehler der HEGEL'schen Methode erklären lassen, welche eben die natürliche und organische wirtschaftliche Entwickelung in das Prokrustesbett einer Begriffskonstruktion preßt. Hierauf bespricht BERNSTEIN die Beziehung des Marxismus zum Blanquismus. Ich will hier einen interessanten Satz herausheben. „Was MARX und E N G E L S Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der HEGEL'schen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet. Wenn sie andererseits an dem gröbsten Fehler des Blanquismus achtlos vorbeigegangen sind, so ist das in erster Linie dem HEGEL'schen Beisatz in der eigenen Theorie geschuldet." Nun kommt unser Autor nach einigen kurzen Bemerkungen über die marxische Werttheorie auf die Kritik der eigentlichen immanenten Gesetze kapitalistischer Entwickelung. Er bringt eine ganze Anzahl interessanter Ziffern und Daten über die Einkommensbewegung in der modernen Gesellschaft, über die Betriebsklassen in der Produktion, über die Ausbreitung des gesellschaftlichen Reichtums. Sein Grundfehler ist hier, wie ich gerne betonen möchte, daß er zu sehr mit Einzeldaten operiert und gleichsam den marxischen Entwickelungsgesetzen in ihrer Gesamtheit nicht ins Gesicht zu schauen wagt. Vielleicht scheut sich hier der ehemalige orthodoxe Marxist BERNSTEIN vor der letzten, aber entscheidenden Ketzerei. Was die Krisen betrifft, so äußert sich BERNSTEIN auch skeptisch über die Anschauung von M A R X und ENGELS, der zufolge die Krisen ausschließlich aus der Produktionsfulle entstehen. Die Krisenfrage, meint er am Schlüsse seiner Ausführungen, sei ein Problem, das sich nicht kategorisch mit ein paar Schlagworten erledigen lasse. „Wir können nur feststellen", sagt er wörtlich, „welche Elemente der modernen Wirtschaft auf Krisen hinwirken und welche Kräfte ihnen entgegenwirken." B E R N -
Einleitung.
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wendet sich nun den Aufgaben und Möglichkeiten der Sozialdemokratie zu. Er faßt noch einmal seine Anschauung über das langsame Tempo des kapitalistischen Konzentrationsbetriebes zusammen und sucht nachzuweisen, daß die technisch-volkswirtschaftlichen Bedingungen ein politisches Eingreifen noch für lange Zeit nicht erlauben. Noch mehr als dies. Er ist der Meinung, daß auch der Drang der industriellen Arbeiterschaft zur Sozialisierung und zum Sozialismus hin noch nicht bestimmt erwiesen sei. „Die sozialistischen Stimmen", ruft er aus (S. 92), „sind mehr der Ausdruck eines unbestimmten Verlangens, als einer bestimmten Absicht." Was soll also die Sozialdemokratie thun? Zunächst das Genossenschaftswesen mehr pflegen wie bisher. B E A T R I C E W E B B und O P P E N H E I M E B analysierend, gelangt unser Autor zu dem Resultate, daß man zwischen Verkäufer- und Käufergenossenschaften wohl zu unterscheiden habe. Die ersteren, welche einen oligarchischen Charakter aufweisen, seien schädlich, die letzteren, die demokratischen, nützlich. Die Konsumvereine, die allen Käufern einen gleichen Anteil am Gewinn zuerkennen, seien als echtester Typus der Käufergenossenschaft mit allen Mitteln zu fördern (S. 100). Den Sozialisten sei der Konsumverein deshalb unsympathisch, weil er zu „bürgerlieh" ist. Dies scheint B E R N S T E I N für einen Rest utopischer Auffassung zu halten (S. 106). Die Sozialdemokratie müsse also die wahren, wirklichen Konsumvereine mit aller Macht unterstützen. Aber hierauf dürfe sich ihre Thätigkeit nicht beschränken. Und nun zieht B E R N S T E I N auch die Gewerkschaften oder Gewerkvereine heran. Sie wären das demokratische Element innerhalb der Industrie, meint er (S. 121). Das bewirke ihre größte Bedeutung. Denn die Demokratie sei nicht allein, wie man bis jetzt geglaubt habe, Mittel, sondern Mittel und Zweck zugleich. „Sie ist das Mittel", ruft B E R N S T E I N aus (S. 124), „der Erkämpfung des Sozialismus, und ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus." Auf die ökonomisch-politische Entwickelung zur Demokratie hin, auf die Wertschätzung der europäischen Demokratie als selbständigen Faktor legt nun in seinen weiteren Ausführungen unser Autor das Hauptgewicht. In diesem Zusammenhange der Dinge empfiehlt er auch, mit den Kriegserklärungen gegen den „Liberalismus" etwas Maß zu halten. „Ausbildung einer wahren Demokratie", ruft er aus, „das ist, dessen bin ich sicher, die dringendste und wesentlichste Aufgabe, die vor uns liegt" (S. 140). Hierauf spricht unser Autor von den besonderen Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie. (Diese allgemeine Kritik des zweiten Teiles des STEIN
2*
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Einleitnng.
Erfurter Programms will ich hier übergehen.) Das Schlußkapitel „Endziel und Bewegung" sucht klar zu machen, daß man nicht mehr zum kommunistischen Manifest zurückgehen könne, welches thatsächlich einen Rest von Utopismus enthält (S. 177), und legt das Hauptgewicht auf eine realistische Auffassung. B E R N S T E I N hört nicht auf, Sozialist zu seiD, auch er ist im Prinzip für den Kollektivismus; aber es wäre falsch, meint er, zu behaupten, daß die Massen diesen schon heute wollen. „Übertragen wir nicht", ruft er aus (S. 186), „was von der Elite gilt, kritiklos auf die Masse." Zum Schlüsse meint unser Verfasser, der Marxismus bedürfe einer Revision, vor allem sei die HEGEI/sche Grundlage vielfach unbrauchbar. Trotz aller Wutanfalle der orthodoxen Marxisten will B E R N S T E I N eine erkenntnistheoretische Grundlegung des Marxismus vornehmen. E r möchte nicht so sehr zurück auf K A N T als zurück auf F R I E D E I C H A L B E R T L A N G E rufen, denn das Zurück auf K A N T würde vielleicht ein Zurückgehen auf eine buchstäbliche Interpretation des Königsberger Philosophen bedeuten, von der sich L A N G E allezeit frei gehalten hat (S. 188). Man hat mit Recht B E R N S T E I N zweierlei Dinge vorgeworfen: 1. daß er die Rolle, die der Klein- und Mittelbetrieb in unserer Weltwirtschaft spielt, übertreibt und 2. daß er in seiner gesamten Darstellung weder präzise noch klar genug seinem Standpunkte Ausdruck giebt. Es ist wahr, B E R N S T E I N hat für ein Buch, das alle Probleme des Marxismus aufrollen will, und zum größten Teile auch aufrollt, in viel zu eingehender und ausführlicher Weise die Thesis von der relativen Stärke des Klein- und Mittelbetriebes in der Industrie aufgestellt. Dies ist, wie wir späterhin noch sehen werden, nicht der wunde Punkt, wo man den Marxismus in Bezug auf seine Theorien von den immanenten Gesetzen kapitalistischer Entwickelung anzugreifen habe. Auch hierin muß man den Marxisten älterer Observanz und insbesondere K A U T S K Y Recht geben: Weder der rein sozialphilosophische noch der rein ökonomische Teil der BERNSTEIN'schen Kritik des Marxismus ist präzise und klar genug. Es sind nicht die kleinen, an Zahl geringen Widersprüche, um die es sich hier handelt, B E R N S T E I N hat nicht deutlich genug gesagt, was er vom Marxismus erhalten wissen will und was nicht. Gegenüber diesen Unzulänglichkeiten hat es relativ wenig zu sagen, wenn man von gegnerischer Seite auch B E R N S T E I N vorwirft, er habe in seinen „Voraussetzungen des Sozialismus" gerade keine große Originalität bewiesen. E r selbst hat mehr als einmal bekannt, daß er
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das Gute genommen, wo er es gefunden habe. Er hat sich nie auf den Originaldenker ersten Ranges herausgespielt und ein jeder wird zugestehen müssen, daß bei der Schwierigkeit und ungeheueren Verzweigtheit marxischer Probleme die Zusammenfassung und die schärfere Formulierung genügend beachtenswerte Verdienste sind. Wenn B E R N S T E I N viel origineller, wenn er viel klarer gewesen wäre, wenn er den Fehler der Überschätzung der weltwirtschaftlichen Rolle des Mittelbetriebes nicht begangen hätte, so wäre gegen seine G r u n d t e n d e n z noch sehr viel einzuwenden. Die Grundtendenz B E R N S T E I N ' S besteht auf jeden Fall darin, wie unpräzise er dies im Detail auch ausgedrückt haben mag, den Marxismus 1. erkenntnistheoretisch und 2. politisch umzuformen. Man kann über die Details der Umformungsabsichten B E R N S T E I N ' S , verleitet durch seine unklaren Fassungen, verschiedener Ansicht sein, aber sicher ist eins: Er will diese doppelte Umkrämpelung vornehmen, der allgemeine Charakter seiner Reform nach diesen Seiten steht fest. Wir müssen also von diesen beiden Umformungsversuchen jetzt ausführlicher schreiben. Die erstere will die materialistische Dialektik erhalten und doch erkenntnistheoretisch und antimetaphysisch sein. Die letztere möchte die immanenten Gesetze der kapitalistischen Entwickelung unbesehen übernehmen und sie nur ins „Realpolitische" übersetzen. Zu glauben, daß diese doppelte Revision jemals zu einem positiven Ziele führen könnte, wäre die grösste Selbsttäuschung, die je denkende Menschen befallen hat. Denn es ist evident: man kann nur dort mit Aussicht auf Gelingen umformen, wo die Grundpfeiler, die Tragbalken eines Systems unversehrt sind. Man könnte also den Marxismus revidieren und umformen, wenn es sich darum handelte, seine Mißgriffe betreffs des Entwickelungstempos zu berichtigen oder einzelne Übertreibungen zu korrigieren. Aber die Grundlagen so umzuformen, daß der Marxismus zugleich der alte bleibt und doch ein neuer wird, vermag kein Sterblicher. Die MiRx'sche Lehre ist von Hause aus materialistisch, dialektisch und metaphysisch, und noch hat kein Philosoph behauptet, daß sich die HEGEL'sche Dialektik oder der Materialismus eines H O L B A C H und H E L V E T I U S (von dem eines MOLESCHOTT oder B Ü C H N E R ganz zu schweigen) jemals mit einer wirklich erkenntnistheoretischen Grundauffassung zusammenreimen könnte. Nun soll in diesem seltsamsten aller Fälle sogar die doppelte Schwierigkeit gelöst werden. Es soll sowohl das materialistische als auch das HEGEL'sche Element erkenntnistheoretisch umgekrämpelt werden. Hat je ein Philosoph, selbst ein unbedeutender, gedacht,
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mit B E R K E L E Y , K A N T mit B Ü C H N E K in Verbindung zu bringen oder den einen durch den anderen zu reformieren? Ebenso würde es mit der politisch-entwickelungshistorischen Umkrämpelung gehen. Der praktische Marxismus ist mechanisch, entwickelungsnotwendig, unpsychologisch und keinesfalls demokratisch um jeden Preis. Er soll nun psychologisch mit bloßen Entwickelungsmöglichkeiten rechnen und ä, tout prix demokratisch werden? Ist dies möglich? O ja, durch einen sehr einfachen Vorgang. Man nennt eben ein anderes Ding Marxismus. Dies wäre ein sozialwissenschaftliches Zauberkunststückchen niedlichster Art. Mit einer solchen Methode könnte man allerdings die ScHOPENHAUER'sche Philosophie zu einem Neohegelianismus oder N I E T Z C H E ' S anti-intelektuallistische sinnliche Moral zu einer neokantischen gestalten. Eins, zwei, drei, es ist keine Hexerei. Zudem ist es auch lange nicht, erwiesen, daß die Entwickelung zur Demokratie hin selbst nach einem längeren Zeiträume im stände sein würde, die soziale Frage zu lösen. Die Schweiz ist viel demokratischer wie England, ist man dort um ein Atom der Lösung der sozialen Frage näher gerückt als hier? Nehmen wir an, man könnte voreilig Englands Entwickelung generalisieren. Steht denn heute Großbritannien der Lösung viel näher wie Deutschland ? Es ist dies sicherlich nur ein Tempounterschied, und so müßten denn die Neomarxisten aufs neue in den Fehler von M A R X verfallen, Entwickelungsmöglichkeiten zu Entwickelungsnotwendigkeiten umzustempeln. Hierzu kommt noch eins: Die demokratische Entwickelung birgt eine große Gefahr in sich: die Überschätzung des rein Formalen in politischen Dingen. Man sieht daraus, B E R N S T E I N hat der Marxkritik nicht den richtigen Weg gezeigt, sein Verdienst ist nur ein formales. Er hat darauf hingewiesen, daß man, wie er sich wörtlich ausdrückt, die Fortbildung und Entwickelung der marxistischen Lehre mit ihrer Kritik beginnen müsse. Er hat außer durch diesen Hinweis noch durch sein umfassendes Inventar der Marxprobleme anregend gewirkt. Aber die Marxkritik kann ihm auf seinem Wege nicht folgen. Es handelt sich hier nicht um Details, aber selbst als Tendenz kann die Wissenschaft, wie in wenigen Strichen gezeigt worden ist, seinen doppelten Umformungsversuch nicht gebrauchen. In einem gewissen Sinne hat M A S A R Y K die Marxkritik dadurch mehr gefördert, daß er nach den verschiedensten Seiten hin den Weg für weitere Untersuchungen wenigstens freigemacht hat. Nach SPINOZA
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den verschiedensten Richtungen hin hat er Ausblicke eröffnet, er hat durch Detailanregungen der wissenschaftlichen Auffassung dieser Probleme neue Nahrung gegeben. Trotzdem ist MASARYK'S Schrift ein kaum zu genießendes Werk. E s wurde irgendwo behauptet, daß dies hauptsächlich daran liege, daß MASARYK Tscheche sei und daß er als ein der deutschen Sprache Unkundiger nur ungelenk und plump seine Feder führen könne. Ich glaube nicht, daß der Tscheche in MASARYK allein genügt, all die schweren Kompositionsfehler der Schrift zu erklären. E s ist vielmehr anzunehmen, daß die zwei sichtbaren Hauptgebrechen des Buches die Lektüre zu einer so überaus schwierigen gestalten: 1. die mangelhafte Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, 2. die des öfteren ganz unmotivierte Breite mancher Abschnitte (über manche wichtigen Punkte wird flüchtig hinweggeglitten). E s ist daher hier nicht gut möglich, MASARYK
in
derselben
Weise
wie
BERNSTEIN
wiederzugeben,
und
unsere kritische Skizze muß sich schon begnügen, das Anregende seiner Detailausführungen an einigen Beispielen zu illustrieren. I. Sehr interessant ist die Art und Weise, wie MASARYK die Einwirkung verschiedener Philosophen auf die Grundlagen des Marxismus nachweist. Wir werden auch darauf noch zu sprechen kommen. E s sei FEUERBACH gewesen, meint MASARYK, der durch seinen Anthropomorphismus und durch seinen Naturalismus auf MARX gewirkt habe. Auch die ganze kritische Art von MARX und ENGELS sei mit FEUERBACH'seher Wesensart verwandt. Auch auf HEGEL, der für MARX gleichsam das philosophische Knochengerüst geliefert habe, 1 kommt er zu sprechen und endlich sucht er auch darauf hinzuweisen, wie viele positivistische, durch AUGUSTE COMTE entfachte Elemente im Marxismus stecken. Befriedigt uns diese Analyse des Ursprungs marxischer Philosophie, so können wir uns mit einem sich gleich hier anschließenden Urteile MASARYK'S nicht ohne weiteres befreunden. E r sagt wörtlich (S. 89): „Seine und ENGELS' Philosophie trägt den Charakter des Eklektizismus. Bei all dem Kritisieren mangelt es bei beiden an Kritizismus und an schöpferischer Kraft, die verschiedenen Elemente moderner Richtung zu einem harmonischen Ganzen zusammenzuschmelzen." Der Marxismus ist doch nicht deshalb Eklektizismus, weil verschieden geartete Denker auf seine Entstehung Einfluß genommen haben; der Marxismus ist, wie wir später sehen werden, als gewordenes System, als relativ 1
V g l . MASAKTK, a . a . O . S .
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vollendete Weltanschauung konsequent antierkenntnistheoretisch, konsequent metaphysisch. Ein so geartetes System verträgt von vornherein den Kritizismus nicht. M A S A R Y K selbst hat ja behauptet, daß H E G E L mehr wie irgend ein Denker auf den Marxismus eingewirkt hat. Nun, H E G E L ist doch antikritisch, antierkenntnistheoretisch, metaphysisch genug; er ist neben SPINOZA vielleicht der größte rein metaphysische Denker. Hierin also ist kein Eklektizismus zu erblicken. IL Überaus anregend ist das, was M A S A K Y K vom Illusionismus des K A R L M A R X sagt. 1 E r führt in dieser Betrachtung ungefähr folgendes aus: Die Gesellschaft als Ganzes erhält sich und entwickelt sich durch mannigfache Kräfte. Diese biologischen sowohl als künstlichen Kräfte setzen sich nun im Laufe historischer Entwickelung in sozial-historische Triebfedern um, und mit solchen allein hat es die Soziologie zu thun. Es sind dies gleichsam ihre Kategorien, die Religion, Kirche, Kunst, Nationalität, die sie alle in ihrer möglichst organischen Beeinflussung wissenschaftlich zu verarbeiten sucht. Der Marxismus behauptet nun, nur die wirtschaftliche Organisation käme als ausschlaggebende Triebkraft in Betracht. Hiermit werden Religion, Sitte, Kunst, Spiel, Zeremonialwesen im Sinne H E R B E R T S P E N C E R ' S als soziologische Kategorien entwertet. Der Marxismus muß daher konsequenterweise nicht allein diese Kategorien, sondern auch das Bewußtsein der Menschen fiir eine Illusion erklären, da an die selbständige Existenz des Bewußtseins auch die Selbständigkeit aller psychischen, ethischen, religiösen, künstlerischen etc. Entwickelung gebunden sei. Dies sei aber ganz falsch. Niemand, meint M A S A R Y K , könne die Einflüsse der Natur auf den Menschen und die Gesellschaft leugneD, aber wir würden von diesen mannigfaltigen Einflüssen ohne unser Bewußtsein nichts wissen. Unser Autor zitiert den russischen Historiker M I L J U K O W , der behauptet, die Materialität der wirtschaftlichen Verhältnisse sei eine scheinbare, weil das Wirtschaften in einem psychischen Milieu erfolgt. Der Marxismus ist also entschiedener Illusionismus, und M A R X sei es nicht mehr gelungen, diesen Illusionismus psychologisch und soziologisch zu vertiefen. In der psychologischen Vertiefung hätte sich M A R X hierin von S C H O P E N H A U E R belehren lassen können, der von seinem idealistischen Standpunkte aus ein ganzes System des subjektiven Illusionismus errichtet hat; zweitens hätte M A R X seinen Illusionismus dadurch soziologisch vertiefen können, 1
Vgl. insbes. S. 1 5 0 — 1 5 7 .
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daß er gezeigt hätte, wie dem kollektiven Bewußtsein gegenüber die Illusion des individuellen Bewußtseins entsteht. Ich möchte diese Ausführungen wörtlich unterschreiben, aber nur eine Bemerkung sei mir gestattet. MASARYK gebraucht hier den Ausdruck „Bewußtsein" in einer schwer mißzuverstehenden Weise, aber aus anderen Stellen seiner Schrift könnte man den Eindruck gewinnen, daß er das Bewußtsein schlechthin mit dem subjektiven Bewußtsein, mit dem Subjekt Begriffe das heißt dem Gegensatz zum Objekt Begriffe, verwechselt, denn an anderen Stellen seiner Schrift scheint er dem Individualismus auch erkenntnistheoretisch Recht zu geben, was ein verhängnisvoller Irrtum wäre. Sicherlich ist es ein großer Fehler des Marxismus, für seine historischen und sozialphilosophischen Zwecke das Bewußtsein geradezu aufzugeben, denn es existiert und spottet des Marxismus. Aber was existiert, ist doch nur das empirisch gegebene allgemeine Bewußtsein, nicht der abstrakte Begriff des Subjektes, der sich in Gegensatz zur gesamten Natur stellt und der aus sich heraus (etwa in ÜEGEL'scher Manier) die Welt der Objekte konstruiert. Eine solche subjektive Welt ist eine ebensolche Fiktion wie die soziale Welt des M A R X , in welcher das Bewußtsein eliminiert wird. I I I . Sehr schön ist auch die Stelle bei MASAEYK, WO er von den historischen Gesetzen spricht. Er weist da nach, daß Gesetz und Gesetzmäßigkeit Worte sind, die M A R X und E N G E L S sehr häufig gebrauchen, ohne sie genügend zu erklären (S. 203). M A R X hält die ökonomiche Entwickelung für einen Naturprozeß und spricht von Naturgesetzen der kapitalistischen Entwickelung. M A R X und E N G E L S scheinen ihm Triebkraft und Gesetz nicht genügend auseinanderzuhalten. Während sie in einem Atemzuge von ihren allgemeinen Gesetzen sprechen, acceptiert M A R X in dem Vorwort zum ersten Bande des „Kapitals" die Erklärung eines russischen Kritikers, welcher behauptet, M A R X stelle nur besondere Gesetze für jede Epoche auf. Sehr richtig weist MASARYK darauf hin, daß es nach der Auffassung von M A R X allgemeine Gesetze geben müsse. Er kommt auf die Dialektik zu sprechen, auf das Gesetz von der Negation etc. MASARYK würde an dieser Stelle sich ein großes Verdienst erworben haben, wenn er einmal, was in diesem Buche später geschehen soll, überhaupt den Begriff sozialer und historischer Gesetze entwickelt hätte. Es würde sich dann zeigen, daß es solche soziale und historische Gesetze gar nicht geben kann und daß es eben ein G r u n d f e h l e r a l l e s M a r x i s m u s ist, an e h e r n e , n o t w e n d i g e
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Einleitung.
E n t w i c k e l u n g s g e s e t z e zu g l a u b e n . Dies kommt hier nicht klar zur Geltung. Dadurch, daß unser Autor dies nicht scharf hervorhebt, kann er eine der schwächsten Positionen des Marxismus nicht mit der wünschenswerten Wirkung zerstören. IV. Sehr scharf und zutreffend hingegen ist die Behauptung von M A S A R Y K über die Rolle des Zukunftsstaates innerhalb des Marxismus. Er wirft sowohl M A R X wie auch B E R N S T E I N vor, daß sie aus lauter Furcht, Utopisten gescholten zu werden, das Recht der Wissenschaft auf ein gewisses beschränktes Vorhersagen ganz aufgeben. Sie hätten hierin vollkommen Unrecht. Das Vorauswissen der Zukunft, sagt es wörtlich, hat auf verschiedenen Gebieten ungleiche Grade der Präzision (S. 224). Die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit der Zukunft des Sonnensystems. Ohne die Voraussagungen der Meteorologie wäre die Bodenkultur uud die Schiffifahrt unmöglich. Aber es gebe auch beschränkte Antizipationen sozialer Natur. L E I B N I Z soll die französische Revolution vorausgesagt haben, P L A T O habe in seinem Staate einige mittelalterliche Einrichtungen antizipiert, die Kolonisationspolitik ist eine Antizipation, die Expansionspolitik verschiedener Länder ebenfalls. Die Schrift des Atlanticus, zu der selbst KATJTSKY eine Vorrede geschrieben habe, ist auch ein solcher Versuch hypothetischer und beschränkter Antizipation (S. 226), die doch auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen könne. V. Ich kann mich aber durchaus nicht mit der Art und Weise einverstanden erklären, wie M A S A R Y K am Schlüsse seines theoretischen Teiles den Marxismus in zusammenfassender Darstellung bespricht (vgl. S. 509—519). Derselbe sei absoluter Objektivismus. Das ist wohl richtig. Nun fahrt M A S A R Y K weiter fort und sagt, die philosophische Ungenauigkeit, der marxistische dilettantische Eklektizismus könne weder auf den Verstand, noch auf das Herz günstig wirken (S. 516). Allerdings habe der Marxismus auch bedeutende Vorzüge. „Er läßt durch seinen Objektivismus in die Massen keinen skeptischen Subjektivismus eindringeil und unterhält in ihnen die Hoffnung auf die Zukunft, stärkt den Glauben an Fortschritt und läßt ihnen keine pessimistische Stimmung aufkommen" (S. 517). Ich halte diese kurzgedrängte Analyse der Nachteile und Vorzüge des Marxismus, und zwar nach beiden Richtungen hin, für falsch. Der Marxismus hat, um hier in einem gewissen Sinne das Resultat meiner ganzen Arbeit zu antizipieren, weder diese Vorzüge, noch diese Nachteile. Unser System ist weder, wie wir gesehen haben, eklektisch, noch ist es aber dilettantisch. Wie später gezeigt
Einleitung.
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werden soll, ist selbst in der materialistischen Geschichtsauffassung die eigentliche Philosophie nur Grundlage, einleitendes Leitmotiv; die materialistische Geschichtsauffassung, dieser wesentliche und ausschlaggebende Bestandteil der marxischen Soziologie ist, wie in fast genialer Weise schon STAMMLER erwiesen, ein streng geschlossenes, einheitliches, wenn auch nach unserem Dafürhalten zu bekämpfendes System. STAMMLER glaubt mit SOMBART und anderen bedeutenden Forschern, man könne dieses System umformen, der Einseitigkeit berauben. Ich glaube dies nicht. Aber ein einheitlich geschlossenes, ich möchte hier dieses leicht mißzuverstehende Wort gebrauchen, und ein grandioses System ist es immerhin. Wo bleibt da der Dilettantismus? Aber MARX hat auch die Vorzüge nicht, die ihm durch diese Auffassung der Dinge zugesprochen werden. Nicht der philosophische Objektivismus, nicht das Fallenlassen subjektivistischer Auffassung haben die Massen dem Marxismus unterthan gemacht und bewahren diese Massen vor dem Zurücksinken in eine pessimistische Stimmung. Durch das Hinweisen auf die Notwendigkeit des Sieges, gerade durch die Erweckung des subjektiven Gefühles, als Proletarier Weltgeschichte treiben zu dürfen, gerade durch die hingemalte und hinprojizierte Zukunftsperspektive, die als immanent zu erfolgende Wirklichkeit ausgegeben war, ist der Marxismus zur Religion der Massen geworden. Wenn heute einerseits durch die Gewalt konkreter Thatsachen die Katastrophentheorie und die Anschauung einer dauernden Krisis erschüttert werden und wenn andererseits nicht ein plausibleres, in Wirklichkeit realeres Ziel den Massen gezeigt wird, so wird der Pessimismus auch wieder beginnen, um sich zu greifen, trotz alles philosophischen Objektivismus von KARL MARX. Ja, dieser Pessimismus würde sogar zu einem ganz gewaltig hindernden Faktor sozialer Entwickelung, zu einer großen Hemmungsursache werden, falls nicht neben der sozialen Religion, die der Marxismus den Massen bietet, auch der p r a k t i s c h e O r g a n i s a t i o n s g e d a n k e existieren würde, der dann dem sich entwickelnden sozialen Pessimismus entgegenwirken könnte. Wir werden in unserem Kapitel über die Gesamtbilanz des Marxismus am Ende des zweiten Teiles diesen praktischen Organisationsgedanken des Marxismus nach Gebühr und Verdienst zu würdigen haben. E s soll auf die praktische Untersuchung MASARYK'S, die gegenüber seinen philosophischen und soziologischen Auslassungen sowohl quantitativ wie qualitativ einen geringeren Raum einnimmt, nicht des näheren eingegangen werden. Was bei MASARYK uns wertvoll
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Einleitung.
erscheint, ist die Fülle der manchmal glänzenden Einzelbemerkungen und Einzeluntersuchungen. Nirgends tritt leider aus der breiten Darstellung erquickend, erwärmend, erlösend ein scharf hervorgehobener richtiger Hauptgedanke, eine wertvolle Grundauffassung hervor. B E R N S T E I N und in noch viel höherem Grade M A S A R Y K haben eine Reihe von Problemen der Marxkritik gestellt, nicht aber gelöst. Nicht ihre mangelnde Begabung, nicht die Einseitigkeit des Standpunktes und am allerwenigsten das Fehlen einer methodischen Schulung haben ihre Kritik vom höchsten Standpunkte aus zu einer unfruchtbaren gestaltet, das Grundgebrechen liegt anderswo. Weder B E R N S T E I N noch M A S A R Y K haben gefühlt, daß die Krisis des Marxismus, um ein Wort zu gebrauchen, daß der letztere geprägt hat, zugleich auch eine K r i s i s d e r g e s a m t e n S o z i a l Wissenschaft bedeutet. Der Marxismus hätte nie und nimmer diese große Wirkung auch auf die Gebildeten und Gelehrten ausgeübt, wenn er nicht alle Gebiete der Sozialwissenschaft gleichmäßig berührt hätte. Anklingend an Probleme der reinsten Philosophie, endigend mit den Fragen scheinbar kleinster politischer Taktik, umfaßt M A R X , ein Dante der Sozialwissenschaft, alle Erscheinungen, alle Theorien, alle Ausstrahlungen der gesamten Sozial Wissenschaft. E r , der Vertreter des reinen wirtschaftlichen Prinzips, fuhrt seine Untersuchung so weit und so umfassend, daß man überall, wie bei keinem anderen Denker, zugleich auf das Ü b e r w i r t s c h a f t l i c h e in sozialen Dingen stößt. Der Marxismus in seiner reifen Ausbildung ist der letzte große zusammenhängende Versuch, allen sozialen Erscheinungen gerecht zu werden. Diese Universalität der Dinge bedingt nun eine Universalität der Kritik. Aber diese Universalität der Kritik hat bisher vollkommen versagt, und zwar aus folgenden Gründen: Man glaubte universell zu sein, wenn man formell alle Probleme des Marxismus aufrollte, wenn man gleichsam alle soziologischen und wirtschaftlichen Kategorien des M A R X nach der Reihe entwickelte. Doch diese formelle Universalität berührt nicht das Wesen der Dinge. Eine marxistische Kritik hätte jene soziale Universalität des marxistischen Systems nur dann erreicht, wenn sie alle theoretischen Ausfuhrungen von M A R X an allen Zusammenhängen der Erscheinungen, die M A R X überhaupt berührt, auf ihre Richtigkeit hin geprüft hätte. Da sie das nicht gethan, ist sie selbst in ihren besten Vertretern zum größten Teile nur die Inventaraufnahme der marxistischen Probleme gewesen. Eine solche kritische Universalität aber, wie wir sie meinen, bedingt eine
Einleitung.
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Revision der sozialwissenschaftlichen Grundlagen überhaupt. Man muß alle Begriffe, die M A R X gemeinsam mit den klassischen Nationalökonomen einerseits und mit den Soziologen und Philosophen andererseits hat, auf ihre Richtigkeit hin prüfen. Denn wenn es wahr ist, daß der Marxismus sich in einer Krisis befindet, so befindet sich auch unsere gesamte Wissenschaft in einer solchen. Denn außer dem Marxismus giebt es nur zwei Dinge: großartige Einzeluntersuchungen oder sozialer Eklektizismus. SCHMOLLER > K N A P P , B Ü C H E R , F R A N Z O P P E N H E I M E R , S T A M M L E R , ja, bis zu einem gewissen Punkte der sich so systematisch geberdende E F F E R T Z , sie haben es alle nur mit Teilproblemen zu thun. Ich habe die besten Namen genannt, Männer, mit denen sich auch nach Dezennien der Geschichtsschreiber der Wissenschaft wird beschäftigen müssen. Wenn also der Marxismus sich in einer Krise befindet, so befindet sich auch die gesamte Sozialwissenschaft in einer solchen. Eine wirklich in die Tiefe gehende Marxkritik müßte also die gesamte Wirklichkeit, die ganze Fülle der Probleme, die Einheit sozialen Lebens zu ergreifen suchen. Eine solche universelle Kritik muß auf einer gewissen Höhe der Entwickelung aber in eine sozialwissenschaftliche Produktivität umschlagen. Man k a n n M A R X n u r k r i t i s i e r e n , wenn m a n ihn z u g l e i c h p o s i t i v ü b e r w i n d e t .
Viertes Kapitel.
Philosophie und Nationalökonomie. Eine Kritik des Marxismus, die es versucht, derart die meisten sozial wissenschaftlichen Probleme zu umspannen, daß daraus eine positive Überwindung des bedeutendsten, geschlossensten, aber auch von Grund aus verfehlten Systems der Gegenwart wird, kann natürlich nur mit Grundstrichen, mit Grundskizzen arbeiten. Zehn dicke Bände würden kaum genügen, die vollständige, die Fülle des Materials gauz beherrschende, alle Details umklammernde totale Überwindungsarbeit zu umfassen. In je höherem Grade die hier vorgetragene Ansicht den rein kritischen Boden verläßt, je positiver sie wird, in desto höherem Maße wird sie nur in großen Grundrissen aufgezeichnet werden können. Der Gang unserer Untersuchung wird dabei folgen-
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Einleitung.
der sein: Ausgehend von einer Einteilung des gesamten Marxismus in einen soziologischen und ökonomischen, werden wir zunächst die philosophischen Grundlagen der Lehre kurz analysieren, die materialistische Geschichtsauffassung darstellen, um dann zu zeigen, daß diese Philosophie der Geschichte 9chon in ihrer Grundlage verfehlt ist. Die materialistische Geschichtsauffassung besagt vor allem, daß es eine soziale Gesetzmäßigkeit im strengsten Sinne gebe. An Hand einer Erörterung über die historischen Gesetze, auf Grundlage einer kurzen Analyse der Begriffe Geschichtsprinzip und Geschichtsmethodik werden wir nachzuweisen suchen, daß es eine solche strenge Gesetzmäßigkeit sozialer wie historischer Dinge überhaupt nicht gebe und daß wir einstweilen nur mit einer provisorischen, allgemein orientierenden, thatsächlich rein heuristischen Geschichtsauffassung vorlieb nehmen müssen. Einen Teil der provisorischen Geschichtsauffassung bildet nun (und hiermit beginnt die eigentliche positive Arbeit schon) unsere Theorie von der. s o z i a l e n K o m p l i k a t i o n , sie hängt mit dem Darwinismus zusammen und ist, ohne an alle biologischen Schlußfolgerungen DARwiN'scher Lehre geknüpft zu sein, innerlich ihm verwandter, wie der soziologische Marxismus. Mit diesem Nachweise schließt der erste Teil. Der zweite Teil beginnt mit einer philosophischen Analyse. Es handelt sich darum, auch dem rein sozial wissenschaftlichen Leser klar zu machen, in welch unüberbrückbarem Gegensatze Erkenntnistheorie und Metaphysik stehen, wie die metaphysischen Hypothesen nur in den Naturwissenschaften, nicht aber in den Sozialwissenschaften eine große methodische Brauchbarkeit besitzen. Diese philosophische Einleitung ist hier um so mehr am Platze, als man bei der Erörterung der marxistischen Werttheorie an sich wenig Neues sagen kann und nur durch eine allgemein philosophische Begriffsbestimmung die ganze Unlebendigkeit, das Vollmetaphysische aller Spekulationen über den Wertbegriff überhaupt nachweisen kann. Dagegen versetzt uns die Darstellung und Kritik der immanenten Gesetze kapitalistischer Entwickelung sofort mitten in das praktische Getriebe der Wirtschaft; der Entwickelungsgang der Weltindustrie, die Expansions- und Kolonialpolitik, die Kartelle und andere rein wirtschaftliche Erscheinungen werden aufgerollt. Diese wirtschaftliche Untersuchung mündet wieder in einen allgemeineren soziologischen Beweis aus: in den Satz von der E n t w i c k e l u n g s n o t w e n d i g k e i t , - M ö g l i c h k e i t und - W a h r s c h e i n l i c h k e i t a l l e r wirtschaftlichen Erscheinungen. Hieran knüpft sich eine
Ginleitung.
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kurze kritische Skizze der theoretischen Grundlagen des Genossenschaftssozialismus oder, besser gesagt, des wirtschaftlichen Prinzips des Sozialliberalismus. Nachdem sowohl der wirtschaftliche Marxismus als der Sozialliberalismus trotz glänzender Einzeluntersuchungen von einer großen Einseitigkeit nicht frei zu sprechen sind, muß die theoretische Nationalökonomie andere Bahnen zu wandeln suchen, sie muß die Metaphysik in unserem Sinne aufgeben, sie muß deskriptiv anschaulich werden, sie muß das vom englischen Klassicismus übernommene einseitige Wirtschaftsprinzip als gleichsam primär gegebenes Regulativ aller menschlichen Entwickelung definitiv aufgeben. Nach einer kurzen Skizzierung unserer anschaulichen Nationalökonomie schließen wir diesen zweiten Teil mit einer Gesamtbilanz des Marxismus. Der dritte Teil sucht auseinander zu setzen, daß der kollektivistische Hauptgedanke nicht das einzig gemeinsame Element aller sozialistischen Systeme sei; der wichtigste, allen sozialistischen Systemen gemeinsame Faktor sei die Anschauung von der ausschließlichen Realität der G e s e l l s c h a f t im Gegensatze zum I n d i v i d u u m . Es wird nun nachzuweisen versucht, daß dem „reinen Individuum" im sozialen Leben gar keine Realität zukomme und daß aber auch die Gesellschaft fast so unreal sei wie das reine Individuum. Der Begriff Gesellschaft sei eine voll metaphysischer Elemente durchsetzte, irreführende, unklare, methodisch sehr wenig brauchbare Begriffsbestimmung. Dem Begriffe O r g a n i s a t i o n komme die größte Realität zu. Hieran setzt sofort eine Analyse des s o z i a l e n E n d zieles an. Der dritte Teil schließt hierauf mit einer kurzen Abhandlung über das Wesen soziologischer Bestrebungen. Der vierte Teil enthält die P o l i t i k , die wir als letzte Konsequenz unserer Weltanschauung dem Marxismus gegenübersetzen wollen. Man kann aus diesem Gange der Untersuchung ersehen, wie die positive Arbeit, sich gleichsam am Anfange nur langsam, allmählich an der Kritik marxischer Einzellehren emporrankend, immer selbständiger wird, bis sie zum Schlüsse in den Versuch, der Menschheit ein neues soziales Endziel und eine neue Übergangspolitik zu zeigen, ausklingt. Gar mancher Leser wird darüber erstaunt sein, daß in diesen Blättern so viel von Philosophie die Rede ist. Das Thema, so werden manche argumentieren, lautet: Die soziale Frage. Ist dieselbe nicht hauptsächlich wirtschaftlicher Natur? Ist beim Marxismus, der so ausführlich in diesem Buche abgehandelt werden soll,
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Einleitung.
schließlich nicht doch das rein ökonomische das Ausschlaggebende, das Wertvolle, wenn auch zugestanden werden muß, daß die philosophischen Grundlagen des Marxismus beleuchtet werden müssen? Auch soll zugestanden werden, daß die meisten wirtschaftlichen Erscheinungen mit soziologischen Elementen verknüpft sind. Aber hier scheint auch in der positiven Überwindung zu viel von Philosophie die Rede zu sein. Uns gefallt dieser Standpunkt nicht, wird man sagen, es wird uns unbehaglich bei so vielen philosophischen Ausdrücken. Wir wollen Klarheit, und die Klarheit ist nur zu finden, wenn man sich an die konkreten Verhältnisse hält. Daraufhin möchten wir folgendes erwidern: In den meisten sozialwissenschaftlichen Kreisen herrscht heute eine Antipathie schon gegen das Wort Philosophie. Bei den Naturwissenschaftlern beginnt sich diese Antipathie bereits stark zu legen. Hier hat nicht allein der Materialismus, sondern auch der reine Empirismus bereits Schiffbruch gelitten; man sehnt sich nach philosophischen Erklärungen, nach dem erlösenden Monismus, nach KANT, nach erkenntnistheoretischen Grundbegriffen. Der reine Materialismus hat bereits abgewirtschaftet und schon naht auch das Ende des Nurempirismus. Der Naturforscher sehnt sich nach einer einheitlichen Weltanschauung, nach dem Etwas, das ihn über die spezifischen Methoden und Untersuchungsarten seiner Disziplin hinwegführt. Anders in den Sozialwissenschafiben. Mit dem Materialismus ist es wohl auch hier bald zu Ende, aber die Herrschaft des Empirismus wird noch sehr lange dauern. Man spottet über allgemeine Betrachtungen, über das Ansehen der Dinge sub specie aeterni. Die Nurökonomen perhorreszieren sogar schon die Soziologie, begabte Leute, die für alle möglichen Dinge Interesse haben, wollen in ihrem Fache durch historische, statistische Einzelbeobachtungen und Betrachtungen, durch Konstatierungen, Enqueten, durch Ziffern und Daten imponieren. Daß dieser Empirismus gröbster Art keine innere Berechtigung hat, braucht wohl des näheren nicht erhärtet zu werden. Die empirischen Untersuchungen fördern wohl die Wissenschaft, aber zu einem viel geringeren Teile, als man dies zu glauben scheint. Was herrscht heute in den Köpfen der Intelligenz, im Bewußtsein der Massen? Doch der Marxismus, ein Überempirismus, ein streng geschlossenes einheitliches System, eine Weltanschauung mit weiten Ausblicken. Obwohl die Lehre falsch und einseitig ist, herrscht sie doch, trotz des allgemeinen Empirismus, gerade weil der Empirismus selbst einem verfehlten System gegenüber vollkommen machtlos ist. Aber es
Einleitung.
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giebt einen feineren, subtileren, freieren Empirismus, der anders argumentiert und mit dem man sich wohl auseinanderzusetzen gezwungen ist. Die Nationalökonomie hat es, so wird argumentiert, mit den wirtschaftlichen Erscheinungen zu thun. Es giebt nur ein Mittel, um sie zu erforschen: Man muß richtig sehen können. In den historischen Zusammenhängen das Richtige zu erblicken vermögen, im wirren Durcheinander des wirtschaftlichen Chaos der Gegenwart die treibenden Kräfte abschätzen zu können, die statistischen Daten mit Wirklichkeitssin zu interpretieren, das ist alles, worauf es ankommt. Nicht um die Daten selbst, nicht um das historische Detail werk als Selbstzweck handelt es sich, auf das Sehenkönnen, auf den Wirklichkeitssinn kommt es an. Dieser subtilere Empirismus operiert mit der ausschließlichen Wertung scheinbarer Anschaulichkeit. Diesem Sehenkönnen steht' nun (so wird behauptet) die Philosophie hindernd gegenüber. Sie operiert mit allgemeinen Begriffen, sie verliert sich in Abstraktionen, sie ist ihrem ganzen Wesen nach genötigt, voreilige Generalisationen vorzunehmen. Das alles frommt einer Wissenschaft nicht, die gezwungen ist, wirklich zu sein und zu bleiben. Der Grundfehler dieser Anschauung liegt eben darin, daß mit einer nur scheinbaren Augenscheinlichkeit operiert wird. Es kann ja sicherlich nicht geleugnet werden, daß die gewöhnliche Schulphilosophie mit Abstraktionen schlimmster Art, mit Konstruktionen größter Trivialität arbeitet. Ja, noch mehr als dies: Selbst die größten Philosophen lassen sich oft hinreißen, die wahre Anschaulichkeit in ihrem Wesen zu ersticken, statt der Dinge Begriffe und statt der Begriffe Worte zu gebrauchen. Aber dies hat mit dem wahren Wesen der Philosophie nichts zu thun, dies spricht für ihre Unbrauchbarkeit ebensowenig, wie etwa falsche Statistiken gegen die Notwendigkeit der Statistik, das Überwuchern historischer Kleinarbeit gegen die Notwendigkeit der historischen Methode in manchen nationalökonomischen Disziplinen spricht. Auch die Philosophie ist anschaulich, auch in ihr muß man vor allem sehen können. Ja, noch mehr als dies, sie gerade ist anschaulich, trotz aller Mängel, trotz aller Einseitigkeiten, trotz aller methodischen Unbehutsamkeiten selbst der genialsten ihrer Vertreter. Denn da sie die allgemeinste, die umfassendste aller Disziplinen ist, kommt es bei ihr einzig und allein nur auf die Grundrichtung an. Diese Grundrichtung aber hat gerade vor allem am stärksten dazu beigetragen, dem allgemeinen Bewußtsein den Sinn für das Anschauliche zu stärken. WEISENGRÜN,
Marsismus.
3
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Einleitung.
Immer mehr hat die moderne Philosophie von DESCARTES bis K A N T , von L O C K E bis H U M E , von SCHOPENHAUER bis AVENARIUS den einen großen Gedanken hervorgekehrt: Lasset euch nicht von falscher Interpretation täuschen, seht, die Wirklichkeit liegt vor euch. Das allgemein menschliche Bewußtsein ist das primär gegebene, die Empfiudungskomplexe, nicht die Materie, nicht die Substanz sind das Ausschlaggebende. So anschaulich, so wirklichkeitsfördernd war diese Wahrheit, daß sie zurückwirkte auf die moderne Naturwissenschaft, daß sie die Physiologie der Sinne befruchtete und auf das Elementare der Vorgänge aufmerksam machte, daß sie heutzutage überall das Metaphysische in der Praxis der naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen zu zerstören beginnt. Wir werden sehen, wie immer mehr große moderne Naturforscher das auch direkt und offen aussprechen. Was ist anschaulicher, was ist fordernder als dieser eine Hauptgedanke vom-primären Gegebensein des Bewußtseins, der sich durch die gesamte moderne Philosophie durchsetzt? Man muß eben die Philosophie nicht mit HEGEL, die befruchtende Erkenntnistheorie nicht mit der unlebendigen, wenn auch in ihrer Art grandiosen Scholastik verwechseln. D i e P h i l o s o p h i e ist a n s c h a u l i c h und lebendig, man muß sie nur anzuwenden wissen. In diesem Sinne muß gesagt werden, daß es nur einen Wirklichkeitssinn giebt, der überall herrscht und der allerdings verschiedene Formen annimmt. Nationalökonomische konkrete Betrachtung der Dinge und philosophische allgemeinere Erfassung sind nicht durch eine Welt voneinander getrennt. Der rege Wirklichkeitssinn und die philosophische Intuition decken sich, sind beide fast identisch, sind nur verschiedene Ausdrucksformen einer und derselben Sache. In der rein wirtschaftlichen Welt, wo es gilt, die verhältnismäßig niederen Phänomene zu zergliedern und zu untersuchen, ist der gemeine Wirklichkeitssinn allein vonnöten; er verwandelt sich wie von selbst in die philosophische Intuition da, wo es darauf ankommt, gleichsam in eine höhere Sphäre hinaufzusteigen, die menschlichen Leidenschaften, das Walten des Genius, die verwickelten Gebilde der Volksseele, den Rhythmus der gewaltigen Kulturentwickelung zu analysieren und zu erforschen. Beide sind Ausdrucksformen der w i s s e n s c h a f t l i c h e n P h a n t a s i e , die in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften, in der Soziologie wie in der reinen Nationalökonomie die Grundlage eines wahren Erkennens ist und sich im vollen Gegensatze zu jener Welt von Abstraktionen und Begriffsentwickelungen befindet, von der wir früher gesprochen haben.
Einleitung.
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Darum giebt es auch einen wirklichen Zusammenhang zwischen der organischen, anschaulichen, lebendigen Philosophie und den politischen und ökonomischen Ereignissen des Tages. J a selbst Lehren, in denen gar oft die lebendige Philosophie überwuchert wird von einseitigen, wenn auch großartigen Konstruktionen, wirken oft nach Jahrhunderten auf Lehrmeinungen ein, die scheinbar ganz „aus dem Zeitgeiste heraus" geboren sind. Wir erleben in unseren Tagen das Beispiel vom Einflüsse solcher scheinbar längst verstorbener und vermoderter Philosophie. Überall knüpft in Europa und Amerika der neuerstarkte Katholizismus an die Lehren des THOMAS VON AQUINO an, die schon sechs Jahrhunderte alt sind und zur Zeit des LEIBNIZ und NEWTON ganz veraltet erschienen. Ja, Papst LEO X I I I . ging sogar schon so weit, die thomistische Philosophie für die einzig wahrhaftige, bedeutende, den Prinzipien der katholischen Kirche entsprechende zu erklären. Man kann über den Katholizismus denken, wie man will, das eine scheint sicher: Seine konkrete momentane Macht leugnen zu wollen, ist eine im höchsten Grade unrealistische Auffassung. Wenn dies nun mit einer Lehre möglich ist, die alles in allem doch nur eine wertlose Nebenerscheinung in der philosophischen Entwickelung darstellt, wie sehr muß die hauptsächlich durch HUME und BEKKELEY begründete, seitdem bereits wesentlich umgestaltete und verfeinerte Erkenntnistheorie auf die Sozialwissenschaft einwirken. Anzeichen und Symptome wenigstens sind schon genug dafür vorhanden, daß wir einem Welteroberungszuge der modernen Erkenntnistheorie entgegengehen. Der Triumph ist bis jetzt nur aufgehalten worden durch einen allzu dogmatischen und konstruktiven Ableger des Hegelianismus, durch einen seichten Materialismus, durch den einseitigen, extremen Individualismus und den damit nur zum Teile zusammenhängenden genialen Philosophen der Decadence, FKIEDKICH
NIETZSCHE.
Aber wie dem auch sein mag, die E r k e n n t n i s t h e o r i e hat eine große methodische Bedeutnng, die wir noch im Laufe unserer Untersuchung kennen lernen werden. Was aber hier schon als genügend erhärtet betrachtet werden kann, ist folgendes: Die Erkenntnistheorie, der modernste Ausdruck philosophischer Bestrebungen, widerspricht nicht dem Wirklichkeitssinn und der Wahrscheinlichkeit. Im Gegenteile, nirgends ist das Sehenkönnen und das Sehensollen besser aufgehoben, wie im Schöße erkenntnistheoretischer Betrachtungsweise. Wir können noch einen mehr praktischen Grund für die Not3*
Einleitung.
36
wendigkeit der Heranziehung philosophischer Begriffsbestimmungen geltend machen. MARX hat einmal W E I T L I N G gegenüber das deutsche Proletariat als den Theoretiker der europäischen Arbeiterschaft, das englische als den Nationalökonomen und das französische als den Politiker charakterisiert. 1 Wer die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung kennt, weiß, wie wahr dieser Satz ist. Da aber gerade die deutsche Arbeiterbewegung ausschlaggebend geworden ist, da aus dem Proletarierphilosophen der hauptsächliche Repräsentant des Proletariats geworden ist, so kann die philosophische Erfassung der sozialen Frage der Arbeiterbewegung wahrscheinlich nicht viel geschadet haben. Die Theoretikernatur hat auf jeden Fall, wie die Geschichte beweist, den deutschen Arbeiter nicht gehindert, auch Politik zu machen. Im Sinne unserer Auffassung, daß die Weltbewegung des Proletariats, die doch sicherlich am klarsten in Deutschland zum Ausdrucke gekommen ist, die wichtigste Äußerungsform der sozialen Frage ist, im Sinne dieser Ausführungen liegt es also sicherlich, wenn wii; unsere Ansicht über den Zusammenhang zwischen Philosophie und Nationalökonomie in dem einen Satz zusammenfassen: Ohne Philosophie keine Sozialwissenschaft, ohne Erkenntnistheorie keine Überwindung des Marxismus! 1
Vgl. MEHRING-, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. I. S. 86.
Erster Teil. Kritik des soziologischen Marxismus. Erstes Kapitel.
Der soziologische und der ökonomische Marxismus.
E
s wurde in der Einleitung behauptet, die Lehre von M A R X weise drei wichtige Bestandteile auf, erstens die Lehre des ökonomischen Materialismus, zweitens die Werttheorie, drittens die wirtschaftliche Entwicklungslehre oder das Entwickelungsgesetz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. In der That sind dies auch, rein äußerlich betrachtet, die drei Teile, aus denen die gesamte Lehre besteht. Wer eine Geschichte der Stellung, die der Marxismus innerhalb des ganzen Sozialismus einnimmt, schreiben wollte, wer die Wirkungen nach außen, gleichsam das kulturhistorische Moment des Marxismus, in den Vordergrund seiner Untersuchungen stellen wollte, könnte keine andere Gruppierung und Klassifikation der einzelnen Teile der Doktrin vornehmen. Aber ganz exakt und wissenschaftlich ist darum diese Einteilung doch nicht. Man sagt vielfach, der gesamte Marxismus sei nicht in einem einheitlichen und geschlossenen System zur Darstellung gekommen und man müsse gleichsam die einzelnen Teile von hier und dort sich mühsam zusammenklauben. Das ist nun nicht ganz richtig. Im dreibändigen „Kapital" haben wir, wie später bewiesen werden soll, ein Doppelsystem vor uns, in welchem neben dem hauptsächlichen sichtbaren Zusammenfassen wirtschaftlicher Phänomene auch die soziologische Betrachtung zu einer gewissen Geltung kommt. Die Nationalökonomen haben zwar zumeist das Wesen dieses Doppelsystems verkannt und den soziologischen Charakter des „Kapitals" vielfach ganz außer acht gelassen, aber andererseits muß
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Erstes Kapitel.
auch betont werden, daß in demselben die sozialphilosophische Betrachtung bis zu einem gewissen Punkte sich hinter der rein wirtschaftlichen versteckt. In dem einzig systematischen, trotz aller Einseitigkeiten und Unrichtigkeiten grandiosen Buche, das M A R X geschrieben, kommt die materialistische Geschichtsauffassung, kommt der ganze sozialphilosophische Teil nur latent zum Ausdruck. Die Soziologie selbst aber ist nirgends außerhalb des „Kapitals" in ein System gebracht worden. Die Gegner von M A B X haben also in dieser Beziehung Recht und Unrecht zugleich. Der ganze Marxismus ist zwar in ein System gebracht, aber nur der eine Grundfaktor, der rein wirtschaftliche, ist zur vollen Entwickelung gekommen, der andere ist verkümmert. Aber außerhalb des „Kapitals" ist die Soziologie in kein System gebracht worden, selbst von F E . E N G E L S , dem berufensten Interpreten marxistischer Lehren, nicht. Man sieht also schon daraus, daß unsere frühere Annahme von drei Momenten des Marxismus mehr für praktische Zwecke geeignet war. Es empfiehlt sich, die materialistische Geschichtsauffassung ganz abzusondern vom rein wirtschaftlichen Marxismus, der doch im „Kapital" in ein einheitliches und organisches Ganzes verwebt worden ist, und sie gesondert zu kritisieren. Die Werttheorie und die wirtschaftliche Entwickelungslehre müssen wir aber unter einem Oberbegriffe zusammenfassen. Wir nennen diesen Teil der Lehre den rein wirtschaftlichen Marxismus. Denn, wie viele soziologische Fäden auch in den wirtschaftlichen Teil hinüberspielen, eine Zweiteilung ist doch aus methodologischen Gründen erlaubt, ja sogar geboten. Dies gilt nicht allein von der Wertlehre und den darauf fußenden Theorien, sogar die eigentliche wirtschaftliche Entwickelungslehre, die immanenten Gesetze kapitalistischer Gesellschaftsordnung können in eine Unabhängigkeit vom ökonomischen Materialismus gebracht werden, und dies aus einem sehr gewichtigen Grunde. Der ökonomische Materialismus kann nämlich ganz falsch sein und die Entwickelungstendenz der modernen kapitalistischen Wirtschaft könnte doch im besonderen ganz richtig sein. Die Geschichte der Wissenschaften weist Beispiele genug auf, wo eine angewandte Lehre an sich trotz der falschen Grundauffassung richtig ist. Die Konzentration des Kapitals, die ganze Entwickelung der modernen Industrie könnte so vor sich gehen, wie der Marxismus es verlangt, ohne daß darum auch die Grundannahme von der Indentität der wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeit mit der sozialen Gesetzmäßigkeit überhaupt begründet wäre.
Der soziologische und der ökonomische Marxismus. Der soziologische Marxismus bestellt, ganz
allein
aus der
materialistischen
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streng genommen,
nicht
Geschichtsphilosophie.
Aus
einigen bedeutenden Äußerungen von MARX geht hervor, daß seine Soziologie mehr umspannen wollte, sich größere Ziele gesetzt hatte, als
die
wohl
bloße
Konstruktion
ursprünglich
der
Geschichte.
vor (vgl. den Anhang
Es
MARX
schwebte
zu der
Schrift
LUDWIG
FEUERBACH und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie von FRIEDRICH ENGELS, Stuttgart 1888, S. 69—72), den früheren Materialismus
in eine gesellschaftliche
Philosophie
des praktischen
W a s MARX wollte, war also erstens die Ver-
Lebens umzuformen.
bindung zwischen den von ihm als richtig erkannten Grundeleinenten der
früheren sensualistischen Philosophie mit
Entwickeluugslehre,
die Übersetzung
einer neuen sozialen
der individuellsinnlichen
An-
schauung FEUERBACH'S in die gesellschaftssinnliche und andererseits wollte
er
durch
sein
System
Theorie und der Praxis über
den
sichten
ökonomischen
und
Pläne
eine
schlagen.
Brücke Für
Materialismus
spricht
außer
zwischen
der
die Richtigkeit schon
den
so
sozialen großer,
hinausgehender
erwähnten
Äußerungen
Abdie
Mitteilung von FR. ENGELS, daß MARX jahrelang Mathematik und Naturwissenschaften studiert hatte, um seine besondere Methode zu erweitern und auch auf andere Gebiete auszudehnen.
A b e r es blieb
in dieser Beziehung bei gelegentlichen Äußerungen und somit kommt für unsere Zwecke nur der ökonomische Materialismus in Betracht. Derselbe ist das Fundament der ganzen marxistischen Lehre; wer ihn nicht begreift, hat den Marxismus nicht verstanden. Trotz
der Wichtigkeit
aber, die der
soziologische
Marxismus
wohl für sich in Anspruch nehmen kann, hat ihn die bürgerliche Nationalökonomie stiefmütterlich behandelt. Quantität der Schriften.
Es
Wissenschaft, daß, während lehre, die entweder ganze
stattliche
direkt
Bibliothek
modernen wissenschaftlichen
Dies gilt schon von der
ist charakteristisch über
oder
für die
die Werttheorie
indirekt
existiert,
und Broschüren behandelt worden ist.
von MARX handelt, eine
die
Sozialismus
deutsche
und Mehrwert-
ganze
nur
Grundlage
So zählt noch im Jahre 1896
STAMMLER (vgl. Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896, S. 646 647)
im
ganzen
eine überaus
kleine Anzahl
von
Schriften,
direkt über den ökonomischen Materialismus handeln. eine
Anzahl
dieser
Werke
behandelt
Materialismus noch andere Probleme, hinschauen würde,
des
in wenigen Schriften
neben
dem
Aber
und die auch
ökonomischen
so daß, wenn man genauer
die Zahl der die materialistische
Geschichtsauf-
Erstes Kapitel.
40
fassung behandelnden Schriften bis zum Erscheinen des STAMMLER'schen Buches auf ein halbes Dutzend zusammenschrumpfen würde. GEORG A D L E R hat das Verdienst, den ökonomischen Materialismus in der bürgerlichen Ökonomie überhaupt zuerst eingeführt zu haben. In seinem 1887 erschienenen Buche „Die Grundlagen der K A R L MARx'schen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft" giebt er eine, wenn auch nicht ausfuhrliche, wenn auch nicht alle Momente zusammenfassende Darstellung der materialistischen Geschichtstheorie.1 Sehr interessant sind auch die litterarisch-ökonomischen Beiträge in dem genannten Buche (vgl. S. 214 — 225), wo einzelne Aussprüche seiner Vorgänger zusammengestellt werden. Aber, da es sich hier hauptsächlich um die rein ökonomischen Bestandteile der marxistischen Lehre handelt, so konnte A D L E R den ökonomischen Materialismus auch nicht in den Vordergrund seiner Untersuchungen stellen. Dies hat j a der Autor auch eingesehen und sagt selbst wörtlich (vgl. S. 8): „Eine eingehende Kritik der gesamtmaterialistischen Geschichtstheorie gehört nicht in den Rahmen der vorliegenden Arbeit, würde auch eines besonderen Werkes bedürfen." Im nächstfolgenden Jahre erschien nun — der Leser verzeiht, wenn ich hier so ausführlich über mich selbst spreche, aber die Sache erfordert es — mein Buch über den Ökonomischan Materialismus.2 Ein berufener Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft, Professor B E R N H E I M , sagt darüber: 3 „ K A R L M A R X hat die Grundgedanken dieser Theorie zuerst ausgesprochen, F R I E D R I C H ENGELS, LAFARGUE, B E B E L , KAÜTSKY haben sie in verschiedenen Schriften weiter ausgeführt; eine systematische Darstellung hat zuerst P A U L W E I S E N GRÜN in dem Buche «Die Entwickelungsgesetze der Menschheit» 1888 gegeben." Schon vor 10 Jahren leuchtete es mir ein, obwohl ich, wie gesagt, nur einen Vorgänger unter den bürgerlichen Ökonomen hatte, daß der ökonomische Materialismus einseitig sei und ich suchte ihn, wie ich jetzt glaube, in ganz falscher Weise, zu ergänzen. Sehr richtig sagt BERNHEIM (a. a. O. S. 541), daß ich die marxische Auffassung philosophisch zu vertiefen und in etwas idealistischem Sinne zu modifizieren gesucht habe, und er hat auch mit seiner 1
Vgl. ADLER, a. a. O. S . 1 — 7 .
Vgl. „Die Entwickelungsgesetze der Menschheit", eine sozialphilosophische Studie, von PAUL WEISEN&BÜN. Leipzig 1888. 3 Lehrbuch der historischen Methode von Dr. ERNST BEENHEIM. 2. Aufl. Leipzig 1894. S. 538. a
41
D e r soziologische und der ökonomische Marxismus.
Annahme vollkommen recht, daß mir dies mißlungen ist. Die sogenannte „Herausschälung" der intellektuellen Momente aus der wirtschaftssozialen Bewegung heraus ist noch keine genügende Ergänzung oder Korrektur der marxischen Einseitigkeit. Nur in einer Beziehung scheint mich BERNHEIM falsch aufgefaßt zu haben, denn ich entfernte mich schon damals durch meine Loslösung der Geschichtsphilosophie von der rein sozialistischen Betrachtungsweise doch sehr von MARX. Diese methodologische Trennung des ökonomischen Materialismus von den übrigen rein sozialistischen Momenten des gesamten Marxismus ist für die Geschichte von weit größerer Wichtigkeit, als BERNHEIM und andere mit ihm dies glauben.
Ich
bin nun im Laufe der Jahre immer mehr zur Anschauung gelangt, daß dem ökonomischen Materialismus mit einer bloßen Korrektur und Ergänzung nicht zu helfen ist.
Zweites Kapitel.
Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung. Da, wie bereits erwähnt, der soziologische Marxismus in kein System gebracht worden ist, so kann man sich nicht damit begnügen, einzelne
wichtige
Belegstellen
von
MARX u n d ENGELS
zusammen-
zustellen, man muß schon die ganze Lehre von allen ihren Auswüchsen und unreinen Elementen befreien und sie ihrem innersten geistigen Wesen nach systematisch darstellen. 1 Daß selbstverständlich eine solche systematische Zusammenfassung der verschiedenen Gedanken, die MARX und ESSELS sich Uber die materialistische Geschichtsauffassung gemacht haben, etwas Konstruktives an sich haben muß, ist nicht zu vermeiden. Der ganze Entwickelungsgang der materialistischen Geschichtsauffassung kann hier nicht ganz korrekt zum Ausdrucke kommen, er muß ein wenig vernachlässigt werden zu Gunsten einer s y s t e m a t i s c h e n Ü b e r s i c h t . Aber groß ist die etwas vernachlässigte Entwickelung schließlich nicht gewesen. Im Laufe der Zeit sind einfach MABX und ENGELS dazu gekommen, im Gegensatze zu vielen ihrer orthodoxen Schüler auch den sogenannten Ideologien größere Beachtung zu schenken. Wir haben in unserer Darstellung durch den Satz, daß die idealen Faktoren eine gewisse Macht ausüben können, dem genügend Rechnung getragen. Die Betonung des gesetzmäßigen Charakters, den die materialistische Geschichtsauffassung für sich in Anspruch nimmt, haben wir in erster Linie den glänzenden Ausfuhrungen STAMMLER'S zu verdanken; der Anfang unserer Darstellung ist vollkommen seiner Schrift entlehnt. 1
42
Zweites Kapitel.
Wie in der Natur, so geschieht auch in der Geschichte alles nach einer strengen Gesetzmässigkeit. Kein Vorgang ist davon ausgenommen, kein Geschehnis entzieht sich der kausalen Kette. Diese Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ist aber in Wirklichkeit nichts anderes, als die nach Analogie des naturwissenschaftlichen Gesetzes aufzufassende stete unabänderliche Ordnung der wirtschaftlichen Phänomene. Das ökonomische Leben bedingt überall die Geschichte. Ohne Wirtschaft keine historische Entwickelung. Dabei ist der volkswirtschaftliche Prozeß selbst in ewigem Flusse begriffen. Die Gesetzmäßigkeit des dergestalt aufgefaßten sozialen Lebens bedingt keineswegs eine Konstanz, eine absolute Unveränderlichkeit der materiellen Phänomene, im Gegenteile, dieselben wechseln, sie verändern sich, sie erleiden gleich Pflanzen verschiedene Metamorphosen, bis sie untergehen. Aber allen diesen sozialen Phänomenen ist eines gemeinsam, nämlich ihre wirtschaftliche Natur, sie bilden in ihrer Gesamtheit gleichsam die soziale Materie. Die Gesetzmäßigkeit dieser Geschichtsauffassung ist also darin zu finden, daß ein den wirtschaftlichen Vorgängen durchaus gemeinsames Grundelement angenommen wird und daß zweitens alle anderen sozialen Geschehnisse den materiellen Bedingungen in ihrer wechselnden Bewegung und somit zuletzt der sozialen Materie untergeordnet werden. Dieser Theorie zufolge sind alle anderen welthistorischen Faktoren der Ökonomie unterthan. Das wirtschaftliche Leben ist also das absolut Primäre. Nicht allein das Recht und die Politik, sondern auch Wissenschaft und Kunst, Philosophie, die ganze Kultur überhaupt sind abhängig von den wirtschaftlichen Urphänomenen. Die Selbstherrlichkeit des geistigen Lebens ist nur eine scheinbare. Der titanenhafte, überschäumende Willensmensch ist ebenso wie der zartbesaitete, mimosenhafte Künstler nichts anderes wie ein Produkt der materiellen Bedingungen. Die großen Volksbewegungen, die leidenschaftlichen Parteiungen unter den Menschen sind nichts wie ein Ausfluß wirtschaftlichen Lebens. Philosophie und Litteratur, Jurisprudenz und Religion, Malerei, Musik und Politik, kurzum alle Erscheinungen des gesamten geistigen Lebens, sie sind nur Reflexe, Ideologien der Volkswirtschaft. Die Kultur und das intellektuelle Dasein, sie werden bedingt durch den Produktionsprozess und nur durch ihn, ebenso wie er selbst nur bedingt wird durch die Veränderungen der Technik. Die Evolution der Technik hat die Veränderungen der Produktion, die Umwandlung der wirtschaftlichen Grundlagen und somit im letzten
Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung.
43
Grunde eigentlich alle geschichtliehen Veränderungen überhaupt zur Folge. Von der primitiven Technik des ersten, das Feuer erfindenden Menschen durch die homerische Kultur hindurch und über die Zwingburgen des Mittelalters hinüber bis zur großartigen komplizierten Technik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich die maschinell-technische Entwickelung langsam und allmählich durch, alle Geschichte mit sich, alle Kultur nach sich schleppend. Ein Beispiel mag diese Abhängigkeit der Ideologien vom ökonomischen Fundamente deutlich machen. Die Gleichheitsforderung, welche im achtzehnten und noch in unserem Jahrhundert eine so große Rolle spielt, wird mit all ihren rein politischen und philosophischen Begleiterscheinungen als eine Reflexbewegung materieller Urphänomene in folgender Weise aufgefaßt: Die Vorstellung, daß alle Menschen als Menschen etwas Gemeinsames haben, und soweit dies Gemeinsame reicht, auch gleich sind, ist selbstverständlich uralt. Aber hiervon ganz verschieden ist die moderne Gleichheitsforderung, welche aus jener allgemeinen Gemeinsamkeit auch den Anspruch auf gleiche politische, bezw. soziale Geltung aller Menschen ableitet. Es mußten Jahrtausende vergehen und eine ungeheuere ökonomische Umwälzung mußte vor sich gehen, bis man am Ende des 18. Jahrhunderts eine Gleichberechtigung als etwas Selbstverständliches, j a etwas Natürliches aufstellen konnte. Bei den Griechen und Römern wurde die Ungleichheit der Menschen als etwas Selbstverständliches postuliert. „Daß Griechen und Barbaren, Freie und Sklaven, Staatsbürger und Schutzverwandte einen Anspruch auf gleiche politische Geltung haben sollten, wäre den Alten notwendig verrückt vorgekommen." Solange die ökonomische Grundlage, die Sklaverei, bestand, konnten solche Gleichheitsforderungen auch theoretisch überhaupt nicht aufkommen. Das Christentum kannte nur eine Gleichheit aller Menschen: die der gleichen Erbsündhaftigkeit. Sehr bald aber machte die Festsetzung des Gegensatzes von Priestern und Laien auch diesem Ansätze von Gleichheit ein Ende. Westeuropa wurde von den Germanen überflutet und hierdurch für Jahrhunderte alle Gleichheitsvorstellungen durch den allmählichen Aufbau einer verwickelten sozialen und politischen Rangordnung beseitigt. Bald indessen sollte das feudale Mittelalter einen neuen Stand aus seinem Schöße gebären, der berufeil sein sollte, einst Träger der modernen Gleichheitsforderung zu werden. Das Bürgertum, ursprünglich selbst ein feudaler Stand, wurde durch die wirtschaftliche Entwickelung der
Zweites Kapitel.
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Städte, durch die Ausbreitung des europäischen Handels, durch das amerikanische Gold und Silber zu einer besonderen Klasse herangezüchtet. Aber dieser gewaltige Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft bewirkte keine entsprechende Änderung der politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde. Wo aber auch die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, dort setzte ihnen die politische Ordnung Lokalvorrechte und Zunftfesseln, Differentialzölle und Ausnahmsgesetze aller Art entgegen. Dieser Zustand der Dinge war unhaltbar, er mußte sich ändern, und er wurde auch durch das Bürgertum geändert. Das Bürgertum mußte verlaugen, daß die feudalen Bevorzugungen, die Steuerfreiheit des Adels u. s. w. fallen. Hiermit aber wurde die formale Gleichberechtigung überall vorbereitet, und da sie zu einer Zeit erfolgte, in welcher fast alle westeuropäischen Staaten im großen und ganzen sich auf derselben ökonomischen Grundlage befanden, so mußten diese Gleichheitsforderungen einen allgemeinen Charakter annehmen, sie wurden proklamiert als M e n s c h e n r e c h t e . Es ist nun bezeichnend für den spezifisch bürgerlichen Charakter dieser Menschenrechte, daß die amerikanische Verfassung, die erste, welche diese Rechte anerkannt, im selben Atem die in Amerika bestehende Sklaverei der Farbigen sanktioniert. „So werden die Klassenvorrechte geächtet, die Rassenvorrechte geheiligt." 1 In ähnlicher Weise spiegeln überall die politischen und philosophischen Forderungen die wirtschaftliche Geschichte der Menschheit wieder. Wir hahen gesehen, wie die Technik also der eigentliche Träger aller Geschichte ist. Von einem gewissen Punkte der Entwickelung an spielen in der Veränderung der wirtschaftlichen Struktur auch die Klassenkämpfe eine überaus große Rolle. Die Technik, die auf ihr fußende Produktion und hiermit das ganze volkswirtschaftliche Leben dient der Entwickelung einer Klasse. Indem sich diese der Technik einer Periode bemächtigt und hiermit der Produktionsbedingungen, beherrscht sie dieselbe, füllt sie ganz aus und hat durchgängig, auf der Höhe ihrer Entwickelung wenigstens, den ausschlaggebenden Einfluß, das Recht auf die Politik und die Philosophie, kurzum auf die gesamte Ideologie einer Zeit. Aus dem Schöße aber der alten herrschenden Klasse entwickelt sich eine neue, welche 1
Vgl. Herrn Ettg-bn Düheiit&'s Umwälzung der Wissenschaft von Fbiedeich Engels. 3 . Aufl. Stuttgart 1 8 9 4 . S . 1 0 0 — 1 0 5 .
Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung.
45
durch die Veränderungen des Produktionsprozesses selbst emporgeschnellt wird. Diese neue, durch die technische Entfaltung emporgetriebene und aufsteigende Klasse erringt zuerst alle ökonomische Macht, dann in langsamer und oft mühseliger Entwickelung die politische, sie wird zuletzt Herrin aller geistigen Kräfte, in allen Reflexbewegungen des wirtschaftlichen Lebens offenbart sich immer die ganze Macht der herrschenden Klasse. Somit ist die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen. So haben hintereinander nach Aufhören des primitiven Kommunismus die antiken Sklavenbesitzer, dann die Feudalen und zuletzt die Bourgeoisie geherrscht. In früheren Perioden der Geschichte haben wir überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, so im alten Rom Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven, im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene. Aber wenn auch die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Klasse die Standesgliederung aufgehoben, so hat sie darum dennoch nicht im geringsten die Klassengegensätze beseitigt. Die Bourgeoisie hat diese Klassengegensätze nur vereinfacht; die ganze Gesellschaft unserer Periode spaltet sich immer mehr in zwei große feindliche Lager: Bourgeoisie und Proletariat. Aus der Pfahlbürgerschaft des Mittelalters entwickelte sich die Bourgeoisie. Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas, der ostindische Markt, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel gaben dem Handel, der Schiffahrt und der Industrie einen nie geahnten Aufschwung. Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf aus, die Manufaktur trat an ihre Stelle und die Zünfte wurden ihrerseits durch einen neuen industriellen Mittelstand verdrängt. Aber die Entwickelung ging bald noch weiter. Der Bedarf wuchs riesenhaft empor, immer neue Märkte entstanden, der Dampf und die Maschinerien revolutionierten die industrielle Produktion und an die Stelle der Manufaktur trat die moderne Großindustrie — der Weltmarkt enstand. „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte", ruft MAKX 1 aus, eine höchst revolutionäre Rolle gespielt!" „Die Bourgeoisie hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen 1
Vgl. Das kommunistische Manifest, 4. deutsche Aufl., mit einem neuen Vorwort von FBIEDBICH ENGEIS. London 1890. S. 11 u. folg.
46
Zweites Kapitel.
Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose «baare Zahlung». Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, dürre Ausbeutung gesetzt." „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Thätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt." „Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührendsentimalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt." „Die Bourgeosie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Thätigkeit der Menschen zu stände bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt, als Völkerwanderungen und Kreuzzüge." Die Bourgeoisie kann nach der Lehre des ökonomischen Materialismus nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente und Produktionsverhältnisse zu revolutionieren. Hiermit aber verändert sie alle gesellschaftlichen Beziehungen überhaupt. Alle diese Aenderungen kommen aber nur derjenigen Klasse zu gute, welche die Bourgeoisie abzulösen berufen ist. Das moderne Proletariat wird Von selbst, gleichsam getrieben durch die mechanische Entwickelung der wirtschaftlichen Dinge, allmählich zur Herrin der Lage. Sie wird in allmählicher, aber sicherer Entwickelung die Produktionsinstrumente und Produktionsbedingungen an sich reißen, sie wird sich zum Herrn aller Wirtschaft, aller Politik und aller Ideologien überhaupt machen. Vor allem aber wird diese neue Klasse, der allein die Zukunft gehört, den Staat als solchen überhaupt überwinden. Früher hatte der Staat mit Recht eine große Rolle gespielt,
Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung.
47
er war gleichsam der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft. Durch ihn wurde, nach außenhin sichtbar, der ganze ökonomischpolitische Organismus zusammengehalten. Im Altertum war er der Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie. Wenn aber das Proletariat an Stelle der Bourgeoisie die herrschende Klasse sein wird, dann wird er nur der Repräsentant der gesamten Gesellschaft sein und hiermit überflüssig werden. „Der erste Akt", ruft E N G E L S aus, „worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt — die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft — ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht «abgeschafft», er s t i r b t ab." — So muß man sich nach dem soziologischen Marxismus die Klassenkämpfe in der Geschichte vorstellen. Im Gegensatze zu den extremen Marxisten behauptet nun M A K X oder gar E N G E L S keineswegs, daß die ideellen Faktoren nicht auch eine gewisse Macht ausüben können, aber da ihr Ursprung ein ökonomischer ist, da diese ideellen Faktoren in der letzten Zeit verknüpft sind mit dem Weltauf'stieg einer bestimmten Klasse, so ist ihrer selbständigen Wirksamkeit bis zur definitiven Herrschaft des Proletariats eine sehr enge Grenze gezogen. Wie wenig erstrebenswert und wünschenswert eigentlich auch der rein ökonomische Materialismus an sich sein mag, bis zu den glorreichen Siegen des weltwirkenden Proletariats kann nur nach streng kausalem Gesetze ein solches Gebundensein aller Ideologien an den Produktionsmechanismus vor sich gehen. Da mit dem Siege des Proletariats aber keine neue Klasse mehr wird aufkommen können, so wird dies Gebundensein der ideellen Faktoren an das wirtschaftliche Fundament nach einer Seite hin einer durchgreifenden Veränderung unterliegen. Noch immer wird die Technik ausschlaggebend sein, aber da sie der gesamten Menschheit und nicht in erster Linie einer Klasse dienen wird, so werden auch die ideellen Faktoren den Klassencharakter verlieren und dadurch eine größere Selbständigkeit bekommen. Diese Selbständigkeit der Ideologien wird die letzte, erst in später Zeit erfolgende Frucht der proletarischen Siege sein. Diese Siege müssen kommen, der Gang der Entwickelung kann nicht auf-
Drittes Kapitel.
48
gehalten werden, ist er doch durch eherne Gesetze bestimmt. Aber um ihn rascher herbeizuführen, um dem Proletariat sowohl als der Bourgeoisie viel Mühsal zu ersparen, bedarf es der Hilfe des politischen Eingriffes. „Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte", sagt ENGELS1 wörtlich, „wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie einmal erkannt, ihre Thätigkeit, ihre Richtung, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserem Willen zu unterwerfen, vermittelst ihrer unsere Zwecke zu erreichen. Und ganz besonders gilt dies von den heutigen gewaltigen Produktivkräften." Man sieht, auch diese neue soziale Religion erfordert gleichsam die Werkthätigkeit ihrer Anhänger. Die Sozialisten sind nach der materialistischen Geschichtsauffassung nicht die Herbeifiihrer, sondern nur die Geburtshelfer einer neuen Periode.
Drittes Kapitel.
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus. Viele Anhänger sowohl als Gegner des Marxismus haben es sich bis auf die jüngste Zeit mit der Beantwortung der Frage, wie es denn eigentlich mit den philosophischen Grundlagen der Lehre bestellt sei, sehr leicht gemacht. Die Anhänger meinten, MARX sei zwar ein Hegelianer, er habe sich aber in langsamer und allmählicher Entwickelung von den schädlichen Einflüssen HEGEL'scher Philosophie zu emanzipieren gewußt. Die Gegner des Systems aber behaupten einfach, er sei ein Althegelianer und was man auch zu seiner Ökonomie sagen möge, seine Philosophie leide an allen Gebrechen HEGEL'scher Metaphysik. Ausschließlich unter diesem Gesichtspunkte beurteilt und wertet z. B. DÜHRING den gesamten Marxismus. Er spricht von einer gesteigerten Verzerrung HEGEL'scher Undialektik, von einer verhegelten Vorstellungsform und sagt u. a. wörtlich: 2 „Mit dem Absterben der letzten Reste der hegeldialektischen Thor1
Vgl. ENGEIS, a. a. O. S. 300 u. 301. Vgl. Dr. EUGEN DITHRING, Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus. 4. vermehrte Aufl. Leipzig 1900. S. 502. 8
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
49
heilen muß dieses Mittel der Dupierung auch in den speziellen Anwendungen radikal sein sollender Art, seinen trügerischen Einfluß verlieren." In der jüngsten Zeit beginnt man, diesen Standpunkt immer mehr und mehr aufzugeben. Man ist sich allmählich der Bedeutung der philosophischen Grundlagen für die Beurteilung des gesamten Systems bewußt geworden. Zwei Probleme müssen wir hier, wenn mich nicht alles täuscht, streng auseinanderhalten. Es handelt sich zuerst darum, den Ursprung marxischer Philosophie genau zu bestimmen, den Einflüssen nachzuspüren, die andere große Denker, auf M A R X , ausgeübt haben. Getrennt davon ist das Problem zu behandeln, worin eigentlich das Wesentliche, Bleibende, Spezifische marxischer Philosophie bestehe, wenn auch, wie schon berührt wurde, die eigentliche Philosophie zum Gegenstande besonderer Behandlung von Seite des M A R X nicht gemacht worden ist. Ein Neomarxist BERNSTEIN'scher Observanz, der in vielen Dingen allerdings weitgehende Konzessionen macht, hat jüngst in der Vorrede seiner letzten Publikation behauptet, daß M A R X ein ebenso großer, wenn nicht größerer Philosoph als Ökonom gewesen ist.1 Hier scheint die einstige Unterschätzung marxischer Philosophie bei Freund und Feind in das gerade Gegenteil, einer übertriebenen Verherrlichung philosophischer Gedanken umgeschlagen zu haben. M A R X ist sicherlich im rein Philosophischen ein scharfer Denker gewesen, aber hierin liegt keineswegs seine eigentliche Größe. Wenn es auch falsch ist, mit M A S A R Y K zu behaupten, der Marxismus sei gleichbedeutend mit philosophischem Dilettantismus, so wird es sich doch andererseits bald herausstellen, daß gerade in der Philosophie die Schwäche und nicht die Stärke von K A R L M A R X zu suchen sei. Wohlgemerkt, wir sprechen hier zunächst von reiner Philosophie, von der Erklärung allgemeiner Prinzipien, der Bewußtheit und der Behutsamkeit, mit welcher man allgemein methodisch denkt, der Vermeidung falscher Konstruktionen und Generalisationen, der allgemeinen Stellung zum Erkenntnisproblem, der Richtigkeit und der Größe des gesamten Weltbildes. Es soll hier nicht von angewandter Philosophie die Rede sein, nicht die Soziologie kommt in erster Linie in Betracht, wenn man von Philosophie spricht. Nun ist gerade die Lehre, wo M A R X sich als systematischer Denker am meisten offenbart, seine bedeut1
Vgl. Der historische Materialismus, Darstellung und Kritik der marxistischen Weltanschauung, von Dr. LUDWIG WOLTMANN. Düsseldorf 1900. S. 5. WBISBNOKDK , Marxismus.
4
50
Drittes Kapitel.
same, wenn auch von Grund aus falsche, materialistische Geschichtsauffassung und in ihr zeigt er sich uns doch nur als Soziologe, als Geschichtsphilosoph, als angewandter Philosoph, nicht als reiner Denker. Es ist bezeichnend, daß weitaus die meisten großen Philosophen sich nicht in der Ethik, sondern in der Erkenntniskritik, in der theoretischen Philosophie ausgezeichnet haben, KANT'S Kritik der reinen Vernunft wird mit Recht viel mehr geschätzt, wie seine Kritik der praktischen Vernunft. Die ethischen Lehrsätze von D A V I D HUME, CARTESIUS, LOCKE sind nur dem Fachphilosophen bekannt, nicht so aber ihre theoretische Philosophie. Selbst SPINOZA'S Ethik ist keine reine moralphilosophische Schrift, sondern eine großartige theoretische Philosophie, welche in praktische Betrachtungen ausmündet. Nun ist aber die Philosophie der Geschichte noch in ganz anderem Maße als die Ethik entfernt von der spezifischen Behandlungsweise rein theoretischer Philosopheme. Die Ethik ist schon nicht mehr angewandte Philosophie, die Philosophie der Geschichte ist es durchwegs; schon bei HEGEL trug sie diesen Charakter. Ist es schon nicht gerade der beste Maßstab, die spezifisch philosophische Begabung eines Denkers hauptsächlich nach seiner Ethik zu beurteilen, so wird die Wertung zu einer total verkehrten, wenn man bei der Beurteilung eines Philosophen das rein Soziologische in den Vordergrund stellt. WOLTMANN hätte um so weniger sich zu diesem Urteile bei all seiner begreiflichen Verehrung für M A R X hinreißen lassen, als er selbst im ersten Kapitel des zweiten Teiles seiner Arbeit (S. 139—157) mit anerkennenswerter Tüchtigkeit zur Beurteilung der eigentlichen Philosophie von M A R X die „heilige Familie" und ähnliche Schriften heranzieht, die vor der eigentlichen Reifezeit von K A R L M A R X fallen. Mit dem kommunistischen Manifeste (1848) stehen wir erst im Beginne des reiferen Marxismus. Selbst im „Elend der Philosophie" (1847) ist der Hauptgedanke des marxistischen Systems die materialistische Geschichtsauffassung und wird dort das spezifisch Marxische mehr angedeutet, als scharf und prägnant entwickelt. Es ist also sicherlich mehr ein Symptom bloßer wissenschaftlicher Pietät, M A R X zum Philosophen ersten Ranges stempeln zu wollen. Seltsam berührt auch die Thatsache, daß ein Anhänger von M A R X gerade in unseren Tagen, wo man beginnt, die Einseitigkeiten und Fehler marxischer Ökonomie erst zu erkennen, den Ausspruch macht, M A R X wäre ein größerer Philosoph als Ökonom gewesen. Die Frage nach dem philosophischen Ursprünge des Marxismus
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
51
ist in der jüngsten Marxlitteratur genügend geklärt worden. Schriften
Die
v o n BARTH: „ D i e G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e HEGEL'S u n d
Hegelianer"
(1890),
WERYHO: „MARX
als
Philosoph" ( 1 8 9 4 )
der und
der ganz ausgezeichnete Aufsatz von SCHITLOWSKY: „Beiträge zur Geschichte und Kritik des Marxismus", Deutsche Worte ( 1 8 9 5 ) 1 haben zu diesem Klärungsprozesse wesentlich beigetragen. In seiner umfassenden Schrift hat MASARYK ausführlich die Denker, welche auf MARX eingewirkt haben, behandelt. E r weist zunächst nach, wie FEUERBACH, der auf MARX einen nicht genug anerkannten Einfluß ausgeübt hat, vom Panteismus Schritt für Schritt zum Materialismus übergegangen
sei
(vgl.
MASARYK
a.
a. O . S .
22).
FEUERBACH'S
Erklärung, daß alle Religion Anthropomorphismus sei, habe stark auf die Philosophie von MARX eingewirkt. „Die Theorie des Anthropomorphismus", sagt MASARYK wörtlich (S. 28), „ist für MARX sehr fruchtbar geworden." Aber auch andere Elemente FEUERBAOH'scher Philosophie wirken auf den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus
ein.
ROUSSEAU folgend,
hat
FEUERBACH n ä m l i c h die
Triebe
nach Glückseligkeit und Natürlichkeit zum Hauptgrunde alles Handelns gemacht. Hierin, ebenso wie in der Betonung des Umstandes, daß der Mensch und seine Interessen zum Angelpunkte aller Philosophie erhoben werden müssen, sind MARX und ENGELS ebenfalls FEUERBACH gefolgt.
So
ist
es n a c h MASARYK
nicht
HEGEL
allein, welcher den wissenschaftlichen Sozialismus befruchtet hat, sondern auch einige spezifische Ausgestaltungen des Jung-Hegelianismus und besonders das Denken FEUERBAGH'S, welches hier bestimmend und s i c h t b a r
eingewirkt hat.
HEGEL h a t
a u f MARX natürlich den
größten Einfluß ausgeübt, aber man dürfe auch diesen Einfluß nicht als allein ausschlaggebend ansehen. Mehr noch als die eigentlichen Prinzipien habe die Annahme der HEGEL'schen Methode einen Einfluß auf den wissenschaftlichen Sozialismus ausgeübt. „In der Wissen-
1 Obwohl sich mehr mit anderen Problemen befassend, hat in ausgezeichneter Weise F B A M Z M A B S C H N E R in zwei in der Zeitschrift für immanente Philosophie veröffentlichten Aufsätzen die Einflüsse verschiedener Denker auf M A R X berührt (vgl. Zeitschrift für immanente Philosophie, unter Mitwirkung von W I L H E L M S C H U P P E und R I C H A B D V. S C H Ü B E B T - S O E D E B N , herausgegeben von M. R . K A U E F M A N N , I . Bd., Berlin, Salinger 9 6 , „Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des historischen Materialismus", von F B A N Z M A B S C H N E B , S. 1 2 8 — 1 5 2 , 1 9 7 — 2 1 4 ) . Zu berücksichtigen ist auch bei diesem Punkte die Schrift „ M A B X " von A D O L F v. W E N K S T E R N , besonders S. 2 0 4 — 2 5 3 . Heranzuziehen wäre auch die kleine Schrift von H U B E B „Die Philosophie der Sozialdemokratie".
i*
52
Drittes Kapitel.
Schaft", sagt MASARYK wörtlich (S. 49), „ist die Methode wichtig, j a beinahe alles." Auch der Positivismus und sein Begründer AUGUSTE COMTE habe, wenn auch mehr indirekt, auf den Marxismus eine bedeutende Wirkung ausgeübt. So weist die Definition der Ideologie im Marxismus auf COMTE hin (vgl. S. 71) und der Ausdruck Fetischismus, der im „Kapital" öfters vorkommt, sei wohl direkt COMTE entlehnt (S. 3 3 ) .
Ich glaube nun, daß im großen und ganzen die Frage, welchen geistigen Einflüssen MARX unterlegen ist, durch die jüngste Litteratur erledigt wurde. Über den Ursprung marxischer Philosophie sind wir genügend unterrichtet. Ich erblicke insbesondere in der Beziehung des Marxismus zum Hegelianismus und Neuhegelianismus kein Problem mehr. Viel schwieriger ist es, die andere Aufgabe zu lösen, die Frage nach dem spezifischen Wesen der bereits gewordenen und vollendeten Philosophie zu beantworten. Ich denke, es ist am besten, ohne eine größere methodologische Einleitung gleich in medias res zu gehen. Die Frage, ob und inwieweit die materialistische Geschichtsauffassung, diese angewandte Philosophie von MARX, mit dem gewöhnlichen philosophischen Materialismus zusammenhängt, wird uns wohl am besten einen tieferen Einblick in das Wesen marxischer Philosophie thun lassen. Man kann in dieser Beziehung aus der marxistischen Litteratur keineswegs eine klare, feststehende und eindeutige Beantwortung des Problems erhalten. E s ist selbstverständlich, daß der ökonomische Materialismus mit dem ethischen nicht zusammenfällt. Wenigstens jene rohe Spielart, die F . A. LANGE meinte, die in einem ilachen und unrichtigen Genußstandpunkte ausmündet, hat mit unserer Geschichtsphilosophie nichts gemein. Nur aus schiefen Darstellungen der bisherigen Marxkritiker, sowie nach oberflächlicher Einsicht in die marxistische Litteratur könnte man zu dieser Ansicht gelangen. Nur wer die Auswüchse der Lehre für die Lehre selbst hält, glaubt an die absolute Identität unserer Geschichtsauffassung mit dem ethischen Materialismus. Aber diese Abart des Materialismus ist auch nicht gemeint. E s handelt sich darum, ob der Marxismus hierin mit dem gewöhnlichen philosophischen Materialismus eines BÜCHER und MOLESCHOTT nicht gewisse gemeinsame, rein theoretische Grundprinzipien, in erster Linie die Abweichung und Entfernung vom Fundamentalsatze der modernen Erkenntnistheorie, etwa aufweist. Das ist eine entscheidende, ich möchte fast sagen bange Frage für die Gesamtlehre, die an den Namen MARX geknüpft ist.
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
53
Die Marxisten selbst sind in dieser Beziehung in drei Parteien gespalten, die natürlich in der gesamten Auffassung der materialistischen Geschichtsphilosophie einen stark gemeinsamen Zug haben. Es fehlt nicht an einem rechten und linken Flügel, sogar eine vermittelnde Gruppe ist vorhanden. Auf dem rechten Flügel befindet sich hauptsächlich J. S T E R N , der fast so gern wie Professor SOMBART, wie SCHMIDT und B E R N S T E I N M A R X erkenntnistheoretisch umkrämpeln möchte, nur daß er von der Behauptung ausgeht, SPINOZA und nicht K A N T sei für die Neomarxisten, die so' gerne den ökonomischen Materialismus auch psychologisch wenden möchten, der richtige Manu, an den man sich anlehnen müßte. In seiner „Philosophie SPINOZA'S" 1 führt er aus, daß ebenso wie D A R W I N für die Geschichte der Organismen, H E G E L für die Geschichte des Menschengeschlechtes das Gesetz der kontinuierlichen Entwickelung von geringerer zu größerer Vollkommenheit aufgestellt habe. Beide Theorien fußen nun auf dem Spinozismus. SPINOZA hat zuerst die Begriffe von Zufall und Willkür aus der philosophischen Betrachtung der Dinge ausgeschlossen. Ohne spinozistische Prämissen kein HEGEL'scher Begriff der Entwickelung. Aber auf diesen ÜEGEL'schen Begriff der Entwickelung hätte M A R X seine ganze materialistische Geschichtstheorie aufgebaut. Somit konnte sich auch der Marxismus nur auf den Schultern SPINOZA'S zur welthistorischen Größe erheben. Wie man daraus sieht, sind wir hier weit entfernt, von der Identität des philosophischen mit dem ökonomischen Materialismus. J a , noch mehr als dies, S T E R N geht sogar in einer anderen Schrift so weit, sich gegen diese Identität förmlich zu verwahren. „Aber nicht bloß mit dem moralischen Materialismus", sagt er, 2 „auch mit dem »philosophischen Materialismus« hat der historische nicht das geringste zu schaffen. Nicht das geringste, wiederhole ich, obgleich beide sogar von hervorragenden sozialistischen Theoretikern falschlich in Zusammenhang gebracht werden. Der historische Materialismus betrifft lediglich die Entwickelungsgesetze des Menschengeschlechtes nach ihrer materiellen Seite. Mit dem Universum, mit den Problemen des Seins, Werdens und Vergehens, mit der Erklärung der sogenannten seelischen Phänomene (Empfindung, Fühlen, Denken, Wollen) hat er
1
Vgl. „Philosophie SPINOZA'S" von J. STJSBN. Stuttgart 1891. S. 172 u. f. * Vgl. „Der historische Materialismus und die Theorie des Mehrwerts" von J. STEBN. Sammlung gesellschafts-wissenschaftlicher Aufsätze. 6. Heft. München 1894. S. 17, 18,
Drittes Kapitel.
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nichts zu thun; ob man sie materialistisch, monistisch, transzendental oder wie sonst begreifen will, ist für den historischen Materialismus irrelevant, ebenso wie die verschiedeneu medizinischen Eine Verquickung erschwerenden
Richtungen.
beider fuhrt zu allerlei mitunter die Agitation
Konfusionen."
Richtig ist in
diesen
Ausfährungen
von J. STEKN nur, daß die Betrachtung der Geschichte werden kann von der theoretischen Philosophie.
getrennt
Man könnte also
schon, wenn man wollte, bis zu einem gewissen Punkte die materialistische Geschichtsauffassung so umformen, daß sie unmaterialistisch und unmetaphysisch wäre, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn schließlich könnte auch der so umgeformte ökonomische Materialismus nicht den Grundsatz entbehren, daß es nicht das Bewußtsein des Menschen sei, welches das gesellschaftliche Sein bestimme, sondern umgekehrt.
Denn ohne dieses Prinzip hängt j a die Gesetzmäßigkeit
der wirtschaftlichen Phänomene eigentlich in der Luft. Dieses Grundprinzip aber ist j a schon anti-erkenntnistheoretisch, metaphysisch, ja sogar materialistisch.
Und schließlich kommt es j a nicht darauf an,
was aus einer Lehre
werden
könnte,
sondern was sie ist.
Der
ökonomische Materialismus, ohne die Umkrämpelung der Neomarxisten, ist nun einmal viel abhängiger, viel gebundener an gewisse Grundsätze der theoretischen Philosophie, als wir früher mit STERN angenommen haben.
W a s aber den Marxismus als letztes Glied in der
Kette spinozistischer Philosophie betrifft, so braucht man darüber nicht viele Worte zu verlieren.
So viel und so wenig wie SPINOZA
haben auf HEGEL und MARX schließlich gewirkt.
alle großen
Philosophen
In einer Beziehung nur sind HESEL und MARX SPINOZA
geistesverwandt:
sie sind
alle drei
trotz der Versicherungen
Herrn J. STERN a n t i - e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e
Naturen.
des Trotz
des großen Blickes für die elementare Gewalt der Psychologie, worin er
HEGEL und MARX
weniger
SO sehr
Erkenntnistheoretiker
LOCKE ganz zu schweigen.
überlegen
wie
war, ist SPINOZA
DESCARTES
und
HOBBES,
noch
von
Ja, man kann wohl in gewissem Sinne
sagen, daß für diesen Philosophen, der aus seinen intellektualisierten Erlebnissen
heraus
allgemeine
psychologische Leitsätze geschaffen,
die noch heute im modernen Bewußtsein so sehr anklingen, wie dies die Romane das
des konstruierenden
erkenntnistheoretische
einmal existiert.
Problem
Psychologen BOURGET
beweisen,
in seiner ganzen Größe
nicht
F ü r SPINOZA handelte es sich hauptsächlich darum,
den umfassendsten abstraktesten Begriff zu finden, einen Begriff, der alles umspannt, dem nichts zu widersprechen scheint, gleichsam den
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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Hauptbegriff. Wir haben es bei SPINOZA nicht mit dem „Ding an sich", sondern mit dem „Begriff an sich" zu thun. Als Begriff an sich, als formale allgemeinste Verknüpfung aller Beziehungen zwischen Dingen, die existieren und existieren können, ist die Substanz, diese eine und ewige Substanz, aufzufassen. Was soll einem solchen philosophischen System eine Erkenntnistheorie, was der ewigen Substanz eine Analyse des unmittelbar Gegebenen? Der Substanzbegriff bedeutet ebensoviel als Unmittelbargegebensein formalster allgemeinster Verknüpfungsreihen. Wie soll man da weiter forschen? Man sehe nur, wie SPINOZA die Erkenntnis behandelt, wie ihm das Wesentliche daran sind die schließlich rein formalen Bestimmungen des Übereinstimmenden, des Verschiedenen und des Gegensätzlichen. 1 Es wäre abgeschmackt, dem bewunderswürdigen SPINOZA das vorzuwerfen, so abgeschmackt, wie wenn man etwa G O E T H E vorwerfen würde, keine SHAKESPEAKE'schen Dramen geschrieben zu haben. Aber es muß gesagt, j a ausdrücklich betont werden, daß, wenn man schon einmal den modernen entwickelungshistorischen Sozialismus mit SPINOZA in Beziehung bringt, hier nichts Gemeinsames vorhanden ist, als die geringe Beziehung beider Lehren zum erkenntnistheoretischen Grundproblem. Wie S T E R N den rechten, so bilden MEHRING, PLECHANOW und bis zu einem gewissen Punkte K A U T S K Y den linken Flügel. Ich will hier die Stellungnahme dieser Gruppe zu unserem Problem an den Ausfuhrungen PLECHANOW'S zu illustrieren suchen. E s ist dies der Schriftsteller, welcher sich am radikalsten geberdet. Dies verkündet schon gleich die Vorrede. „Vielleicht findet man", sagt er wörtlich, 2 „daß ich nicht eingehend genug von der Erkenntnistheorie der hier betrachteten Denker gehandelt habe. Darauf muß ich erwidern, daß ich nichts unterließ, um ihre Anschauungen über diesen Punkt genau wiederzugeben. D a ich aber nicht zu den Anhängern der erkenntnistheoretischen Scholastik zähle, die gegenwärtig so in der Mode ist, so lag es nicht in meiner Absicht, eine durchaus sekundäre Frage ausführlich zu behandeln." PLECHANOW setzt M A R X in Beziehung zu den beiden großen französischen Materialisten des vorigen Jahrhunderts, zu HOLBACH und H E L V E T I U S . Die wenigen
1
Siehe SPINOZA, „Ethik", RECLAMJsche Ausgabe. II. Teil. 29. Lehrsatz,
Anmerkung. 1
Vgl. GEORÖ PLBCHANOW „ B e i t r ä g e zur Geschichte des
Stuttgart 1896. S. VIII.
Materialismus".
Drittes Kapitel.
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erkenntnistheoretischen Bemerkungen,
die er seinem Programm ge-
mäß als Einleitung zur Darstellung des HoLBACH'schen Materialismus giebt (S. 1 — 8 ) ,
sind so ziemlich das Seichteste,
dieser Beziehung gelesen habe.
was ich in
Man reibt sich die Augen und ist
erstaunt, daß ein so gescheiter und belesener Mensch so etwas schreiben konnte.
Sehr richtig ist es hingegen, wenn PLECHANOW sagt (S. 9):
„Die unbestritten schwache Seite des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts wie überhaupt jedes Materialismus vor MARX besteht in der fast vollständigen Abwesenheit jeder Idee von Evolution." Doch kann ich darauf, ebenso wie auf den interessanten geschichtsphilosophischen, bisher von den Historikern der Philosophie vernachlässigten
Gedankengang HOLBACH'S nicht
eingehen.
Am Schlüsse
seiner Betrachtung über HOLBACH resümiert der Verfasser die Fehler des Materialismus vor MARX folgendermaßen: 1. Der französische Materialismus des vorigen Jahrhunderts war metaphysisch, weil er jede Idee von Evolution ausschloß. 2. Der frühere Materialismus war zu sehr naturwissenschaftlich, zu wenig sozial. Diese beiden Grundgebrechen wurden durch den dialektischen Materialismus des 19. Jahrhunderts, seitigt (vgl. S. 6 9 u. 70).
durch MARX, vollkommen be-
E s ist sehr interessant,
wie PLECHANOW
in seiner Abhandlung über MARX den philosophischen Materialisten des 19. Jahrhunderts
und dem Historiker ÜBERWEG, der halb zu
ihnen gehörte, vorwirft, daß sie den dialektischen Materialismus gar nicht kennen
(vgl. insbesondere S. 232).
Das Buch kulminiert in
rein praktischen Anwendungen des Materialismus.
Auch hier spielt
der Unterschied zwischen dem dialektischen und dem philosophischen Materialismus eine entscheidende Rolle. rialisten
sahen",
ruft
„wie die Notwendigkeit die Menschen Materialismus PLECHANOW
zeigt, wie sie dieselben ist
Materialist,
wie STERN SPINOZA.
„Die metaphysischen Mate-
er aus (vgl. PLECHANOW a. a. O. S. 258),
Er
er
verehrt
glaubt,
unterjocht,
der
dialektische Man sieht,
befreien wird." HOLBACH
und
HELVETIUS,
die Erkenntnistheorie
entbehren
er selbst weiß nicht wie.
W a s hat
uns H e r r PLECHANOW in seinem ganzen Buche bewiesen?
Daß das
zu können; sie spottet seiner, 18. Jahrhundert
den Begriff der Evolution
nicht kannte.
Das ist
als historisches Detailwerk sehr hübsch, aber als Grundtendenz eines Buches über den gesamten Materialismus doch wohl zu mager und vor allem,
das riecht abscheulich nach Trivialität.
wirklich PLECHANOW nichts bewiesen,
Aber sonst hat
sondern nur Meinungen von
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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Autoren aneinandergereiht und dies sogar, da er ein tüchtiger Gelehrter ist, im einzelnen sehr hübsch. Dies kommt davon, wenn man die moderne Erkenntnistheorie als Modescholastik erklärt und nichts von ihr wissen will. AVer über Philosophie schreiben will, steht dann, selbst bei einer größeren Begabung, als Herr P L E C H A N O W verrät, ratlos da. Alle Thüren und Auswege zu den großen Problemen sind ihm versperrt. Was soll man zu einer Geschichte des Materialismus sagen, die den Materialismus als theoretisch-philosophisches Grundproblem einfach als gegeben annimmt? J a , worin liegt dann der Unterschied zwischen P L E C H A N O W und B Ü C H N E K ? Wirklich nur in historischen, nur sozialen Kenntnissen des Herrn PLECHANOW. Denn den Evolutionsbegriff kennt auch L U D W I G BÜCHNER, j a , er rühmt sich sogar, in der allgemeinen primitiven Anwendung auf die Welt der Organismen einige Jahre vor D A R W I N in seiner im Jahre 1855 erschienenen ersten Auflage von „Kraft und Stoff" diesen Begriff zur Anwendung gebracht zu haben. Über den französischen Materialismus des H O L B A C H und H E L V E T I Ü S waren natürlich auch B Ü C H N E R und M O L E S C H O T T hinausgewachsen. Denn, um mit M A R X zu reden, die Entwickelung der modernen Naturwissenschaft paukte diesen metaphysischen Materialisten schon gehörig den Begriff der Evolution ein. So konnte P L E C H A N O W ZU keinen besonderen Resultaten kommen, weil er die Probleme, die Vorlagen gar nicht sah. Alles rächt sich auf Erden. P L E C H A N O W spricht von der Borniertheit des französischen Materialismus und merkt seine eigene nicht, die fast noch schlimmer ist, und einen solchen Schelmenstreich hat ihm nur die erkenntnistheoretische Scholastik gespielt. Von Wichtigkeit ist hier der Grundgedanke P L E C H A N O W ' S vom dialektischen Materialismus; den hat er aber fast wörtlich von E N G E L S entlehnt. Der philosophische Materialismus bleibt nun, selbst wenn er den Evolutionsbegriff in sich aufgenommen hat, vollkommen metaphysisch. Das Antimetaphysische liegt nicht im Hinzukommen des Evolutionsbegriffes, selbst wenn man diesen Begriff mit der Dialektik Neo-HEGEL'scher Observanz für identisch erklären würde. Diese Annahme widerspricht allem philosophischen Denken, aller begrifflichen Schärfe, aller wahrhaften Geschichte der Philosophie. Der moderne Evolutionsbegriff, der eigentlich in der außernaturwissenschaftlichen Litteratur nur in der Philosophie S P E N C E R ' S den klassischen Ausdruck gefunden hat, ist nicht identisch mit dem HEGEL'schen so umfassenden Oberbegriffe der Dialektik. Aber
58
Drittes Kapitel.
nehmen wir selbst dies an, so muß man sagen, der Evolutionsbegriff' ist kaum so alt, wie unser Jahrhundert. Es ist nun evident, daß, wenn das Wesen des Metaphysischen in der Yerkennung des Entwickelungsmomentes liegt, die gesamte vorrevolutionistische Philosophie metaphysisch sein müßte. Folglich müßten LOCKE, BERKELEY, HUME und KANT die eigentlichen Metaphysiker sein. Ja, man kann sogar so weit gehen, zu sagen, daß bei HUME sich weniger Beziehungen zum modernen Evolutionsbegriffe vorfinden, wie bei HOLBACH oder gar bei DIDEROT, der schon hier und da als der eigentliche Ahne des modernen Evolutionsbegriffes dargestellt worden ist, Ist nun HUME wirklich ein Metaphysiker? Diese Behauptung wäre absurd und wird auch nur von sehr wenigen Materialisten etwa angenommen werden. Wir werden im Laufe unserer Ausführungen noch Gelegenheit haben, zu sehen, worin das Metaphysische eigentlich besteht. Hier will ich nur so viel sagen: HUME war darum der entgegengesetzte Pol der Metaphysik, weil bei ihm, wie bei keinem Philosophen zuvor und kaum einem anderen nachher, das Bewußtsein das unmittelbar Gegebene war und blieb. Inwieweit und in welchem Maße er daraus methodologische Folgerungen für die Probleme der theoretischen, j a sogar der praktischen Philosophie zog, geht uns hier nichts an. Kurzum, es erscheint uns unmöglich, unmetaphysisch = evolutionistisch zu setzen. Man muß sich also schon nach einem anderen Kriterium umsehen. Das Kriterium kann nur darin bestehen, daß man unmetaphysisch gleichsetzt mit unmittelbar gegeben, mit erkenntnistheoretisch. So haben uns weder der rechte noch der linke Flügel der Marxisten eine klare und bestimmte Antwort auf unsere Frage nach den Beziehungen zwischen dem soziologischen Marxismus und dem philosophischen Materialismus gegeben. Aber aus ihren unpräziseu und nicht immer auf der philosophischen Höhe befindlichen Auseinandersetzungen hört man immer deutlich heraus: Es ist trotz alledem und alledem, trotz dieses oder jenes Unterschiedes eine starke gegenseitige Beziehung und Beeinflussung vorhanden. Wir wollen nun die vermittelnde Richtung, die hier nicht so sehr in Betracht kommt, unberücksichtigt lassen und wenden uns ob Beantwortung der Frage den Meistern selbst, K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS, zu. K A R L M A R X war von Hause aus nicht Nationalökonom. Dies muß man vor allem festhalten, um sowohl die Entstehungsgeschichte als aueh die Beziehung des ökonomischen Materialismus zu philosophischen Problemen überhaupt ganz zu begreifen. M A R X selbst
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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sagt darüber: 1 „Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb. Im Jahre 1842—43, als Redakteur der «Rheinischen Zeitung», kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des rheinischen Landtages über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, die amtliche Polemik, die Herr VON SCHAPER, damals Oberpräsident der Rheinprovinz, mit der «Rheinischen Zeitung» über die Moselbauern eröffnete, Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen. Andererseits hatte zu jener Zeit, wo der gute Wille, «weiter zu gehen», Sachkenntnis vielfach aufwog, ein schwach philosophisch gefärbtes Echo des französischen Sozialismus und Kommunismus, sich in der «Rheinischen Zeitung» hörbar gemacht. Ich erklärte mich gegen diese Stümperei, gestand aber zugleich in einer Kontroverse mit der «Allgemeinen Augsburger Zeitung» rund heraus, daß meine bisherigen Studien mir nicht erlaubten, irgend ein Urteil über den Inhalt der französischen Richtungen selbst zu wagen. Ich ergriff vielmehr begierig die Illusion der Geranten der «Rheinischen Zeitung», die durch schwächere Haltung des Blattes das über es gefällte Todesurteil rückgängig machen zu können glaubten, um mich von der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehen." Man könnte nun glauben, daß M A R X erst 1847 im „Elend der Philosophie" die Idee zum ökonomischen Materialismus faßte. In diesem Sinne sagt WERYHO,2 daß sich in der „heiligen Familie" nur wenig von MARX' eigentümlicher Geschichtsauffassung finde. M A R X selbst aber deutet in der Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie an, daß er schon im Jahre 1844 bei der kritischen Revision der HEGEL'schen Rechtsphilosophie zu dem Ergebnisse gelangt sei, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen nicht aus sich selbst zu begreifen seien, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln. (Vgl. darüber auch P. STRUWE in der „Neuen Zeit", 15. Jahrg., 2. Bd. Stuttgart 1897. S. 274.) Wie dem auch sein mag, sicher ist, daß M A R X anfangs nur als Philosoph sich die Welt ansah und schon zu allgemeinen Formulierungen gelangte, bevor er 1 Vgl. „Zur Kritik der politischen Ökonomie", von KARL MARX , herausgegeben von KABL KAUTSKY. Stuttgart 1897. S. I X , X . 2 Vgl. L . WEEYHO, „MABX als Philosoph". Leipzig u. Bern 1894. S. 20.
Drittes Kapitel.
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die realen Verhältnisse kennen lernte. Dies erklärt manches und vor allem den allzu dogmatischen Charakter seiner Ökonomie. Wäre M A R X nicht vor Vollendung seiner national-ökonomischen Studien zur Aufstellung einer Geschichtsphilosophie gelangt, so wäre dieselbe sicherlich anders ausgefallen, auf der einen Seite minder hegelisch und auf der anderen Seite minder materialistisch. M A R X und der ganze Marxismus blieben, wie der „AntiD Ü H R I N G " von ENGELS beweist, stets Anhänger der HEGEL'schen Dialektik, aber sie übersetzten dieselbe ins Materialistische. Man braucht sich über diese Übersetzung nicht viel den Kopf zu zerbrechen, sie ist in der That leicht zu begreifen. M A R X spricht hier wirklich sehr präzise: „Für H E G E L ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist es umgekehrt, das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." 1 Beide Denker waren eben Metaphysiker durch und durch. Die Wirklichkeit kennt kein selbständiges Subjekt, welches die äußere Welt gleichsam selbst gebiert und in aller Farbenfälle hervorzaubert. Denn, wie schon SCHOPENHAUER verkünden wollte und wie nach meiner Anschauung H U M E thatsächlich lange vor ihm verkündet hat, sind Subjekt und Objekt im Bewußtsein eins und dasselbe. Man kann wohl sagen, das Bewußtsein zaubert uns die Welt hervor, aber nicht das selbständige Subjekt ist der Demiurg des Wirklichen. Es ist metaphysisch und anti-erkenntnistheoretisch gedacht, denn die Erkenntnistheorie beweist, daß es in gewissem Sinne kein Subjekt ohne Objekt giebt. Der erkenntnistheoretische, antimetaphysische Idealismus eines B E R K E L E Y faßt auch trotz der vielen späteren Irrtümer den Subjektsbegriff nicht so allgemein auf. B E R K E L E Y sagt nur: Die Dinge sind nicht materiell an sich, nicht Substanz, sondern Empfindungskomplexe des Ichs, des Subjektes. Aber er konstruiert aus diesem Ich nicht einfach die äußere Welt, er macht das Subjekt nicht zum absoluten Träger aller Naturprozesse, aller Geschichte, er hilft sich später mit seiner Theorie der „Geister", mit Zuhilfenahme rein theologischer Begriffe, die uns hier weiter nichts angehen. Aber die moderne Erkenntnistheorie schreitet gewaltig hinaus über B E R K E L E Y und H E G E L zugleich. MACH z. B. frägt: 2 „Was ist das Subjekt? 1 3
Vgl. „Das Kapital" von KABI MARX. 1. Bd., Vorrede zur 2. Aufl. Vgl. E. MACH, „Beiträge zur Analyse der Empfindungen". Jena 1886.
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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Nur aus unseren Gewohnheiten heraus, nur aus Gründen praktischer Zweckmäßigkeit bezeichnen wir eine Reihe von Empfindungen, die kontinuierlicher, stetiger als die anderen auftreten, als Subjekt. Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmt, scharf begrenzte Einheit." Nicht das Ich also ist nach MACH das Primäre, sondern die Elemente bilden das Ich. Während bei H E G E L der Denkprozeß identisch ist mit dem absoluten Subjekt, schlägt MACH geradezu vor, zu sagen: Es denkt, um anschaulich zu machen, wie wenig in Wirklichkeit das absolute Subjekt existiert, wie sehr vielmehr Subjekt und Objekt zusammenfallen. Das absolute Subjekt kann also hiermit nicht der Demiurg alles Historischen sein. Noch metaphysischer aber ist der Grundsatz von MARX, daß das Ideelle nur das im Menschenkopfe übersetzte Materielle sei. Was heißt das? Ist alle Empfindung etwa nur ein Ausdruck der veränderten wirtschaftlichen Phänomene? Direkt kann eine solche Einwirkung doch nicht geschehen, folglich muß diese Einwirkung durch das Medium äußerer materieller Naturvorgänge vor sich gehen, folglich sind die äußeren Naturvorgänge das Reale, die Empfindung das Abgeleitete, Sekundäre. Somit wären wir glücklich beim rohen Begriffe der naturwissenschaftlichen Materie angelangt, bei der metaphysischen Philosophie vor B E R K E L E Y , der doch trotz aller Einseitigkeiten und Konstruktionen wenigstens weit davon entfernt war, die Urempfindung der Realität anzutasten. Was aber die spezielle Anwendung auf die Geschichte betrifft, so könnte man H E G E L zur Not doch wenigstens dahin interpretieren, wenn man ihn aus dem Absoluten und Allgemeinen ins Konkrete und Psychologische übersetzen wollte, daß er die primitive Phantasie zum Demiurg des Historischen machen wollte, was, wie wir sehen werden, ganz richtig ist. Bei M A R X indessen giebt es eine solche Interpretationsmöglichkeit nicht, bei ihm führt das Umschlagen der HEGEL'schen Dialektik in die materialistische direkt oder indirekt zum rohen Begriff der Materie, eine Anschauung, die selbst für die speziell naturwissenschaftliche Anwendung so metaphysisch geworden ist, daß ihr selbst Physiker und Chemiker in hellen Scharen den Rücken zu kehren beginnen. Diese Übersetzung der HEGEL'schen Dialektik in die materialistische läßt sich in einen Satz formulieren, den M A R X in der Kritik der politischeu Ökonomie gebraucht hat: Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt das gesellschaftliche Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Hiermit ist selbstverständlich der philosophische Materialismus noch nicht gegeben.
Drittes Kapitel.
62
Aber es liegen andere grundlegende Äußerungen von MARX vor, die seine Beziehungen
zu diesem
deutlich offenbaren. von ENGELS
rohen und primitiven
Philosophieren
I n dem bereits erwähnten Anhang zu der Schrift
über LUDWIG FEUERBACH
von MARX vor, die im J a h r e
1845
finden
sich
in Brüssel
Bemerkungen
niedergeschrieben
worden
sind.
Hier hatte MARX sich schon zum Materialismus ge-
wandt.
E r setzt gleich charakteristisch dadurch ein, daß er als den
Hauptmangel alles bisherigen Materialismus seine zu abstrakte, auf konkrete gesellschaftliche Beziehungen zu wenig gerichtete Fassung hält.
Der gesamte
Materialismus
—
ob man hierzu FEUERBACH
überhaupt rechnen kann, bleibt eine offene Frage — faßt die Wirklichkeit nicht genügend als menschlich sinnliche Thätigkeit, als Praxis auf.
Das ist alles,
was MARX am Materialismus auszusetzen hat.
Hier wird kein W o r t verloren über die grundlegenden prinzipiellen Fehler des Materialismus, über alle seine durch nichts zu korrigierenden Grundgebrechen.
E s wird nicht gesagt, daß der Materialismus
den rohesten Substanzbegriff hat, rialismus
den der Materie, daß der Mate-
die Ansicht, alle Erscheinungen
seien auf eine Mechanik
der Atome zurückzuführen, auf alles Weltsein und Weltwerden überhaupt ausdehnen möchte, obwohl es bisher nicht gelungen ist, eine einzige große Gruppe rein naturwissenschaftlicher Phänomene außer den rein astronomischen durch die Mechanik der Atome zu erklären. MARX will hier nichts wissen davon, physik
schlimmster Observanz ist,
daß der Materialismus
Meta-
selbst in der Naturwissenschaft
eine Hineintragung vorgefaßter Erklärungen in die Mannigfaltigkeit des Geschehens bedeutet. beseitigen,
er will ihn
E r will den Materialismus überhaupt nicht nicht einmal streng kritisieren, er will ihn
nur ergänzen, ihn praktischer, sozialer machen.
Die Philosophie von
MARX wäre — nach diesen grundlegenden Bemerkungen zu urteilen —
eine aufs Praktische gerichtete, im Sozialen kulminierende mate-
rialistische Metaphysik geworden.
mit einem entwickelungshistorischen
Schema
Ganz konsequent damit wirft auch MARX gar nicht die
Frage auf, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme haupt
oder nicht.
scheinen
Alle
erkenntnistheoretischen
den praktischen Materialisten
und formale Kontroversen
zu sein.
Fragen
über-
bloße Spitzfindigkeit
Der Streit über die Wirklich-
keit oder die Nichtwirklichkeit eines Denkers, sagt er (a. a. 0 . S. 70), ist eine rein scholastische Frage. Man wesentlich
glaube
aber
ja
nicht,
über diesen Standpunkt
daß
der Marxismus
herausgekommen
sei.
irgendwie Nur die
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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gesellschaftliche, reiD auf praktische Zwecke gerichtete Umkrämpelung der Philosophie ist ein vernachlässigtes Moment des späteren Marxismus. Fallen gelassen aber ist diese Betrachtungsweise keineswegs und am allerwenigsten hat man sich von der Metaphysik des philosophischen Materialismus irgendwie abgewandt. Ein klassischer Zeuge dafür ist FRIEDEICH ENGELS, der in seiner bereits erwähnten Schrift „DÜHRING'S Umwälzung der Wissenschaft' in der 3. Auflage 1894 um kein Haar breit etwa unmetaphysischer ist, als MARX im Jahre 1845. ENGELS hat hier DÜHRING gegenüber mit dem großen Popularisierungstalente, welches ihm eigen ist, mit einer großen Frische und Klarheit seinen Standpunkt vertreten, aber dieser ist darum um kein Atom richtiger geworden. Der moderne wissenschaftliche Sozialismus ist, sagt uns hier ENGELS, inwieweit er einen rein theoretischen Ursprung hat, ein Doppelprodukt. E r ist nicht entstanden, aber wesentlich beeinflußt worden durch den französischen utopischen Sozialismus einerseits und andererseits durch den Hegelanismus. HEGEL hatte das große Verdienst, die Dialektik als die höchste Form des Denkens wieder aufzunehmen. „Für den «Metaphysiker», sagt ENGELS (vgl. a. a. O. S. 6) wörtlich, „sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte eins nach dem anderen und ohne das andere zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebene Gegenstände der Untersuchung. E r denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen, seine Rede ist: J a , ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebensowenig zugleich es selbst und ein anderes sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehen ebenso in starrem Gegensatz zu einander." Ganz anders geartet ist nun der Dialektiker. Für ihn sind die Begriffe in stetem Flusse. Über die Gegenstände des gewöhnlichen Menschenverstandes hinweg fließt der Strom der natürlichen Begriffsentwickelung. Die Dinge und ihre Abbilder sind für den Dialektiker nichts als die Wirklichkeit in steter Bewegung begriffen — sie haben nichts Starres mehr an sich. Das ist die allgemeine, richtige, formale Methode der Dialektik. Man muß sie ins Materielle und Materialistische übersetzen und man bekommt die wahre marxische Soziologie und Philosophie. Der alte philosophische Materialismus (besonders der des 18. Jahrhunderts) kannte die Dialektik nicht. HEGEL kannte den Materialismus nicht. Beide Lehren sind somit einseitig und voller Fehler. MARX aber, sagt unser Autor, ist Materialist, und Dialektiker zu gleicher Zeit. Wir haben
64
Drittes Kapitel.
es also hier mit einer vollständigen Philosophie zu thun, die nur weiter ausgebaut zu werden braucht. Und nun bemüht sich ENGELS, in zwei Kapiteln seines Buches nachzuweisen, daß zwei mächtige Begriffe der HEGEI/schen Dialektik, erstens das Umschlagen der Quantität in die Qualität, zweitens die Negation der Negation (vgl. S. 119—146), noch heute zu Recht bestehen und sich mit der Wirklichkeit vollkommen decken. Man sieht daraus, der alte M A R X lebt noch am Ende des Jahrhunderts und die Philosophie des modernen wissenschaftlichen Sozialismus ist dieselbe wie 1845. Diese Grundanschauung ist in der That sehr leicht zu begreifen. Nichtdialektik = Metaphysik, materialistische Dialektik = wahrer, realer Philosophie. Man braucht den Materialismus nur mit dem Evolutionsbegriff zu verkuppeln, diesen Evolutionsbegriff des naturwissenschaftlichen resp. biologischen Charakters, den er bei HERBERT SPENCER so sehr hat, zu entkleiden und ihm eine allgemeinere, formalere Fassung zu geben und alle philosophischen Schwierigkeiten sind verschwunden. Eins, zwei, drei, es geht geschwind und ist doch keine Hexerei. Leicht zu verstehen ist diese Auffassung schon, aber richtig ist sie beileibe nicht. Schwierigkeiten zu umgehen, kann doch schließlich nicht allein das Kriterium für die Richtigkeit einer Weltanschauung oder eines Systems sein. M A R X und ENGELS umgehen erstens die erkenntnistheoretischen Probleme ganz, zweitens sehen sie nicht ein, daß die dialektische Methode HEGEL'S nur in einer allgemeinen abstrakten Fassung richtig ist, in dieser Fassung aber ziemlich leer wird und wenig erklären kann. Da ist doch SPENCER'S mehr biologischer Evolutionsbegriff fruchtbarer. Nehmen wir die Geschichtstheorie von M A R X und ENGELS selbst. Würde irgend ein Mensch mit dem soziologischen Marxismus sich beschäftigen, wenn er ungefähr so lauten würde: Nach der materialistischen Dialektik muß auch in der Geschichte die gesamte Entwickelung nach den formalen Bedingungen des Umschlagens von Quantität in Qualität und Negation der Negation vor sich gehen. Sicherlich nicht. Diese zu sehr formale Methode würde zu wenig besagt haben. Es mußte erst der Grundbegriff von der Idendität der sozialen Gesetzmäßigkeit mit der rein technisch-wirtschaftlichen und die Lehre von den Ideologien, von den Klassenkämpfen u. s. w. hinzutreten, um den soziologischen Marxismus überhaupt zu einer interessanten Lehre zu gestalten. In der materialistischen Dialektik ist also der Materialismus falsch und mit der Dialektik erklärt man nichts.
Die philosophischen Grundlagen des Marxismus.
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Nun können wir die Frage beantworten, die wir uns gestellt, inwieweit der soziologische Marxismus mit dem gewöhnlichen philosophischen Materialismus zusammenhängt. M A R X und E N G E L S selbst sprechen hierin eine präzise und eindeutigere Sprache, als die Marxisten. Hiermit erscheint die ökonomische Geschichtsauffassung nicht einfach als ein Spezialfall des gewöhnlichen philosophischen Materialismus. Aber die philosophischen Grundlagen dieser Geschichtstheorie sind auf der einen Seite so sehr antierkenntnistheoretisch und metaphysisch, auf der anderen Seite will M A R X selbst den Materialismus so sehr nur ergänzen und modifizieren, daß man wohl von einer starken Beziehung dieser niedrigen Art zu philosophieren zu den diesbezüglichen Anschauungen der marxistischen Gesamtlehre sprechen kann. Bei M A R X selbst führt nicht, wie bei P L E C H A N O W , eine direkte Brücke zu B Ü C H N E R und M O L E S C H O T T hinüber, dazu stammt er doch zu sehr von H E G E L ab, aber man kann stets, zwar mittels eines unbequemen Steges, zu H O L B A C H und H E L V E T X Ü S gelangen. Man kann also nicht sagen: Der ökonomische Materialismus ist nichts wie eine große Anwendung des philosophischen Materialismus auf die Geschichte, man darf aber wohl den Satz wagen: D e r ö k o n o m i s c h e M a t e r i a l i s m u s h a t seine p h i l o s o p h i s c h e n G r u n d l a g e n v o l l k o m m e n g e m e i n m i t dem g e w ö h n l i c h e n philosophischen Materialismus. hat sehr richtig bemerkt: 1 Der Materialismus ist die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie. Der Materialismus scheint für den nicht tiefer Blickenden so plausibel, so selbstverständlich zu sein, daß es noch geraume Zeit dauern wird, bis er als gänzlich überwundene Form menschlichen Philosophierens wird angesehen werden können. Stets werden Denker, die auf eine allgemeinere Formulierung nicht gern verzichten möchten, aber doch vermöge ihrer geistigen Organisation die Fülle und Tiefe der Ereignisse nicht zu überschauen im stände sind, sich mit Zähigkeit an ihn anklammern. Man kann schon aus diesem Zusammenhange der materialistischen Geschichtsauffassung mit dem gewöhnlichen Materialismus eines L U D W I G B Ü C H N E R den Schluß ziehen, daß die Philosophie des Begründers unseres Systems auf sehr schwachen Füßen steht. Aber es wäre verfehlt, schon daraus allein ein abfälliges Urteil über die gesamte in Rede stehende materialistische LANGE
1
Vgl.
F . A. LANGE,
„Geschichte
des
Materialismus".
3. Aufl.,
2. Bd., S. 538. WEISBNQBÜN, Marxismus.
5
1876.
66
Viertes Kapitel.
Geschichtsauffassung abzuleiten; dazu berechtigt uns noch gar nichts. Es ist immerhin von großem Interesse, zu wissen, wie es mit den philosophischen Grundlagen einer sozialwissenschaftlichen Lehre bestellt ist. Aber bei aller Einseitigkeit und Unfruchtbarkeit dieser allgemeinen Grundlagen kann doch eine spezielle sozialwissenschaftliche Lehre so wertvolle Momente enthalten, daß man ihr die Mängel ihrer philosophischen Motivierung verzeihen könnte.
Viertes Kapitel.
Die erkenntiüstheoretische Umkrämpelung des Marxismus. Die Schwäche der philosophischen Grundlage M A R X ' wird immer mehr und mehr von den Marxisten eingesehen; sie versuchen es daher mit allen Mitteln, den Marxismus umzuformen. Ihre Absicht ist dabei, auf die Gefahr hin, auch wesentliche Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung aufzugeben, dieselbe so umzugestalten, daß sie mit dem modernen erkenntnistheoretischen Denken nicht in Widerspruch gerate. Seit B E R N S T E I N ' S Streitschrift ist nun diese erkenntnistheoretische Umkrämpelung so aktuell geworden, daß man sie wohl etwas ausfuhrlicher behandeln muß. Schon lange vor B E R N S T E I N hatten alle Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung die Notwendigkeit verspürt, dieselbe mit der Erkenntnistheorie in Verbindung zu bringen. Die Schlagworte des Anti-DüHRiNG genügten nicht mehr, es leuchtete immer stärker ein, daß man doch zu rasch K A N T und den Idealismus mit einigen Sätzen abgefertigt hatte. Da in den Naturwissenschaften der philosophische Materialismus an Kraft zu verlieren begann, sahen sich die einsichtigeren Marxisten doch gezwungen, trotz aller Anklagen der Orthodoxen auf Ketzerei sich die ältere und insbesondere die deutsche theoretische Philosophie ein wenig näher zu betrachten. Keinen geringen Einfluß hat auf diese Lage der Dinge F R I E D R I C H A L B E R T L A N G E ausgeübt. Haben wir doch in ihm nicht allein den Verfasser der Geschichte des Materialismus, sondern auch den „Autor der Arbeiterfrage" zu erblicken. Viele Arbeiter und Sozialdemokraten, denen sein arbeiterfreundlicher Standpunkt sympathisch war, lasen auch L A N G E ' S philosophische Schrift und kamen so zu der Überzeugung, daß nicht der Materialismus das letzte Wort der Wissen-
Die erkenntaistheoretische Umkrämpelung des Marxismus.
67
schaft sei. Ich selbst muß bekennen, daß durch die nachmalige Lektüre der „Geschichte des Materialismus" schon im Jahre 1888 mein materialistisches Glaubensbekenntnis stark erschüttert worden ist und ich daher in meiner bereits erwähnten Erstlingsschrift, wo ich zu zwei Dritteln noch Marxist war, es schon versuchte, wenigstens in der Geschichtsauffassung gewisse idealistische Elemente aufzunehmen. Ich wollte schon damals einen geschichtsphilosophischen Ideal-Realismus mitbegründen helfen. Nach C. SCHMIDT und BERNSTEIN setzt nun die Entwickelung der Umkrämpelungsversuche wieder an, und so hat jüngst WOLTMANN in seiner bereits genannten Schrift den Verbuch gemacht, nachzuweisen, daß der Marxismus trotz verschiedener Äußerungen von MARX und ENGELS selbst durchaus identisch sei mit der älteren deutschen idealistischen Philosophie. Schon der erste Teil seiner Schrift: „Die philosophischen Quellen des Marxismus" (S. 3 1 — 1 2 5 ) zeigt uns, daß WOLTMANN zu sehr und zu künstlich die philosophische Entwickelung in ein Schema hineinpressen will. Zuerst überschätzt er KANT, er billigt fast alles, was dieser sagt. „Die vielen Mißverständnisse über KANT'S Philosophie", meint er (S. 49), „rühren außer von dem entwickelungsgeschichtlichen Vorurteile zu einem großen Teile daher, daß man in der Untersuchung und Beurteilung seines Gedankenbaues nicht systematisch genug verfahrt. Meist berücksichtigt man nur die Kritik der reinen Vernunft." Sicher ist, daß WOLTMANN in der Wertung und Schätzung der Kritik praktischer Vernunft fast mit der Strenge eines Altkantianers vorgeht. E r läßt eben alles gelten, was KANT sagt. Aber auch seine kritische Skizze der Kategorientafel verrät denselben Standpunkt. E r scheint hier sogar weit hinter LANGE und den Neukantianern zurückzugehen, welche bekanntlich die Kategorientafel des Königsberger Philosophen nicht als die fruchtbarste That seines Lebens ansahen. WOLTMANN modifiziert seine aprioristische Auffassung dadurch, daß er zwischen dem bereits entwickelten und dem sich erst entwickelnden, werdenden Denken unterscheidet. E r ist einerseits Apriorist in Bezug auf das schon gewordene und entwickelte Denken und andererseits Entwickelungstheoretiker, indem er den werdenden Denkprozeß überall gerne auf seine biologischen Motive zerlegen möchte. Aber dies schwächt den Apriorismus nur ein wenig ab, im großen und ganzen bleibt dieser Standpunkt doch hinter dem modernen erkenntnistheoretischen zurück. Diese moderne Erkenntnistheorie lehrt, im Anschlüsse hauptsächlich 5*
68
Viertes Kapitel.
an H U M E , daß für uns mit dem kantischen Unterschiede zwischen Form und Inhalt des Denkens eigentlich schon die Metaphysik beginne. A V E N A R I U S , S C H U P P E , L E C L A I R sind sich in der Bekämpfung des kantischen Apriorismus, der Kategorientafel und des Dinges an sich einig. In viel höherem Maße als die Neukantianer, mit L A N G E an der Spitze, nehmen sie nur ein Element aus der kantischen Kritik der reinen Vernunft in sich auf. Von den beiden Welten, die Kant gleichsam miteinander verbinden will, die Welt der Anschaulichkeit oder Sinnlichkeit, wie er sagt, und die des Verstandes, ist die erstere für sie nicht allein die ausschlaggebendere, sondern die fast allein existierende. Sie kennen keine Kritik der reinen Vernunft, sondern, um mit A V E N A R I U S zu reden, eine Kritik der reinen Erfahrung, bezw. nach der KANT'schen Terminologie, der reinen Sinnlichkeit. Nehmen wir jedoch an, W O L T M A N N hätte mit seiner aprioristischen Auffassung Hecht, die Philosophie, an die man anzuknüpfen habe, sei durchwegs kantisch, streng aprioristisch, was hat M A R X mit ihr gemeinsam? Wie ist es möglich, den Marxismus so zu wenden, daß er zum kantischen Apriorismus fuhrt? Um die marxische Lehre derart umzuformen, müssen aus der materialistischen Geschichtsauffassung zunächst alle jene Elemente entfernt werden, die das Eigentliche, Materialistische darin ausmachen. Die innersten Triebfedern des Marxismus überhaupt, meint W O L T M A N N , seien Selbstkritik und Selbstverständigung. Diese Triebfedern haben M A R X und E N G E L S dazu geführt, in ihrer letzten Periode den ideologischen Faktoren ein größeres Maß von Bedeutung und Berechtigung zuzuschreiben (S. 255). Man gewinne aus den letzten Äußerungen von E N G E L S den Eindruck, als ob es sich bei ihm darum handele, diese ökonomische Geschichtsauffassung durch eine psychologische und idealistische zu ergänzen (S. 256). M A R X ' Geschichtstheorie habe in letzterer Hinsicht einen teleologischen und idealistischen Charakter. Die Geschichte sei nicht, und E N G E L S habe dies selbst eingesehen, mit der Vorstellung einer automatischen Wirkung der ökonomischen Lage verknüpft (S. 265). Auch der Begriff der Tradition werde vom Marxismus zu stark vernachlässigt. „Die Tradition", sagt unser Autor wörtlich, „hat eine gute und notwendige Funktion in der Geschichte" (S. 267). Zuletzt wird behauptet, daß der geistige Lebensprozeß ein ebenso selbständiger Faktor in der geschichtlichen Entwickelung ist, wie der ökonomische. Was soll man nun zu einer solchen Interpretation materialistischer Geschichtsauffassung sagen? Man kann wohl annehmen, daß
Die erkenntnistheoretische Umkrämpelung des Marxismus.
09
M A R X zuerst seine Theorie zu schroff formuliert hat, man kann gewisse Ergänzungen als notwendig und dem Wesen der Lehre unschädlich zugeben, aber schließlich muß es doch eine gewisse Grenze geben, innerhalb deren man eine Lehre modifizieren kann. Gut, wir geben zu, daß auch die materialistische Geschichtsauffassung den ideellen Faktoren eine größere Bedeutung unbeschadet ihrer Grundauffassung zuschreiben könnte, aber ihren teleologischen Charakter kann sie doch nimmermehr offen und bewußt zugestehen. Wenn, wie wir am Ende unserer Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung gesehen haben, E N G E L S sagt, daß in dem Augenblicke, wo wir die sozialen Kräfte, welche bisher blind in der Geschichte gewütet haben, nur erkennen, wir sie auch schon zu ändern vermögen, so ist das sicherlich Teleologie, aber der Marxismus kann doch dies Moment nicht bloß als bewußten, direkten, ausschlaggebenden Faktor erklären. Der Grundsatz der materialistischen Geschichtsauffassung umfaßt in erster Reihe die strenge Gesetzmäßigkeit sozialer Phänomene. Eine streng kausale Auffassung darf doch nicht durch eine teleologische sich ergänzen lassen. Entweder der Marxismus bequemt sich dazu, von vornherein seine strenge Kausalität aufzugeben, oder er darf die Notwendigkeit seines teleologischen Standpunktes nicht zugeben, er muß, wie er es bis jetzt gethan hat, seine Teleologie verschleiern. Ebenso steht es auch mit dem wirtschaftlichen Automatismus und mit der Bolle, die die Tradition im soziologischen Marxismus spielen soll. Beide historischen Motive gefährden die Existenz der materialistischen Geschichtsauffassung in hohem Maße. Wenn es nicht wahr ist, daß, ausschließlich emporgeschnellt durch die mechanische Kraft wirtschaftlicher Produktionsverhältnisse, sich eine Klasse an Stelle der anderen in der Geschichte erhebt, wo ist dann die materialistische Auffassung? Den empirischen Klassenkampf, gleichsam die Anschauung, daß eine Klasse in der Geschichte großen Einfluß ausüben kann und die andere nicht, kann ja auch jedes idealistische System in der Geschichte durchweg vertreten. Was soll aber gar die materialistische Geschichtsauffassung mit der Tradition anfangen, wenn sie einigermaßen konsequent bleiben will, mit der Tradition dieser eminent psychischen, direkt zur individualistischen Geschichte sogar hinfuhrenden historischen Triebkraft? Diese Tradition ist überall wirksam, sie spielt in der Wirtschaft selbst die größte Bolle. Die materialistische Geschichtsauffassung kann dies wohl in einzelnen Fällen zugeben. Aber die elementare Kraft der Tradition kann sie eben nicht zugestehen. Die Tradition,
70
Viertes Kapitel.
als welthistorische Macht aufgefaßt, würde ja den ganzen Klassenkampfcharakter der Geschichte im marxischen Sinne verwischen. Der Marxismus lehrt von seinem innersten Standpunkte aus mit Recht, daß eine Klasse, die sich ökonomisch durchsetzt, auch die Ideologie einer Zeit beherrscht. Wenn aber die Tradition als selbständiger und selbstherrlicher Faktor in die Geschichte eingeführt wird, dann ist die Folgerung nahe, daß auch Ideologien früherer Zeiten, anderer Klassen sich ebenso stark durchsetzten. Alles das ginge noch an. Wenn aber zum Schlüsse die materialistische Geschichtsauffassung dadurch ganz durchbrochen wird, daß man neben den ökonomischen Lebensprozeß als gleichwertigen Faktor den geistigen setzen will, so bleibt in der That vom soziologischen Marxismus herzlich wenig übrig. Wir haben früher gesehen, der Grundsatz der materialistischen Geschichtsauffassung lautet: Die soziale Gesetzmäßigkeit schlechthin ist identisch mit der Gesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Phänomene. Man kann alles umformen, aber diesen Fundamentalsatz des soziologischen Marxismus muß man doch unberührt lassen. Nimmt man W O L T M A N N ' S Ergänzung aber an, so müßte dieser Fundamentalsatz eigentlich lauten: Die soziale Gesetzmäßigkeit besteht aus der Gesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Phänomene + der Gesetzmäßigkeit der geistigen. Aus dem soziologischen Monismus wird hier im Handumdrehen ein Dualismus. Die ganze Grundanschauung des Marxismus wird aufgehoben. Wir wollen hier in der Analyse WoLTMANN'scher Bestrebungen nicht weiter fortfahren. Es ist klar, mit einer so aufgefaßten materialistischen Geschichtsauffassung kann man alles machen. Man kann auch, wenn man will, zu K A N T zurückkehren. Man kann den Marxismus idealistisch gestalten, und es hat wenig Interesse, näher auf die Art und Weise, wie unser Autor die Soziologie des Sozialismus mit dem philosophischen Kritizismus versöhnen will, einzugehen. Alle diese und ähnliche Bestrebungen leiden an einem Hauptgebrechen: sie verkennen das Wesen der Erkenntnistheorie. Der erkenntnistheoretische Hauptsatz lautet, wie wir ihn schon einmal formuliert haben: Das Bewußtsein ist das primär Gegebene, das Reale schlechthin. Wir können, wir müssen von dem Komplexe von Empfindungen ausgehen. Nun kann man bis zu einem gewissen Punkte mit diesem Grundsatze auch die nicht streng erkenntnistheoretische vorkantische Philosophie eines D E S C A R T E S U. S. W. versöhnen, man kann selbst, wenn man will, den Apriorismus K A N T ' S ganz unter diese Formel bringen, aber was man nicht vermag, ist, die tiefste
Die erkenntnistheoretische Umkrämpelung des Marxismus.
71
Form der Metaphysik, die Anti-Erkenntnistheorie an sich, den Materialismus, hiermit in Einklang zu bringen. Man kann weder den philosophischen Materialismus, noch die materialistische Geschichtsauffassung mit dem erkenntnistheoretischen Grundsatze versöhnen. Der philosophische Materialismus operiert mit der Fundamentalbehauptung, daß man alle Erscheinungen auf die mechanische Bewegung der Atome zurückführen müsse. Er erkennt die Priorität der Empfindungskomplexe nicht an, er protestiert aufs lebhafteste gegen den von S C H O P E N H A U E R so oft variierten Satz, daß die Welt nur unsere Vorstellung sei. Der historische Materialismus seinerseits will das Weltwirken des Bewußtseins aus der Geschichte eliminieren. Was wir in der Geschichte wahrnehmen, fühlen, greifen, so meint die materialistische Geschichtsauffassung, das sind nicht die Empfindungen, nicht die fortwährend wechselnden Veränderungen der Psyche, nein, das 'sind bloß die fast mit mechanischer Stoßkraft wirkenden wirtschaftlichen Kräfte, die Produktionsfaktoren, sie bilden das Wesentliche der Geschichte. Nehmen wir an, dies wäre richtig und die materiellen Faktoren allein ausschlaggebend, so kommen wir doch nur zum Bewußtsein ihres Wirkens durch psychische Zergliederung, durch psychische Wahrnehmung, durch jenes allgemeine Bewußtsein der Erkenntnistheoretiker, das eben primär gegeben ist. Die materialistische Geschichtsauffassung könnte selbst den Marxisten das Weltwirken des Hungers in der Geschichte nicht beweisen, wie S I M M E L einst geistreich bemerkt hat, wenn er nicht weh thäte. Die materialistische Geschichtsauffassung gerät also in Konflikt mit der Erkenntnistheorie, muß damit in Konflikt geraten, oder sich so ändern, daß einfach von ihr nichts übrig bleibt. Auf alles kann die materialistische Geschichtsauffassung verzichten, aber nicht darauf, materialistische Geschichtsauffassung zu sein. Sie hat doch überhaupt nur dann einen Sinn, wenn sie, sei es mit noch so viel Beschränkungen und Verklausulieruugen, von der Geschichte behaupten kann, daß sie eine streng kausale Kette von sozialen Erscheinungen bildet, in welcher die wirtschaftlichen Triebkräfte die Hauptfaktoren sind. Davon kann sich der soziologische Marxismus kein Jota rauben lassen; er kann den ideologischen Faktoren eine große Selbständigkeit zugestehen, aber er kann auf den Satz nicht verzichten, daß die Gesetzmäßigkeit der sozialen Erscheinungen schlechthin identisch ist mit der Gesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Phänomene. Verzichtet er darauf, dann giebt er eben alles preis. Das wäre kein Rückzug mehr, das wäre eine Deroute. Von zwei Dingen eins: Entweder die
72
Viertes Kapitel. Die erkenntnistheoretische Umkrämpelung u. s. w.
Marxisten leugnen einfach alle Erkenntnistheorie, oder aber sie sagen folgendes: Wir lassen uns auf die Philosophie nicht ein, wir wissen nicht, welch eine Bewandtnis es mit dem erkenntnistheoretischen Fundamentalsatz hat. Wir glauben nicht an das primär Gegebene von Empfindungskomplexen, uns geht nur die Geschichte an und hier können wir nichts anderes in der Hauptsache, wohlgemerkt in der Hauptsache, sehen, als das Walten und Wirken rein wirtschaftlicher Faktoren. Das relativ Plausible dieser rein empirischen Auffassung wird uns dazu zwingen, von einem spezifisch historischen Standpunkte aus die materialistische Geschichtsauffassung zu kritisieren; denn, würden wir uns nur auf den erkenntnistheoretischen Standpunkt in dieser Frage stellen, die materialistische Geschichtsauffassung wäre schon jetzt gerichtet. Die materialistische Geschichtsauffassung ist, wie wir gesehen haben, nach der Auffassung der Marxisten, nach der Ansicht von ENGELS insbesondere, dialektischer Materialismus. Nun könnten vielleicht einige Neomarxisten es versuchen, hauptsächlich das HEGEL'sche Element erkenntnistheoretisch umzustülpen. Da käme man aber vom Regen in die Traufe. H E G E L ' S in Einzelheiten so geniale Philosophie ist j a gerade am antierkenntnistheoretischen Standpunkte gescheitert, sie lag außerhalb der großen erkenntnistheoretischen Reihe modernphilosophischer Bestrebungen. Selbst WOLTMANN muß zugestehen, daß H E G E L in mehr als einer Beziehung einen Rückgang zu K A N T bedeutet. Da aber die moderne Erkenntnistheorie einzusehen beginnt, daß HUMK in einer gewissenBeziehung moderner ist als KANT, so kann man sich denken, wie diese Lehre H E G E L ' S rein theoretischer Philosophie gegenübersteht. Bei H E G E L ist die Dialektik Logik und erste allgemeine theoretische Philosophie zugleich. Die Dialektik ist bei H E G E L mehr wie bloße Methodologie. Es läßt sich daher auf die Dialektik nichts Erkenntnistheoretisches aufpfropfen. Da weder das materialistische, noch das HEGEL'sche Element marxischer Philosophie sich erkenntnistheoretisch wenden läßt, so ist das Problem einfach unlösbarMan kann also die materialistische Geschichtsauffassung wie überhaupt den ganzen soziologischen Marxismus nicht erkenntnistheoretisch umkrämpeln; alle Versuche werden scheitern müssen, weil sie unhistorisch und naturwidrig zu gleicher Zeit sind.
Fünftes Kapitel.
Einige Kritiker des soziologischen Marxismus.
73
Fünftes Kapitel.
Einige Kritiker des soziologischen Marxismus. Wir
haben
Grundlagen
bis jetzt gesehen,
wie
sehr die
philosophischen
der materialistischen Geschichtsauffassung verfehlt sind
und es wurde auch gezeigt, daß eine philosophische Versöhnung des Marxismus weder mit der modernen Erkenntnistheorie, noch mit einem der älteren deutschen idealistischen Systeme möglich sei.
Bevor wir
zu erbringen suchen, daß ganz
abgesehen davon
die materialistische Geschichtsauffassung auch im
rein historischen
nun den Beweis
Wirken des Weltgetriebes ihre Hauptauffassung nicht aufrechterhalten kann, wollen wir einen überprüfenden Blick auf verschiedene Kritiker werfen, die bis jetzt
die materialistische Geschichtsauffassung zum
Gegenstande ihrer Studien gemacht haben. waren in ihrer MARX-Bekämpfung
Einzelne dieser Kritiker
mehr betriebsam als glücklich.
So hat z. B. PAUL BARTH, der in drei Schriften, erstens „Die Geschichtsphilosophie
HEGEL'S
und der Hegelianer" (1890),
zweitens
„Die sogenannte materialistische Geschichtsphilosophie" in den Jahrbüchern
für Nationalökonomie
und Statistik,
Januar (1896) und drittens „Die
Philosophie
3. Folge, der
Band 11,
Geschichte
als
Soziologie", 1. Teil, Leipzig (1897), den ökonomischen Materialismus zum Gegenstande seiner Kritik gemacht hat, nicht allein wenig zur Erklärung der hierbei in Betracht kommenden Fragen gethan, sondern dein Marxismus geradezu einen Dienst erwiesen. Es
ist stets
ein müßiges
Unterfangen,
genialen Denkers bestimmen zu wollen.
die Originalität eines
Diese alte Erfahrung hätte
BARTH beherzigen müssen und sich nicht zu der Behauptung versteigen sollen, daß MARX ZU dem, was er vorfand, keine neuen Gedanken hinzugefügt, aber die bereits vorhandenen mit einer gewissen HEGEL'schen
Energie
in ein einheitliches
Zunächst ist dies nicht richtig. BLANC ragende
hatten
mit Bewußtsein
System
gebracht
habe.
Weder SAINT-SIMON, noch Louis ihre
Anschauung über die hervor-
Rolle des wirtschaftlichen Moments in der Geschichte
in
den Vordergrund gestellt und zum Ausgangspunkt irgendwelcher bedeutsamer Folgerung gemacht.
Lassen wir LOUIS-BLANC zunächst
hier bei Seite, aber bei SAINT-SIMON zieht sich der Gedanke von der
fundamentalen Bedeutung des ökonomischen Lebens
sicherlich
nicht wie ein roter Faden durch seine so verschiedenen, so wirren
74
Fünftes Kapitel.
und krausen und fast immer unsystematischen Schriften. Aber selbst wenn S A I N T - S I M O N überall und durchgängig die Wichtigkeit des volkswirtschaftlichen Lebens als Träger aller historischen Veränderungen behauptet hätte, so würde er noch immer nicht mehr als ein Anreger und Vorläufer von M A R X sein, nicht aber der wirkliche Bildner jener Weltanschauung, die nur durch die spekulative Energie des Hegelianers zu einem geschichtsphilosophischen Systeme mit Müh und Not abgerundet worden wäre. Bei keinem der utopischen Sozialisten findet man den falschen und einseitigen, aber immerhin originellen sozialen Gesetzmäßigkeitsbegriff. J a , dieser Begriff ist nicht einmal in ähnlicher Stärke bei SPENCER, der doch in dieser einen Beziehung AUGUSTE COMTE fortgebildet hat, vorhanden. M A R X bekennt sich am strengsten von allen Sozialphilosophen zu der ausschließlichen Herrschaft des sozialen Kausalitätsprinzipes. Was ist denn das Wesen der utopischen Sozialisten? Sie haben keine eigentliche, konsequent durchgeführte soziale Entwickelungslehre. M A R X hat eine zwar falsche, aber er hat eine. Zugegeben jedoch, SAINTSIMON hätte M A R X hier in einer entschiedenen Weise vorgearbeitet, was folgt daraus? Wozu hebt dies B A R T H hervor? Der wahre Historiker einer Wissenschaft weiß, wie sehr die großen Denker subjektiven Einflüssen unterworfen sind, wie sich während des Schaffens die verschiedensten Gedanken durchkreuzen, um nach Beendigung der ersten intuitiven Arbeit Mediich im skizzenhaften Umrisse des Systems zu lagern. In KANT'S Philosophie sind, um von H U M E ganz zu schweigen, mindestens ebensoviel Elemente von B E R K E L E Y enthalten, wie in der Soziologie des M A R X Elemente von SAINT-SIMON. Ist darum K A N T kein origineller Philosoph? Soll dies aber keinen Beweis gegen MARX, sondern nur eine gelegentliche boshafte Bemerkung vorstellen, so ist nicht einzusehen, warum sich unser Autor bei der Darstellung der materialistischen Geschichtsphilosophie in seinem letzten Buche, bevor er zu der früher angeführten resümierenden Ansicht über die Originalität von M A R X kommt, durch sechs Seiten die Mühe nimmt, zu der Geschichtsauffassung des großen modernen Sozialisten Parällelstellen, hauptsächlich aus SAINT-SIMON, zu finden. Eine solche Auffassung von der Originalität eines Denkers ist weder geschichtsphilosophisch, noch psychologisch haltbar; aus ihr spricht nur der zünftige Spezialistenstandpunkt, ja, was noch schlimmer ist, die Philologendenkgewohnheit. Man kann mit derselben kritischen Methode aus jedem Genius einen Plagiator, aus jedem Wortklauber einen Genius machen.
E i n i g e Kritiker des s o z i o l o g i s c h e n Marxismus.
75
Wie geht nun B A R T H in seiner Kritik des ökonomischen Materialismus weiter vor? Er erörtert hauptsächlich die Illustrationen, die Beispiele, an welchen M A R X und E N G E L S ihre Theorien beweisen sollen. B A R T H gehört zu jenen Kritikern des M A R X , von denen mit Recht STAMMLER bemerkt hat, daß sie mit Einzelbeispielen am besten den genialen Denker zu widerlegen wähnen. Man braucht nicht einmal so weit zu gehen, wie STAMMLER, um die meisten Beweise B A R T H ' S für unrichtig oder unwirksam zu halten. Er hat sogar z. B. mit Bezug auf seine Bemerkung M A R X gegenüber, daß L O C K E ' S Erkenntnistheorie nicht durch seine soziale Stellung bestimmt werde, meines Erachtens vollkommen Recht. Aber was beweist dies? Was beweisen solche Einzelbeispiele überhaupt? B A R T H kann doch, wie er selbst sagt, keine Gegenkonstruktion des ökonomischen Materialismus vornehmen und die ganze Weltgeschichte, Periode für Periode, Jahrzehnt für Jahrzehnt durchnehmen, um zu beweisen, daß M A R X und E N G E L S Unrecht haben. M A R X und E N G E L S können hundert falsche Beispiele anfuhren, können eine zehnbändige, total unrichtige Weltgeschichte geschrieben haben und ihr System samt der daraus fließenden sozialen Methodenlehre könnte von anderen, geschickteren Händen, mit einer allerdings wesentlichen Modifikation, einem glücklichen Ende zugeführt werden. Die Geschichtsschreibung darf nicht ohne weiteres als ein Exempel auf eine Geschichtsphilosophie angewandt werden. Man kann nicht mit einer falschen Methodik wahre Geschichte schreiben, aber man braucht nicht mit einer richtigen Methode einwandfreie Historie zu treiben. Der Geschichtsschreiber hängt nicht allein vom historischen Wissen ab, sondern von der Kunst, das Material zu beherrschen, von dem Widerstand, den er oft seinen eigenen Theoremen zu leisten hat, von der Kraft seiner plastischen Darstellung. Ebenso wie ein genialer Ästhetiker schlechte Dramen, kann ein methodologisch noch so behutsamer Geschichtsphilosoph zehn Bände im Detail falscher Weltgeschichte schreiben. Ich will auch hier nicht so weit gehen, wie STAMMLER, welcher ausdrücklich sagt: „Wer Vergnügen daran hat, den sozialen Materialisten im einzelnen etwas auszuwischen, gleicht dem kleinen Schachspieler, der sich freut, dem Gegner einen Springer abzugewinnen und dabei übersieht, wie er mit seinem König mattgesetzt wird." Auch Einzelbeispiele können, wenn sie glücklich gewählt sind, dem Gegner ernsthaft schaden. Allerdings, für den Gesamtcharakter eines Systems kommen sie nicht in Betracht, sie besitzen nur einen sekundären Wert. Hier handelt es sich also nicht
Fünftes Kapitel.
76
um einzelne Fehler BARTH'S, sondern um seine Art, vorzugehen, um seine ganze
Methodik.
Da
muß ich
allerdings auch sagen:
Die
Methode BARTH'S ist so unrichtig und zur Bekämpfung von MARX so ungeeignet als möglich. Wohl
unter dem Drucke der STAMMLER'schen
und
ähnlicher
Vorwürfe hat sich BARTH entschlossen, in seiner letzten Schrift den Einzelbeispielen einen Anhang in Form einer psychologischen erkenntnistheoretischen
Kritik zu geben.
und
Aber da kommt man bei
unserem Kritiker erst recht vom Regen in die Traufe.
Auf S. 358
und 359 scheint er der Ansicht zu sein, man könne den Marxismus am besten dadurch widerlegen, daß man den „welthistorischen Gesellschaften" und Regierungen, die nie ohne ideale Motive gewesen sind, die Handelsgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts gegenüberstelle.
Gleich Karthago wären diese Handelsgesellschaften nur
der ökonomischen Ausbeutung wegen vorhanden gewesen.
Gleich der
Stadt Karthago, die nach ADAM SMITH nur eine Handelsgesellschaft gewesen, war bei allen diesen staatlichen Gebilden das Begehren sehr entwickelt, aber nicht die Opferwilligkeit.
Gleichzeitig war ihre Re-
ligion arm, ihre Litteratur technologisch, sie alle ohne eigentliches Geistesleben.
Ihr ganzes Treiben, ruft BARTH mit Emphase aus, Wäre ich Herr BARTH, SO würde
ist ökonomischer Materialismus! ich
zunächst beweisen, daß die Karthager ein sehr aufopferungs-
fähiges V o l k
waren
und daß ihre Frauen bekanntlich im dritten
punischen Kriege sogar ihren Haarschmuck dem Vaterlande opferten. Aber
ganz im Ernste:
werden?
W a s soll
mit dieser Behauptung erwiesen
Unser Autor verwechselt hier offenbar die Auswüchse der
Lehre mit der Doktrin selbst.
MARX und vor allem ENGELS (nach
BARTH selbst der beste Interpret dieser Geschichtsphilosophie) haben nie behauptet, aus dem ökonomischen Materialismus folge, daß man keinen Idealismus im Leben zu haben braucht.
Es handelt sich j a
hier nicht um den ethischen Materialismus, den F . A . LANGE so sehr mit Recht
verurteilt und den bis zu einem gewissen
Punkte
das
Wesen der Handelsgesellschaften wirklich illustrieren würde, sondern um die Theorie, nach welcher die idealen Faktoren der Geschichte nur die Reflexe des Produktionsmechanismus sind. BARTH beweisen?
W a s will also
Daß der Idealismus sich mit einem ausschließlich
auf Handel gestützten staatlichen Gebilde nicht verträgt? wir an, er hätte das durch die paar Citate wirklich gethan. dies gegen den ökonomischen Materialismus?
Nehmen Spricht
Derselbe behauptet,
daß alle Staaten sich bei Lichte besehen auf der Verlängerungslinie
Einige Kritiker des soziologischen Marxismus.
77
der Politik dieser Handelsstaaten bewegen. Ich erinnere nur a» den so marxistisch gedachten Satz: „Die Minister sind die Kommis der Bourgeoisie." Diese Behauptung ist ja gerade der Grundkern der gesamten Lehre. Wie widerlegt aber B A R T H dieselbe? Indem er für einen Teil der staatlichen Gebilde, für die Handelsgesellschaften, den strikten Beweis im marxistischen Sinne antritt. Mit nichten ist das, was B A R T H von den Handelsgesellschaften sagt, ökonomischer Materialismus! Das ist Mangel an ethischem Idealismus, den gerade die wärmsten Anhänger von M A R X , die deutscheu Arbeiter, am wenigsten vermissen lassen. Das Beispiel von den Handelsgesellschaften soll erweisen, daß es ohne Idealismus in der Geschichte nicht gehe. Die Marxisten behaupten dies auch nicht, leugnen gar nicht das „empirische", thatsächliche Vorhandensein des Idealismus als Faktor, sie nehmen ihn sogar für ihre Partei in Anspruch, erklären ihn aber nur aus dem wirtschaftlichen Fundamente heraus. B A R T H verwechselt eben mit der Lehre selbst ihre Auswüchse, in welchen in alter sensualistischer Weise über den Idealisten auch als empirischen Faktor gespöttelt wird. Sehr richtig hingegen erklärt B A R T H (auf S. 347), daß die ökonomischen Ausleger der Geschichte nur die künstlich vom Menschen geschaffene Umgebung und nicht die Natur kennen. Trotz dieses und ähnlicher Lichtblicke aber ist die gesamte kritische Thätigkeit von B A R T H auch in diesen erkenntnistheoretisch sein sollenden Bemerkungen sehr unzureichend und in dieser Beziehung kann ich wohl das feine Urteil S T A M M L E R ' S unterschreiben, welcher wörtlich 1 schreibt: „Es leidet die Gegnerschaft, die sich gegen die materialistische Geschichtsauffassung erhoben hat, in entscheidender Weise nicht sowohl an dem Umstände geringen Anhanges und der kleinen Zahl ihrer verbündeten Streiter, als vielmehr an sachlich fehlerhaftem Vorgehen, an der ungenügenden Stärke des von ihr eingeschlagenen Feldzugsplanes. Anstatt auf das Ganze zu gehen und dem Feinde in offener Feldschlacht entgegenzutreten, hat sie das Mittel des Scharmützelkrieges gewählt, der mehr im einzelnen plagen kann, als daß er das Gesamtschicksal des Kampfes entschiede." Hierzu kommt noch, daß B A R T H einerseits dem großen wissenschaftlichen Sozialisten gegenüber auf Kleinlichkeiten herumreitet und andererseits seinen Anschauungen nicht mit jenem hohen Respekte gegenübertritt, den auch die schärfsten Kritiker dem genialen Manne 1
STAMMLEB, a. a . O. S . 6 9 .
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Fünftes Kapitel.
zollen sollten. Ich behaupte nicht, daß es gleichgültig ist, ob einzdne Termini in der Entwickelung einer Lehre richtig geprägt sind cdeir nicht, aber daran wird der ökonomische Materialismus sichericln nicht scheitern, daß ihm Herr BARTH nachgewiesen hat, es sei besser;, statt Basis Erdgeschoß zu sagen (wenn BARTH auch hiermit unstreitig Recht behält). Was soll man aber dazu sagen, wenn unser Antoir von der gesamten materialistischen Geschichtsauffassung bemerkt, daß sie eine Halbwahrheit sei, die KARL MARX in Stunden jourralistischen Leichtsinns ausgesprochen und leider sogar durch scheinbare Beweise zu stützen gesucht hat. Ich will von der formalen Uige;schicklichkeit, die in dem Satze steckt, nicht viel Aufhebens maclenu Aber wer das behaupten und sogar des öfteren wiederholen k&nni, hat einen seltsamen Blick für das Wesen geschichtsphilosophischer Theorien und für den wahren Charakter eines Systems. Glaubft BARTH wirklich, daß man eine geschlossene Weltanschauung oder ein philosophisches System nur in dicken Büchern mit recht vielem Zitaten zur Anschauung bringen kann? Sicherlich, der Marxisnu», sowohl der soziologische als der rein ökonomische, von dem hier nicht die Bede sein soll, sind einseitig und in ihren Auswüchsen sogar gefahrlich. Ich muß frei gestehen, auch mir ist die marxische Lehre mit ihrer Denkschablone, mit ihrem Prädestiniertsein zur konstruktiven Formel und zur konventionellen Ideenwelt nicht sonderlich sympathisch. Aber als offener und ehrlicher Gegner, der sich au,s ehemaliger Freundschaft zu einem solchen Standpunkte emporgerungen, muß ich erklären: Der Marxismus ist ein System von einer grandiosen Einseitigkeit und vollkommenen Geschlossenheit. Ein solches System bekämpft man aber nicht mit dem Schlagworte des journalistischen Leichtsinns. Eine solche Bekämpfung schadet nicht der Lehre selbst, aber nützt wohl ihren Auswüchsen. Die ganze Kritik von PAUL BARTH trägt trotz einzelner richtiger Bemerkungen keineswegs zur Klärung dieser so komplexen Probleme bei. Der von ihm vertretene Standpunkt kann bei aller erkenntnistheoretischen Verbrämung nur als ein d e t a i l h i s t o r i s c h e r bezeichnet werden. Einen ganz anders gearteten Kritiker der materialistischen Geschichtsauffassung haben wir in dem bereits öfter erwähnten Hallenser Gelehrten STAMMLER vor uns. Ein feiner Kopf, von großer methodologischer Behutsamkeit, ausgerüstet mit der ganzen Bildung seiner Zeit, in Nationalökonomie wie Jurisprudenz, in Erkenntnistheorie wie Logik gleichmäßig bewandert, verliert er sich niemals im Detail, geht stets mit ganzer Kraft auf die gesetzmäßige Erkenntnis aus
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und überragt turmhoch den so gelehrt thuenden Kleinigkeitskrämer BARTH. Sein Buch „Wirtschaft und Recht" ist voller Anregungen und in ein^m Punkte 1 sogar von entscheidender Bedeutung. STAMMLER ist es nämlich, der hauptsächlich unter den bürgerlichen Gelehrten der Tendenz nach Gesetzmäßigkeit, dem streng kausalen Bedürfnisse, dem großen wissenschaftlichen Wollen des historischen Materialismus gerecht geworden ist. Sein Buch ist eine große loyale Kritik einer verfehlten, aber zu achtenden Lehre und unser Autor hat in einigen Beziehungen mit Recht, in anderen mit Unrecht die mangelhafte Vertiefung eines geschichtsphilosophischen Systems nachweisen wollen, dessen Wert als relativ heuristisches Erklärungsprinzip er nicht leugnet. Aus diesem Buche können die Gegner daher keine Waffen schmieden, sie müssen sich damit begnügen, es mit kleinerem oder größerem Geschick wissenschaftlich zu widerlegen. STAMMLER ist, wie man sieht, kein Bundesgenosse und unfreiwilliger Agitator der materialistischen Geschichtstheorie. Innerlich überwunden aber hat auch der Hallenser Professor die materialistische Geschichtstheorie leider keineswegs. Schon in der Einleitung klingt wie ein WAGNER'sches Leitmotiv der formelle Grundcharakter des ganzen Werkes durch. So frägt er (S. 7) gleich am Anfang, unter welcher grundlegenden formalen Gesetzmäßigkeit das soziale Leben der Menschen steht. Nachdem STAMMLER die Grundsätze des ökonomischen Materialismus dargestellt, die bisherigen Gregner besonders treffend kritisiert, wendet er sich der Frage zu: Welches ist das feste Merkmal, durch das der Begriff des sozialen Lebens der Menschen als eigener Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung konstituiert wird (S. 83)? Um diese Frage zu beantworten, meint unser Autor, muß man zunächst den Begriff der Gesellschaft überhaupt sicherzustellen versuchen. Unser Kritiker setzt sich da hauptsächlich mit HERBERT SPENCER und RÜMELIN auseinander und findet, daß sie beide das Wesen gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht erkannt hätten. Seine Definition des sozialen Lebens und hiermit sein Begriff der Gesellschaft lautet folgendermaßen: Soziales Leben ist ein durch äußerliche verbindende Normen geregeltes Zusammenleben von Menschen (S. 108). Es nützt nichts, meint 1 Diese gesamte Kritik bezieht sich natürlich nur auf STAMMLER'S Beziehungen zur materialistischen Geschichtsauffassung, seine geradezu genialen rechtsphilosophischen Anregungen können natürlich hier keineswegs berührt werden.
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F ü n f t e s Kapitel.
daß wir uns dagegen sträuben, diesen scheinbar so abstrakten Charakter als allein ausschlaggebend für das Wesen sozialen Zusammenseins anzunehmen. Wo der Mensch mit anderen, zusammentritt, im Gegensatz zu seinem isolierten Dasein, da ist es immer die äußere Regel, welche als wichtigstes Merkmal schon im Dunkel der Vorgeschichte leuchtet. Das staatliche Leben ebenso wie das vorstaatliche Dasein des Menschen, sie fallen unter diesen Oberbegriff. Wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen, es giebt keine andere, bessere, zweckmäßigere und weitere geschichtsphilosophische Formel, als die da lautet: Sozial gleich äußerlich geregelt (S. 125). Dieser Begriff der Gesellschaft, dieses allgemeine Kriterium sozialen Lebens wird nun zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe wichtiger Schlußfolgerungen gemacht, auf die wir hier nur sehr flüchtig eingehen können. S T A M M L E R wendet sein Grundprinzip nun auch auf den ökonomischen Materialismus an. Nicht die technisch mögliche, sondern die sozial verwirklichte Produktionsweise ist von ausschlaggebender Bedeutung (S. 256). Hiermit steht fest, daß Produktionsweise nichts anderes bedeutet, als eine besondere Art äußerlich geregelten Zusammenwirkens. So erscheinen S T A M M L E R Recht und Wirtschaft gar nicht als voneinander getrennte, selbständige Mächte, sie gehören organisch zusammen, wie Kern und Schale, sie sind beide Äußerungsformen einen und desselben Prozesses; Wirtschaft und Recht sind nichts anderes, wie Formen allgemeinen sozialen, äußerlich geregelten Lebens. Wir finden diesbezüglich eine sehr interessante Definition unseres Autors vor. E i n ö k o n o m i s c h e s P h ä n o m e n h e i ß t n a c h ihm e i n e g l e i c h h e i t l i c h e M a s s e n e r s c h e i n u n g von R e c h t s v e r h ä l t n i s s e n (S. 264). STAMMLER,
Es kann nun nicht gezeigt werden, wie S T A M M L E R durch Anwendung seines obersten Begriffes Zweckmomente, zum Teil mit Berechtigung, in die Geschichte einführt und wie das ganze Buch in einen Befruchtung und Idealismus kantischer Observanz ausmündet. In der Beeinflussung durch K A N T liegen überhaupt alle Stärken und Schwächen des Buches. Wie K A N T ' S Kritizismus durch das zu starke Hervortreten des Formalen, sowie durch eine Einseitigkeit der Methode über die Kathegorientafel hinweg zum „Ding au sich" und hiermit zur Metaphysik gelangt, so landet bald auch S T A M M L E R an den Ufern sozialer Metaphysik. Ich halte seine Begriffsbestimmung des sozialen Lebens als äußere Regelung, diesen Grundpfeiler seiner Systematik weder für richtig, noch methodologisch so wertvoll, wie der Verfasser wähnt. Allerdings glaube ich auch, daß selbst im
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Einige Kritiker des soziologischen Marxismus.
vorstaatlichen Leben der Völker eine wenn auch naturgemäß geringere äußere Regelung der sozialen Verhältnisse vorhanden war. Also kommt diesem Merkmale sozialen Zusammenseins eine große Allgemeingültigkeit schon zu, aber die äußeren Regeln haben keine Gewichtigkeit, keine reale Bedeutung ohne das Vorhandensein psychischer, geistiger Zusammengehörigkeitsmerkmale. Die äußeren Regeln sind nichts anderes, wie der Ausfluß, wie die weithin sichtbaren Reflexe der psychischen Bindemittel. Man kann so weit gehen, STAMMLEE zuzugeben, daß in den primitivsten Zeiten, als Menschen von nur sehr geringer Phantasie, die in der unmittelbaren Gegenwart allein lebten, vorhanden waren, die äußere Regelung eine größere Bedeutung hatte, als die geistigen Bindemittel. Dann kommt im vorstaatlichen Leben der Parallelismus der äußeren Normen mit jenen inneren Übereinstimmungen, Beeinflussungen und Bezwingungen, die wir als geistige Bindemittel bezeichnen möchten, und zuguterletzt im eigentlichen staatlichen Leben der Völker ist der physische Prozeß allein der Träger aller äußeren Regelungstendenzen; alle Konvention und Norm ist schließlich doch nur Äußerungsform des Komplexes geistiger Bindemittel. Das scheint mir die Wirklichkeit gegenüber der wenn auch bedeutenden, genialen Konstruktion zu sein. Es ist vielleicht zu weit gegangen, wenn man sagt: Ohne psychische Wirksamkeit keine äußere Regelung. Aber bei aller methodischen Behutsamkeit, glaube ich, kann man den Satz aufstellen: O h n e g e i s t i g e Bindemittel kein soziales Leben. Kehren
wir nun zum ökonomischen Materialismus zurück. weist meines Erachtens sehr schön nach, wie in der materialistischen Geschichtsauffassung ein tiefteleologisches Element vorhanden ist. Schon in dem Satze, daß die Menschen, um zu produzieren, gesellschaftliche Verhältnisse eingehen, liegt der Zweckgedanke versteckt, meint er (S. 430). Er glaubt, daß diese Geschichtsauffassung, wohl ohne ihr Fundament aufzugeben, die teleologische Betrachtung in ihr System aufnehmen könne. Woran ist der ökonomische Materialismus nach unserem Autor hauptsächlich gescheitert? Die Frage ist sehr einfach zu beantworten. Er will die immanente Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ergründen, ohne die allgemeine formale Frage aufzuwerfen: Was ist dieses soziale Dasein? Die materialistische Geschichtsauffassung, meint STAMMLEE, giebt nur eine Anregung zum Auffinden der sozialen Gesetzmäßigkeit, aber sie selbst hat das Problem nicht gelöst, sie ist unfertig und nicht ausgedacht (S. 448). STAMMLEE
Weisemgrün, Marxismus.
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Fünftes Kapitel.
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Auch diese Kritik des ökonomischen Materialismus kann uns nicht befriedigen. Die Grundauffassung unseres Autors, seine Definition des sozialen Lebens ist weder einwandfrei noch methodologisch allein ausschlaggebend. Sie reicht daher auch zur Kritik des soziologischen Marxismus nicht aus. Aus der Schwäche seines Grundprinzips heraus kann STAMMLER diese Geschichtsphilosophie Dicht überwinden, er begnügt sich daher auch damit, sie zu ergänzen. Selbst mit dieser erkenntnistheoretischen Ergänzung aber ist der ökonomische Materialismus von Grund aus falsch und der rein methodologische, relativ heuristische Erklärungswert für gewisse soziale Beziehungen durch STAMMLEK'S soziale Hypothese im wesentlichen weder vermindert noch vergrößert worden. Wir werden dies alles noch späterhin beweisen; hier nur eine Bemerkung. In seiner Einleitung sagt STAMMLER wörtlich: „Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist eine erkenntniskritische, aber nicht eine psychologische" (S. 17). Hierin liegt eben ein Grundfehler unseres Autors. Der zweite besteht dariD, daß er ganz konsequent auf den sozialen Inhalt zu wenig Rücksicht genommen hat. Ich möchte den ganzen Standpunkt des Verfassers als einen f o r m a l e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n bezeichnen. Auch Professor LUDWIG STEIN (vgl. „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie", Stuttgart 1897) beschäftigt sich mit dem ökonomischen Materialismus. J a , seine ganze, mehr historisch vergleichende als positiv philosophische, in der Form oft fesselnde und im großen und ganzen sehr ansprechende Schrift ist indirekt eine Widerlegung der hier behandelten Geschichtsphilosophie. Mit Recht hat SCHITLOWSKY (in den „Deutschen Worten") seine positiven Auseinandersetzungen als Rechtssozialismus bezeichnet. Ich aber möchte STEIN'S kritischen Standpunkt dem ökonomischen Materialismus gegenüber als einen historisch-ethischen zusammenfassen. Als Beweis dafür mag schon der soziale Optimismus dienen, in den das ganze Werk ausklingt und der in rein ethischen Postulaten kulminiert. E s kann hier nicht unsere Aufgabe sein, des Ausfuhrlicheren auf LUDWIG STEIN'S Sozialphilosophie einzugehen, die zu viele Probleme berührt, welche gänzlich außerhalb des Gegenstandes unserer Untersuchung liegen. E s sei daher auf den vortrefflichen Aufsatz SCHITLOWSKY'S 1 1 Vgl. „LUDWIG STEIN'S Philosophie", von SCHITLOWSKY, „Deutsche Worte", herausgegeben von E. PERNERSTOREER. Jahrgang 1898. AugustSeptember-Heft.
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hingewiesen. Was an dem Werke ganz besonders auffallt, ist die außerordentliche, universelle Belesenheit des Autors. Sehen wir nun zu, ob es außer dem detailhistorischen, dem formal-erkenntnistheoretischen und dem historisch-ethischen Standpunkte der drei Autoren noch einen anderen kritischen Standpunkt dem ökonomischen Materialismus gegenüber giebt.
Sechstes Kapitel.
Der Haupteinwand gegen die materialistische Geschichtsauffassung. Die soziale Gesetzmäßigkeit, welche der ökonomische Materialismus lehrt, ist die Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Phänomene. Die gesamte Wirksamkeit der sozialen Materie erscheint hiermit gebunden an den technischen Prozeß. Es entsteht nun die überaus bedeutsame Frage: Wie verhält es sich mit der sozialen Gesetzmäßigkeit im vortechnischen Zeitalter? Es ist mindestens zweifelhaft, ob der Marxismus der Ansicht ist, daß es immer im menschlichen Dasein eine, wenn auch noch so primitive, wirtschaftliche Technik gegeben hat. Die Frage muß deshalb schon offen gelassen werden, weil ja, wie allgemein bekannt, der ökonomische Materialismus trotz des „Anti-DüHRiNG" E N G E L S ' , kein eigentliches System besitzt. Wollte man ausschließlich nach der MoRGAN'schen soziologischen Konstruktion urteilen, an die sich ja E N G E L S blindlings anlehnt, so würde auch im vorstaatlichen und vorgeschichtlichen Leben der Menschheit eine, wenn auch in ihrer Art elementare, so doch in manchen Beziehungen vollkommen ausgebildete, wirtschaftliche Technik die entscheidende Rolle gespielt haben. Wie dem auch sein mag, sicher ist eins: Der Marxismus glaubt auf jeden Fall das Dasein einer Menschheit mit unausgebildeter, wirtschaftlicher Technik vollkommen ignorieren und diesen großen und wichtigen Teil der menschlichen Vorgeschichte ungesehen beiseite schieben zu können. Dies ist nun nicht ein kleines historisches Versehen, sondern ein großer prinzipieller Fehler, der unbedingt sowohl eine schiefe Darstellung der historischen Dinge als auch überhaupt eine falsche Wertung der gesamten sozialen Wirklichkeit, die doch zu interpretieren eine Geschichtstheorie vornehmlich berufen ist, mit sich bringt. Unsere kritische Analyse muß daher gleich hier einsetzen. 6*
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Wenn es noch ungewiß erscheinen kann, ob der moderne, wissenschaftliche Sozialismus sich jemals einen vortechnischen und hiermit eigentlich einen vorvolkswirtschaftlichen Zustand gedacht hat, so ist es sicher, daß die gesamte bürgerliche Nationalökonomie in allen ihren Betrachtungen bis auf die allerjüugste Zeit nur ein volkswirtschaftliches Zeitalter kannte. Erst B Ü C H E R , und dies scheint mir nebst seiner Klassifikation der gewerblichen Betriebssysteme sein Hauptverdienst zu sein, hat konsequent jener alten, nach meinem Standpunkt einfach metaphysischen Doktrin der Wirtschaftlichkeit den Garaus gemacht. Nach B Ü C H E R ist es nicht zutreffend, daß sich überall in der Menschheit das Prinzip offenbare, nach welchem man stets die höchstmöglichste Befriedigung mit dem möglichst geringsten Opfer suche. Schon in der Kulturmenschheit, aus deren Thun und Lassen man ja das Prinzip der Wirtschaftlichkeit einseitig abgeleitet habe, sei die wirtschaftliche Natur der einzelnen Individuen eine sehr verschiedene und des öfteren eine überaus minimale. Unser Autor wirft also mit Recht die Frage auf, ob jene „wirtschaftliche Natur", welche das theoretische Grundbekenntnis der Nationalökonomie noch heute ebenso bildet wie zu den Zeiten des A D A M S M I T H , überhaupt etwas Natürliches und nicht vielmehr etwas Erworbenes bedeute. Er möchte diese Frage auf induktivem, ich möchte lieber sagen rein historischem Wege zu beantworten suchen. B Ü C H E R ' S entwickelungshistorisches Beginnen ist hiermit das definitive Verlassen aller und jeder Robinsonadenökonomie, die, sich immer wiederholend, bis auf die jüngste Zeit stets neue nationalökonomische Deduktionen gebar. Wir können in Wirklichkeit den primitiven Urmenschen nirgends mehr auffinden, aber es ist zweifellos, daß der Mensch unermeßliche Zeiträume hindurch existiert hat, ohne zu arbeiten. Aber selbst bei organisierten, dem eigentlichen Urmenschentume entfremdeten Volksstämmen finden wir Zustände, wo von einer noch so primitiven wirtschaftlichen Technik nicht gesprochen werden darf. In kleinen Gruppen, ähnlich den Rudeln der Tiere, schweifen sie, ihre Nahrung suchend, unstät umher, die Männer in der Regel bloß mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Die Töpferei und die Bearbeitung der Metalle ist ihnen unbekannt; von Holz, Bast, Stein und Knochen machen sie einen kaum vielseitigen Gebrauch, und derselbe führt nirgends zu einem Vorrat von Geräten und Werkzeugen. Ohne Vorrat von Geräten und Werkzeugen aber giebt es keine primitive, volkswirtschaftliche Technik. Man hat diese Völker als „niedere Jäger" bezeichnet, aber die Jagd ist eigentlich nicht ihre Hauptnahrungsquelle. Überall,
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meint BÜCHER, erinnert die Bedürfnisbefriedigung dieser Naturvölker in vielen Zügen fortgesetzt an das instinktive Handeln des Tieres. Nichts ist seßhaft bestimmt an diesen Volksstämmen. Ähnlich ist ihr geistiger Zustand. Ihr Gedächtnis ist beschränkt und nur auf das Momentane gerichtet, sie haben vielfach nicht das geringste Interesse für ganz neue Erscheinungen. All diesen Volksstämmen aber fehlt vollkommen die eigentliche Phantasie, diese Schöpferin von Kunst und Wissenschaft. Der Wilde lebt ein vollkommen momentanes Leben, er denkt nur an sich und die Gegenwart. Ein schrankenloser und daher ganz roher Egoismus beherrscht seine Handlungsweise und typisch für die grenzenlose Selbstsucht vieler Naturvölker erscheint uns ihre gänzliche Rücksichtslosigkeit gegenüber Kranken und Alten. Noch wichtiger wie dieser Umstand und die starke Trägheit erscheint ihre vollkommene Sorglosigkeit. Die so gearteten Naturvölker sind nicht gerade geeignet, selbst in einer späteren Periode auch nur die technisch primitiven Errungenschaften der einzelnen Individuen zu behalten, zu verwerten, und dem Volksstamme für alle Zeiten einzuverleiben. Der Besitz geht mit dem Besitzenden ins Grab, der technisch errungene primitive Fortschritt erlischt oft mit dem Tode des Individuums. Ich will hier für einen Augenblick in meiner Auseinandersetzung der Ansichten BÜCHER'S Halt machen. Was folgt aus seinen bisherigen Mitteilungen, die ihrerseits wieder Zusammenfassungen von so vielen empirischen Daten und Beobachtungen von Reisenden sind? Ich glaube, dieser Zustand der primitiven Völker ist ein vortechnischer. Rein empirisch können wir keinerlei Unterschiede machen, aber entwickelungshistorisch könnten wir zwei Phasen annehmen. In der ersten Phase ist die Technik auch des Individuums kaum vorhanden, in der zweiten giebt es eine wirtschaftliche Technik des Individuums. Gemeinsam ist beiden Phasen nach meiner Auffassung das charakteristische Merkmal, daß die Technik am Einzelindividuum gebunden bleibt. Es giebt in beiden Phasen im gesamten Dasein dieser Naturvölker keine soziale Technik. BÜCHER sagt uns, daß die hier behandelte Lebensweise eigentlich kaum ein Merkmal der „Wirtschaft" enthalte. Die Wirtschaft bedeutet Arbeit, Wertschätzung der Dinge, Regelung ihres Verbrauches, Übertragung der Kultur, ich möchte an Stelle BÜCHER'S hier sagen technischer Errungenschaften von Geschlecht zu Geschlecht. Streicht man aus dem Leben dieser niederen Rassen den Feuergebrauch, sowie Bogen und Pfeil, so hat ihr Leben auch nicht einmal starke Ansätze zu einem
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wirtschaftlichen Zustande. Unser Autor sagt daher mit Recht von diesen Volksstämmen und ihrer notwendig zu konstruierenden Vorgeschichte (vgl. „Die Entstehung der Volkswirtschaft". 2. Auflage, Tübingen 1898, S. 31): „Wir haben bei ihnen ein vorwirtschaftliches Stadium festzustellen, das noch nicht Wirtschaft ist. Da jedes Kind seinen Namen haben muß, so wollen wir dieses Stadium die Stufe der i n d i v i d u e l l e n N a h r u n g s s u c h e nennen." Vor allem existiert die Arbeit bei diesen Naturvölkern nicht. Je weiter wir sie zurückverfolgen, um so mehr nähert sie sich, sagt B Ü C H E R wörtlich, nach Form und Inhalt dem Spiel. Ob er nun hierin in allem Detail Recht hat, und sich gerade nach seiner Vorstellung die Technik entwickelt, welche sich allmählich dem Nützlichen zuwendet, mag dahingestellt sein. Aber mit dem Satze, daß, je mehr wir die Wirtschaft in der Völkerentwickelung zurückverfolgen, sie sich in eine NichtWirtschaft und die Arbeit in ihr Gegenteil auflöst, hat er wohl unbedingt Recht. Vor der eigentlichen wirtschaftlichen Entwickelung also haben die Völker durch Jahrtausende nur die individuelle Nahrungssuche geübt. Man muß zugeben, sagt B Ü C H E R wörtlich, „daß die Volkswirtschaft das Produkt einer Jahrtausende langen historischen Entwickelung ist, das nicht älter ist als der moderne Staat, daß vor ihrer Entstehung die Menschheit große Zeiträume hindurch ohne Tauschverkehr oder unter Formen des Austausches von Produkten und Leistungen gewirtschaftet hat, die als volkswirtschaftliche nicht bezeichnet werden können." Aus diesen Auslassungen B Ü C H E R ' S folgt aufs klarste und zwingendste, daß der Sozialphilosoph nicht allein mit einem vorstaatlichen, sondern auch mit einem v o r w i r t s c h a f t l i c h e n und, was noch wichtiger ist, mit einem v o r t e c h n i s c h e n Leben der Völker rechnen muß. Dem ökonomischen Materialismus bleibt nun die Wahl, entweder die primitive Wirtschaftsgeschichte Lügen zu strafen, die Daten und Erklärungen B Ü C H E R ' S zu widerlegen, oder aber sie zu acceptieren und ein soziales Dasein der Menschen in der Vorgeschichte anzunehmen, das von der Technik noch viel weiter entfernt ist, wie etwa die blühenden italienischen Städte des Mittelalters von den Errungenschaften der modernen Maschinentechnik und dem Eisenbahnwesen. Ich glaube, die Anhänger des ökonomischen Materialismus, die so sehr bestrebt waren, stets die Völkerkunde und Ethnologie ihrer Sache dienstbar zu machen, werden sich beeilen, das letztere zu thun und den geschilderten Urzustand als empirisch gegeben annehmen. Sie werden sagen: B Ü C H E R hat Recht,
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aber was folgt daraus? Der vortechnische Zustand ist einmal dagewesen, aber dies hat keine so große soziologische Bedeutung. Diese Annahme der Marxisten ist falsch. Der vortechnische Zustand der primitiven Menschen hat die Bedeutung, daß die materialistische Geschichtstheorie, um mit der Wirklichkeit einigermaßen in Einklang zu bleiben, ihren wichtigsten Fundamentalbegriff erweitern muß. Der ökonomische Materialismus sucht die soziale Gesetzmäßigkeit der historischen Entwickelung in den wirtschaftlichen Phänomenen. Er behauptet, die materiellen Umstände seien die primären Ursachen alles sozialen Geschehens. Sind nun die wirtschaftlichen Phänomene noch die primären Ursachen in dem Augenblick, wo wir erkannt haben, daß sie nicht immer vorherrschend waren? Drängen sich nicht andere Faktoren da vor, die man so lange unbeachtet lassen konnte, weil die Annahme einer vorwirtschaftlichen und vortechnischen sozialen Existenz in unserem Geiste noch nicht aufgetaucht war? Gut. Die Ideologien sind nur von wirtschaftlichen Urphänomenen abhängig. Man mag das zugeben, alle Kunst, Wissenschaft und Philosophie sind dem ökonomischen Leben unterthan. Wie aber, wenn diese wirtschaftlichen Urphänomene selbst nicht primär sind, andere Umstände zu Ursachen haben? Wie, wenn der ökonomische Prozeß nicht das erste geordnete Element ist, welches aus dem Chaos der Begebenheiten leuchtend emporsteigt? Muß man da die Kausalkette der historischen Phänomene, die nach hinten so geschlossen schien, nicht wieder öffnen? Diese wirtschaftlichen Urphänomene wären nur primär gegeben, wenn es in der Menschheit kein vortechnisches Zeitalter gegeben hätte. So aber werden diese Ursachen wieder von unbekannten Momenten verursacht, sie sind demnach bei Lichte gesehen eigentlich sekundärer Natur. Will der ökonomische Materialismus die Empirie nicht leugnen, so bleibt ihm nur ein Ausweg übrig: er muß seinen Begriff des wirtschaftlichen Phänomens bedeutend erweitern. Die materialistische Geschichtsphilosophie muß von nun an lehren: S o z i a l e G e s e t z m ä ß i g k e i t h e i ß t die G e s e t z m ä ß i g k e i t a l l e r in e r s t e r L i n i e f ü r die L e b e n s f ü r s o r g e in B e t r a c h t k o m m e n d e n Momente. Der Begriff des wirtschaftlichen Lebens muß untertauchen in die allgemeinere, unpräzisere und darum auch leere Fassung der Lebensfürsorge. Der Begriff der eigentlichen bestimmten „Wirtschaft" in unserem Sinne muß aufgegeben werden, die soziale Gesetzmäßigkeit darf nicht mehr an den technologischen Prozeß gebunden sein, oder der Begriff der Technik muß so erweitert werden, daß jede
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menschliche „Verrichtung" bequem unter ihn fallen kann. Der Marxismus muß also notwendigerweise, dies sehen wir schon jetzt, zum mindesten eine Reduzierung seiner Prinzipien vornehmen. Dem ökonomischen Materialismus geht es hier wie einem Kranken, der sich trotz aller Schmerzen und Unannehmlichkeiten einer schweren chirurgischen Operation unterziehen muß, um nur leben zu können. Wir werden sehen, daß trotz dieser „Halbierung" der soziologische Marxismus verloren ist. Bei krebsartigen Wucherungen nützt eben der operative Eingriff nicht mehr. L I P P E R T hat den Terminus der „Lebensfiirsorge" geprägt, von dem B Ü C H E B behauptet, daß er recht unglücklich gewählt sei, denn von Fürsorge im Sinne einer Sorge für die Zukunft kann bei den Naturvölkern nicht die Rede sein. Der primitive Mensch, meint B Ü C H E R wörtlich ( S . 15), denkt nicht au die Zukunft, er denkt überhaupt nicht, er will nur, und zwar will er sein Dasein erhalten. Ich denke, man braucht nicht so weit zu gehen. In allgemeinster Form ist die Selbsterhaltung nicht so sehr ein spezifisches Merkmal des Naturmenschen. Auch in uns modernen Menschen ist, wenn wir uns auf der einen Seite noch so sehr altruistisch und auf der anderen Seite noch so sehr grüblerisch-dekadent gebärden, der blinde Wille stärker als wir selbst wähnen. Man braucht kein Anhänger S C H O P E N H A U E R ' S zu sein, um dies zuzugeben. Der göttliche S P I N O Z A hat den nackten Selbsterhaltungstrieb, der in uns trotz allem psychologischen, ethischen und ästhetischen Aufputze als Durchschnitt unserer Wertbestimmung noch immer steckt, wohl in die allgemeinste Form gebracht, wenn er so schön und so präzise vom Bestreben des Einzelwesens, „in seinem Sein zu beharren", spricht. Also man kann wohl mit einer gewissen Beschränkung von Lebensfiirsorge sprechen, und die Gesetzmäßigkeit in der Geschichte könnte in der That die Gesetzmäßigkeit der für die Lebensfürsorge vornehmlich in Betracht kommenden Momente sein. Man könnte sagen, alle Vorrichtungen und Einrichtungen, alle individuellen, sowie primitiv sozial organisierten Versuche des Menschen, Nahrung aufzusuchen, bestimmen hauptsächlich alle und jede Historik. Der mehr oder minder organisierte Nahrungstrieb ist die letzte Ursache alles historischen Geschehens. Man könnte dies, wie gesagt, zugeben, die Frage ist nur, ob der ökonomische Materialismus hierbei seine Position halten kann. Der Mensch ist doch nicht das einzige Wesen, in welchem der Nahrungstrieb vorherrschend ist. Die Lebensfürsorge einmal in jener
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allgemeinen Form angenommen, von der wir oben sprachen, hat der Mensch doch diese gemein mit allen Arten der Säugetiere, mit allen Fischen und Reptilien, mit allen Tieren überhaupt. Die Nahrungssuche ist doch der treibende Faktor im ganzen Tierreiche. Man sieht, der so allgemein gewordene Begriff droht sich zu verflüchtigen. Trachten wir daher, ein bestimmtes Merkmal bei diesem Prozeß der Lebensfürsorge vornehmlich ins Auge zu fassen. Ich glaube, dies festere, bestimmtere Merkmal ist leicht zu finden. Nehmen wir an, es handele sich um die bereits, wenn auch noch so primitiv organisierte Lebensfürsorge oder ganz einfach um das Prinzip der Nahrungssuche von Menschen als Gruppen betrachtet. Ist dies ein besonderes Merkmal des Menschen? Verschiedene Soziologen haben darauf hingewiesen, daß wir, wie leicht begreiflich, in das Leben der Ameisen, Bienen, Wespen, Biber subjektive Gesichtspunkte hereintragen und dergestalt ihre Einrichtungen zu sehr nach menschlicher Analogie beurteilen. Hiernach würden also die Begriffe der Ameisenstaaten und der Bienengesellschaften des konstruktiven Charakters nicht ganz entbehren. Dies mag sein. Aber jedermann wird doch zugeben müssen, daß sicherlich allen diesen Tierstaaten eine bereits sehr starke, organisierte Nahrungssuche gemeinsam ist, und daß auch jedenfalls die sozial bethätigte LebeDsfürsorge der Gruppen, der allgemeine soziale Klassencharakter des Triebes in seiner Bethätigung bei Bienen und Ameisen z. B. sicherlich etwas stärker noch vorhanden ist, wie beim primitiven Menschen. Selbst andere Tierarten besitzen die bereits organisierte Lebensfürsorge, wenn auch in rudimentärer Form. Man mag sich drehen und wenden wie man will, man kommt darüber nicht hinaus, daß das auch spezieller aufgefaßte und präziser formulierte Prinzip der Lebensfursorge ebenso wie dem Menschen auch den meisten, mindestens vielen Tiergattungen zukommt. Die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ist also die Gesetzmäßigkeit des animalischen Lebens überhaupt oder, wenn man will, des tierischen Elementes im Menschen. Dieses Prinzip ist nicht allein trivial, es ist auch methodisch unbrauchbar. War es denn die Absicht des ökonomischen Materialismus, nachzuweisen, daß alle und jede Geschichte sich den allgemeinen Bedingungen tierischen Lebens nicht entziehen könne? Ich denke, die Aufgabe der materialistischen Geschichtstheorie war vielmehr, uns die besonderen Entwickelungsbedingungen des sozial-menschlichen Lebens aufzuzeichnen. Was würde man von einem Zoologen sagen, der in der Entwickelungsgeschichte eines Genus nur von allgemeinen
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Lebensbedingungen sprechen würde, oder nur die Merkmale aufdecken würde, die einer Art oder Unterart gemeinsam mit der ganzen Species ist? Entweder der ökonomische Materialismus kommt mit der Urgeschichte und Ethnologie in ernsten Konflikt, oder er muß sich damit begnügen, ein zoologisches, meinetwegen biologisches, aber kein geschichtsphilosophisches Prinzip ausgesprochen zu haben. Die Suche nach einer allgemeinen sozialen Gesetzmäßigkeit, die sich auf festerem Fundamente erhebt, muß von neuem beginnen. Es bleibt nur der relativ heuristische Erklärungswert dieser Geschichtsmethodik für gewisse Zusammenhänge und historische Perioden bestehen. In allgemeiner Anwendung wird der ökonomische Materialismus zur Schablone. Ich muß frei bekennen, mir persönlich würde der falsche, mit der sozialen Wirklichkeit im Widerspruch stehende, aber präziser gefaßte ökonomische Materialismus mit seinem Weltwirken der Technik lieber sein als die mit der Urgeschichte nicht in Konflikt kommende, weiter gefaßte und darum auch leere Philosophie der Lebensfürsorge. Die erstere ist falsch und in den Auswüchsen höchst gefährlich, aber anregend, die letztere bis zu einem gewissen Punkte richtig, aber langweilig und geradezu trivial. D e r e r w e i t e r t e ö k o n o m i s c h e M a t e r i a l i s m u s i s t n ä m l i c h n u r eine g r o ß e U m d i c h t u n g des H i s t o r i s c h e n ins Zoologische. Aber die soziale Wirklichkeit spielt dem ökonomischsn Materialismus noch einen zweiten schlimmen Streich. Nehmen wir an, wir kämen für die ganze Urgeschichte und für einen Teil der Geschichte methodisch mit dem Prinzipe der organisierten Nahrungssuche aus. Wir haben gesehen, es ist keine philosophische Konstruktion, sondern eine empirische Thatsache, daß der primitive Mensch keine Phantasie besessen. Am Anfange aber der eigentlichen Wirtschaft, am Ende der vortechnischen Periode besitzt er sie, und im Übergangszeitalter zur eigentlichen Geschichte finden wir neben dem Streitwagen und den Kriegstürmen, neben reichen Geräten und wertvollen Erzeugnissen des Hausfleißes auch das homerische Gedicht. Dies kann doch nicht ein plötzlicher Umschlag sein. Selbst die Marxisten werden doch nicht im Ernste behaupten, in der primitiven Technik des Individuums, die dem Stamme nicht zugute kam, war schon latent die Phantasiethätigkeit, die Dichtkunst und in gerader Verlängerungslinie das homerische Epos vorhanden. Das zoologische Prinzip der Lebensfürsorge erklärt hier nichts. An der Schwelle der Geschichte ist die Phantasie in großartiger Entwickelung vorhanden. In der vortechnischen Periode existiert sie nicht. Kein
Der Haupteinwand gegen die materialistische Geschichtsauffassung.
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Dekret der Marxisten kann uns hindern, zu glauben, daß sie gleichzeitig mit der Technik, mit der eigentlichen Wirtschaft sich entwickelt habe. Mit den bestimmten sozialen Gebilden, mit dem primitiven Staate tauchen aus dem Dunkel der Geschichte gleichzeitig die Dichtkunst und das an Begriffe noch nicht festgebundene, stark anschauliche, aber bereits entwickelte Denken. Als keine Technik war, war auch keine Phantasie, als Phantasie war, war auch Technik. Viel später, als die Technik sich bereits auf einer ausgebildeten Stufe befand, haben wir auch eine ausgebildetere Dichtkunst. Es entsteht das homerische Gedicht. Nur die Lebensfiirsorge kann zur Not als erste bestimmende Ursache angenommen werden, nur die organisierte Nahrungsfürsorge kann als primär gegeben betrachtet werden. Die durch die Technik revolutionierte Produktionsweise aber ist in keiner Art primärer als die Dichtung und sicherlich ist vielleicht im Spiele die Phantasie primärer als die Technik. In keinerlei Weise also ist die technische Produktionsweise das erste Glied in der Kausalkette, das ursächliche bestimmende Moment. M A R X hat, mit ein wenig anderen Worten, gesagt, nicht die Philosophie, sondern die Ökonomie beherrscht die Geschichte. Ich aber wage den Satz: D i e P h a n t a s i e ist vor, die P h i l o s o p h i e neben der e i g e n t l i c h e n Ö k o n o m i e e n t s t a n d e n . Alles, was erkenntnistheoretisch, philosophisch, modernwissenschaftlich im guten Sinne des Wortes in uns ist, sträubte sich schon längst gegen die Annahme, daß das Bewußtsein nicht etwas primär Gegebenes in uns sei. Wie, mußte man sich fragen, ist es möglich, ist es denkbar, daß M A R X Recht haben sollte und in der ganzen Geschichte das Bewußtsein der Menschen nur als Reflex des wirtschaftlichen Geschehens erscheint? Alles, was wir wissen und vor allem die ganze Art, wie wir in mühsamer Entwickelung zu denken gelernt haben, spricht dagegen. Die moderne Physiologie der Sinne hat, es wäre falsch zu sagen, ein aprioristisches, aber subjektives Element schon längst erkannt. Selbst in der Chemie versucht man, den Materialismus zum Teile durch den Begriff der Energetik zu überwinden. O S T W A L D sucht nach einer hypothesenfreien Naturwissenschaft, M A C H weist selbst für die Physik die Notwendigkeit neuer erkenntnistheoretischer Grundlagen nach, in der Physiologie naht der Neovitalismus, in der Erkenntnistheorie ist die Wahrscheinlichkeit, daß Vorhandensein identisch wäre mit dem Im-Bewußtseingegeben, zur Sicherheit geworden. Sollte angesichts einer solchen Lage der Dinge nur für die Geschichte das Bewußtsein des Menschen
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Sechstes Kapitel.
eine so stiefmütterliche Rolle spielen? Dies erschien seltsam und unglaubhaft. Doch lange Zeit rebellierte mehr der Instikt als der wissenschaftliche Sinn gegen den ökonomischen Materialismus. So konnte es kommen, daß auch S T A M M L E R ' S Analyse den grundfalschen und für allgemein historische Zwecke auch methodisch unbrauchbaren Grundcharakter dieser Lehre nicht durchschaut hat. Man wollte nur vom rein erkenntnistheoretischen Standpunkte aus den ökonomischen Materialismus, gegen den die Instinkte so sehr rebellierten, aus den Angeln heben. S O M B A E T trifft hier in einer gewissen Weise mit S T A M M L E E zusammen. Nun ist es auch entwickelungshistorisch und vor allem empirisch gezeigt worden, daß die materialistische Geschichtsauffassung entweder falsch oder nichtssagend sei. Sie scheitert nicht, wie S T A M M L E E wähnte, weil sie unfertig und unausgedacht, an ihrer Aufgabe, die soziale Gesetzmäßigkeit der menschlichen Geschichte nachzuweisen, sondern weil sie von Anfang an falsch, unrichtig sowohl im psychologischen wie sozialen Sinne angelegt war. Daran kann auch die erkenntnistheoretische Krücke, die so viele gar zu gern dem soziologischen Marxismus reichen möchten, nichts ändern. Der Marxismus bleibt mit oder ohne psychologische Ergänzung, mit oder ohne erkenntnistheoretische Verbrämung verfehlt. Alle künstlichen Belebungsversuche müssen hier scheitern. Man baut ein gotisches Haus nicht im Barockstile weiter. Ich glaube, daß einst die ausführlichere, mit Detail erfüllte entwickelungshistorische Analyse des ökonomischen Materialismus auch dem blödesten Auge deutlich sichtbar machen wird, was vor einem Dezennium nur wenigen Erkenntnistheoretikern schwante. Vielleicht wird sogar der ökonomische Materialismus rascher sterben, als man jetzt allgemein glaubt. Heutzutage allerdings kann es keine geistige Strömung mit ihm an mächtigem Einflüsse auf die Volksseele aufnehmen. Ich möchte diese Art, den ökonomischen Materialismus zu kritisieren, als die realistische, oder um besser das Wesen der konstituierenden Elemente, aus denen sie besteht, zu zergliedern, als die p s y c h o l o g i s c h soziale bezeichnen. Wird dadurch wirklich auch innerlich der ökonomische Materialismus überwunden? Die Lehre der materialistischen Geschichtstheorie läßt sich ohne jeden Zwang in vier miteinander im organischen Zusammenhange befindliche Einzelprobleme auflösen. Der ökonomische Materialismus enthält erstens die Identität der historischen Gesetzmäßigkeit mit der wirtschaftlichen, zweitens die Lehre von den Ideologien oder die Annahme, daß alle psychischen Einflüsse und alle Bewegungen der
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Volksseele nur Reflexe der ökonomischen Geschichte sind, drittens die Theorie des Klassenkampfes und endlich viertens die Anschauung, die Menschen könnten durch ihre Politik und ihr soziales Wollen den gewaltigen ökonomischen Prozeß zwar nicht wesentlich beeinflussen oder aufhalten, aber doch in gewissem Sinne rascher herbeiführen. Die Hauptannahme von der Geschichte als wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeit braucht nicht direkt falsch zu sein. Aber der sozialpsychologische Standpunkt in der Geschichtsbetrachtung macht es uns klar, daß dieser Hauptsatz der materialistischen Auffassung in seiner allgemeinsten Form richtig, in dieser Fassung zugleich aber nichtssagend, unfruchtbar und unwirksam sei. Geradezu zerstört aber wird, wenn mich nicht alles täuscht, durch diesen kritischen Standpunkt die Lehre von den Ideologien. Wenn es wahr ist, wie wir gesehen haben, daß die Kunst vor dem anschaulichen Denken gleichzeitig mit der wirtschaftlichen Technik in der Geschichte auftritt, so ist nicht einzusehen, warum auch den nicht ökonomischen Momenten jene Selbständigkeit und historische Selbstherrlichkeit zukommen soll, die der soziologische Marxismus nur für den wirtschaftlichen Prozeß und seinen Träger, die Technik, in Anspruch genommen hat. In der That setzt sich auch überall gleichzeitig mit den Produktionsbewegungen die Wirkung von Kunst und stark anschaulichem Denken in der Geschichte an. Nur das begriffliche Denken ist ein Spätprodukt. Der wirtschaftliche Prozeß ist also nicht das Fundament der Geschichte — nur einige sogenannte Ideologien sind Reflexbewegungen. Andere sind in derselben Weise wie die Produktionsveränderungen Urphänomene, Ursachen von auf ihnen fußenden historischen Begleiterscheinungen und sekundären Prozessen. Will man schon eine Grundeigenschaft zum Prinzipe aller Historie erheben; so kann man wohl ohne jede künstliche Konstruktion in Übereinstimmung mit Urgeschichte und empirischer Völkerkunde behaupten: D i e P h a n t a s i e i s t der D e m i u r g a l l e r H i s t o r i e . Und weiter gehend, die spätere Geschichte gleichsam aus der Vogelperspektive betrachtend, kann man, ohne in Konflikt mit den Daten der Einzelwissenschaften zu geraten, sagen: E s giebt für die spätere Geschichte, was die ursächliche Wirksamkeit betrifft, einen Parallelismus zwischen der entwickelten, aus der elementaren Phantasie hervorgequollenen Kunst, dem unbegrifflichen Denken und der wirtschaftlichen Technik. Von diesen Grundfaktoren sind dann die eigentliche Philosophie, die Politik, die Jurisprudenz und verschiedene andere Ideologien in Abhängigkeit zu setzen. Man sieht also: grundlegender,
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ursächlicher, viel mehr Urphänomen als die Produktionsart ist die Phantasie; parallel mit ihr laufen andere Faktoren. Daraus folgt: die Lehre von den Ideologien ist nicht nur unvollständig, wie viele Kritiker meinen, eine Teilwahrheit, wie die formalerkenntnistheoretische Kritik sagen dürfte, sondern sie ist schon deshalb in ihrer Anlage falsch, weil sie den Blick auf die soziale Wirklichkeit verschleiert und die historische Wirksamkeit von wahrhaft bildenden Kräften, insbesondere der grandiosen und so elementaren Wirkung der Phantasie wie in einen Nebel hüllt. Der Klassenkampf ist nicht absolut unrichtig, denn empirisch kommen ja thatsächlich die geschilderten Klassenkämpfe in der Geschichte vor. Auch ihre Bedeutung ist sicherlich eine große. Man kann aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts sicherlich eher SCHOPENHAÜER'S Philosophie, WAGNER'S Musikdramen, BÖCKLIN'S Bilder wegstreichen, als die Kapitalistenklasse. Aber der ökonomische Materialismus lehrt ja nicht allein das empirische Vorhandensein von Klassenkämpfen. Er will vor allem durch die Konstatierung dieser Klassenkämpfe den wirtschaftlichen Charakter der historischen Gesetzmäßigkeit überall aufzeigen und aufdecken. Die Herrschaft der sozialen Klassen ist aber gebunden an den jeweiligen Stand der Produktion, und wir haben gesehen, wie dieses historische Merkmal nicht allein von der wirtschaftlichen Veränderung verursacht werden kann, man müßte denn hier wirtschaftliche Veränderungen mit dem so allgemeinen und darum nichts erklärenden Prinzip der Lebensfürsorge identifizieren. Was endlich das vierte und letzte Einzelproblem des ökonomischen Materialismus betrifft, so wird sich hierüber wohl nur in anderem Zusammenhange und bei anderer Gelegenheit etwas Definitives sagen lassen. Nun kann auch die Frage beantwortet werden, was eigentlich denn von der materialistischen Geschichtstheorie noch übrig bleibt. Zunächst das Streben, das Wollen, die Tendenz nach sozialer Gesetzmäßigkeit. Hier hat sich entschieden der Marxismus ein großes Verdienst erworben. Schon für die älteren Geschichtsphilosophen, für HEEDER, 1 ja sogar für Vxco war das Individuum als solches nicht ausschließliches Objekt der historischen Darstellung. Man nahm, wenn auch nicht immer und in präziser Weise, an, daß das Leben der Völker eine Art Fortsetzung der Naturgeschichte dar1
Vgl. ineine kleine Schrift: „Verschiedene Geschichtsauffassungen". Leipzig,
OTTO W I G A N D ,
1890.
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stelle. Von diesem Standpunkte bis zur kausalen Gesetzmäßigkeit ist noch ein weiter Schritt. Selbst in der modernen biologischen Soziologie der Engländer und Franzosen wird die Gesamtheit der historischen Vorgänge nicht so streng und durchgängig der sozialen Gesetzmäßigkeit unterworfen. Handelt es sich doch hier meist um reine naturwissenschaftliche Analogien und um eine Übertragung von in der Biologie und anderen Naturwissenschaften Geltung habenden Grundsätzen auf die geschichtlichen Probleme selbst, die eigentlich nur nebenbei untersucht werden. Fast allein die materialistische Geschichtstheorie stillt also, wenn auch in falscher Weise, unser Verlangen nach Gesetzmäßigkeit. Ob aber diese Gesetzmäßigkeit in sozialen Dingen überhaupt erreichbar ist, das Problem hat der Marxismus gar nicht mit vollem Bewußtsein seiner Tragweite aufgeworfen. Es soll eben später bewiesen werden, daß es eine solche soziale Gesetzmäßigkeit nicht giebt oder, besser gesagt, für lange und absehbare Zeit unserem wissenschaftlichen Denken, j a unserem Bewußtsein unauffindbar erscheint. Für gewisse historische Zusammenhänge innerhalb gewisser Zeiträume ist nun diese Geschichtstheorie ein relativ richtiges heuristisches Erklärungsprinzip. Man kann z. B. damit die mehr verborgenen wirtschaftlichen Triebkräfte der französischen Revolution aus der historischen Versenkung hervorziehen. Man kann damit nach meiner Überzeugung die Untergangsperiode des römischen Weltreiches greller und heller beleuchten, als dies bisher gethan wurde. Viele Momente des deutschen Mittelalters werden uns durch eine gemilderte wirtschaftliche Motivation näher gerückt. Die Ohnmacht des deutschen Bürgertums, besonders im Jahre 1848, läßt sich zum Teile aus rein wirtschaftlichen Ursachen erklären. Kurzum, gewisse Zusammenhänge, gewisse Perioden vertragen die Behandlung durch die materialistische Geschichtstheorie, wenn man dieselbe zu einer heuristischen Forschungsmethode reduziert. Andere Zusammenhänge und andere Perioden wiederum nicht. So wäre es z. B. mehr als verfehlt, wollte man in der italienischen Renaissance, diesem seltsamen und überaus schönen Weltaufstieg neuer Anschauungen, in dieser Periode des Keimens und Blühens der psychischen Vertiefung des Menschlichen, in welcher der eigentliche Begriff der Individualität sich formte, nur ökonomische Entwickelungsmomente sehen.
Siebentes Kapitel.
Historische und soziale Gesetze. Von der materialistischen Geschichtsauffassung ist nicht viel übrig geblieben. Ihre philosophische Grundlage hat sich als schwach und jeder Reform unzugänglich erwiesen und es hat sich herausgestellt, daß man gegen den Marxismus einen Einwand so gewichtiger Art machen kann, daß selbst der reine Empiriker gezwungen ist, ihn zu beachten. Wenn wir alle Philosophie und alle Erkenntnistheorie beiseite lassen, so hat eine allgemeine Prüfung urhistorischen Geschehens erwiesen, daß die Produktionsfaktoren nicht primär, nicht anfänglich im absoluten Sinne des Wortes sind. Sicherlich lassen sich auch andere Einwände gegen die materialistische Geschichtsauffassung erheben und sind zum Teile auch erhoben worden, aber sie reichen alle an Klarheit, an ausschlaggebender Bedeutung und Wichtigkeit lange nicht an unseren Haupteinwand heran. Derselbe zerstört das Grundprinzip der materialistischen Geschichtsauffassung, er vernichtet formlich das Wesen des soziologischen Marxismus. Denn mit dem bloßen Hungerprinzip, mit der nackten Lebensfursorge, mit dem zoologischen Prinzip in der Geschichte läßt sich nicht viel anfangen. Aber es wurde auch gezeigt, daß die materialistische Geschichtsauffassung kein allgemein heuristisches Prinzip sein kann, daß es eben geschichtliche Perioden und historische Zusammenhänge giebt, die eine grelle Beleuchtung durch den rein ökonomischen Reflektor nicht vertragen. Denn, wie wir gesehen haben und wie noch des späteren erhärtet werden soll, giebt es Zeiten, in denen das Walten der verborgenen psychischen Kräfte so sehr auch intellektuelle Wertschätzungen und komplizierte Phantasiegebilde an die Oberfläche wirft, daß selbst eine rein heuristische, ökonomische Betrachtungsweise ohne jede Prätention allgemeiner Gültigkeit hier nur verwirrend wirken kann. So bleibt denn den Anhängern der materialistischen Geschichtsauffassung nur noch ein Ausweg übrig. Sie könnten nämlich behaupten: Gut, es ist erwiesen worden, daß der soziologische Marxismus keine allgemeine Geschichtsphilosophie, daß er selbst kein allgemeines heuristisches Prinzip sei, aber es ist noch nicht erwiesen, daß er trotzdem keine allgemeine methodische Bedeutung für den H i s t o r i k e r haben kann; Das Wort Historiker ist hier besonders hervorzuheben, denn für den Soziologen und allgemeinen
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Denker kann ja eine Anschauung, die nur für gewisse Perioden als heuristisches Prinzip gelten darf, keine allgemeine methodologische Bedeutung besitzen. Der ökonomische Materialismus kann nicht mehr Anspruch erheben, eine geschichtsphilosophische Methode zu sein, aber er kann noch immer Rechte geltend machen, dem Detailhistoriker große Dienste zu leisten, größere wie irgendeine Geschichtsauffassung bisher. Denn daß in der Betonung rein wirtschaftlicher Faktoren eine gewisse Bedeutung für den Detailhistoriker, eine gewisse Befruchtung des Fachwissens liegt, kann ja nicht geleugnet werden. Aber es würde sich hier ausschließlich um den Gradunterschied handeln; der soziologische Marxismus müßte beweisen, daß er in höherem Maße wirkungsvoller, intensiver die Detailforschung anzuregen im stände ist. In einem gewissen bedingten Maße hat ja bisher jede bedeutende Auffassung der Geschichte anregend auf den Fachmann gewirkt. B U C K L E ' S Einfluß, der durch seine bloße Einleitung zu einer Kulturgeschichte Englands mehr gewirkt hat, wie spezielle Historiker mit Wunderwerken ausgeführter Detailgeschichte, mit Monumentalarbeiten positiver Erforschung, ist ja von niemand geleugnet worden. Aber selbst der so intellektualistische, konstruierende, abstrakte A U G U S T E C O M T E hat auf die historische Disziplin befruchtend gewirkt. Ein so bedeutender Fachgelehrter wie B E R N H E I M , der sonst der Geschichtsphilosophie nicht absonderlich hold ist, hat dies ausdrücklich anerkannt. „In der That", sagt er wörtlich,1 „hat C O M T E außerordentlich anregend auf die Geschichtsforschung nicht nur in Frankreich, sondern auch besonders in England und Amerika gewirkt. Eine Reihe wertvoller Werke verdanken wir direkt dem Einflüsse" seiner Geschichtsphilosophie. Viele seiner Anschauungen sind geradezu Gemeingut der europäischen Geschichtsauffassung geworden, so daß uns bei der Lektüre seiner Werke manches, was dort zum ersten Male ausgesprochen wird, fast trivial erscheint, weil es uns, ohne Kenntnis des Ursprungs, längst schon geläufig geworden." Das ist die letzte Feste des soziologischen Marxismus. Seit längerer Zeit bemühen sich die einsichtigeren Köpfe, die Neomarxisten, die Allgemeingültigkeit, das Prinzipielle der Auffassung zu mildern; sie streben danach, aus der Geschichtsauffassung eine Geschichtsmethodik zu machen. Aber auch den allgemeinen Charakter einer Methode verliert sie in dem Augen-
1
sophie".
Vgl. Dr. EBNST BBKNHEIM , „Geschichtsforschung u n d
Geschichtsphilo-
Göttingen 1880. S. 58.
WEIBKHÖBÜN , Marxismus.
1
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Siebentes Kapitel.
blicke, wo nachgewiesen werden kann, daß nicht nur ihr Fundamentalsatz keine Bedeutung habe, sondern daß auch die so wichtige Lehre von den Ideologien unstichhaltig ist. In dem Augenblicke, wo das Materielle zu einem gewöhnlichen Faktor der Geschichte gleich der Gewalt, besser gesagt der Politik, der Philosophie, Kunst, dem begrifflichen Denken gesetzt wird, in demselben Augenblicke haben wir auch erwiesen, daß nicht alle historischen Perioden das grelle Licht der Hervorhebung materieller Umstände vertragen. Der einst so stolze soziologische Marxismus kann aber nie und nimmermehr sich mit der Stellung eines relativ heuristischen Prinzips gleich vielen anderen relativ heuristischen Prinzipien begnügen. Zu sehr verflüchtigt sich dann das Systemartige, das Weltumspannende. Der soziologische Marxismus gleicht hierin einer Weltmacht, die alles aufgeben kann, nur nicht das moralische Prestige. Um dieses moralische Prestige aber einigermaßen noch zu bewahren, müssen die Marxisten mindestens bei der Behauptung bleiben, daß die materialistische Geschichtsauffassung am meisten dazu geeignet sei, die Detailforschung, die spezielle Historie zu beeinflussen und zu befruchten. Bevor wir diese letzte wissenschaftliche Position des soziologischen Marxismus ob ihres inneren Wertes prüfen wollen, müssen wir aber zunächst den Begriff der sozialen Gesetzmäßigkeit überhaupt untersuchen. Es giebt, wie bereits berührt wurde, keine Geschichtsauffassung, die so sehr mit dem sozialen Kausalitätsbegriffe operiert, wie der ökonomische Materialismus. Wir haben es hier mit der strengsten Anwendung allgemeinen gesetzmäßigen Erfassens des historischen Lebens zu thun. Dreierlei Dinge behauptet also der soziologische Marxismus: 1. daß es eine allgemeine Gesetzmäßigkeit in sozialen Dingen überhaupt giebt, 2 . daß M A R X in der materialistischen Dialektik ein allgemeines Gesetz für die Erfassung der Totalität historischen Wirkens gefunden hat, und
3. daß er die spezifischen Bewegungsgesetze besonders für die kapitalistische Periode zwar nur in gröbsten Umrissen, aber auch mit der größten Schärfe aufgedeckt habe. Es giebt nun allerdings Neomarxisten, welche behaupten, der Marxismus habe nur spezielle Gesetze aufgestellt, aber dies ist nicht richtig. Wiederum thun hier die Neomarxisten der Lehre des
Historische und soziale Gesetze.
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Meisters Zwang an. M A R X und E N G E L S haben beide sowohl an spezifische Bewegungsgesetze wie an allgemeine Gesetze geglaubt. In der Schrift über F E U E R B A C H , die noch mehr wie der AntiD Ü H R I N G die tiefste Behandlung marxischer Probleme enthält, wird z. B. gezeigt, wie die Dialektik von M A R X den Hegelianismus auf den Kopf stellt und dabei behauptet, daß die Dialektik die Wissenschaft von allgemeinen Gesetzen der Bewegung sei (vgl. ENGELS, a. a. O. S. 53). In derselben wird (S. 45) behauptet, daß der dialektische marxische Materialismus im Gegensatze zum philosophischen alle Triebkräfte der Geschichte, auch die ideellen, auf die letzten bewegenden Ursachen zurückführt. Noch klarer ist dies im AntiDÜHRING. Da sagt ENGELS wörtlich: „Die politische Ökonomie ist somit wesentlich eine historische Wissenschaft, sie behandelt einen geschichtlichen, d. h. einen stets wechselnden Stoff, sie untersucht zunächst die besonderen Gesetze jeder einzelnen Entwickelungsstufe der Produktion und des Austausches, und werden wir erst am Schlüsse dieser Untersuchung die wenigen für Produktion und Austausch überhaupt geltenden ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können." Hier wird also kategorisch von speziellen sowohl als von a l l g e m e i n e n G e s e t z e n gesprochen. Dann nennt E N G E L S einmal den Klassenkampf das „große Bewegungsgesetz der Geschichte" und in der Einleitung zur Schrift von M A R X , „Der 18. Brumaire", sagt er ausdrücklich, der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus habe hier die Probe auf sein Gesetz gemacht. ENGELS und M A R X sprechen wohl von allgemeinen Gesetzen und der Beweis, daß es überhaupt solche allgemeine Gesetze nicht geben kann, wird ein grelles Streiflicht auf die gesamte Lehre von M A R X werfen. Bevor wir ausmachen wollen, ob es eine allgemeine soziale Gesetzmäßigkeit giebt, müssen wir an den engeren, aber festeren Begriff sozialer Gesetzmäßigkeit anknüpfen, wie er in der Geschichte thatsächlich herrscht. Sicherlich giebt es in gewissem Sinne eine soziale Gesetzmäßigkeit, aber zunächst kommt sie, inwieweit wir überhaupt zu sehen vermögen, inwieweit wir die Geschichte wirklich verfolgen können, nicht allen historischen Erscheinungen zu. Von gewissen historischen Phänomenen können wir mit aller Bestimmtheit behaupten, daß wir sie überhaupt mit anderen nicht einmal in einen äußerlichen, also streng genommen nur relativen, kausalen Zusammenhang zu bringen vermögen. Dort, wo alles über das rein individuelle Moment Hinausgehende einstweilen noch zur Hypothese, zur 7*
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rein konstruktiven Schablone einer über das Konkrete hinausführenden philosophischen Auffassung wird, dort können wir nicht einmal jene allgemeinen und zum größten Teile flüchtigen Zusammenhänge ins Auge fassen. .Wiederum andere und glücklicherweise immer zahlreicher werdende historische Erscheinungen sind in einen gewissen Teilzusammenhang zu bringen. Mühelos und organisch lassen sie sich mit anderen Zeitereignissen verknüpfen und mit Ausschaltung jeder künstlichen und rein begrifflichen Interpretation ordnen sie sich wie von selbst unter allgemeinere Gesichtspunkte. Aber selbst diese historischen Phänomene sind nie und nirgends in keinem einzigen Falle auf ihre letzten Ursachen zurückzuführen. Nie hat das Auge eines wirklich bildenden, ohne soziale Vorurteile und philosophische Voreingenommenheit schaffenden Historikers die wirklich letzte Ursache eines historischen Phänomens erblickt. Immer wieder müssen die Teilzusammenhänge aufgelöst, eine andere provisorische kausale Kette von Ereignissen muß eingefügt werden, wenn die Historie nicht zur Philosophie und der Geschichtsschreiber nicht zum konstruierenden, mit reinen Begriffen arbeitenden Philosophen werden soll. Also erstens der sozialen Gesetzmäßigkeit (inwieweit sie in der Geschichte wenigstens in Betracht kommt) kommt keine Allgemeingültigkeit zu. Zweitens kann sie auch nie und nimmer selbst für ein einziges historisches Geschehen uns zu letzten Ursachen zurückfuhren. Wir bezeichnen also einen so gearteten Kausalitätsbegriff, wie er wirklich in der Geschichtsschreibung herrscht, als relative soziale Gesetzmäßigkeit. Sie besteht in der That, kann nicht geleugnet werden und muß von jedem Geschichtsphilosophen noch mehr und noch schärfer betont werden, wie vom eigentlichen Detail-Historiker. Jenen relativen Kausalitätsbegriff hat wohl auch S I M M E L 1 gemeint, wenn er von besonderer Gesetzmäßigkeit im Gegensatze zu besonderen Gesetzen spricht. „Gewiß ist es ein gesetzmäßiger Vorgang", meint er, „wenn die Freiheit und die Höhe der Lebenshaltung von der Minorität zur Gesamtheit auf- und von dieser wieder zu jener absteigt, oder wenn dem Zeitalter der Spekulation ein Zeitalter des Glaubens und diesem ein solches der Forschung folgt. Allein wir dürfen kein besonderes Gesetz annehmen, welches den einzelnen Ereignissen, deren Erfolg jene Übergänge sind, ihr Zusammentreffen zu eben diesen bestimmten Resultaten vorschriebe. 1
Vgl. GEOBG SIMMEL, „Die Probleme der Geschichtsphilosophie". Leipzig 1892, besonders S. 38.
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So ist auch das Leben ein gesetzmäßiger Vorgang, allein es giebt kein Gesetz des Lebens." Das ist der beschränkte Kausalitätsbegriff der wirklichen Historie. Sein Vorhandensein besagt noch nichts für jene allgemeine soziale Gesetzmäßigkeit, die der Geschichtsphilosoph mit ängstlichem Bemühen dem Wesen historischer Ereignisse abzulauschen sucht. Dies Problem fällt zusammen mit der Frage nach den allgemeinen Gesetzen sozialen Geschehens überhaupt. Wenn es allgemeine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte giebt, so muß es auch eine solche in allen Disziplinen, die man als sogenannte „Geisteswissenschaften" bezeichnet, geben. Es muß dann auch, wenn es allgemeine historische Gesetze giebt, allgemeine nationalökonomische, allgemeine philologische, allgemeine Geistesgesetze überhaupt geben. Denn die Historie fallt in keiner Weise aus dem allgemeinen Rahmen der so unpräzise und so unerkenntnistheoretisch als „Geisteswissenschaften" bezeichneten Disziplinen. Sie hat mit der Philologie, der Litteraturbetrachtung, der Nationalökonomie doch auf jeden Fall das gemeinsame Merkmal, die Produkte rein menschlicher Entfaltung zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchungen zu haben. Um mich etwas allgemein auszudrücken, alle die genannten Wissensgebiete haben bei aller sonstigen methodischen und prinzipiellen Verschiedenheit doch auf jeden Fall eins gemeinsam. Sie behandeln das sogenannte „künstliche" im Gegensatze zum natürlichen, vom Menschen eben nicht geschaffene Milieu. Es giebt nun, um bei dieser unpräzisen, aber einmal gebräuchlichen Ausdrucksweise zu bleiben, neben den Natur Vorgängen menschliche Begebenheiten. Den allgemein gültigen Naturgesetzen müssen also allgemein gültige Gesetze der menschlichen Begebenheiten gegenüberstehen, das sind eben die sozialen Gesetze. Wer Subtilitäten und feine Unterschiede liebt, könnte nun hier einwenden, daß in einem gewissen Sinne allgemeine soziale Gesetzmäßigkeit mit allgemeinem sozialen Gesetze j a gar nicht identisch wäre. Man braucht kein einziges allgemeines soziales Gesetz gefunden zu haben, um trotzdem ein für allemal die Gesetzmäßigkeit des gesamten sozialen Lebens konstatiert zu haben. Diese Konstatierung besagt eben nur, daß der Kausalitätsbegriff mit strenger Notwendigkeit in der Geschichte herrschen muß, selbst wenn wir vermöge unserer noch schwachen Hilfsmittel, vermöge unserer ganzen geistigen Organisation auch kein einziges allgemein gültiges Gesetz aufzufinden vermögen. Nun ist es unzweifelhaft richtig, daß eine
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solche ganz formale, äußerst abstrakte Konstatierung sozialer Gesetzmäßigkeit ohne Formulierung eines einzigen Gesetzes an sich möglich ist. Ich stehe sogar auf dem Standpunkte, daß in diesem streng formalen Sinne die Behauptung allgemeiner sozialer Gesetzmäßigkeit als Postulat unseres logischen Denkens überhaupt wird ausgemacht werden können. Aber zunächst ist auch rein theoretisch für einen Erkenntnistheoretiker nur jene soziale Gesetzmäßigkeit vorhanden, die er sieht, die er den Ereignissen abzulauschen vermag, die er anschaulich zu denken im stände ist. Der Begriff der sozialen Kausalität bleibt ohne vorhandene allgemeine soziale Gesetze eine abstrakte, formale Verknüpfung der Dinge, die erst durch Auffindung solcher Gesetze vom Gedankendinge in eine Wirklichkeit umgegossen werden muß. Eine solche allgemeine formale Verknüpfung ist nicht nur unfruchtbar, sondern in einem gewissen Sinne auch überaus schwer feststellbar, weil ihr so gar keine Anschaulichkeit zukommt. Ein einziges allgemeines soziales Gesetz müßte existieren, damit der allgemeine Begriff sozialer Gesetzmäßigkeit in den Kreis wissenschaftlich fruchtbarer Untersuchungen trete. Mit der bloßen Konstatierung, daß es eine soziale Kausalität geben muß, die wir nur nicht zu erkennen vermögen, ist weder der Philosophie noch der Soziologie, weder der Nationalökonomie noch der Geschichte etwas geholfen. Das Gedankending der allgemeinen sozialen Gesetzmäßigkeit muß an vorhandenen allgemein sozialen Gesetzen geprüft werden. Die bange Frage entsteht nun: Giebt es auch solche? Werfen wir zunächst einen Blick auf die Litteratur, welche von den Gesetzen im allgemeinen und den sozialen Gesetzen im besonderen handelt. Auf J O H N STUART M I L L , der in seiner Logik mit der ihm eigentümlichen Klarheit den Gegenstand behandelt, soll hier nicht eingegangen werden. Einerseits ist schon J O H N STUART M I L L zu sehr unserem Denkeil fremd geworden, das vielfach mit differenzierteren und komplizierteren Begriffen arbeitet, andererseits aber stand auch seine logische Untersuchung über soziale Gesetze unter dem Einflüsse seiner spezifisch nationalökonomischen Anschauung. Der vielleicht bedeutendste Epigone klassischer Nationalökonomie mußte notgedrungenerweise aus dem ganzen, heute doch zum größten Teile verlassenen volkswirtschaftlichen Standpunkte heraus allgemeine Gesetze konstruieren, auf deren Formulierung ein moderner Nationalökonom nie gekommen wäre. So spricht er vom Gesetze der Arbeitsvermehrung, vom Gesetze der Kapitalsvermehrung, ja von einem Gesetze der Produktionsvermehrung in Bezug auf das Land,
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von Schlußfolgerungen aus den vorhergehenden Gesetzen u. s. w., u. s. w. 1 Erwähnt soll hier nur werden, daß gar manche deutsche theoretische Nationalökonomen, die über diesen Gegenstand gearbeitet haben, noch heute unter dem Einflüsse J O H N S T U A R T MILL'S stehen. So hat sich auch der scharfsinnige F. R. J. NEUMANN2 von dem Einflüsse MILL'S nicht emanzipieren können. Der Reigen soll hier mit G U S T A V RÜMELIN, 3 dem gewesenen Kanzler der Tübinger Universität, eröffnet werden. RÜMELIN'S tiefsinnige und gründliche Untersuchung geht zunächst auf Feststellung des Begriffes Gesetz überhaupt. Das Gesetz ist ihm die elementare, konstante, in allen einzelnen Fällen die Grundform erkennbarer Wirkungsweise von Kräften. Da der Kraftbegriff nun aber sich nicht ohne weiteres auf historische und soziale Vorgänge anwenden läßt, da sogar seine Anwendung hier auf die größten Schwierigkeiten stößt, kommt R Ü M E L I N auch zu einem Resultate, das der absoluten Negation von Gesetzen sozialen Geschehens gleichkommt. Aber sein Standpunkt ist in den beiden Reden doch ein verschiedener. In der ersten (S. 13) kommt er zu dem Resultate, nur die Nationalökonomie sei im vollsten Rechte, wenn sie einige ihrer Fundamentalsätze geradezu Gesetze nenne, denn diese Gesetze entsprechen genau der Forderung des Kraftbegriffes, sie seien konstante Grundformen und sie weisen eine Massenwirkung physischer Kräfte auf; insbesondere gilt dies von den statistischen Gesetzen. In seiner zweiten Rede scheint er aber davon abgekommen zu sein, daß es überhaupt Gesetze in den Geisteswissenschaften gebe. Er sagt: „Ich habe nun durch eine Reihe von Jahren die Aufgabe, Gesetze solcher Art zu finden, nie aus den Augen verloren und habe sie nicht bloß in der Statistik und Gesellschafitslehre, sondern auch bei den Historikern und Philologen gesucht. Ich stieß aber niemals auf einen Satz, der jener Formel für ein Gesetz entsprochen hätte." (Er meint dabei seinen Kraftbegriff.) Sehr interessant ist auch in der zweiten Rede seine Auseinandersetzung
1
Vgl. JOHN STUABT MIX-L, „Grundsätze der politischen Ökonomie", deutsch
v o n A s o r a SOBTBEEK, 1. Bd., zugleich 5. Bd. v o n JOHN STUABT MIIL'S gesam-
melten Werken. Leipzig 1881. 2 Vgl. „Naturgesetz und Wirtschaftsgesetz", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1892, ferner „Wirtschaftliche Gesetze nach früherer und jetziger Auffassung", Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1898. 8 Vgl. „Über den Begriff des sozialen Gesetzes", in „Reden und Aufsätzen", 1875, S. 1—31, dann „Über Gesetze in der Geschichte", in „Reden und Aufsätzen", N. F., 1881, S. 118—148.
Siebentes Kapitel.
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über den Zufall, dem er eine berechtigte Bolle in der Weltgeschichte einräumt. Er versteht allerdings darunter das unerklärte Aufeinanderstoßen unter sich
beziehungsloser
Kausalreihen.
Man
wird
bald
herausfinden, daß der so formulierte historische Zufallsbegriff eigentlich nur eine Variation unserer relativen sozialen der gewöhnlichen Historie ist.
meist um wirkliche Kausalreihen, beziehungslos sind. „zumeist".
Bei
die aber untereinander zumeist
Der Unterschied liegt eigentlich im Wörtchen
RÜMELIN ist eben diese Beziehungslosigkeit
allgemeine und notwendige. schärfer den
Gesetzmäßigkeit
Denn auch hier handelt es sich zu-
Gedanken
eine
Sein sozialer Zufallsbegriff prägt noch
aus, daß es ein Zurückführen der aufge-
fundenen relativen Kausalreihen auf letzte kausale Momente nicht giebt, ebensowenig wie eine Verknüpfung all dieser besonderen aufgefundenen Kausalreihen des Historikers untereinander. WILHELM WINDELBAND hat seine Anschauungen über Gesetze in
seiner Straßburger Rektoratsrede „Geschichte und Naturwissen-
schaft" 1894 niedergelegt.
Er
beschäftigt sich zunächst mit dem
Einteilungsprinzip der Wissenschaften und meint, daß man sie nach ihren Erkenntniszielen
zu klassifizieren habe.
Die
einen Wissen-
schaften suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Thatsachen.
Die Erfahrungswissenschaften suchen in der Er-
kenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt.
Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereignis-
wissenschaften.
Jene lehren, was immer ist, diese, was niemals war.
Sehr schön heißt es bei ihm wörtlich: „Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert; es dient ihm nur so weit, als er sich für berechtigt
halten
darf,
es
als Typus,
als speziellen Fall
eines
Gattungsbegriffes zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflektiert nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit geeignet sind.
Für
den Historiker be-
steht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwart neu zu beleben.
Hieraus folgt, daß in dem naturwissenschaftlichen Denken
die Neigung zur Abstraktion vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur
Anschaulichkeit.
Das wird
ihre Forschungsergebnisse vergleicht.
einleuchten,
wenn man
So fein gesponnen auch die
begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Vorarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus
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der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit zu verarbeiten, und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. Sie reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergangenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Eingen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie ganz anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, ihre Erkenntnisziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulierungen von Gesetzen der Bewegung: sie läßt — echt platonisch — das einzelne Sinnding, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Schein hinter sich und strebt zur Erkenntnis der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitlicher Unwandelbarkeit über das Geschehen her rauschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präpariert sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten — der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgültig gegen das Vergangene, wirft sie ihren Anker in das ewig sich selbst Gleichbleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung." Einen ähnlichen Standpunkt vertritt R I C K E R T , welcher meint, daß nur die Naturwissenschaften auf Begriffe und Gesetze ausgehen, während die Geisteswissenschaften dies eben nicht thun. Die Naturwissenschaften streben danach, für die Mannigfaltigkeit der Vorgänge ein allgemein geltendes System von mathematisch formulierbaren Gesetzen aufzustellen. Man dürfe nun diese den Naturwissenschaften eigentümliche Art nicht ohne weiteres auf die Geschichte übertragen, in ihr sei bloß das Individuelle zu Hause, denn die historischen Wissenschaften haben es nur mit den singulären Erscheinungen, mit dem Einzelnen zu thun. Diese Betrachtung der Dinge schließe die Gesetzmäßigkeit aus, ein historisches Gesetz sei eine contradictio iu adjecto.1 Auch der bereits erwähnte G. S I M M E L , ein ebenso scharfsinniger wie feiner Kopf, negiert eigentlich die Existenz historischer Gesetze, 1
Vgl. H. RICKERT, „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung". Freiburg und Leipzig 1896.
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nur tritt bei ihm die Wesensbestimmung der Historie als Lehre des Individuellen und Singulären nicht so scharf hervor, wie bei R I C K E K T . Seine ganze erkenntnistheoretische Untersuchung der Geschichte kulminiert überhaupt in dem Nachweise des psychologischen Grundcharakters aller geschichtlichen Phänomene. Die Psychologie, sagt er, ist das Apriori der Geschichtswissenschaft.1 Zunächst, meint er, müsse dem Gesetze ein viel größerer Abstand von der Wirklichkeit zugestanden werden, wie das überhaupt innerhalb des historischen Erfassens möglich sei. Das Gesetz hat ideellen Charakter, keine Brücke führt von ihm zur greifbaren Wirklichkeit, die vielmehr, ganz außerhalb seiner, durch einen besonderen Akt gesetzt sein muß. Insofern also Geschichtswissenschaft zu schildern hat, was wirklich geschehen ist, indem sie die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin ist, tritt sie in den denkbar schärfsten Gegensatz zu aller Gesetzeswissenschaft. Dann sind die Naturerscheinungen weniger kompliziert wie die historischen Phänomene. Daraus folgt auch, daß das, was bei den Naturgesetzen nur möglich ist, bei den sozialen Gesetzen absolut sicher eintreten muß, nämlich die Auflösung in nur zufällige Kombinationen. Hierauf kommt er auf den Erscheinungscharakter der Welt zu sprechen, denn auch ihm wie S C H O P E N H A U E R ist die Welt nur unsere Vorstellung, und meint, daß diese erkenntnistheoretische Wahrheit die naturwissenschaftliche Forschung nicht so sehr belaste, wie die historische. Die äußeren Vorgänge in der Natur lassen sich doch durch unsere wissenschaftliche Symbolik, durch unsere- dazu, zum Teile wenigstens, eingerichteten Sinnesempfindungen erkennen. Um diesen Gedanken S I M M E L ' S förmlich naturwissenschaftlich zu formulieren, möchte ich ihn in folgenden Satz fassen: Die „Ökonomie des Denkens" ist eben der Ökonomie der Naturvorgänge bis zu einem gewissen Grade adäquat. Mit diesem Erscheinungscharakter der Welt hängt es auch zusammen, daß die subjektive ergänzende psychische Thätigkeit in der Geschichte eine größere Bolle spielt, als in der Naturwissenschaft. S I M M E L verwirft ferner die sogenannten statistischen Gesetze (S. 45) und kommt zuletzt auf die sogenannten speziellen Gesetze zu sprechen. Ich will hier seine Äußerungen wörtlich zitieren, um mir später jede Polemik gegen den Begriff spezieller historischer Gesetze, der so sehr im marxistischen Lager herrscht, zu ersparen. „Es ist ein eigentümliches Selbstbekenntnis", ruft er (S. 69) aus, „wenn manche Geschiehts1
Vgl. SIMMEL, a. a. O. S . 33.
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philosophen ganz naiv aussprechen: jede Periode habe ihre eigenen Gesetze. Offenbar ist damit nicht nur gemeint, daß jede Periode andere Erscheinungen darbietet und deshalb die historischen Gesetze in jeder andere Möglichkeiten ihrer Anwendung finden — wie man sagen kann: der Verdauungsprozeß hat andere Gesetze wie die Telegraphie; dies verstünde sich ganz von selbst und bedeutet nur, daß die eine Periode irgendwie anders ist als eine andere; denn diese wird doch nur dadurch anders, daß sie von anderen Gesetzeserfolgen ausgewirkt ist. Vielmehr ist die Gedankennuance die, daß selbst die gleichen Bedingungen in verschiedenen Epochen von verschiedenen Gesetzen aufgenommen und weitergeführt werden. Die Vorstellung, daß nicht nur die Dinge, die unter den Gesetzen stehen, sondern diese selbst einem Wandel unterworfen sind, ist nicht ebenso selten, wie sie unklar ist; denn was diesen Wechsel der Gesetze veranlassen sollte, weshalb irgend eine Zeit andere darbieten sollte, als irgend eine spätere, ist nicht einzusehen; nur die Thatsache, daß es eben eine spätere ist, könnte als Grund davon genannt werden, aber niemand wüßte zu sagen, woher der Zeitform, der man durch Herausnahme der Gesetze und der Dinge jeden Inhalt genommen hat und die ein völlig leeres Schema ist, diese Macht käme." Auf die geistreichen Ausführungen D I L T H E Y ' S , der in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften" auch auf diesen Gegenstand zu sprechen kommt, soll noch später eingegangen werden. Man sieht, daß der Gedanke der Negation sozialer Gesetze schlechthin sich wie ein roter Faden durch die neuere Litteratur zieht. Wo die Nationalökonomie und Soziologie überhaupt nur mit der modernen Erkenntnistheorie, mit dem heuristischen Prinzip, das jetzt so stark in der Naturwissenschaft herrscht, in Berührung kommt, verleugnet sie auch die Möglichkeit von allgemeinen historischen Gesetzen. Es sind Gründe methodischer Behutsamkeit, welche die neueren Gelehrten so allgemein zu dieser Begriffsbestimmung gezwungen haben. Nur in zwei Punkten herrscht keine Übereinstimmung, hier werden noch geraume Zeit Differenzen obwalten. Dies sind gleichsam die feineren Probleme, mit denen sich von nun an die methodologische Erfassung des sozialen Gesetzesbegriffes wird befassen müssen. Ist die Herrschaft des Individuellen in der Geschichte und in allen ähnlichen Disziplinen wirklich so notwendig, bildet das Untypische und Singuläre als hauptsächlichstes Wesensmoment historischer Erscheinungen thatsächlich die Schranke, das streng Abgrenzende gegenüber allen Naturwissenschaften? Das ist das erste Problem, das mir
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noch lange nicht gelöst erscheint. Das zweite aber lautet: Tritt die Erkenntnis des bloßen Erscheinungscharakters der Welt den historischen und sozialen Wissenschaften wirklich hindernder gegenüber als den naturwissenschaftlichen Disziplinen? Wir würden uns nun begnügen, uns hier nur mit diesen eigentlich allein kontroversen Punkten zu befassen, wenn nicht doch trotz der Übereinstimmung so vieler erkenntnistheoretisch denkender Schriftsteller die Möglichkeit, ja Notwendigkeit sozialer und historischer Gesetze eine so allgemein verbreitete wäre. Die Anhänger der französischen und englischen biologischen Soziologie, verschiedene deutsche Soziologen, die derselben Richtung folgen und die meisten Sozialisten verschiedenster Observanz beeilen sich immer wieder, den gesetzmäßigen Charakter sozialer und historischer Formulierungen zu betonen. Mit einem wahren Feuereifer suchen sie werbend in den Kreisen der allgemein Gebildeten für ihren Gedanken Propaganda zu machen. Schon mehren sich die Anzeichen dafür, daß fast überall, wo der sozialistische Gedanke herrscht, man von der Existenz allgemein gültiger sozialer Gesetze auch fest überzeugt ist. Wo man nun doch Zweifel an dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeit sozialen Lebens hegt, versucht man es wenigstens, den strengen Charakter der in der Naturwissenschaft herrschenden Gesetze derart abzuschwächen und zu verwischen, daß schließlich dann auch gewissen Konstatierungen der Geschichte und der Sozialwissenschaft jener überall gleichmäßig vorkommende in Natur- und Geisteswissenschaften herrschende Gesetzescharakter zweiten Grades zukommen muß. In diesem Sinne spricht in einer der jüngsten Publikationen über diesen Gegenstand Dr. Th. Kistiakowski: 1 „In Wirklichkeit aber haben wir kein Naturgesetz im allgemeinen. Was die Naturwissenschaft bis jetzt erreicht hat, besteht in der Entdeckung der mechanischen, astronomischen, physischen, chemischen, physiologischen und sonstigen Gesetze. Der Begriff Naturgesetz faßt bloß diese getrennten Klassen von Gesetzen in eine gemeinsame begriffliche Gruppe zusammen, es giebt aber kein höheres Naturgesetz, in dem diese Gesetze auch wirklich aufgehen könnten." Es erscheint daher notwendig, bevor wir zu den feineren Problemen übergehen, noch einmal in der möglichst klarsten Weise die Unmöglichkeit sozialer Gesetze hier vor Augen zu führen. Ich weiß wohl, daß die Bezeichnung Gesetz nicht im natur1
Vgl. Dr. Tb. Kibtiakowsxi, „Gesellschaft und Einzelwesen, eine methodologische Untersuchung". Berlin 1899. S. 33 u. folg.
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wissenschaftlichen Zeitalter geprägt worden ist. Eine Übertragung juristischer, ethischer Begriffsbestimmungen auf das naturwissenschaftliche Denken, hat das Wort Gesetz auch hier Bürgerrechte erlangt. Wenn man also von Gesetz spricht, verbindet man unwillkürlich im Bewußtsein mit dieser Bezeichnung den ,Begriff des Naturgesetzes'. Diese Identität der Termini Gesetz und Naturgesetz ist eine so starke, daß sie die gesamte Litteratur über den Gegenstand beherrscht und daß diese Deutung des Begriffes Gesetz selbst von denjenigen angewendet wird, die mit Feuereifer den Beweis sozialer Gesetze zu erbringen suchen. Es erscheint daher notwendig, uns ein wenig nach dem Umfange und der besonderen Gestaltung naturwissenschaftlicher Gesetze umzusehen. Wie kommt im praktischen Getriebe naturwissenschaftlicher Bethätigung das Naturgesetz zu seiner Geltung? Da in der Physik der praktische Gesetzesbegriff am meisten zur Geltung kommt, so fassen wir nur die physikalischen Gesetze ins Auge. WUNDT,1 der in seiner Person ja den Logiker und Naturforscher vereinigt, äußert sich wie folgt darüber. Die allgemeinen Naturgesetze, meint er, auf welche die Physik bei der Kausalerklärung der Erscheinungen geführt wird, lassen sich in zwei Klassen unterscheiden: Es giebt Kraftgesetze und Energiegesetze. In den Kraftgesetzen handelt es sich hauptsächlich um die Wirksamkeit des materiellen Substrates der Erscheinungen. Der Begriff eines allgemeinen Kraftgesetzes kann nur die Bedeutung haben, daß man unter ihm die Funktion versteht, nach welcher sich die beschleunigende Wirkung mit der Größe der Massen und mit der Entfernung der Massenzentren verändert. Das klassische Beispiel hierfür, gleichsam das „Kraftgesetz an sich" ist das NEWTON'sche Gravitationsgesetz. Doch nicht für das Verstehen aller physikalischen Erscheinungen ist der Kraftbegriff ausreichend; immer mehr und mehr tritt an seine Stelle in der modernen Physik der Energiebegriff. Wodurch unterscheiden sich nun diese beiden Begriffe? Bei der Energie handelt es sich nicht wie bei der Kraft um die bloße (mechanische) Veränderung in der Bewegung einer Masse, sondern um den Effekt einer Bewegung. In erster Linie wird also bei der Energie die geleistete Arbeit berücksichtigt. „Unter Energie", sagt W U N D T wörtlich (S. 370), „versteht man demgemäß die in einer Masse oder in einem Massensystem vorhandene Arbeitsfähigkeit." J e mehr nun die physikalische 1
Vgl. WILHELM S. 365—372.
WUNDT,
„Logik", 2. Bd., Methodenlehre. Stuttgart 1883.
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Wissenschaft fortgeschritten ist, in desto höherem Maße hat sie in ihren Untersuchungen an Stelle des alten Kraftbegriffes den modernen Energiebegriff in der Verknüpfung verschiedener bekannt werdender Thatsachen anzuwenden gesucht. Es scheint mir der Hauptfehler R Ü M E L I N ' S gewesen zu sein, daß er in seiner Bestimmung des Begriffes Gesetz schlechthin, zu ausschließlich vom Kraftbegriffe ausgegangen ist. Es soll damit nicht behauptet werden, daß, wie verschiedene Naturforscher, insbesondere O S T W A L D , meinen, durch die immer ausschließlichere Anwendung des Energiebegriffes auch in anderen Naturwissenschaften wie in der Physik der metaphysische Charakter naturwissenschaftlicher Gesetze und Hypothesen vollkommen verschwinden wird. Aber es ist auf jeden Fall einseitig und metaphysisch, den naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff mit dem Kraftbegriffe zu identifizieren, wodurch man sich von vornherein die freiere Auffassung der Dinge vollkommen versperrt. Die Frage entsteht nun: Was ist diesen beiden physikalischen Gesetzesbegriffen gemeinsam? Doch sicherlich zunächst die mathematische Formulierbarkeit der einzelnen Gesetzesbestandteile, die Möglichkeit, die durch eine besondere Anwendung unserer Ökonomie des Denkens, wie A V E N A R I U S und M A C H sagen würde, in die physikalischen Einzelkon statierungen hereingetragene, allgemein gültige und notwendige Beziehung der Dinge auch präzise ausdrücken zu können. Diese präzise Ausdrucksweise ist nur möglich durch die Sprache mathematischer Formeln. Außer der Notwendigkeit mathematischen Ausdruckes kommt auch beiden sonst so verschiedenen Arten von Gesetzesbegriffen die absolute Allgemeingültigkeit zu. Mathematische Präzision und Allgemeingültigkeit sind also die Hauptmerkmale physikalischer Gesetze überhaupt. Da aber die physikalischen Gesetze der typische Ausdruck naturwissenschaftlicher Kausalität überhaupt sind, so kann man diese beiden Merkmale ohne weiteres dem Begriffe Naturgesetz zuschreiben. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns, daß für die Entwickelung der Naturwissenschaft die innige Verbindung mit der Mathematik ein großer Segen gewesen ist. Die naturwissenschaftliche Methodik hat ihre Art der Exaktheit nur durch die Präzision erreicht, welche der mathematischen Formulierung vor allem eigen ist. Schon K A N T hat dies durch die Worte ausgedrückt, daß in den Naturwissenschaften so viel Wissenschaft drinstecke, wie viel Mathematik sich in ihnen befindet. H E L M H O L T Z , der nicht allein einer der größten Naturforscher unserer Zeit, sondern auch ein be-
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deutender Erkenntnistheoretiker war, hat diesen Satz K A N T ' S verschiedene Male variiert und hat in einem Vortrage über G O E T H E Z. B. darauf hingewiesen, daß an der Unmöglichkeit mathematischer Formulierungen die Geisteswissenschaften eben scheitern müssen, d. h. sie müssen es aufgeben, auf den Namen exakte Wissenschaften jemals Anspruch zu erheben. Trotz allem seinem Genius, trotzdem ihm in hohem Maße empirische Kenntnisse zur Verfügung standen, hat der große Künstler G O E T H E , der überall da, wo es sich um bloße Beschreibung handelte, auch ein bedeutender Naturforscher war, in seiner Farbenlehre so ganz fehlgegriffen. Wer nicht mathematisch denken kann, scheint uns H E L M H O L T Z sagen zu wollen, könne ein großer Geist sein, aber er wird es niemals zum exakten Forscher bringen. Trotzdem würde man fehlgehen, wenn man in der Anwendung dieser Wahrheiten auf die Sozialwissenschaften den hier möglichen Gesetzesbegriff durchaus an mathematische Formulierbarkeit knüpfen würde. Es wäre denkbar, ohne mathematische Formeln auch präzise Sätze von Allgemeingültigkeit aufzustellen. Erweist ja schon die Geschichte der Naturwissenschaften, daß von den drei Denkern, die den ersten Fundamentalsatz moderner Energetik selbständig entdeckt haben, derjenige, der ihn am wenigsten mathematisch ausgestaltet hatte, R O B E R T M A Y E R , ihn doch zuerst, vielleicht am tiefsten oder wenigstens am allgemeinsten formuliert hat. Es ist also immerhin möglich, immerhin denkbar, daß man einst dazu gelangen wird, in der gewöhnlichen Sprache ohne mathematische Formeln eine allgemein gültige und feststehende Beziehung der Dinge auszudrücken, aber jene allgemeinen Beziehungskomplexe der Zukunft müßten auch vor allem präzise sein. An die Präzision und Allgemeingültigkeit sind auf jeden Fall die sozialen Gesetze gebunden. Ist eine solche Präzision und Allgemeingültigkeit nun nach dem Stande unserer Wissenschaft zu erreichen? Ja, sind nur Anzeichen und Symptome dafür vorhanden, daß wir in absehbarer Zukunft in der Sozialwissenschaft auch nur in einem Falle diese Forderung werden erfüllen können? Wodurch wird die Präzision, die Allgemeingültigkeit, um nur von einer Disziplin von vorbildlichem Charakter zu sprechen, in der Historie unmöglich gemacht? An sich wäre es ja denkbar, daß man alle historischen Ereignisse einer Periode so verknüpfen könnte, daß man ihr Gesetz einfach heraus hätte. Mau muß sich jedoch klar machen, was zu einer solchen Aufstellung von Zusammenhängen alles gehört.
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Jeder Historiker einer Periode müßte zunächst das Grundwesen der Zeit mit einem einzigen intuitiven Blicke umklammern, müßte gleichsam den psychischen Umfang der Periode vor allem messen können. Denn ohne diese psychische Vorarbeit würde er gar nicht wissen, in welchem Sinne er an die Arbeit zu gehen habe. Dann erst käme die eigentliche Detailarbeit. Wie mühevoll, wie zeitumfassend schon jetzt die Arbeit des Detailhistorikers ist, so bleibt sie doch ein wahres Kinderspiel gegenüber der Leistung, die der Historiker der Zukunft zu machen hätte, um die Vorarbeit für eine wirklich gesetzmäßige Erfassung einer einzigen Periode zu vollbringen. Kein Ereignis, auch das kleinste, dürfte ihm entgehen, kein Dokument, auch das geringste, dürfte ihm unbekannt bleiben. Er müßte alle Personen kennen, ihre Familienverhältnisse, ihr thatsächliches Gebahren, die Meinung der anderen Personen über sie aufs genaueste erfahren. Dann müßte er mit durchdringendem Blicke gleichsam über das gesamte individuelle Leben der Periode hinwegschreiten zu den allgemeineren Beziehungen. Zunächst müßte er die gesamte wirtschaftliche Struktur der Zeit aufs genaueste untersuchen. Denn hier handelt es sich nicht um das Gemälde äl fresco des gewöhnlichen Historikers, der Geschichtsschreiber müßte das Inventar der gesamten Wirtschaft seiner Lieblingsperiode durchaus im Kopfe haben. Dann müßte er in derselben Weise die gesamte Politik durchgehen, mit demselben schaffenden Blicke des Künstlers, mit welchem er früher das gesamte individuelle Leben der Zeit umschloß, auch das Gruppenleben der politisch hervorragenden und politisch unbedeutenden Menschen seiner Zeit gleichmäßig überblicken. Denn in diesem Gruppenleben kommt vor allem die Politik einer Zeit zum Ausdruck. Ebenso wie mit Wirtschaft und Politik müßte er es mit Philosophie und Kunst, mit Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft halten. Dazu würde aber nötig sein, daß er sämtliche Wissenschaften in seinem Geiste vollkommen aufgenommen hätte, denn woher würde er sonst die wirklichen Maßstäbe für die Beurteilung der wissenschaftlichen oder künstlerischen Entwickelung seiner Lieblingsperiode haben? Dann erst müßte er die Beziehungen zwischen diesen einzelnen Gebieten, zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Wirtschaft und Kunst, zwischen Politik und Philosophie, zwischen Kunst und Wissenschaft u. s. w. u. s. w. herstellen. Das alles aber wären nur die Vorarbeiten. Nach dieser vollbrachten schöpferischen Leistung müßte unser Zukunftshistoriker sich noch einmal in einen Psychologen verwandeln, um dieses ganze Getriebe der Zeit mit dem Blicke
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des universellen Genies zu durchschauen. Hätte er jetzt einige allgemeine Zusammenhänge schon heraus, dann müßte die Arbeit des Erkenntnistheoretikers und Logikers beginnen, um diese allgemeinen Konstatierungen in zwei oder drei präzise Sätze zu bringen. Mit der Schlußarbeit, diese allgemeinen Sätze in ein einziges allgemein gültiges Gesetz formuliert zu haben, würde dann das Monumental werk für eine Periode zu Ende sein. So müßte man vorgehen, um ein Gesetz von allgemeiner Gültigkeit nur für eine einzelne historische Periode zu erlangen. Wie viele solcher Perioden aber hat die universelle Geschichte, welche Unsumme von Talent, welche Vergeudung an künstlerischer Kraft, wie viel Anspannung der schärfsten Logik großer Genies, wieviel menschliche Energie, von Gelehrsamkeit ganz zu schweigen, müßte hier geleistet werden. So bekommt man nun einen Begriff, was alles dazu gehört, um ein einzelnes Gesetz der Universalgeschichte zu finden. Es wurde früher von Intuition, von höchstem künstlerischen Schaffen gesprochen. Das gehört in der That in erster Reihe zu einem solchen gesetzmäßigen historischen Erfassen. Ein Parlament von Gelehrten und Künstlern, von denen die geringsten an Begabung einem SHAKESPEARE und NEWTON gleichkommen müssen, sollte zusammentreten, um historische Gesetze aufzufinden. Aber es dürfte in diesem Parlamente keine Rechte und Linke geben, keine Meinungsverschiedenheit, keine Obstruktionsdebatte und keine zu lang ausgedehnten Kommissionssitzungen. Alle diese größten Genies der Menschheit müßten ununterbrochen, durch Jahre lang, mit der größten Anspannung ihrer Kräfte arbeiten, um ein einziges historisches Gesetz zu finden. Man ersieht hieraus, die Auffindung historischer Gesetze ist in einem gewissen Sinne möglich, weil sie denkbar erscheint. Aber für die Gegenwart und nächste Zukunft erscheint eine solche Auffindung so unwahrscheinlich, so unwirklich, daß man nicht einmal über die Wege und Schritte beraten darf, die einst zur Auffindung eines einzigen solchen Gesetzes führen könnten. Es ist evident, daß eine solche Auffassung der Dinge dem allgemeinen, rein formalen und unfruchtbaren Bedürfnisse nach sozialer Gesetzmäßigkeit vollkommen Genüge thut. A n sich wird j a die Auffindbarkeit sozialer Gesetze nicht geleugnet, sie wird nur in die fernste Zukunft hinausgeschoben, in eine Zukunft, von der wir auch nichts ahnen können. Es dürfte also auch die Anhänger der rein formalen sozialen Gesetzmäßigkeit befriedigen, wenn wir ausrufen: Sicherlich wird einst die Zeit kommen, wo auch die Geschichte dem
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menschlichen Geiste erkennbar sein wird, wo präzise und allgemein gültige Gesetze das Chaos der Begebenheiten erhellen werden. Aber ebensowenig wie das Auge des Infusorientierchens, in welchem vielleicht zum ersten Male ein gewisses Bewußtsein der umgebenden Welt sich offenbart, unsere moderne Menschheit mit ihren komplizierten seelischen Gebilden erblicken könnte, so wenig vermag unser sonst so geübtes Auge allgemein gültige historische Gesetze zu sehen. Viel interessanter wie das gröbere, eigentlich schon längst abgethane Problem der historischen wie sozialen Gesetze ist die Frage, ob die Historie in der Hauptsache es wirklich nur mit dem Singulären und Individuellen zu thun habe. Allerdings handelt dies feinere Problem mehr von der Gesetzmäßigkeit historischer Erscheinungen, als von der sozialer Phänomene überhaupt. Wenn W I N D E L BAND, R I C K E R T und andere Gelehrte Recht hätten, wenn in der That hierin das Spezifische aller Geschichtserfassung und Geschichtsschreibung liegen würde, so würde hiermit zugleich auch der wissenschaftliche Charakter dieser Disziplinen verwischt werden. Denn es ist klar, daß man mit um so größerer Kraft ins Individuelle einzudringen vermag, in je höherem Grade man auch die Fähigkeit besitzt, sich psychisch in einzelne Persönlichkeiten zu versenken. Speziell im Historischen droht eine solche singuläre Betrachtung den Blick für das Allgemeine, das Streben nach historischer Weite zu verkümmern. Unbewußt muß man durch eine solche Betrachtung der Dinge vom allgemeinen, vom tieferen Erfassen der Zusammenhänge abrücken und sich entfernen. J a , noch mehr als dies: In dieser Betonung des Singulären, in dieser Hervorhebung des Individuellen wird mit vollem Bewußtsein ein tiefer künstlerischer Wesenszug in alle sogenannten Geisteswissenschaften, vor allem aber in die Historie hineingetragen. Ich möchte gerade hieran folgende Überlegung knüpfen: Unbewußt ist der Historiker großen Stiles stets ein bedeutender Künstler. Die historische Wirklichkeit muß ebenso wie die Realität äußerer Vorgänge ergänzt werden. Wie unsere Sinnesempfindungen unsere scheinbar noch so wissenschaftlichen Wahrnehmungen umbiegen und korrigieren, so muß auch der Historiker die geschichtlichen Ereignisse ergänzen, um sie seinem Geiste einzuverleiben, um sie uus erklären zu können. Dieser Prozeß ist unmöglich ohne ein Sichversenken in eine bestimmte Periode, und daher sprechen Laien wie Historiker von der Notwendigkeit, das Zeitkolorit hervorzuheben.
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Mit dieser Hervorhebung aber beginnt schon das Künstlerische. Nur ein Mann von schöpferischer, künstlerischer Phantasie, der zudem mit plastischer Darstellungskraft begabt ist, wird uns die historischen Ereignisse so hervorzaubern können, daß wir sie in dieser Wiedergabe auch verstehen, wir, die wir alle diese Quellenstudien nicht mitgemacht haben und denen der Versenkungsprozeß in die Psyche vergangener Zeiten hierdurch oft erspart wird. Dieser meist schon vorhandene und unbewußte Prozeß künstlerischer Korrektur und Gestaltung der Geschichte wird nun durch die so geartete Betonung des Singulären zur ausschließlichen historischen Methodik erhoben. Ein Teilgeschehen, ich möchte fast sagen eine Usance des praktischen Historikers wird zum allgemeinen Kanon erhoben. Soll nun aber diese Methode die allein oder auch nur vorwiegend herrschende sein? Wo sind die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Bearbeitung in sozialen Wissenschaften und insbesondere in der Historie? Der Prozeß subjektiven, rein psychologischen Ergänzens ist sicherlich einerseits ein rein künstlerischer und andererseits ein sehr wichtiger für die historische Erfassung. In je höherem Grade sich der Geschichtsschreiber vom bloßen Detail entfernt, in desto höherem Maße bedarf er dieser subjektiven Korrektur. Aber sie ist in unserer Disziplin nicht Selbstzweck wie in der Kunst. Ein Kunstwerk, das über diesen Kähmen künstlerischen Wiedergebens hinausgreift, das in Begriffen zu uns sprechen möchte, ein Kunstwerk, dem das Bilden nicht Selbstzweck ist, ist eben kaum ein reines Kunstwerk mehr. Nehmen wir z. B., um klarer zu sein, einen Dramatiker und Historiker von gleicher Höhe der Begabung. Der Dramatiker hat seine Aufgabe erschöpft, wenn er uns die Periode mit dem Lokalkolorit ausgefüllt, wenn er uns ein Zeitbild in großen Zügen entrollt hat, das wahr und tief empfunden ist. Die allgemeine Idee aus dem Stück ziehen wir schon selbst, sie braucht im Drama nicht enthalten zu sein. Im historischen Drama, wie in jedem Kunstwerk überhaupt sollen, wenn sie ihr Ideal erreichen, allgemeine Ideen und weite Perspektiven in möglichst latenter Form enthalten sein. Sie stellen gleichsam das unbewußte Apriori des künstlerischen Erzeugnisses dar. Der Historiker aber, der sich nur ausschließlich mit einer solchen Schilderung begnügen würde, hätte seine Aufgabe nicht erfüllt. Von ihm verlangen wir Beurteilung der Dinge, keine strenge Kausalität, aber eine relative, kein allgemeines gesetzmäßiges Erfassen, aber ein Anklingen an eine allgemeine Beurteilung der Periode. Aber was noch wichtiger als diese relative 8*
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Kausalität, von der oben die Rede war, ist, der Historiker muß notgedrungenerweise seine Wertschätzungen objektivieren lernen. J e subjektiver das Werturteil des Künstlers ist, desto mehr muß und wird es uns gefallen, je mehr der Historiker versuchen wird, sein Werturteil in möglichst geringen Widerspruch zum allgemeinen Bewußtsein ausklingen zu lassen, in desto höherem Grade wird er unsere Sympathien erwerben. Die Plastik der Darstellung also ist in der Kunst Selbstzweck, in der Historie Mittel zum Zweck. Hierzu kommt noch ein Umstand, der entschieden der Erwähnung bedarf. Der Historiker hat es gar nicht ausschließlich mit dem Individuellen zu thun. Es ist nur so viel wahr, daß gerade das Vorhandensein nur relativer Gesetzmäßigkeit für geraume Zeit die Betrachtung des Individuellen in den Vordergrund schiebt. Aber es findet nicht nur immer mehr eine Einengung in der Betrachtung des Individuellen statt, sondern neben dem Singulären hat es stets in der Geschichte auch ein anderes Moment gegeben und wird es immer geben. S I M M E L hat sicher Recht, das Psychologische ist das Apriori der Geschichte. Aber es giebt doch auch Gruppenpsychologie, wie es individuelle Psychologie giebt. Wenn schon im gewöhnlichen Bewußtsein mit einer solchen Gruppenpsychologie operiert wird, wie sehr muß dies nun in der Geschichte der Fall sein. Die Frage entsteht nun aber: In welcher Weise kann und muß die Historie die Gruppenpsychologie in ihrer Betrachtung aufnehmen? Während der Künstler die kollektive Psychologie vereinheitlicht, muß sie der wissenschaftliche Historiker geradezu differenzieren. Der Künstler erfaßt mit einem tiefen intuitiven Blicke die Seele der Masse, wie er die Seele des Individuums erfaßt. Die Psychologie des Individuums sucht er zu nuancieren und die Nuancen der kollektiven Psychologie muß er notgedrungenerweise übersehen. In SHAKESPEAHE'S Dramen, wie in GOETHE'S „Faust" und in den Romanen ZOLA'S agiert die Masse überall wie ein Mann, sie ist gleichsam das seelisch Koustante in der fortwährenden psychischen Bewegung all des individuellen Lebens, das dargestellt wird. Oder man lese „Krieg und Frieden", wo gerade gezeigt werden soll, wie das Individuum nichts ist und nichts bedeutet gegenüber dem Volksbewußtsein, wie einförmig, wie eintönig, wie geradlinig tritt uns alle kollektive Psychologie entgegen. Anders der Historiker. Er sucht uns die kollektiven Psychologien zu zergliedern, er hat gerade ein Auge für das Nuancierte der Volksseele. Er zerlegt die Volksseele in ihre Teile, er stöbert nach den Einflüssen und nach den Einwirkungen, nach den Durchkreuzungen
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und Hemmungsursachen, nach den Umbiegungen und Umänderungen des Komplexes psychischer Beziehungen, die zusammen das Volksbewußtsein bilden. Man lese Bukkhardt's „Kultur der Renaissance". Was uns hier klar wird, ist nicht etwa das Leben einzelner Individuen, sondern das Leben zunächst der gebildeten Schichten jener Zeit, ihr gemeinsames Wirken, ihre Stellung zu Kunst und Wissenschaft, ihre Lebensrichtung, mit einem Worte: ihre Durchschnittswerte werden scharf ins Auge gefaßt. Wir erfahren eben durch jeden Historiker großen Stiles mehr von Durchschnittswerten der Menschen einer Zeit, von den großen Künstlern mehr von den Wertnuancen. Der Unterschied springt in die Augen, er ist kein gradueller, sondern ein Wesensunterschied. So ist denn die Aufgabe des Historikers, bei aller Psychologie und bei aller Plastik der Darstellung über die individuelle Psyche zur Kollektiv-Psyche hinwegzusehreiten. Diese Durchschnittswerte der Historie sind also gerade das Typische. Sie sind ebenso typisch wie die Naturvorgänge und daß wir unsere Kenntnisse über diese Komplexität und dieses Typische nicht in Gesetze bringen können, ändert an ihrem antiindividuellen Charakter nicht das geringste. So hat es denn der Historiker einerseits mit der Darstellung individueller Züge zu thun, bei denen ihm die Darstellung eben nicht Selbstzweck ist, und andererseits hat er es mit Aufzeigung von Durchschnittswerten zu thun, die über das Singulare der Psyche weit hinausgreifen. Hiermit tritt unsere Disziplin in vollen Gegensatz zu jeder Kunst, wenn sie auch mehr gemeinsame Merkmale mit ihr aufweist, wie irgend eine andere Wissenschaft. Gerade die Objektivierung der Wertschätzungen und die Hervorhebung der Durchschnittswerte stempelt sie zur Wissenschaft. Noch interessanter wie das oben skizzierte Problem ist das folgende: Verändert die erkenntnistheoretische Betrachtung, der reine Erscheinungscharakter der Welt die wissenschaftliche Position der sogenannten Geisteswissenschaften wirklich zu ihren Ungunsten und zum Vorteile der Naturwissenschaften? Man ist leicht geneigt, das deshalb zu glauben, weil man noch zu sehr den Charakter der Realität naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu überschätzen pflegt. Indessen naht der Zeitpunkt, wo mit Recht auch der ganze exakte Charakter naturwissenschaftlicher Betrachtung etwas niedriger gewertet werden wird, als bisher. Da diese Betrachtungen einen so überaus wichtigen Gegenstand behandeln, so wird der Leser schon verzeihen, wenn ich hier etwas ausführlicher werde. Es wurde gezeigt, daß es einerseits in den sozialen Wissen-
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Schäften keine Gesetze gebe, und daß andererseits in den Naturwissenschaften der Gesetzescharakter ein durchaus strenger ist, wenigstens in denjenigen Wissenschaften, die mit physikalischen oder, besser gesagt, mathematischen Methoden operieren. Das ist ganz klar ausgemacht worden. Aber wer sagt uns denn, daß das Erreichen dieses gesetzmässigen Charakters, das Aufstellen allgemeiner Gesetze an sich so wünschenswert, so notwendig, so fruchtbar im absoluten Sinne für alle wissenschaftliche Entwickelung sei? Warum glaubt man an den inneren Wert der Naturwissenschaften, warum schätzt man ihren gesetzmäßigen Charakter so hoch? Nun, sehr einfach, weil die historische Erfahrung die fruchtbare Entwickelung, die ungeheuere praktische Einwirkung der Naturwissenschaften lehrt. Man beeilt sich daher, inwieweit man es kann, alle Wissenschaft und alle Arten der Wissenschaftlichkeit in die goldenen Gefilde gesetzmäßigen Erfassens zu bringen. Man vergißt aber dabei, daß der ungeheuere Fortschritt der Naturwissenschaften eben nur in praktischer Beziehung ein so absoluter ist, daß er aber in theoretischer Beziehung als viel relativer bezeichnet werden kann, als man dies gewöhnlich annimmt. Es wird noch später darauf hingewiesen werden, daß die großen Naturforscher selbst allmählich beginnen, gegen die Meth aphysik ihrer Methoden, die teils durch direkte Anlehnung an den Materialismus erzeugt, teils aus dem Schöße der empirischen Betrachtung geboren wurde, zu protestieren. Welcher Geist leitet nun aber diesen Protest der Naturforscher? Es ist der Geist HELMHOLTZ', der Geist KANT'S, also das philosophische Erfassen und Durchdringen auch in der Betrachtung der äußeren Naturvorgänge. Die Naturwissenschaft kommt bei aller ihrer richtig formulierten Gesetzmäßigkeit ohne Begriffe wie Atome und Kraft nicht vorwärts und der unreale, unwirkliche und unanschauliche, metaphysische Charakter dieser Begriffe wird allgemein schon erkannt. MACH geht sogar so weit, den physikalischen Begriff des Körpers für Metaphysik zu halten. Wenn also auch die Naturwissenschaft in stolzer Reihenfolge Gesetz auf Gesetz aufeinandertürmt, so ist ihr System nur formal von absolutem Werte. Die Beziehungen sind in richtiger Weise zu Gesetzen erhoben, aber die Grundbegriffe, mit denen operiert worden ist, stellen sich immer mehr als Unrealitäten heraus. Außerhalb des Systems von Gesetzen führen sie zum Teile nur eine Scheinexistenz. Ihre formale Sicherheit, ja in gewissem Sinne die Ewigkeit ihres Gehaltes, für welche das Präzise der Formulierung eben bürgt, ist oft teuer erkauft
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worden durch ein Draußenstehen und eine Nichtbeziehung zum wirklichen Dasein. Daß sich geraume Zeit dies nicht herausgestellt hat, liegt vor allem an dem Umstände, daß man über die praktische Prosperität, über den unmittelbaren Erfolg gewisser naturwissenschaftlicher Resultate vergessen hatte, den Wert ihrer rein theoretischen Bestimmungen nachzuprüfen. Jetzt beginnt diese Nachprüfung und es stellt sich auch heraus, daß Begriff auf Begriff in das Reich der Glaubwürdigkeit eingetreten ist, ohne die erkenntnistheoretische Legitimation zu besitzen. Die große Fruchtbarkeit der naturwissenschaftlichen Entwickelung liegt also nicht so sehr in ihren Prinzipien, wie in ihren Methoden, die zu rein praktischen Resultaten, zur Förderung der Technik u. s. w. geführt haben. Das Greifbare in der naturwissenschaftlichen Einwirkung auf die Geister und Gemüter liegt in viel höherem Maße außerhalb ihrer theoretischen Strenge, wie man dies allgemein glaubt. Man wird dagegen einwenden, daß ja trotz der metaphysischen Bestandteile die Naturwissenschaften allein im stände waren, strenge, allgemeine Gesetze vorzubringen. Ja, worin liegt aber das Charakteristische dieser allgemeinen Gesetze? Wohl nur in der Präzision und in der Allgemeingültigkeit. Unsere Analyse des Begriffes Gesetz hat nichts besagt über den anschaulichen oder unanschaulichen Charakter dieser Naturgesetze. Der Begriff Naturgesetz deckt sich nicht ohne weiteres mit dem Begriffe Anschaulichkeit. Durch die Möglichkeit, in diesen Gebieten ein System mathematisch formulierbarer Gesetze aufzustellen, haben die Naturwissenschaften ungeheuere methodische und praktische Erfolge errungen, die man nun in gewissen Kreisen zu überschätzen beginnt. Wer bietet nun den Naturwissenschaften die theoretische Möglichkeit, ihre Grundfehler wenigstens zum Teile zu verbessern? Wer verschafft ihnen die Möglichkeit einer weitgehenden Korrektur? Nun, niemand anders wie der einst in naturwissenschaftlichen Kreisen als arger Spekulant so verpönte Erkenntnistheoretiker. Der Erkenntnistheoretiker zeigt den Naturwissenschaften erst die Grenzen ihrer Forschungsart und weist nachdrücklich auf den Punkt hin, wo auch die Einzelmethoden beginnen, unwirksam zu werden. Diese Aufdeckung des metaphysischen Charakters seitens der Erkenntnistheorie, diese Aufzeigung notwendiger heuristischer Prinzipien, welche selbst indirekt die naturwissenschaftliche Methodik und hiermit, wenn auch freilich stark unmittelbar, alle Technologie beeinflussen, bringt uns ein für allemal in Erinnerung, daß es eine ältere Betrachtungsweise als die naturwissenschaftliche giebt, die trotz
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aller entgegengesetzten Behauptungen eben noch nicht gestorben ist. Die Philosophie erweist sich in ihrer modernen Form eben doch stärker als die Naturwissenschaft, die aus ihrem Schöße geboren wurde. Viele Probleme, welche die moderne theoretische Naturwissenschaft neuerdings in Fluß gebracht haben, weisen bereits auf vorsokratischen Ursprung hin und das moderne heuristische Prinzip, die Formulierungen K I R C H H O F F ' S und M A C H ' S , welche in der Naturwissenschaft zu herrschen beginnen, sind wiederum Produkte philosophischer Bewegung. Trotz des strengen Gesetzescharakters kommt der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise nicht jener universelle Charakter zu, den sie gerne für sich in Anspruch nehmen möchte. Jene ältere wissenschaftliche Macht, die ihr heute die Korrekturmöglichkeit reicht, ist keine ehrwürdige Matrone, die nur eine Scheinexistenz führt, sondern eine rüstige F r a u , die noch im stände ist, kräftige Sprösslinge zu gebären. Die naturwissenschaftliche Methodik hat triumphiert, weil sie präzise und mathematisch war. In gewissem Sinne sind es also formale Eigenschaften wissenschaftlicher Betrachtungsweise, die hier von ausschlaggebender Bedeutung waren. Der Ewigkeitswert der Naturgesetze liegt in ihrem formalen Beziehungs- und Verknüpfungscharakter. Die mathematische Präzision war und ist das Manna naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise. Aber schließlich hat auch eine andere Wissenschaft einen gewissen Ewigkeitscharakter. Von der Logik hat schon K A N T gesagt, daß sie seit A R I S T O T E L E S keinen Schritt vorwärts gemacht habe. Wenn dies auch nur in großen Zügen richtig ist, so muß man doch bedenken, daß sie zu einer Zeit geschaffen wurde, als die moderne naturwissenschaftliche Betrachtungsweise nicht einmal embryonenhaft entwickelt war. Ist die formale Logik nun für die Menschheit so fruchtbar gewesen? Zur Zeit der Scholastik nahm man dies allgemein an, seit BACON wird dies bekanntlich auf das heftigste bestritten. Die Logik ist wohl unumgänglich notwendig, aber die Grenzen ihrer Anregungsmöglichkeiten, die Schranken ihrer Befruchtung sind verhältnismäßig enge. Der Ewigkeitscharakter, der der Logik ebenso wie den mathematisch formulierbaren Naturgesetzen zukommt, ist noch keine Bürgschaft für die absolute Fruchtbarkeit, für das höchste Maß der Anregungsmöglichkeit. Wie man sieht, ist also die innerste und größte Wertschätzung wissenschaftlicher Betriebsweise nicht mit Naturnotwendigkeit an die größtmöglichste Präzision gebunden. Das Anregendste wissenschaftlicher Betriebsweise liegt im Orientierenden, im Begrenzenden, im Heuristischen. Die Heuristik
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ist gleichsam die Königin wissenschaftlicher Betriebsformen, das Heuristische der Naturwissenschaft liegt aber so gut wie ganz außerhalb ihres gesetzmäßigen Charakters. Dieser Satz ist von größter Wichtigkeit, von fundamentaler Tragweite. Alle diese Erwägungen aber werden diejenigen nicht überzeugen, welche eben ausschließlich den praktischen Wert naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit und Methodik ins Auge fassen und gar zu gern auch allen sozialen und historischen Wissenschaften ähnliche Errungenschaften sichern möchten. Nun, die sozialen und historischen Wissenschaften haben ihre praktischen Triumphe, die allerdings von der naturwissenschaftlichen Einwirkung wesensverschieden sind. Aber auch die naturwissenschaftliche Praxis ist gebunden an soziale Einflüsse. Die Geschichte der Technologie lehrt aufs überzeugendste, daß die naturwissenschaftlichen Entdeckungen erst fruchtbar im richtigen ökonomischen Milieu werden. G A U S S und W E B E R haben die Telegraphie erfunden, in Amerika ist sie zuerst praktisch zur Geltung gekommen. Wäre das kleine Göttingen eine große Industriestadt Englands gewesen, die Geschichte der Tolegraphie wäre eine ganz andere geworden. Erfindungen technischer und chemischer Art müssen nicht nur von großen theoretischen Gesichtspunkten geleitet werden, sie müssen auch mit dem Billigkeitsprinzip rechnen. Hierzu kommen auch psychische Umstände und Vorurteile aller Art. Ein so gewaltiges Genie wie N A P O L E O N L maß dem Dampfboote keine Bedeutung zu. Andererseits werden noch viele theoretische Erfindungen von großer Bedeutung zum zweiten Male gemacht; erst in dieser zweiten Form dringen sie in die Praxis, weil die Praxis ihrer erst jetzt bedarf. Als Ideen sind die meisten praktischen Erfindungen schon früher vorhanden, nur ihre Ausgestaltung verschafft ihnen erst die praktische Bedeutung. Sogar die Idee der Röntgenstrahlen soll schon einmal, wenn auch in mystischer Form, formuliert worden sein. Von kleineren Erfindungen gilt dies erst recht, alle Patentämter wissen etwas davon zu erzählen. Diese Zeilen sollen nicht, im geringsten besagen, daß der Ruhm der praktischen Ausgestaltung theoretischer Erfindungen etwa ein kleiner ist. Wenn nun schon die naturwissenschaftliche Technik und Technologie an das soziale Milieu gebunden ist, wenn schon die naturwissenschaftliche Praxis ihre Erfolge auch sozialen Einflüssen mit zu verdanken hat, so haben diese sozialen Einflüsse trotz ihres ungesetzmäßigen Charakters, selbst wenn sie theoretischen Erwägungen entsprungen sind, auch ihre große äußere Bedeutung.
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Auch die Sozial Wissenschaft im weiteren Sinne hat große praktische Errungenschaften zu verzeichnen, wenn sie auch dem Laien und auch vielen Fachleuten nicht so in die Augen springen, wie die naturwissenschaftlichen Errungenschaften. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man alle sozialen Einflüsse selbst noch so falscher nationalökonomischer Theorien hier aufzählen. Es hieße eine Geschichte der gesamten Volkswirtschaftspolitik schreiben, wollte man hier alle schädlichen und heilsamen Einflüsse von A D A M SMITH, von dem Physiokraten, selbst heutzutage vom erst weltaufsteigenden Sozialismus aufzählen. Und ist der Einfluß der Historiker, der Rhetoren, von dem der Philosophen ganz zu schweigen, nicht in allen Zeiten ein sehr gewichtiger gewesen? Man sieht, auch für die praktische Wirksamkeit und Ausgestaltung menschlicher Einrichtungen hat die Verbindung mit der strengen Gesetzmäßigkeit weniger zu sagen, als man dies glaubt. Der Erscheinungscharakter der Welt würde dann alle sogenannten Geisteswissenschaften ungünstiger als die Naturwissenschaften beeinflussen, wenn der gesetzmäßige Charakter der letzteren ihnen eine größere Anschaulichkeit verbürgen würde. Das ist nun aber, wie wir gesehen haben, durchaus nicht der Fall. Der gesetzmäßige Charakter bietet auch nicht die geringste Garantie für den Realitätscharakter naturwissenschaftlicher Begriffsbestimmungen. Wohl aber ist umgekehrt dies der Fall mit den sozialen Phänomenen. Wenn wir hier den großen Nachteil haben, daß wir sie nicht gesetzmäßig verknüpfen können, so haben wir auch den großen Vorzug, daß wir sie viel leichter auf ihre Anschaulichkeit zu prüfen vermögen. Zunächst sind wir viel leichter im stände, sie in ihre Elemente aufzulösen. Wir können es leichter herausbringen, was in sozialen Dingen eine Abstraktion, was ein Faktum ist. Der komplexe Charakter aller sozialen und historischen Erscheinungen hindert ihr gesetzmäßiges Erkennen, nicht aber das Anschauliche der nur relativ kausalen Zusammenhänge und Beziehungskomplexe. Natürlich ist dies in gewisser Beziehung nur ein starker Gradunterschied, denn auch in der Sozialwissenschaft herrscht das Unwirkliche, das Unreale, das Metaphisische. Aber die K o r r e k t u r m ö g l i c h k e i t ist auch eine viel leichtere. Was hat der Naturforscher davon, wenn er den metaphysischen Charakter des Atoms erkannt hat? Kann er diesen Begriff ohne weiteres durch einen anderen ersetzen, der anschaulicher und minder metaphysisch ist? Selbst für den Kraftbegriif ist zum Teile der Ersatz durch die Energetik noch sehr proble-
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matisch. In den sozialen Dingen, die wir Menschen selbst mühevoll schaffen, können wir wenigstens in einem viel höheren Maße Ersatz für unsere künstlichen Begriffe finden. Wir haben z. B. erkannt, daß die allgemeinen Gesetze der klassischen Volkswirtschaft zum Teile wenigstens bloße Abstraktionen waren. Wir haben sie durch minder abstrakte, wenn auch nicht immer richtige Teilformulierungen ersetzt. Schon HERAKLIT hat gesagt, daß die Sinne trügen und in gewissem Sinne liegt in diesem einen Satze implizite schon KANT'S und SCHOPENHATJER'S Erkenntnis vom Vorstellungs- und Erscheinungscharakter der Welt. Worüber können uns die Sinne mehr täuschen? Doch sicherlich üher die Naturvorgänge. Wie schwer ist es der modernen Naturwissenschaft geworden, scheinbar so feste, so unumstößliche einheitliche Erscheinungen in die wirklichen Elemente zu zerlegen. Über die menschlichen Begebenheiten täuschen die Sinne allerdings auch, aber in einem viel geringeren Grade. Wir besitzen insofern hier die größte theoretische Korrekturmöglichkeit, als wir den menschlichen Vorgängen und Begebenheiten j a eben als Menschen gegenübertreten. A l l e s M e n s c h l i c h e i s t s c h l i e ß l i c h m e h r in uns, wie a l l e s der ä u ß e r e n N a t u r A n g e h ö r i g e . Dem Menschlichen in uns stehen wenigstens die Größten unter uns, die Dichter und Philosophen, sehr nahe. Der Natur müssen selbst die bedeutendsten Denker unter uns für alle Zeiten in einem gewissen Sinne fremd gegenüberstehen, aber alles spezifisch Menschliche ist uns Menschen eben geläufig. Das rein Menschliche gehört uns, wir nähern uns diesen Elementen nicht mit jenem Zagen und Bangen wie der Natur. Die großen Wahrheiten über das ewig Menschliche haben im Laufe der Jahrhunderte sich sehr wenig geändert. In gewissem Sinne bleibt die naturwissenschaftliche Methode sich gleich. Die Art, Gesetze aufzufinden ist dieselbe, der Verknüpfungscharakter mathematisch formulierbarer und präziser Gesetze bleibt derselbe. Aber trotzdem ändert sich das Weltbild stets, weil sich das heuristische Erkenntnisprinzip ändert. Auch das Gesamtbild der Menschheit in unserer Vorstellung ist stetem Wechsel unterworfen. Hierin gleichen sich beide Komplexe von Phänomenen. Aber sie unterscheiden sich in der einen Beziehung, daß wir bei allen Veränderungen des Naturprozesses es wissen und fühlen, daß zwischen dem gesamten Naturprozeß und unserem Bewußtsein die Kluft, die Diskrepanz um keine Nuance kleiner wird, während eine solche Kluft zwischen den menschlichen Vorgängen und unserem Bewußtsein j a nur in minimaler Weise für uns existiert. So hätten wir denn durch unsere Analyse
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Siebentes Kapitel.
Historische und soziale Gesetze.
den springenden Punkt herausgebracht. D e r a d ä q u a t e C h a r a k t e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r V o r g ä n g e ist e b e n nur ein scheinb a r e r , der a d ä q u a t e C h a r a k t e r s o z i a l e r V o r g ä n g e i s t ein wirklicher, nur schwer e r k e n n b a r e r . Die schwere Erkennbarkeit hindert aber im wesentlichen, theoretisch gedacht, durchaus nichts an, der immer größeren Realisierungsmöglichkeit vollkommener Identität zwischen den wirklichen sozialen Vorgängen und ihrer Erkenntnis in unserem Kopfe. Dies ist in um so höherem Grade wahr, als j a gerade die schwere Erkennbarkeit sozialer Vorgänge uns ganz allgemein auf den Gedanken gefuhrt hat, das Wesen dieser Komplexe von Phänomenen sei unserem Denken nicht so adäquat wie das Wesen der Naturvorgänge. Diese Erkennbarkeit sozialer Dinge wird aber um ein bedeutendes gesteigert werden, wie später noch auseinandergesetzt werden soll, wenn wir uns erst dazu entschließen, von der großen Waffe der Korrekturfähigkeit, von der Erkenntnistheorie, Gebrauch zu machen, die dazu berufen ist, in der sozialen Erkenntnis noch viel fruchtbarer zu wirken als in der Naturwissenschaft. Wie man sieht, kann also an dem relativ viel adäquateren Charakter sozialer Erkenntnis weder das Fehlen allgemeiner Gesetzmäßigkeit, noch der zum größten Teile dadurch bedingte Charakter schwerer Erkennbarkeit etwas hindern. Der Vorstellungscharakter der Welt belastet also die Historie nicht so sehr, wie dies manche neueren Soziologen wähnen. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus muß sogar der endgültig exakte Charakter der Naturwissenschaften nur an dem Grade der Anschaulichkeit gemessen werden. Dieses Messen aber fallt nicht zu Ungunsten der Geschichtserfassung und Geschichtswissenschaft aus; ihre Mängel und Gebrechen liegen in anderer Richtung. Die Geschichtserfassung wird gerade dort am meisten zur Geschichtsmetaphysik, wo sie einen endgültigen, präzisen und gesetzmäßigen Charakter annehmen will. Sie leistet zu wenig, weil sie gar zu viel umklammern will. Ich möchte diesen so überaus wichtigen Gedanken in einen Satz fassen: T r o t z der U n m ö g l i c h k e i t , in a b s e h b a r e r Zukunft G e s e t z e aufzufinden, ist a l l e S o z i a l w i s s e n s c h a f t und a l l e H i s t o r i e r e a l e r als alle N a t u r w i s s e n s c h a f t , weil das „ M e n s c h l i c h e " unserem D e n k e n a d ä q u a t e r ist als die äußere Natur. Alle Schwierigkeiten, welche das psychologische Erkennen der Geschichte dem Historiker darbietet, alle künstlerischen Ergänzungsnotwendigkeiten, die wir selbst horvorgehoben, können nicht gegen diesen Satz sprechen. Schon dem alten Vico schwante
Achtes Kapitel. Der Marxismus und die Geschichtsforschung.
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diese Wahrheit, als er sagte, daß die Menschengeschichte deshalb leichter zu schreiben sei als die Naturgeschichte, weil wir die eine selbst gemacht, die andere aber nicht. Nur was die Menschen selbst machen, können sie auch vollauf begreifen.
Achtes Kapitel.
Der Marxismus und die Geschichtsforschung. Die Gewißheit, daß es allgemeine soziale Gesetze nicht geben kann, oder daß sie, besser gesagt, unserem Geiste nicht erkennbar sind, ist ein überaus schwerer Schlag für die materialistische Geschichtsauffassung. Es wird ihr damit definitiv die Möglichkeit geraubt, durch irgend eine noch so weitgehende Modifikation sich ihren allgemeinen Charakter zu bewahren. Der soziologische Marxismus kann hierdurch weder eine allgemeine Methode noch ein allgemeines Prinzip mehr sein. So bleibt nur eins noch auszumachen übrig: Wir müssen fragen, wie es denn mit der Behauptung des Marxismus, daß gerade die materialistische Geschichtsauffassung auf die Detailforschung am fruchtbarsten einwirken müsse und könne, eigentlich stehe. Um diese Frage zu erörtern, müssen wir einen Blick werfen auf die spezifische Methodik der praktischen, von philosophischen Erwägungen so wenig als möglich beeinflußten Geschichtsschreibung. W I L H E L M W U N D T 1 unterscheidet folgende Methoden der historischen Einzelwissenschaft: 1. Die historische Kritik, 2. die historische Interpretation. Es läßt sich nun eine äußere und innere Kritik unterscheiden. Die erstere bezieht sich mehr auf die Wahrheit, die zweite auf den Wert einer historischen Thatsache. Was nun die historische Interpretation betrifft, so polemisiert W U N D T gegen alle diejenigen, welche die Aufgabe der historischen Interpretation mit der Aufgabe der Naturerklärung auf gleiche Linie stellen. Trotzdem aber besteht wirklich eine Analogie zwischen der historischen Interpretation und den rein beobachtenden Naturwissenschaften. Beide Wissenszweige bedienen sich nämlich der vergleichenden Methode. Aber die Ge1
Vgl. WUBDT, a . a. 0 .
S. 5 3 4 — 5 4 5 .
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Achtes Kapitel.
schichte weicht insofern von der Naturwissenschaft in dieser Beziehung ab, als es nicht ihre Aufgabe ist, auf dem Wege der Induktion schließlich zu gesetzmäßigen Generalisationen zu kommen, sondern die Absicht der Historie gehe nur dahin, die Erscheinungen aus sich selbst und aus den sich in ihnen verratenden psychologischen Gesetzen zu erklären. Im Anschlüsse an diese Auffassung der Dinge protestiert WUNDT auch gegen die Feststellung gleichförmiger Kriterien der historischen Wahrheit. Eine solche Feststellung, meint er, steht im Widerspruche mit der unendlichen Vielgestaltigkeit des historischen Geschehens. Wie man sieht, steht also der bedeutendste konkrete Logiker oder wenn man will Methodiker unserer Zeit dem Bestreben, durch irgend ein Kriterium die Geschichte zu beeinflussen, feindlich gegenüber. Ein solches einseitiges Kriterium aber ist ja gerade das Grundprinzip materialistischer Geschichtsauffassung, und wenn man auch alle Geschichtsphilosophie beiseite läßt, so kann für einige wenige historische Zusammenhänge der ausschließliche Gebrauch dieses relativ heuristischen Prinzips große Verwirrung anrichten. Doch hören wir, bevor wir weitergehen, wie die Fachhistoriker über ihre Wissenschaft denken. In einer interessanten Betrachtung führt BERNHEIM aus, daß- die Geschichtswissenschaft selbst eine große und allmähliche Entwickelungbereits hinter sich habe. Am Anfange war alle Historie nur in den Heldenliedern enthalten. „Die Gedichte HOMER'S", sagt er wörtlich,1 „die Sagas, die Nibelungen, was sind sie anderes als gesungene Geschichte ?" Aus der gesungenen Geschichte heraus entwickelt sich die erzählende. HERODOT steht wesentlich noch auf diesem Standpunkte. Aber schon im Griechentum wird diese Art, Geschichte zu treiben, abgelöst durch eine umfassendere Behandlungsweise, die man als lehrhafte Geschichte bezeichnen könnte. Hierher gehört schon THUKYDEDES. Die Geschichte unserer Zeit endlich nennt BERNHEIM die entwickelnde, weil sie immer mehr unter dem Standpunkte der Entwickelung sich bestrebt, die Fülle historischer Ereignisse zu sichten und zu prüfen. Bei dieser Prüfung der ungeheueren Fülle des Details sucht nun die Geschichte eine andere Disziplin zu unter stützen, ja womöglich zu ersetzen. Es ist die Geschichtsphilosophie, die sich hauptsächlich zwei Fragen gestellt hat, die da lauten: Erstens, was sind die Faktoren und zweitens, was ist das Wert1 Vgl. „Geschichtsforschung und Geschichtsphilosöphie" von Dr. ERNST BEBNHEIM. Göttingen 1880. S. 4.
Der Marxismus und die Geschichtsforschung.
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resultat des geschichtlichen Verlaufes? 1 Nach einer längeren Untersuchung der einzelnen Geschichtsphilosophien, auf die wir hier ja nicht näher einzugehen brauchen, wirft unser Historiker einen Blick auf das Verhältnis der Geschichtsforschung zur Geschichtsphilosophie. Zwei Richtungen habe bisher alle Geschichtsphilosophie aufgewiesen, eine ideal-philosophische mit K A N T und H E G E L an der Spitze und eine sozialistisch-naturwissenschaftlische, die von CONDORCET an bis zu den heutigen Vertretern des Sozialismus fuhrt. Beide Auffassungen dürfe man nun keineswegs auf die Geschichte selbst anwenden. Die Unzulässigkeit dieses Verfahrens (S. 89) beruht auf der Voraussetzung, daß die Geschichtswissenschaft einen eigenartigen Stoff und daher eine eigenartige Methode habe. „Die Geschichtswissenschaft", meint B E R N H E I M wörtlich, „hat es nicht wie die Naturwissenschaft vorwiegend mit dem Allgemeinen des Seins und Verhaltens ihrer Forschungsobjekte zu thun, noch wie die Philosophie mit dem Ganzen derselben, noch wie etwa die Geographie mit dem Besonderen, sie nimmt vielmehr eine Mittelstellung ein." Die der Geschichte adäquate Betrachtungsart weise drei Haupteigentümlichkeiten auf: 1. nämlich bestrebt sich die Geschichte, den Zusammenhang der betreffenden Ereignisreihe oder Gruppe, zu der das Einzelne als Glied gehört, festzustellen, wobei das Allgemeine die typische Analogie des menschlichen Wesens und Thuns überhaupt ist; 2. ist nicht jedes Einzelne, wie etwa in der Geographie, ein gleichwertiger Gegenstand historischer Forschung. Es hängt immer davon ab, was von dem Einzelnen wichtig sei für die Interessensphäre, für die Art historischen Forschens, das uns gerade beschäftigt; 3. endlich kommt es in der Geschichte auf die ganz eigentümliche Differenz im Wesen historischer Erscheinungen an. Der Mord eines J U L I U S C Ä S A R Z. B. interessiert den Historiker mit allen besonderen Details und allen Motiven. Es ist ihm das nicht ein Fall, der neben anderen gleichwertig in einer statistischen Tabelle gezählt werden könne, um als Illustration eines allgemeinen Gesetzes zu dienen, noch irgend eine Funktion einer teleologischen Idee, welche etwa nur zeigen sollte, daß trotz CÄSAR'S Tode die Monarchie sich als notwendige Bestimmung Roms in dem Entwickelungsprozesse des Weltgeistes durchgesetzt habe. Die naturwissenschaftliche sowohl als die philosophische Geschichtsbetrachtung sind der Geschichte wesensverschieden, heterogen, sie bedrohen und gefährden die eigentS. 10.
Achtes Kapitel.
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liehe Detailforschung, wenn man sie mehr als gelegentlich benützt. Es existiert demgemäß ein wesentlicher Unterschied zwischen der Forschungsmethode der wirklichen Geschichtsschreibung und derjenigen aller bisherigen Geschichtsphilosophie. „Während die Naturforschung vorwiegend induktiv", meint B E R N H E I M , „die Philosophie vorwiegend deduktiv verfahrt, kombiniert die Geschichtsforschung in jedem Momente ihrer Thätigkeit beide Verfahrungsweisen in einem fortwährenden Hin- und Hergehen zwischem dem Besonderen und dem Allgemeinen bezw. dem Ganzen ihrer Objekte, um endgültig zu dem Besonderen zurückzukehren" (S. 96). In einem ähnlichen Sinne wie B E R N H E I M faßt L A M P R E C H T die Geschichte auf. 1 Er behauptet in seiner Streitschrift, daß es sich in den Differenzen der Historiker nicht um die Weltanschauung, sondern um die Methode handele. Immer mehr und mehr entferne man sich in der historischen Betrachtung von dem Standpunkte, nur die isolierte Thatsache festzustellen und womöglich zu erklären. Zur Zeit W O L F F ' S unterschied man drei Arten der Erkenntnis: die mathematische, die philosophische und die historische. Aber schon vor W O L F F knüpfte die Historie an die praktisch gehandhabte Methode der Geschichtsschreibung und W O L F F ' S Herr und Meister, der bedeutende Denker L E I B N I Z , ging da mit gutem Beispiele voran. Das Zweckprinzip wurde ausschließlich in der Geschichte angewendet und noch heute, meint L A M P R E C H T , stehe die ältere geschichtswissenschaftliche Richtung auf diesem Standpunkte. Aber langsam und allmählich gewinnt die Kausalverknüpfung dieser teleologischen Sichtung gegenüber an Boden. „Sind nun aber", fragt L A M P R E C H T , „Zweck und Kausalverknüpfung (S. 5) vollkommen voneinander geschiedene intellektuelle Vorgänge? Keineswegs, sie sind nur verschiedene, unserem Denken gleiche immanente Betrachtungsweisen ein und desselben Vorganges. Denke ich mir die vorgestellte Wirkung irgend eines Geschehens als dessen Ursache, so wird diese Ursache zum Zweck. In diesem Zusammenhange liegt es aber allerdings beschlossen, daß der Zweckbegriff im objektiven Sinne bei eingehender wissenschaftlicher Betrachtung nur auf menschliche, individuelle, klar gedachte Handlungen angewendet werden kann, denn nur diese vollziehen sich unter Verursachung durch klar vorgestellte Wirkungen. Daher ist es vollständig richtig und begreiflich, wenn 1
Vgl.
Berlin 1896.
„Alte
und
neue
Richtungen
in
der
Geschichtswissenschaft".
Der Marxismus und die Geschichtsforschung.
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die Geschichtsforschung, soweit sie es mit solchen eminenten Zweckhandlungen zu thun hat, sich auch an den Zweckbegriff als Erklärungsgrund hält." Durch diese Annahmen wird aber wenigstens für die nächste Zeit eine Zweiteilung der geschichtswissenschaftlichen Methode bedingt. Mehr individuelle Handlungen wird man trachten durch teleologische Momente, Handlungen kollektiver Gruppen wird man bestrebt sein, durch kausale Momente zu verbinden. Praktisch werden diese beiden Methoden stets miteinander verbunden sein. Allerdings, einer dieser beiden methodischen Grundrichtungen gehört in viel höherem Grade die Zukunft wie der anderen. Das Kausalitätsprinzip wird immer mehr und mehr in historische Gebiete eindringen, wo man es früher nicht für möglich gehalten hat. Ging es doch auch in anderen Wissensgebieten ähnlich. So hat noch K A N T Z. B. die Ausdehnung des Kausalitätsprinzips auf die biologischen Wissenschaften zum größten Teile für unmöglich gehalten. Das Prinzip der Kausalität befindet sich nach unserem Autor in stetem Vordringen. Ein einziges Moment ist in diesen schönen methodisch wertvollen Ausfuhrungen nicht klar genug hervorgehoben worden. In welchem Sinne spricht hier L A M P R E C H T von Kausalität ? Ist es jene allgemeine soziale Gesetzmäßigkeit, die in besonderen allgemein gültigen Gesetzen ausmünden muß, oder ist es jene relative Kausalität, von der wir früher sprachen? Ich glaube, daß hier letztere gemeint wird. Sonst aber sind gerade L A M P R E C H T ' S Ausführungen sehr geeignet, über das Wesen historischer Methodik Klarheit zu verbreiten. Sehr richtig hat er auch das Wesentliche in den neuen wirtschaftshistorischen Errungenschaften gewertet, wenn er sagt: „Jedes wirtschaftliche Thun ist psychologisch genau so bedingt, wie irgend ein anderes geistiges Thun, jede Summe wirtschaftlicher Errungenschaften ist genau so Niederschlag seelischer Vorgänge, wie irgend ein Gedicht, ein Rechtsbuch, eine staatliche Institution. Materialistisch ist aber doch wohl nur der, der gewisse psychologisch-metaphysische Voraussetzungen macht? Der philosophische Materialismus liegt weit abseits der hier berührten Gegensätze." Mit diesen Worten hat L A M P R E C H T eigentlich schon den springenden Punkt unserer ganzen Untersuchung berührt. Zunächst hält sich aller und jeder Marxismus nicht frei von den metaphysischen Voraussetzungen, die L A M P R E C H T meint, dann aber muß in der materialistischen Geschichtsauffassung, wenn man sie auch noch so frei und anschaulich handhabt, stets noch ein Rest jener unduldsamen, nach allgemeinen Gesetzen ringenden, streng kausalen Gedaukenrichtuug zurückbleiben, die j a das Wesentliche dieser WEISENGRÜN ,
Marxismus.
9
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Achtes Kapitel.
Geschichtsbetrachtung ausmacht. In welcher Weise soll sich denn der Marxist von der Grundauffassung der materialistischen Geschiclitsmethode befreien, um Teilzusammenhängen gegenüber in wirklich fruchtbarer Weise seines Amtes walten zu können? Das ist die Frage, an die wir nun herantreten müssen. Entweder der Marxist, welcher als praktischer Historiker die materialistische Geschichtsauffassung handhabt, ist sich bewußt, im Dienste eines höheren Ideals zu stehen und betrachtet alle seine praktische Thätigkeit nur als Mittel zum Zweck, nur als Vorarbeit zum gesetzmäßigen Erkennen; oder aber er verzichtet gänzlich auf den materialistischen Philosophen, der in ihm steckt, auf den Bezwinger alles Teleologischen, und verwandelt sich in den reinen Detailhistoriker, der für einen bestimmten Zweck, für einen gewissen Zusammenhang historischer Phänomene eben nur die wirtschaftliche Seite der Dinge gerne herausschälen möchte. Im ersteren Falle wird die praktische Arbeit, die er zu leisten hat, eben schlecht ausfallen, eine künstliche Philosophie wird allzusehr auf der Wiedergebung des Details lasten. Wir werden plötzlich mitten in thatsächlicher Schilderung schematische Einteilungen und konstruktive Begriffsbildungen erblicken. Im zweiten Falle aber wird es ihm in der That möglich sein, selbst Bedeutendes zu leisten. Fällt dann aber seine Leistung außerhalb des Bereiches der gewöhnlichen Arbeiten der neueren wirtschaftshistorischen Schule? Keineswegs. Diese Wirtschaftshistorik, ob sie mehr vom rein nationalökonomischen oder mehr vom rein historischen Interesse geleitet wird, hat j a auch in dieser Beziehung Bedeutendes geleistet. Wo eben die wirtschaftshistorische Seite der Teilzusammenhänge und historischer Begriffskomplexe betont werden muß, da soll sie eben betont werden. Und ebenso wie die Schule B U C K L E ' S und diejenige C O M T E ' S , von S P E N C E R ganz zu schweigen, hätte dann die Schule von M A K X einen gewaltigen, wenn auch mehr indirekten Einfluß ausgeübt. Die Anregung und Art der Befruchtung seitens der materialistischen Geschichtsauffassung war hier keine andere und gewaltigere, als die einer jeden bisherigen Geschichtsauffassung, die, von genialen Männern aufgestellt, von tüchtigen Popularisatoren bearbeitet, eben nicht allein in das allgemeine Bewußtsein der Gebildeten, sondern auch in die Detailmethodik zu dringen gewußt hat. In unserem zweiten Falle wären auch die praktisch arbeitenden Marxisten nichts anderes wie die Wirtschaftshistoriker moderner Richtung. Jedoch,
wird
man
sagen,
operiert diese Auffassung sowohl
Der Marxismus und die Geschichtsforschung.
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W I J N D T ' S als der Fachhistoriker nicht mit einem zu bescheidenen Endziele selbst der Detailhistorik? Ich glaube, daß die Begriffsbestimmung, insbesondere der Fachhistoriker, eine durchaus richtige ist. Die Geschichtswissenschaft hat noch viel zu thun, um selbst dies Endziel zu erreichen, aber wenn sie jemals darüber hinausgehen sollte, verwandelt sie sich von selbst in eine Geschichtsauffassung, bekommt andere Aufgaben und somit auch eine andere Methode. Die Grenze zwischen der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie ist in allen diesen Betrachtungen, deren wir Erwähnung gethan, ziemlich scharf gezogen. Daß insbesondere aber die Richtung B E R N H E I M ' S und L A M P R E C H T ' S die Geschichte nicht etwa dadurch in Kleinigkeitskram aufzulösen beabsichtigt, braucht wohl nicht des näheren ausgeführt zu werden. L A M P K E C H T ' S an gelegentlichen geschichtsphilosophischen Bemerkungen, an weiten Ausblicken so reiche Darstellung deutscher Vergangenheit ist j a bekannt genug. Was aber B E R N H E I M betrifft, so beweist eine Stelle aus seiner neueren Publikation, daß er der strengen Geschichtswissenschaft wahrlich keine kleine Rolle vindiziert. In seinem „Lehrbuch der historischen Methode" sagt er es in einer nicht mißzuverstehenden Weise, daß er der Ansicht R A N K E ' S huldige, welcher erklärt habe, daß das Amt der Historie nicht sowohl auf todte Sammlung der Thatsachen, als auf deren lebendiges Verständnis gerichtet ist. Noch klarer beweist dies aber seine Definition der Geschichte, welche da lautet: Die Geschichte ist die Wissenschaft von der Entwickelung der Menschen in ihrer Bethätigung als soziale Wesen. 1
Die Aufgaben der strengen Geschichtswissenschaft wurden sowohl von der wissenschaftlichen Logik als auch von den Vertretern der Fachdisziplin selbst in präziser Weise bestimmt. W U N D T warnt mit Recht davor, daß man mit allgemeinen Kriterien die Vielgestaltigkeit historischen Geschehens zu bezwingen sich bestrebt. Das sagen auch B E R N H E I M und L A M P R E C H T , wenn auch mit ein bißchen anderen Worten. Der Marxismus kann als relativ heuristisches Prinzip ebenso wie das Prinzip B U C K L E ' S und C O M T E ' S einen großen Einfluß ausüben, viele Perioden können dadurch beleuchtet werden. Aber diese grellen Streiflichter sind mehr geeignet für den Essayisten als für den eigentlichen Fachgelehrten. Der eigentliche Fachgelehrte darf 1 Vgl. BEBNHEIM, „Lehrbuch (1er historischen Methode". 2. Aufl. Leipzig 1894. S. 5.
9*
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Neuntes Kapitel.
so wenig als möglich selbst für den Teil einer Periode mit einem einzigen relativ heuristischen Prinzip arbeiten, er muß je Dach der Lage der Dinge bald mit dem relativ heuristischen Prinzip A U G U S T E C O M T E ' S , bald mit dem S P E N C E R ' S , bald mit dem des K A R L M A K X operieren. Die strenge Geschichtswissenschaft muß bald mehr die Gefühlsseite, bald mehr die Ausbildung des Intellekts, bald mehr die wirtschaftliche Grundgestaltung in den Vordergrund schieben. In der Betrachtung eines einzigen Dezenniums kreuzen sich unzählige solcher Einflüsse und wenigstens ein halbes Dutzend solcher Grundbeeinflussungen ist gleich und vollwertig, ganz abgesehen davon, daß es sich hier ja nur um generische oder kollektivistische Geschichte im Sinne L A M P K E C H T ' S handelt und liicht um individuelle Geschichte, für die ja selbstverständlich die materialistische Geschichtsauffassung selbst als relativ heuristisches Prinzip nicht in Betracht käme. Auch der reine Wirtschaftshistoriker kann nur indirekt mit der materialistischen Geschichtsauffassung auskommen. Denn sobald sich jemand entschließt, in den historischen Einzelzusammenhängen die wirtschaftliche Seite in mühseliger Detailarbeit herauszuarbeiten, so ist er ja schon von der Bedeutung wirtschaftlicher Triebkraft in einem gewissen Sinne überzeugt. Mehr als diese formale Überzeugung kann ja aber die materialistische Geschichtsauffassung nicht bieten, da sie, nach dem Ausspruche wenigstens der Neomarxisten, ihre speziell methodischen Gesichtspunkte erst ausgestalten muß. Man sieht hieraus also, daß außerhalb der Wirtschaftsgeschichte der Marxismus zwar ein wertvolles relativ heuristisches Prinzip ist, ebenso wertvoll wie einige andere Geschichtserfassungen, daß er aber in der Wirtschaftshistorie nicht mehr als eine formale Bedeutung besitzt.
Neuntes Kapitel.
Das Wesen der provisorisch-heuristischen Geschichtsauffassung. Manche Leser könnten aus den beiden vorigen Kapiteln zu der Ansicht gelangt sein, daß ich ein Gegner einer jeden Geschichtsauffassung sei. Das ist aljer keineswegs der Fall. Ich bin nicht gegen eine jede Geschichtsauffassung, ich bin nur gegen eine definitive Geschichtsphilosophie.
Das Wesen der provisorisch-heuristischen Geschichtsauffassung.
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Viele glauben, daß, wer die Existenz allgemeiner sozialer Gesetze bestreitet und wer sich in mancher Beziehung so sehr an Historiker anlehnt, die der Geschichtsphilosophie nicht besonders sympathisch gegenüberstehen, nun auch auf eine jede allgemeinere Erfassung der historischen Phänomene verzichten muß. Wozu Geschichtsphilosophie treiben, wenn es doch keinen Sinn hat, nach dem Gesetzmäßigen zu suchen. Eine Geschichtsphilosophie ohne allgemeine Kausalität scheint vielen ein Unding zu sein. Ich möchte daher an den allgemeinen Begriff der Geschichtsauffassung folgende Betrachtung knüpfen. Welches war der Fehler aller bisherigen Geschichtsauffassung schlechthin? Wenn wir uns kurz die Geschichte der philosophischen Spekulationen über die Historie vergegenwärtigen, so kommen wir zu folgendem Resultate: Die meisten Geschichtsauffassungen, die es bisher gegeben hat, lassen sieh bequem in vier Gruppen einordnen. Die einen betonten mit COMTE, daß der Intellekt der ausschlaggebende Faktor der Geschichte sei; die anderen legten ein Hauptgewicht auf die Affekte, auf die Entwickelung der Sittlichkeit; eine dritte Richtung, die schon mit H E E D E R beginnt, ist danach bestrebt, das Weltivirken als Fortsetzung reinen Naturwirkens zu demonstrieren, und endlich operiert die letzte Gruppe mit dem Begriffe des wirtschaftlichen Materialismus. Wie verschieden nun auch diese Grundrichtungen sein mögen, in welchem geringen oder hohen Maße der falsche allgemeine Kausalitätscharakter in ihnen betont wurde, eines haben sie doch gemeinsam: Sie wollen die ganze Fülle historischer Ereignisse aus einem Grundprinzip heraus erklären. Alle bisherige Geschichtsphilosophie erhob einen bestimmten Faktor zum Demiurgen der Weltgeschichte. Hierin aber scheint mir gerade das Grundgebrechen zu liegen. Ich nenne eine jede solche Geschichtsauffassung eben Geschichtsmetaphysik. Alle die aufgezählten Geschichtsphilosophien haben wirklich wenigstens bedeutsame Faktoren des Weltwirkens zu Weltherrschern erhoben. Es giebt aber noch eine, wenn auch geringe Anzahl von Geschichtsauffassungen, die selbst nebensächliche Triebkräfte auf diesen Thron setzen wollen. Darum ist alle bisherige Geschichtsauffassung eben nicht nur einseitig, sondern falsch, unkorrigierbar und unreformierbar. Ob man die Fülle historischer Geschehnisse aus einer Ursache intellektueller oder materieller Natur erklären will, ist gleichgültig in dem Augenblick, wo man die Totalität von Teilzusammenhängen und historischen Beziehungskomplexen aus einem geschichtlichen Urphänomen heraus
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erklären und in strenger Reihenfolge ableiten will. So muß mit Naturnotwendigkeit über kurz oder lang eine jede solche Geschichtserfassungsweise zu einer Geschichtsmetaphysik ausarten. Selbst bei einem vollkommeneren und entwickelteren Zustande der Einzelforschung würde eine solche Ableitung bald dazu übergehen müssen, den historischen Thatsachen Zwang anzuthun. Bei dem Zustande aber der Einzeldisziplinen, aus denen heutzutage die gesamte Historie besteht, muß eine solche Betrachtungsweise bald in eine konventionelle Geschichtsmethodik umschlagen, die Entwickelungstendenz muß notwendigerweise zur Schablone werden. Die elementare Phantasie, nicht der eigentliche ausgebildete Intellekt scheint mir die eigentliche Triebkraft der Weltgeschichte zu sein. Nun wohlan, kann man etwa aus diesem Urphänomen das ganze historische Geschehen ableiten? Nein und tausendmal nein. Man würde überall auf Lücken stoßen, die man sich beeilen würde, künstlich auszufüllen. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß wir einst, in ferner ferner Zeit aus diesem sicherlich ersten Grundelemente der Historie alle Geschichte würden zwanglos ableiten können, d. h. Gesetze würden wir auch damals kaum besitzen, sondern nur gewisse kausale Grundlinien. Wir würden einen großen Teil von plausiblen Einzelzusammenhängen auf diese relativ letzte Ursache zurückgeführt haben. Wir hätten selbst dann nur hypothetische Elemente, wir hätten Hilfsgesetze und Hilfsbegriffe im Sinne der Naturwissenschaft, keine ganz präzisen und allgemein gültigen Gesetze. Wie dem auch sein mag, sicher ist eins: Es k a n n , in absehbarer Zeit wenigstens, keine definitive Geschichtsp h i l o s o p h i e geben. Daraus folgt aber keineswegs, daß die Geschichtsauffassung, weil sie ihren definitiven Charakter für geraume Zeit aufgeben muß, auch jede Existenzberechtigung verloren habe. Die Geschichte hat ja ihre eigene Aufgabe und ihre eigene Methode. Der Historiker muß, wie wir gesehen haben, einerseits mittels seines psychologischen Einblicks ins historische Geschehen das Zeitbild ergänzen und er muß andererseits die kollektiven Zusammenhänge in möglichst objektiver Weise zu bewerten suchen. Worum es sich hier in den meisten Fällen also handelt, sind Teilzusammenhänge. Der Historiker darf und soll nur gleichsam Ausschnitte aus der Weltgeschichte, am liebsten Ausschnitte aus einer Periode der Mitund Nachwelt überliefern. Die Frage entsteht nun: Was fangen wir mit diesen Ausschnitten an? Irgend welche Gedanken darüber macht sich j a auch der Fachhistoriker und er wäre auf seinem Ge-
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biete kein bedeutender Geist, wenn er sieh sie nicht machen würde. Auch er muß von ganz anderen Zeitläufen etwas wissen, um in seiner Periode Bescheid sagen zu können. Aber das sind nur gelegentliche Ausblicke. Der Fachhistoriker huscht an ihnen vorbei. Wir aber müssen die Gesamtbilder festzuhalten suchen. Wir müssen da anfangen, wo der Historiker aufhört. Die Geschichtsauffassung kann ohne ein Grundprinzip, aus dem alles historische Geschehen abzuleiten sei, ganz gut auskommen; sie muß eben nur systematisch, unermüdlich als Hauptziel jene Besinnung aufs Allgemeine auszuüben suchen, der ja gelegentlich, so im Vorbeigehen, auch die Detailgeschichte nicht zu entrinnen vermag. Aber die bange Frage entsteht, von welchem Gesichtspunkte aus man dann mit den von der Fachwissenschaft gelieferten Ausschnitten eigentlich umgehen müsse, mit welchen man anfangen, mit welchen man aufhören soll. Es scheint, daß man ohne ein allgemeines Grundprinzip sich hier nicht orientieren kann. Und doch ist dies Grundprinzip nicht vonnöten. Der Historiker liefert uns zweierlei: Er liefert uns einerseits nach jener relativen Gesetzmäßigkeit, die wir früher besprochen, bereits geordnetes Material und andererseits Zeitpsychologien verschiedener Perioden. Ich glaube daher, daß ein« Geschichtsauffassung, die sich bescheidenere Ziele steckt, am besten thut, nach diesen beiden Gesichtspunkten die Ausschnitte zu ordnen, ebenso wie der Fachhistoriker die einzelnen historischen F a k t a selbst geordnet hat. E i n e solche G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g ist n a t ü r l i c h nur provisor i s c h e r N a t u r u n d sie m u ß f ü r g e r a u m e Z e i t a u c h s t r e n g diesen C h a r a k t e r bewahren. Eine jede neue große Errungenschaft der Geschichte, ein plötzliches Inslebentreten bedeutsamer neuer historischer Thatsachen kann sie umstoßen und kann eine neue provisorische Geschichtsauffassung zur Herrschaft bringen. Die provisorische Geschichtsauffassung bietet eben nur allgemein orientierende Gesichtspunkte, weite Perspektiven, keine definitive Erklärung. Aber auch die strenge Naturwissenschaft, wo allgemein gültige und präzise Gesetze herrschen, orientiert sich da, wo sie anschaulich wird, j a auch nur vermittelst einer provisorischen und wechselnden Heuristik. An Stelle älterer metaphysischer Begriffe tritt der KraftbegrifF, an Stelle des KraftbegrifFes tritt die Energetik. Morgen oder übermorgen kommt vielleicht ein neueres einfacheres regulatives Prinzip. Man sieht, eine solche provisorische Geschichtsauffassung ist kein Aufgeben der Wissenschaft, ist nur eine Befestigung wissenschaftlicher Arbeitsweise durch eine größere metho-
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dische Behutsamkeit. Eine provisorische Geschichtsauffassung muß also zunächst allgemeine Aussagen über das von der Detailhistorie gelieferte Material zu machen suchen und andererseits muß sie eine Prüfung der bisher gelieferten Zeitpsychologien anstellen. Sie muß, und hierin liegt eben das Wesen der provisorischen Geschichtsauffassung, zugleich an das Niedrigste und an das Höchste der bisherigen konkreten Geschichtswissenschaft anknüpfen. Das Niedrigste, was die Geschichtswissenschaft bis jetzt geliefert hat, gleichsam ihre gröbste, aber wichtigste und schwerste Arbeit war die möglichst quellenreine allgemeine Datenzusammenstellung über die verschiedensten örtlichen und einfach chronologischen Verhältnisse der Völker. Das Bedeutendste, was die Detailgeschichte bis jetzt geleistet hat, ist das Zeitkolorit, das sie verschiedenen Perioden zu geben gewußt hat, ihre allgemeinsten Aussagen über die inneren Wertungen der Menschen. Die provisorische Geschichtsauffassung hat nun an diesen beiden Punkten anzusetzen, ohne sich darum zu bekümmern, daß so und so viele Mittelglieder fehlen, welche durch eine andere, von neuen Gesichtspunkten geleitete, provisorische Geschichtsauffassung vielleicht einst geliefert werden wird. Wie man sieht, ist also die provisorische Geschichtsauffassung in gewissem Sinne eine organische Fortsetzung der Fachgeschichte selbst. Das, was in der Detailhistorie ganz aus dem Groben herausgehauen wird, wird hier gleichsam noch einmal poliert. Und so kann auch das Verhältnis zwischen dem Fachhistoriker und dem Geschichtsphilosophen leicht bestimmt werden. Der Fachhistoriker thut gelegentliche Ausblicke in die Weltgeschichte und der Geschichtsphilosoph sucht gelegentlich in die Detailgeschichte einzudringen. Der Fachhistoriker übt in geringem Maße die Bewertung historischen Geschehens, der Geschichtsphilosoph in großem Maße. Der Historiker und der Geschichtsphilosoph gleichen zwei täglichen Besuchern einer großen Galerie. Der erstere sitzt stundenlang vor einem bedeutenden Gemälde, das er genau kennt. Hier und da orientiert er sich ein wenig im Saale, wo sich das Gemälde befindet. Einmal im Jahre streicht er rasch durch die gesamte Ausstellung. Der Geschichtsphilosoph hingegen gleicht dem Besucher, der alle Bilder aller Säle zwar mehr oberflächlich, aber immerhin in ihrer Totalität kennt. Diese methodischen und prinzipiellen Grundsätze scheinen so selbstverständlicher Art, daß man sich wundert, daß nicht ein jeder Geschichtsphilosoph dieses Verfahren eingeschlagen habe. Aber wer
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die Geschichte der Wissenschaften kennt, weiß, daß in jeden» Zweige menschlichen Erkennens der Weg zur relativen Wahrheit so leicht betretbar scheint und doch so schwer betreten wird. Das Bestreben, aus einem Grundprinzip heraus die Fülle der Ereignisse zu erklären, hat selbst die einsichtigsten Geschiclitsphilosophen daran verhindert, mit den einfachen oben aufgestellten Grundsätzen ihr Heil zu versuchen. Die Geschichtsphilosophen versperrten sich den Weg zur provisorischen, sich kleinere Ziele steckenden, aber einzig wissenschaftlich möglichen Erfassung historischen Geschehens hauptsächlich dadurch, daß sie ein der konkreten Geschichte meist fremdes Element in diese selbst einzuführen suchten. Das Grundprinzip, aus dem die Geschichte erklärt werden sollte, war ein außerhistorisches, fremdes Erklärungselement. Man sucht alle Historie mittels der göttlichen Vorsehung, mittels der drei intellektuellen Entwickelungsstufen von der Theologie bis zum Positivismus, mittels biologischer Analogien und mittels des universellen, allgewaltigen Produktionsmechanismus zu erklären. Die Geschichtsphilosophen geben zwar vor, vor allem die Geschichte studiert zu haben und sie suchen dies auch dadurch zu beweisen, daß sie in ihre theoretischen Ausführungen möglichst viele historische Citate einflechten. Aber auf die Lektüre vieler historischer Einzelwerke kommt es am allerwenigsten an. Kann ja doch heutzutage selbst der größte Spezialforscher in römischer Geschichte den mittelalterlichen Historiker ebensowenig in Bezug auf das Thatsachenmaterial kontrollieren, wie dieser letztere den Geschichtsschreiber des Revolutionszeitalters. Was mau in jedem gegebenen wichtigen, über das ganz Singulare hinausgehenden Falle nur kontrollieren kann, ist die historische Methodik. E s kommt auf den historischen Geist an, mit welchem man die Fülle der Einzelgeschehnisse betrachtet. Von diesem Gesichtspunkte aus kann man sagen, alle bisherige Geschichtsphilosophie sündigte gegen den Geist historischen Erfassens der Dinge. Anstatt aus der Geschichte allgemeine Prinzipien in langer und mühseliger Arbeit zu entwickeln, trugen sie allgemeine Prinzipien in raschem, wenn auch oft wundervollem Aufbau in die Geschichte hinein. Diese Prinzipien stammten aus der Philosophie, aus der Naturwissenschaft, aus der Theologie, aus allen möglichen Disziplinen, nur nicht aus der Geschichte selbst. Was unsere provisorische Geschichtsauffassung aber vor allem will, ist eine Selbstherrschaft der historischen Betrachtungsweise. Der Geschichtsphilosoph muß sich durch Erfassung geschichtlicher Teilzusammenhänge selbst helfen, er darf kein fremdes Prinzip anderen Disziplinen
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entlehnen. Vor allem aber darf er überhaupt nicht mit einem einzigen Prinzip operieren, er muß der Geschichte von verschiedenen Seiten, gleichsam mit verschiedenen geistigen Wendungen beizukommen suchen. Für verschiedene Betrachtungsweisen muß er auch verschiedene Kriterien und verschiedene Methoden zu finden suchen. Darin besteht also das Wesen der provisorischen Geschichtsauffassung, daß sie verlangt, daß die Historie nicht mehr dem Philosophen, dem Naturforscher u. s. w. ausgeliefert werden soll. Sie verlangt gleichsam eine Autonomie für den. historischen Geist, sie will nach allen Richtungen möglichst unspekulativ sein. Die Geschichtsauffassung ist also in diesem Sinne nur eine Erweiterung der in der Fachhistorie schon selbstherrschenden Forschungsart. Selbstverständlich kann diese organische Fortsetzung der Geschichtswissenschaft auf einem gewissen Punkte wiederum in eine Geschichtsmetaphysik ausarten, aber die Möglichkeit einer Korrektur ist mit dem unverrückbaren Grundsatze, der hier aufgestellt wurde, gegeben. In dem Augenblicke, wo wir uns dazu verstehen, erstens auf das Ganze historischen Erfassens einmal zu verzichten und zweitens mit der Aufgabe historischer Mittelglieder nur an verschiedenen Punkten das bereits vorliegende historische Material der Detailforschung wiederum systematisch zu ordnen, haben wir zwar den definitiven Charakter der Geschichtsphilosophie aufgegeben, aber uns auch mit einem gewaltigen Ruck von dem metaphysischen Wesenszuge, der bis jetzt ihr innegewohnt, entfernt. Doch das, wird man sagen, sind nur formale Bestimmungen. Wo sind die realen Forderungen einer solchen Geschichtsauffassung? W o ist der Übergang von der Betonung heuristischer Notwendigkeit auch zur praktischen Anwendung rein orientierender Gesichtspunkte? Ich glaube, daß eine provisorische Geschichtsauffassung es zunächst mit zwei ganz verschiedenartigen Disziplinen zu thun haben wird, wobei gemäß unserem Programm gänzlich auf die historischen Mittelglieder verzichtet wird, auf die eine rein kausale Erklärungsweise nie verzichten dürfte. Erstens: Man könnte eine äußere Geschichtsauffassung aufstellen. Dieselbe würde nur das historische Neben- und Nacheinander, die Folge der historischen Phänomene in ihrer ganzen Bestimmtheit aufzusuchen bestrebt sein. Diese Disziplin giebt uns nur die skizzenhafte Zusammenstellung der typischen Merkmale der in der Geschichte vorkommenden Völker. Sie verzichtet von vornherein auf jede Erklärung, die nicht aus den Thatsachen selbst folgt. Sie ist ein kurzer, trockener Abriß der historischen
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Hauptmerkmale, wie sie die Teilforschung liefert. Sie bietet gleichsam nichts anderes dar, als eine Übersicht der Formen historischer Entwicklung. Sie ist also nichts anderes als die Verlängerung der älteren Chronologie nach der geographischen Seite hin, indem sie sich bestrebt, möglichst viele Völker chronologisch zusammenfassend zu behandeln. Ihr Wesen geht nur im historischen Neben- und im formellen Nacheinander auf. E s wird dadurch nichts mehr und nichts weniger als die allgemeine zwangloseste Gruppierung der Fakten erstrebt. Man könnte diese Geschichtszusammenfassung auch als die Lehre von der Nebeneinanderstellung historischer Grundfakten und Grundtypen, oder, wenn man will, kurzweg als historische Formenlehre bezeichnen. Ich hatte schon vor Jahren bei meiner Beschäftigung mit geschichtsphilosophischen Fragen die Notwendigkeit einer solchen Disziplin eingesehen. Schon vor 3 Jahren habe ich in einem Vortrage im Wiener sozialwissenschaftlichen Bildungsvereine auf die Notwendigkeit einer solchen zwischen der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie vermittelnden Disziplin hingewiesen, und vor Monaten deutete ich in der „Zukunft" dies durch folgende Worte an: „Alle und jede Geschichtsphilosophie ist also vorläufig ein Provisorium. Den Zwecken dieses Provisoriums dienen die Geschichtszusanimenfassung oder historische Formenlehre und die eigentliche Geschichtserfassung oder Entwicklungslehre der inneren Werte." 1 Ich lernte nun in letzter Zeit in der „Weltgeschichte" HELMOLT'S die Einleitung zu einer fachwissenschaftlichen Zusammenfassung kennen, die mir von ähnlichen Gesichtspunkten auszugehen scheint. In seiner „Weltgeschichte", die viele bedeutende Gelehrte zu Mitarbeitern hat, sagt Dr. HANS F . HELMOLT, daß es ein weit verbreiteter Irrtum sei, daß man den Teil der Welt, den man mit seinem geistigen Horizont umspanne, schon für die gesamte Welt halte. Die Weltgeschichte ist hier mit Recht die Entwickelungsgeschichte der gesamten Menschheit. E r weist darauf hin, daß man aus der Erforschung der sozialen und geistigen Zustände noch unberührter Naturvölker ungeahnte Schätze werde heben können. An einen Hauptgedanken RATZEL'S, der in seiner Anthropogeographie schon alles historische Leben durch die geographischen Bedingungen zum Teile erkennen wollte, sich anlehnend, versucht nun HELMOLT, der Weltgeschichte einen größeren Umfang wie bisher zu geben. Hier1
Vgl. „Die Zukunft".
7. Jahrg., Nr. 50, S. 458.
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durch aber setzt er die Detailhistorie in eine enge Verbindung mit der Ethnologie. „Die Ethnologie", 1 sagt er, „scharf von der Geschichtswissenschaft abzugrenzen, sie von der Geschichtsschreibung auszuschließen, ist ein müßiges Unterfangen. Das Auftauchen historischer Überlieferungen bildet kein sicheres Kennzeichen für den Augenblick, wo ein Volk historisch wird. Danach müßten die Inder zu den geschichtslosen Gliedern der Menschheit gerechnet werden. Solche giebt es aber überhaupt nicht. In der Geschichte, sagt mit Recht ERNST RENAN, giebt es trübe Tage, aber keine unfruchtbaren. Die Behauptung, keine größere Entdeckung, keine höhere Religionsform habe sich von Afrika aus nach anderen Ländern verbreitet, ist noch zu
beweisen.
Einem
ALEXANDER
V. HUMBOLDT
widerstrebte
der
Gedanke, daß einige Menschenstämme weniger zur vollen Entwickelung tauglich sein sollten, als andere." Unser Autor meint, die Geschichtswissenschaft müsse ohne jede Voreingenommenheit alle Völker berücksichtigen, sie dürfe nicht Nationen unberücksichtigt lassen, weil sie zu den sogenannten geschichtslosen gehören. Die Erkenntnis der weltgeschichtlichen Zusammenhänge kann also nur aus dem Werdegang aller Völker geschöpft werden. HELMOLT glaubt nicht nur alle Geschichtsphilosophie, sondern auch alle teleologische Betrachtungsweise von vornherein ablehnen zu müssen. Die Weltgeschichte habe es, meint er, mit den gegenseitigen Beeinflussungen zu thun. In dieser Kette gegenseitiger Beeinflussungen aber darf keine Lücke klaffen. Man darf die geschichtslosen, wilden und erstarrten Stämme nicht aus dem Kreise der historischen Betrachtungen fallen lassen. Eine universelle Geschichte muß alle Völker umklammern. „Daß man von den Südseeinsulanern", sagt er wörtlich, „und Negern bisher nicht viel hat wissen wollen, ist begreiflich, weil die Rollen, die diese im Drama der Menschheit gespielt haben, nicht gerade die glänzendsten gewesen sind; nicht zu entschuldigen aber ist das Verfahren, Indien, j a sämtliche Völker Ostasiens von dem Plane einer wirklichen Weltgeschichte auszuschließen und die Entwickelung Amerikas kurzer Hand unter Kennworten wie «Entwickelungsgeschichte», «Unabhängigkeitskrieg» unterzubringen. Das sind Verlegenheitsauskünfte, die mangelhaften Kenntnissen oder beschränktem Blicke ihr Dasein verdanken, übrigens recht merkwürdige Erscheinungen, wenn man bedenkt, daß vor mehr als 100 Jahren ein HEEDER Vgl. „Weltgeschichte, herausgegeben von Dr. HANS 1
unter Mitarbeit hervorragender Fachgelehrter", HELMOLT. Leipzig und Wien, 1899, S. 4.
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seine Ideen in 20 Büchern niedergelegt hat. Insofern bedeutet selbst R A N K E ' S «Weltgeschichte», abgesehen davon, daß sie ein Bruchstück geblieben ist, einen Rückschritt." Konsequent verwirft unser Autor auch die bisherigen Einteilungen der Geschichte. Im Grunde, meint er, bleibt die Weltgeschichte unteilbar. Da aber doch eine Gruppierung des Stoffes notwendig erscheint, so muß man sich nach der natürlichen Grundlage der Menschheitsgeschichte umsehen. Der Boden ist die Grundlage aller Historie. Ohne Geographie giebt es nach unserem Autor kein Verständnis der Weltgeschichte. „Somit bleibt nichts anderes übrig" (S. 19) „als eine Einteilung nach rein geographischen Gesichtspunkten. Bildet dabei aber eine Reihenfolge der Nationen die Grundlage, so würden unfehlbar Lücken entstehen. Alle jene bewohnten Gebiete würden zu geschichtslosen gestempelt, wo sich noch keine Nation die vollendetste Art aller natürlichen Gesellschaften hat bilden können. Noch unheilvoller wäre hierfür eine Rücksichtnahme auf den Staatsbegriff, denn dieser bedeutet an sich schon eine Kulturhöhe, die noch mehr Glieder der Menschheit von vornherein ausschlösse." Ich schließe mich nun diesen Ausführungen keineswegs in allen Punkten an. Zunächst, glaube ich, begeht H E L M O L T einen methodologischen Fehler, wenn er glaubt, daß man in einer so weit aufgefaßten Weltgeschichte Zweckmomente gänzlich ausschließen könne. Aber einer solchen Weltgeschichte scheinen mir zwei andere weit ernstere Bedenken gegenüberzustehen: Erstens führt die zu direkte und zu mittelbare Anlehnung an R A T Z E L ' S Standpunkt doch wieder wie von selbst zu einer Art definitiver Geschichtsphilosophie. Sicherlich hat der große Geograph Recht, wenn er alle menschliche Entwickelung auf dem Planeten Erde von Zuständen des Weltalls abhängig macht. Aber trotzdem ist es schon eine ganz bestimmte philosophische Anschauung, wenn man durchaus auch in der historischen Erfassung diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund zu rücken sich bemüht. R Ä T Z E L ' S Ausspruch: 1 „Die Menschheit gehört zur Erde als ein Stück von der Erde" ist allerdings in einem gewissen Sinne einwandfrei. Soll hiermit besagt werden, daß die Menschheit in ihren wissenschaftlichen Bestrebungen niemals den Einfluß des Grundfaktors Boden, des kosmischen Milieus der französischen Soziologie vergessen soll, so ist dagegen nicht das Geringste einzuwenden. Sollte der Satz aber besagen, daß in der Ge1
Vgl. „Weltgeschichte", S. 63.
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schichte nur das geographische Element auf Wichtigkeit Anspruch erhebe, so ist der Ausspruch entschieden bedenklich. Wir kommen dadurch wieder in eine rein naturwissenschaftliche Geschichtsauffassung herein, von der wir ja in der letzten Zeit uns alle zu befreien suchen.1 Sicherlich ist der Mensch an das Schicksal der Mutter Erde und des Planetensystems gebunden. Die Einflüsse des kosmischen Milieus zu leugnen wäre ja lächerlich. Aber ebenso wäre es unstatthaft, alle spezifisch historischen Vorgänge auf rein kosmische Wirkungen zurückzuführen. Hierzu kommt noch folgende erkenntnistheoretische Erwägung. Wir wissen ja gar nichts von der äußeren Welt, hiermit also auch vom Wirken der Erde ohne Vermittelung der Sinne. Für uns Menschen steckt nun einmal der Kosmos in unseren Empfindungskomplexen drin. Die Selbstherrlichkeit des kosmischen Milieus ist also noch gar nicht so ausgemacht, wie dies auf den ersten Blick scheint. RATZEL'S Anthropogeographie ist insofern eine berechtigte Auffassung, als sie sich damit begnügt, alle geographischen Einflüsse des umgebenden Bodens auf den Menschen aufzuzählen. Sie wird auch zu einer Art Geschichtsmetaphysik in dem Augenblicke, wo sie beginnt, den Gesichtspunkt H E B D E R ' S ausschließlich hervorzukehren, daß alle Geschichte nur eine Fortsetzung der Naturgeschichte sei. Wie schon früher betont wurde, haben die Menschen ihre Geschichte gemacht. Die Menschheitsgeschichte ist mit der Naturgeschichte verknüpft; sie hat aber ihre selbständige Entwickelungsweise durchgemacht, hat ihre selbständigen Aufgaben und Methoden. Zweitens darf man auch in dieser Zusammenstellung der gegenseitigen Völkerbeeinflussungen nach rein geographischen und ethnologischen Momenten nicht zu weit gehen. Es war sicherlich ein großer Fehler, die Indier aus der Universalgeschichte auszulassen, aber nur ein sehr kleines Versehen, die Geschichte verschiedener Negerstämme nicht zu behandeln. Ein gelegentliches Betonen der hier vor sich
1 Der äußere Erfolg der materialistischen Geschichtsauffassung ist nebst anderen Ursachen auch auf den Umstand zurückzuführen, daß man die naturwissenschaftliche Geschichtsauffassung eigentlich schon satt hat. Dieselbe artete, wie wir noch späterhin sehen werden, allmählich in eine förmlich biologische Analogiewut aus, die weder auf die Philosophie noch auf die historische Fachwissenschaft befruchtend einwirken konnte. Dadurch, daß zum ersten Male im soziologischen Marxismus der äußere Versuch gemacht wurde, die Geschichte durch soziale und nicht durch naturwissenschaftliche Motive zu erklären, dadurch hat ja diese Geschichtsauffassung trotz ihrer Einseitigkeit und Unrichtigkeit auf viele Geister und Gemüter eben so erfrischend gewirkt.
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gehenden Einwirkungen und Einflüsse genügt für die Zwecke der Historie vollkommen. Aber trotz all dieser Bedenken ist die Universalgeschichte im Sinne H K L M O L T ' S doch der erste große und bewußte Versuch, das rein historische Neben- und Nacheinander der verschiedenen Völker aufzuzeichnen. Auf jeden Fall wird eine solche Universalgeschichte, wenn sie vollendet sein wird, direkt zu einer äußeren Geschichtserfassung, zu einer T y p e n - und F o r m e n g e s c h i c h t e in unserem Sinne führen müssen. Ohne ein so direktes Anlehnen an Ethnologie und Anthropogeographie wird die historische Formenlehre an ein derartiges Unternehmen, Weltgeschichte zu treiben, anzuknüpfen haben. Was der Geschichtsphilosoph nämlich in erster Reihe braucht, ist eine möglichst getreue, möglichst unsubjektive Fülle von Daten über die äußeren Merkmale möglichst vieler Völker, die in der Geschichte aufgetreten sind. Ob man den Begriff der geschichtslosen Nationen hierbei ein wenig zu weit oder ein wenig zu enge auffaßt, ist gleichgültig. Der Geschichtsphilosoph bedarf zunächst einer Aufstellung des einfachen Neben- und Nacheinander. Ferner möchte ich neben dieser historischen Formenlehre eine andere Disziplin der provisorischen Geschichtsauffassung einverleiben, nämlich die Lehre von den i n n e r e n W e r t u n g e n der Menschen. Die eigentliche Fachgeschichte beginnt gleichsam mit der Zusammenstellung der rein äußeren Daten und hört auf mit dem „Zeitkolorit". Wie sehr nun auch hier subjektive Gesichtspunkte in Betracht kommen müssen, so entringt sich doch, meist unbewußt, den Einzelbetrachtungen der Historiker schon eine gewisse Aufstellung von Durchschnittswerten, die sehr objektiver Natur sind. Es handelt sich hier nicht um den wirtschaftlichen Wert, nicht um die Begriffsbestimmung rein wirtschaftlicher Wertmesser, aber in jeder Epoche menschlicher Geschichte entwickelt sich ein anderes Gesamtbild des innerlichen Menschen. Die ethischen Güter, die Stellung zur Kunst, zum Begriffe Persönlichkeit, zum Leben, erfahren einen Wechsel, der sich nun auch nach außen ausdrückt und sich in ganz bestimmte Merkmale fassen läßt. Unwillkürlich und unbewußt giebt sich schon heute ein jeder bedeutende Kulturhistoriker Rechenschaft über diese Entwickelungsweise der allgemeinsten Wertbestimmung einer Periode. Er sucht uns verständlich zu machen, wie man in der Zeit der Griechen das Wesen der Religion, die Bedeutung des Einzelnen aufgefaßt habe, welche Beziehung damals z. B. zwischen dem öffentlichen Leben und dem Privatleben, zwischen der Wissenschaft und der Kunst, zwischen
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der Philosophie und der Rhetorik, zwischen der Kriegskunst und der Persönlichkeit, und schließlich welche Beziehung zwischen allen diesen Lebenspositionen und dem Gesamtleben der Zeit vorhanden war. Der Grieche wertet das Leben anders wie der Römer, der Römer anders wie der Mann im Mittelalter. Kurzum, es handelt sich um die innersten Durchschnittswerte geistiger Art, von denen die verschiedenen Epochen beherrscht werden. Wenn es wahr ist, was wir früher ausgemacht haben, daß es ohne Psychologie keine Geschichte gebe, so müssen wir es auch versuchen, einen Abriß der Entwickelungsgeschichte der Werte zunächst zu geben. Diesen Versuch einer Motivation des allgemeinsten sozialen Geschehens nach einer einzigen Richtung hin enthält meine K o m p l i k a t i o n s t h e o r i e , welche in den nächstfolgenden Kapiteln entwickelt werden soll. Selbstverständlich will auch diese innere Entwickelungsskizze menschlicher Werte keine Gesetze der Geschichte herbeiführen, sie begnügt sich, ein heuristisches Prinzip zu sein. Aber dieses Prinzip ist insofern von allgemeiner Bedeutung, als, wie wir sehen werden, es keine Periode giebt, die einer Beleuchtung ihrer inneren Wertveränderungen auf die Dauer entbehren könnte. Diese innere Wertentwickelung setzt also an einem Endpunkte universeller Geschichtsbetrachtung an, ebenso wie die historische Formengeschichte an einem Anfangspunkte. Ich möchte diese Art der Geschichtsbetrachtung durch ein Bild verständlicher zu machen suchen. Das Chaos historischer Begebenheiten gleicht einem weiten und entfernten Lande, das man zu erforschen bestrebt ist. An beiden Enden des Landes, von zwei verschiedenen Küsten an haben schon unsere Vorfahren kleine Länderstriche besetzt. Wenn wir dieses Land nun geographisch ausbeuten wollen, ist es nicht das Gescheiteste, wir schicken zwei verschiedene Expeditionen von den zwei verschiedenen Küsten aus? Es ist dabei die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß beide Expeditionen irgendwo an einem noch unbekannten Punkte zusammentreffen werden. Die Formengeschichte und die innere Entwickelungsgeschichte der menschlichen Werte gleichen diesen beiden Expeditionen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ihre Endresultate einmal in einem gewissen Punkte der wissenschaftlichen Entwickelung zusammenstoßen und daß wir dann allmählich auch zur Auffindung der historischen Mittelglieder gelangen werden. Bevor ich mit der Komplikationstheorie selbst beginne, möchte ich noch folgendes bemerken: Man darf ja nicht glauben, daß, wenn man provisorische Geschichtsauffassung sagt, man hiermit meint, alle
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Elemente dieser rein orientierenden heuristischen Arbeit müßten rasch durch Auffindung neuer Gesichtspunkte für immer zerbröckelt werden. Ein kleiner, wenn auch ganz geringer Ewigkeitswert kommt auch solchen heuristischen Gesichtspunkten zu. Verschwindet ja auch in der Naturwissenschaft das ältere heuristische Prinzip nicht immer ganz, giebt es ja auch noch jetzt ganze Gebiete, wo der Kraftbegriff ausschließlich herrscht. In noch höherem Maße gilt dies in der Geschichte, wo die ersten rein regulativen und antimetaphysischen Elemente schon gemäß ihrer formalen Bedeutung für lange Zeit noch orientierende Gesichtspunkte bleiben werden, wenn selbst der Strom historischen Geschehens neue Gesichtspunkte und neue heuristische Prinzipien anschwemmen würde.
Zehntes Kapitel.
Die soziale Komplikation. Jedem, der sieh nicht von vornherein einer feststehenden Geschichtsmetaphysik verschrieben hat, muß die große Bedeutung der inneren Wertungen des Menschen für das Erfassen alles historischen Geschehens auffallen. Die historischen Perioden in ihrer Abgrenzung voneinander und die Einordnung der Einzelergebnisse der Detailhistorik ergeben überall Wertungen, die an sich und scheinbar ohne jede Beeinflussung eine primäre Evolution durchgemacht haben. Wer in der Geschichte mehr als bloße Produktionsveränderungen sieht und an einen vorwirtschaftlichen Zustand der Menschheit glaubt, wird sich daher fragen, warum alle neueren Geschichtsphilosophen, sowohl die biologischen Soziologen in Frankreich und England als auch die Anhänger des ökonomischen Materialismus und die deutschen Erkenntnistheoretiker, die primäre Evolution der menschlichen Wertungen so wenig berücksichtigt haben. Zwei Momente standen, wenn mich nicht alles täuscht, einer richtigen methodischen Auffassung entgegen. Erstens hielt man die Wertungen für konstanter, als sie es in Wirklichkeit sind. Man glaubte, daß die grundsätzlichsten Wertungen des Menschen, seine Vorstellungen von Glück und Vornehmheit, Gut und Böse u. s. w. sich im Verhältnis zur Technik und zur Entwickelung sonstiger Vorstellungen nur überaus langsam entfaltet hätten, und noch B U C K L E erklärte in seiner „History of Wkisengrün, Marxismus. 10
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Zehntes Kapitel.
Civilisation" die Sittlichkeit im Gegensatz zum menschlichen Denken für einen fast konstanten Faktor des allgemeinen Fortschrittes. Zweitens glaubte man nicht, daß diese Wertungen je ihrer Subjektivität entkleidet und einer objektiv geschichtsphilosophischen Betrachtung unterworfen werden können. Gerade die jüngste Zeit schien das zu bestätigen. N I E T Z S C H E ' S Evolutionstheorie der inneren Werte trug bei aller Genialität so sehr seine persönlich-individuellen Züge und erschien in so hohem Maße als eine von der berückenden Kunst des sprachbeherrschenden Meisters getragene Umdichtung der historischen Wirklichkeit, daß gerade sie die Meinung, als ob alle menschlichen Wertungen der geschichtsphilosophischen Betrachtung entrückt seien, nur verstärken konnte. Und doch bin ich anderer Ansicht. Zahlreiche Thatsachen nötigen uns, einen gewissen Zusammenhang der inneren Werte mit den äußeren Daseinsbedingungen der Menschen anzunehmen. So wird man bei einer rauhen bäuerischen Bevölkerung schwerlich Geschmack, Feinheit des Intellekts, Neigung zum Zergliedern des eigenen Ichs oder Formenreichtum der Sprache antreffen; und von den Deutschen während der Dauer des dreißigjährigen Krieges war selbst in den höheren Ständen unmöglich ein Seelenleben zu erwarten, dessen Elemente durch ein überwiegendes Interesse an Wissenschaft und Kunst bestimmt werden. Immer wird ein Zusammenhang zwischen den inneren Werten der Durchschnittsindividuen einer Zeit oder Gegend und der Summe ihrer äußeren Lebensbedingungen vorhanden sein. Gerade die Durchschnittsmenschen liefern aber den Maßstab für die Wertevolution. Das Genie kann noch so viele Werte selbstherrlich schaffen: Der Charakter der Durchschnittsmenschen ändert sich nur sehr allmählich, denn erstens ist der Einfluß neuer Werte überaus langsam und zweitens entscheidet für die Wertungen der Menschen hauptsächlich das Gemeinschaftliche. In jeder Gegenwart pflegen die bloßen Nuancenunterschiede der Wertung überschätzt zu werden; blickt man aber auf frühere Perioden zurück, so wird bei allen Verschiedenheiten der Genies und der Durchschnittsmenschen in Bezug auf intellektuelle Bethätigung und Temperament ihre weitgehende Übereinstimmung innerster Wertungen richtig erkannt. Gemeinsam ist einer Zeitperiode in erster Linie eine gewisse Grundstimmung und Grundwertung; sonst gäbe es überhaupt kein unterscheidendes Zeitkolorit. Der Intellekt, der Grad des Kunstschaffens und der Gelehrsamkeit bleiben dabei immer noch individuell äußerst ver-
Die soziale Komplikation.
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schieden. Daher konnte NIETZSCHE auch gleich Meister BUKCKHARDT, dem er so viel verdankt, von Wertungen ganzer Völkergruppen und Zeitalter sprechen: von Werten der Renaissance, von den vornehmen Wertschätzungen der Römer und von den Sklaveninstinkten der Juden. Also: die Durchschnittswertung einer Periode steht in einem gewissen Zusammenhang mit den äußeren Daseinsbedingungen der Durchschnittsmenschen dieser Periode. Man darf deshalb annehmen, daß die Wertsumme des primitiven Durchschnittsmenschen sich auf der V e r l ä n g e r u n g s l i n i e des M o m e n t a n e n befand und daß der primitive Mensch in irgend einem Zeitpunkt keine andere Wertbestimmung gekannt habe als diejenige, die im Augenblicksleben wurzelt. Erinnerung, Überdenken und Überprüfen hatten keinen Anteil an seinen Genüssen und an seinen Leiden. Sein Dasein war volles Gegenwartleben, von dem er nichts für seine Selbstbesinnung abzog und nichts der Sorge um die Zukunft opferte. Die Befriedigung des Hungers, des Durstes und des Geschlechtstriebes: das waren seine primären und einzigen Werte. Dieser Zustand blieb jenseits von Glück und Unglück — es sei denn, daß man auch im rein Animalischen Glück und Unglück unterscheiden will — : ein dumpfes und doch in seiner eigenartigen Fülle starkes Triebleben. Aber alle Werte, die wir in der eigentlichen Geschichte finden, vermögen uns doch nichts von jenem vorgeschichtlichen Urzustände der Seele wiederzugeben. Für den primitiven Menschen gab es kein: „Es war" und kein: „Es wird sein", sondern nur ein: „Es ist". In langsamer und allmählicher Entwickelung änderte der Kampf ums Dasein die einfachen Durchschnittswerte des primitiven Individuums. Ich meine den Kampf ums Dasein in seiner allgemeinsten Form, ohne komplizierte ökonomische oder biologische Hypothesen. Die äußeren Lebensbedingungen änderten sich allmählich und parallel mit den äußeren Veränderungen vollzog sich die Evolution der inneren Werte. J a , es darf angenommen werden, daß die Durchschnittswerte des Menschen bereits geraume Zeit sich von dem Grundcharakter des Momentanen entfernt hatten, während die äußeren Bedingungen noch im vorwirtschaftlichen Zustande behariten. Wenigstens wird diese Annahme durch die elementare Wirkung, die der primitiven Phantasie zuzuschreiben ist, nahe gelegt. War der primitive Mensch selbstsüchtig und grenzenlos grausam, ein äußerst beschränkter und roher Egoist, so war er doch nicht ehrgeizig. Erst der Kampf ums Dasein gebar den Ehrgeiz. Der Krieg der einzelnen, 10*
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Zehntes Kapitel.
oft sehr nah verwandten Volksstämme untereinander züchtete kriegerische Eigenschaften und machte aus der kriegerischen Tüchtigkeit eine Notwendigkeit. Dadurch entstanden kriegerische Gelüste auch ohne unmittelbaren Zweck. Die Entwickelung der Phantasie schritt fort, die wirtschaftliche Technik nahm ihren Anfang und der Mensch begann, sich auf sich selbst zu besinnen. Indem er seine kriegerische Thätigkeit betrachtete, lernte er sie schätzen und fing an, sie zu werten. Das kriegerische Element wuchs ihm gleichsam seelisch an, er erfreute sich am Besitz guter Waffen, an seiner Geschicklichkeit, sie zu handhaben, und an dem Mute, der durch diese Handhabung gestählt wurde. Was früher als Notwendigkeit einem unmittelbaren Zweck gedient hatte, wurde auch ohne alle Notwendigkeit zum mittelbaren Wert und jener Ehrgeiz wurde entfacht, der später für Unzählige, im Guten und Bösen, zur Triebfeder ihrer Handlungen werden sollte. Damit war bereits eine Wertung erreicht, die dem Augenblicksleben so wenig angehört, daß es vielmehr kaum ein anderes persönliches Wesensmoment giebt, das den Genuß des Augenblickes stärker als sie beeinträchtigt. Allerdings wird dadurch auch ein höheres Genießen gewonnen, ein übermomentanes Glück, das von der Vergangenheit zehrt und sehnsüchtigen Blickes in die Zukunft schaut. Diesem Genießen mit allen seinen Seligkeiten und seinem steten Gebundenhalten der Seele vermögen sich heute nur zwei Typen zu entziehen: Der Asket, der dem Nirwana zusteuert, und der Denker, der dem ewigen Rhythmus von Gedanken und Leben lauscht, um sich im amor dei intellectualis zu verlieren. Wir sind da mit einem Ruck weit von den Durchschnittswertungen des primitiven Menschen abgewichen. Die Wirklichkeit hat aber in mühseliger Entwickelung diesen Weg gefunden. Jahrhunderte mußten vergehen und Generationen phantasieloser Menschen ins Grab sinken, die primitive Nahrungssorge mußte sich zur volkswirtschaftlichen Technik entfalten, bis die ersten mittelbaren Werte, außer dem Ehrgeiz die Eitelkeit, die Freude am Besitz und andere, entstanden. Man braucht keine moderne Vererbungshypothese, um ein solches Werden mittelbarer Werte organisch zu erklären. Diese Werte, die sich nicht mehr auf der Verlängerungslinie des Momentanen befanden, wurden durch die eiserne Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein erzeugt, durch die zunehmende Phantasie gefördert und durch die werdende wirtschaftliche Technik festgeschmiedet. So ergiebt sich zwanglos etwa folgendes Schema: Der Vorfahr war ein kriegerischer Häuptling; bei seinem ersten Nachkommen war diese kriegerische Eigenschaft besonders
Die soziale Komplikation.
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ausgeprägt, bei dem Nachkommen in der nächstfolgenden Generation hatte sich die Lust an kriegerischer Auszeichnung bereits zum herrschenden Triebe verdichtet und der jüngste Nachkomme empfindet den kriegerischen Ehrgeiz schon als Selbstwert. Setzt man an die Stelle von vier sich in dieser Art ablösenden Generationen etwa dreißig bis vierzig, so hat man wahrscheinlich die historische Wirklichkeit. Meine Erklärung bedarf keiner anderen Stütze als des Überganges von der primitiven Nahrungssuche zum volkswirtschaftlichen Zustand. Die unmittelbaren momentanen Werte hörten auf, charakteristisch für die Durchschnittsmenschen einer gewissen Periode zu sein. Nehmen wir irgend einen auf höherer Stufe stehenden Indianerstamm als Beispiel, so finden wir bei ihm schon eine ganze Anzahl von Werten, die nicht mehr dem im Augenblick sich erschöpfenden Leben des primitiven Individuums angehören: Der Siouxindianer kennt die Sehnsucht nach kriegerischer Auszeichnung, die Freude an der Organisation und an einer primitiven Stammespolitik. Je weiter sich die Menschheit entwickelt, desto mittelbarer werden die Werte; und blickt man zurück, so stellt sich die ganze Menschheitsgeschichte, soweit es sich um die Evolution der inneren Werte handelt, als ein großes Abweichen und Ablösen von der Vorherrschaft der momentanen Werte dar. Immer mehr Dinge, die im Mittelbaren wurzeln, werden für den Durchschnitt der Individuen Selbstwert. Ich fasse diesen gewaltigen historischen Prozeß unter dem Begriff der sozialen Komplikation zusammen und sage: D i e E v o l u t i o n der i n n e r e n W e r t e h a t s i c h in e i n e r W e i s e v o l l z o g e n , d a ß d i e D u r c h s c h n i t t s w e r t e in i h r e r G e s a m t h e i t i m m e r m i t t e l b a r e r w u r d e n oder — g e n a u e r a u s g e d r ü c k t — d a ß sie e i n e n i m m e r h ö h e r e n G r a d der „ s o z i a l e n K o m p l i k a t i o n " erreichten. Für das Werden der inneren mittelbaren Wertschätzungen des Menschen ist die Zeit H O M E B ' S höchst charakteristisch, da in ihr der Übergang von momentanen zu Komplikationswerten besonders greifbar hervortritt. Die homerischen Gedichte spiegeln mit seltener Treue einen Zustand der Menschheit wieder, der trotz aller ansetzenden Kultur und einer außerordentlichen Reihe kräftiger Impulse noch viel unmittelbares Leben aufweist. Diese Periode, mit ihrer entwickelten wirtschaftlichen Technik, die längst aufgehört hat, primitiv zu sein, mit den ummauerten Städten, den reichen Gerätschaften und schwergepanzerten Streitern, zeigt eine ungemein frische Natürlichkeit der Menschen, aber auch Ehrgeiz, Spottsucht und
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Zehntes Kapitel.
Neid: neben wilden, ungebändigten Trieben selbständige Werte, die uns Modernen wohlbekannt sind. Zwischen primitiven Menschen mit der reichsten Fülle naiver Züge stehen die hämische Gestalt des Thersites und der schlaue Odysseus. Die Menschheit entfernte sich im Laufe der Geschichte auch von diesem relativ komplikationslosen Zustande. Unmittelbare Frische und Natürlichkeit ging immer mehr verloren und die Durchschnittswertungen zeigten bald eine größere Liste mittelbarer als unmittelbarer Schätzungen. Die Frage entsteht nun: Woran können wir den Komplikationsgrad der vom Urzustände entfernteren Menschen messen? Die Frage ist nicht so schwer zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das allgemeinste Resultat der Evolution der Werte nennen wir Kultur. Der primitive Mensch hat keine und selbst der homerische Held hatte nur wenig davon. Die Kultur ist bis zu einem gewissen Funkte der Geschichte Endprodukt und zugleich Endziel der Bewegung aller Werte. Die gesamte Evolution der inneren Schätzungen des Menschen hat keinen anderen Sinn und Zweck als den, Kultur zu erzeugen. So sind die Komplikationswerte, die über die ersten mittelbaien Schätzungen hinausragen, durchgängig Kulturwerte. Die soziale Komplikation mußte notwendig Kulturwerte erzeugen. Folglich kann man den Komplikationsgrad an der Stärke und Intensität der Kulturnotwendigkeit messen. Es giebt eine Periode in der Geschichte, in der die sozialen Komplikationswerte den notwendigen Kulturgrad nicht im geringsten überschritten. Ich meine die Renaissance. Hier haben wir eine historische Epoche vor Augen, in der die großen und freien Instinkte erst durchbrachen, nachdem die Kulturarbeit nach innen und außen vollbracht war. Man lese bei Burckhardt nach, wie die äußere Verfeinerung des Lebens, die höhere Form der Geselligkeit, die persönliche Beziehung zu Wissenschaft und Kunst selbst bei Individuen vorhanden waren, deren Grausamkeit, Egoismus und ungebändigter Lebenstrieb jedem primitiven Menschen Ehre gemacht hätten. Was uns in dieser Periode vor allem interessiert, ist die Vollendung der Persönlichkeit. Das Streben nach Vielseitigkeit brachte Individualitäten hervor, die von den scholastischen Gelehrtengestalten des Mittelalters sehr verschieden waren. Die Gelehrsamkeit wurde im täglichen Leben angewandt; Erweiterung der Kenntnisse bedeutete keine Störung der Produktivität und die Historie lastete noch nicht auf den Entschlüssen. Diese Thatenmenschen erweiterten den Typus der Persönlichkeit zu dem des allseitigen Gewaltmenschen, wie ihn
Die soziale Komplikation.
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uns B U R O K H A R D T anschaulich in der Person des L E O N B A T T I S T A A I.BERTI schildert, eines Mannes, der ebenso wunderbar sprach, wie er vortrefflich focht und ritt, die Philosophie ebenso beherrschte, wie die naturwissenschaftliche Bildung seiner Zeit und außerdem noch Musiker und Bildner war: ebenso witzig wie kernig, trotz aller Lebensfreude und Tapferkeit ein fast nervös zu nennender Mitlebender an und in allen Dingen der Zeit. E r vertritt, charakteristischer selbst als LEONARDO, der als genialer Mensch über den DurchUnmittelbares schnittswerten stand, das Wesen der Renaissance. lieben, gleichsam gebändigt von der K u l t u r , nicht ausgerottet. Die ganze Wiedererweckung des Altertums, der Humanismus, war weit entfernt von jeder alexandrinischen Gelehrsamkeit, deren eingetrockneter Wissenschaftsbetrieb ohne Leben und Unmittelbarkeit so abschreckend ist. Wir besitzen ein Selbstbekenntnis der gesamten Renaissance, N I E T Z S C H E ' S Zarathustra vergleichbar, die Selbstbiographie des dekadenten Menschen, der eine freiere Zukunft ersehnt, in der Rede des P i c o della M I R A N D O L A „ Ü b e r die Würde des Menschen". 1 D a heißt es: ,,Mitten in die Welt, spricht der Schöpfer zu Adam, habe ich dich gestellt, damit du um so leichter um dich schauest und sehest, alles, was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen, weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, allein, damit du dein eigener freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen, die höheren Geister sind von Anfang an oder bald hernach, was sie in Ewigkeit bleiben werden. D u allein hast eine Entwickeluug, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime eines allartigen Lebens in dir." Eine Periode, die solche Menschen wie A L B E R T I und einen solchen Begriff der Menschheit überhaupt erzeugen konnte, hatte den Zusammenhang mit der N a t u r noch nicht verloren; ihre Durchschnittswerte sind mittelbare Bestimmungen, die an die Kulturnotwendigkeit absolut gebunden sind. Was im Durchschnittsleben solcher Menschen nicht unmittelbar war, wird unbedingt durch die Zivilisation gefordert. E s giebt kein überflüssiges Mehr; die Kultur ist kein L u x u s , sondern eiserne Notwendigkeit; und Denken und Empfinden dienen allgemein noch starken Lebensinstinkten. Das neunzehnte Jahrhundert verhält sich dazu schon wie die homerische Zeit zu der Periode der primitiven Menschen. 1
BUKCKHAKDT, „Kultur der ßenaissance".
Bd. II. 8. 73.
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Zehntes Kapitel.
Sein Komplikationsprozeß bedeutet: Einengung, Einschränkung und Begrenzung des Momentanen. Die homerische Epoche offenbart uns die erste Stufe dieses Einengungsprozesses: starke mittelbare Werte neben den unmittelbaren. Die Renaissance bildet die zweite große Etappe: starke unmittelbare Bestimmungen, gedämpft, gemildert und stilisiert durch die alles beherrschenden kulturnotwendigen Elemente. Das neunzehnte Jahrhundert ist die letzte Phase des Einengungsprozesses. Die mittelbaren Werte treten losgelöst und ungebändigt von der Kulturnotwendigkeit auf. Sie haben den guten, starken Damm der Renaissance überschwemmt und es giebt bereits zahlreiche Werte, die nicht mehr an der Notwendigkeit gemessen werden können. Vier große psychische Entwickelungsstadien des Menschen, die je durch eine Evolution der durchschnittlichen Werte gekennzeichnet sind, treten nach alledem hervor. Erstens: der seelische Zustand des primitiven Menschen, in dem alle inneren Schätzungen und Bestimmungen auf der direkten Verlängerungslinie des Momentanen liegen; zweitens: die Periode der relativen Komplikationslosigkeit, mit ihren starken mittelbaren Werten neben der Schätzung des Momentanen; drittens: die Zeit der absoluten Kulturnotwendigkeit aller mittelbaren Werte, in der die unmittelbaren Schätzungen noch nicht ganz zurückgedrängt sind und die mittelbaren von der Tendenz der Vervollkommnung der Persönlichkeit beherrscht werden; viertens: die Periode der unbedingten sozialen Komplikation, wo die Werte, die in der Verlängerungslinie des Momentanen liegen, vollständig von starken mittelbaren Selbstwerten zurückgedrängt werden, ohne daß eine Kulturnotwendigkeit dazu nötigt. Ich komme jetzt von dieser konkreten Darstellung zu meinem abstrakt gefaßten Satze zurück und kann mich nun so ausdrücken: Die gesamte Evolution der Werte wird durch die Entfernung von den Augenblickswerten und durch den zunehmenden Grad der sozialen Komplikation bestimmt. Selbstverständlich wäre es irrig, Komplikationswerte etwa nur , in solchen Bestimmungen zu sehen, die wir uns als schlechte, unedle und unvornehme zu bezeichnen gewöhnt haben. Der ganze Trieb nach Erkenntnis in allen seinen Abstufungen und Auswüchsen ist nur ein Spezialfall des sozialen Komplikationsprozesses. Der primitive Mensch hatte gar keinen Erkenntnistrieb. HEBBERT SPENCER weist in den „Principles of Sociology" mit Recht darauf hin, daß niedrigstehende Völker nicht einmal für ihnen ganz Neues auch nur einen Funken von Interesse zeigen. So schauten die Australier
D i e soziale Komplikation.
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Gegenstände, die ihnen völlig unbekannt waren, ohne eine Spur von Neugier an. Der Erkenntnistrieb entstand durch die Notwendigkeit, die Umwelt zu beherrschen. Einmal vorhanden, begann er sich zum Selbstwert zu entwickeln. Aus dem Trieb zur Erkenntnis heraus entfaltete sich das Wissen als Selbstwert, und endlich wurde sogar das bloße Sammeln von Daten, die allenfalls indirekt dem Wissen, der eigentlichen Erkenntnis aber gar nicht dienen, Selbstzweck. Selbstverständlich ist, daß die immer stärker werdenden Komplikationswerte auch auf die soziale Entwickelung großen Einfluß üben. Ohne die gesamte mittelbare Wertung, die über das Kulturnotwendige weit hinausgeht, wäre das Geld nicht zu seiner Allmacht gelangt. Ich komme nun zu meinem Hauptproblem: Ist die Evolution menschlicher Werte ein objektiver Prozeß? Ich meine, daß die Komplikationstheorie die Durchschnittswerte der Menschen einer Periode — und darauf kommt es mir allein an — als beinahe unabhängig von subjektiven Entwickelungsmomenten aufdeckt. Die Hauptmerkmale sind allen Individuen einer bestimmten Zeit oder Gegend, mit Ausnahme einiger einsam dastehenden Genies — und teilweise sicher auch diesen — gemeinsam. Prüfen wir die seelischen Zustände in unserer Zeit: in dem einen ist der Ehrgeiz stärker, in dem anderen die Eitelkeit und wieder in einem anderen der faustische Erkenntnistrieb; aber höchst mittelbare, über das Momentane hinausragende und der Kulturnotwendigkeit nicht unterworfene Werte besitzt fast ein jeder. Wie gering ist dagegen — das wird allgemein zugegeben werden — heutzutage die Zahl vollkommen natürlicher oder auch nur im Sinn der Renaissance natürlicher Menschen! Wie wenige leben sich aus oder kennen wenigstens den Begriff des relativen Glücklichseins, der die Renaissancemenschen erfüllte! Zwei Grund typen können wir heute unterscheiden: die Dekadenten und die relativ Gesunden. Die Proletarier sind in ihrer Mehrzahl sicherlich keine Dekadenten. Wie steht es um ihr psychisches Leben? Als Individuen besitzen sie zwar nicht jenen naiven Idealismus, der sie als Klasse auszeichnet; immerhin sind sie aber idealistischer als alle anderen Bevölkerungsschichten. Sind sie deshalb auch freier, seelisch unmittelbarer, ungebundener? Nein. Man beobachte in Volksversammlungen die organisierte Arbeiterschaft. Was tritt an den einzelnen am stärksten hervor? Ehrgeiz und ein noch stärkerer, zum Selbstwert gewordener Erkenntnisdrang. Es ist unglaublich, was alles ein deutscher Sozialdemokrat gelesen haben möchte. Seine — unverschuldete — Halbbildung treibt ihm sogar
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Zehntes Kapitel.
neue, der höheren Bourgeoisie unbekannte mittelbare Werte zu.
Wie
der Durchschnittsbour^eois der höchsten Schicht seinen Lebenszweck darin sieht, es den Aristokraten glcichzuthuu, ist es höchstes Ziel der intelligentesten Arbeiter geworden, die „Gebildeten" nachzuahmen. Sie möchten sich, um mich eines beliebt gewordenen Ausdrucks zu bedienen, am liebsten zu „intellektuels" ausbilden:
nicht zu freien
Geistesmenschen, sondern zu „intellektuels" mit allen ihren Gebrechen, ihrer Wichtigthuerei und ihrem geistigen Hochmut.
Und auch die
unorganisierten Arbeiter stehen unter dem Druck solcher mittelbarer Werte.
Sie sind nur ungebildeter und roher.
Die Zerlegung der inneren Entwickelungsgeschichte der Menschheit in vier Perioden besitzt au sich nichts Zwingendes. Die Perioden sind keine absolute historische Einteilung wie die alten Einteilungen der Universalgeschichte.
Die relativ komplikationslose Periode, das
Zeitalter der Renaissance u. s. w. sind nicht als Zeitabschnitte gedacht, wie etwa Altertum, Mittelalter und Neuzeit.
Es sind nicht
einmal historische Abstufungen im Sinne von ALBERT HEBMANN POST, der bekanntlich zwischen Hausgenossenschaft, territorialgenossenschaftlicher Gemeinde, Königtum und Demokratie unterschied. Durch diese Einteilung in vier Perioden wollte ich nur die Verschiedenheit der Entwickelungsformationen großen Linien zeichnen.
menschlicher
Durchschnittswerte
in
Wenn nun irgend ein Detailhistoriker mir
beweisen sollte, daß es ähnliche Zustände in seelischer Beziehung wie zur Periode der Renaissance auch in anderen Zeitläufen, meinetwegen im klassischen Altertum, gegeben haben mag, so tangiert dies meine Auffassung nicht im geringsten.
Meine Einteilung ist keine
starre, zwingende Klassifikation, sie besagt nur, daß es diese vier Wertlinien einmal in der Menschheit gegeben hat.
Die Hauptsache
ist und bleibt mir der Nachweis, wie es gekommen ist, daß aus dem Menschen mit dem primitiven Seelenleben der differenzierte und komplizierte Sohn des 19. Jahrhunderts geworden ist.
Es fehlte bis jetzt
sowohl jeder Soziologie als jeder Historie eine plausible Motivation der
wichtigsten
menschlichen
Triebfedern.
Die
Nationalökonomie
machte ohne jede philosophische Besinnung ausschließlich den einen Trieb des Wirtschaftens zum Angelpunkte, um an sich sehr schöne Deduktionen zu entwickeln.
Die eigentliche Soziologie operierte mit
dem gesellschaftlichen Menschen, ohne sich jemals um die Existenz eines komplikationslosen Geschlechtes zu bekümmern, genau so, wie die Geschichte des 18. Jahrhunderts sich fa,st ausnahmslos um den vorhistorischen
Menschen
so gut wie gar nicht umgesehen hatte.
D i e soziale Komplikation.
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Die Philosophie der Geschichte aber behandelte diese seelischen Triebkräfte und inneren Werte, die die Brücke zwischen allem Individuellen und Generellen sind, nur gelegentlich. In dieser Komplikationstheorie muß man nun zwei verschiedene Momente auseinander zu halten wissen: 1. Die Thatsache der Komplikation selbst, d. h. den Grundgedanken von der Mittelbarwerdung der menschlichen Werte und vom Durchschnittscharakter all dieser seelischen Prozesse, durch die das Individuum von einem gewissen Punkte der Geschichte an am besten und tiefsten an die Gesamtheit gekettet wird; 2. den Kulturnotwendigkeitscharakter der sozialen Komplikation, d. Ii. die schon über das eigentlich Thatsächliche hinausgehende, bereits in einer Beziehung mit teleologischen Momenten operierende Theorie, daß diese Komplikation für die weitere Entwickelung der Menschheit notwendig war, ja, daß sie einer der wichtigsten Maßstäbe für die Beurteilung dieser Entwickelung selbst ist. Wie verwoben beide Elemente dieser heuristischen Geschichtsauffassung auch miteinander sind, so ist es dennoch klar, daß die Thatsache der Komplikation von prädominierendem Einflüsse ist und sein muß. Lassen wir nun die Kulturnotwendigkeit der Komplikation beiseite und beschäftigen wir uns nur mit dem ersten Faktor. Ein oberflächlicher Beurteiler, der wohl auch in gewissem Sinne die Neuheit dieser Auffassung wird zugeben müssen, könnte behaupten, daß die Komplikation als Thatsache eine historische Selbstverständlichkeit sei und aus dem Grunde von den verschiedenen Geschichtsphilosophen nicht hervorgehoben wurde. Die Komplikation als Thatsache ist eine Selbstverständlichkeit der konkreten Geschichte, sie ist aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit der theoretischen Erfassung historischen Geschehens. Eine materialistische Geschichtsphilosophie legt überhaupt inneren Wertungen als solchen von ihrem Standpunkte aus durchaus konsequent keine besondere Bedeutung bei. Die intellektualistische Geschichtsauffassung hat in allen ihren Abstufungen nur die Einwirkung begrifflichen Denkens ins Auge gefaßt. Die Geschichtsphilosophie hat nach COMTE es. vor allem auszumachen, wie der Geist sich entwickelt habe. Für diese Entwickelung des Geistes hatte nun COMTE genau sein Schema, wie HEGEL das seinige. Der Begründer des Positivismus glaubte, daß die Menschheit vor allem drei Entwickelungsstufen durchlaufen habe: zuerst das theologische, dann das metaphysische Stadium und jetzt komme die positivistische Entwickelungsstufe an die Reihe. BUCKLE,
Zehntes Kapitel.
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dessen Geschichtsphilosophie vielleicht den größten Einfluß in England und Frankreich ausgeübt hat, hält überhaupt nicht viel von der Entwickelung
innerer Werte an sich.
Inwieweit
er von den-
selben spricht, scheint er ausschließlich ethische Wertschätzungen zu meinen und von diesen behauptet er, daß sie sich einer realitiven Konstanz erfreuen. haben
Ja, wird man sagen, aber die Historiker selbst
sehr häufig auf diese Mittelbarwerdung menschlicher Werte
hingewiesen. Ganz bestimmt haben sie das gethan, inwieweit es sich bei ihnen eben
um Teilzusammenhänge
gehandelt
hat.
Aber nie
und nirgends hat man in zusammenfassender Weise betont, daß nur durch diesen Prozeß
seelischen Anwachsens,
daß nur durch das
Werden von Ehrgeiz, Eitelkeit u. s. w. man einen, wenn auch natürlich nur allgemeinen, aber tief eindringenden Blick in die Motivierung menschlicher
Handlungen
und genialen Philosophen
bekäme.
Mit NIETZSCHE,
der Decadence,
dem
dem einzigen,
großen der die
Werte als innere Triebfedern überhaupt erst aufgefaßt hat, werde ich mich später auseinandersetzen. Jetzt handelt es sich für mich darum, zu konstatieren, daß, wie sehr auch diese innere Wertgeschichte als historisches Urfaktum eine Selbstverständlichkeit ist, ebensowenig sie diese selbstverständliche Rolle in den Köpfen der begreifenden Menschheit bis jetzt gespielt hat. Trotzdem ich seit der ersten Formulierung meiner Komplikationstheorie die Erfahrung gemacht habe, daß sie zumeist sehr leicht verstanden wird, so möchte ich hier doch an einem einzigen überaus klaren Beispiele das Wesen der Komplikation jedem
plausibel zu machen suchen.
Da die Thatsache der Kom-
plikation selbst ein historisches Urfaktum ist, so ist sie auch die unbewußte Grundlage
vieler
psychologischer
Äusserungen
unserer
größten Dichter und Schriftsteller; sie spielt im „Hamlet" eine ebenso große Rolle wie im 2. Teile des „Faust" und in HÖLDEKLIN'S Gedichten.
Was den „Faust" betrifft, so weise ich nur auf die Szene
zwischen Faust und Frau Sorge hin, wo das ganze innere Elend, die psychische Not,
die Komplikation als Thatsache in lapidaren,
aber ergreifenden Zügen vorgeführt wird.
Noch inniger hat HÖL-
DERLIN den wahren Zustand der Dinge empfunden.
Die Sehnsucht
nach der homerischen Zeit ist eigentlich bei ihm nur die Form, in die sich das Bewußtsein des immer größer werdenden werdens unserer Werte kleidete.
Mittelbar-
Mehr noch als im „Hamlet" zeigt
uns SHAKESPEARE'S Genius im Drama „Sturm" in fast unheimlicher Weise das Walten der Komplikation.
In „Kaliban" wird uns das
ursprünglich Unzivilisierte, gleichsam Nacktwilde vor Augen geführt.
Die soziale Komplikation.
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Dann wird auch in der Handlung selbst auf das Krankhafte der Zivilisation hingewiesen. Das Ganze läßt sich, wenn man schon SIIAKESI-EARE-Interpretation treiben will, als ein einziger poetischer Ausblick in die Zukunft betrachten, als eine Verschmelzung der Zivilisation und des Ursprünglichen in eine höhere Einheit. Aber alle diese dichterischen Ahnungen über die Komplikation reichen weitaus an Klarheit nicht an das wundersam feine Empfinden eines Yolksdichters heran, der es verstanden hat, diesen feinsten Regungen der Seele einen ungemein plastischen Ausdruck zu geben. In seinem Stücke „Alpenkönig und Menschenfeind" zeigt der Wiener Dichter RAIMUND uns einen Diener, der, obwohl ein seelensguter Kerl und sonst ganz bei Vernunft, eine einzige fixe Idee hat. Er behauptet nämlich von sich, er wäre vier Monate in Paris gewesen, ohne jemals die Seinestadt erblickt zu haben. Als er am Ende des Stückes von einem Geiste durchgeprügelt und ihm verboten wird bei Androhung der härtesten Strafen, noch einmal die Lüge seines Pariser Aufenthaltes von sich zu geben, da bittet er unter Thränen, man möchte ihn doch zehnmal so stark prügeln, aber ihm die Erlaubnis geben, von sich sagen zu dürfen, er sei 4 Monate in Paris gewesen, ohne diese Behauptung wäre ihm doch das Leben jedes Reizes bar. Diese einfache Thatsache offenbart uns das Wesen der Komplikation. Für einen ganz gewöhnlichen Mann aus den sogenannten niederen Volksklassen hat ein Ding den innersten Wert, wovon er doch weder materiell noch moralisch, weder geistig noch sozial etwas hat. Er ist auch gar nicht so beschränkt, um die Unrealität und Unwichtigkeit dieser Behauptung nicht etwa einsehen zu können, aber die Eitelkeit ist in ihm so stark, daß eine einzige unwichtige Aussage, die er vielleicht einmal gebraucht hat, um vorwärts zu kommen, sich so sehr in seinem seelischen Innen- und Binnenleben krystallisiert hat, daß sie zum Angelpunkte all seiner Wertbestimmungen wird. Er läßt sich lieber prügeln, als diese ganz nebensächliche Behauptung aufzugeben. Hier hat der Volksdichter uns an einem so nebensächlichen Vorgange plausibel gemacht, wie sehr auf das Individuum mittelbare Werte lasten, die an sich keine Realitäten des Lebens sind. Wir gleichen alle ein bißchen dem Diener im Stücke RAIMUND'S. Er möchte ja auch gern die Behauptung, daß er vier Monate in Paris gewesen ist, nicht mehr wiederholen, er zwingt sich zuerst dazu, aber giebt bald diesen Versuch auf. Unter Thränen versichert er, das Leben hätte dann keinen Reiz für ihn. C'est plus fort que moi! würde er als Franzose ausrufen. Wir haben alle,
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Zehntes Kapitel.
selbst die Realdenkendsten und Temperamentlosesten unter uns, in unserer Seele einen Winkel, wo die Komplikationsstärke üppige Blüten emporgetrieben hat. Wir haben alle unseren Pariser Aufenthalt, auf den wir nicht verzichten können, selbst wenn wir noch so viele seelische Prügel bekommen. Wenn dergestalt die Thatsache der sozialen Komplikation auch überaus plausibel gemacht worden ist, so kann doch ein Prozeß von so großer psychischer und historischer Tragweite zugleich nur ganz dadurch zu unserer wissenschaftlichen Kenntnis gelangen, wenn man einige seiner Brechungen und Umbiegungen studiert. Wir wollen es also auch versuchen, in den folgenden Blättern einige Anwendungen der Komplikationstheorie zu geben, wobei wir uns bewußt sind, nur Illustrationen zu einer Theorie zu liefern. Wir beginnen unsere Beispiele für das Vorhandensein nicht allein der sozialen Komplikation, sondern auch der Kulturnotwendigkeit der Komplikationswerte mit der Renaissance und dem Verschwinden ihrer Durchschnittsmaßstäbe. Diese Skizzen über die verschiedenen Formen der sozialen Komplikation sind nur mehr indirekt als organisch miteinander verbunden, haben sie doch eben nur einen illustrativen Charakter; die Theorie steht und fallt nicht mit ihnen. Den rein soziologischen und nationalökonomischen Leser braucht hier das Mosaikartige der vorzuführenden Einzelgemälde nicht zu stören. Wir haben schon in der Einleitung den universellen, alles umspannenden Charakter des Marxismus hervorgehoben, und was vom Marxismus gilt, gilt auch von der positiven Kritik, die ihn zu überwinden sucht. In seinem Anti-DüHRiNG berührt ENGELS auch alle möglichen Fragen und MASARYK spricht in seinem Buche von MAETERLINCK von der Liebe im allgemeinen und von dem Einakter von PAUL ERNST, der den so verfänglichen Titel: „Chambre séparée" führt. Diese einleitenden Zeilen mögen mehr zur Orientierung als zur Entschuldigung dienen, denn Illustrationen zu einer Theorie erfordern ganz selbstverständlich diese Art und Weise der Behandlung. Sehen wir nun zu, wie die Mittelbarkeit menschlicher Wertungen sich von der Renaissance an auf den verschiedensten Gebieten entwickelt. Die künstlerische Renaissance fällt, wie bekannt, mit der rein politischen nicht ganz zusammen. Die erstere setzt entschieden früher wie die letztere ein. Der erste Mann der Renaissance aber überhaupt, in dem beide Zweige des modernen individuellen Lebens, alles politische und künstlerische Vorempfindeu und Ahnen der
Die soziale Komplikation.
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neueren geistigen Entwickelung schon zum Ausdrucke gelangten, war DANTE. Immer mehr kommt es uns zum Bewußtsein, was dieser einzige Mann für seine Nation und für die Menschheit geleistet, in welch verschwenderischer Weise er seiner Mitwelt, zum größten Teile unverstanden, Gedankenblitze und Empfindungswelten zuwarf, aus denen die dankbare und angeregte Nachwelt sich eine ganze Kultur formte. Es ist daher kein Zufall, wenn der Mann, der am Anfange der Renaissanceperiode steht und alle ihre Werte schon in seiner keuschen und doch feurigen, in seiner sanften und doch gewaltigen Seele umschließt, die Kulturnotwendigkeit der mittelbaren Werte durch seine Person gleichsam demonstriert. Die gewaltigste Phantasie wird hier gebändigt und in Zucht gehalten durch einen künstlerischen Willen, der sich die Außenwelt der Sinne ebenso wie das Tiefste der menschlichen Psyche zu erobern versteht. Die wildeste Leidenschaft wird, ich möchte sagen, stylisiert durch einen mächtigen Intellekt, der über das eigentliche Dichterische weit hinausragt. Der Mann, der in seiner Jugend offenbar von Ehrgeiz und sinnlicher Liebe förmlich gepeitscht worden sein muß, so anschaulich schildert er sie in seiner Dichtung, ist im reifen Mannesalter bereits nicht allein geläutert, sondern er hat seine Triebe so weit schon gebändigt, daß er, ein zweiter Atlas, die ganze Welt mit ihren neuen Sitten, politischen Einrichtungen und erwachender Kultur auf seinen starken Schultern trägt, die die gewaltig schöne L a s t kaum zu spüren scheinen. DANTE, einer derursprünglichsten, instinktsichersten Menschen, ist dem Erhabenen näher gekommen, wie irgend ein Sterblicher. Mehr wie L E O N A R D O DA V I N C I und die Genien der Spätrenaissance, mehr wie die Viel- und Allseitigen, die B U R C K H A R D T erwähnt, offenbart uns D A N T E das innerste Wesen der Renaissance, offenbart uns D A N T E die seelische Milderung und Läuterung starker, ungebrochener Lebenskräfte durch die Kulturnotwendigkeit bereits mittelbarer Werte. Um eine starke Nuance tiefer gleichsam in der Skala der Culturnotwendigkeiten, um einen seelischen Ton gedämpfter als D A N T E erscheinen uns die Durchschnittsbestimmungen des Renaisancemenschen. E s ist D A N T E ' S Stilisierung der Triebe, seine Schönheit im Rhythmus des Empfindens, sein gewaltiger Stil der ganzen Lebensführung gleichsam losgebunden von der individuellen Erhabenheit des Dichters. E s ist schwer zu sagen, wie die Renaissance bald sich veränderte und wie sie abstarb. Für unseren Zweck der allgemeinen Historie der Werte ist dies auch nicht von so entscheidender Wichtigkeit. Psychische, politische und ökonomische Umstände dürften
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wohl gleichen Anteil am Erlöschen der Renaissance gehabt haben. Wie dem auch sein mag, welche historischeu Motive auch für das Schwinden der Renaissance geltend gemacht werden können, sicher ist eins: Die gesamten subjektiven Messungen und Wertbestimmungen, die sich auf der Verlängerungslinie der kulturnotwendigen Renaissancewerte befinden, haben bald keinen Einfluß mehr auf das geistige Gesamtleben Europas. Dies kann man überall verfolgen. Italienische Einflüsse dringen, wie bekanntlich, nicht allein auf den welthistorischen Wegen, sondern auf allerlei höfischen, seltsam verschlungenen Pfaden nach Frankreich hinüber. Sie helfen dort jene spezifisch französische Kultur mit erzeugen, die erst in unseren Tagen sich sehr allmählich aufzulösen beginnt, eine Kultur, die das gewaltig pulsierende Leben der Renaissance in Durchschnittswerten behaglichen, nicht allzu kleinlichen, unterdrückten, von der Sonnenglut des Südens erwärmten Daseins erstickt. Unter FRANZ I. war das französische durchschnittliche Seelenleben noch Halbrenaissance, zur Zeit der höfischen Kultur LUDWIG X I V . war der Hintergrund frisch pulsierenden Lebens fast verschwunden. Um diesen Auflösungsprozeß der Renaissancewerte vollends zu beobachten, gehe man nach England. SHAKESPEARE lebte in einer Ubergangszeit, er hat das lustige, kernige, sinnesstarke, derbe, unreflektierende Old-England ebenso gekannt, wie den Beginn, das erste Aufflackern puritanischen Geistes. Nur wer die soziale Komplikation in ihrer ganzen Fülle und Tiefe versteht, wird auch SHAKESPEARE ganz begreifen. Mit Recht macht GEORG BRANDES in seinem großen SHAKESPEARE-Werke darauf aufmerksam, wie, Schritt für Schritt nachweisbar, eine Verdüsterung sich im Gemüte des großen Briten vollzieht. Immer mehr und mehr wird der lustige, heitere, gesellige Mensch, der zuerst gewaltige Dramen ohne inneren seelischen Grund gleichsam nur aus der Tiefe seiner allumfassenden Anschauungskraft herausschrieb, zum düsteren, mürrischen Manne, dessen Seelenleben stets umflort scheint. E r beginnt das Tragische des Lebens nicht allein mitzuempfinden, sondern aufs tiefste selbst zu fühlen, innere Sorge und seelische Not sitzen bei seinem Bette, die gewaltigste Fülle tragischer Gestalten quillt aus der unerschöpflichen Phantasie des Dichters. Ganz zuletzt, kurz vor seinem Tode, beginnt sich sein Dasein aufzuheitern, der starke Erwerbssinn, die rein bürgerliche Thätigkeit gewährt ihm eine gewisse Befriedigung und Linderüng und er schließt keineswegs als unglücklicher Mann sein Auge in seiner Vaterstadt, woher er als Jüngling auszog, um sich vor
Die soziale Komplikation.
161
allem Wohlstand und bürgerliches Glück zu erwerben.
Das ist mit
ein bißchen anderen Worten die Auffassung von BRANDES. richtig, und ebenso richtig ist es, Kritiker diese Verdüsterung
Sie ist
wenn der bedeutende dänische
zum größeren Teile aus
individuellen
Erlebnissen, zum kleineren Teile aus den politischen Veränderungen des damaligen England erklärt.
Aber die letzten, tiefsten Gründe
werden hiermit noch nicht berührt.
Das Old-England stellt einen
geistigen Gesamtzustand dar, in dem die Halbrenaissance gleichsam ins Breite ging. eine Beziehung
Noch waren starke unmittelbare Werte vorhanden, zur Natur und
Natürlichkeit,
welche diese
stets
essenden, trinkenden und genießenden Menschen nur selten verleugneten, aber die Tiefe fehlte, die volle UDd ganze Kulturnotwendigkeit der doch schon mittelbar gewordenen Dinge.
Ein solcher Seelen-
zustand eines Volkes mußte notgedrungenerweise ganz anders, plötzlicher und stärker in das volle Gegenteil umschlagen, sobald widrige soziale und politische Umstände das fröhliche Genießen nicht mehr so erlaubten.
Das breite und untiefe seelische Leben Old-Englands
hatte schon eine gewisse Nüchternheit des Genußstandpunktes zur Folge.
Der Puritaner guckt hier schon hervor, wie paradox dies
auch klingen mag.
Kurzum, der Brite des Old-England und der
puritanische Zeitgenosse CROMWELL'S sind ein und derselbe Mensch und wie im individuellen Dasein das breitere und rohere Genießen unter Umständen in eine nüchterne unpoetische Trockenheit des Gemütes umschlägt, großen Nation.
so geschah
es auch hier im
Seelenleben
einer
Diese Nüchternheit und seelische Dürre aber machte
das Verschwinden der Renaissancewerte, das Zurücktreten des frischen pulsierenden Lebens dem Mitschauenden und Miterlebenden zu einem geradezu peinlichen und qualvollen Empfinden.
Die Seele SHAKE-
SPEARE'S, des größten Menschenkenners unter den Sterblichen, erzitterte bei den ersten Anzeichen dieses werdenden Seelenzustandes und sein gewaltiger Genius
fixierte
gleichsam bei seinem Entstehen
den CROMWELL-Engländer in seiner ganzen Nüchternheit.
Darum
ist in den großen, künstlerisch vollendeten, gewaltigen Dramen der letzten
Schaffungsperiode
SHAKESPEARE'S
die
lebensphilosophische
Perspektive, der ganze Stil der Lebensführung grundverschieden von demjenigen der ersten Zeit.
Sein Jugendwerk „Romeo und J u l i e "
weicht kaum ab von den Renaissancewerten.
Die fast lyrisch ge-
färbte Grundstimmung, das starke tragische Motiv der individuellen Liebe als Selbstzweck des Daseins, das tyrannische Walten
väter-
licher Gewalt, das alles ist auch innerlich und psychisch zum größten Weisengrün , Marxismus.
11
162
Zehntes Kapitel.
Teile italienisches Leben. Aber die späteren Dramen des reifen Mannesalters, vielleicht mit Ausnahme des so einfachen „Othello", sind nicht mehr gesättigt durch kulturnotwendige Werte, es liegt kein italienischer Himmel über die düsteren Menschen, man sieht es deutlich: hier ist die soziale Komplikation über die Kulturnotwendigkeit schon einigermaßen hinweggeschritten. Die qualvollen, seelisch von gewaltigeren und heftigeren Instinkten gepeitschten Menschen in D A N T E ' S „Hölle" leiden mehr, aber ihre Leiden legen sich nicht mit jener bleiernen Düsterheit auf unser Gemüt. Darum verstehen wir auch die Leiden der SHAKESPEARE'schen Menschen so vollkommen, sie sind modern, zeitgenössisch. Aber es giebt eine Wiederspiegelung seelischer Zustände, welche uns erst deutlich macht, wie sehr sich die spätere Menschheit S H A K E S P E A R E ' S von der früheren D A N T E ' S unterscheidet. S H A K E S P E A R E hat auch den „Hamlet" geschrieben, jenes Vorahnen und Vorzittern eines seelischen Zustandes, der auf den Durchschnittswerten selbst der puritanischen Menschen noch nicht lastete. Aber S H A K E S P E A R E ' S allgewaltiger Psychologenblick sah weiter, erblickte die Fortentwickelung und Erweiterung der seelischen Zustände über die CROMWELL-Periode hinaus und formte dergestalt den grüblerischen, sich fortwährend selbst analysierenden, nur mühsam oder gar nicht vollbringenden Menschen, den wir uns gewöhnt haben, Hamlet zu nennen. Nicht allein der Unterschied zwischen Wollen und Können, den uns neuerdings sogar geistreiche und feine Kommentatoren wegdisputieren wollen, sondern auch die Präponderanz der Phantasie über das eigentliche Instinktleben macht das Wesen des Hamlet aus. Bei den Menschen D A N T E ' S , sowie der Spätrenaissance war die Phantasie dem Instinkte unterjocht. Hamlet und mit ihm ein großer Teil der modernen Durchschnittsmenschheit spiegeln uns die U n t e r j o c h u n g a l l e r I n s t i n k t e u n t e r die P h a n t a s i e wieder. Dies ist mit dem Unterschiede aber zwischen Können und Wollen nicht ganz identisch. Es giebt viel willensstärkere Menschen als Hamlet, die doch ihre Instinkte nicht mehr in der Hand haben, die erdrückt werden von historischen, von vergangenen, von künstlich und unorganisch einverleibten Elementen ihrer Seele. Diese Menschen vollbringen im gewöhnlichen Leben gewisse Willensakte, sie sind sogar sogenannte „tüchtige Menschen", was doch Hamlet entschieden nicht war, aber sie bringen es nicht zu harmonischer Vollendung, sie werden erdrückt vom großen „Gespenste" der Vergangenheit, von dem „Geiste" von Hamlet's Vater, der instinktsichere Menschen weder zu großen Thaten noch
163
D i e soziale Komplikation.
zu harmonischer Vollendung ihrer Persönlichkeit aufzufordern und zu entflammen braucht. Somit ist Hamlet nicht allein der Urahne der nervösen Schwächlinge, Zauderer und Halbdekadents, an denen unsere Periode so überreich ist, sondern auch der tüchtigen Mittelmäßigkeiten, bureaukratischer Naturen, all der vertrockneten und verdorrten Seelen im zahllosen Gewimmel, die sich heutzutage bei uns breit machen. Hamlet kann nicht wollen. Das ist die eine Seite seines Wesens. Er schreckt zurück vor der Ausführung seiner That. Aber er weiß auch nicht, was er wollen soll. Auch sein Geist ist nicht so klar, wie man allgemein wähnt, er ist nur reich, fein und scharf, diese Eigenschaften aber sind mit Klarheit noch nicht identisch. Hamlet interpretiert, kommentiert die Erscheinung seines Vaters. In der Scene mit den Schauspielern zeigt sein Geist deutlich bei aller Feinheit und Gewandtheit seine Instinktunsicherheit. Selbst sein Geschmack, seine stärkste Seite, erscheint nicht sicher. Er zitiert andere, um sein Urteil vor sich selbst und den Schauspielern zu befestigen. Das ist nicht allein Willensschwäche, sondern auch die Präponderanz der Phantasie . über alle Instinktsicherheit, selbst die des Geschmackes. Die psychische Gestalt des „Geistes" hat im Drama nicht allein den Zweck, die Willensschwäche Hamlet's zu offenbaren, sondern sie soll uns auch zeigen, wie alles Vergangene, Historische in der stillen Größe erdrückend auf den feinen Geist und kleinen Menschen wirkt. Wäre Hamlet auch tüchtiger, kräftiger, er würde noch immer erdrückt werden von den Fortinbrans, die nicht allein willensstark sind, sondern auch keine Vergangenheit kennen. So ist Hamlet nicht allein die Trägödie des willensschwachen Menschen, sondern auch das Drama, in welchem die Instinkte von der Phantasie unterjocht werden. Die soziale Komplikation erklärt uns erst den Menschen und Dichter S H A K E S P E A R E . Es war nicht allein individuelles Mißgeschick, das den großen Seelenkundigen so sehr bedrückte, der tiefe, vorausahnende, seherische Blick, die werdenden Seelenzustände des Menschen machten sein Inneres erschauern und erbeben. Die momentanen unbehaglichen Zustände verschärften nur die Prädisposition des Geistes, in welchem er jenen langen und tiefen Blick in die Seele der zukünftigen Menschheit that, die ihn erschauern machte. S H A K E S P E A R E ' S Umdüsterung ist die seien mitempfindenden Zuschauers, der geraume Zeit die Eindrücke eines schrecklichen Schauspiels mit sich herumträgt. So erklärt die soziale Komplikation eigentlich erst das Wesen des größten aller Dichter. Zunächst wird das Wesen seiner 11*
164
Zehntes Kapitel.
Umdüsterung erklärt, zu der der spätere relativ frohe Lebensabend seltsam kontrastiert. Dann wird das Problem wenigstens zum größten Teile gelöst, wie gerade SHAKESPEARE den Hamlet schreiben konnte. Denn das ist doch sicher: SHAKESPEARE ist kein Hamlet. Ein Hamlet schreibt keinen „Macbeth" und „Lear". Auch kannte die Periode nicht den ausgebildeten Hamlet-Typus. Sehr leicht und natürlich ergiebt sich die Erklärung aus dem Umstände, daß der größte aller Menschenkenner embryonär vorhandene Seelenzustände vor seinem geistigen Auge fast bis zur Fülle der Wirklichkeit ausreifen ließ. Hamlet ist nur ein großer Seherblick in die Zukunft der von den nur kulturnotwendigen Werten sich entfernt habenden Menschen. Es ist kein Zufall, daß gerade der gewaltigste aller Psychologen sich diesen Stoff zum Vorwürfe seines auch technisch auf der vollkommensten Stufe der Vollendung stehenden Dramas erkoren hat. Nach der Periode SHAKESPEARE'S bewegten sich die Werte der Menschheit immer weniger auf der Verlängerungslinie der RenaissanceBestimmungen und -Schätzungen. Am Ende des 18. Jahrhunderts endlich ist in Europa kaum eine Spur mehr vom seelischen Leben der Renaissance vorhanden. Für das gesamte intellektuelle Dasein ist Frankreich geradezu charakteristisch. Der innere Entwickelungsprozeß, den diese zu einer von gemäßigten und gemilderten Wertbestimmungen gesättigten Kultur geradezu prädestinierte Nation von den Tagen KATHARINA VON MEDICI'S an bis zur Regierung L U D WIG XVI. durchgemacht, ist förmlich typisch für die gesamte geistige Entwickelung der neueren Zeit seit dem Beginn der Auflösung der Renaissancewerte. In der Periode, als das Ancien-Regime müde und mürbe geworden, wurde auch der Grundzug dieser inneren Wertveränderung deutlich sichtbar. Durch das höfische, matte und müde Europa beginnt ein neuer belebender Luftzug von Natürlichkeit zu wehen. ROUSSEAU'S Formel von der Rückkehr zur Natur klingt wie der Aufschrei der gehetzten, innerlich wunden französischen Volksseele. Der äußerlichen, wirtschaftlich-politischen Revolution, die sich hier vorbereitete, entsprach die Tendenz zu einer Revolutionierung der Werte. Man wollte nicht allein der französischen Volksseele, sondern dem Gemüte des gesamten Europa innerliche Linderung durch ein Aufgehen in der Natur, durch eine Wiederanfachüng des Großen, Einfachen und Natürlichen im Menschen Heilung bringen. Es blieb beim Wollen, es blieb bei der Tendenz. Das 19. Jahrhundert, das nun seinem Ende zueilt und dessen Entwickelung»-
Die soziale Komplikation.
165
momente wir zu überblicken vermögen, hat die inneren Probleme nicht gelöst, welche das 18. Jahrhundert angehäuft hat. ROUSSEAU'S Natürlichkeitsbestrebungen waren in der That nur ein frischer Luftzug neben dem großen politischen Orkane der französischen Revolution. Während dieser Sturmwind manche Gebrechen des alten Europa hinwegfegte, hat das RoussEAu'sche gelinde Säuseln die mächtigen, eingewurzelten, seelisch so sehr angewachsenen Werte kaum angeblasen. Das 19. Jahrhundert kehrte keineswegs zur Natürlichkeit zurück, im Gegenteil, zu keiner Zeit war die Menschheit so sehr losgelöst und losgebunden von der Mutter Natur, wie in unserer Periode, niemals waren Ehrgeiz, Eitelkeit, Neid und Habsucht so sehr entfesselt. Mögen andere Jahrhunderte an Niedrigkeit der Triebe uns übertreffen haben, an Mittelbarkeit aber kommt keine Zeit der unseren gleich. Die Notwendigkeit der Kulturwerte ist kaum mehr sichtbar. Seitdem in England sich die Großindustrie durchgesetzt und in Frankreich das Enrichissez-vous Louis PHILIPP'S immer mehr zur einzigen Lebensperspektive der Gallier geworden, fehlt auch das innere Band und die persönliche Beziehung zur Kunst, Philosophie und Wissenschaft bei den meisten Menschen. Immer kleiner wird im „wissenschaftlichen Zeitalter" die Zahl der wirklich Kultivierten, und es ist kein Zufall, daß der größte Dekadent des Jahrhunderts, FRIEDEICH NIETZSCHE, der mehr als irgend einer von den Schwächen des Jahrhunderts ausgesagt, und noch mehr verraten hat, das Wort vom „Bildungsphilister" prägte. Wo sind die kulturnotwendigen Werte in ihrer ganzen stolzen Mittelbarkeit ? Hängen unsere Detail Wissenschaft, unsere Politik, unsere sozialen Einrichtungen mit der Kultur zusammen? Die großartige Technik des Jahrhunderts steht in gar keinem Zusammenhang mit dem inneren Menschen, macht ihn um kein Atom glücklicher und bringt ihm nur ein Neues: den Komfort. Der Komfort wird immer mehr und mehr das Bindeglied zwischen dem inneren Menschen unserer Zeit und den technischen Errungenschaften werden. Alle materielle Kultur hat auch einen seelischen Ausdruck und der seelische Ausdruck der materiellen Kultur am Ende des 19, Jahrhunderts ist der Komfort. Hatten die Gallier die Renaissancewerte zerstampft, um die Behaglichkeit zum Pole alles „Wünschenswerten" zu machen, so löst der Mensch des 19. Jahrhunderts die Behaglichkeit auf, indem er ihr ihren innersten Kern, die kulturgesättigte Verbindung mit dem innersten Verstehen und Genießen von Natur und Kunst, raubt und sie zum Komfort ausgestaltet. Der Komfort be-
Zehntes Kapitel.
1G6
herrscht das seelische Europa, inwieweit es nicht dekadent ist, der nüchterne
Lebensstil
des Briten
wird
zum
Kanon
aller
inneren
W e r t u n g erhoben. Zu
gleicher
Zeit hat
sich
der H a m l e t - M e n s c h
seelisch
aus-
gewachsen, den der seherische Blick des größten dichterischen Genius keimen sah.
In slavischen, romanischen u n d deutschen Ländern hat
die Willensschwäche
einerseits
überhand g e n o m m e n ,
während
an-
dererseits das Gespenst der Vergangenheit alle Instinktsicherheit des j u n g e n Geschlechtes zu ersticken droht. Meuschentum
die
letzte
Verwirklichung
S o ist das F i n de sifecleund
Ausgestaltung
traurigen Traumes, den S H A K E S P E A R E einst geträumt.
des
Unsere Ver-
düsterung aber geht uns nicht mehr zu Gemüte, sie ist selbstverständlich geworden und die Zeit ist nicht mehr fern, wo die Dichter einen glücklichen Traum wieder haben werden. prozeß
scheint
seine
um
die
gesamte
D e r Komplikations-
Menschheit
geschmiedete
Kettenreihe schließen zu wollen. E b e n s o selbstverständlich ist es, daß diese immer stärker werdenden Komplikationswerte auch auf die gesamte soziale und wirtschaftliche Entwickelung einen großen Einfluß ausüben. 1 D i e materialistische 1 Abgesehen von den anderen Faktoren der sozialen Komplikation, die hier behandelt werden, soll noch einer, der auf das wirtschaftliche Leben den größten Einfluß gehabt hat, aufgezeigt werden. Die Abstraktion, die Kunst, aus den einfachen Wahrnehmungen feste Begriffe abzuleiten und mit diesen Begriffsformationen weiter zu operieren, ist ohne die Komplikation j a unmöglich. Denn, wie wir gesehen haben, der ganz primitive Mensch, der Wilde, hat nicht einmal eine ausgebildete Phantasie, um so weniger kennt er auch nur die Anfänge begrifflichen Denkens. Der Erkenntnistrieb ist j a , wie wir gesehen haben, ebenso ein Produkt der sozialen Komplikation, wie etwa der Ehrgeiz. Nun, diese festere Begriffsbildung, die Abstraktion, ermöglicht erst das Zustandekommen des Geldbegriffes. Denn wo die Abstraktion fehlt, fehlt auch der Geldbegriff. Sehr schön weist dies S. L U D L I N S K I in zwei Aufsätzen über das Mittelalter („Neue freie Presse", 1898, 4. und 6. August) nach. Er zeigt darin, wie im ganzen Mittelalter, da die Abstraktion fehlte, das Gold nicht die Rolle der Neuzeit spielen konnte, das Gold nicht zu unserem Gelde, nicht zu unserer Beherrschungsmöglichkeit werden konnte. Das Gold gehörte dem Kräftigsten, dem Gewaltigsten, der sich nicht allein das Gold nahm, sondern auch die Ländereien, den größtmöglichen Anteil an Grund und Boden. Aus dieser inangelnden Abstraktionskraft heraus versteht man erst das Mittelalter mit seiner ganzen Ständeherrlichkeit, mit der Lehensherrschaft und der Identität des Reichtums mit der Größe des Grundbesitzes. In diesen wundervoll geschriebenen Aufsätzen weist der scharfsinnige Autor meines Wissens zum ersten Male darauf hin, daß dem Begriffe Mittelalter nicht allein eine zeitliche, sondern auch eine innere psychologische Bedeutung zukomme. Er nennt Mittelalter alle Zeiten
Die soziale Komplikation.
167
Geschichtstheorie leugnet keineswegs eine gewisse Zurückwirkung der geistigen Reflexbewegungen auf das ökonomische Fundament selbst. Aber sie beschränkt diese Rückwirkung auf ein Minimum, sie läßt den Einfluß, den die Ideologien auf die wirtschaftliche Geschichte ausüben, nur im geringsten Maße zu. Nach M A R X und E N G E L S ist der Einfluß der wirtschaftlichen Entwickelung auf die geistige ungefähr 90 mal größer als die umgekehrte Einwirkung. Die Nachtreter und übereifrigen Anbeter von M A R X , die sich in ihrer Epigonenweisheit nicht träumen lassen, wie sehr sie auch die relative Fruchtbarkeit eines Erklärungsprinzips gefährden, möchten mit aller Macht auch diesen Rest geistiger Wirksamkeit aus der Geschichte streichen. In Wirklichkeit aber ist die Rückwirkung der geistigen Machtsphäre auf rein ökonomische Triebkräfte eine überaus große und bedeutende. Die soziale Komplikation hat in einem gewissen Sinne auch den E r w e r b s t r i e b ermöglicht, ja überhaupt geschaffen. Der primitive Mensch, wir haben dies bereits konstatiert, hatte keinen Erwerbssinn. Da mit dem Besitzenden der Besitz ins Grab ging und in einer langen, langen Zeitperiode die wirtschaftliche Thätigkeit des Individuums in dem gemeinschaftlichen Leben der Menschen keinerlei Spuren hinterließ, konnte sich auch dieser wirtschaftliche Grundtrieb nicht entwickeln. Das bloße Walten rohmaterieller Mächte, das Prinzip der Lebensfiirsorge hat auch den Erwerbssinn nicht geschaffen. Erst späterhin, als die primitive Phantasie ihren gewaltigen Flug nahm, um dadurch das Individuum an den Stamm zu ketten, die primitive Technik erstehen zu lassen und die Kunst zu gebären, da entstand auch der Erwerbssinn. Hier wirkte auch der gesamte Komplikationsprozeß der Werte mit. Solange die Menschheit in den Augenblickswerten verharrte und nur ein momentanes Sichausleben kannte, wäre der Erwerbssinn, diese seelische Krystallisation von Fürsorge und Ausspähen in eine nächste Zukunft, etwas Überflüssiges gewesen, ein Übernotwendiges, ein Luxus des Geistes. Doch wie wir gesehen haben, entfernte sich die Menschheit von dieser inneren Wertlinie. Die Menschheit einer gewissen Periode wurde durch den Kampf ums Dasein bald zur wirtschaftlichen Fürsorge auch seelisch gezwungen. Die Phantasie schuf die primitive Technik mit massiven einfachen Durchschnittswerten, wo die Abstraktion noch nicht herrscht. Schon das vielgeriihinte und dem Mittelalter sonst gegensätzliche griechische Altertum, meint LUBLINSKI, spiegelt in seiner Heldensage und Mythologie einen früheren Zustand der Nation wieder, der alle Merkmale des Mittelalters deutlich an sich trägt.
168
Zehntes Kapitel.
und mit ihr zugleich die Kunst und den Anfang eines, wenn auch nicht begrifflichen, so doch geordneten, anschaulichen Denkens. Wir sind bereits entfernt vom „spielenden" Menschen B Ü C H E R ' S und das Arbeiten bekommt auch einen inneren Wert. Die Nachfolger und Enkel von solchen Menschen müssen aber nicht allein arbeiten, sondern auch das Ge- und Verarbeitete irgendwie aufbewahren, aufsammeln, aufspeichern. Ein Interesse entsteht am Aufbewahren des Gearbeiteten, die bereits entwickeltere Kunst läßt das Anhäufen von Gerätschaften zu, die Phantasie malt den Genuß, den ein solches Zurücklegen von Erarbeitetem gewähren muß, mit den sattesten Farben aus, das Vorausblicken in die nächste wirtschaftliche Znkunft wird zum Vergnügen — der Erwerbssinn ist schon in nuce vorhanden. Die nachfolgende Generation entwickelt diesen Trieb naturgemäß immer weiter in sich, immer mehr Individuen des Stammes, der Horde nehmen Anteil an diesem Prozesse des Vorbeugens, der Fürsorge, und da wir hier schon in einer Zeitperiode sind, wo die Errungenschaften des Individuums nicht verloren gehen, setzt sich der Erwerbssinn seelisch immer fester an. Schon beginnt das Eigentum mit dem Eigentümer nicht ins Grab zu gehen. Am Anfang war dieser Erwerbssinn bei allen Individuen nur ein vorübergehendes Moment ihres Gesamtlebens. Mit der Verbreitung und Ausdehnung dieses Triebes aber, mit seiner Zunahme an Stärke und innerer Macht wurde auch seine Bedeutung für die gesamte Lebensperspektive erhöht und vom untergeordneten Faktor rückt er bald zu einem Wesensmomente des gesamten seelischen Lebens herauf. Zugleich wurde der Erwerbstrieb zum selbständigen inneren Werte und je nach dem Grade der Komplikation einer Periode überhaupt wurde auch seine Mittelbarkeit eine immer größere und verinnerlichtere. Welche Einwirkungen dieser Erwerbstrieb auf die gesamte wirtschaftliche Entwickelung seit dem Aufhören des primitiven Kommunismus gehabt hat, braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Mau könnte selbst, mit ein bißchen Übertreibung sagen, die stärkere Ausbildung des Erwerbssinnes sprengte den primitiven Kommunismus. 80 standen psychische Faktoren, das seelische Anwachsen und der Krystallisationsprozeß innerer Werte schon an der Wiege des eigentlichen wirtschaftlichen Lebens. Aber hierauf beschränkt sich die Einwirkung der sozialen Komplikation auf das wirtschaftliche Treiben keineswegs. Lange nachdem bereits der Erwerbssinn ausgebildet war, half die soziale Komplikation an dem Ausbau des wirtschaftlichen Lebens mit und
Die soziale Komplikation.
169
wir erleben am Ende des 19. Jahrhunderts alle das Schauspiel vom gewaltigen Einflüsse verinnerlichter und komplizierter Werte auf das so scheinbar äußere materielle Dasein der Völker. Betrachten wir die kapitalistische Periode genauer, so weiden wir leicht finden, daß zu ihren charakteristischen Hauptmerkmalen der Wert und Einfluß des Geldbesitzes gehört. Zu keiuer Zeit war der Reichtum so sehr angestrebt, so sehr Ziel aller heißen Wünsche, so sehr wertvoll an sich. Der Wert des Geldes ist ein innerer, seelischer geworden und übt einen allgemeinen Zauber aus, der dem Menschen des Mittelalters unbekannt war. Es soll hiermit nicht gesagt werden, daß etwa das spezifische Leih- und Geldkapital, das doch in erster Linie nach außen hin den ganzen sozialen Einfluss des Geldes repräsentiert, durchaus eine moderne Erscheinung wäre. Die römischen Ritter, die Equites, waren ja auch Geldmänner. Am Anfang der Neuzeit, im 16. Jahrhundert, hat sich das Geldkapital bereits zur formlichen Großmacht herausgebildet. Fürsten und Kirche buhlen um seine Gunst und gerade wie heutzutage lauert hinter der politischen die wirtschaftliche Macht. Wir wissen jetzt durch die schönen Untersuchungen von EHRENBERG,1 welch eine Weltmacht das Leih- und Geldkapital im 16. Jahrhundert bildete. Allmählich verdrängten die christlichen Kaufleute die jüdischen und es ist bezeichnend, daß in Italien, wo sie überhaupt nie eine größere Bedeutung erlangt hatten, die Juden zuerst verdrängt wurden. Bald sind die deutschen Firmen mächtiger als die italienischen. Wenn die WELSER,
HÖCHSTETTER,
TUCHER, d e n MEDICI, F R E S E N B A L D I U. S. w .
nicht nachstehen, so übertreffen sogar die FUGGER'S all die Florentiner und Niederländer. Wir erfahren aus E H R E N B E R G ' S Buch, in welchem Umfange und ausgedehntem Maße die Habsburger Geldgeschäfte mit den FUGGER'S machten. Zur Zeit der Kaiserwahl K A R L V. üben diese den größten Einfluß auf die gesamte Politik aus. Man sieht daraus, daß das Geldkapital schon vor unserem Jahrhundert einen großen historischen Einfluß ausgeübt hat. Aber ganz abgesehen von der ökonomischen Äußerungsform besteht der Unterschied darin, daß in früheren Jahrhunderten selbst bei den spezifischen Geldleuten der Wert des Geldes für das gesamte seelische Leben geringer war, als er heute selbst bei vielen Leuten, die mit dem unmittelbaren Erwerbsleben nichts zu thun haben, ist. Dies 1
Dr. E. EHBENBERG, „Das Zeitalter der Fugger.
Kreditverkehr im 16. Jahrhundert".
Geld, Kapital und
Jena, GUSTAV FISCHEB.
170
Zehntes Kapitel.
machte, daß die seelischen Schätzungen und Bestimmungen, welche das Geld betreffen, mittlerweile nicht allein mittelbarer, sondern auch in einem ganz höheren Grade zu Durchschnittswerten, die den meisten Menschen des 19. Jahrhunderts eben gemeinsam sind, wurden. Sicherlich sind es auch ökonomische Umstände gewesen, welche diesen Wertumschlag mit begleiteten. Aber ohne den ganzen Prozeß der sozialen Komplikation könnte der seelische Wert des Geldes nicht zu jener Höhe angewachsen sein. Man schaue um sich. Wer das Leben nur einigermaßen kennt, wer in die Tiefen des gesellschaftlichen und geselligen Lebens zu blicken vermag, wird nicht umhin können, zu gestehen, daß heutzutage keiner von den mittelbaren Werten den Menschen innerlich so sehr hetzt, quillt, erniedrigt, ermüdet und entnervt, wie der Trieb nach Gelderwerb, der rastlos und unaufhörlich selbst an die sattesten Existenzen und besten Köpfe immer aufs neue herantritt und das Leben, welches er vorgiebt auszufüllen, stets leerer macht. Ebenso wie der primitive Mensch im ehrgeizigen Kondottiere der Frührenaissance das rein Menschliche nicht mehr würde entdecken können, so würde der spezifisch Ehrgeizige im Geldmenschen des 19. Jahrhunderts sein Konterfei nicht wiedererkennen. Dem modernen Menschen handelt es sich nicht allein darum, Geld zu erwerben und sicher anzulegen, sondern der Gelderwerb selbst wird zur höchsten Freude. Natürlich, die Proletarier und der größte Teil der Kleinbürger kennen dieses „Vergnügen" nicht und da in ihren Reihen die Sparsamkeit heute weniger Sinn hat als je, so sind auch die Ansätze zu dieser Krankheit kaum stärker als in vergangenen Zeiten. Aber alle anderen Schichten der modernen Kultur sind von dieser Krankheit besessen, der innere Wert des Geldes ist über den früheren Spar- und Erwerbssinn weit hinausgewachsen und man darf sich da nicht einer Täuschung hingeben, von der selbst feinere Beobachter des sozialen Lebens oft befallen sind. Gewisse Schichten der höheren Bourgeoisie streben nämlich äußerlich unverkennbar danach, der früheren Aristokratie durch das Wegwerfen des Charakters von Erwerbsleuten und Geldmachern zu gleichen. Man schaut nur aufs Feine und auf Chic, die „Tüchtigkeit", der Geschäftssinn des Vorfahren werden minder bewertet, man versteckt die Krallen des habgierigen Raubtieres, man sucht zwischen sich und den anderen „minder reichen" Schichten des Bürgertums in aristokratischer Nachäffung eine mehr oder minder künstliche Schranke zu errichten, kurzum, die Bourgeoisie hat die Tendenz, aus ihrem Schöße eine neue Aristokratie emporschnellen zu
D i e soziale Komplikation.
171
1
lassen und selbst gute Beobachter der sozialen Wirklichkeit haben diesen Vorgängen eine zu große Bedeutung für das Seelen- und Wirtschaftsleben beigelegt, die sie nicht besitzen. Denn dieser Prozeß ist ein mehr äußerer, auch hinter dem werdenden BourgeoisAristokraten guckt überall der Geschäftsmann heraus, der neue Typus hat keine allgemeine soziale Bedeutung. Diese innere Verwandlung der Bourgeoisie reicht seelisch nicht über das Reich des Salons hinaus. Zunächst schon darum, weil in den meisten Fällen zwischen dem aristokratisch sich geberdenden Hochbourgeois und dem Großunternehmer noch eine Personalunion besteht. Die Vornehmheit ist kein Hindernis für das Geldverdienen und so bleibt von der sich immer mehrenden, aber nicht stärkeren Verschwendungssucht einzelner ganz aristokratisch gewordener Bourgeois, die aber nicht schlimmer ist wie die Verschwendung anderer Perioden, nur etwas Charakteristisches für diese Entwickelungstendenz der Bourgeoisie übrig, nämlich die rein ökonomischen Befestigungsversuche des Produktivkapitals, durch Kartelle und ähnliche Einrichtungen die Prophezeiung F O U R I E R ' S von einem kapitalistischen Feudalismus sich bewahrheiten zu lassen. Es ist einfach nicht richtig, daß der Gelderwerb auch bei den sattesten Schichten der Bourgeoisie etwa anderen, auch innerlich aristokratischen Werten Platz gemacht hätte. Der Bourgeois höchster Observanz kokettiert mit diesen Werten ebenso, wie eine schöne, oberflächliche Frau mit dem Geiste, sie brauchen sie beide für ihre Eroberungszwecke. Wenn die westeuropäische, sich mausernde, aber nicht innerlich umgestaltete Bourgeoisie mit Pharisäerblicken das hastige, nervöse Treiben der Amerikaner verspottet, welche gleichsam die innere Wertlinie der Bourgeoisie nach außen hin auch dem kurzsichtigsten Auge bloßgelegt haben, so muß der objektive Beobachter nur darüber lachen. Dieses ganze gequälte, überhastete, von rein materiellen Tendenzen durchsetzte und beherrschte Leben der Amerikaner gerade in ihren höchsten Schichten zeigt uns auch das Spiegelbild der westeuropäischen Bourgeoisie. Nüancenunterschiede kommen hier nicht in Betracht
1
Zu den feinsten Beobachtern dieser aristokratischen Tendenzen der höheren Bourgeoisie gehört entschieden Dr. EMIL GOLDMANN, der in zwei Aufsätzen (vgl. „Die Wage", 1898, 10 u. 11) mit Anführung vieler interessanter Detailbemerkungen in sehr engem Kähmen seinen Gegenstand mit einer außerordentlichen Schönheit der Sprache und einer Milieu-Schilderung, die fast an TAINE gemahnt, behandelt.
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Zehntes Kapitel.
und nur die Boudoirphilosophie vergrößert künstlich die kleinen Unterschiede des guten Tones. Ohne die soziale Komplikation wäre nun der ganze innere Entwickelungsgang sicherlich ein anderer gewesen. Wir haben schon früher, wenn auch in aller Kürze, geschildert, wie die Renaissancewerte zerstampft wurden oder in der behaglichen Atmosphäre französischen höfischen Lebens zu einer Halbrenaissance entarteten. Die Kulturnotwendigkeit des Lebens wurde ernstlich in Frage gestellt, eine Fragestellung, die für den vollen und ganzen Renaissancemenschen überhaupt nicht existiert hätte. So wurde in langsamer und allmählicher Entwickelung das Terrain vorbereitet fur den Komfort, die moderne Art des wissenschaftlichen Betriebes und den seelischen Wert des Geldes. Der Renaissancemensch der Kulturnotwendigkeit brauchte das Geld, um das Leben zu verfeinern, der moderne Mensch verfeinert oft nur sein Leben, um fur seine Nachkommen bessere Gelegenheit zur Ausdehnung ihrer Geldmacht zu erhalten. Der Renaissancemensch spielte oft mit dem Leben, der Kulturmensch des 19. Jahrhunderts unterordnet alle seine Lebenspositionen dem am Geldbesitz zu messenden Komfort. Britische Lebensgewohnheiten erfüllen heute das Wesen der höheren Bourgeoisie und britisch wie der Komfort ist auch die immer größere Tendenz selbst der Battesten nach Gelderwerb. Der Franzose will erwerben um zu genießen, der Engländer will erwerben, um späterhin ökonomisch zu herrschen. Es ist kein Zufall, daß die Franzosen außer Mode kommen. Ihre Art der Behaglichkeit ist dem Menschentum fin de siècle fremd geworden, die Lebensperspektive der modernen Generation liegt außerhalb ihrer Wertlinie. Die soziale Komplikation hat also das Terrain vorbereitet, auf welchem sich der Gelderwerbssinn austoben konnte. Innerhalb der mittelbaren Werte, die alle abweichen von der Verlängerungslinie des Augenblicksdaseins, ist einst der Ehrgeiz der stärkste Trieb gewesen. In unserem Jahrhundert hat das Streben nach Geldbesitz dem Ehrgeiz seine Macht geraubt. Die Ehrgeizigen werden immer seltener, sie werden in unserer so eminent materiellen Periode wie Träumer angesehen, wenn sie ihrem Ehrgeize nicht auch ein ökonomisches Mäntelchen umhängen. Der Ehrgeiz darf nicht mehr nackt auf der Straße umherstolzieren, auch er muß nach Brot gehen. Selbst bei außergewöhnlichen Naturen, bei den gewaltigen modernen Thatenmensehen hat der Ehrgeiz eine Umbiegung ins Praktische erlitten. CECIL RHODES ist der wahre Ehrgeizige fin de siècle, der
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Mann, der in der einen Hand das Schwert, in der anderen die Aktie hält; halb Kulturträger, halb Börsenbeherrscher macht er sich unsterblich, indem er eine neue Welt ökonomischer Werte schafft. Die ungeheuere halb fremdartige Einwirkung, welche die Persönlichkeit BISMARCK'S schon auf die Zeitgenossen ausübte, wird ins hellste Licht erst dadurch gesetzt, indem man sich vor Augen führt, daß BISMARCK der einzige Thatenmensch der letzten Zeit gewesen ist, welcher den Ehrgeiz großen Stiles besessen. Die modernen Ehrgeizigen originelleren Gepräges dürften heute kaum mehr in der eigentlichen Politik zu finden sein, sie stecken entweder in der Litteratur oder im Geschäftsleben. Die traurigen Anzeichen und Symptome dafür, daß der Business-Standpunkt der Amerikaner bei uns zur Lebensperspektive werden wird, mehren sich täglich. Es ist nun einleuchtend, daß so beschaffene und geartete Menschen in besonderem Maße für das kapitalistische System geeignet sind. Wenn die materialistische Geschichtstheorie lehrt, daß das moderne kapitalistische System den Geldmenschen des 19. Jahrhunderts geschaffen hat, so ist dies nur zum geringen Teile richtig. Der Geldmensch des 19. Jahrhunderts hat zum mindesten ebenso sehr unsere auf kapitalistischer Grundlage beruhende Gesellschaftsordnung beeinflußt, wie diese ihn beeinflußt hat. Wäre diese besondere Mittelbarkeit der Werte, die wir geschildert, dieser hohe Grad der sozialen Komplikation nicht gerade in unserem Jahrhundert erreicht worden, so hätte der moderne Industrialismus viele seiner Auswüchse gar nicht zeitigen können. Alle Übertreibungen des Erwerbssinnes sind einfach unmöglich ohne die große Wertung, welche das Geld in unserem Jahrhundert beim Durchschnittsmenschen bekommen hat. Die Psyche hat hier auf die Technik ebenso eingewirkt, wie die Technik auf die Psyche. So hat die soziale Komplikation, welche schon an der Wiege der eigentlichen wirtschaftlichen Entwickelung stand, auch die reichere und reifere Ausgestaltung des wirtschaftlichen Baues aller Völker mitschaffen helfen. Viel weniger noch als der Ehrgeiz macht der Erwerbssinn allein glücklich und zufrieden. So kommt es auch, daß der Geldmensch des 19. Jahrhunderts ein im großen und ganzen sehr unbehagliches Dasein fuhrt. Der äußere Komfort mit all den Werten, die sich auf seiner Verlängerungslinie befinden, diese allzu britische Lebensanschauung befriedigt die meisten nur dann, wenn irgend wie ein Zusammenhang, ein noch so geringer und persönlicher Anschluß an die Kultur vorhanden ist. Bei sehr vielen Schichten des höheren Bürger-
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tums aber ist er uicht vorhanden und so verbreitet sich auch innerhalb der Besitzenden, j a der Geldmächtigen, Geldprunkenden, Übersatten, mit aristokratischen Werten Kokettierenden immer mehr die innerste Unzufriedenheit. Nervöses Hin- und Hertasten, ein unbefriedigtes Suchen entsteht und macht sich immer mehr geltend, in immer künstlicher werdender Weise baut sich der Geldmensch ein raffiniertes Gesellschaftsleben auf, um seine innere Unbehaglichkeit zu betäuben. Jährlich muß er neue Enttäuschungen in seinem Streben, einen Zusammenhang mit der modernen Wissenschaft, Kultur und Kunst zu finden, verzeichnen. Während er in seinem Erwerbsleben und in der Politik überall auf die schrecklichste Trivialität stößt, bietet ihm sein erotisches Leben ebenso unbehagliche wie unauflösbare Rätsel. Schon wird heute vielfach die moderne „unverstandene F r a u " ersetzt durch das verdüsterte, gequälte, sich seiner Unzulänglichkeiten und seiner allzu mittelbaren Werte schon halb bewußte Weib, das, erbost ob seiner eigenen Instinktunsicherheit und Instinktwidrigkeit, ohne Aufgehen in die allgewaltige Natur, ohne Zusammenhang mit den Tiefen der modernen Kultur, alle natürlichen und künstlichen Stacheln seines Wesens nur allzu oft leise-ironisch oder sogar streng erbittert gegen den Mann wendet. So droht sein Seelenleben aus den Fugen zu gehen, und wie ein inneres Satirspiel auf die Tragödie seiner tiefsten Erlebnisse muß es dem höheren Bourgeois erscheinen, wenn die Massen die unzufriedenen Rufe nach oben ertönen lassen, aus denen hervorgeht, daß sie den höheren Bourgeois für glücklich halten, weil er die materiellen Bedingungen besitzt, es zu sein. Von alledem giebt die Dekadence und ihr theoretischer Ausdruck, die jüngste Litteratur, nur eine Note wieder: Die eigentliche Dekadence sagt uns nämlich nur vom Wesen des krankhaften modernen Menschen etwas aus, der das Streben nach volleren und satteren Lebensperspektiven schon aufgegeben hat, der seine innerste Unvitalität schon, verherrlichen muß, weil in seine an gedämpfte Töne gewohnte Seele der starke Lebensodem gar nicht mehr zu driugen vermag. Alles andere an der Dekadence ist Pose, ist unecht, ist Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck. Dies ist nur eine Grundnote, eine Reihe von Aussagen über den höheren Bourgeois; derselbe ist zumeist gar nicht krank, dekadent, ebenso wenig wie er Aristokrat ist, schon die Stärke seines Strebens, das viele Wollen, die Tendenz, aus diesem halben Leben des Erwerbes und des Komforts in das volle Leben einer höheren Menschheit hinauszukommen, all diese, wenn auch mit falschen Mitteln in Angriff genommenen Bestrebungen
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sprechen dagegen. Der echte, wirkliche, typische Dekadent rebelliert gar nicht gegen seine Mattheit und Müdheit, er wehrt sieh gar nicht gegen die gedämpften Töne, er will über seine dekadente Lebensposition gar nicht hinaus. Die meisten höheren Bourgeois wollen aber darüber hinaus und gerade in dieser Schichte ist viel weniger wie im Gelehrten- und Beamtenstande der eigentliche Hamlet-Typus vertreten. Sehen wir zu, aus welch tieferen Gründen die höhere Bourgeoisie innerlich so unzufrieden ist. Die Schönheit des Renaissancelebens ist nur verständlich, weil es mit kulturnotwendigen Werten förmlich durchsättigt war. Hier wird uns auch das seltene Schauspiel zuteil, daß gerade die höheren Schichten der Gesellschaft die glücklichen waren. Die Sicherheit des öffentlichen Lebens war gering, überall lauerte der Meuchelmörder und die Besten der Nation wurden oft von dem Dolche nicht verschont. So kam die Behaglichkeit nicht auf, aber die unsicheren politischen Zustände verhinderten keineswegs ein volles und ganzes Sichausleben. In allen Schriften und Reden, iu allen Dokumenten der Zeit vibriert dieselbe außerordentlich starke Vitalität. Nie hat es einen Kulturmenschen gegeben, der so lebenslustig war, als der gerade auf den Höhen der Gesellschaft wandelnde Mann der Renaissance. Dies rührt von der Kulturnotwendigkeit der Werte her. Wissenschaft und Kunst waren ebenso wie Politik nichts Künstliches, nichts Unorganisches, nichts Angewachsenes. Es war keine Kluft vorhanden zwischen den Instinkten der Lebensperspektive einerseits und der Kultur andererseits. Die Vergangenheit schreckte den Menschen nicht, die Historie lastete nicht mit ihrer ganzen Schwere auf den „Zeitgenossen", die Kulturfaktoren waren mit der „Gegenwart" förmlich verwachsen. Wir haben gesehen, wie dieser Geisteszustand sich änderte, wie diese Wertung verschwand, wie das Grandiose der Lebensperspektive sich in Behaglichkeit verwandelte und die Behaglichkeit allmählich in Komfort. Dies alles bewirkte, daß am Ende des 19. Jahrhunderts iu dem so gut wie vollständigen Verschwinden der Kulturnotwendigkeit der Werte auch der Kulturzusammenhang der einzelnen verloren ging. Aus mehr als einer Ursache aber mußte gerade der höhere Bourgeois, der Träger der modernen wirtschaftlichen Entwickelung und der modernen plumpen Lebensperspektive, des Kulturzusammenhanges verlustig gehen. Schon dies allein drückt ihn schwer und läßt ihn zum Genuß und zurBehaglichkeit nicht kommen, denn Genuß und Behaglichkeit sind für den bereits mittelbar gewordenen Menschen schwer möglich ohne
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Kultur. Je satter, je gesicherter im Besitze aber eine Menschen schichte ist, desto mehr wird als psychisches Übel die unpersönliche, künstlich aufgepfropfte unorganische Bildung empfunden. Hierzu kommt noch ein Umstand: Der Gelderwerb in seiner besonderen modernen Gestalt verflacht, verödet, ja verdüstert gar oft das Leben in einem viel höheren Grade, als irgend eine Äußerungsform des politischen Ehrgeizes etwa. Beide komplizierte und mittelbare Triebe beschäftigen den Menschen gleichmäßig, füllen fast im gleichen Maße, falls sie sich in hohem Grade durchsetzt haben, seinen Tag aus, rauben ihm die Gelegenheit, mit anderen Dingen sich zu beschäftigen, beseitigen zartere, feinere Empfindungen, schöne und liebliche Gedanken, lassen den Naturgenuß nur in beschränktem Maße zu, zerstören die vorhandenen künstlerischen und ästhetischen Elemente und zaubern uns eine grandiose Einseitigkeit hervor, die wir oft genug staunend und doch im Inuern kalt beobachten, wie ein Artistenstücklein, bei dem stets die Empfindung des Unharmonischen und Unfruchtbaren unsere Bewunderung zu begleiten pflegt. In dieser einen Beziehung gleichen sich also diese beiden komplizierten Bestrebungen, die so viele Menschen scheinbar glücklich machen, vollkommen. Aber hiermit ist auch so gut wie alles erschöpft, was in ihnen gemeinsam und gleichartig wäre. Der Ehrgeiz erhebt doch ganz anders, regt ganz anders die Phantasie an und läßt bei Vollbringung großer Thaten den handelnden Akteur in seinen und in den Augen der „Miterlebenden" gleichsam lebendig zur historischen Größe werden. Von politisch Ehrgeizigen großen Stiles gilt fast immer das, was ein Bewunderer von N A P O L E O N I. gesagt hat: Das ist ein Mensch aus dem Plutarch. Durch den Ehrgeiz werden die Politiker vor ihrem eigenen geistigen Auge zur monumentalen Größe emporgeschnellt und um den historisch werdenden „Zeitgenossen" herum verbreiten sich von selbst und unwillkürlich vornehmere Schätzungen, man vernimmt das Rauschen der großen Dinge, die da kommen. Solche Erhöhung der Lebensperspektive bietet das Erwerbsleben in der spezifisch modernen Äußerungsform des Gelderwerbes nun keineswegs. Der einfache Millionär mag sein Geld zehnfach vermehren, der hundertfache Millionär mag zum Milliardär werden, er wird als Mensch selbst in den Augen seiner Wesensgleichen um keinen Zoll größer, er wächst nicht, der große „Zuschauer", den bei aller Verwandlung der Lebensposition die besten und empfindsamsten Schichten der Massen dar stellen, hat kein Gefühl der „Erhöhung", des Werdens von etwas
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Neuem, Großem, Gewaltigem. Die ROTHSCHILD'S sind die einzigen Geldmenschen von einer gewissen historischen Bedeutung; ein moderner Geldmensch hat nichts vom Plutarch an sich, man hört nicht das Rauschen der Geschichte, den Rhythmus der Historie. Der politisch Ehrgeizige großen Stiles hat nicht allein als Ersatz für seine Bemühungen und für seine Einseitigkeit, für seinen Verlust am Genießen der Natur und des Schönen das Gefühl des historisch Werdenden als Äquivalent, er hat auch noch die doppelte Freude des weithin sichtbaren absoluten Herrschens über eine Welt und das unmittelbare Inswerksetzen des von ihm Gewünschten, Geforderten und Gebotenen. Diese doppelte Lust des vollkommenen Machtbewußtseins und vollen praktischen Schaffenkönnens im Sichtbaren, der moderne Geldmensch besitzt auch sie nur in den seltensten Fällen. Geld ist eben nur in beschränktem Sinne Macht und dies muß der höhere Bourgeois an seinem Leibe Tag für Tag erfahren. Würden die modernen Geldmagnaten die thatsächliche Macht der Kondottieri besitzen, ihr ganzes gesellschaftliches Treiben und Streben würde sich anders gestalten. Im Salon bettelt noch immer der reiche Millionär um die Gunst irgend eines die gesellschaftlichen Formen beherrschenden Aristokraten und es wirkt sehr erheiternd, iiier im kleinen die ausgleichende Gerechtigkeit zu studieren und die stolze Genugthuung zu beobachten, die so mancher Träger vornehmen Namens bekundet, daß es ihm noch vergönnt ist, auf einem, wenn auch immer kleiner werdenden Gebiete Rache zu nehmen für die großen materiellen Schäden, die ihm der Geldmensch zugefügt hat. Wäre Geld das Ausschlaggebende im gesamten gesellschaftlichen Leben, so wäre der Pseudo-Aristokratismus des höheren Bourgeois, von dem oben so viel die Rede war, unverständlich, ja unerklärlich. Der Aristokratismus des Bourgeois ist, selbst wenn man diese Bewegung ernster nehmen will, als sie es verträgt, doch nur ein Ziel und keine Thatsache und man strebt doch nicht nach etwas, was man schon besitzt. Aber auch sonst übt der Geldmensch nicht die Macht aus, die der frühere Ehrgeizige großen Stiles besessen. Ja, es ist wahr, man braucht ihn, man buhlt um seine Gunst, aber wie ich schon früher nachgewiesen habe, man buhlte auch um die Gunst der F U G G E R ' S und ähnlicher Geldleute früherer Perioden. An dem unzweifelhaft vorhandenen ungeheueren Einflüsse der wirtschaftlichen Klasse, der er angehört, nimmt der einzelne Großbourgeois als Individuum, persönlich, einen viel weniger lebhaften Anteil, als man gewöhnlich glaubt. Der Feudalherr, der Ritter, imponierte, man WuisKKQHüa, Marxismus.
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beugt sich viel lieber vor jemandem, den man hochachtete, ja sogar bewunderte. Die Macht des Geldmenschen wird als eine auferlegte Bürde oft unter tausend hämischen und erbitterten Bemerkungen ertragen. Aber selbst abgesehen von allen psychischen Faktoren macht der Gang der sozialen Entwickelung diese unglücklichere Stellung des Großbourgeois sein geringerer Anteil als Individuum am gesamten Glücke der sozialen Klasse erklärlich genug. Der moderne Geldmensch hatte eben nur zum Teile die Macht, bevor die sozialen Instinkte der Massen erwacht waren und jetzt, wo er über diese ganze Macht verfügt, hat eine großartige und zum Teil aufklärend wirkende Agitation die Quellen seiner Macht so sehr zum Bewußtsein der untersten Volksschichten gebracht, daß diese es begreifen und verstehen, daß dieses beginnende Mitkontrollieren der Volksseele geradezu an den Wurzeln seiner Herrschaft rüttelt. Von gewissen noch immer mächtigen Schichten der Menschheit, vom größten Teil des Adels über die Achsel angesehen, vom Gelehrtenund Litteratenstande täglich ironisiert, vom Proletariate mit einer sehr verständlichen Bitterkeit verfolgt, kann der höhere Bourgeois selbst außerhalb des Salons sicherlich nicht immer das Machtgefühl des Geldes kosten, aber . er sieht auch durch das Geld wenig vor seinen Augen erstehen, er kann sich am Schaffen neuer wirtschaftlicher Welten, zu denen er zum Teil das Geld hergiebt, kaum irgend wie selbstherrlich genießend bethätigen. Wir leben im Zeitalter der Trusts und der Promotors. An der Gründung hat der Großbourgeois nur seinen Anteil am Profit, nicht aber seinen Anteil an positiver Arbeit. Sein Geld ist oft bei Unternehmungen dabei, deren Natur er kaum kennt, deren Wesen ihm nicht vertrauter ist, wie dem Reporter des ökonomischen Teiles irgend einer Zeitung, die darüber berichtet. Man muß schon gerade ein R O C K F E L L E R sein, um dem faustischen Triebe, neuen Boden und neue Bedingungen für eine arbeitende und arbeitsame Welt zu erschließen, Genüge zu leisten. R O C K F E L L E R aber und R H O D E S sind Typen, die über die gewöhnliche Lebensperspektive des modernen Geldmenschen, des höheren Bourgeois weit hinausragen. So hat der Erwerbssinn in seiner neuesten Äußerungsform mit dem Ehrgeize alle Nachteile gemeinsam, ohne einen einzigen seiner Vorzüge zu besitzen. Der moderne Geldmensch wird durch seinen komplizierten Trieb nicht zum Plutarchmenschen, er spürt nichts von der Erhöhung, welche das Heranrauschen der Geschichte giebt, er besitzt aber auch weniger Macht und Bethätigungsmöglichkeit, wie man glaubt.
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Ohne Zusammenhang mit der Kultur, ohne Möglichkeit, durch all seinen Gelderwerb diese Erhöhung seiner Lebensposition durchzuführen, an die ihn atavistische Gelüste mahnen, fühlt sieh der höhere Bourgeois notgedrungenerweise, ohne ein Dekadent zu sein, lange nicht so glücklich, wie dies Arbeiter und Kleinbürger, die sich eben in seine Psyche nicht versetzen können, wähnen. Der wahre Dekadent, über den heutzutage so viele falsche Aussagen in Leben und in Litteratur gemacht werden, ist als Massenerscheinung in einem anderen Lager zu finden. Nicht der Großbourgeois verkörpert diesen Typus, sondern der Beamte, der Gelehrte und in noch viel höherem Maße derjenige, dessen innerster seelischer Beruf (wenn er auch nicht zünftiger Litterat ist) es mit sich bringt, stets die Psyche anderer zu zergliedern und vor allem sich fast mit den Geberden eines Monomanen unablässig in sein eigenes Ich zu versenken, ein seelischer Beruf, für den der Großbourgeois im allgemeinen weder Zeit noch Lust übrig hat. Die höheren Schichten unserer „Intellektuellen" verkörpern bei aller Tüchtigkeit am meisten die verschiedenen Schattierungen und Nüancen des modernen, ausgereiften, gleichsam in die Breite gehenden HamletMenschen. In einem an feinen Einzelbemerkungen überreichen Aufsatze hat einst Tukgjsnjeff die Behauptung aufgestellt, daß Hamlet und Don Quichotte die beiden geistigen Pole der Menschheit darstellen, zu denen alle psychischen Gestalten, die wir im Leben antreffen, alle Typen der Weltlitteratur sich wie verschiedene Äußerungsformen zum Wesentlichen, wie verschiedene Nüancierungen zu einer Grundgestalt verhalten. Don Quichotte mit seinem ewigen Streben, seinem nie gestillten überheißen Sehnen, seinem Berge versetzenden Glauben, seinem seligen Vertrauen, seinem Mangel an jeder Menschenkenntnis, an jedem Raffinement stelle gleichsam den einen Grundtypus der Menschheit dar, zu dem der feine, reichbegabte, geistig fast überladene, mit fremden und eigenen Wünschen spielende, tastende und hastende, ungläubige, skeptische und meist verdüsterte Hamlet den großen Gegensatz bildet. Diese Auffassung übertreibt stark und generalisiert zu sehr einen an sich nicht unrichtigen psychologischen Gegensatz wesentlicher Art. Auch wird hier vergessen, daß gegen die Universalität des Hamlet-Typus seine spezifisch modernere Form spricht. Zur Zeit Shakespeare's gab es kaum einen Hamlet und Generationen von Engländern mußten ins Grab steigen, bevor der Brite leibhaftig mit eigenen Augen den Hamlet als Typus wahrnehmen konnte. Aber er ist heute noch in England nicht so sehr 12*
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verbreitet wie in anderen Ländern. Erst unser Jahrhundert schuf den Hamlet-Menschen als Typus, als nicht ungewöhnliche Erscheinung, als eine seelische Grundgestalt, die man auf der Straße, im Parlament, in Hörsälen und auf dem Katheder, in den Parketträumen und hinter den Kulissen des Theaters, im Salon und im Künstlercafe trifft. Die gesamte Litteratur bestätigt unsere Ansicht. Man wird vergebens im Schrifttum des 17. und des größten Teiles des 18. Jahrhunderts nach irgend welchen nicht ganz vereinzelt bleibenden Aussagen und Bekenntnissen über den Hamlet-Menschen als Typus suchen. Am Anfange des Jahrhunderts aber beginnt er, sich bereits überall bemerkbar zu machen. Die deutsche Romantik summt von ihm ein Lied, V I C T O E HUGO und der für die französische Romantik noch mehr in Betracht kommende T H E O P H I L G A U T I E B erzählen viel von ihm. Als die Deutschen partout eine Revolution machen wollten, für die sie das Blut nun nicht einmal zu haben scheinen, das deutsche Bürgertum unthätig zaudernd seinen Aufgaben gegenüberstand und sich vom schlauen ostelbischen Junkertum übers Ohr hauen ließ, da kam es erst zum Bewußtsein, wie viele Hamlet-Eigenschaften ganzen Schichten deutscher Nation eigentümlich sind und F B E I L I G B A T H konnte schmerzerfüllt singen: Deutschland ist Hamlet!!! Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die slavischeD Völker mit der Kultur in eine starke und doch nicht intime Beziehung kamen, da beginnt ihre Litteratur überall den Hamlet-Menschen zu verkörpern. Die letzten polnischen Schriftsteller thun es zum größten Teile bewußt, L E R M O N T O F F mehr unbewußt und T U B G E N J E F F selbst schafft in seinem Romane „Neuland" geradezu den Typus des russischen Hamlet der gebildeten akademischen Schichten. N E J D A N O F F ist kein OBLOMOFF, den viele außerhalb Rußlands irrtümlich deshalb für den russischen Hamlet halten, weil er in steter Unthätigkeit verharrt, aber doch nichts anderes ist, als die Verkörperung derjenigen slavischen Indolenz, die bereits ins Orientalische hinüberspielt. Aus alledem geht wohl hervor, daß der Hamlet-Mensch, als soziale Erscheinung aufgefaßt, erst in unserem Jahrhundert sich auszureifen beginnt. Hat also T U B G E N J E F F sowohl den richtigen psychischen Kontrast zwischen den zwei Grundtypen übereifrig generalisiert, als auch das spezifisch Moderne der einen Art von Menschen verkannt, so ist diese Gegenüberstellung doch lehrreich genug. Nun, in unserem Jahrhundert wird der Don Quichotte immer seltener, der Hamlet immer häufiger. Der ganze Unterschied zwischen Können und Wollen, die Beherrschung, j a das
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Niedertreten und Niederwerfen der Instinkte durch die Phantasie, sie machen sich immer mehr geltend. Nicht allein die Willensschwäche, sondern auch die Instinktunsicherheit greift um sich. Es darf uns nicht Wunder nehmen, warum gerade gewisse Schichten des Bürgertums, die Gelehrtenberufe, die Beamten, die nicht im geschäftlichen Leben Stehenden in so hohem Maße diesen Menschentypus darstellen. Der gesamte Prozeß der sozialen Komplikation erklärt uns dies leicht. Die soziale Differenzierung innerhalb des Bürgertums mußte gerade diese genannten Schichten in hohem Grade für eine Mittelbarwerdung ihrer Durchschnittswerte geeignet machen. Die soziale Differenzierung von so und so vielen bürgerlichen Elementen, wie Gelehrte, Professoren, Advokaten, Ärzte, freie Schriftsteller, Beamte u. s. w., die mit dem Thatenleben der Politiker und Geschäftsleute wenig oder gar nichts gemeinsam haben, mußte ihre ganze Lebensperspektive, die Gesamtheit ihrer Maßstäbe und Schätzungen von vornherein künstlicher und unorganischer gestalten. Denn sie waren eben befreiter, zu gleicher Zeit aber auch entfernter vom wirklichen Leben und so mußten alle psychischen Übel der Zeit, die auf einer gewissen Höhe der Entwickelung ins Soziale umschlugen, hier scheinbar weniger kräftig, in Wirklichkeit aber unangenehmer, widerwärtiger wirken, geradezu alle Instinktsicherheit und Lebensfreude vergiftend. Die soziale Differenzierung innerhalb des Bürgertums präparierte am besten diese genannten Schichten für eine noch stärkere, unangenehmer wirkende Mittelbarwerdung aller Werte. Zwischen wahrer Höhenluft; und dem Dunstkreis der Bureaustube giebt es noch eine mittlere recht erträgliche Atmosphäre. Wenn auch der typische höhere Bourgeois trotz aller plumpen, oft geradezu läppischen Versuche niemals in die wahre Höhenluft gelangen kann, so hat er doch wenigstens die Möglichkeit, oft genug bei Anspannung seiner höchsten Kraft in jene wohlthuende Atmosphäre zu gelangen, zu der ein Leben voller Thaten immer Pfade genug offen läßt. Die „Intellektuellen" als Massenerscheinung kommen weder in die Höhenluft, noch in die immerhin ozonreiche mittlere Atmosphäre, sie brüten meist ihr ganzes Leben in der Stickluft der unbehaglichen Stube. Die größere Tendenz zur Mittelbarwerdung ihrer Schätzungen, die ganze Art ihres Berufes bringen es dergestalt mit sich, daß in diesen Kreisen der Hamlet-Typus sich immer mehr ausbreitet. Es wurde oben bei der kurzen Analyse des SHAKEsPEARE'schen Hamlet's erwähnt, daß derselbe selbstverständlich in erster Linie ein
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Drama der Willensschwäche ist. Aber neben dieser Konstatierung muß auch ausdrücklich hervorgehoben werden, daß diese psychische Gestalt auch andere Momente in sich faßt. Der Unterschied zwischen Instinkt und Phantasie kommt hier in Betracht. Hamlet ist auch der Verkünder einer neuen Weltperspektive, in der das volle Leben selbst im Überdenken und Überprüfen schon erdrückt wird durch eine Instinktunsicherheit, die geradezu erlähmend und beengend wirkt. Herausgerissen aus dem Organischen, Natürlichen und Anschaulichen, wandelt ein solcher Mensch kümmerlich des Weges daher, erdrückt von der Fülle der Vergangenheit, eingeengt, gleichsam von der Geschichte seiner eigenen Seele bestürmt und bedrängt von tausend unklaren Empfindungen. Es giebt keinen wie immer gearteten Menschen, der, von solchen Trieben gepeinigt, mit einer solchen Lebensbilanz auf die Dauer oder selbst nur während eines großen Zeitraumes seines Lebens glücklich sein könnte. Im Gegenteil, ein stetiges Suchen und Umhertasten macht sich geltend, die Nerven spielen die größte Rolle im Leben, der Mensch dieser Lebensperspektive ist überaus krank. So wird Hamlet also das Symbol einer ganzen intellektuellen Bewegung, der Urahne jener Menschen, die nicht allein willensschwach, sondern auch instinktunsicher sind. Im Shakespeare'schen Hamlet steht der Unterschied zwischen Können und Wollen im Vordergrund der Handlung, Hamlet ist vor allem kein tüchtiger der menschlichen Gesellschaft nützlicher Mensch, kein brauchbares Werkzeug im großen sozialen Gefüge. Die Hamlet's des Lebens aber sind in nichtslavischen Ländern sehr häufig recht brave und tüchtige Männer, recht nützliche Räder in der ungeheueren und komplizierten sozialen Maschinerie. Nur in großen Dingen, in den gewaltigen Entschlüssen des Lebens, in den Momenten, wo das Elementare in der menschlichen Natur zum Durchbruch kommen soll, versagen sie zumeist gänzlich, werden zu Nichtkönnern und Nichtvollbringern, zu Hamlet's im gewöhnlichen, fast möchte ich sagen trivialen Sinne. Sonst aber gehen sie ruhig ihres Weges, verrichten ihr Tageswerk, wirken in bescheidener Weise und weisen weniger als andere Menschenschichten einen tollen, vorwärtsstürmenden, ins Blaue gerichteten Drang, eine stete Überhastung oder ein unklares Sichauslebenwollen auf. Ihre innere Unzufriedenheit ist den anderen zumeist unsichtbar und ungreifbar, sie scheinen anders wie sie sind und können am wenigsten als problematische Naturen gelten, die mit ihrer eigenen, so seltsam durchbrochenen Wertlinie spielen
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und mit ihrer engen Lebensperspektive als große Cyniker kokettieren. Nein, sie sind Verdüsterte und Gequälte, die nach außen hin sich ruhig geberden und im sozialen Leben, in allen kleinen und alltäglichen Geschäften keineswegs versagen, Hier bricht vielmehr der innerste, mehr latente Charakter des SHAKESPEAKE'schen Dramas durch. Das sind die instinktunsicheren, allzu alltäglichen, das soziale Gefüge nicht störenden Hamlet's, sie sind dem alltäglichen Leben gewachsen, nicht aber den großen Momenten. Einerseits wird jedes bedeutende Ereignis ihres Lebens zur Vergangenheit, die mit bleierner Schwere auf ihrer Seele lastet; andererseits ruft stets eine Stimme in ihrem Innern (der Geist von Hamlet's Vater) sie auf zu Thaten, denen sie nicht gewachsen sind. Ihre Phantasie will über die Alltäglichkeit hinaus und sie sind doch nur für die Alltäglichkeit geschaffen. So ist hier die Phantasie eben stärker nicht allein wie das Vollbringenkönnen, sondern auch wie die ureigensten Instinkte. Läge es nur am Vollbringenkönnen, sie würden auch in der Alltäglichkeit versagen. Die Summe ihrer Lebensinstinkte reicht zum Gewöhnlichen aus; ihre Phantasie drängt zum Außergewöhnlichen. Darin liegt der tiefste Grund ihrer seelischen Krankheit. Aber immerhin ist ihre Phantasie noch relativ gesund, sie fühlen wenigstens ihre Unzulänglichkeit, sie werten in lichten Momenten ihr Leben richtig, sie sind sich ihrer Schwäche bewußt, sie sind in ihrer Lebensbilanz nicht die schlechtesten Rechner, sie wollen wenigstens das Große, sie streben nach Höhenluft. Aber je mehr das Jahrhundert dem Ende zueilt, desto mehr verwandelt sich ein großer Teil dieser Hamlet's der Alltäglichkeit in einen neuen seelischen Typus. Die Größe, die Lebendigkeit, das relativ Monumentale der Phantasie nimmt ab. Sie wollen zum Großen gar nicht mehr gelangen, die Aussicht auf Höhenluft reizt sie nicht mehr, sie wollen in den Thälern bleiben, sie wollen ihren seelischen Zustand nur nach einer Seite hin verändern, sonst aber verewigen. Diese eine Seite betrifft den Genußstandpunkt. Wir haben gesehen, der alltägliche Hamlet ist in kleinen Dingen ein Vollbringer, ein Könner, aber dies geschieht wie alle Vollbringung im gewöhnlichen Leben auf Kosten der Bequemlichkeit und des Genusses. Man muß so und so viel Streben in sich zurückdrängen, man muß so und so vieles niederringen, um die Alltäglichkeit auszuhalten. Davon möchte sich der Hamlet-Mensch am Ende des Jahrhunderts befreien, er möchte von dem bleiernen Zwange loskommen, er möchte sich das Anstrengenmüssen von der Seele abwälzen. So wird sein Lebensideal einer-
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seits das Hinauskommen über die Alltäglichkeit, andererseits das Beibehalten seiner jetzigen Lebensinstinkte ohne das Korrelat des großen Wollens in der Phantasie. Der alltägliche Hamlet-Mensch am Anfang des Jahrhunderts wollte gesund werden; am Ende des Jahrhunderts ruft er aber aus: Wozu gesund werden? Ich habe in meinem jetzigen Leben Beelenzustände, die ich nicht gern aufgeben möchte; sie trennen mich vom gewöhnlichen Menschen. Es ist wahr, ich bin in verschiedener Beziehung ein entarteter Mensch, aber gerade das ist das Ungewöhnliche, und das „Ungewöhnlich-Entartete" ist so schön! So entsteht aus dem Hamlet-Menschen der Dekadent. Der vollausgebildete, zur Reife gelangte Dekadent kennt das relativ Monumentale der Phantasie nicht mehr, er hat keine Sehnsucht nach Höhenluft. Der Dekadent ist unzufrieden hauptsächlich mit der Alltäglichkeit des Lebens, ebenso unzufrieden aber, wenn ihn andere auf große Ziele hinweisen. In einer gewissen Beziehung schlägt der Seelenzustand des ausgereiften Dekadents in das Gegenteil des Hamlet-Menschen um. Der Dekadent besitzt eine gewisse Instinktsicherheit, die Instinktsicherheit des Besignierten, der auf das große und volle Leben verzichtet hat, die Instinktsicherheit des mit dem Leben Spielenden. Der Benaissancemensch hat ein instinktsicheres Leben kulturnotwendigen Werten unterworfen; der HamletMensch, ebenso wie der Dekadent unterwerfen ihr Leben den kulturnotwendigen Werten nicht. Aber ein nicht unwesentlicher Unterschied ist vorhanden. Der Hamlet-Mensch hat seine Instinktunsicherheit und seine kulturnotwendigen Werte verloren durch sein Nichthinauskönnen in ein freieres Leben, durch sein Belastetsein mit der Vergangenheit. Der moderne Dekadent hat die kulturnotwendigen Werte und die volle, ganze Instinktsicherheit in großen Dingen verloren durch das Nichtwollen, durch das Nichtmehrverstehen der „großen Notwendigkeit" in ein höheres und freieres Leben hinaus zu gelangen. Von diesem Nichtverstehenkönnen ist selbst NIETZSCHE, der den Höhepunkt der Decadence und den Anfang zu ihrer Überwindung darstellt, nicht ganz frei. Es ist verfehlt, NIETZSCHE als denjenigen aufzufassen, der uns die Zukunft lehrt. Sein Schrifttum ist im Gegenteile nur eine große Reihe von Aussagen über die Vergangenheit, gleichsam MomoirenLitteratur über die Mängel einer Zeit, der es an Vitalität, an Sicherheit der Instinkte und an Größe des Lebensstiles vollkommen gebrach. Wie im 18. Jahrhundert ROUSSEAU sich gegen die Mittelbarwerdung aller Wertschätzungen auflehnt, so thut dies auch im 19. Jahrhundert
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der sprachgewaltige deutsche Denker. In einer Beziehung gleicht er TOLSTOI, sie sind beide Protestler gegen die soziale Komplikation, die an der Jahrhundertwende noch einen ganz anderen Grad der Intensität erreicht hat, wie zur Zeit ROTJSSEAU'S. Aber während T O L S T O I im Urchristentum die beste Form der Rückkehr von mittelbaren Werten, die den Menschen so quälen und drängen, sieht, will N I E T Z S C H E noch weiter gehen. Er möchte eine vorchristliche Zeit aufdämmern sehen, in der die ganze Gewalt der blonden Bestie wieder herrschen soll. Sein „Übermensch" ist ein Doppelwesen, die blonde Bestie, welche gewisse Kulturerrungenschaften in sich aufgenommen hat. Es ist ein Körnchen Wahrheit in dem Ausspruche M E H R I N G ' S , daß N I E T Z S C H E der Philosoph des Kapitalismus sei. Wie ungerecht der Historiker der Sozialdemokratie auch dem großen Schriftsteller gegenübersteht, wie ratlos er auch in sein innerstes Wesen blickt, in einer Beziehung muß doch an diese Äußerung angeknüpft werden. N I E T Z S C H E überschreitet insofern schon die Decadence, deren Höhepunkt er ist, als er auch die höchsten, intimsten, esoterischsten Forderungen der höheren Bourgeoisie in sein Wertprogramm wenn auch ganz unbewußt, mit aufnimmt. Es wurde früher gezeigt, wie nicht allein ein großer Teil der Intellektuellen, sondern auch die gesamte höhere Bourgeoisie sich unbefriedigt fühlt. Es wurde hervorgehoben, wie sie hauptsächlich daran leidet, dass der Erwerbssinn nie diese Freuden innerlich gewähren kann, wie der politische Ehrgeiz großen Stiles, der um eine Nuance ursprünglichere, weniger mittelbare Schätzungen in sich faßt. Aus diesen tiefen Bourgeois-Seufzern heraus hat in der That NIETZSCHE, der mit dem Instinkte des alten Philologen die Regungen der Gruppenpsychologie stets viel feiner erfaßt als die geistigen Individualzusatnmenhänge, seinen Begriff zum „Willen zur Macht" herauskrystallisiert. Hierzu kommt noch, daß N I E T Z S C H E in seiner ganzen Sozialphilosophie, ohne zu wollen, den tief unpolitischen, rein ästhetisierenden Zug des Großbourgeois unbewußt hineingelegt hat. So geht NIETZSCHE, der die feinsten, innersten Regungen der Decadence, ohne es zu wissen, in sich verkörpert, zugleich über sie hinaus, indem er all die verborgene Thatenlust und die latente Tendenz nach Ruhm des höheren Bürgertums vom Klassenpsychologischen ins rein Philosophische übersetzt. Was dekadent an N I E T Z S C H E ist, ist vor allem sein inbrünstiges, fast weibisches Sehnen nach Kraft, Tapferkeit, roher Urwüchsigkeit, die rohe Wertung des Wilden, das seine früheren Wertungen vom Monumentalen langsam überwucherte. Etwas Feminines, etwas,
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was der Sehnsucht des Schwachen gleicht, liegt im gesamten Schrifttum N I E T Z S C H E ' S . Werde hart, predigt Zarathustra zu laut, zu eindringlich, zu herausfordernd. Das ist die Stimme eines Mannes, der sich selbst Mut machen will. Die heutige Decadence, besonders in der französischen Litteratur, wo sie am echtesten in Europa zu finden ist, reicht an ihren höchsten Ausdruck, an die Philosophie N I E T Z S C H E ' S noch nicht heran, sie gefallt sich noch im Dämmerlichte dumpfen Dahinlebens, sie ist sich der Schwere ihrer Entartung noch nicht bewußt. N I E T Z S C H E ist sich dessen ganz bewußt und überschreitet, wie wir gesehen, schon nach einer Richtung die Decadence. Aber er bleibt insofern in ihr haften, als er einen falschen Stil der Lebensführung mit aller Macht verbreiten möchte, als er aus Reaktion gegen seine eigenen dekadenten Triebe die blonde Bestie verewigen möchte. Sein sehnsüchtiges Hoffen auf den Übermenschen gleicht dem Hinschielen der Romantiker nach vergangener Größe. Hier wie dort beten instinktunsichere Menschen die ins Unnatürliche, Große hineinprojizierte Gewalt unermüdlich an. F R I E D E I C H N I E T Z S C H E hat, und das ist vielleicht sein größtes Verdienst, zum ersten Male die Veränderung der innersten Wertschätzungen eines Menschen in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen. Aber den ganzen Prozeß der sozialen Komplikation hat auch er ebenso wenig erkannt, wie R O U S S E A U oder T O L S T O I . 1. Zunächst versperrt er sich die wahre Erkenntnis der Wertveränderungen durch die einseitige Betonung ihres subjektiven Charakters. Er erkennt das Durchschnittliche der Werte nicht an. Daher versteht er nicht das Krankhafte des gesamten Prozesses, daher sein mehr als schiefes Urteil über die Arbeiterfrage, daher sein totales Unverständnis des sozialen Grundproblems; 2. glaubt er in seinem vorchristlichen, römischen und primitiven Herrenmenschen ein ursprüngliches, elementares, das Menschliche und Natürliche besser und edler repräsentierendes Geschlecht uns gezeigt zu haben. Er irrt, der Ehrgeiz treibt schon den Römer der Vorzeit, der Ehrgeiz setzt schon den homerischen Helden in Bewegung. Schon damals war das Ursprüngliche zerstört, das Grandios-Wilde zerstampft, das allzu Menschliche, um seine wundervolle Prägung zu behalten, vernichtet oder, wenn man will, überwunden; 3 . kennt und schätzt N I E T Z S C H E die Kulturnotwendigkeit der mittelbaren Werte nicht im geringsten. Seine intensive Beschäftigung mit der Renaissance hat auch ihn zur Bewunderung dieser Periode oftmals hingerissen. Aber was er an den Borgias u. s. w. mehr
Die soziale Komplikation.
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staunend betrachtet, ist das Wild-Ursprungliche, nicht das persönlich Gefestigte. Er bewundert mehr die einseitigen Ausbrüche des Temperaments, als die unserer Zeit so verloren gegangene Beziehung zwischen Leben und Politik, zwischen Leben und Kunst, zwischen Individuum und Kultur. Seine Auffassung NAPOLEON'S, iu dessen genialem Walten er hauptsächlich nur die Explosion von so viel zurückgehaltener Ursprünglichkeit, Wildheit, Ungebundenheit sieht, verrät, daß es sich hier um seine Grund an schauung handelt. Die ganz andere Seite im Wesen NAPOLEON'S, die Souveränität seines Intellektes in der Beherrschung der Menschen und Dinge, die TAINE, seinen Halbfeind, zum Ausrufe hinreiJtJt: „Sein Kopf gleicht einem großen geographisch-historischen und statistischen Atlas", sieht er vielleicht, wertet sie aber nicht. 4. Sein höchstes Ideal, der Übermensch, ist das Ideal des reinen Individualisten. Die Geschichte ist ihm nur der Weg zur Erzeugung immer höherer Individualitäten; um die sozialen Ausstrahlungen kümmert er sich ganz konsequent nicht, da er eben den Durchschnittscharakter aller Wertungen nicht im geringsten eingesehen hat, wenn er auch im einzelnen die Wertungen ganzer Völker richtig würdigt. So wird sein Grundideal eigentlich für geraume Zeit nur noch gehalten werden vom Um und Auf feiner Bemerkungen und von der Zauberkraft der Sprache. An sich aber ist diese Zukunftsperspektive leer. Man züchtet keine höhere Menschheit, indem man die Einsamkeit statt der richtigen Umgebung dem neuen Gotte darbietet, indem man dem ideellen Genius eine Einöde bietet. Denn einsam muß es ja im Sinne NIETZSCHE'S um den gewaltigen Übermenschen werden, da die Konsequenz seiner Wertschätzungen es fordert, daß man soziale Welten in Trümmer schlage, um aus der Sippe der Mächtigen und Gewaltigen den herrlichen Übermenschen erstehen zu lassen. In der Höhenluft des Übermenschen weht ein gar eisiger Wind, der alles Menschliche und allzu Menschliche vernichtet. Wozu einen Übermenschen, wenn es keine wahre Menschheit mehr geben kann! Wie man sieht, hat sich NIETZSCHE durch diese Mängel seiner Auffassung nicht nur um die wertvolle Zukuuftsperspektive gebracht, er hat auch den Gegenwartsprozeß der sozialen Komplikation nicht zu erkennen vermocht. Was er erkannt hat, war nur die Grundthatsache des Mittelmäßigwerdens, des Schwächerwerdens, des Unnatürlichwerdens. „Europa wird zu einem China!" ruft er mit G A L I A N I aus. Daß aber gerade die von ihm so stark gewerteten,
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Zehntes Kapitel.
so über alle Maßen in den Vordergrund geschobenen Maßstäbe der Herrenmenschen, daß insbesondere der Ehrgeiz schon den Beginn des großen Übels bedeutet, das schwant ihm nicht einmal. Er hat ferner erkannt, daß wir keine Beziehung mehr zur Kunst und Wissenschaft, zur eigentlichen Kultur haben. Warum dies die Menschen der Renaissance eigentlich hatten, dies sagt er uns nicht. Ebenso wie er den Gegenwartsprozeß und das Vergangenheitsmoment der Komplikation nicht kennt, so hat er überhaupt kaum eine Ahnung vom Gesamtgange der Historie, die gerade das entgegengesetzte Bild des einen Strebens nach Willen zur Macht aufzeigt. Daß der einfache Kampf uigs Dasein, nicht sein Wille zur Macht das große Instrument ist, wodurch die Menschheit ihr Leben zugleich erhöht und zugleich selbst beschränkt, daß der ganze Werdegang der Menschheit geknüpft ist an den Prozeß von Durchschnittswerten, in der alle Rangunterschiede zwischen Herren und Knechten, alle Nuancen der Weltgeschichte vollkommen untertauchen und daß endlich die größte seelische Krankheit nicht im Überzoologischen, im Unnatürlichen, sondern im Durchbrechen der Kulturnotwendigkeitsschranken liegt, davon weiß N I E T Z S C H E nicht mehr und nicht weniger wie etwa S H A K E S P E A R E , G O E T H E und H Ö L D E R L I N . Er ist in dieser einen Beziehung zwar erheblich über R O U S S E A U , aber nicht über T O L S T O I hinweggeschritten. Gleich dem Russen sieht auch er das Kranksein der Zeit im Zuviel an Kultur anstatt im Zuwenig an richtig verbundener und seelisch verknüpfter Zivilisation. Durch diese Grundauffassung hat sich auch unser Denker gleich T O L S T O I alle Kenntnis des Sozialen und Wirtschaftlichen versperrt, denn nur wer die Kulturnotwendigkeit wertet, wertet zugleich auch das eigentlich Soziale und Wirtschaftliche besonders der modernen Menschheit richtig. So ist N I E T Z S C H E , obwohl er zum ersten Male überhaupt die innere Änderung der Werte in der Geschichte zum Gegenstande fortwährender Aufmerksamkeit gemacht hat, doch nicht in das Wesen der sozialen Komplikation eingedrungen. Wir haben also jetzt den Komplikationsprozeß auch in einigen seiner wesentlichen Umbiegungen und Brechungen kennen gelernt. Es kann nicht genug betont werden, daß der Wert dieser mehr illustrativen Ausführungen und Anwendungen das Wesen der Theorie selbst nicht berührt. Ich will jetzt, bevor ich zu den Einwänden übergehe, die man gegen das Wesen der sozialen Komplikation selbst erheben könnte, noch eine Ergänzung vorbringen. Es wurde früher angedeutet, wie sehr auch der Erkenntnistrieb der sozialen Kom-
Die soziale Komplikation.
.189
plikation sein Entstehen zu verdanken habe. Dies soll nun hier zunächst des näheren ausgeführt werden. Wir haben uns gewöhnt, den Erkenn I nistrieb in einer gewissen primitiven Form als stets vorhanden anzunehmen, weil schon die Neugierde unserer Kinder vielfach den Erkenntuistrieb in nuce zu offenbaren scheint. Aber die Thatsachen widersprechen dieser Annahme und man muß sich schon dazu bequemen, für eine ganze Periode von nicht allzu kurzer Dauer einen vollkommen erkenntnislosen Zustand der Menschheit anzunehmen. Der Trieb zur Erkenntnis entstand durch die Notwendigkeit, die Natur zu beherrschen. Zur Zeit, als die Phantasie noch wenig entwickelt war und hierdurch auch keinerlei Ausätze zu irgend einer Kunst oder gar Kultur vorhanden waren, wäre der Erkenntnistrieb für die Menschheit ebenso wenig notwendig gewesen, wie die Mythologie oder das Epos. Der Erkenntnistrieb war nicht vorhanden im vortechnischen Zeitalter, als die noch so primitiven wirtschaftlichen Errungenschaften der einzelnen dem Stamme nicht überliefert wurden. Weder die Ansätze zu einer äußeren materiellen, noch die zu einer inneren und künstlerischen Kultur konnten sich irgendwie entwickeln. Aber als die elementare, aus den tiefsten Tiefen des Volksbewußtseins quellende Phantasie das äußere und psychische Band zwischen Individuum und Stamm gleichzeitig herstellte, entstand bald neben der primitiven Wirtschaft und der ersten Dichtung die Tendenz nach Beherrschung der Natur. Man mußte wenigstens einigermaßen das Walten und Treiben der Naturkräfte kennen. Aus dieser Naturbeherrschungstendenz differenzierte sich bald der allgemeine Trieb nach Erkenntnis und in allmählicher Entwickelung wurde er zum selbständigen Werte. So kennt die homerische Periode eigentlich nur Ansätze zum Erkenntnistriebe als selbständiger menschlicher Schätzung. In den Denkmälern der Assyrier und Ägypter aber kommen, wenigstens nach verschiedenen Berichten zu schließen, schon in einer verhältnismäßig frühen Zeit Äußerungen vor, aus welchen hervorgeht, in welchem verhältnismäßig hohen Werte die Beschäftigung mit der Erkenntnis bei diesen orientalischen Völkern stand. Dies darf uns nicht Wunder nehmen, denn besonders bei den Assyrern war die Sternkunde verhältnismäßig früh entwickelt und diese ihrem ganzen Wesen nach exakte Beschäftigung mit der Natur mußte nicht allein eine gewisse „Objektivierung" einführen, sondern zugleich auch die Entwickelung des Erkenntnistriebes zum Selbstwerte befördern. Doch dies waren immerhin nur Ansätze und Keime, welche das
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Zehntes Kapitel.
griechische Geistesleben erst ganz entwickeln sollte. Der griechische Philosoph als Typus war nicht allein ein Mann, welcher die Wissenschaft um ihrer Vorteile willen, welche sie der Menschheit leistete, liebte, er war in die Philosophie selbst verliebt. Diese heilige Inbrunst für die Weisheit wird uns vielleicht erklärlicher, wenn man sich z. B. T A I N E ' S Urteil über das stark anschauliche, unbegriffliche und rein in Bildern vor sich gehende Denken des gesamten Griechentums vor Augen hält. P L A T O war eben kein K A N T und H E E A K L I T , kein H E G E L . Das Denken der Griechen umspannte bestimmter, präziser, fester die Fülle der Wirklichkeit. Es war mehr direkte und persönliche Beziehung zum Leben bei den griechischen Denkern als bei den deutschen spekulativen Philosophen zum Beispiel. Doch darf man aus dieser persönlicheren Philosophie nicht etwa schließen, für den griechischen Denker wäre die Wissenschaft seiner Zeit mehr im Dienste des unmittelbaren, praktischen Lebens gestanden. Diese Annahme wäre falsch — der Grieche war auch eine Theoretikernatur und er entfloh aus dem Leben zu seiner ewigen Braut, der Weisheit. Im Gegenteil, seine Liebe zu ihr war vielleicht noch heftiger, weil sie eben ursprünglicher war. Es ist daher allem Anscheine nach kein Zufall, wenn im Gegensatze zu der griechischen Philosophie erst BACON der sogenannten praktischen und in erster Linie angewandten Philosophie innerhalb des strengen wissenschaftlich sein sollenden Denkens das Primat erteilte. Einmal ausgebildet, wurde der Trieb zur Erkenntnis immer mehr zum Selbstwerte. Aus ihm heraus entfaltete sich das Selbstschätzen des Wissens, bis in unserer halb alexandrinischen Zeit selbst die Sammlung der Daten, welche indirekt erst dem Wissen und somit kaum mehr der eigentlichen Erkenntnis dienen sollen, zum Selbstzweck wurde. Blicken wir um uns. Wissenschaftliche Genies, welche in stolzer Selbstherrlichkeit halbe Stockwerke im riesenhaften Baue der wissenschaftlichen Erkenntnis errichten, hat es zu allen Zeiten gegeben und giebt es auch in unserer Periode. Es kann dies nicht als besonderes Merkmal des allgemeinen Wissenschaftsbetriebes gelten. Aber eine Sicherheit der Methoden, eine Feinheit und Präzision in der Ausbildung wissenschaftlichen Rüstzeuges, die aus einem Stümper unter glücklichen Umständen einen Meister machen kann, hat es früher nie gegeben. Eine ganz anders geartete Prüfung, eine strengere, unbarmherzige Kontrolle die auch den wissenschaftlichen Großthaten gegenüber nicht zum Schweigen zu bringen ist, ist heutzutage vorhanden. Die Irrtümer sind zahl-
Die soziale Komplikation.
191
reich, aber auch die Klärung geht rascher vor sich. Der ganze Unterschied des modernen Wissenschaftsbetriebes zu dem vorigen Jahrhunderte läßt sich am anschaulichsten in einen) Vergleiche schildern. Das heutige Reisen ist sicherlich nicht immer ein Vergnügen. Überall wird uns der poetische Genuß einer Landschaft, die Versenkung iu Trachten und Sitten von Naturmenschen durch die unangenehmen Seiten des modernen Verkehrs, durch den Mitreisenden gestört. Der Philister sitzt gleichsam immer mit uns im Eisenbahncoup6, und das ist nicht gerade erquickend. Aber eines ist sicher: wir reisen behaglich und bequem. Der frühere Reisende hatte vielleicht mehr Genuß, aber das Reisen war auch gefährlicher. So geht es auch mit dem ganzen modernen Wissenschaftsbetriebe. Wir müssen alle Trivialität der Auffassung, alle Plumpheit der Darstellung, all das Unnütze und Ungelenke der modernen Detailwissenschaft mit in den Kauf nehmen, weil wir doch ein allgemein beruhigendes Gefühl haben, das uns die Sicherheit der Methodik giebt. Hierin erschöpft sich aber auch das Fruchtbare der uns eigentümlichen besonderen Art, Wissenschaft zu treiben. Der Erkenntnistrieb selbst ist im 19. Jahrhundert zugleich mittelbarer und leerer geworden. Immer größer wird die Zahl von Gelehrten und Schriftstellern, die den allgemeinen Zusammenhang mit den Problemen des modernen Denkens verloren haben. Aber sie haben nicht einmal immer den Zusammenhang mit dem modernen Gesamtwissen. E s giebt immer mehr Männer, welche ihr ganzes Leben ausschließlich in den Dienst von Aufgaben stellen, die, ganz losgelöst von den Grundproblemen der Erkenntnis, nicht einmal das Wissen irgend einer Disziplin in besonderem Maße bereichern würden, falls man sie lösen würde. E s entsteht der Gelehrte, dem einige an sich ganz unbedeutende Fragen über alle Erkenntnis, j a über alles Sonstige im Leben überhaupt gehen. Von unseren zeitgenössischen Schriftstellern hat D A U D E T Z. B. in seinem Romane „L'Immortel" einen gänzlich unbedeutenden und unbegabten Akademiker geschildert, der diesen Typus von Mensch vertritt, bei dem das bloße Sammeln von kaum zu verwertenden Daten zum dominirenden Grundtriebe alles seelischen Lebens geworden ist. Hierher gehört auch der Kollektionär, der in unserer Zeit immer häufiger wird und der bei aller Tüchtigkeit und Feinheit des Urteiles selbst die Allüren und das Gebahren des Wissenschaftlers eigentlich endgültig aufgegeben hat. Der Sammler gesteht eigentlich nur ein, was so mancher Gelehrter verbirgt, daß ihm nicht die Erkenntnis, sondern die bloße Beschäf-
192
Zehntes Kapitel.
tigung mit unzusammenhängenden Stückchen derselben innerste Freude gewährt.
So besagt uns dieser Typus von Mensch wohl am deut-
lichsten, welchen hohen Komplikationsgrad der Erkenntnistrieb bereits in unseren Tagen erreicht hat. Ich
komme nun auf einige Einwände,
welche man gegen die
oben vorgetragene Theorie überhaupt machen könute, zu sprechen. I.
Mau könnte mir entgegenhalten,
kation
auch als historisches Urfaktum
annahme
des
seelischen
Urzustandes
daß die ganze
Kompli-
auf einer falschen Grunddes
Ich habe darauf folgendes zu erwidern:
Menschentums
beruhe.
D e r von mir als Kompli-
kationsprozeß bezeichnete Evolutionsprozeß der inneren Werte könnte auch
ohne empirische Bestätigung richtig sein, d. h. wir könnten
einen solchen Zustand
annehmen,
selbst
wenn wir keine Beweise
dafür in der Anthropologie und Ethnologie fanden.
Die Geschichte
der Wissenschaft ist j a voll von Beispielen einleuchtender Theorien, deren
erstes
struktion ist.
Entwickelungsglied
lediglich
eine
notwendige
Kon-
Seit CUVIER sind solche Konstruktionen in der Pa-
läontologie gebräuchlich,
und in der Soziologie geht MORGAN von
einem Urzustände aus, den er nicht beweisen kann.
Diese An-
nahme ist der MoRGAN'schen Theorie aber nie zum Vorwurf gemacht worden;
und was man an ihr mit Recht kritisiert, hat mit
dem hypothetischen Urzustände nicht das geringste gemein. erste Darstellung der sozialen Komplikation Leipzig
1892)
Meine
(vgl. „Das Problem",
hatte keine empirische Grundlage.
In
der
Thut
müßten wir uns einen solchen Ausgangspunkt vorstellen, selbst wenn wir nirgends Spuren von ihm fanden, weil die ganze spätere Geschichte,
die Entwickelung
der Werte,
zu der Annahme
drängt.
Sicher gab es einmal Menschen, die den Gebrauch des Feuers nicht kannten,
nur
haben
wir
keine
Spuren
von
solchen
Menschen.
BÜCHER, dieser vorsichtige Entwickelungshistoriker und methodisch behutsame Nationalökonom, kommt für den empirischen, mit dem Feuer
bekannten,
also eigentlich nicht mehr primitiven Menschen,
der in zahlreichen Exemplaren noch vorhanden ist, ohne Kenntnis meiner Theorie zu demselben Resultate in Bezug auf die Wertungen. Auf Grund zahlreicher Reiseberichte und Schriften der Ethnologen schildert er die sogenannten „niederen J ä g e r " und die schon etwas höher stehenden Stämme, deren Trachten, Ehegewohnheiten, Götterglauben
bisher viel gründlicher als ihre
gesagt — Er
vorwirtschaftliche Verfassung
wirtschaftliche — durchstöbert
worden
besser sind.
schildert den Wilden als ohne jedes Interesse für die Erschei-
Die soziale Komplikation. nungen
seiner Umgebung.
Sein
ganzer
193
Lebenszweck
ist Essen,
Trinken, Schlafen und Schutz gegen die ärgsten Unbilden der Witterung.
Sein Geist ist auf die Gegenstände
sehen, hören und fühlen lassen.
beschränkt, die sich
„Dasselbe also", sagt BÜCHER (Die
Entstehung der Volkswirtschaft, zweite Auflage.
Tübingen
1898),
,,\vas das Tier treibt, die Erhaltung des Daseins, ist auch der maßgebende Antrieb des Naturmenschen.
Dieser Trieb beschränkt sich
räumlich auf das einzelne Individuum, zeitlich auf den Augenblick der Bedürfnisempfindung.
Mit anderen Worten: Der Wilde denkt
nur an sich und nur an die Gegenwart;
was darüber hinausläuft,
ist seinem Geistesleben so gut wie verschlossen." Diese Schilderung des Gegenwartlebens der Wilden drückt fast mit denselben Worten meine Grundanschauung von den Werten aus, die sich auf der Verlängerungslinie des Momentanen befinden. bei spricht BÜCHER nicht vom ganz
primitiven, vom
Da-
eigentlichen
Urmenschen, sondern von dem Menschen einer relativ viel späteren Periode.
Es ist also selbstverständlich, daß der Mensch, der das
Feuer noch nicht kannte, noch in viel höherem Grade die von mir angenommenen Ausgangswerte besaß. II.
könnte man mir entgegenhalten,
daß der Charakter
der
Kulturnotwendigkeit aller Komplikationswerte eine willkürliche Annahme sei.
Ich möchte darauf erwidern: Sicherlich ist die Kultur-
notwendigkeit nicht in dem Maße Urfaktum, wie die Komplikation selbst, schon aus dem Grunde, weil wir ohne ein wenig Teleologie gar nicht zu dem Begriffe der Kulturnotwendigkeit kommen konnten. Denn wenn wir nicht überhaupt die gesamte Zivilisation der Menschheit so hoch einschätzen würden, so könnten wir ja gar nicht zu der Idee gelangen,
daß diese kulturnotwendig sei, und hierauf zu
der weiteren Anschauung, daß man nur an ihr messen könne, welche komplizierte Werte welche nicht.
das Menschentum durchschnittlich erhöhen und
Die Kulturnotwendigkeit aller subjektiven Maßstäbe
ist in der That schon mehr eine Interpretation historischer Fakta, kein Urfaktum selbst, aber trotzdem bewegt sich diese Interpretation innerhalb der Grenzen der Anschaulichkeit. an, daß der subjektive Prozeß ein allgemeiner,
universeller sei,
Nimmt man überhaupt
des Mittelbarwerdens aller so
daß er auf einem
Werte
gewissen
Punkte der Entwickelung vom Subjektiven ins Objektive umschlägt, so muß man zu folgendem Resultate gelangen: Von der Wildheit an bis zu der Wende des 19. Jahrhunderts wird die Menschheit immer mittelbarer.
Diese Mittelbarwerdung ist aber notwendig gewesen, da
WaiBEMOEtl«, Marxismus.
13
194
Zehntes Kapitel.
sonst die Menschheit über das Stadium des wilden Menschen der primitiven Nahrungssuche nicht viel weiter gekommen wäre. Der Kampf ums Dasein schuf also direkt oder indirekt alle mittelbaren Werte. Die Frage entsteht nun: Sind alle diese Werte gleich nützlich, sind sie gleich schädlich für die menschliche Entwickelung als objektiver Prozeß gewesen? Um diese Frage ganz zu beantworten, muß man sich folgendes vergegenwärtigen: Schon indem die Horde von der primitiven Nahrungssuche überging zur organisierten Nahrungssuche, beginnt die wirtschaftliche Kultur. Schon von dem Augenblicke an, wo ein großes Epos entsteht, beginnt eine künstlerische Kultur, von dem Augenblicke an, wo ein wenn noch so phantastisches philosophisches System entsteht, beginnt eine philosophische Kultur. Der Inbegriff all dieser Einzelkulturen macht nun die menschliche Zivilisation aus. Wenn man sagt, eine weitere Entwickelung von der primitiven Nahrungssuche an sei notwendig gewesen, so meint man zugleich, Kultur sei notwendig gewesen. Folglich ist die Kulturnotwendigkeit der einzige, der höchste Maßstab aller menschlichen Entwickelung. Nun zeigt uns die Anwendung dieses Maßstabes auf den Prozeß der Mittelbarwerdung der Werte, daß nur solche Werte die menschliche Entwickelung wahrhaft befördert haben, die das Ursprünglich- und Elementar-Menschliche nicht allzusehr einschränkten, oder nur in dem Maße einschränkten, daß eine persönliche Beziehung zwischen dem Individuum und der Kultur zu stände kommen konnte. Mit jedem Mehr beginnt schon das Übel. Die Kulturnotwendigkeit der Werte besteht also eigentlich darin, wenn man derselben einen ganz derben Ausdruck geben möchte, daß sie nachweist, daß der Mensch, um wahrhaft Mensch zu sein, 60 Prozent Ursprünglichkeit und 40 Prozent angewachsene, also Kulturwerte vertragen kann. Bei dem Manne des 19. Jahrhunderts ist das Verhältnis eben umgekehrt und der Prozentsatz unelementarer, antiursprünglicher Seelennuancen nimmt immer mehr zu. Darum habe ich, ohne mich an eine bestimmte Zeit chronologisch binden zu wollen, das Beispiel der Renaissance als vorbildlich genommen. III. könnte man mir vorwerfen, meine Anschauung sei stärker durchsetzt mit teleologischen Annahmen, als irgend eine definitive Geschichtsauffassung. Dies bestreite ich nun aufs allerbestimmteste. Zunächst liegt es j a im Wesen einer provisorischen Geschichtsauffassung, sich des teleologischen Charakters einfach bewußt zu werden. E s wurde schon früher gezeigt, daß die Neomarxisten selbst die
Die soziale Komplikation.
195
materialistische Geschichtsauffassung mit mehr Teleologie ausfüllen möchten. In jeder definitiven Geschichtsphilosophie aber ist das Zweckmoment unberechtigt, es hat sich ohne Legitimationspaß heimlich eingeschlichen. In einer provisorischen Geschichtsauffassung unserer Art muß das Teleologische vorhanden sein. Aber ich bestreite, daß es hier mehr teleologische Momente giebt, wie in einer anderen Geschichtsauffassung. Eigentlich ist nur ein starkes unbestreitbares teleologisches Moment vorhanden: Die Behauptung nämlich, daß es notwendig war, daß die Menschheit sich von der primitiven Nahrungssuche abwendete. Strikt wissenschaftlich läßt sich allerdings eine solche Behauptung niemals beweisen. Dies ist selbstverständlich ein Hineinlegen des Zweckmomentes in die Geschichte, aber man wird wohl zugeben müssen, ein sehr plausibles Zweckmoment. Von da ab deckt sich der geschilderte Gang der Entwickelung durchaus mit der reinen historischen Realität. Auch in der Auffassung des sozialen Komplikationsprozesses als Krankheitszustand steckt eine gewisse, wenn auch viel geringere Teleologie, denn schließlich liegen in sehr vielen Fällen so starke psychologische Aussagen vor, daß die Krankheitsauffassuiig der Komplikationswerte zu einer großen konkreten Wahrscheinlichkeitsangabe wird. Teleologisch ist unsere provisorische Geschichtsauffassung schon, aber um kein Atom mehr oder weniger als die am meisten davon befreiten speziell historischen Auffassungen der Fachwissenschaft und sicherlich viel weniger mit Zweckmäßigkeiten rechnend, als irgend eine definitive Geschichtsphilosophie. Schließlich kann ja eine Geschichtserfassung, die die Möglichkeit einer allgemeinen Kausalität aufs strengste negiert, auch ein prinzipielles Recht auf Teleologie geltend machen. IV. Endlich könnte man mir entgegenhalten: Die Anschaulichkeit der sozialen Komplikation zugegeben, so ist nicht einzusehen, welche Fruchtbarkeit dieser Erfassung historischen Geschehens eigentlich zukommt. Ich habe darauf zu erwidern, daß ich glaube, ein relativ heuristisches Prinzip von großer Bedeutung geschaffen zu haben. Meine soziale Komplikation hat in keiner Weise den Anspruch, die historischen Thatsachen auch nur eines Teiles einer Periode voll und ganz zu beleuchten. Aber dafür kommt sie überall da mit in Frage, muß sie mit herangezogen werden, wo es eine Wandlung innerer Wertschätzungen giebt, und das ist so ziemlich die ganze Geschichte. Denn überall stoßen wir auf die inneren Werte, welche nicht allein dem Individuum eigentümlich, sondern 13*
196
Zehntes Kapitel.
Die soziale Komplikation.
der Gesamtheit gemeinsam sind, welche sich verändern, wachsen und mittelbar werden. Mit der bloßen Konstatierung, daß in einer Periode soziale Komplikation herrsche, ist es natürlich noch nicht gethan. Die Frage entsteht: Welchen Grad hat diese Komplikation erreicht, wie stark ist die Kulturnotwendigkeit der Werte? Steht diese Periode der Renaissance, oder der relativ komplikationslosen Periode, oder dem 19. Jahrhundert in unserem psychologischen allgemeineren Sinne näher? Kurzum, ich glaube, keine bisherige Geschichtsphilosophie hat so viele Beleuchtungsmöglichkeiten, so viele Orientierungswinke für fast alle historischen Zeiten gegeben wie die Komplikation. Das eigentlich Fruchtbare dieses heuristischen Prinzips wird erst in der eigentlichen Soziologie zu Tage treten. Man vergesse dabei nicht, daß es j a im Wesen einer provisorischen Geschichtsauffassung liegt, nicht alles umspannen zu wollen, nicht alles aus einem Grundprinzip und historischen Urfaktum erklären zu wollen. Die soziale Komplikation habe ich als Grundstein, nicht als Endpunkt der Wissenschaft der inneren Wertentwickelung gedacht. E s handelt sich in erster Linie darum, zu untersuchen, ob ihr nicht so und so viele Thatsachen widersprechen. Ihre Fruchtbarkeit liegt j a schon implicite im weit Umfassenden des ganzen Standpunktes. Unser Ausgangspunkt war die Betonung der Notwendigkeit einer provisorischen Geschichtsauffassung. Im Rahmen derselben sollte nun die Erkenntnis des sozialen Komplikationsprozesses als Grundlegung zu einer Disziplin der inneren Wertveränderung der Menschheit dienen. Als solche verzichtet sie selbstverständlich von vornherein, die Totalität aller historischen Erscheinungen ins Auge zu fassen. Aber trotz dieser Verzichtleistung, glaube ich, bietet die soziale Komplikation doch auf jeden Fall eine sehr wichtige Anregung. Sie schlägt nämlich eine Brücke zwischen dem inneren Geschehen des Individuums und den großen historischen Prozessen, und auch einer provisorischen, einer hölzernen Brücke wird man sich so lange bedienen müssen, bis eine eiserne, aus rein kausalen Ketten geschmiedete uns über den gewaltigen Strom des historischen Geschehens aller Zeiten führen wird!
Elftes Kapitel.
Versuch einer psycho!. Theorie, sozialen Geschehens.
197
Elftes Kapitel.
Versuch einer psychologischen Theorie sozialen Geschehens. Unter den modernen Soziologen hat niemand den streng psychologischen Charakter aller Historie so sehr betont, wie G E O R G HIMMEL. Gleich am Anfange seiner „Probleme der Geschichtsphilosophie" behauptet er,1 daß die Theorie des historischen Erkennens durch Vorstellen, Wollen und Fühlen von Persönlichkeiten bestimmt werde. „Alle äußeren Vorgänge", fügt er hinzu, „politische und soziale, wirtschaftliche und religiöse, rechtliche und technische, würden uns weder interessant noch verständlich sein, wenn sie nicht aus Seelen bewegungen hervorgingen und Seelenbewegungen hervorriefen. Soll die Geschichte nicht ein Marionettenspiel sein, so ist sie die Geschichte psychischer Vorgänge, und alle äußeren Ereignisse, die sie schildert, sind nichts als die Brücken zwischen Impulsen und Willensakten einerseits und Gefiihlsreflexen andererseits, die durch jene äußeren Vorgänge ausgelöst werden. Daran ändert auch die materialistische Geschichtsauffassung nichts, die die Bewegungen der Geschichte aus den physiologischen Bedürfnissen der Menschen und ihrem geographischen Milieu ableiten will. Denn zunächst würde aller Hunger niemals die Weltgeschichte in Bewegung setzen, wenn er nicht weh thäte, und aller Kampf um die ökonomischen Güter ist ein Kampf um die Empfindungen der Behaglichkeit und des Genusses, von denen als Zwecken aller äußere Besitz seine Bedeutung entlehnt. Und die Beschaffenheit von Boden und Klima würde für den Lauf der Geschichte so gleichgültig bleiben, wie Boden und Klima des Sirius, wenn sie nicht direkt und indirekt die psychologische Verfassung der Völker beeinflußte. Gäbe es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft, so würde Geschichtswissenschaft in demselben Sinne angewandte Psychologie sein, wie Astronomie angewandte Mathematik ist." Wenn es aber wahr ist, daß die Psychologie in diesem Sinne das Fundament der Geschichte ist, so müßte eine jede Geschichtsauffassung eigentlich mit einer psychologischen Theorie des historischen Geschehens beginnen.
1
Vgl. SIMMEL, a. a. O. S. 1 u. 2.
198
Elftes Kapitel.
Eine solche psychologische Theorie aber wurde nirgends geliefert, weder durch die französische und englische, zumeist biologische Soziologie, weder durch M A B X noch durch die feinsinnigen erkenntnistheoretisch denkenden deutschen Soziologen STAMMLER und SIMMEL. Was bisher stets betont wurde, war nur die Notwendigkeit einer solchen psychologischen Motivation der historischen Begriffskomplexe. Es wurde nur formaliter die Grenze für eine solche psychologische Auffassung der Geschichte bestimmt, die Motivation selbst aber wurde auch in den Grundrissen nicht geschaffen. Doch ist ohne sie auch der Anfang einer heuristischen, erkenntnistheoretischen und hiermit wissenschaftlichen Geschichtserfassung unmöglich. Was hier aber von der Geschichte gesagt wurde, gilt von aller Sozialwissenschaft schlechthin. Hat doch schon in der Nationalökonomie die psychologische, österreichische Schule es mit einer Richtung zu thun, die eine psychologische Motivation volkswirtschaftlicher Phänomene zu geben bereits unternommen hat. Aber selbst die eifrigsten Anhänger der österreichischen Richtung werden wohl zugestehen müssen, daß mit der Erfassung des subjektiven Wertbegriffes und mit der Grenznutzentheorie nur ein kleiner Ausschnitt der sozialen Phänomene und nicht einmal die Totalität wirtschaftlicher Erscheinungen einer psychologischen Fundamentierung und Motivation unterworfen wurde. In allen Sozialwissenschaften, in der Geschichte, in der Statistik, in der theoretischen Nationalökonomie wie in der Agrar- und Sozialpolitik, in der politischen wie in der Kulturgeschichte, in der Litteraturerfassung wie in der Ethnologie, überall und stets handelt es sich doch um menschliche Vorkommnisse, um Begebenheiten, in denen menschliche Triebfedern die größte und entscheidende Rolle spielen. Eine Wissenschaft aber, die vom Wesen dieser menschlichen Triebfedern in ihrer Entwickelung und bunten Manuigfaltigkeit nur die allgemeinen Aussagen machen kann, die auch der gesunde Menschenverstand oft noch treffender macht, muß dem Erkenntnistheoretiker sowohl als dem Methodiker als nicht genügend begründet und gefestigt erscheinen. Einer jeden Sozialwissenschaft thut also vor allem eine Grundmotivation menschlicher Vorgänge, eine psychologische Theorie alles sozialen Geschehens schlechthin not. Man hat sich bis jetzt die Aufstellung einer solchen psychologischen Theorie des sozialen Geschehens selbst in ihren Grundzügen und Grundelementen dadurch versperrt, daß man auch die Tragweite des auf der Oberfläche liegenden inneren Zusammenhanges
Versuch einer psychologischen Theorie sozialen Geschehens.
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aller menschlicher Triebfedern nicht genügend erkannt hat. Alle menschlichen Handlungen treten uns am klarsten und entschiedensten, am greifbarsten in der Form allgemeiner und durchschnittlicher Wertungen entgegen. In diesen Durchschnittswertungen ballen und ordnen sich all die unzähligen Motive menschlichen Handelns wie von selbst in Gruppen zusammen, aus dem Chaos rein menschlicher Begebenheiten krystallisieren sich in der natürlichsten Weise gleichsam die Grundlinien des Menschlichen. Zu diesen Durchschnittswerten muß man nun heruntersteigen, will man mit der allgemeinen Motivation des sozialen Geschehens überhaupt beginnen. Unsere soziale Komplikation erscheint daher nicht nur als ein notwendiges Glied in der Reihe von weiten Gesichtspunkten, mit denen der Geschichtsphilosoph die Teilzusammenhänge des Fachhistorikers ordnet, sondern auch als die Grundlage einer psychologischen Theorie sozialen Geschehens überhaupt. Alle formellen, noch so scharfsinnigen Grenzbestimmungen des psychologischen Elementes innerhalb des historischen helfen uns zu keiner psychologischen Motivation des sozialen Geschehens schlechthin. Die rein erkenntnistheoretische Arbeit kann hier nur den Platz für die künftige Disziplin selbst frei machen, die Grundlagen aber hier zu legen vermag nur eine konkret-psychologische Betrachtung der Dinge. In der sozialen Komplikationstheorie haben wir es mit einer solchen konkret-psychologischen, wenn auch mit teleologischen Momenten durchsetzten Betrachtungsweise der Dinge zu thun. Um dies ganz klar hervortreten zu lassen, möchte ich an meine bisherige Aufstellung über den sozialen Komplikationsprozeß folgende Erwägung anknüpfen. Nicht allein für den Historiker, sondern für jeden sozialen Forscher überhaupt war bis jetzt keine Brücke vorhanden, die vom Individuellen zum Generellen, die von der Psyche des Einzelmenschen zu den Massenerscheinungen der Geschichte fuhrt. Alle vorhandenen psychologischen Theorien innerhalb der verschiedenen sozialen Disziplinen und Einzelwissenschaften vermochten hier auch nicht das Geringste zu leisten. Inwieweit sie richtig und fruchtbringend waren, schoben sie eben einzelne mehr oder minder vernachlässigte Gesichtspunkte in den Vordergrund, und hiermit erschöpfte sich ihre ganze segensreiche Thätigkeit. Wer eben gar nichts von einer psychologischen Fundamentierung der Geschichte wissen will, sieht überhaupt hier kein Problem. Wer aber bekennen muß, daß die ganze Historie ohne die Grundlage psychischer Wahrnehmungsakte über-
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Elftes Kapitel.
haupt nicht existieren würde, für den ist diese Brücke zwischen Individuellem und Generellem eine sehr bange wissenschaftliche Gewissensfrage. Wie kommt es, daß die seelisch so verschieden gearteten Einzelpersönlichkeiten so einförmige, manchmal fast nuancenlose geistige Kollektiverscheinungen abgeben? Woher dieser Einund Zusammenklang, woher dieses seelische Mittönen und Mitvibrieren all der unzähligen Einzelmotive bei den großen Massenvorgängen, woher bildet sich aus den tausend Einzelstimmungen und -handlungen, aus den unzählig verschiedenen Motivationen das soziale Gesamtgetriebe? E s waren nicht viele, die diese Frage überhaupt klar formulierten; diejenigen aber, welche es thaten, konnten auch nicht die leiseste Spur einer Antwort darauf geben. Auf diese bange Frage aber antwortet eben die soziale Komplikationstheorie. Ob ihre Antwort eine vollständige oder gar einwandfreie ist, mag dahingestellt sein, aber sie ist wenigstens eine Antwort; hiermit hört das Ausweichen vor dieser gewaltigen Problemstellung auf. Die soziale Komplikation macht uns in dieser Beziehung dreierlei klar: 1. E s giebt Durchschnittswerte, die allen Menschen einer Periode, selbst den höchsten Genies, gemeinsam sind. Wie verschieden alle anderen Arten von Einzelpsychen auch sein mögen, sie weisen in einer gewissen Beziehung doch gemeinsame Grundzüge auf. 2. Die Gemeinsamkeit dieser seelischen Grundzüge ist eben der Prozeß der Mittelbarwerdung all ihrer seelischen Schätzungen. Da alle Menschen gezwungen sind, über die individuelle Nahrungssuche hinwegzukommen, da sie alle dem Kampfe ums Dasein unterworfen sind, so müssen sie auch alle mittelbare Werte haben. Bei allen macht sich dann aber auch dasselbe Streben geltend, ihre Werte möglichst mit Kulturnotwendigkeit zu erfüllen, und wenn endlich die Dämme dieser stark mittelbaren, aber doch noch harmonischen Wertschätzungen niedergerissen werden, dann beginnt bei allen dasselbe seelische Leiden; das Natürliche verschwindet, das Ursprüngliche geht ganz verloren, das Menschliche droht aufzugehen im nunmehr ganz mittelbar Gewordenen. 3. Sicherlich schließt dieser gesamte gewaltige Wertprozeß persönliches Leben nicht aus. Zunächst kommen die großen Klassennuancierungen der verschiedenen Durchschnittswerte. Anders spiegelt sich der Ehrgeiz im Adel wieder, anders in der Bourgeoisie, anders waltet die Eitelkeit im Kleinbürgertum, anders im Proletariat. Dann kommen die großen, vielleicht noch wichtigeren Rassenunterschiede. Anders ist die Renaissance in unserem weiteren unhistorischen Sinne
Versuch einer psychologischen Theorie sozialen Geschehens.
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in Italien, anders in Athen. Der Seelenzustand der Decadence ist in Frankreich ein anderer als in Deutsehland u. s. w. u. s. w. Zuguterletzt werden nun die Durchschnittswertungen wieder nuanciert durch das Temperament, durch den Grad der Leidenschaftlichkeit, durch die somatischen Bedingungen, durch die logische Kraft und die Stärke des Intellekts und durch die Festigkeit des Willens und die Tendenz zur harmonischen Ausbildung der Einzelpersönlichkeit. Aber von der Ferne, gleichsam aus der Vogelperspektive, erscheinen alle diese an sich gewichtigen Nuancenunterschiede gar winzig. Wir sehen von dieser historischen Rotunde aus nur die Grundlinien. Tausende agieren wie ein Mann, Millionen scheinen nur einen Trieb zu kennen. Wenn wir von dieser historischen Rotunde näher in das eigentliche Getriebe kommen, erblicken wir immer deutlicher auch die Nuancenunterschiede. Wenn wir dann wieder zurückwandeln zum Ruheplätzchen des Beobachters, können wir sie kaum mehr unterscheiden. In den Durchschnittswertungen biegen und brechen sich eben die Einzelmotive ganz anders. Diese Schätzungen sind die realen und wirklichen Fäden, welche das psychische Massengetriebe zusammenhalten. Das geheimnisvolle Wirken, welches Völkerleben und Weltgeschehen aus Tausenden von einzelnen Seelenvorgängen entstehen läßt, beginnt zum ersten Male das Mystische zu verlieren. So kann also die Komplikationstheorie wenigstens in den Grundzügen zeigen, welcher der innere Zusammenhang zwischen den individuellen Vorgängen und welthistorischen Geschehnissen ist. Sie offenbart uns in den Durchschnittswertungen die Brücken, welche vom Individuellen zum Generellen fuhren. Nocli mit einer anderen großen Schwierigkeit hatte bis jetzt alle psychologische Motivation sozialen Geschehens zu kämpfen. Wenn auch des öfteren betont wurde, daß man die Historie psychologisch auffassen müsse, so drohte immer eine solche Auffassung sich ins rein Subjektive, Willkürliche, ich möchte fast sagen Künstlerische zu verflüchtigen. Durch die soziale Komplikationstheorie ist eine Motivation sozialer Ereignisse geschaffen worden, die eben das Objektive mit dem Subjektiven genau so verbindet, wie das Individuelle mit dem Generellen. Sicherlich sind einzelne Momente in der gesamten Komplikationstheorie subjektiv, einer wird gewisse Wertbestimmungen zur Renaissanceperiode in unserem Sinne rechnen, der andere nicht; aber die allgemeine Gestaltung des Mittelbarwerdens aller Schätzungen, die relativ komplikationslose Zeit, die Kulturnotwendigkeit sind so
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Zwölftes Kapitel.
objektiv wie die Natur Vorgänge, wie der Kampf ums Dasein selbst, ohne den ja eine jede soziale Komplikation als Grundthatsache unmöglich ist. Gerade in den Durchschnittswertungen wird ja alles Objektive ins greifbar Soziale, ins objektiv Anschauliche formlich umgegossen.
Zwölftes Kapitel.
Darwinismus, Marxismus und Komplikationsthcoric. K A R L M A R X selbst scheint sich nicht überaus viel mit der Beziehung seiner soziologischen und wirtschaftlichen Lehre zum Darwinismus beschäftigt zu haben. Wenigstens findet man in seinen Schriften und insbesondere im „Kapital" nur sehr selten selbst gelegentliche Äußerungen über diesen Gegenstand. Aber schon F R I E D RICH E N G E L S , der Mitbegründer der materialistischen Geschichtsauffassung, hat sich zum Beispiel in seinem „Anti-Dühring", wo er einmal sogar D A R W I N gegen die scharfen und unangebrachten Angriffe D Ü H R I N G ' S eifrig verteidigt, sehr klar über das Verhältnis der beiden Denkweisen und Lehrmeinungeu ausgesprochen. Die Marxisten haben nun seitdem immer häufiger die Namen M A R X uud D A R W I N in ein gewisses Nebeneinander gebracht, häufig genug den Marxismus als die große sozialwirtschaftliche Entwicklungslehre darzustellen versucht, in welcher die biologische Entwickelungstheorie der Organismen nur eine konsequente Fortsetzung erlebe; man verstieg sich sogar manchmal zu der Behauptung, der Marxismus sei eine bloße Anwendung darwinischer Anschauungsweise. P A U L L A F A R G U E , der Schwiegersohn des K A R L M A R X , hat in einer kleinen Schrift „Le Matérialisme économique" behauptet, daß die darwinische Lehre nur dem Sozialismus zugute kommt. B E B E L hat in seinem bekannten Buche über die Frau sich als warmer Anhänger des großen Naturforschers bekannt, wobei er sich allerdings in der Anwendung darwinischer Lehre auf soziale Dinge einige Blößen gab. K A R L K A U T S K Y versucht es, förmlich das Verhältnis zwischen Marxismus und Darwinismus zu systematisieren. E r behauptet geradezu, M A R X und D A R W I N hätten beide die wissenschaftliche Entwickelung der Dinge in den Begriff des Kampfes aufgelöst, D A R W I N im Kampfe ums Dasein, M A R X im Klassenkampf; der Biologe sowohl als der Sozialphilosoph hätten allgemeine Bewegungs-
Darwinismus, Marxismus und Komplikationstheorio.
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gesetze aufgestellt, und es wäre möglich, sogar wahrscheinlich, diese Beweguügsgesetze der Organismen und der Gesellschaftsvorgänge wiederum auf gemeinsame noch allgemeinere Gesetze zurückzuführen.1 Im Auslande bestrebte man sich noch mehr, den Sozialismus in der spezifisch marxistischen Form mit dem Darwinismus zusammenzukuppeln, und der Italiener F E R R I suchtc sogar das glänzendste Dreigestirn am wissenschaftlichen Himmel, DARWIN, SPENCER, M A R X , gemeinsam zu popularisieren. Dagegen wollen die meisten Naturforscher, des besonderen die Zoologen und Entwickelungstheoretiker, die sich berufsmäßig mit dem Darwinismus beschäftigen müssen, nichts von einer solchen Verknüpfung der Selektionstheorie mit der Lehre des K A R L M A R X wissen. Der einzige englische Naturforscher, der sich noch freundlich zum Sozialismus überhaupt stellt, ist WALLACE. Zwar fallt seine Stimme insofern überaus ins Gewicht, als er wohl der Mitbegründer der Selektionstheorie genannt werden kann. Er ist nämlich ganz unabhängig von DARWIN auf eigenen Wegen zur Anschauung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein gelangt. In einem Aufsatze, den er in der „Zukunft" 2 veröffentlicht hat, erklärt er geradezu, daß die Sieger im Kampfe um das Geld keineswegs die besten und die klügsten sind. Allerdings unterscheidet sich WAI.LAOK insofern von so vielen, ja den meisten Darwinisten, als er die psychischen Triebkräfte nicht rein biologisch erklären will. Dieselben erscheinen ihm vielmehr geradezu als ein Resultat rein sozialer und intellektueller Entwickelung, die durch die Zuchtwahl fast gar nicht beeinflußt wird.3 Der englische Naturforscher H U X L E Y hingegen ist geradezu ein wütender Bekämpfer sozialistischer Anschauungsweise. Die Theorie von der Gleichheit der Menschen ist ihm ein Greuel, das Menschengeschlecht befindet sich stets sowohl in aller historischen Entwickelung wie im Gegenwartsleben im Zustande natürlicher Ungleichheit, und wenn der Sozialismus gegen diese Ungleichheit eifrig polemisiert, so setzt er sich, meint H U X L E Y , in Widerspruch zu aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge. Noch heftiger vielleicht als H U X L E Y protestiert der bedeutendste Vorkämpfer Darwinischer Anschauungsweise in Deutschland, E R N S T H Ä C K E L , gegen die Verbindung des Darwinismus mit dem Marxismus. 1 Vgl. KAHL KAUTSKY, Darwinismus und Marxismus. „Neue Zeit". XIII. Jahrgang. Nr. 23. S. 709. 2 Vgl. „Die Zukunft". 1894. Nr. 93. 3 A. R. WALLACE, „Der Darwinismus", übersetzt von Dr. BBAUNS. 1891,
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Zwölftes Kapitel.
Im Jahre 1877 hatte gelegentlich der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München VIECHOW den Anhängern DARWIN'S ihre enge Fühlung mit dem Sozialismus vorgeworfen. Hiergegen protestiert nun ein J a h r darauf der Jenenser Gelehrte aufs heftigste. „Was in aller Welt", ruft er aus, „hat die Descendenztheorie mit dem Sozialismus zu thun?" 1 Er meint, daß beide Theorien sich wie Feuer und Wasser miteinander vertragen. Die Descendenztheorie beweise nirgends die Gleichheit menschlicher Rechte, sie sei doch im ganzen Grundbestreben darauf gerichtet, die Sonderung und Differenzierung der Arten zu lehren. Die Selektionstheorie vertrage sich nur mit einer Lehre der Ungleichheit der Menschen. Will man schon den Darwinismus auf soziale und politische Dinge anwenden, so müßte vor allem betont werden, daß die Lehre der natürlichen Zuchtwahl eine aristokratische Weltanschauung mit Naturnotwendigkeit bedinge. An HÄCKEL, noch mehr an HuxLEY schließen sich nun alle die Theoretiker an, welche in England und Deutschland mit wahrem Feuereifer die darwinisch sein wollenden Argumente des Sozialismus und Marxismus aufs heftigste bekämpfen. Sie haben sich eine eigene Lehre der „sozialen Auslese" zurecht gemacht, sie wenden blind die Selektionstheorie auf Staat und Wirtschaft an, und einige von ihnen suchen sogar DARWIN mit NIETZSCHE zu verquicken. In Deutschland sind insbesondere AMMON und TILLE als Vertreter dieser Theorie der „sozialen Auslese" bekannt geworden. AMMON mag j a sehr viel Kenntnis in der Anthropologie und Zoologie besitzen, von der sozialen Frage versteht er aber offenbar nichts, sonst hätte er nicht folgenden Satz niedergeschrieben: „Die höher gebildeten, besitzenden Klassen müssen wieder das Bewußtsein bekommen, daß sie eine aus der natürlichen «sozialen Auslese» hervorgegangene Elite sind, und daß sie in ihrem guten Rechte sind, wenn sie den gewordenen Gesellschaftszustand gegen theoretische und, wenn nötig, auch gegen gewaltsame Umsturzversuche verteidigen." 2 Daß unsere höhere Bourgeoisie Elite der Menschheit ist, wird sie wohl selbst nicht glauben. Die Identifikation von Bildung und Besitz, diese überaus große Wertschätzung dieses mittelbarsten Komplikationswertes des Erwerbssinnes, wie sie uns aus diesen Zeilen entgegentritt, muß von unserem Standpunkte aus geradezu wie ein
1
Vgl. E K N S T H Ä C K E L , Freie Wissenschaft und freie Lehre. 1 8 7 8 . Vgl. O T T O A M M O N , „Der Darwinismus gegen die Sozialdemokratie". Anthropologische Plauderei. Hamburg 1891. 2
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Darwinismus, Marxismus und Komplikationstheorie.
Satirspiel auf das erhabene Schauspiel, wie dies eine wirklich auserlesene Menschengesellschaft darstellt, aufgefaßt werden. Daß trotz alledem und alledem in AMMON'S Lehre ein berechtigter Kern liegt, kann j a nicht geleugnet werden. Eine Differenzierung, eine natürliche Antigleichheit wird in der That durch die Selektionstheorie bedingt, aber, und dies muß vor allem betont werden, die soziale Bedeutung und objektive Wertung dieser Differenzierung ist eine ganz andere und sie führt auf jeden Fall nicht zu einer blinden Apologetik der höheren Bourgeoisie, die uns AMMON und bis zu einem gewissen Punkte auch TILLE lehren möchte. Vor allem aber ist, wie unsere Komplikationstheorie lehrt, der höhere Bourgeois weit entfernt davon, somatisch und insbesondere psychisch ein starkes, instinktsicheres Wesen zu sein. Unsere ganze Komplikationstheorie ist in der spezifischen Anwendung auf das 19. Jahrhundert j a zum großen Teil nur die seelische Krankheitsgeschichte der Menschen und in derselben spielt der Bourgeois die bedeutendste Rolle. Erst durch die psychische Analyse der höheren Bourgeoisie wird wirklich die soziale Kritik dieser Klasse von Menschen erschöpft, die eine rein ökonomische Analyse eben nur zum Teil aufdecken könnte. Mit Recht hat daher gegen diese Anschauung AMMON'S K A R L
JENTSCH
sich
gewandt,
der
überhaupt
alle
Aus-
schreitungen des Darwinismus, all die soziale Begriffsverwilderung der Anhänger der „sozialen Auslese" treffend schildert. Seine Schrift, die mir in einem wichtigen Punkte WEISMANN gegenüber Unrecht zu haben scheint, liest sich überhaupt stellenweise wie eine köstliche Satire auf alle die Verkehrtheiten und Ungereimtheiten der Schule, die alle sozialen Begriffe in ein Meer biologischer Bestimmungen ertränken möchte.1 Die Marxisten sowohl als die Anhänger der „sozialen Auslese" scheinen mir in einem verhängnisvollen Irrtume befangen zu sein. Beide Richtungen glauben nämlich, daß man so ohne weiteres den Darwinismus auf die Socialwissenschaft anwenden könne. Hier liegt eben der prinzipielle Fehler. B i o l o g i e und S o z i o l o g i e sind durch eine u n ü b e r b r ü c k b a r e K l u f t voneinander getrennt. Worin besteht nun diese Kluft? Die Biologie hat es nicht, wie etwa die Physik, mit strengen Gesetzen zu thun, als deren wesentlichstes Merkmal wir früher die mathematische Formulierbarkeit und die allgemeine Gültigkeit aufzeigten. Aber immerhin ist doch auch in 1
Vgl. KABL JENTSCH, „Sozialauslese".
Kritische Glossen.
Leipzig 1898.
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Zwölftes Kapitel.
der Biologie eine Annäherung an das gesetzesmäßige Erfassen wenigstens in gewissen Gebieten nach dem Stande der einzelnen wissenschaftlichen Resultate schon heutzutage möglich. Für die Sozialwissenschaft existiert nirgends eine solche Möglichkeit. Außer diesem mehr methodischen Unterschiede giebt es noch einen anderen, der freilich nicht so sehr in die Augen springt. Die Entwickelung der Organismen ist, insofern sie rein empirisch aufgestellt wird, ebenso wie der Prozeß der Oxydation, wie die Polarisation, der Magnetismus u. s. w. u. s. w. ein äußerer Naturvorgang. Ob es sich um lebende oder nicht lebende Wesen handelt, ob es sich um Pflanzen oder Tiere, ob es sich um die Zellen oder die Zusammensetzung der Zellen handelt, ist ganz gleichgültig, immer sind es für uns Menschen doch nur äußere Naturvorgänge, die den Gegenstand wissenschaftlicher Vertiefung bilden. Das Psychische ist nirgends das selbstverständliche Substrat der wissenschaftlichen Untersuchungsweise. Ganz anders bei den einfachsten, niedrigsten sozialen Vorgängen. Hier ist das Psychische bereits im vollen Maße das selbstverständliche Substrat der Untersuchung. Wir kommen in aller Sozialwissenschaft nie und nimmer von der Notwendigkeit psychologischer Motivation los, deren wir in der Biologie nur bei gewissen Grenzgebieten als ein reines Analogieverfahren bedürfen. Solange es nicht gelingen wird, das Bewußtsein zu eliminieren, solange es nicht möglich sein wird, alle und jede Erkenntnistheorie einfach hinwegzudisputieren, und solange man nicht alle Psychologie aus der Geschichte gewaltsam wird entfernen können, solange werden wir auch mit der psychologischen Fundamentierung als Basis der wissenschaftlichen Untersuchung in sozialen Dingen operieren müssen. Die Unmöglichkeit einer größeren Annäherung an das rein Gesetzmäßige, die psychische Motivation, bedingen einen Wesensunterschied der Sozialwissenschaft von aller Biologie. Es ist möglich, daß in einer entfernten Zukunft sich dieser Wesensunterschied zu einer quantitativen Differenz verflüchtigen wird, aber wir können und dürfen damit nicht rechnen, für uns ist daher jede blinde Anwendung darwinischer Grundsätze auf soziale Dinge ohne eine vorhergehende, methodologische Untersuchung unmöglich und muß als ein im höchsten Maße unwissenschaftliches Unterfangen von vornherein abgewiesen werden. Daraus folgt aber keineswegs, daß der Darwinismus nicht doch gewisse fruchtbare Anwendungen auch in der Sozialwissenschaft haben könne. Nur muß man erstens bei dieser Anwendung die
Darwinismus, Marxismus und Komplikationstheorie.
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große intellektuelle Behutsamkeit nicht außer acht lassen, und andererseits sich klar vor Augen halten, daß eine jede solche Anwendung nur einen hypothetischen Charakter besitzt. Aber selbst mit diesen Einschränkungen allein ist es noch nicht gethan, man muß sich vor allem klar darüber sein, daß es sich in allen diesen Anwendungen um eine Übertragung eines biologischen Prinzips auf kompliziertere und vor allem psychologischere Erscheinungen handle, durch welche Übertragung eben dieses Prinzip zum größeren Teile des rein biologischen Charakters entkleidet wird. Der ganze Kampf ums Dasein entstammt j a der Übertragung aus dem Sozialwissenschaftlichen ins Biologische. Denn wie männiglich bekannt, schöpfte j a eingestandenermaßen DARWIN die erste Anregung zur Selektionstheorie aus der Lektüre der Schrift von MALTHUS. Trotzdem aber hat dieser Begriff durch seine Übertragung ins Biologische auch die der wissenschaftlichen Betrachtung adäquate üinbiegung erlitten. Es ist DARWIN gar nicht eingefallen, den rein sozialwissenschaftlichen Charakter des entlehnten Begriffes zu behalten, er kam gar nicht auf den Gedanken, malthusianistische Biologie zu treiben. So müssen wir es jetzt auch mit dem Darwinismus halten. Wir müssen nicht allein mit Vorsicht den Begriff der natürlichen Auslese anwenden, sondern wir wollen auch da, wo wir ihn anwenden, ihn spezifisch sozialwissenschaftlich umbiegen. Diesen Wesensunterschied zwischen Biologie und Soziologie nicht -einzusehen, war der gemeinsame Grundfehler der meisten Theoretiker und Schriftsteller, die über dieses Thema schrieben. Dieser Mangel an intellektueller Behutsamkeit verführte einen so genialen, weit umfassenden Mann, wie HÄCKEL, ZU seiner Polemik gegen den Sozialismus. Dieser Mangel verursachte ferner bei den Marxisten eine Überschätzung, eine Verkennung des Unterschiedes zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem menschlichen Kampfe ums Dasein, obwohl selbst KAUTZKY erklärt, daß zwischen dem Kampfe ums Dasein der tierischen Organismen und der wirtschaftlichen Konkurrenz eine klaffende Wand sich erhebt. Derselbe Mangel hat HUXLEY und AMMON ZU ihrer ganz einseitigen Auffassung geführt. Wer den Darwinismus vorsichtig tastend auf soziale Dinge wieder anwenden will, muß sich vor allem vor diesem Grundgebrechen hüten. Es bedarf dieser intellektuellen Behutsamkeit um so mehr, als der Darwinismus auf rein biologischem Gebiete nicht mehr so einwandfrei dasteht, wie etwa vor zwei Dezennien, wo er, insbesondere getragen vom Enthusiasmus der jungen, biologischen Wissenschaft, und
Zwölftes Kapitel.
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unter dem bezaubernden Wirken HÄCKEL'S vielen als absolut letztes Wort der Wissenschaft galt. Die Selektionstheorie vernachlässigt bekanntlich die Erklärungsmomente der früheren Anhänger der naturwissenschaftlichen Entwickelung, so insbesondere das Moment vom Gebrauch oder Nichtgebrauch verschiedener körperlicher Organe. DARWIN glaubte, in der Selektion oder Naturzüchtung ein Erklärungsprinzip von fast ausschlaggebender Bedeutung gefunden zu haben. Hierunter verstand aber DARWIN auch, daß sich die zufälligen Abweichungen der Kinder von den Eltern weiter vererben, daß aber nur diejenigen Abweichungen sich im Kampfe ums Dasein erhalten, welche zweckmäßig genug erscheinen, diesen Kampf auch zu bestehen. Vererben sich nun aber thatsächlich auch die zufälligen Abweichungen, alle erworbenen Eigenschaften? Dies wird von namhaften Forschern aufs energischeste bestritten, und es scheint in der That, daß sich die zufälligen Abweichungen, die erworbenen Eigenschaften wenigstens in vielen Fällen nicht vererben. Hierzu kommt noch, daß die Selektion auch die Entwickelungsveränderung der Arten nur bis zu einem gewissen Punkte zurückverfolgen kann. Die Giraffe braucht ihren langen Hals, der Polarbär seinen dichten Pelz, die Raubtiere ihre außergewöhnliche Stärke, um im Kampfe ums Dasein vorwärts zu kommen. Die stetige Erhöhung und Verfeinerung besonderer körperlicher Eigenschaften erscheint demgemäß hier notwendig. Aber bei den niederen Organismen springt ein solcher Vorteil der höheren, körperlichen Organisation durchaus nicht in die Augen. DARWIN selbst hat schon einmal gefragt: „Was würde zum Beispiel ein Infusorium oder Eingeweidewurm für einen Vorteil davon haben, wenn sie hoch organisiert wären?" Wir stehen hier, bei Lichte besehen, vor lauter Rätseln, vor lauter neuen Schwierigkeiten. E s darf uns daher nicht Wunder nehmen, wenn neuerdings wieder bedeutende Fachgelehrte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und den ganzen Darwinismus ohne weiteres verwerfen. So sagt z. B . ein jüngerer Zoologe, der sich durch biologische Arbeiten einen gewissen Namen erworben hat, DRIESCH, folgendes über den Darwinismus: „Der Darwinismus gehört der Geschichte an, wie das andere Kuriosum des Jahrhunderts, die HEGEL'sche Philosophie; beide sind Variationen über das Thema: «Wie man eine ganze Generation an der Nase führt», und nicht gerade geeignet, unser scheidendes Säkulum in den Augen späterer Geschlechter besonders zu heben." 1 1
Vgl. H. DBIESCH, „Biologisches Zentralblatt".
1896.
S. 355 Anmerk.
D a r w i n i s m u s , Marxismus u n d K o m p l i k a t i o n s t h e o r i e .
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Der Ausspruch ist stark und so heftige Gegner dürfte D A R W I N unter den jüngeren Biologen nicht viele zählen. Doch sind diese Worte von symptomatischer Bedeutung; sie wären vor den W E I S M A N N schen Untersuchungen, vor dem Aufleben des Neo-Lamarckismus unmöglich gewesen. Die Selektionstheorie D A R W I N ' S ist natürlich nicht identisch mit der biologischen Entwicklungslehre überhaupt, mit dem Transformismus der Organismen. LAMARCK hatte schon lange vor D A R W I N im Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen C U V I E R ' S , der an eine starre Unveränderlichkeit der Arten glaubte, die Veränderung der tierischen Organismen gelehrt. L A M A R C K glaubte auf jeden Fall fast an die Abstammung der jetzt lebenden Arten von früheren. Gleich H Ä C K E L suchte er schon nach einigen wenigen Urformen, auf die sich die Vielgestaltigkeit der Pflanzen und Tiere zurückführen ließ. Aber LAMARCK war nicht allein von der Urzeuguug durchdrungen, sondern er erklärte ausschließlich die Veränderung der Arten dadurch, daß die Tiere durch Übung, durch ein stärkeres Gebrauchen der verschiedenen Organe gewisse Eigenschaften erwerben, die ihre Eltern nicht besitzen, und daß sie dann diese erworbenen Eigenschaften auf ihre weiteren Nachkommen übertragen. D A R W I N setzte bekanntlich an Stelle dieses Erklärungsmomentes eben das Selektionsprinzip. In der jüngsten Zeit greift man vielfach auf LAMARCK zurück. Indes hatte die frühere naturwissenschaftliche Richtung nicht allein in Zoologie und Botanik, sondern auch in Geologie und Paläontologie eine möglichst große Antipathie gegen den Entwickeluugsbegriff. Alle Umwälzungen der Erde wurden durch einmalige Katastrophen erklärt, und auch in der Geologie wurde mit größter Strenge auch nur der leiseste Gedanke einer allmählichen, nicht katastrophenartigen Veränderung als Ketzerei betrachtet. Doch gerade hier findet auch zuerst die Reaktion statt. L Y E L L ' S epochemachende Untersuchungen revolutionierten die Geologie, die Katastrophentheorie wurde ein für allemal fallen gelassen. Diese Entwickelung der Dinge mußte langsam und allmählich auch auf die anderen Naturwissenschaften einwirken. Es ist genugsam bekannt, daß L Y E L L ' S Untersuchungen auf D A R W I N befruchtend einwirkten. Wie man auch den Darwinismus beurteilen mag, auf jeden Fall ist selbst durch das einseitige Selektionsprinzip der Transformismus der Arten zu vollständigem Durchbruche gelangt. Ob man darwinistisch denkt oder nicht, entwickelungshistorisch muß man in der Biologie denken. Überprüft man die allgemeine Entwickelungsgeschichte der WEISENGRÜN , Marxismus.
14
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Zwölftes Kapitel.
Biologie, so tauchen stets folgende Erklärungsprinzipien für die Veränderung der Arten immer wieder auf: Allgemeine Anpassung, äußere Einwirkung des Milieu, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe, natürliche Zuchtwahl und endlich Vererbung. Nun mag es hier streitig sein, ob unter diesen Erklärungsmomenten dem Selektionsprinzip der Vorrang zuerteilt werden muß. Man kann es auf jeden Fall hypothetisch zugeben, daß die natürliche Züchtung nur ein parallel gehendes, nicht ein alles beherrschendes Entwickelungsmoment in der Erklärung der Veränderung tierischer Organismen darstellt. Man kann ebenfalls als hypothetisch ferner annehmen, daß die Übung der Organe wieder berufen sein dürfte, eine große Rolle zu spielen. Aber sicherlich verstößt es nicht gegen die methodische Behutsamkeit, wenn man zunächst provisorisch den Darwinismus darauf reduziert, daß er für gewisse, bedeutsame Veränderungen der Arten eine Erklärung durch das Zusammenwirken der beiden Faktoren, der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung, gefunden hat. Suchen wir nun einen derart reduzierten Darwinismus auf die sozialwissenschaftliche Begriffswelt anzuwenden. Was den Marxismus betrifft, so kann von seinen einzelnen Lehren nur die materialistische Geschichtsauffassung in irgend eine Beziehung zum Darwinismus gebracht werden. Die übrigen Bestandteile unseres Systems sind zu spezifisch sozial wissenschaftlich, oder zu wirtschaftlich gehalten, um mit einem so allgemeinen Prinzipe überhaupt in ein Verhältnis gesetzt zu werden. Nun, wir haben gesehen, daß die materialistische Geschichtsauffassung entweder falsch ist oder auf das triviale Hungerprinzip in der Geschichte reduziert werden muß. Wäre selbst die materialistische Geschichtsauffassung als eine Soziologie des Produktionsmechanismus vollauf begründet, so hätte die Anwendung des Prinzips des Kampfes ums Dasein selbst in beschränkter Form auf diese Lehre mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Selbstverständlich aber ist es, daß das rein zoologische, triviale Hungerprinzip in der Geschichte mit dem darwinischen Kampfe ums Dasein in eine natürliche und organische Beziehung gebracht werden kann. Ist. ja schon das ganze Prinzip von vornherein biologischer Natur, ist doch diese Art von zoologischer Geschichtsauffassung j a an sich gar nicht mehr spezifisch soziologisch oder historisch. Aber auch die Komplikationstheorie, welche kein spezifisch naturwissenschaftliches, der sozialwissenschaftlichen Bedingtheit entkleidetes Prinzip ist, kann mit einem relativen Darwinismus in eine organische Beziehung gebracht werden.
Darwinismus, Marxismus und Komplikationstheorie.
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Wie wir früher gesehen haben, entsteht zum Beispiel der Ehrgeiz in folgender Weise: Der primitive Stamm, der wenigstens sowohl die Anfänge der Phantasie, als auch den Beginn einer künstlerischen und wirtschaftlichen Kultur kennt, ist gezwungen, um nicht zu Grunde zu gehen, seinen verschiedenen Gegnern stets mit den Waffen in der Hand entgegenzutreten. Dadurch aber lernen insbesondere die Stammesoberhäupter zuerst den Krieg als eine Notwendigkeit schätzen, dann die Beschäftigung mit dem primitiven Waffenhandwerk überhaupt an sich. Die Auszeichnung der einzelnen, welche am Anfange fast übersehen wurde, wird immer mehr geschätzt, bald wird diese Schätzung selbst an sich ohne weitere Notwendigkeit zum Selbstzweck. Hierauf werden diese Selbstzwecke auf der natürlichsten Weise der Welt zu Selbstwerten, der Ehrgeiz als selbständiger und selbstherrlicher Maßstab beginnt zu blühen. Nicht allein die Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein wird hiermit in Betracht gezogen, sondern auch die Vererbung, allerdings in ihrer allgemeinsten Form. Was hier vom Ehrgeize gilt, gilt selbstverständlich von der ganzen Entwickelungsreihe der inneren Wertschätzungen. Der Kampf ums Dasein steht an ihrer Wiege. Hiermit sehen wir also, wie in behutsamer Anwendung ein relativer Darwinismus, der sicherlich vorhanden ist, auch auf die Soziologie angewendet werden kann. Wir wissen noch nicht, ob alle Arten sich nur durch das eine Moment der natürlichen Zuchtwahl entwickelt haben; es ist uns noch lange nicht klar, welche Vorgänge bei der Entfaltung der niederen Organismen mitgewirkt haben. Aber daß unter anderen Faktoren auch das Selektionsprinzip insbesondere das Zustandekommen der Entwickelung höherer Organismen bewirkt, kann als sicher angenommen werden. Größere Schwierigkeiten bereitet uns das Vererbungsprinzip, und wir können nicht umhin, zu erßlären, daß wir uns des hypothetischen, ja fast sogar gezwungenen Charakters dieses Erklärungsmomentes vollauf bewußt sein müssen. Der Ehrgeiz war zuerst eine Abweichung. Vererben sich überhaupt solche zunächst relativ kleine Abweichungen? Wir wissen nichts darüber. Trotzdem aber haben wir dieses Moment mit in Berücksichtigung gezogen, da doch für unsere Zwecke das rein biologische Zustandekommen der Komplikation schließlich nur von nebensächlicher Bedeutung ist. Die Hauptsache ist, daß einer oder die anderen Durchschnittswerte sich in der Menschheit in allmählicher Entwickelung durchgesetzt haben, die Hauptsache für die Soziologie ist der Nachweis, aus welchen anderen Durchschnittswerten sie sich 14*
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Zwölftes Kapitel. Darwinismus, Marxismus u. Komplikationsthcoric.
entwickelt haben und wie sie sich aus denselben zum großen Teile ungezwungen ableiten lassen. In der Biologie, wie in der Soziologie ist ja nicht allein der Kampf ums Dasein, sondern auch die Vererbung entschieden vorhanden. Welche Eigenschaften vererbt werden und welche nicht, wie die Vererbung überhaupt zu stände kommt, das alles geht schließlich den Soziologen ja gar nichts an. Im übrigen, selbst wenn wir hier gar keine Vererbung beim Prozeß dos Werdens menschlicher Durchschnittsmaßstäbe annehmen, so könnten wir doch auch durch andere, wenn wir dies durchaus wollen, rein biologische Faktoren, z. B. Einwirkung des äußeren Milieus u. s. w. die Komplikationstheorie erklären. Auf jeden Fall, soweit der Darwinismus überhaupt ein plausibles Erklärungsprinzip ist, kann er in ungezwungener Weise auf die Entwickelung der Durchschnittswerte angewendet werden. Insbesondere der Kampf ums Dasein, welcher aus der Sozialwissenschaft stammt, kehrt auf biologischem Umwege hier wieder in die Sozialwissenschaft zurück. Die Komplikationstheorie scheint mir, wenn mich nicht alles täuscht, die erste große Anwendung eines behutsamen Darwinismus auf die Soziologie zu sein.
Zweiter Teil.
Kritik des ökonomischen Marxismus. Erstes Kapitel.
Der (xrundcharakter des „Kapital".
M
it dem soziologischen Marxismus und der hauptsächlich von demselben aufgebauten Lehre der materialistischen Geschichtsauffassung sind wir fertig. Unsere negative sowohl als positive Kritik mußte so ausführlich ausfallen, weil der ökonomische Materialismus uns die ganze Weltanschauung und Methode des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus offenbart hat. Gerade diese Ausführlichkeit befähigt uns jetzt dazu, bei der Kritik des „ökonomischen Marxismus" viel kürzer zu verweilen. Im Gegensatze zum soziologischen ist der ökonomische Marxismus in ein System und sogar in ein glänzendes System gebracht worden. Die wenigen logischen Sprünge und Risse, die dieser gewaltige Bau, welcher im höchsten Maße dazu angethan ist, auch den raffinierten Bedürfnissen nach einer Ästhetik im Gedanklichen zu genügen, aufweist, können und dürfen nicht in Betracht kommen. Das System als solches muß jedem, der sich bei aller gerechten Kritik von kleinlicher Nörgelei frei weiß, geradezu imponieren. Die Wucht der Problemstellung, die streng architektonische Gliederung des Ganzen, die Art, wie das deskriptive Material inmitten der abstrakten Darstellungen verwebt worden ist, die Schärfe der Argumentation, ja selbst, was den ersten Band betrifft, die Komposition im Detail, sie stehen iu der sozialwissenschaftlichen Litteratur einzig da. Bei einem System muß man in erster Linie nach der Tiefe der Problemstellung und nach den architektonischen Schönheiten im gedanklichen Aufbau fragen. Ein System kauu grundfalsch, unwissen-
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Erstes Kapitel.
schaftlich, unmodern im wahren Sinne des Wortes, von einer nebelhaften Weltanschauung angehaucht, von einer unvollkommenen Methodik gestützt sein, und wir müssen dasselbe doch hoch schätzen, wenn es nur die beiden Bedingungen erfüllt, die wir früher aufzählten. Geistiges Wollen sowohl als die Zubereitung der Gedanken sind keine nebensächlichen Faktoren bei der Beurteilung eines Systems. Dies muß um so mehr betont werden, als neuerdings selbst bedeutende Männer diese Vorzüge des „Kapital" nicht einsehen wollen. So scheint auch B Ö H M - B A W E R C K 1 der Ansicht zu sein, daß diese formalen Vorzüge von K A R L M A R X nicht schwer ins Gewicht fallen. Selbst die Klarheit seiner dialektischen Argumentationen wird durchaus bestritten, doch, wie ich glaube, mit Unrecht. M A R X ist, inwieweit es der Stoff erlaubt, klar (allerdings bis auf das Problem der Durchschnitts-Prolitrate), fast überall scharfsinnig, und im ersten Bande bietet seine so abstrakte Themata berührende Darstellung manchmal sogar direkt stilistische Schönheiten. Die meisten Fehler der Form und der Architektonik sind eben nur scheinbar. Alle Gebrechen des ökonomischen Marxismus fließen, wie eben bewiesen werden soll, aus der Enge der Weltanschauung, aus der „antierkenntnistheoretischen" Auffassung und was damit zusammenhängt, und der einseitigen und zum Teile ganz unbrauchbaren Methodik, Gerade weil ich die Vorzüge des „Kapital" als „reines System" so sehr schätze, möchte ich hier, bevor ich den Beweis antrete, daß auch an allen Fehlern und Einseitigkeiten der rein wirtschaftlichen Analysen des K A R L M A R X die antierkenntnistheoretische Grundmotivation schuld ist, einige Grundmerkmale, die dies interessante Werk von anderen sozialwissenschaftlichen Systemen trennt und unterscheidet, anfuhren. 1. Die L e h r e von K A R L M A R X , wie sie im „ K a p i t a l " zur D a r s t e l l u n g g e k o m m e n i s t , ist e i g e n t l i c h ein s e l t s a m e s Doppelsystem. Seltsam dadurch, daß einer der beiden Grundfaktoren des Systems mit Bewußtsein nur in eine l a t e n t e Form gebracht wurde. Man glaubt nämlich vielfach, das „Kapital" enthalte nur rein wirtschaftliche Gesichtspunkte. Diese Ansicht ist nun keineswegs richtig. Nur durch die Form der Darstellung bedingt tritt der soziologische Charakter der marxischen Lehre im „Kapital" zurück. In Wirklichkeit schwebte es M A R X vor, die Nationalöko1 Vgl. Prof. Dr. E. v. BÖHM-BAWERCK, „Zum Abschluß.des MAEx'schen Systems", in „Festgaben für KABL KNIES". Berlin 1896. S. 87.
Der Grundcliarakter des „Kapital".
215
nomie zu erweitern, sie gänzlich loszulösen von der bloßen Wissenschaft des Reichtums der Güter, die sie in der klassischen englischen Periode war. Man vergesse nicht, das System ist keineswegs als vollendet zu betrachten. E s war leider MARX nicht vergönnt, alle seine Absichten auszuführen, und die Vermutung ist mehr als wahrscheinlich, daß er besonders im dritten Bande bei der Darstellung des Gesamtprozesses des Kapitals sozialphilosophischen Gesichtspunkten auch äußerlich in ganz anderer Weise Raum gegeben hätte. Der latente Charakter der sozialphilosophischen Anschauungsweise im „Kapital" ist nicht zum kleinsten Teile verursacht worden durch den unvollständigen Charakter des ganzen Werkes. Trotzdem aber ist noch Soziologie genug im „Kapital" vorhanden und ich möchte durch eine Reihe von Citaten beweisen, daß es wenigstens die Absicht von MARX war, mitten in rein wirtschaftliche Analysen weitere und allgemeinere sozialphilosophische Gesichtspunkte hineinzutragen und so in einem gewissen Sinne die Forderung des Engländers INGRAM und anderer Nationalökonomen zu verwirklichen, die gar zu gern die Volkswirtschaftslehre in eine weitere und umfassendere Disziplin aller sozialwissenschaftlichen Probleme umgebildet hätten. Gleich der erste Band ist besonders reich an soziologischen Bemerkungen. Im dritten Kapitel „Das Geld oder die Waren-Cirkulation": 1 „Der Klassenkampf der antiken Welt zum Beispiel bewegt sich hauptsächlich in der Form eines Kampfes zwischen Gläubiger und Schuldner und endet in Rom mit dem Untergang des plebejischen Schuldners, der durch den Sklaven ersetzt wird. Im Mittelalter endet der Kampf mit dem Untergang des feudalen Schuldners, der seine politische Macht mit ihrer ökonomischen Basis einbüßt. Indessen spiegelt die Geldform — und das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner besitzt die Form eines Geldverhältnisses — hier nur den Antagonismus tiefer liegender ökonomischer Lebensbedingungen wieder." Dann S. 1 4 0 : „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur" u. s. w. Die Anmerkung auf Seite 1 5 9 — 1 6 0 gehört hierher. S. 3 2 1 heißt es: „Wenn die Anarchie der gesellschaftlichen und die Despotie der manufakturmäßigen Arbeitsteilung einander in der Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise bedingen, bieten dagegen frühere Gesellschaftsformen, worin die Besonderung der Gewerbe sich naturwüchsig entwickelt, dann krystallisiert und endlich gesetzlich befestigt hat, einerseits das Bild einer plan- und autori1
Vgl. „Das Kapital".
4. Aufl. Hamburg 1890. I. Band. S. 99,
Erstes Kapitel.
216
tätsmäßigen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, während sie andererseits die Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt ganz ausschließen." Ebenfalls im ersten Bande befindet sich ein Satz, der sehr bekannt ist und sehr häufig herbeigezogen worden ist, um als Belegstelle für die Art und Weise, wie sich K A R L M A R X seine materialistische Geschichtsauffassung gedacht hat, zu dienen. Er lautet: „Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen." Das ist bereits direkte Soziologie inmitten nationalökonomischer Betrachtung. Aber auch der dritte Band, der ja viel abstrakter ist, viel weniger Schilderungen enthält, ist nicht ganz arm an sozialphilosophischen Bemerkungen. So spricht M A R X z. B. sehr interessant in einer Analyse über die Revenuen über Freiheit und Notwendigkeit. Sicherlich doch ein rein soziolgisches Thema. „Das Reich der Freiheit", heißt es dort, 1 „beginnt in der That erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört, es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wille mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwickelung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiete kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwickelung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann." Der ganze dritte Band kulminiert sogar in einer halb soziologischen Analyse über die Klassen. Das Schlußkapitel des Bandes, 1
Vgl. III. Bd., 2. Teil. Hamburg 1894. S. 355.
Der Grundcharakter des „Kapital".
217
wo leider das Manuskript abbricht, wirft z. B. folgendes allgemein sozialphilosophisches Problem auf. „Die nächst zu beantwortende Frage ist die: Was bildet eine Klasse? und zwar ergiebt sich dies von selbst aus der Beantwortung der anderen Frage: Was macht Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftlichen Klassen?" Es war sicherlich die Absicht vou MARX, uns hier erst von seinem Standpunkte aus eine Brücke vou der Nationalökonomie zur Soziologie zu schlagen. 2. D a s „ K a p i t a l " z e i c h n e t s i c h d u r c h e i n e n s t r e n g e n a n t i p s y c h o l o g i s c h e n O b j e k t i v i s m u s a u s . Es giebt kein nationalökonomisches System, das so sehr bestrebt ist, in einem mechanischen, vollkommen unpsychologischen Objektivismus zu beharren. Daher die Geradlinigkeit, das gekünstelt und konstruiert Einfache der Probleme. Nur überaus selten wird man dem komplexen Charakter sozialwissenschaftlicher Aufgaben und Methoden gerecht. MARX schließt schon in seiner Wertlehre förmlich mit ängstlicher Konsequenz alles Psychologische aus, und so bleibt es im ganzen System. Daher hat sich der Marxismus von der Lehre der klassischen Nationalökonomie, von dem steten unpsychologischen Betonen des „Eigennutzes" als einziger geistiger Triebfeder des Menschen nicht freimachen können. Daher hat MARX die Entwickelungsbedingungen des modernen Kapitalismus, vor allem aber den Weltgang der neueren Industrie einfach schief gezeichnet. Der einseitige und unpsychologische Objektivismus erlaubte es ihm gar nicht, alle die Umbiegungen und Brechungen des wirtschaftlichen Prozesses zu sehen, ja er übersah förmlich Abweichungen und ökonomische Verästelungen von großer sozialer Bedeutung und Wirksamkeit. Nichts ist hierfür so charakteristisch wie eine Note im dritten Bande des „Kapital", wo ENGELS ganz im Geiste von MARX über die chronische Krisis spricht. Zwar muß ENGELS zugeben, daß die akute Form der Krankheit verschwunden sei, und trotzdem er wohl einsieht, daß in den verschiedenen Industrieländern eine absolute Zunahme in der Verschlimmerung der wirtschaftlichen Zustände nirgends erfolgt, so meint er doch, daß wir stärkere Krisen bekommen werden, die die periodischen 10jährigen Cyklen an Vehemenz weit übertreffen müssen, j a , nach ihm scheint sogar die Dauerkrisis bald anfangen zu wollen. 1 Alle Schwächen des rein ökonomischen Marxismus offenbaren sich uns schon hier. 1
Vgl. III. Bd., 2. Teil. S. 27 Anmerkung.
218
Erstes Kapitel.
Der Grundcharakter des „Kapital".
3. C h a r a k t e r i s t i s c h f ü r d a s „ K a p i t a l " i s t das a b s t r a k t e n t w i c k e l u n g s h i s t o r i s c h e Moment. Verbietet es einerseits die von HEGEL übernommene und zum Teil wesentlich modifizierte dialektische Methode KARL MARX', auch reale und realistische Entwickelungsgeschichte zu treiben, so zwingt ihn andererseits gerade dieselbe dialektische Methode dazu, die starren Kategorien der früheren Nationalökonomen durch eine Betonung ihres Werdeprozesses neu zu beleben. Zwar behält auch er, wie wir noch sehen werden, die Kategorien der früheren und besonders klassischen Nationalökonomie bei. Auch er beginnt mit dem abstrakten Begriffe. Aber er modifiziert doch wesentlich die starre Auffassung dieser Kategorien dadurch, daß er sie überall nach Thunlichkeit auf ihre historischen Bedingungen zurückzuführen sucht. Wie sehr der falsche Objektivismus und der dadurch bedingte Mechanismus dem wirtschaftlichen System geschadet hat, so sehr hat ihm der entwickelungshistorische Wesenszug genützt. Unzählige Sympathien hat sich manchmal fast mehr instinktmäßig der ökonomische Marxismus dadurch erworben, und man kann wohl ohne viel Übertreibung sagen, daß die wenn auch einseitige, konstruierte und abstrakte entwickelungshistorische Auffassung den Marxismus zum großen modernen System nicht allein des Sozialismus, sondern überhaupt der gesamten Nationalökonomie gemacht hat. Auf jeden Fall, glaube ich, giebt diese Zusammenstellung der wesentlichen charakteristischen Merkmale des „Kapital", die wohl einzeln von Seite verschiedener Kritiker schon aufgedeckt wurden, in nuce das wahre Bild des wirtschaftlichen Systems wieder. Diese Zusammenstellung der Hauptmerkmale des „Kapital" offenbart uns zugleich trotz ihrer Kürze, daß nicht, wie noch heute die meisten Kritiker mit BÖHM-BAWERCK glauben, die großen logischen Widersprüche und schweren Kompositionsfehler das System von MARX verunzieren. Trotz der Unvollständigkeit ist das „Kapital" ein glänzender architektonischer Aufbau. Dasselbe scheitert nicht an der mangelhaften Logik, sondern an der falschen Geradlinigkeit, an der mechanistischen, weil unerkenntnistheoretischen Auffassung der Probleme, am abstrakten Charakter des an sich richtigen und überaus verdienstvollen entwickelungshistorischen Momentes.
Zweites Kapitel.
219
D i e ökonomische MARX-Kritik.
Zweites Kapitel.
Die ökonomische MARX-Kritik. Die ökonomische MARX-Kritik ist bisher weit glücklicher gewesen als die soziologische.
Zunächst ist der Gegenstand viel gründ-
licher behandelt worden, eine reiche, j a überreiche Wertlitteratur hat ausschließlich die Lehre vom Arbeitswerte Mehrwerttheorie
zum Gegenstande
Während das nur wenige Bücher
und die darauf fußende
ihrer Untersuchungen
gemacht.
umfassende Schrifttum über die
materialistische Geschichtsauffassung neben STAMMLER'S umfassender und genialer Analyse und
STEIN'S
den Gegenstand mehr
indirekt
behandelnder Schrift nur wenige geistreiche und scharfe Ausführungen umfaßt, wimmelt es in den Artikeln, Broschüren und größeren Werken über den rein ökonomischen Marxismus an scharfsinnigen Bemerkungen, an geistreichen Aussprüchen, an treffenden Einzelwürdigungen.
Nicht
nur die Feinde von MAKX haben es sich hier angelegen sein lassen, ihr ganzes kritisches Talent und ihren Scharfsinn zu offenbaren, auch die Freunde haben im Detail recht Anregendes und Tüchtiges geleistet.
Trotzdem aber würde man fehlgehen, wenn man die Augen
vor den verhängnisvollen Irrtümern verschließen würde, die auch in diesem
Teile
der MARX-Kritik
mit sehr wenigen Ausnahmen
be-
gangen worden sind. A u c h hier haben Freund und Feind trotz aller Verschiedenheit des kritischen Ausgangspunktes gemeinsame Fehler in der methodischen
und
prinzipiellen
Behandlung
des Gegenstandes
gemacht.
Der erste Freund und Feind gemeinsame Fehler bestand darin, das System
zu kritisieren,
bevor es fertig war.
Kaum war der erste
Band erschienen, beeilten sich die MARX-Freunde, Jubelhymnen über ein
System anzustimmen, dessen selbst provisorischer Abschluß j a
noch gar nicht erfolgt war, während die MARX-Gegner in all ihren Bekämpfungsversuchen es vollständig zu vergessen schienen, daß sie es mit einer unfertigen Lehre zu thun hatten.
So wogte der Kampf
über Teilprobleme und Detailformulierungen hin und her, der eigentlich keinen rechten Sinn hatte, weil man erst nach Veröffentlichung des dritten konnte.
Es
und letzten
Bandes
eine endgültige Antwort
ist selbstverständlich,
erhalten
daß dieser Fehler jetzt,
nach
definitivem Abschlüsse des „Kapital", eine mehr historische Bedeutung
220
Zweites Kapitel.
hat, da nun die jetzige wirtschaftliche MARX-Kritik in denselben beim besten Willen nicht mehr verfallen kann. Der zweite Freund und Feind gemeinsame Fehler bestand in der Annahme, daß das ganze „Kapital" eigentlich nur eine verlängerte Werttheorie bildet. Nun steht es außer jedem Zweifel, daß, wie die Dinge nun einmal liegen, für ein jedes nationalökonomisches System, das die gewöhnlichen ökonomischen Kategorien beizubehalten entschlossen ist, der Wertbegriff mit Recht eine große Rolle spielt. Noch mehr gilt dies für das System von K A R L M A R X , der eben mit seiner Lehre von der durchschnittlichen Arbeit als Gradmesser aller wirtschaftlichen Werte auch ökonomische Begriffe erklären wollte, die man sonst gar nicht mit dem Wertproblem in Beziehung gebracht hat. Aber schließlich enthält das „Kapital" doch auch eine andere, fast ebenso wichtige Doktrin. Man muß eben nicht vergessen, daß, wie wir im früheren Kapitel betonten, das „Kapital" einen starken abstraktentwickelungshistorischen Charakter aufweist. M A R X will nicht allein, das subjektive Element aus der Nationalökonomie ausscheidend, auf Grund einer streng objektiven Wertlehre das Zustandekommen des wirtschaftlichen Produktionsprozesses schildern, er strebt auch danach, die immanenten Entwickelungsgesetze des heutzutage herrschenden kapitalistischen Systems in seiner ganzen über das Gebiet der reinen Produktion hinausreichenden Geltung uns vor Augen zu führen. Es ist also daher ungerecht gegen das System und auch unmethodisch, wenn man diese Entwickelungsgesetze nur nebenbei behandelt oder wenn man sie überhaupt ganz und gar vernachlässigt. Der Umstand, daß sie im „Kapital" nur auf wenigen Seiten berührt wurden, kann uns doch nicht dazu verleiten, die große Rolle, welche sie im Getriebe des ökonomischen Marxismus spielen, zu verkennen. Dennoch aber herrschte und herrscht noch diese Verkennung. In der wirtschaftlichen MARX-Kritik spielt die Wertlehre eine fast entscheidende Rolle. Nun hat gerade diese Auffassung des „Kapitals" als eine Verlängerung der Werttheorie dem prinzipiellen, streng wissenschaftlichen Erkennen des Gesamtcharakters der Lehre geschadet. Dieser Umstand hat nicht wenig dazu beigetragen, daß sich die Ansicht verbreiten konnte, der Marxismus weise auch als System viele formale Mängel auf. Dieser zweite Grundfehler der MARX-Kritik brachte es mit sich, daß man vielfach die architektonischen Schönheiten im „Kapital" einerseits nicht empfand und andererseits das Grundgebrechen des gesamten ökonomischen Marxismus, das Mangeln einer jeden erkenntnistheoretischen Motivation einfach übersah.
D i e ökonomische
MAnx-Kritik.
221
Selbstverständlich machten sich diese Fehler am Anfange der wirtschaftlichen MAKX-Kritik noch mehr geltend als später. So legt z. B. einer der ersten Schriftsteller, welcher sich überhaupt mit dein „Kapital" beschäftigte, K A R L STRASSBURGER, den ganzen Tenor seiner Ausführungen durchaus auf den WertbegrifT. Vor allem sträubt sich S T R A S S B U R G E R , hierin einen großen Scharfblick verratend, gegen die rein objektive Fassung, die der Wert bei M A R X erhält. „Die Wertbestimmung",1 sagt er, „ist eine Schätzung, eine geistige Operation; die Individualität des die Schätzung Unternehmenden wird von großer Wichtigkeit sein." Nicht sehr glücklich ist hingegen S T R A S S B U R G E R , wenn er für die Produktivität des Kapitals mit den wärmsten Worten eintritt. Er schreibt z. B. den Satz ruhig nieder, daß Arbeit ohne Kapital gar nichts hervorbringen würde. Auch K N I E S , der vielfach sehr scharfsinnige Bemerkungen über den Gegenstand macht, behandelt fast ausschließlich nur die Wertlehre von M A R X und die direkt aus ihr hervorgehenden Verknüpfungen und Verzweigungen. Er faßt den Gesamtcharakter des Systems nur einmal gelegentlich ins Auge. So beschäftigt sich K N I E S hauptsächlich damit, M A R X gegenüber die Unrichtigkeit der Anschauung, nach welcher der Wert der Güter durch die aufgewandte Arbeit bestimmt wird, darzuthun. Die Natur sei ein ebenso wichtiger Faktor wie die Arbeit. Er bemerkt ferner, es sei ein Widerspruch, wenn M A R X einerseits zugebe, daß Gebrauchswerte ohne Mitwirkung menschlicher Arbeit entstehen könnten, und wenn er dann doch nur diesen letzteren Faktor als die ausschließliche Grundlage des Tauschwertes erklärt. M A R X stelle die Gleichung auf, ein Quarter Weizen = a Zentner im Forst produzierten Holzes. Man könne aber mit demselben Rechte jedoch, bemerkt er, sagen, ein Quarter Weizen = a Zentner wild gewachsenen Holzes = b Morgen jungfräulichen Bodens = c Morgen Weidefläche auf natürlichen Wiesen. 2 Während in dem Beispiele von M A R X also nur ausschließlich und allein die menschliche Arbeit zur Geltung kommt, will K N I E S durch sein Exenipel zeigen, daß man mit demselben Rechte eben nur den Faktor Natur zum Ausgangspunkte wirtschaftlicher Wertbestimmung machen könnte. In seiner bekannten Schrift „Kritik und Geschichte der Kapital-Zius-Theorien" schließt sich B Ö H M - B A W E R C K zum Teile an die Argumentation von K N I E S
1
Vgl. K. STKASSBÜROEK, HIIDEBBAKD'S Jahrbücher für Nationalökonomie
und Statistik. 2
Bd. X V I .
J a h r g a n g 1871.
V g l . KNIES, „ D a s Geld".
1. Aufl.
S. 99. S. 121.
222
Zweites Kapitel.
an, die er allerdings auch durch manche originelle Wendung bereichert. Aber auch hier fällt das Hauptgewicht wiederum nur auf die Wertlehre. Das Wertvollste au seinen ganzen diesbezüglichen Untersuchungen, die geistreich gehalten und stellenweise sogar schön geschrieben sind, scheint mir in der an sich sehr interessanten Frage zu gipfeln, die er an M A R X richtet, warum die wirtschaftlichen Güter neben der Eigenschaft, Produkte durchschnittlich menschlicher Arbeit zu sein, auch nicht andere, ebenso wichtige ökonomische Eigenschaften verkörpern? Die hiermit zusammenhängende Behauptung, daß die gleich am Anfange des „Kapital" sich befindliche Gleichsetzung aller wirtschaftlichen Güter mit „Waren" den eigentlichen Fehler von M A R X schon implizite enthalte, ist sehr interessant. Denn Waren sind nicht identisch mit Gütern schlechthin, Waren sind, um mich so auszudrücken, „Teilgüter". M A R X habe aber mit Bewußtsein den engeren Begriff in den weiteren verwandelt, weil nur Waren zumeist solche Güter umfassen, in denen hauptsächlich, manchmal sogar ausschließlich, thatsächlich die Arbeit in Betracht kommt. Noch ärger wurde diese ausschließliche Beschäftigung mit dem Wertbegriffe, als E N G E L S in der Vorrede zum zweiten Bande insbesondere den Schülern von R O D B E R T U S die Aufgabe stellte, sie mögen doch das Rätsel der „Durchschnittsprofitrate" zu lösen versuchen. Was ist eigentlich das Problem der Durchschnittsprofitrate? Ich glaube, man kann keineswegs dem in alle Tiefen der marxischen Problemstellung nicht eingedrungenen Leser in wenigen Worten sageD, warum es sich hier handelt. In seiner Werttheorie fuhrt M A R X alle wirtschaftlichen Wertbestimmungen auf die Arbeit zurück, nicht aber auf alle und jede Arbeit schlechthin, sondern auf die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit, auf die abstrakt menschliche Arbeitskraft. Dieselbe spielt nun auch die größte Rolle bei dem Prozesse, durch welchen der Privatkapitalist in unserer Gesellschaftsordnung seinen Gewinn aus seinem Kapitale zieht. Mit seinem Kapitale kauft sich der Kapitalist vor allem diejenige Ware, die er zur Herstellung weiterer Waren braucht. Diese Ware ist nach dem heutigen Stande der Dinge nun die Arbeitskraft, die auf dem Markte ebenfalls gekauft wird, wie alle anderen Waren. Der Kapitalist kauft sich nun für sein Geld die Arbeitskraft des Arbeiters. Aber der Arbeiter wird de facto, nicht nach der Anzahl der Stunden belohnt, die er zur Herstellung seiner Arbeit braucht. - Die wirtschaftliche Einrichtung des Arbeitstages erlaubt es dem Fabrikanten bezw. dem Privatkapitalisten, den Arbeiter mehr Stunden arbeiten zu lassen, als die
Die ökonomische MAKX-Kritik.
223
durchschnittliche Arbeitsentlohnung ausmacht. In einem bestimmten Arbeitstage arbeitet, nehmen wir an, der Arbeiter 10 Stunden zur Herstellung eines bestimmten Arbeitsproduktes, aber in seinem Lohne kommen nur 5 Stunden wirklich zum Ausdruck. 5 Arbeitsstunden, wohlgemerkt, es handelt sich um gesellschaftliche Arbeitszeit, werden fast immer nur realiter bezahlt, wenn der Arbeiter, sagen wir, pro Tag 2 Mark bekommt. Der tägliche Lohn von 2 Mark entspricht in Wirklichkeit einer gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit von 5 Stunden, der Arbeitstag aber dauert 10 Stunden; unser Arbeiter arbeitet also 5 Stunden mehr über seinen Lohn hinaus für den Kapitalisten. Der Mehrwert besteht in den 5 Stunden, die der Kapitalist über die Arbeitszeit, die wirklich entlohnt wird, arbeiten läßt, das heißt, wenn der Privatkapitalist die Durchschnittskraft des Arbeiters auf dem Markte kauft, so zahlt er bloß die Hälfte der für ihn geleisteten, von ihm benutzten Arbeitskraft. Das Mehr von 5 Stunden ist also gleichsam der natürliche Vorteil, den der Privatkapitalist durch die Einrichtung des Arbeitstages über den Arbeiter beim Einkauf der Ware „Arbeitskraft" erringen muß. Wenn wir uns diese Daten der Wert- und Mehrwerttheorie vergegenwärtigen, so werden wir die Theorie der Profitrate bald verstehen. Das Gesamtkapital, welches nämlich der Privatkapitalist zu seinen Zwecken braucht, besteht nach MARX aus zwei Teilen: aus dem „konstanten" und dem „variablen" Kapital. Der erste Teil des Kapitals umfaßt alle Produktionsmittel, Rohmaterial, Hilfsstoffe u. s. w., während das variable Kapital eigentlich neue Werte schafft. Nur das letztere kommt im Produktionsprozesse zur Geltung, verändert, wie MARX sich ausdrückt, seine Wertgröße im Produktionsprozesse. Nur das variable Kapital ist produktiv, weil es die Verkörperung von so und so viel Arbeitskraft ist. Das Verhältnis, in welchem nun im Gesamtkapitale eines Fabrikanten oder anderen Privatkapitalisten der Mehrwert zum vorgeschossenen variablen Kapitale steht, heißt bei MARX die Rate des Mehrwerts. Von dieser Rate des Mehrwerts ist nun die Profitrate verschieden. Das Kapital des Kapitalisten enthält, wie wir gesehen haben, zwei verschiedene Kapitalteile. Das konstante Kapital enthält keinen Mehrwert, das variable Kapital enthält einen. Wäre die Profitrate identisch mit der Mehrwertrate, dann würde der Kapitalist seinen Profit nicht nach der Gesamtheit, nicht nach seinem ganzen verwandten Kapitale berechnen können, was er aber in Wirklichkeit thut. Die Profitrate wird also demgemäß um so höher sein, j e stärker das variable und j e schwächer das konstante
Zweites Kapitel.
224
Kapital iu einem privatkapitalistischen Gesamtkapitale vertreten sein wird.
Nehmen wir zwei anschauliche Beispiele: E i n Industrieller A
betreibt eine Industrie, wozu gar kein Rohmaterial, Hilfsstoffe u. s. w., also gar kein konstantes Kapital nötig ist. aber
würde
50
Mille
betragen.
Wenn
Das variable Kapital dann
die
Mehrwertrate
1 0 0 Prozent beträgt, so stellt sich der erzeugte Mehrwert ebenfalls auf 5 0 Mille, und da in dem Falle das Gesamtkapital identisch ist mit dem variablen Kapital, so stellt sich dasselbe auf 5 0 Mille. würde also in diesem Falle die Profitrate
Es
volle 100 Prozent aus-
machen, das heißt, sich mit der Mehrwertrate in diesem Falle vollkommen decken.
Nehmen wir aber an, ein Industrieller B hätte in
einer Branche zu thun, die sehr viele Maschinen, Investirungen, Rohmaterial,
Halbprodukte
braucht,
so daß sein
Gesamtkapital
von
5 0 0 Mille 4 5 0 konstantes und nur 5 0 Mille variables Kapital enthielte.
In diesem F a l l e entfiele ein Mehrwert von 5 0 Mille auf das
Gesamtkapital von 5 0 0 Mille, der Profit aber wäre nur 1 0 Prozent. E s erscheint demgemäß selbstverständlich, daß bei der Zusammensetzung der Kapitalien auch die „organische Zusammensetzung", wie MARX dies nennt, eine große Rolle spielt, d. h. daß die technischen Verschiedenheiten auch eine überaus große Rolle in der Zusammensetzung der zum Betriebe nötigen Kapitalien spielen.
Kupfer und
Eisen sind Rohstoffe der Metallindustrie, beide haben aber eine ganz andere „organische Zusammensetzung".
Bei jeder einzelnen Industrie
können die verschiedenen Elemente der Produktionssphäre eben verschieden sein. Kapitalien
Nach der Lehre von KARL MARX müßten nun die
von gleicher Größe,
aber ungleicher „organischer Zu-
sammensetzung" auch ungleiche Profite aufweisen, denn diese organische Zusammensetzung
muß j a
einen gewissen Einfluß ausüben. gerade das Gegenteil.
auch
auf den ganzen
Mehrwert
Die Wirklichkeit zeigt uns aber
Kapitale von gleicher Größe werfen gleichen
Profit ab, es findet also eine Nivellierung der Kapitalien statt, eine Nivellierung, die ganz unabhängig ist von der in diesen Kapitalien zum Ausdrucke kommenden gesellschaftlichen Arbeitszeit. dieser Widerspruch zu lösen?
Wie ist
Warum deckt sich die Durchschnitts-
profitrate nicht mit dem Wertgesetz?
Denn nach dem Wertgesetz
müßte auch die Profitrate durchschnittlich in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zur durchschnittlichen Arbeit, nicht aber zu Angebot und
Nachfrage,
resp. zur Konkurrenz
hat im ersten Bande die
Frage
gebracht werden.
MARX
nicht gelöst und so sollten
sich
doch, meint ENGELS, die „RoDBERTus-Schüler" beeilen, die Tüchtig-
D i e ökonomische MARx-Kritik.
225
keit ihres Systems an der Lösung dieses Eiuzelproblems zu erproben. Es entstand auch eine ganze „Litteratur" über die Profitrate. 1 E N G E L S selbst erklärte sich später in der Vorrede zum dritten Bande mit keinem der Lösungsversuche für vollkommen einverstanden. Kaum hatte sich diese Flut von Broschüren und Aufsätzen über die Durchschnittsprofitrate gestaut und kaum war der dritte Band des „Kapitals" selbst erschienen, als SOMBART mit einer geistreichen Erklärung, die auf den ersten Blick viel Plausibles für sich hat, auf den Plan trat. Nach SOMBART ist die Werttheorie von M A K X in einem gewissen Sinne falsch, sie deckt sich nämlich gar nicht mit der Wirklichkeit. Möglich, daß iu anderen ökonomischen Gesellschaftsordnungen die Waren sich nach der abstrakt krystallisierten menschlichen Durchschnittsarbeit austauschen, in der komplizierten Gesellschaftsordnung des Kapitalismus zeigen sie die Tendenz, doch nach dem Marktpreise zu gravitieren. SOMBAKT meint mit Recht, der dritte Band habe nicht eine vollkommene Lösung des Rätsels der Durchnittsprofitrate gebracht. „Die meisten Leser werden die Lösung des Durchschnittsprofitrateurätsels, wie sie nun gegeben wird, gar nicht als «Lösung» zu betrachten geneigt sein, sie werden meinen, der Knoten sei durchhauen, aber keineswegs gelöst. Denn wenn nun plötzlich aus der Versenkung eine ganz gewöhnliche Produktionskostentheorie auftaucht, dann bedeutet das eben, daß die berühmte Wertlehre unter den Tisch gefallen sei. Denn wenn ich schließlich doch zu den Produktionskosten komme, um den Profit zu erklären, wozu dann der ganze schwerfallige Apparat der Wert- und Mehrwerttheorie." Die Durchschnittsprofitrate ist sicherlich im Widerspruche mit der Werttheorie, weil si.e, wie M A R X ja selbst zugiebt, zu zeigen scheint, daß die Waren sich ganz unabhängig von der in ihnen verkörperten Arbeit nach Angebot und Nachfrage, nach dein Marktpreise regeln. Das Prinzip, das hier zur Geltung kommt, ist die Konkurrenz. Dies alles nimmt SOMBAKT an und er behauptet keineswegs mit den reinen Marxisten, wie wir gesehen haben, daß es dem Meister im dritten Bande doch gelungen wäre, das Rätsel zu erklären. Trotz1
Ich nenne hier nur folgende Aufsätze und Schriften: LEXIS, Aufsatz in
den Jahrbüchern für Nationalökonomie. 1885. Neue Folge. Bd. XI. C. SCHMIDT, „Die Durchschnittsprofitrate auf Grund des marxischen Wertgesetzes". Stuttgart 1889. STIEBELING, „Das Wertgesetz und die Profitrate". New York 1890; ferner KONBAD SCHMIDT'S Aufsatz über denselben Gegenstand, „Neue Zeit". 1892—93. Nr. 4 u. 5. WEISENGRÜN , Marxismus.
226
Zweites Kapitel.
dem aber besitze die Werttheorie von MARX, die in Widerspruch mit der Wirklichkeit gerät, eine große Bedeutung. Sie ist ein regulatives heuristisches Prinzip; es sei wertvoll, sich einmal, unabhängig von der Wirklichkeit, ein Wertgesetz zu konstruieren, an dem man dann verschiedene ökonomische Thatsachen prüfen könne. Obwohl der Wirklichkeit widersprechend, sei der marxische Wertbegriff als rein theoretisches Prinzip von überaus großer Bedeutung. SOMBAET sagt wörtlich: „Will man ein Schlagwort zur Charakteristik des marxischen Wertes haben, so ist es dieses: Sein Wert ist keine empirische, sondern eine gedankliche Thatsache." 1 Die Anschauung von SOMBART stellt einen großen Fortschritt der ökonomischen MARX-Kritik dar. Zunächst halte ich es für unbedingt richtig, daß die Thatsache der Durchschnittsprofitrate uns offenbart, daß in der Wirklichkeit die vergesellschaftlichte Arbeit zum mindesten nicht der einzige Faktor in der Bestimmung des Tauschcharakters der Waren ist. Auch ich glaube nicht' an die Lösung, die M A R X im dritten Bande giebt, oder vielmehr ich halte sie für gar keine Lösung. Auch ist es sehr zu schätzen, wenn SOMBART, wenn auch mehr durch eine Hinterthür, die erkenntnistheoretische Betrachtungsweise in die Nationalökonomie einführen will. Denn was stellt diese Anschauung, der Wertbegriff sei ein rein regulatives Prinzip, anders dar, wie eine Anwendung der Erkenntnistheorie auf die volkswirtschaftlichen Phänomene? Aber meines Erachtens ist hier die Erkenntnistheorie durchaus nicht richtig angewandt. Darin besteht ja, wie wir bald ausmachen werden, der Unterschied zwischen der metaphysischen und der wahrhaft anschaulichen oder erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise in der Sozialwissenschaft, daß man sich an die Wirklichkeit hält und nur an die Wirklichkeit. .Die wirtschaftliche Wirklichkeit weiß nichts von dem selbstherrlichen Walten der abstrakt menschlichen Arbeitskraft, sie erkennt ganz einfach die vergesellschaftlichte Arbeit als einzigen Bildner im natürlichen System der wirtschaftlichen Güter nicht an, folglich darf auch die theoretische Erfassung des Gegenstandes nichts von einem solchen Wertbegriffe wissen. Zum mindesten könnte man von einer strengen Theorie verlangen, daß sie es ausdrücklich verkünde, sie beabsichtige ein regulatives Prinzip aufzustellen und von Zeit zu Zeit gewisse Phänomene der Anschaulichkeit durch das Walten dieses reinen 1
Vgl. „Zur Kritik des ökonomischen Systems von KABL MABX", im Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Bd. VII. Heft 4. S. 574.
227
Die ökonomische MARX-Kritik.
Gedankendinges ihrer Komplexität zu entkleiden. Ich halte ein solches regulatives Prinzip nicht für methodisch brauchbar, ich halte wenigstens seine methodische Brauchbarkeit von sehr geringem Nutzen. Ich glaube, daß man regulative Prinzipe von rein ideellem Charakter, die eine große Bedeutung für sich in Anspruch nehmen können und dürfen, als soziale Endziele aufstellen kann. Im Sollen und in allen unseren Beschäftigungen, die gerade über das rein Ökonomische und Historische hinausgehen, kann man rein ideelle Prinzipien aufstellen, sie sind dort nicht metaphysisch, sie sind trotz ihres ideellen Charakters anschaulich. In der reinen Nationalökonomie aber bedarf es solcher regulativer Prinzipien, die durchtränkt von Idealität sind, keineswegs. Aber selbst zugegeben, daß sie in beschränktem Maße brauchbar, ja methodisch förderlich sind, muß man dann erst nicht recht am Anfange eines Systems den rein ideellen, unwirklichen, unanschaulichen Charakter wenigstens methodisch festlegen ? Ist ein streng wissenschaftlicher Theoretiker nicht gezwungen, zu sagen: Seht, mein Begriff ist nicht von dieser Welt, er ist überwirklich. Ich will euch nicht die Wirtschaft lehren, an meinem regulativen Prinzip sollt ihr nur in gewissen Fällen die wirtschaftlichen Einzelerscheinungen besser kontrollieren können. Und nun frage ich SOMBART, wo denn um Himmels willen, in welchem Teile des dreibändigen „Kapital" sich dieses methodische Glaubensbekenntnis befindet. H a t MARX dasselbe etwa in gesperrtem Drucke an die Spitze seines ersten Bandes gestellt, wo es von Rechts wegen hingehört? Zweierlei müssen wir also festhalten. Von unserem Standpunkte muß erstens die Erkenntnistheorie auf die Sozialwissenschaft gerade in umgekehrtem Sinne angewendet werden. Es muß stets die Anschaulichkeit auf Kosten der reiuen, ein bloß gedankliches Dasein führenden Begriffsentwickelung in den Vordergrund treten. Nie darf, wie dies im Falle der Durchschnittsprofitrate geschehen ist, die Wirklichkeit in einem Systeme als Phänomen zweiten Ranges behandelt werden. Zweitens aber, wenn man schon ausnahmsweise ein rein ideelles Prinzip als Regulativ aufstellt, dann muß man es wenigstens klar sagen: Es ist beabsichtigt, einen Begriff zu dem und dem Zwecke aufzustellen. Es muß uns von vornherein gesagt werden, daß dieser Begriff nur eine rein gedankliche Thatsache, um mit SOMBART zu sprechen, ist. Trotz alledem aber ist SOMBART'S Auffassung vielleicht die wertvollste Errungenschaft in der ökonomischen MARX-Kritik. Ist die Erkenntnistheorie hier auch falsch angewandt, so wird sie wenig15*
228
Zweites Kapitel.
stens angewandt. Ist vielleicht auch, die ganze Wertung des marxischen Systems eine einseitige, so wird auf jeden Fall der Versuch gemacht, dem Ganzen ins Auge zu sehen. F a s t um dieselbe Zeit, wo die letzten Arbeiten über die Durchschnittsprofitrate erschienen, begann man sich auch im nationalökonomischen Lager mit den Entwickelungstendenzen des Kapitalismus, mit den immanenten Gesetzen,
die M A R X
aufgestellt
hatte,
zu b e s c h ä f t i g e n .
JULIUS W O L F
hat das Verdienst, wenn auch vielfach mit falschen Details, ernstlich an der Verelendigungstheorie gerüttelt zu haben. Wäre er nicht ein einseitiger Apologete des Kapitalismus gewesen, so hätte auch seine diesbezügliche Ansicht mehr Eindruck gemacht. SCHMOLLER, HERKNER,
SCHULZE-GAEVERNITZ
und
andere
bemühten
sich,
die
Ansicht zu zerstören, als ob der Großbetrieb in unserer Volkswirtschaft schon jetzt ausschlaggebend und alleinherrschend sei. Daß der Großbetrieb den Mittel- und Kleinbetrieb aus allen Positionen verdränge, wurde aufs ernstlichste bestritten. BERNSTEIN'S Aufsätze in der „Neuen Zeit": „Probleme des Sozialismus" rührten an die Axiome von der technischen Üherlegenheit des Großbetriebes in
der
Industrie,
nachdem
schon
früher
RUDOLF
MAYER,
SERING
und andere für die Landwirtschaft fast den Beweis der überaus vorteilhaften Position des Mittelbetriebes angetreten hatten. BERNSTEIN wies schon in diesen Artikeln darauf hin, daß durch die längere Dauer der wirtschaftlichen Entwickelung, durch die Tempoverlangsamung der Kapitalismus auch andere Formen annehme. Kurz nach BERNSTEIN'S Artikel erschienen bereits meine Aufsätze in der „Zukunft", in denen die verschiedenen Symptome, welche auf eine ganz andere Entwickelung der Dinge, wie MARX sie vorausgesehen hat, deuten, zusammengefaßt wurden. Hier wurde zum ersten Male das Wort von der „Verewigungstendenz" des Kapitalismus gebraucht. 1 Im März 1899 erschien nun das Buch BERNSTEIN'S, in welchem zwar der soziologische Marxismus unter einen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt gerückt wird, nicht aber der wirtschaftliche. Auf jeden Fall tritt aber hier die Wertlehre gauz in den Hintergrund gegenüber der Kritik der immanenten Gesetze unserer Gesellschaftsordnung. Das Eis ward gebrochen. Seit dem BERNSTEIN'schen Buche, das im übrigen, wie wir sehen werden, keineswegs das Entwickelungsgesetz von MARX als Ganzes kritisierte,
1
Vgl. „Die Zukunft der Sozialdemokratie" und „Kapitalismus und Sozia-
lismus" von PAUL WEISENGEÜN, „Zukunft".
Bd. X X I I .
1898.
Die ökonomische MARX-Kritik.
229
kann man den wirtschaftlichen Marxismus nicht mehr als eine Verlängerung des Wertbegriffes allein oder sogar nur hauptsächlich auffassen. Ich kenne nur einen Autor, der mit Bewußtsein es versucht hat, die Prinzipien der modernen Erkenntnistheorie auf das Wertproblem im besonderen und auf die Nationalökonomie im allgemeinen anzuwenden. CONRAD S C H M I D T , B E R N S T E I N , W O L T M A N N suchen, wenn auch meist nicht in richtiger Weise, hauptsächlich den soziologischen Marxismus mit der Erkenntnistheorie in Verbindung zu bringen. Ihre erkenntnistheoretischen Ausblicke auf rein wirtschaftliche Erscheinungen sind nur gelegentlicher Natur. S T A M M L E R und S I M M E L , die beiden bedeutenden, allerdings mehr formalen Erkenntnistheoretiker in der Sozialwissenschaft, beschränken sich mit vollem Bewußtsein ausschließlich auf soziologische Probleme, und so kommt hier für mich leider als einziger Schriftsteller, der die Gesamtheit der wirtschaftlichen Phänomene mit Bewußtsein erkenntnistheoretisch kritisieren wollte, nur S C H U B E R T - S O L D E R N in Betracht. 1 Ich muß um so eher seine Bedeutung würdigen, als ich mich von ihm zwar in der strengen Erkenntnistheorie nur mehr durch eine gedankliche Nuance unterscheide, in der Betrachtung rein volkswirtschaftlicher Phänomene aber gezwungen bin, durchaus eigene Wege zu gehen und dies um so mehr, als man bei S C H U B E R T - S O L D E R N auf Schritt und Tritt zwar neben seiner rein intuitiven Begabung die große philosophische Gelehrsamkeit, aber auch ein geringes Vertrautsein mit rein ökonomischen Dingen merkt. MARX' System ist trotz einiger kleiner Risse und trotz des Widerspruches, den das Problem der Durchschnittsprofitrate enthält, der aber, wie ich im Gegensatze zu B Ö H M - B A W K R C K glaube, bei aller realer Unlösbarkeit im System bis zu einem gewissen Punkte formell doch überwunden wird, ein imposanter Gedankenbau. Woran ist nun dieses System von so gewaltiger Architektonik gescheitert? Überall führte die Auseinandersetzung in der Litteratur fast dicht bis an die Gründe dieses Scheiterns, und dennoch wurden sie kaum berührt, geschweige denn in klarer und scharfer Ausführung deutlich kenntlich gemacht. Ich frage noch einmal: Woran scheitert M A R X ? Warum hat er, der doch selbst deutlich einsah, daß die Wirklichkeit sich nicht nach dem Wertgesetz richtet, dennoch seinen ein1
Vgl. „Das menschliche Glück und die soziale Frage" von RICHATID v. SCHUBERT-SOLDEBN, Professor an der Universität Leipzig. Tübingen 1896.
230
Zweites Kapitel.
seitigen Wertbegriff zum Ausgangspunkte eines ganzen Systems gemacht? Warum ist M A R X gleichsam, um mich paradox auszudrücken, hellsehend und blind zu gleicher Zeit? Einem so geistvollen und scharfsinnigen Autor wie B Ö H M B A W E K C K konnte dies nicht entgehen. Er giebt sich auch alle Mühe, in seiner Arbeit über den Abschluß des marxischen Systems den Umstand zu erklären, wie ein Mann von solcher Denkkraft zu so verhängnisvollen Irrtümern gekommen sei. Nachdem er erklärt, daß man, um ein System zu begreifen, sich nicht allein mit der kritischen Analyse der Widersprüche, die dasselbe enthalte, begnügen könne, möchte er der Frage nachgehen, auf welchem Wege M A R X zu dem Fundamentalsatze seiner Lehre, der Behauptung nämlich, daß der Wert einzig und allein auf verkörperten Arbeitsmengen beruhe, gelangt. Ob B Ö H M - B A W E R C K hierbei mit der Behauptung, daß Wert und Mühe keineswegs zusammengehörige Begriffe sind, Recht hat oder nicht, werden wir späterhin sehen. Unser Autor behauptet nun, M A R X hätte zwei Wege offen gehabt, um seine Werttheorie zu beweisen. Er hätte einmal seinen Satz einfach an der Erfahrung prüfen können und diese hätte ihm sofort gezeigt, .daß das Wertgesetz unrichtig ist. Man kann hierbei nicht einmal sagen, daß M A R X ganz achtlos an der Empirie vorbeigegangen sei, denn der dritte Band beweise, daß er die empirischen Thatsachen, die gegen seine Theorie sprechen, sogar sehr gut kennt. Der zweite Weg, den M A R X hätte einschlagen können, um sein Grundgesetz zu prüfen, wäre die psychologische Methode gewesen. Er hätte nach den Motiven fragen können, welche die Leute, die wirtschaftenden Einzelpersönlichkeiten oder Gruppen bei der Abschätzung von Tauschgeschäften, bei der Feststellung von Tauschpreisen u. s. w. leiteten. M A R X hat weder den einen, noch den anderen Weg eingeschlagen. Er zieht weder die Erfahrung, noch die Psychologie zu Rate, er beschränkt von vornherein den Umfang seiner Untersuchung auf die Waren, ein Begriff, der nicht identisch ist mit dem Begriffe der Güter schlechthin. Warum hat M A R X diesen Weg eingeschlagen? B Ö H M - B A W E R C K glaubt, daß es nicht bestimmte theoretische Gründe, sondern Eindrücke und Empfindungen waren, die ihn zuerst zur Formulierung seines Wertbegriffes brachten, und nachdem erst sein Fundamentalsatz in seiner ganzen starren Einseitigkeit für ihn einmal feststand, begann er, von der ihm angeborenen logischen Kraft und Dialektik Gebrauch zu machen, wobei er trotz seiner hohen geistigen Gaben bei einem solchen Ausgangspunkte natürlicherweise
Die ökonomische
MAux-Kritik.
231
Fehler gröbster Art nicht mehr vermeiden konnte. Es waren vor allem die Eindrücke der Autorität, die M A R X verführten. Hatten doch A D A M SMXTII und R I C A R D O , die großen klassischen Nationalökonomen, gelehrt, aller Wert bestehe in der Arbeit. Zudem war j a M A R X auch Sozialist und es darf uns nicht Wunder nehmen, wenn er gegen einen Gedanken, der seine wirtschaftliche Weltanschauung so trefflich zu stützen geeignet war, sich nicht skeptischer verhielt wie RICARDO, dessen Anschauung doch wahrlich nicht mit sozialistischen Elementen verwoben war. Aufgezogen in klassischen Lehren, bewegt von sozialistischen Motiven, brauchte er, meint B Ö H M BAWERCK, für seinen Fundamentalgedanken keine weitere Begründung. Nur für sein System schuf er sich in künstlicher Weise eine rein formale Begriffsanalyse. Unser Autor sagt wörtlich: 1 „Daß er sich in dieser nicht einfach an die Klassiker anlehnen konnte, begreift sich, denn diese hatten j a nichts begründet. Auch daß er weder an die Erfahrung appellieren, noch eine wirtschaftspsychologische Begründung versuchen konnte, wissen wir, denn diese Wege hätten ihn offensichtig auf das gerade Gegenteil seines Beweisthemas geführt. So wandte er sieh denn an die seiner Geistesrichtung ohnedies zusagenden logisch-dialektische Spekulation. Und hier hieß es: hilf, was helfen kann!" Ich halte diese Begründung nicht für richtig. M A R X war nicht der Mann, aus irgendwelchen Empfindungen oder Ressentiments heraus sich den Grundgedanken einer Theorie zu formen. Weder die Liebe zu anderen Systemen, noch die Pietät vor großen Denkern konnten ihn zu einer Formulierung verleiten, die er im großen und ganzen aufrecht erhielt, obwohl er doch im Detail selbst das Unanschauliche und Unreale seiner Auffassung deutlich genug einsah. Auch seine sozialistische Weltanschauung ist kein genügendes Erklärungsmoment. M A R X hatte Einsicht genug und verfügte auch über intellektuelle Selbstbeherrschung in so hohem Maße, daß er, wie er es bei anderen Gelegenheiten bewiesen, sich auch von Lieblingstheoremen sozialistischer Denker hätte befreien können. Die Gründe dafür, daß M A R X sich uns zu gleicher Zeit gleichsam als hellsehend und blind offenbart, müssen wir schon anderswo suchen. M A R X war ein konsequenter Denker. Nun, es giebt nicht nur eine äußere, mehr formal-logische Konsequenz, sondern auch eine innere, die Konsequenz der Weltanschauung. Diese forderte nun von MARX, daß er es mit den 1
Vgl. v. BÖHM-BAWERCK, a. a. O. S. 163.
232
Zweites Kapitel.
wirtschaftlichen Phänomenen halte wie mit den anderen sozialen Erscheinungen. Sein sozialer Materialismus, seine mechanische Auffassung, die es liebte, ökonomische Vorgänge in Analogie des naturwissenschaftlichen Verfahrens zu betrachten, seine abstrakt-entwickelungshistorische Art, alle diese Umstände bedingten auch seine Wertlehre. Zunächst forderte seine materialistische, naturalistische und streng mechanische Weltanschauung von ihm, daß er einen äußeren und subjektiven, j a förmlich antipsychologischen Wertbegriff formuliere, ferner, daß er einen möglichst mechanischen GüterbegrifF sich schaffe; daher seine Identifikation der Waren mit den Gütern schlechthin. Schließlich aber verlangte es seine ganze antierkenntnistheoretische Auffassung, die Wirklichkeit zu vernachlässigen. Der wirkliche M A R X handelte ganz anders wie der M A R X , den SOMBART nach seinem ökonomischen Ebenbilde schuf. Der wirkliche M A R X wollte nicht wie der S O M B A R T - M A R X mit Bewußtsein die Wirklichkeit der Dinge an einem rein ideellen und regulativen Prinzip prüfen. Derselbe schätzte, und nur hierin folgte er, nicht aus Pietät, sondern weil er vielfach noch derselben Denkmethode huldigte, den Klassikern, die Wirklichkeit viel geringer als man glaubt. Bei der Reproduktion dieser Wirklichkeit in seinem System handelt er konsequent als Antierkenntnistheoretiker. In erster Linie wollte er seinen mechanischen und materialistischen Wertbegriff entwickeln. Unbewußt glaubte M A R X daran, es gebe in der nationalökonomischen Wissenschaft eine Art zweiter Realität, die sich mit der wirklichen Ökonomie nicht zu decken brauche. Wie die Materialisten bei der Zergliederung der äußeren Natur aus dem Kraft- oder dem Atombegriffe, die doch auch nur eine gedankliche Existenz führen, unbesehen, ohne Besinnung, ohne vorhergehende methodische Entschuldigung reale, anschauliche Naturereignisse abzuleiten sich bemühen, so strengte sich auch M A R X an, aus seinem ökonomischen Atombegriffe, man verzeihe den paradoxen Ausdruck, die reale Welt wirtschaftlicher Phänomene abzuleiten. Es ist dieselbe Methode, dieselbe Art zu denken, die verhängnisvollen Resultate sind auch dieselben. Ich glaube, daß dies die Gründe sind, die M A R X dazu verleiteten, bei seinem Fundamentalsatze zu bleiben, obwohl er die Widersprüche der Wirklichkeit deutlich genug sah. M A R X handelte hierbei nicht bewußt wie ein verkappter halber Erkenntnistheoretiker (nach der Auffassung SOMBART'S), sondern unbewußt mit der metaphysischen Selbstverständlichkeit eines Materialisten in wirtschaftlichen Dingen. Nachdem er einmal den Hauptgedanken gefaßt, der
D i e ö k o n o m i s c h e MARx-Kritik
233
seiner ganzen Weltanschauung entsprach, sucht er ihn auch überall zu begründen, und daß gerade große Denker bei der Verfolgung eines Lieblingsgedankens zu Konstruktoren schlimmster Art werden, lehrt alle Geschichte der Wissenschaft. D e r schon früher von uns hervorgehobene U m s t a n d , daß die ökonomischen MARX-Kritiker das ganze „Kapital" nur als eine verlängerte Werttheorie betrachten, daß sie all die soziologischen Zusammenhänge, all die Brücken, die hier zu einer Weltanschauung führen, einfach nicht sehen wollen, erklärt es auch, warum selbst ein Mann vom Range B Ö H M - B A W E R C K ' S nicht die Gründe des Scheiterns marxischer Ökonomik hier einsah. Also die Mängel der Weltanschauung, die unerkenntnistheoretische Motivation brachten M A R X zu einem Widerspruche, den zwar der prachtvolle logische A u f b a u seines Systems formal, aber nicht real verkleisterte. Sein einseitiger und, wie das Problem der Durchschnittsprofitrate beweist, methodisch unwirksamer und unbrauchbarer WertbegrifF erklärt sich bei einem so scharfsinnigen Denker wie M A R X nur durch das starre Festhalten an den materialistischen und mechanischen Prinzipien. Aber nicht allein die Wertlehre und alle ihre Verzweigungen, auch die andere Hälfte des rein ökonomischen Systems, auch das immanente Gesetz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung scheiterte an der mangelhaften erkenntnistheoretischen Begründung, scheiterte am Materialismus und Mechanismus des MARX. W i r werden späterhin noch sehen, wie ihne seine Weltanschauung und allgemeine Gedankenrichtung dazu verführten, eine Eutwickeluugsnotwendigkeit anzunehmen, die nie und nirgends existiert. In der Lehre von der Entfaltung des Industrialismus offenbart M A R X dieselbe Schwäche wie in der Wert- und Mehrwertlehre. Auch in der ersteren Theorie deckt sich eben die Anschaulichkeit nicht mit der so schön entwickelten Begriffswelt. Und dabei handelt es sich in beiden Fällen nicht um Details, nicht um kleine Einseitigkeiten, die man einem so großen Denker gerne verzeiht, sondern um die Grundrichtung, um die Grundtendenz, um die Grundformulierung. E s erscheint daher notwendig, vor allem das Wesen der Metaphysik im allgemeinen und ihr Wirken in der Sozialwissenschaft im besonderen einmal festzulegen. Ausgerüstet mit den Kriterien, die uns eine wahre Anwendung der Erkenntnistheorie auf die Sozialwisseuschaft giebt, werden wir alsdaun erst fruchtbare MARX-Kritik in vollem Maße und Umfange ausüben können.
234
Drittes Kapital.
Drittes Kapitel.
Metaphysik uiul Sozialwissenschaft. Was versteht die moderne Philosophie unter Metaphysik, welche sind ihre Kriterien, mittels welcher sie die Realität und die Wirklichkeit der Dinge prüft? Man wird leicht begreifen, daß die Beantwortung dieser Fragen auch für die Sozialwissenschaft von größter Bedeutung ist. Denn gerade hier wird gar häufig genug selbst ohne irgend eine methodische Entschuldigung, ohne irgend eine vorhergehende Ankündigung in der ungeniertesten Weise der Welt mit metaphysischen Hypothesen operiert. Die moderne Philosophie nimmt an, daß nur dem allgemeinen Bewußtsein unbedingte Realität, volle Wirklichkeit zukomme. Wir nehmen so und so viele Dinge wahr, aber wodurch erfolgt diese Wahrnehmung, was setzt uns in den Stand, überhaupt wahrzunehmen? Die ganze Farbenpracht der Naturwelt, die ganze Mannigfaltigkeit tierischer und pflanzlicher Organismen, die gesamte Fülle des Geschauten ist doch zunächst nur fiir unser Bewußtsein vorhanden. Wir haben gar kein Recht zu der Annahme, es gebe auch ein anderes Vorhandensein der Dinge, die wir wahrnehmen, der Gegenstände, mit denen wir in Berührung kommen, der Objekte um uns, all der Vorgänge in der Natur, als das in unserem Bewußtsein sich abspielende Vorhandensein aller Erscheinungen. Wir können und dürfen unter keinen Umständen die Annahme machen, daß es eine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins giebt. Wie wir uns auch bestreben, die Dinge, die wir einzeln wahrnehmen, zu verknüpfen, in welche Kombinationen auch der ordnende Verstand die ursprünglich mehr oder minder chaotische Masse der Einzelwahrnehmungen bringt, stets sind alle vorstellbaren und denkbaren Existenzformen an das Bewußtsein geknüpft. Von irgend einem Etwas, das ganz außerhalb unseres Bewußtseins läge, können wir uns gar keine Vorstellung machen. Das Sein schlechthin ist also eigentlich identisch mit dem im Bewußtsein Gegebensein. Daraus folgt keineswegs, daß den äußeren Naturvorgängen keine Realität zukommt, aber die Realität ist erst durch unser Bewußtwerden möglich. Alle die Dinge, die wir wahrnehmen, sind vorhanden. Sie sind aber auch nur vor-
Metaphysik und Sozialwissonschaft.
235
handen, weil wir uns dieses Vorhandenseins bewußt werden, mit anderen Worten, die Erkenntnistheorie behauptet, daß es nur eine Existenz giebt: Das Vorhandensein im Bewußtsein. Es giebt kein Überbewußtsein, keine Überwirklichkeit, kein Unverknüpftsein mit dem Bewußtsein. Eine jede Annahme, daß die Dinge auch in einem anderen Zusammenhange stehen können, eine jede Ansicht, die eine Wirklichkeit außerhalb des Bewußtseins lehrt, ist von diesem Gesichtspunkte aus besehen unrealistisch, unanschaulich. Sie ist schon Metaphysik. Von diesem Standpunkte aus gesehen kann es also kein anderes Kriterium für die Realität der Dinge geben als unser Bewußtsein. Das Bewußtsein ist die durchaus primärste Schicht, zu der wir in Erkenntnis der Vorgänge vorzudringen vermögen. Alles was ist, alle die Körper, die eine scheinbar greifbare Existenz außer uns führen, alle die höheren psychischen Erscheinungen in uns selbst, sie sind einmal an die Empfindungskomplexe gebunden, und in diesem Sinne kann man wohl sagen, es giebt nichts Elementareres, Ursprünglicheres, als die Empfindungskomplexe, als das Bewußtsein. Dabei muß man sich wohl hüten, einen künstlichen Unterschied zu machen zwischen der In- und der Außenwelt, zwischen dem Vorstellenden, Wahrnehmenden und zwischen dem Vorgestellten, Wahrgenommenen , zwischen Subjekt und Objekt. Einen solchen Unterschied giebt es nicht. Nur scheinbar gruppieren und ballen sich gewisse, uns näherstehende Empfindungen, Erinnerungen, Stimmungen und Gefühle, die gerade mit unserem Leibe verknüpft sind, als „Ich" zusammen, als ein Ich, das im absoluten Gegensatze zur Außenwelt der Dinge steht. In Wirklichkeit aber ist da gar kein absoluter Gegensatz vorhanden. Man kann aus diesem Ich ebensowenig die Welt konstruieren wollen, wie man umgekehrt aus der Außenwelt das Ich und alle die feinen psychischen Empfindungen hervorzuzaubern vermag. Die Außenwelt und das Ich sind also nicht durch eine große Schranke getrennt. Außenwelt wie Ich zerfallen in Empfindungen und beide haben ihre letzten Elemente gemeinsam, sie zerfallen beide in Farben, Töne, Tastempfindungen u. s. w. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus giebt es also keine eigentliche Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draußen und keine Empfindung, der ein äußeres, von ihr verschiedenes Ding entspräche. Daher giebt es auch keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, wenigstens sind alle Unterschiede rein praktischer Natur, sie haben keine strenge, prinzipielle, endgültige
236
Drittes K a p i t e l .
theoretische Bedeutung. Der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt ist also nur ein künstlicher. Aus dieser Betrachtungsweise folgt, daß ein jeder Versuch, einen Zusammenhang von Erscheinungen auf ein letztes Element zurückzuführen, das nicht im Bewußtsein vorhanden ist, Metaphysik genannt werden muß. Der Unterschied zwischen einem Metaphysiker und einem Erkenntnistheoretiker springt geradezu in die Augen. Der erstere wird stets bestrebt sein, einen Komplex von Begriffen auf ein Diug zurückzuführen, das nicht im Bewußtsein liegt, also auf ein Element, das eine rein begriffliche Existenz führt. In dieser Weise bauten die Metaphysiker eine ganze Wissenschaft aus, die alte Onthologie, die sich bestrebte, als Fundament ihrer Erkenntnisse eine Wirklichkeit außerhalb unserer Wirklichkeit, eine Existenz ausserhalb unseres Bewußtseins anzunehmen. In dieser Weise bauen die Materialisten eine ganze Welt aus einem nur scheinbar realen Urelemente, nämlich aus der Materie auf, ohne zu bedenken, daß diese Materie nie und nimmer wirklich existiert. Gott, Substanz und Materie sind solche Begriffe des Metaphysikers. D e r E r k e n n t n i s t h e o r e t i k e r hingegen operiert nur m i t B e g r i f f e n , deren letzte U r s a c h e k e i n B e g r i f f , s o n d e r n ein a n s c h a u l i c h e s , im unm i t t e l b a r e n B e w u ß t s e i n v o r h a n d e n e s D i n g ist. Dieser Unterschied kann nicht genug betont werden, er ist von größter Wichtigkeit für alle methodische Erkenntnis der Dinge überhaupt, für die Sozialwissenschaft im besonderen. Hier ist der Punkt, wo die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie direkt fruchtbar wird, hier stellt es sich heraus, daß die moderne Philosophie eben mehr als eine müßige Begriffsanalyse und Begriffsspalterei ist. Denn wenn z. B . MARX diese Erkenntnis gehabt hätte, so hätte er sich wohl gehütet, eine Reihe von wirtschaftlichen Begriffen aufzustellen, ohne vorher zu prüfen, ob ihr letztes Glied sich wieder in eine reine Begriffsbestimmung verliert, oder ob dasselbe eine reale Erscheinung umklammert. Ein bedeutender Mensch mit großer Denkkraft begeht-, im Besitze eines solchen Kriteriums, solche Fehler nicht mehr. Die moderne Erkenntnistheorie hat nun den Satz, daß alles Sein schlechthin = mit Im Bewußtsein Sein ist, noch schärfer ausgebildet, als dies die frühere Philosophie von DESCARTES an schon gethan hatte. Während man früher neben dieser Art zu philosophieren dennoch Metaphysik trieb, sucht die moderne Erkenntnistheorie streng und konsequent alle andere Art des Philosophierens in theoretischen Dingen von uns fernzuhalten. Während die frühere
Metaphysik und Sozialwissenschaft. Philosophie
mehr nur nebenhin
287
das Gegebensein,
die Bewußtseins-
daten untersuchte, macht die moderne Erkenntnistheorie diese Untersuchung zum Hauptzwecke, zum Mittelpunkte ihrer ganzen Studien. Während Art
von
früher
selbst
Dualismus
heute j e d e A r t
noch
eine
annahmen (selbst noch BERKELEY), läßt
erkenntnistheoretisch
man
von D u a l i s m u s fallen.
Denkende
Ebensowenig,
wie es einen
Unterschied zwischen S u b j e k t und O b j e k t giebt, giebt es eine andere A r t von Realität. von W i r k l i c h k e i t die
sich
D a es nur eine A r t von Vorhandensein, eine A r t giebt, so giebt es nur eine A r t von Philosophie,
bestrebt,
durch
unserer Erkenntnisse wahrhaft
A n a l y s e der metaphysischen
möglichst
anschauliche
viele K o m p l e x e
Bewußtseinselemente
REINHARD KAUFFMANN
hat
manente Philosophie
bezeichnet.
Wahrheiten,
die
wir
Bestandteile
von Begriffen
zurückzufuhren.
zuerst diese A r t
zu denken
auf MAX
als
im-
Obwohl in dieser F a s s u n g die
hier vorgetragen,
neuesten D a t u m s sind,
haben sie doch schon a u f eine lange Vorgeschichte
so
zurückzublicken.
Sowohl DESCARTES wie MALEBRANCHE haben schon die Bedeutung, die
das
Bewußtsein
für
alles
Philosophieren
hat,
klar
erkannt.
LOCKE, welcher zwar in den F e h l e r verfällt, zwischen primären uud sekundären
Qualitäten
zu
unterscheiden
und
also hierdurch
einen
unmodernen Dualismus hervorkehrt, hat aber doch bereits den rein subjektiven Charakter
aller Empfindung klar hervorgehoben.
Schritt weiter m a c h t BERKELEY. es
eine
von
unserem
Einen
Derselbe bestreitet energisch, daß
Bewußtsein unabhängige W e l t gebe.
ist ihm nichts anderes als „Perzipiertwerden".
„Sein"
Zwar ist auch noch
BERKELEY insofern zu sehr Dualist, als er eine große Verschiedenheit des Perzipierenden vom Perzipierten betont und hierdurch der V a t e r jenes idealistischen
halben Dualismus
schied zwischen O b j e k t
wird, der noch einen Unter-
und S u b j e k t in alle philosophischen
Unter-
suchungen einfuhren möchte, eine philosophische Schule, zu der auch SCHOPENHAUER in einer gewissen Beziehung gerechnet werden kann. Diesen
Rest
dualistischer
Betrachtungsweise
beseitigt
nun
DAVID
HUME ganz, indem er den idealistischen Monismus in seiner ganzen Reinheit begründet. bekanntere
Man
muß dabei nicht an seine in Deutschland
kleinere Schrift „Untersuchung
über den
menschlichen
V e r s t a n d " , sondern an sein eigentliches H a u p t w e r k , an den „ T r a k t a t über die menschliche N a t u r " denken, wo er im ersten Teile: „ Ü b e r den V e r s t a n d " den S a t z
ausspricht,
daß nur die sogenannten V o r -
stellungen Wirklichkeit besäßen und das Subjekt nichts als ein N a m e für den Zusammenhang dieser Vorstellungen wäre.
B e i BERKELEY
238
Drittes Kapitel.
kommt dem Subjekt noch Wirklichkeit zu. H U M E 1 schreitet über B E R K E L E Y in dieser Beziehung hinweg und wird hiermit zum eigentlichen Ahn der heutigen immanenten Philosophie. Dieselbe stellt also nur einen äußerst konsequenten idealistischen Monismus dar, der durch die gesamte frühere Philosophie vorbereitet wurde. Die immanenten Philosophen sind keine besonderen Freunde von K A N T und im Gegensatze zu den Neukantianern suchen sie keineswegs in einseitiger Weise sich an den großen Königsberger anzulehnen. Sie werfen ihm vor, daß er durch seine Kategorientafel und seinen Apriorismus eigentlich H U M E gegenüber einen Rückschritt bedeute. Ganz heftig aber polemisieren sie gegen den Begriff des „Dinges an sich", durch welchen der idealistische Monismus nur verwirrt und verdunkelt wird. R I C H A R D A V E N A R I U S hat daher der Kautischen leinen Vernunft die r e i n e E r f a h r u n g gegenübergestellt. Er meinte damit, daß die Philosophie nicht zweier Quellen der Vernunft und hiermit der Kategorientafel einerseits und der Sinnlichkeit, Anschaulichkeit oder Erfahrung andererseits bedürfe. Die Anschaulichkeit oder Erfahrung genüge. Wir bedürfen auch keiner „Anschauungsformen", durch die wir die Vorstellungselemente im Sinne von K A N T ordnen, für uns sei das Aprioristische nicht unbedingt notwendig. In diesem Sinne spricht auch K A U F F M A N N von reiner Erfahrung, indem er sagt: „Das Wesentliche, auf dem der Unterschied zwischen dem Anhänger der immanenten Philosophie einerseits, dem Anhänger des Materialismus, überhaupt jedem Metaphysiker andererseits beruht, besteht dariu, daß letzterer durch Synthese, ersterer durch Analyse den Organismus der Welt zu begreifen bestrebt ist. Für den, der durch Synthesen oder Induktion allgemeine Regeln aufzustellen sucht, sind viele Dinge «empirische Fakta», in denen der Analytiker komplizierte Begriffe, oft sogar metaphysische Hypothesen entdeckt. Die immanente Philosophie ist daher auch in Wirklichkeit exakter und empirischer als die exakten Wissenschaften oder die «Empirie»: sie ist die Wissenschaft der reinen Erfahrung." 2 1 Vgl. DAVID HÜMK, „Traktat über die menschliche Natur". 1. Teil: „Über den Verstand", übers, von E . RÖTTGEN, eingeleitet von T H . LIPPS. Hamburg und Leipzig 1895. * RICHARD AVENABIUS, welcher in seiner früheren Schrift, „Philosophie als Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes", 1876, den Standpunkt vertrat, den späterhin MACH in seiner Ökonomie des Denkens vertritt,
schrieb „Kritik der reinen Erfahrung",
2 Bde., Leipzig 1 8 8 8 — 9 1 .
MAX REIN-
Metaphysik und Sozial wissenschaft.
239
Die Naturwissenschaftler glauben zumeist, daß ihre Disziplinen keineswegs metaphysisch seien. Sie irren. Gerade die naturwissenschaftlichen Gebiete sind förmlich durchtränkt mit metaphysischen Hypothesen. Dies gilt sowohl für die Detailforschung als für die allgemeinen Probleme. Der Detailforscher bekümmert sich ja in den Naturwissenschaften ebensowenig- wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen um die Begriffe, die er kritiklos anwendet. Sehr richtig sagt SCHUBERT - S O L D E R N : 1 „Welcher Detailforscher untersucht wohl zuerst, was das bedeute: Sein, Ding, Kausalität, Begriff, und welcher Forscher verwendet diese Begriffe Dicht." Aber schließlich hat dies beim Detailforscher nicht viel zu sagen, indes auch diejenigen Naturforscher, welche sich mit den allgemeinen Problemen beschäftigen, welche sich darum bemühen, den Schatz gesetzmäßiger Erkenntnis zu bewahren und zu vermehren, sie sollten sich doch des metaphysischen Charakters ihrer Wissenschaft bewußt sein. Denn nichts springt mehr in die Augen, als daß die Begriffe K r a f t , Atom, vor allem aber der Hauptbegriff „Materie" metaphysischer Natur sind. Sehr richtig sagt darüber SCHUBERTS O L D E R N (a. a. O. S . 53): „Die Naturwissenschaft setzt immer und überall einen Bewußtseinszusammenhang voraus, ist selbst nur in einem Bewußtseinszusammenhang denkbar, während sie doch von ihrem Standpunkte aus mit voller Berechtigung von diesem ZuHAM> KAUPFMANN'S Hauptwerk, in welchem er zum ersten Male die Bezeichnung für diese Art der Philosophie prägte und in welchem er ausführt, dalj die immanente Philosophie eine doppelte Aufgabe habe, nämlich die Analyse der wichtigsten abstrakten Begriffe und den Nachweis ihrer metaphysischen Bestandteile und dann die Synthese der realen empirischen Welt, hei(jt „Immanente Philosophie", 1. Buch „Analyse der Metaphysik", Leipzig 1893. Er hatte schon früher in einer kleineren Schrift, „Fundamente der Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre", 1890, eine Kritik der Ontologie gegeben. Für die immanente Philosophie kommen noch in Betracht: ILARIÜ SOCOIIÜ: „Die Grundprobleme der Philosophie", Bern 1895, der es versucht, den idealistische» Monismus zugleich zu einer Weltanschauung, zu einer ethischen über die erkenntnistheoretische Grundlage hinaus führenden Betrachtung umzuformen, dann W . SCHUPPE: „Erkenntnistheoretische Logik", B o n n l 8 7 8 , VON SCHUBERT-SOLDERN : „Grundlagen der Erkenntnistheorie", Leipzig 1884, A. v. LECLAIB: „Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie", Breslau 1882. Von französischen Autoren, die der immanenten Philosophie nahestehen, nenne ich RENOTJVIER: „Essays de critique générale", FOUILLÉE: „L'avenir de la Métaphysique" und BOIBAC: „ L ' i d é e d u P h é n o m è n e " . 1 Vgl. v. SCHUBEBT-SOLDERN, Leipzig 1884. S. 30.
„Grundlagen
einer
Erkenntnistheorie".
Drittes Kapitel.
240
sammenhange abstrahiert. Sie sollte daher aber auch nicht vergessen, dali sie abstrahiert, mithiu das, wovon sie abstrahiert, ursprünglich und von ihr unberücksichtigt vorhanden ist." Dies ist so einleuchtend, daß nun eine gauze Anzahl von Naturforschern sich gegen den wissenschaftlichen Materialismus wenden. Insbesondere ist hier OSTWALD zu nennen. Derselbe sagt wörtlich: 1 „Vom Mathematiker bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt «im Innern» gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen, daß die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen und daß diese Atome und die zwischen ihneu wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wiederholungen kann man den Satz hören und lesen, daß für die physische Welt kein anderes Verständnis gefunden werden kann, als indem man sie auf «Mechanik der Atome» zurückführt. Materie und Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen. E s ist meine Absicht, meine Uberzeugung dahin auszusprechen, daß diese so allgemein angenommene Auffassung unhaltbar ist, daß diese mechanistische Welt an sich den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet worden ist, daß sie mit unzweifelhaften und allgemein bekannten und auerkannten Wahrheiten in Widerspruch tritt. Der Schluß, der hieraus zu ziehen ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Die wissenschaftlich unhaltbare Anschauung muß aufgegeben und womöglich durch eine andere und bessere ersetzt werden. Die naturgemäß hier aufzuwerfende Frage, ob solch eine andere und bessere Anschauung vorhanden ist, glaube ich bejahen zu sollen." OSTWALD glaubt nun, in der energetischen Auffassung ein rein heuristisches, ein erklärendes Prinzip im Sinne KIECHHOFF'S gefunden zu haben. E r bekämpft die ganze Weltanschauung, welche ihren klassischen Ausdruck in der berühmten LAPLAOE'schen Idee der Weltformel gefunden. E r sagt wörtlich (S. 15): „Man bemerkt gewöhnlicht nicht, in welch außerordentlich hohem Maße diese allgemein verbreitete Ansicht hypothetisch, j a metaphysisch ist, man ist im Gegenteile gewöhnt, sie als das Maximum von exakter Formulierung der thatsächlichen Verhältnisse anzusehen. Demgegenüber muß betont werden,
1
1895.
Vgl. „Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus". S. 5 ff.
Leipzig
Metaphysik und Sozialwisseuschaft.
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daß eine Bestätigung der aus dieser Theorie fließenden Konsequenz, daß alle die nicht mechanischen Vorgänge, wie die der Wärme, der Strahlung, der Elektrizität, des Magnetismus, des Chemismus thatsächlich mechanische seien, auch in keinem einzigen Falle erbracht worden ist. Es ist keinem einzigen dieser Fälle gelungen, die thatsächlichen Verhältnisse durch ein entsprechendes mechanisches System so darzustellen, daß kein Rest übrig blieb. Zwar für zahlreiche Einzelerscheinungen hat man mit mehr oder weniger Erfolg die mechanischen Bilder geben können; wenn man aber versucht hat, die Gesamtheit der auf einem Gebiete bekannten Thatsachen mittels eines solchen mechanischen Bildes vollständig darzustellen, so hat sich immer und ausnahmelos ergeben, daß an irgend einer Stelle zwischen dem wirklichen Verhalten der Erscheinungen und dem, welches das mechanische Bild erwarten ließ, ein unlöslicher Widerspruch vorhanden war. Dieser Widerspruch kann lange verborgen bleiben; die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns aber, daß er früher oder später unweigerlich zu Tage tritt und das Einzige, was man von solchen mechanischen Bildern oder Analogien, die man mechanische Theorien der fraglichen Erscheinungen zu nennen pflegt, mit völliger Sicherheit sagen kann, ist, daß sie in jedem Falle einmal in die Brüche gehen werden." Auch der von uns öfters erwähnte M A C H behauptet für seine Disziplin, für die Physik nämlich, dasselbe. Auch er warnt nicht allein vor dem Materialismus als Weltanschauung, sondern auch vor den metaphysischen Hypothesen, die sich in Form streng exakter Auffassung in die Einzelwissenschaften selbst hineingeschlichen haben. Er sagt: 1 „Als einen weiteren Gewinn müssen wir ansehen, daß der Physiker von den herkömmlichen intellektuellen Mitteln der Physik sich nicht mehr imponieren läßt. Kann schon die «gewöhnliche Materie» nur als ein sich unbewußt ergebendes, sehr natürliches Gedankensymbol, für einen Komplex sinnlicher Elemente betrachtet werden, so muß dies um so mehr von den künstlichen hypothetischen Atomen und Molekülen der Physik und Chemie gelten. Diesen Mitteln verbleibt ihre Wertschätzung für ihren besonderen beschränkten Zweck. Sie bleiben ökonomische Symbolisierungen der Welt der Erfahrung." Zu OSTWALD dem Chemiker, zu M A C H dem Physiker gesellt sich auch BUNGE der Physiologe hinzu, welcher auf seinem Gebiete dem 1
Vgl. „Beiträge zur Analyse der Empfindungen" von Prof. Dr. E. Jena 1886. S. 142.
WBiSBNSBtiH, Marxismus.
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MACH.
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Mechanismus und Materialismus mit aller K r a f t entgegentritt.
„Mir
aber scheint es", sagt der gelehrte Autor, 1 „daß die Geschichte der Physiologie genau das Gegenteil lehrt.
Ich behaupte umgekehrt, j e
eingehender, vielseitiger, gründlicher wir die Lebenserscheiuungen zu erforschen streben, desto mehr kommen wir zur Einsicht, daß Vorgänge, die wir bereits geglaubt erklären
zu können,
hatten, physikalisch und chemisch
weit verwickelterer N a t u r
jeder mechanischen Erklärung
sind und
vorläufig
spotten." 2
Bis jetzt haben wir nur die Ansicht der modernen Erkenntnistheoretiker
und
Naturwissenschaftler
reproduziert;
es
handelt
sich
nun darum, diese Anschauungsweise auch a u f unsere Wissenschaft anzuwenden. haben,
daß
Verschiedene Naturforscher bestreiten, wie wir gesehen die
metaphysischen Hypothesen
für die
verschiedenen
naturwissenschaftlichen Einzelgebiete eine Notwendigkeit sind.
Aber
1 Vgl. „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie" von