Der konservative Charakter: Walter Benjamin und die Politik der Dichter [1. Aufl.] 9783839402498

Der »konservative Zug« Benjamins kommt immer dann zum Tragen, wenn er dem Destruktiven zuarbeitet. So kann Benjamin als

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German Pages 184 [183] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
„Poesie“ und „Leben“. Zur Einführung
Der Bergwald
Holz. Zu Benjamins wichtigstem Pseudonym
Bauideale. Die Bedeutung Stefan Georges
Sauberkeit. Vom Terror der Literaturkritik
Bergwerk. Die Elimination des Unsagbaren
Die Bahre. Vom Leben der Dichter
Himmelskörper
Dr. Nebbich. Das Glück der Lehre
Bauideale. Noch einmal
Blödigkeit. Vom Nachleben der Dichter
Das Problem einer nihilistischen Weltpolitik
Schluß
Literatur
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Der konservative Charakter: Walter Benjamin und die Politik der Dichter [1. Aufl.]
 9783839402498

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Marion Picker Der konservative Charakter

Marion Picker lehrt deutsche Literatur und Geistesgeschichte am Dickinson College, Carlisle, Pennsylvania/USA.

Marion Picker Der konservative Charakter. Walter Benjamin und die Politik der Dichter

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld; Lektorat & Satz: Marion Picker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-249-X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

INHALT „Poesie“ und „Leben“. Zur Einführung 9 Der Bergwald 19 Holz. Zu Benjamins wichtigstem Pseudonym 19 Bauideale. Die Bedeutung Stefan Georges 25 Sauberkeit. Vom Terror der Literaturkritik 49 Bergwerk. Die Elimination des Unsagbaren 68 Die Bahre. Vom Leben der Dichter 80 Himmelskörper 97 Dr. Nebbich. Das Glück der Lehre 97 Bauideale. Noch einmal 106 Blödigkeit. Vom Nachleben der Dichter 123 Das Problem einer nihilistischen Weltpolitik 146 Schluß 165 Literatur 167

Dieses Buch ist den Freundinnen und Freunden zugedacht, die mich während seiner Entstehung unterstützten: Martina und Wolf Eigen, Sabine und Susanne Nick, Gilda Pasetzky, Elke Siegel, Jocelyn Holland und Eric Baker. Rochelle Tobias, Gérard Bensussan, Philippe Lacoue-Labarthe und Rainer Nägele danke ich herzlich für ihre Anregungen und Kommentare. Folgende Institutionen gewährten Einblick in Archivmaterial: das Walter Benjamin-Archiv im Theodor W. Adorno-Archiv, Frankfurt am Main, die Germanistische Bibliothek der RWTH Aachen und die University Library of the Hebrew University, Jerusalem. Das Dickinson College (Carlisle, Pennsylvania) förderte die Veröffentlichung mit einem Druckkostenzuschuß. Ein Teil des Kapitels „Die Bahre. Vom Leben der Dichter“ wurde veröffentlicht unter dem Titel „Holz und Hain: Zur Aufgabe der Kritik“. In: Schuller, Marianne/Strowick, Elisabeth (Hg.) Singularitäten: Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Freiburg: Rombach, 2002, 375-385. Eine Vorstufe des Kapitels „Das Problem einer nihilistischen Weltpolitik“ erschien als „Darstellung als Entsprechung. Walter Benjamins Theologisch-Politisches Fragment“. In: Bedorf, Thomas et al. (Hg.) Undarstellbares im Dialog: Facetten einer deutsch-französischen Auseinandersetzung. Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1997, 117-126.

„P O E S I E “

UND

„L E B E N “. Z U R E I N F Ü H R U N G

„Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben, zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in ihm erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren ‚destruktiven Charakter‘ alle Leute sich einig waren“.1

Auf der ersten Seite ihrer Bibliografischen Recherche formulieren Hans Puttnies und Gary Smith das Ziel, den zahllosen „Hagiographien“ über Walter Benjamin die Frage nach seinem „wahren Charakter“ entgegenzustellen – indem sie die Verschränkung von Werk und Leben Benjamins als Skandalchronik aufrollen.2 In dieser ironischen Beleuchtung könnte den Lesern eine Eigenart des Biographischen ins Auge fallen: vorgeführt wird nämlich ein weiteres Mal, daß es Heiligen und Märtyrern nicht abträglich zu sein scheint, wenn ihnen eine gewisse Verworfenheit zugeschrieben wird – im Gegenteil.3 Die Identifikation zu analysieren, zu der sich die verschiedensten Lager – politische, philosophische – vom Phänomen „Benjamin“ eingeladen fühlten, mag ebenso lehrreich sein, wie es als beachtlich gelten kann, daß Benjamin aus der Vergessenheit, die als eine besondere Form des Verworfenen gesehen werden könnte, geradezu als Kulturgut wiederkehrte: Denkmäler wurden errichtet und Straßen nach ihm benannt. Die Möglichkeiten der Befragung, die sich dafür andeuten könnten, werden hier jedoch nicht verfolgt. Analysiert werden hingegen solche Zusammenhänge in den Schriften Benjamins, die wertvoll für ein Verständnis seiner Wirkung sein könnten, oder genauer, die seine späte Wirkung vorwegnehmen. Bemerkenswerterweise schuf er selbst wiederholt solche heilig-verworfenen Figuren, welche die Frage nach ihrem Verhältnis zur Erscheinung „Benjamin“ herausfordern. Sie sind Eliminationen dessen, 1

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Benjamin, Walter. „Der destruktive Charakter“. In: Gesammelte Schriften Band IV.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, 396 (im folgenden abgekürzt GS, gefolgt von Bandnummer und Seitenzahl). Puttnies, Hans/Gary Smith. Benjaminiana: Eine biografische Recherche. Gießen: Anabas, 1991. Bei den Heiligenfiguren der Religionen ließen sich zum Beispiel ein Bekehrungstypus (Paulus, Augustinus) oder ein antinomischer Typus (Sabbatai Zwi) ausmachen. Näher zur modernen Literatur könnten Dostojewski oder Artaud genannt werden.

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was immer als menschlich gelten könnte, bis auf einen Zug, ein Moment, eine ursprüngliche Prägung – und sie sind scheinbar verfangen in Widersprüchlichkeit, wie zum Beispiel der verwerfliche Gerechte im Aufsatz „Der Erzähler“. Derart stellt sich, in wenigen groben Strichen, das biographische Problem von Benjamins Charakter dar. Man könnte bei seiner Erkundung zunächst von Disparatestem ausgehen. Was wäre nicht alles unter „Benjamin“, was nicht unter „Charakter“ zu begreifen? Die Antwort auf die so gestellte Frage fiele traditionsgemäß dem Chronisten zu, und die Sammlung von Dokumenten zu Werk und Leben, wie Puttnies und Smith sie vorlegen, könnte einen Weg dahin weisen. Wie schon angedeutet, will die vorliegende Studie allerdings eher als an ein additives an ein eliminatorisches Verfahren sich halten. Eliminatorisch, insofern sie nicht Erscheinungen sammeln will, sondern einen Zug auszusondern sich vorgenommen hat, der die Erscheinungen des Benjaminschen Denkens prägt. Damit soll Benjamins eigener Auffassung vom Charakter entsprochen werden, wie er ihn an den Komödienfiguren Molières beispielhaft ausgebildet findet: „Der Charakter entfaltet sich in ihnen sonnenhaft im Glanze seines einzigen Zuges, der keinen anderen in seiner Nähe sichtbar bleiben läßt, sondern ihn überblendet“.4 Nun hat Benjamin später selbst, angeregt von der Begegnung mit einem Mann, der den denkwürdigen Namen Gustav Glück trug, ein Porträt einer solchen Figur entworfen, die so eindimensional wie verrufen daherkommt, nämlich „Der destruktive Charakter“. Die Bereiche, die gemeinhin als biographische oder autobiographische gesehen werden, sind schwerlich von solchen zu trennen, die man generell dem Werk und seiner Kritik zurechnet. Denn bei der Lektüre wird schnell deutlich, daß der Destruktive nicht anders als seine Gegenspieler – „Sammler, konservative, konservierende Naturen“ – vor allem als poetisches Prinzip zu gelten hat, und erstaunlicherweise genau wie diese im Dienste der Tradition, des geschichtlichen und dichterischen Gedächtnisses steht.5 Die ins Werk gesetzte Zerstörung ist eine besondere Form des Bewahrens, der in diesem Buch nachgegangen werden soll. Vom destruktiven Charakter ist es nicht weit bis zu einem Schriftzeichen, das an die Stelle eines anderen tritt, es löscht, selbst wiederum löschbar ist und so die Aufmerksamkeit des Betrachters weniger auf die Bedeutung des Geschriebenen denn auf seine materiellen, stofflichen Bedingungen lenkt. Im Sinne eines Palimpsests hat Benjamins Werk als „Biographie“ zu gelten, als der Text, in dessen Fasern das Leben und der Name Benjamins eingegangen sind. Die gesuchte Reduktion auf den Stoff des 4 5

GS II.1, 178. GS IV.2, 1000. Vgl. auch die veröffentlichte Fassung, GS IV.1, 398.

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Benjaminschen Denkens beträfe Werk und Wirkung, Material und Manier zugleich. Um im Bildbereich zu bleiben: Benjamin bediente sich an prominenter Stelle der Begriffe der Webtechnik,6 um das Werk eines Schriftstellers zu charakterisieren, der in der Verworfenheit wie auch in der bewahrenden Vergessenheit in seinem Element war, dem „Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel“ waren.7 Und wie in Benjamins Porträt von Marcel Proust dessen Leben und Werk unlösbar verwoben erscheinen – was weniger dem offensichtlichen Umstand zu danken ist, daß A la recherche du temps perdu ein erinnertes Leben zum Gegenstand hat, als vielmehr einem anderen, nämlich, daß das Werk eines Autors sein Leben ist – so ist Benjamin selbst ihm darin verwandt. Auch wenn er von Proust schreibt, nicht seine Blicke seien glücklich gewesen, sondern in ihnen hätte das Glück gesessen, bleibt für Benjamin der „wahre Charakter“ äußerlich, eine Erscheinung der Oberfläche,8 mag er auch eingefaltet sein in Blicke und Gesichtszüge wie das „Bild“ in die Proustschen Sätze.9 Das Bild, das Gesicht Prousts ist das seiner Welt im Moment ihres Untergangs. Die ihm von Benjamin zugeschriebene Komplizität mit der eigenen Epoche, sein schmeichlerischer und letztendlich zerstörerischer Wille, sich ihr perfekt anzubilden, bedeuten zugleich ihre Entstellung als historische „Entfaltung“. Ein willentliches Einverständnis mit der eigenen Welt wird sich schwerlich als Gemeinsamkeit von Benjamin mit Proust herausstellen lassen. Das, was über Benjamins Leben bekannt ist, weist allem Anschein nach in eine andere Richtung: sein Bild ist bestimmt von der Weigerung, sich intellektuell mit dem Vorgegebenen zu arrangieren, was einer seiner ersten Biographen als Situation „zwischen den Stühlen“ beschrieb.10 Auch wenn dies keinesfalls hinreichen könnte, die nachhaltige Wirkung von Benjamins Werk – intellektuelle Attraktion wie auch Unbehagen – zu beleuchten, wurde mit dieser Wendung prägnant auf Benjamins Zwiespältigkeit angespielt, Zwiespältigkeit gegenüber dem Judentum, dem „Deutschen“, und in politischer, philosophischer Hinsicht gegenüber konservativen Einflüssen und dem Marxismus. Sie ist in der GS II.1, 311. Zu Benjamins Beschäftigung mit Prousts „Nachtseiten“ vgl. auch die Notiz zur Begegnung mit Monsieur Albert, GS IV.1, 575-578. 7 Zum Zusammenhang von Wurf/Werfen und Textilem vgl. den Eintrag „Zettel“ in Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. von Elmar Seebold. Berlin, New York: De Gruyter, (23) 1995, 908. Die englische Entsprechung zu Zettel, „warp“, macht die Abstammung der webtechnischen Idee vom Werfen besonders deutlich. 8 GS II.1, 313. 9 GS II.1, 314. Was die „Oberfläche“ im Denken Benjamins betrifft: auf der gleichen Seite findet sich das bekannte Bild des aufgerollten-eingerollten Strumpfes, „Tasche“ und „Mitgebrachtes“ zugleich. 10 Fuld, Werner. Walter Benjamin: Zwischen den Stühlen. Frankfurt: Fischer, 1981. 6

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Literatur zu Benjamin ausführlich Thema geworden und wurde dabei dem Topos seines „Scheiterns“ angenähert. In der Anspielung auf die „Stühle“ treten vor allem zwei Elemente hervor: seine lang erwogene, aber nicht ernsthaft vorbereitete Reise nach Jerusalem – sprich seine Auswanderung – und sein schwieriges Verhältnis zur Universität. Nach deutlichen Anzeichen einer drohenden Ablehnung hatte er im Jahre 1926 seinen Antrag auf Habilitation in Frankfurt am Main selbst zurückgezogen. Damit war Benjamins konfliktreiche Auseinandersetzung mit den Institutionen der Bildung, die bis auf die erste Berührung mit der Reformpädagogik in Haubinda 1904-1906 zurückverfolgt werden kann, jedoch nicht beendet.11 Auch 1929, in dem Jahr, in dem er den Proust-Essay verfaßte, erwog er noch, Gershom Scholem nicht allein nach Palästina, eben auch an die Universität zu folgen, aber das „materialistische“ Projekt, das in den dreißiger Jahren Form und Namen der Pariser „Passagen“ annehmen sollte, hatte begonnen, auf seine theologisch geprägten sprachphilosophischen Interessen einzuwirken.12 Dies ist freilich nur ein herausgegriffenes Moment von widerstreitenden Forderungen intellektueller und politischer Stellungnahme. In ihnen aber deutet sich, zumindest der Form nach, das Skandalon „Zum Bilde Benjamins“ an, das sich an seinen polarisierenden Umgang mit den auseinanderfliegenden Extremen seiner Zeit heftet. Es war ein Umgang, der ihm Zustimmung gegenüber dem Denken eines Ludwig Klages oder Carl Schmitt nicht grundsätzlich verbat – der aber ebenso ohne jedes grundsätzliche Einverständnis auskam. Beim „einverstandenen“ Proust war es das Leiden, das die „Verjüngung“ und die zeitliche Straffung brachte, die als Suche nach der verlorenen Zeit bekannt geworden ist. Benjamin geht in seinem Aufsatz sogar noch weiter, wenn er andeutet, daß Proust nicht nur sein Leben und sein Leiden in den Dienst seines Werkes genommen habe, sondern jene vielleicht sogar als Wirkungen des Werks zu begreifen wären.13 Jedenfalls impliziert Benjamins Porträt von Proust dessen Erstickungsangst, das nervöse Asthma, als die Ausprägung der formvollendet gepflegten gesellschaftlichen und lebenstechnischen Einengung, die im Werk wie auch im Leben mit den Mitteln der Parodie bis genau vor den Punkt der Implosion gebracht wird. Benjamins Darstellung dieser Verhältnisse bei 11 Vgl. Tiedemann, Rolf, Christoph Gödde und Henri Lonitz (Hg.). Walter Benjamin 1892-1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Marbacher Magazin 55 (1990), 30-31. 12 Vgl. Scholem, Gershom. Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, (4) 1997, 185-191. 13 Vgl. GS II.1, 323: „Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat“.

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Proust ist durchzogen von der Spannung zwischen Nähe und Distanz: „Zerfetzt von Heimweh lag er auf dem Bett, Heimweh nach der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt“.14 In diese Welt weist er und berührt dabei weder den Leser unmittelbar, noch ist er selber auf irgendwelche Weise dem Tastsinn zugänglich. Jene geschichtliche Welt hatte sich für Benjamin in ihrem geistigen Zusammenhang schon atomisiert. Prousts Werk zu dieser Welt war ihm nicht zufällig Höhepunkt wie Auflösung einer Gattung zugleich,15 ein einzigartiges „Nocheinmal“, das um die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung weiß – nicht nur, was die gelebte Welt, sondern vor allem ihre geschlossene literarische Darstellung betrifft. Aber auch wenn Benjamin im Gegensatz zu Proust Wohnung zu nehmen in einer geistig und lebenstechnisch definierbaren „Welt“ nicht mehr möglich war, ist das, was Skandal wie Faszinosum Benjamins ausmacht, in der Verwandtschaft zu Proust analysierbar. So wird ihm denn von Theodor W. Adorno ebendieselbe „Unberührbarkeit“ attestiert, die er selber bei Proust vorfand.16 Im Frühjahr 1940 – und Adorno ist hier wiederum Zeuge, diesmal als Briefadressat – kam Benjamin noch einmal auf Proust zu sprechen und lieferte einen Aspekt nach, der die elf Jahre zuvor verfaßten Bemerkungen über den Autor in ein anderes Licht rückt: nämlich das Verhältnis der assimilierten Juden in Frankreich zu ihrer Lage. Diese ist gekennzeichnet durch die Beherrschung der gesellschaftlichen Mimikry – und untersteht einer Grundbedingung, die Benjamin mit Adornos, Proust übersetzenden Worten benennt als „das ist es nicht“.17 In der nachahmenden Haltung des bürgerlichen Judentums bleibt also eine Distanz der Ernüchterung, bei aller Affirmation – nicht von ungefähr fällt in diesem Kontext das Stichwort der „Dreyfuscampagne“.18 Die Distanz zum gesellschaftlichen, bürgerlichen Dasein ist die entscheidende Voraussetzung für die Nachahmung desselben bei den französischen Juden, und 14 GS II.1, 314. 15 Vgl. GS II.1, 310. 16 Vgl. Adorno, Theodor Wiesengrund. Über Walter Benjamin. Frankfurt am Main: 1970, 13; 71. Diese Charakteristiken lehnen sich in einigem dem an, was Benjamin über Proust schrieb. 17 Vgl. „Sie haben natürlich Recht an Proust zu erinnern […] Sehr schön sprechen Sie von der Erfahrung des ‚das ist es nicht‘ – eben der, die die Zeit zu einer verlorenen macht. Mir will nun scheinen, daß es ein tief verstecktes (aber darum auch unbewußtes) Modell dieser Grunderfahrung für Proust gegeben habe: nämlich das ‚das ist es nicht‘ der Assimilation der französischen Juden“. In: Benjamin, Walter. Gesammelte Briefe VI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995-2000, 449. (im folgenden abgekürzt GB, gefolgt von Bandnummer und Seitenzahl). Daß Proust Halbjude war, und damit noch deutlicher zwischen den Welten stand, ist für Benjamin ein Faktor, der die Beobachtungsgabe noch verschärfte. 18 GB VI, 450.

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diese Distanz wiederum ergibt sich aus der Ahnung, die sich bei ihnen schon früher eingestellt haben dürfte als bei ihren nicht-jüdischen Zeitgenossen: daß das Vorbild keinen größeren Anspruch mehr auf Echtheit hat als die Kopie, eben: „das ist es nicht“. Die Erfahrung – diese unter anderen – entleert sich. Sie wird auf ihre leere Form, auf die Erfahrbarkeit selber verwiesen. Es ist entscheidend, daß Benjamins eigener Erfahrung in dieser Hinsicht die Situation des assimilierten jüdischen Großbürgertums in Deutschland zugrundelag, wenn auch nicht für sein Verhältnis zu Proust. Daß seine Situation nicht die französische der Jahrhundertwende war, entfernt Benjamin von Proust weniger als der universelle und manifeste Rückzug der Erfahrbarkeit selber. Dieser Rückzug läßt die Recherche zugleich zum späten Abschluß der Gattungsentwicklung werden: ein historisch schon fast nicht mehr mögliches Erringen von Erfahrung, über dreitausend Seiten hin, an den Rändern der enggeschriebenen Konvention. Benjamin sprach in anderen Zusammenhängen, in anderen Essays wiederholt vom Schwinden der Erfahrung.19 Allem „Zeitgenössischen“ von Benjamin und Proust zum Trotz steht der manifest gewordene Verlust historisch zwischen beiden Schriftstellern. Aber er ermöglichte gerade auch dieselbe Spannung von Nähe und Distanz zwischen ihnen, die Benjamin als Hauptzug in seine physiognomische Karte der Recherche und ihres Autors eintragen sollte. In der Zeit der Übersetzungsarbeit an Prousts Roman schrieb Benjamin an Scholem: „Die unproduktive Beschäftigung mit einem Autor, der Intentionen, die, ehemaligen zumindest, von mir selber, verwandt sind, so großartig verfolgt, führt bei mir von Zeit zu Zeit so etwas wie innere Vergiftungserscheinungen herauf“.20 An dieser Briefstelle selbst macht sich Prousts Einfluß geltend – „Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstikkungsangst nach“ –, in einer Häufung von parenthetischen Unterbrechungen, die Benjamins üblichem, an Kommata armen Schreibfluß entgegengesetzt sind.21 Erwähnt sei außerdem, daß Benjamin in seiner Anbildung an Proust nachahmend erkrankte und wochenlang unter Depressionen litt.22 Die entscheidenden Fragen für das Verhältnis von Benjamins Leben und Werk, von seinem Denken und seiner Dichtung, von seinem Deutsch- und Jüdischsein ergeben sich aus der Eigenartigkeit des eigenen Ehemaligen, worin Benjamin sich Proust bedrückend verwandt und von der Beschäftigung mit ihm bedrückt fühlt. In der zu großen 19 Vgl. „Der Erzähler“, GS II.2, 438-465; „Erfahrung und Armut“, GS II.1, 213-219. 20 GB III, 195 (Brief an Scholem vom 18. September 1926). 21 GS II.1, 323. 22 Benjamin sprach in Briefen wiederholt vom „gesundheitsschädlichen“ Effekt der Proust-Lektüre. Vgl. GB III, 150; 151; 179; 188.

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Nähe zu Proust liegt eine zu große Nähe zur Vergangenheit – zur „eigenen“.23 Benjamin hat in den expliziten Rückblicken auf sein Leben, nicht „so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert“,24 sondern wie es einer im Medium einer kritischen und zugleich dichterischen Sprache konstruiert haben mag, immer nur eine entscheidende Zäsur hervorgehoben, bei der das Einzelschicksal nicht ohne das Universelle gedacht werden kann, das eine sich dem anderen jedoch nicht mehr mitteilen läßt. „Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist“.25 Benjamin sprach damit auf die Ratlosigkeit einer Generation von Erfahrungslosen an. Erfahrungslose, da ihnen Erfahrung ohne Erfahrbarkeit aufgestempelt wurde – eine wertlos gewordene Erfahrung, ihres Namens nicht würdig, da die Durchlässigkeit vom Einzelnen zum Universellen, vom Universellen zum Einzelnen nicht mehr gegeben ist. „Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber“.26 Aus dem Bankrott der tradierbaren Erfahrung, die auch im Roman, wie das Werk Prousts ihn exemplarisch vorstellt, nur noch als vereinzelte Errungenschaft möglich war, zog Benjamin die geistigen, politischen und freundschaftlichen Konsequenzen. Das, was für ihn nach diesem Einschnitt kam, ist, überspitzt formuliert, sein Werk. Es nahm seinen Beginn im Jahre 1914, zwischen zwei Aufsätzen.27 Der Blickwinkel, der auf den folgenden Seiten gegenüber diesem Werk eingenommen werden soll, ist der, es als eine Bearbeitung zu sehen, eine Bearbeitung der Erscheinungen und des Wesens des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Kind Benjamin ist.28 Im Register des Pathologischen ließe sich formulieren: die Bearbeitung desjenigen, das Beklemmung verursacht, wenn keine „produktive“ Beschäftigung stattfindet. Dabei an Psychoanalyse zu denken, verbietet sich nicht, solange dabei nicht die Analyse der Innerlich23 Zu den Unterschieden der Zeitauffassung bei Benjamin und Proust vgl. auch Peter Szondis Aufsätze „Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin“ und „Benjamins Städtebilder“. In: Schriften II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, (2) 1991, 275-294 bzw. 295-309. 24 GS II.1, 311. 25 GS II.2, 439. Ohne daß in „Der Erzähler“ Proust namentlich erwähnt wäre, berühren die Kapitel über die Entwicklung des Romans in Korrelation zur Erfahrung aufs engste die in Benjamins Auseinandersetzung mit der Recherche gestellten Fragen. 26 Ebd. 27 „Das Leben der Studenten“ und „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“. 28 Freilich eine Bearbeitung nicht nur des neunzehnten Jahrhunderts, sondern eben jener „Urgeschichte der Moderne“, die er zu schreiben sich vorgenommen hatte.

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DER KONSERVATIVE CHARAKTER

keit eines Individuums gemeint ist.29 Gerade weil Benjamin die Widersprüche einer ganzen Generation deutsch-jüdischer, radikaler und zugleich bürgerlicher Intellektueller im Extrem ausprägte, kann gezeigt werden, inwiefern die Eigenheiten seines Denkens und – damit unlöslich verbunden – seines Schreibens die Situation analysierend in sich bergen, statt sie lediglich als Symptom auszubilden. Die Zäsur von 1914 erlaubt eine Beurteilung nicht nur all desjenigen, was ihr vorausging, sondern auch des ihr Nachfolgenden; genauer, vorher und nachher werden im Augenblick ihrer Entsprechung gegenstandslos. Damit ist das, was für Benjamin, wie er 1930 schrieb, den „herrlichen Grundlagen“ gleichkommt, „die ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahr gelegt hatte“,30 auch hier Fluchtpunkt für die Darstellung seines poetologischen und politischen Denkens.31 Dazu sind jedoch sogleich begriffliche Einschränkungen anzuführen. Falls sich die Bezeichnung „Grundlagen“ auf den in jenem Lebensjahr verfaßten Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ bezieht, wie man allgemein annimmt,32 dann wird der Äußerung einiges an Ironie verliehen durch den Umstand, daß in diesem Aufsatz der „Grund“ sich als grundlos erweist. Eben darum soll hier Grundlagen wie Positionen in dem Maß mißtraut werden, wie Benjamin diese sich erarbeitete, um sie in Frage zu stellen. Als ein Beleg hierfür kann sogleich der Kontext der zitierten Stelle über das zweiundzwanzigste Lebensjahr angeführt werden. Die Grundlagen, die keinen Grund boten, stehen in denkwürdigem Verhältnis zu Benjamins Insistenz auf „einer Entscheidung, die nicht mehr lange auf sich wird warten lassen“.33 Auf Drängen von Scholem versprach Benja-

29 Vgl. Benjamins Äußerungen über Erinnerung und „Chock“, bei denen er auch Freuds Arbeit Jenseits des Lustprinzips anführt: GS I.2, 612-613. 30 GB III, 521, aus einem Brief an Scholem vom 25. April 1930. Diese Stelle wird meist zitiert in der Absicht, für die Zeit um 1930 einen Neuansatz in Benjamins Denken zu belegen. Die Erwähnung der Grundlagen von 1914, auf denen sich „das ganze Leben nicht“ konstruieren ließ, stehen jedoch in einem Kontext, in dem der Freund Rechenschaft verlangt hatte über Benjamins intellektuelle Position und seine Reisepläne. Dieser antwortet ausweichend; sein „Neuanfang“ ist vor allem als solcher der äußeren Umstände zu begreifen, was wiederum eine Entscheidung über die geistige Position verlangte, vor der er sich zum Zeitpunkt seines Briefes stehen sah. 31 Damit ist impliziert, daß, obwohl sich die vorliegende Untersuchung zunächst den „frühen“ Schriften Benjamins zuwendet, sie die Werke der dreißiger Jahre ebenfalls betrifft. 32 Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber in GS II.3, 922. Auch die Herausgeber der amerikanischen Ausgabe vertreten diese Ansicht. Vgl. Benjamin, Walter. Selected Writings, Band 1 (1913-1926). Hg. von Marcus Bullock und Michael W. Jennings. Cambridge: Harvard University Press, 1996, 499. 33 GB III, 521.

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min eine grundsätzliche und baldige Klärung seiner Position in Bezug auf das Jüdische, wovon abermals eine eventuelle Auswanderung nach Palästina abhing. Benjamins Selbsteinschätzung soll hier nicht weiter interessieren – allerdings schon viel mehr, daß diese Position, die keine ist, als eine „vor der Entscheidung“ gesehen werden muß. Wie er zeitlich im Interim in seinem Element war, so politisch im Interregnum. Es gilt sich also zu hüten vor der Feststellung einer geistesgeschichtlichen oder gar persönlichen „Identität“ Benjamins – ob jüdisch oder deutsch, revolutionär oder konterrevolutionär, beides oder keins von beiden. Für die vorliegende Studie ist von Interesse der Bereich des Zusammenfalls von Leben und Werk, die beide den Namen Benjamin tragen: der Name ihres, seines Charakters. Daß Benjamin sich zwischen den Extremen wußte und zweideutig nicht nur zum Judentum, sondern auch zum Marxismus und zu Teilen der „konservativen Revolution“ in Deutschland verhielt, ist die Feststellung, von der diese Studie lediglich auszugehen hat. Folglich wird, wer nach einer Bestandsaufnahme von Benjamins Ideologierezeption sucht, hier vergeblich suchen. Ziel hingegen ist es, der politischen Zweideutigkeit bis in die sprachlichen, ja literarischen Falten von Benjamins Texten und Namen zu folgen, was im ersten Hauptteil, „Bergwald“, geleistet werden soll. Im zweiten Hauptteil, „Himmelskörper“, wird es darum gehen, die Funktion der sprachlogischen Eigenheiten des Benjaminschen Denkens herauszustellen. Die in diesem Denken waltende Kongruenz von Politischem und Poetischem soll also vor allem untersucht werden im Hinblick darauf, was es ist, das ihre komplexe Darstellung trägt. Nicht selten haben schon die elementarsten Definitionen Benjamins – was Politik, was Kritik, was Dichtung sei – eine Vexierbildern vergleichbare Wirkung. Es läßt sich daher nur mit vorläufigen Begriffen operieren, denn auf Benjamins politisches Denken den Terminus der „Position“ anwenden zu wollen, wäre ebenso müßig, wie für die Darstellung der politischen Dimension seiner Sprache sich auf „Definitionen“ einzulassen. In Frage stehen also Modalität und Mittel von Denken und Darstellung: der Charakter Benjamins, wie er sich in seiner Sprache ausprägt. Diese darstellerischen und argumentativen „Mittel“, seine Topoi und Figuren, aber auch die Pseudonyme, mit denen er Texte zeichnete, sind wiederum empfänglich für die biographischen Momente der Texte. Dementsprechend finden extreme Positionen, an denen sich das Denken Benjamins aufhielt, ihr Korrelat in den freundschaftlichen Begegnungen seines Lebens. Nicht aber sollen diese „Einflüsse“ als aufeinanderfolgende Strömungen gesehen werden, zwischen denen Benjamins Haltungen sich hin- und herbewegten. Vielmehr sprachen jene Begegnungen –

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mit Friedrich C. Heinle, Scholem, Florens Rang und Hugo von Hofmannsthal, Asja Lacis, Bertolt Brecht, Adorno – und das, was sie darstellten, auf potentiell Vorhandenes im Kräftegefüge von Benjamins Denken an.34 Diese Sachlage ist durchaus verwandt der Eingebung, die Freud zur Erklärung der Zeitstruktur des Unbewußten beim Anblick Roms kam: er dachte sich die aufeinanderfolgenden architektonischen Zustände der Stadt ineins. Die Vorstellung ist die der Gleichzeitigkeit aller geschichtlichen Erscheinungen an ihrem – im Beispiel allerdings durchaus profanen – Endpunkt. Auf diese Weise, aber auf die Geschichte eines Menschen bezogen, soll auch die Abbreviatur zu verstehen sein, die hier Charakter genannt wird. Benjamin selbst schrieb in diesem Zusammenhang: „Ein Mann, der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt“.35 Benjamin wendet diese Formulierung auf eine Wesensbestimmung der Romanfigur hin. Deutlich wird dabei, daß sein Bild von Proust durchaus das einer solchen Figur ist: als ob sie schon immer gestorben wäre. Daraus leitet sich die Möglichkeit her, auch Benjamin als die Hauptfigur seines Werks zu sehen. „Nicht alles an diesem Leben ist musterhaft, exemplarisch aber ist alles. Es weist der überragenden schriftstellerischen Leistung dieser Tage ihren Ort im Herzen

der

Unmöglichkeit,

im

Zentrum

und

freilich

zugleich

im

Indifferenzpunkt aller Gefahren an und kennzeichnet diese große Realisierung des ‚Lebenswerks‘ als eine letzte auf lange. Prousts Bild ist der höchste physiognomische Ausdruck, den die unaufhaltsam wachsende Diskrepanz von Poesie und Leben gewinnen konnte. Das ist die Moral, die den Versuch rechtfertigt, es heraufzurufen“.36

34 Vgl. GB III, 520. 35 GS II.2, 456. Hervorhebung im Original. 36 GS II.1, 311.

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DER BERGWALD „Sie haben mich kommen lassen, damit ich Ihnen von einem Dichter erzähle. Aber ich kann Ihnen nichts erzählen, was Ihnen seine Gedichte nicht erzählen können, weder über ihn, noch über andere Dichter, noch über Dichtung überhaupt. Was das Meer ist, darum darf man am wenigsten die Fische fragen. Nur höchstens, daß es nicht von Holz ist, erfährt man von ihnen“.1

H o l z . Z u B e n j a m i n s w i c ht i g s t e m P se u d o n ym In den frühen dreißiger Jahren nahm Benjamin für Veröffentlichungen in Deutschland das Pseudonym „Detlef Holz“ an. Er zeichnete so auch seine Briefe an Gretel Karplus, später Gretel Adorno, die er wiederum mit ihrem Spitznamen, „Felizitas“, anredete.2 Für den Zusammenhang von Charakter, Namen und Benjamins Verhältnis zum Deutschen läßt sich an der Wahl des Pseudonyms Wesentliches beobachten. Während der ostentativ „germanisierende“ Autorenname qua Verbergung ab 1932 die Fortsetzung der Mitarbeit Benjamins an deutschen Zeitschriften sicherstellen sollte, war die Verwendung des Namens „Detlef“ in der Korrespondenz mit Gretel Karplus Zeichen eines – ebenso von Ironie getränkten – zarten freundschaftlichen Einverständnisses. Auch hier klingt das Motiv der Verbergung an, aber gewendet in den Ton einer geheimen Mitwisserschaft: diese Komplizität per Korrespondenz bildete in den Pariser Jahren Benjamins eine Form der Geborgenheit aus. Die Tragweite des Namens „Holz“ bleibt dabei allerdings selbst verborgen – Verborgenheit ist geradezu sein Wesen. Es soll hier nicht als Zufall betrachtet werden, daß Gretel Karplus alias Felizitas die Empfängerin eines großen Rechenschaftsberichts über das im „Leben“ wie im „Denken“ wirkende 1 2

Hofmannsthal, Hugo von. „Poesie und Leben“. In: Gesammelte Werke: Reden und Aufsätze I, 1891-1913. Frankfurt am Main: Fischer, 1979, 19. Zwar ist die direkte Bedeutung dieses „glücklichen“ Namens, den Benjamin zusammen mit der Unterschrift „Detlef“ in einem Brief vom 15. April 1933 erstmalig verwendet (vgl. GB IV, 175), ohne Zweifel wichtig, es läßt sich jedoch vor allem die „Felizitas“ eines Theaterstücks anführen, an dessen Abfassung Benjamin beteiligt war (Speyer, Wilhelm. Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh: Ein Schauspiel in drei Akten. Berlin: Drei Masken-Verlag, 1933). Vgl. GB IV, 354-355.

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Wesen Benjamins, oder vielmehr Holzens, war. Als Antwort auf ihre vorsichtige wie kritische Anfrage bezüglich seiner Freundschaft zu Bertolt Brecht schrieb er ihr im Juni 1934: „In der Ökonomie meines Daseins spielen in der Tat einige wenige gezählte Beziehungen eine Rolle, die es mir ermöglichen, einen, dem Pol meines ursprünglichen Seins entgegengesetzten zu behaupten. Diese Beziehungen haben immer den mehr oder weniger heftigen Protest der mir nächststehenden herausgefordert, so die zu B. augenblicklich – und ungleich weniger vorsichtig gefaßt – den Gerhard Scholems. In solchem Falle kann ich wenig mehr tun, als das Vertrauen meiner Freunde dafür erbitten, daß diese Bindungen, deren Gefahren auf der Hand liegen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr, die im allgemeinen auch meinen Freunden nur in Gestalt jener ‚gefährlichen‘ Beziehungen augenfällig erscheint“.3

Aus diesen Zeilen ergeben sich einige der Fragen, die – schwerlich auf linear zu verfolgende Art – den Weg durch die nächsten, dem Komplex „Holz“ und „Wald“ gewidmeten Kapitel weisen werden. Die im Brief an Gretel Karplus vorgestellte Konstellation von Extremen, hier von Benjamin auf sich selbst bezogen, muß als exemplarisch für seine Denkweise gelten; dialektisch könnte sie der Adressatin und ihrem Lebensgefährten erschienen sein, ob sie aber in ihren Konsequenzen, der angekündigten „Fruchtbarkeit“, immer noch dialektisch ist – dieser Zweifel wird manche der nächsten Seiten begleiten. Benjamin hebt etwas an seinem Denken und Leben hervor, das wesentlich verborgen ist, und auch nach seinen Ausführungen immer noch verborgen und zurückgehalten bleibt. Sichtbar wird nur die Gefahr – und auch sie lediglich in einer bestimmten Gestalt, der der „Beziehungen“ und „Bindungen“ – und sichtbar auch, kraft dieser Gefahr, die „Weite“ und „Freiheit“ des Denkens. Es liegt etwas in der Darstellungsweise Benjamins, das dieses Denken als ein immer noch bevorstehendes erscheinen läßt, ein Denken, das den Freunden abgebeten und geschuldet wird. Die Gefahr ist das, was diesem Denken die Prägung gibt, oder, in den Worten des Briefschreibers selbst: ihm „Gesicht“ gibt, anhand dessen das Denken nicht nur erkannt werden kann, sondern selber hinaussieht. Die menschlich anmutenden Züge des Denkens, das ohnehin schon dem „Leben“ parallel geführt wird, sind nicht zu übersehen, ebensowenig wie die Gefahr, die aus ihrer Verbor3

GB IV, 440-441.

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genheit nur in den gefährlichen freundschaftlichen Konstellationen hervortritt, und auch das in einer dem Optischen entliehenen Wortwahl, nah einem Anthropomorphismus: die Gefahr gibt Gesicht, aber wird wiederum auch Gesicht, an etwas sichtbar – „augenfällig“. Es wäre darüber nachzudenken, inwiefern Benjamins, Holzens Denken nicht nur in und durch Gefahr statthat, sondern dieser Gefahr selbst zum Verwechseln ähnlich sieht. Die erste Frage, die also für den weiteren Gang der Untersuchung festzuhalten wäre, ist die nach dem Verhältnis Benjamins zur Gefahr, und wie er selber unterstreicht, seines „Lebens“ wie seines „Denkens“. Dabei eröffnet sich die historische Dimension seiner Lebensdarstellung, wie deutlich wird, wenn man, im Begriff, sich die anschließende Frage zu erarbeiten, auf den ersten Teil des zitierten Briefabschnitts zurückgeht. Die Frage hat sich auf das zu beziehen, was in ihm unausgesprochen und verborgen bleibt. Nicht nur ist im ersten Satz der zweite „Pol“ als Wortwiederholung ausgelassen – derjenige Pol, den Benjamin mit Hilfe seiner Beziehungen behaupten will. Bei näherer Betrachtung dieser Formulierung verliert sie die Selbstverständlichkeit ihres Gefüges. Zweifelhaft ist, ob der Pol des „ursprünglichen Seins“ denkbar ist ohne Benjamins Theorie des Ursprungs, mit deren Darstellung im Ursprung des deutschen Trauerspiels er Gretel Karplus vertraut wissen durfte.4 Dieser Theorie zufolge gibt das Ursprüngliche sich nur als Gegenstand einer Konstruktion, einer „Doppeleinsicht“, zu erkennen: als Wiederhergestelltes und noch Kommendes.5 Ausgerichtet an Benjamins „ursprünglichem“ Pol, ist der „entgegengesetzte“ Pol also Teil einer Versuchsanordnung; er ist ein Provisorium, mithilfe dessen ein Ursprung zu restaurieren, aber auch noch einzulösen ist. Merkwürdigerweise sind beide Pole auf eine Art aufeinander angewiesen, die keinem von beiden Priorität einräumt: der erste bedarf des anderen, um sich ihm entgegenzusetzen, dieser andere, „ursprüngliche“, wird aber erst durch den ersten ermöglicht. Wenn dies ein Bild von Benjamins Leben und Denken gibt, erweist „er“ sich in der Tat als prekäre Formation. Keiner der „Pole“ oder „Extreme“ kann als Grundlage gelten. Was immer sie tragen mag, es wird nicht zur Sprache gebracht, wenn sie es auch in sich birgt. Dieses Verborgene ist jedoch weder von Benjamin zurückgehalten, noch braucht es vorgängig zu sein.6 4

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Theodor W. Adorno hatte vor dem Entzug seiner venia legendi in Frankfurt am Main Vorlesungen gehalten, die auf den Ursprung des deutschen Trauerspiels so ausgiebig wie implizit Bezug nahmen. Vgl. GS I.1, 226. Benjamin beabsichtigte im April 1934, „O.E. Tal“ als Pseudonym zu verwenden, ein Palindrom von „lateo“ (lateinisch für „verborgen, geborgen sein, unbekannt sein, übersehen werden”). Vgl. GB IV, 401; 404.

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Diese zweite Frage, nach dem Verborgenen, soll in den folgenden Kapiteln auf weitere Auskünfte darüber führen, aus welchem Holze Benjamin ist. Die Redensart führt den Zusammenhang von Charakter und Ursprung recht deutlich vor, mehr noch, sie bezieht ihn auf die Materie – die in der Philosophie exemplarisch auf eine lange Tradition als „Holz“ zurückblicken kann.7 Benjamins Art, in seinen Briefen an Gretel Karplus auf sein Pseudonym anzuspielen, gibt zu verstehen, daß solcherlei hölzerne Implikationen durchaus beabsichtigt waren, zum Beispiel, wenn er sie als „Blüte in meinem ziemlich kahlen Lebensbaum“ anspricht.8 Das Holz Benjamins, wie seinen Erklärungen zu seinen freundschaftlichen Beziehungen zu entnehmen ist, ist jedoch nicht sein eigenes. Das will jedoch nicht besagen, daß der beschriebene Vorgang sich nicht zu einem großen Teil zwischen Aneignung und Entäußerung abspielt. Was sich „Benjamin“ nennt, könnte sowohl als die Gesamtheit des gefährlichen Prozesses zwischen den Extremen wie auch als sein Ergebnis angesehen werden. Daran zeichnen sich weitere Fragen ab. Benjamin verschweigt suggestiv, worin die künftige „Fruchtbarkeit“ bestehen könnte, für die er sich das Vertrauen seiner Freunde auserbittet. Er, sein Leben, sein Denken, sein Werk scheinen sich beharrlich anzukündigen. Die Rolle der Freunde ist jedoch nicht nur die von geistigen Gläubigern, sondern auch, Teil der gefährlichen Anordnung zu sein, als „Material“ zu dienen. Wenn Benjamin von „‚gefährlichen‘ Beziehungen“ spricht, ist es nahezu unvermeidlich, an Laclos’ Les liaisons dangereuses zu denken, auch dies ein Briefroman, dessen Skandal nicht zum geringsten Teil im Prinzip der Vertauschung und Stellvertretung besteht.9 Die Intrige, der Roman schlechthin, verzehrt letzten Endes die einzelnen Figuren. Was in Benjamins Briefen an Gretel Karplus verschwiegen und dahingestellt bleibt, ist zum einen, inwiefern Adorno in ihnen ersetzt wird, und – was dem nicht widerspricht – zum anderen, inwiefern er in ihnen gemeint war und selbst die Stelle eines entgegengesetzten Pols in der werdenden Konfiguration „Benjamin“ beziehungsweise „Holz“ einnimmt. In einer Notiz, betitelt „Materialien zu einem Selbstporträt“, schrieb dieser: „Aufklärung des Rätsels, warum ich niemanden erkenne, die Leute verwechsle. Weil ich nicht erkannt sein will; selber verwechselt werden will“.10 Dabei sollte nicht vergessen werden, daß „Holz“ auch eine der Übersetzungen von „Materia“ ist. 8 GB IV, 431 (Brief vom 24. Mai 1934). 9 Nichts spricht dagegen, Benjamins eigene Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften heranzuziehen, die von einer biographischen Konstellation flankiert war. Das darin angesprochene Molekülmodell findet auch im Briefvokabular einen leichten Widerhall: „Bindungen“. 10 GS VI, 532. 7

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Den Fragen nach der Funktion der Gefahr in Benjamins Leben und Denken, nach der Verborgenheit und dem „Charakter“-Material schließt sich die nach dem Namen an. Eigenstes und Überpersönliches zugleich, ist der Name dem Menschen vorgegeben, auch in dem Sinne, daß er wie der Ursprung eine Vorgabe ist, die zu erfüllen bleibt: „Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet“.11 Mit dem, was am Pseudonym den Namen betrifft, verhält es sich nicht anders. Hinzu kommt, abgesehen vom offensichtlichen Zweck der Vertauschung und Verwechslung beim Pseudonym, daß es seinem Wesen nach poetisch ist, das heißt, deutbar und nach einer Deutung verlangend: das Pseudonym vereint das Gegebene und vorgegebene Wiederzuerreichende des Namens mit einer Intention. Sie ist sowohl verbergend als auch beredt, insofern den Eingeweihten – im vorhin genannten Beispiel Gretel Karplus – damit ein Signal gegeben wird, daß das Pseudonym zu einem anderen Grade als der vorgegebene Name übersetzbar und interpretierbar ist. Anders gesagt, das Pseudonym ist schon eine Übersetzung des Eigennamens; es hält sich in der dichterischen Balance zwischen einem Formwillen und dem der Sprache Anvertrauten. Mit der Zerstreuung, die in der Deutbarkeit und dem Anders-gedeutet-werden-wollen des Pseudonyms beschlossen liegt, verhält es sich wie mit dem polaren Lebensmodell von Holz, von Benjamin, in dem er über extrem anderes oder vielmehr extrem andere auf seinen Ursprung verwiesen wird. So ist es im übrigen, Benjamin zufolge, auch mit den Übersetzungen: sie führen vom „Original“ fort, deuten aber verborgen und nachhaltig auf seine „wahre“ Bestimmung, auf die Bestimmung der Sprachen.12 In den folgenden Teilkapiteln wird es darum gehen, die vorgestellten Aspekte des Pseudonyms „Detlef Holz“ in ihrer Tragweite für den Charakter Benjamins zu untersuchen. Deutlich dürfte dabei geworden sein, daß Benjamin daraus schöpfte, den eigenen Namen so zu betrachten wie ein Pseudonym: ihn als Pseudonym und auf andere verborgene Weise verstreut seinen Schriften mitzugeben. Das Pseudonym impliziert den Namen wie dieser Leben und Werk, mehr noch, auch diese

11 GS V.2, 1038. Bei diesem Zitat handelt sich um einen Satz aus den ersten Notizen zur Passagenarbeit. Das Fragment beginnt mit der in der Sekundärliteratur oft zitierten Frage „Bin ich der, der W.B. heißt, oder heiße ich bloß einfach W.B.?“ und entwickelt daraus den Gedanken der im Namen beschlossenen Mimesis. 12 Vgl. GS IV.1, 16, eine Passage aus „Die Aufgabe des Übersetzers“ über die „wahre Sprache“: „Und eben diese, in deren Ahnung und Beschreibung die einzige Vollkommenheit liegt, welche der Philosoph sich erhoffen kann, sie ist intensiv in den Übersetzungen verborgen“.

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gewähren Durchblicke auf Universelles.13 So ist denn auch dem „Holz“ Geschichtliches mitgegeben, insofern Benjamin ihm sein Verhältnis zur deutschen Sprache auftrug, wie sie in der für ihn das Jahr 1914 markierenden Dichtung erscheint. Wieviel ausgekostete Bitterkeit dabei in die Wahl des Vornamens „Detlef“ eingeflossen ist, der in der Tat so etwas wie „deutscher Leib, Volksleben“ heißt,14 dürfte schwerlich noch zu ermessen sein.

13 Zur Verdeutlichung vgl. auch aus „Schicksal und Charakter“, GS II.1, 173: „Kein Begriff einer Außenwelt läßt sich gegen die Grenze des Begriffs des wirkenden Menschen definieren. Zwischen dem wirkenden Menschen und der Außenwelt vielmehr ist alles Wechselwirkung, ihre Aktionskreise gehen ineinander über; ihre Vorstellungen mögen noch so verschieden sein, ihre Begriffe sind nicht trennbar“. Der wirkende Mensch par excellence, wie weiter unten in den Ausführungen zu Benjamins Brief an Martin Buber zu sehen sein wird, ist der in der Schrift wirkende Mensch. 14 Vgl. den dazugehörigen Eintrag in Bach, Adolf. Deutsche Namenkunde I: Die deutschen Personennamen. Heidelberg: Carl Winter, 1952-1953.

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B au i d e al e . D i e B e d e u tu n g S t e f an G e o r g e s „Wie geborgen ist einer, der mit dem Tod seinen Frieden gemacht hat“.15

Eine Reihe von Stücken aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert war bis April 1933 pseudonym in der Frankfurter Zeitung erschienen.16 Über das zu erwartende weitere Los von „Holz“ unterrichtete Benjamin Scholem Ende Juli 1933 brieflich von Ibiza aus. Auch in dieser Äußerung ist der Gedanke des Porträtbildes mit der Idee der Endlichkeit verbunden anzutreffen: „Ein neues Stück, das ich den früheren hinzufügte, hat mich für eine Weile von jeder anderen Arbeit abgeschnitten. Entstanden sind unter dem Titel ‚Loggien‘ einige Seiten, von denen ich nichts als sehr Gutes ankündigen kann und dazu, daß sie das genaueste Porträt enthalten, das mir von mir selbst zu machen gegeben ist. Mit diesem wird dann freilich das Detlefsche Holz, das ich in meine Lebensflamme geworfen habe, zum – mehr oder minder – letzten Mal aufflackern, denn schon zeichnen die neuen Preßgesetze sich ab, nach deren Inkrafttreten mein Erscheinen in der deutschen Presse noch um vieles undurchdringlicher werden wird als bisher. [Absatz] Freilich wohl auch noch seltner“.17

Das gepriesene Stück, das in der „Fassung letzter Hand“ den Zyklus eröffnet,18 stellt Verweise auf Tod und Eros mit Stadtarchitektur und Elementen der Flora zusammen, um einen vergessenen Ort – im Plural – zu kennzeichnen, an dem sich die prägenden Momente eines Lebens beiläufig verschränken. In dem von Loggien umkränzten Berliner Hof befindet sich ein Baum. Auf die dunkle Grube unterm Eisengitter, das ihn umfaßt, konzentriert sich die fragende Aufmerksamkeit des Helden wie sonst nur auf die „Reclamhefte“, die Jahre später von den in der abendlichen Loggia versammelten Jugendlichen gemeinsam gelesen werden. Das, was Benjamin am Beispiel einer Lektüre heraushebt – „die Gruft der Julia“, die Romeos Seufzer erwartet – antwortet dabei „der schwarzen Kute, aus der der Stamm kam“.19 Der Einschnitt der Initiation – erotischer wie auch 15 GB IV, 119. Aus dem Abschiedsbrief an Egon und Gert Wissing vom 27. Juli 1932. 16 Vgl. GS IV.2, 966. 17 GB IV, 267. 18 Vgl. GS VII.1, 386-388; eine leicht andere Fassung, die im August 1933 in der Vossischen Zeitung abgedruckt wurde, findet sich in GS IV.1, 294-296. 19 Ebd.; „Kute“ ist Berlinisch für „Grube“, „Erdloch“.

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literarischer – findet nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Male statt: „Ich glaube, daß ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt; und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens“.20 Im präzisen Sinne ein Denkbild, geben diese Zeilen Auskunft über die Entsprechung von Denken und Leben Benjamins. So wie die Loggien das Abseitige der Wohnungen darstellen, ihnen als Äußeres noch anhängend, aber schon zugewandt dem Hinterhof, hat das Denken an der Peripherie seine Stätte. Was im Mittelpunkt dieses Denkens und neugierigen Forschens steht, kann nur anhand von Bezügen, Verweisen, Zeichen erahnt werden: dem Kind weisen der Baum und das Gitter die Grube im Erdreich, dem Jugendlichen sprechen die Blätter der Bücher von der Gruft der Liebenden, die wiederum der Grube ein Echo ist. In beiden Fällen ist es das Verborgene schlechthin, und zwar derart, daß Baum und Buch von diesem geprägt sind. Sie haben selbst etwas von dem Entzogenen angenommen, wie die städtischen Randbezirke, Höfe, Loggien auch, selbst die Luft, die dort wehte. So wird die Architektur aus räumlicher und zeitlicher Abseitigkeit am Ende des kurzen Textes zum „Mausoleum“ eines Kindes: das Werk, das „Loggien“ heißt, ist ebenso ein solches wie die Loggien einer Kindheit in Berlin. In der Insistenz dieser Sterblichkeit, in der Wiederkehr ihrer Motive liegt das kritische Moment der Bedeutung Stefan Georges für Benjamin. Sicherlich ist auf den Dichter angespielt bei der Erwähnung der abendlichen Lesezirkel auf der Loggia, und nicht nur bei diesen Anlässen war George einer der prominentesten Autoren für den Kreis der Jugendlichen um Benjamin.21 Doch nicht allein in dieser Weise ist George im

20 GS VII.1, 386; vgl. auch GS IV.1, 294. 21 Erwähnungen von George-Lektüren finden sich in vielen Briefen aus der ersten Hälfte des Jahres 1914, so zum Beispiel an Herbert Blumenthal vom 6.5.1914 (GB I, 218), an Ernst Schoen vom 23.5.1914 (GB I, 231) und vom 22. und 23.6.1914 (GB I, 237), und wiederum an Blumenthal vom 6. und 7.7.1914 (GB I, 241-243). Als Zeugnis aus dem Bekanntenkreis von Benjamin ist zu nennen Gumpert, Martin. Hölle im Paradies: Selbstdarstellung eines Arztes. Stockholm: Berman Fischer Verlag, 1939, 53. Mithilfe eines Kataloges von Nennungen des Dichters in Benjamins Schriften eine „Einflußgeschichte“ behaupten zu wollen, würde zu wenig mehr führen als zu der Feststellung, daß für Benjamin – wie für weite Teile der jugendlichen Generation der Zeit vor dem ersten Weltkrieg – Georges Dichtung kraft ihrer Zitierbarkeit dem einzelnen ein Ausdrucksmedium gegenüber der Gemeinschaft bereitstellte. Auf andere Weise und für ein anderes Publikum, aber nicht im Prinzip anders, war dies auch die exoterische Funktion von Rilkes Dichtung. Dies alles läßt jedoch Benjamins Auskunft aus dem Jahr 1928 unerklärt, von Georges Ge-

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Bilde der Berliner Landschaft von Benjamins Kindheit und Jugend bewahrt. Läßt man, neben dem Rezensions-Artikel aus dem Jahre 1933, als Hauptdokument von Georges Bedeutung für Benjamin den rückblickenden Aufsatz von 1928 – eine Antwort auf eine Umfrage der Literarischen Welt – gelten,22 dann findet sich in ihm auch sogleich eine Antwort auf die Frage, warum bei der Untersuchung von Georges Fortwirken in Benjamins Schriften der Name eine Rolle spielt, ohne daß es sich lohnte, nach direkten Nennungen von George zu suchen: diese Wirkung geschah „niemals in seiner Person“, ist „immer von Gedichten nur ausgegangen“, und zwar von Gedichten, die Benjamin auf andere und auf anderes verwiesen.23 Der zur Veröffentlichung in der Literarischen Welt bestimmte Artikel zitiert die Namen derjenigen nicht, die Georges Einwirkung in verwandelter Form, gleichsam unterirdisch in Benjamin fortleben ließen. Und doch sind sie in seiner biographischen Rückschau auf eine Weise genannt, die weitere Schichten des Benjaminschen Holzes erschließt. Bevor allerdings, in einer Lektüre der beiden Aufsätze zu Stefan George aus den Jahren 1928 und 1933, das Gefüge der Protagonisten und ihrer Nennung nachgezeichnet werden kann, ist zunächst das Problem zu beschreiben, das sich in einiger Hinsicht zu bewegen verspricht durch eine Untersuchung dieser weiteren Instanz von Benjamins Denken in Beziehungen, Konstellationen, Gefügen: und zwar das Problem des Politischen in seiner Wahrnehmung von George, das Hand in Hand mit dem des Poetologischen geht:24 „wie seine Herrschaft in mir wurde und wie sie zerfiel, das alles spielt im Raume des Gedichts und in der Freunddichten sei eine „entscheidende Erschütterung“ für ihn ausgegangen – die er selbst nur in Andeutungen erläutert (vgl. GS II.2, 622). 22 Vgl. GS II.2, 622-624; GS III, 392-399 („Rückblick auf Stefan George“). Zur Umfrage der Literarischen Welt vgl. GS II.3, 1429. 23 GS II.2, 622. 24 Der Begriff des „Problems“ soll dabei nicht vorgebracht sein auf eine Weise, die nahelegt, daß Benjamins anerkannte Anteilnahme am Geschick des dichterischen Erbes von George eine politische Irritation darstellt und zu beschwichtigen sei. Das Politische, wenn man es so betrachten wollte, wäre lediglich das Problem eines politisch in Position gebrachten Kommentars zu Benjamin. Das jedoch, worum es in Benjamins Haltung gegenüber der dichterischen Politik Georges geht, übersteigt den Stein des konservativen Anstoßes. Es geht um die Elemente, die Benjamin an Georges Enthaltung von der „Politik“ als hochpolitisch erkannte – ohne daß es ihm dabei um eben diejenige Enthaltung zu tun gewesen ein dürfte, die George meinte. Nicht, daß es aus dem Kreis um George, aber auch von ihm selbst an Deutlichkeit über die politische Dimension der Männerbündnisse gemangelt hätte, was schon ein oberflächlicher Blick z.B. auf die Herrschaftsterminologie im Jahrbuch für die geistige Bewegung verdeutlicht, das von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters zwischen 1910 und 1912 herausgegeben wurde. Der Begriff des Politischen wurde jedoch vermieden. Vgl. auch David, Claude. Stefan George: Sein dichterisches Werk. München: Carl Hanser, 1967, 130-131; 277-179.

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schaft eines Dichters sich ab“.25 Daran schließt sich nicht nur die Frage an, wie dieser poetische Raum, der Bereich der Freundschaft und eine „Herrschaft“ sich zueinander verhalten, sondern auch, wie ihre politische Relevanz in Benjamins Denken sich manifestiert, was mit den Resten und Zeugnissen der vergangenen und zerfallenen Herrschaft in ihm geschah.26 Der Rückblick von 1928, der nicht nur einer auf George, sondern, durch ihn, auf 1914 ist – und der in seiner veröffentlichten Fassung um eine sehr mißbilligenden Äußerung zu Georges „Reichskunst“ gekürzt wurde – wendet sich auf einen Einschnitt, der Benjamins literarisch und politisch bestimmte Freundschaften in vollem Ausmaß traf, wenn auch nicht seine geistige Orientierung.27 Der Text weist auf den Moment einer Erkenntnis, da der einzelne vom Universellen getroffen wird – vom Universellen in Form des Krieges. Dieser Moment beschließt das Ende 25 GS II.2, 623. 26 Durch die Kritik, die Benjamin ab 1914 und vor allem 1921 im Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften an der Ästhetik der George-Schule übte – mehr denn als an George selbst –, bei seiner gleichzeitigen Bewahrung einer Verbundenheit gegenüber Gedichten Georges (was Benjamin von Adorno unterscheidet, dessen reservierter Ton im Aufsatz über den Briefwechsel Hofmannsthal-George kein affektives Verhältnis zu den Dichtungen verspüren läßt) und einem bleibenden Interesse, sehen sich die Kritiker Benjamins vor die Schwierigkeit eines Widerspruchs gestellt, eine Schwierigkeit, die ihren politischen Hallraum in der Kompromittierung des Dichters durch die fließenden Übergänge seines Kreises zum Nationalsozialismus findet. Trotz Benjamins Äußerungen zu Georges Bedeutung für ihn lag die Versuchung für die „linke“ Kritik stets nahe, die bejahende Haltung des Jugendlichen gegenüber Georges Dichtung als vereinzelte irrtümliche Erscheinung zu übergehen oder als eine Haltung abzutun, die er später zu korrigieren hatte. Auch wenn es nur eine erstaunlich geringe Zahl von Untersuchungen über Benjamins Verhältnis zu George gibt, folgen sie den zu erwartenden Mustern: einmal ist der Versuch zu beobachten, Georges „Einfluß“ auf Walter Benjamin aufzuwerten, im Sinne einer Rehabilitierung – als Beispiel sei Geret Luhrs Aufsatz „Diese unzeitgemäße und undankbare Aufgabe: eine ‚Rettung‘ Georges. Zur Bedeutung Stefan Georges für das Werk von Walter Benjamin“ genannt, der bezeichnenderweise an folgender Stelle erschien: GeorgeJahrbuch 2 (1998-1999), 85-107, und dann der umgekehrte Ansatz, die Bedeutung Georges zu minimieren. Für diesen Ansatz lassen sich wiederum zwei Verfahren feststellen: entweder den Fortschritt in der Entwicklung von Benjamins Denken herauszukehren – in den Anmerkungen zur amerikanischen Ausgabe heißt es, Benjamin habe 1914-1915 „noch“ unter dem elitären Einfluß Georges und seines Kreises gestanden (vgl. Benjamin, Selected Writings I, 499) –, oder Benjamin in kontinuierlicher Opposition zu George zu sehen, im Namen seines Judentums. Vgl. hierzu vor allem die dem Thema gewidmeten Seiten in Deuber-Mankowsky, Astrid. Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin: Vorwerk 8, 2000, 164-234. Gegenüber diesem letzten Ansatz wird in dieser Studie die Unverfügbarkeit von Benjamins Judentum betont. 27 Zur Streichung vgl. GS II.3, 1431-1432.

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einer Jugend in sich, die sich als Gemeinschaft auffaßte, und ermöglicht nachträglich die Erkenntnis der Bedingungen dieser nunmehr vergangenen Gemeinschaft. Der Weg des Textes ist der einer Desintegration. Er führt von der Erwähnung des Freundeskreises zu Erinnerungen an einzelne Menschen, die ihm angehörten, dann auf den Erzählenden allein und schließlich zu „Einsamkeit“ und „Versäumnis“.28 Der Bericht dieses Auseinanderfallens von Bindungen setzt ein, nachdem die unmittelbare Bedeutung der Person Stefan Georges verneint worden ist: nicht als solche hatte er auf Benjamins Leben eine Wirkung. Dieser Umstand ist nicht losgelöst zu sehen von den ungesicherten Fundamenten des Textes selbst. Als Grund, warum es den Aufsatz gibt, obwohl Benjamin in ihm ausdrücklich sagt, es sei für ihn unmöglich, „über Stefan George zu schreiben“,29 gibt er die Formulierung der von der Literarischen Welt gestellten Anfrage an: „wie George in mein Leben hineinwirkte“. – Also eine Darstellung, in der die „Person“ George aufgelöst ist in einwirkende Kräfte, ohne daß der sie Wahrnehmende von seiner eigenen Wahrnehmung abzusehen hätte auf ein scheinbar Objektives hin. Die Wirkung Georges sich zu „vergegenwärtigen“, so formuliert Benjamin diese erteilte Aufgabe zu seiner eigenen um.30 Es lohnt sich durchaus, die Zeitstruktur des Erzählten näher zu berücksichtigen und sie in einen Zusammenhang mit dem „Versäumnis“ zu bringen, das am Ende des Textes steht. Die Vergegenwärtigung, die Benjamins Vorsatz zufolge den Text konstituieren wird, läßt in der Tat die Frage zu, ob das, was gegenwärtig werden soll, einerseits unwiederholbar vergangen ist und andererseits nur angekündigt bleibt. „Voranzuschicken ist dies“ – damit eröffnet sich eine Parenthese, deren Ende sich im Text nicht zu erkennen gibt. Daß er eher die Züge einer Vorbemerkung zu einem noch kommenden Text über George trägt, findet sich auch in anderen Formulierungen bestätigt, so wenn Benjamin zunächst eine „Kraft“ zum Arbiter seines Verhältnisses zu George erhebt und sich daraufhin damit begnügt, die weitere Erklärung ihrer Natur zu verschieben: „von der ich eines Tages werde zu sagen haben“.31 Daß George, so wie Benjamin ihn wahrnahm, seltsam gestaltlos bleibt – durchaus entsprechend dem Hinweis, er habe nie „in seiner Person“ auf den Jüngeren gewirkt – ist zumindest in einer Hinsicht aus dem Unzeitigen in diesem Text zu erklären, der sich zwischen Ankündigung, drohendem Mißlingen und nie Gewesenem aufhält. Nicht nur, daß der Artikel mit einer Bemerkung im Konjunktiv anhebt: 28 GS II.2, 624. 29 GS II.2, 622. Angesichts dieser Formulierung Benjamins ist der von den Herausgebern der Gesammelten Schriften für diesen Text gewählte Titel, „Über Stefan George“, mit Bedacht zu genießen. 30 Ebd. 31 GS II.2, 623.

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Georges Beschreibung, der Bericht „über“ ihn wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn Benjamin sich daran versucht hätte.32 Auch das Berichtete selber ist von Ungleichzeitigkeit bestimmt: Benjamin wartete auf George, als „er“ zwar noch vorbeikommen sollte, seine Wirkung aber vor Zeiten angelangt und, wie aus dem Übrigen zu schließen ist, in ihrer herrschaftlichen Erscheinung lange zerfallen war. Die Begegnung ist keine, vielmehr bewegen sich der Erzähler des kurzen Textes und die Person, die den Namen George trägt, aneinander vorbei. Im Park und Hof des Schlosses zu Heidelberg, die wie die Innenhöfe von Berlin etwas vom Totgesagten annehmen, tauschen sie ihre Plätze, ohne daß ihr Verhältnis auch nur den schwächsten Ansatz einer Wechselseitigkeit hätte. Die Protagonisten dieses geschichtsphilosophischen Rätselbildes mögen sich beide zu gewissen Momenten des Textes auf einer Bank befunden haben; Benjamins Aufmerksamkeit mag zu beiden Gelegenheiten dem in sich gekehrten oder einem Vertrauten gewidmeten – und auffälligerweise „im Hof des Schlosses“ sitzenden – George zugewandt gewesen sein, sie befinden sich in anderen Umlaufbahnen wie Planeten fremder Sonnensysteme, in einer anderen Zeit, was auch den Raum bestimmt, in dem sie sich aufhalten. Die geschichtliche Dimension des Textes deutet sich an in der Wiederholung der Wendung „eines Tages“: zuerst „Eines Tages kam er langsam daher“, und dann „eine Kraft, von der ich eines Tages werde zu sagen haben“.33 Was hier doppelt zu sein scheint, stellt sich im Kontext der Tempi als sehr wohl Unterschiedenes, ja in gewisser Hinsicht als Entgegengesetztes heraus. Charakterisiert der Text seinen Erzähler im Verhältnis zu George über den Aufschub – auf unbestimmte Zukunft, aber mit Bestimmtheit – so ist die Erscheinung Georges und ihr Bannkreis von Geschichtslosigkeit bestimmt. Die erste Erwähnung von „eines Tages“, die sich auf das Vorübergehen des Dichters bezieht, verweilt in einer unbestimmten und in diesem Sinne mythischen Vergangenheit. Die räumliche wie zeitliche Abgelegenheit von Georges Umgebung korrespondiert dabei der Verschwommenheit, mit der die Person Georges von Benjamin gezeichnet ist. In einer Rezension, die er fünf Jahre nach seiner in der Literarischen Welt veröffentlichten Erinnerung verfaßte, fand Benjamin dafür das folgende Bild, in dem die Geschichtslosigkeit sich in Gesichtslosigkeit wiederfindet, insofern die Anhängerschaft Georges diesen allegorisch in den Herrn der Fliegen verwandelt:34

32 GS II.2, 622. 33 GS II.2, 622 bzw. 623. 34 Vgl. GS II.1, 641 („Über einige Motive bei Baudelaire“). Hier erscheint der spleen als Gebieter über den „Schwarm der Sekunden“ wie der Teufel als „Gebieter des Ungeziefers“.

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DER BERGWALD „Er tritt in einem Schwarm von Jüngern fast unkenntlich, doch ohne Anwalt, vor den Richterstuhl der Geschichte. Freilich nicht ohne Zeugen. Welcher Art sie sind? Sie finden sich in einer Jugend, welche in jenen Gedichten gelebt hat. Nicht in der, die sich im Namen ihres Meisters auf Kathedern eingerichtet hat, und nicht in der, welche in seiner Lehre Befestigungen ihrer Position im Machtkampf der Parteien gefunden hat. Nein, vielmehr in der, welche an ihrem besten Teil schon darum ihr Zeugenamt vor dem Richterstuhl der Geschichte versehen kann, weil sie tot ist“.35

Die „Jünger“ werden deutlich abgesetzt von der „Jugend“, um die es Benjamin geht und die dieselbe Gruppe von Jugendlichen meint, von der er auch in seinem ersten George-Artikel schrieb. Über die Gestaltlosigkeit Georges in dieser Textstelle hinaus ist dies, angesichts des im George-Kreis gepflegten Jugendkultes, eine weitere polemische Spitze.36 Gerade im Begriff der Jugend überschneiden sich die verschiedenen Aspekte von Benjamins George-Kritik: der ästhetische, der historischpolitische, und schließlich der poetologische. Es ist ebenfalls an der Frage der Jugend, daß für ihn Georges Figur an Deutlichkeit gewinnt, wenn auch nur mittelbar. Allerdings wäre es angebrachter, im Plural von den Figuren Georges zu sprechen, da Benjamin mehrere Rollen nennt, und sie alle stehen in direktem Verhältnis zu Georges Wirkung auf die Jugend: der „Reformator“, der „Prophet“ und schließlich der „Spielmann“.37 Wenn ihre jeweilige Bedeutung für Benjamins Verhältnis zu George ermessen werden soll, ist zu berücksichtigen, daß Benjamin, unter anderem bis zum Krieg als Mitstreiter des Bildungsreformers Gustav Wyneken, nicht unberührt vom Problem der „Jugend“ durch seine eigene

35 GS III, 398: „Rückblick auf Stefan George: Zu einer neuen Studie über den Dichter“ aus dem Jahre 1933. Verweise auf Zeitenende, Weltbrand und Höllenfeuer findet sich in diesem Text gehäuft. 36 Zu den Bemühungen der George-Schule um die „Gestalt“ vgl. zum Beispiel Blätter für die Kunst: Eine Auslese aus den Jahren 1892-98. Berlin: Georg Bondi, 1899, 126-127; 143 (Beiträge von Karl Wolfskehl und Ludwig Klages). Zwar findet sich zu Beginn von Benjamins „Rückblick“ aus dem Jahre 1933 eine Erwähnung der „tiefgeschnittenen Züge dieses Hauptes“, sie muß jedoch im Zusammenhang des Weltgerichts gesehen werden, dessen „Feuerschein“ auf die ausführlich zitierte spätere Stelle verweist. Diese führt das Motiv der Ungewißheit des geschichtlichen Urteils über George weiter aus: der fehlende Anwalt bzw. Kritiker und die jugendlichen Zeugen antworten auf den noch unbekannten „Feuerschein, mit welchem die Geschichte seine Züge an dem Tage, da sie ihren Ausdruck für die Ewigkeit erhalten werden“. GS III, 393. Angemerkt sei hier nur, daß das von Benjamin besprochene Werk von Willi Koch sich dreifach dem „Bild“ verschreibt. Sein Titel lautet Weltbild, Naturbild, Menschenbild. Vgl. GS III, 392. 37 GS III, 393; 399.

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Jugend gegangen ist.38 Es war ihm unentbehrlich, die Idee der Jugend dem zu entwinden, was ihm „Bürgertum“ war. Bei der Charakterisierung dieses „alten“ Bürgertums der wilhelminischen Ära, das diese um einige Jahre überlebte, kommt Benjamin wiederum auf die Bildlichkeit des Schwarms zurück – wenn er das Bürgertum erwähnt, das „kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die ‚Jugend‘ als Beschwörungswort mißbraucht“.39 George und die von ihm befürwortete Lebensund damit Gesellschaftsform waren in Benjamins Augen diesem Bürgertum nicht entkommen.40 Sie stellten sich im Gegenteil seinem manifesten Zerfall entgegen. Benjamin bescheinigt George das Versagen als „Reformator“, als jemand, der durch Pädagogik – ein Einwirken auf die Jugend – eine Erneuerung erzwingen will, die ihre Authentizität in der Vergangenheit sucht. In einem seiner letzten Briefe an Adorno, einem ausführlichen Kommentar zu dessen Rezension des George-Hofmannsthalschen Briefwechsels, sollte Benjamin lobend hervorheben, daß Adorno „Trotz“ als „poetischen und politischen Fundus in George“ benannt hatte.41 Er selber hatte in seinem „Rückblick“ von 1933 das Scheitern von Georges reformatorischen Bestrebungen gebündelt auf die abwehrende Gestik des „Jugendstils“ zurückgeführt: „Stücke, in denen seine Kraft versagte, fallen meist genau mit denjenigen zusammen, in welchen dieser Stil Triumphe feiert. Es ist der Jugendstil“.42 Beiden Bestandteilen, Jugend wie Stil, kommt dabei ein bestimmtes Gewicht zu. „Stil“ ist bei Benjamin mit „Eigentum“ konnotiert.43 Die ökonomische und gesellschaftstheoretische Dimension dieser Einschätzung läßt sich durch den gesamten Text hindurch verfolgen; das sollte aber nicht davon ablenken, daß die Bildlichkeit des Aufsatzes die Preziosität des von George beanspruchten Stils persifliert, indem sie das heldenhaft Mythisch-Vorzeitige ins Märchenhafte wendet: die Vorstellung des Zwergs, der die gehorteten Schätze eifersüchtig bewacht, liegt der Dar38 Die pädagogischen Ansichten Wynekens weisen einige Parallelen zum Männerbündnerischen des George-Kreises auf. Es erstaunt nicht, daß Benjamin sich gleichzeitig von Wyneken und George abkehrte. 39 GS III, 394. Das Adverb „kosmisch“ ist ein klarer Verweis auf die „kosmische“ Phase des George-Kreises, der Benjamin besonders ablehnend gegenüberstand – vor allem wegen der den Antisemitismus inkorporierenden „Lehren“ Alfred Schulers (vgl. GS II.3, 1431). Dem Anteil Ludwig Klages war Benjamin weniger abgeneigt, wenn ihm auch Klages Haltung bekannt war. 40 Vgl. auch den Artikel über Max Dauthendey, GS III, 384. 41 GB VI, 450. Der „Fundus“ ist ein Indiz dafür, daß Benjamin bei seinem Kommentar zu Adornos George-Charakterisierung seine Aufmerksamkeit durchaus auch dem Theatralischen der Erscheinung schenkte. Dafür spricht auch seine frühere Ausarbeitung des Trotzes gegenüber der Hybris im Ursprung des deutschen Trauerspiels. Vgl. GS I.1, 294. 42 GS III, 394. 43 Vgl. ebd.

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stellung von Georges Rückgriff auf volksmythische Symbolik zugrunde.44 Die Idee der Schrumpfung, der Beschränkung und des Absterbens findet sich in Benjamins Text wiederholt im Zusammenhang mit der Bemühung um eine bestimmte Form der Bewahrung. Die, wenn auch nicht als freiwillig unterstellte, Komplizenschaft des Jugendstils mit dem „Bürgertum“ besteht in der Konservierung eines Geschichtsstands bei damit einhergehender Rückbildung der Erscheinung.45 Benjamin erwähnt die Überformung technischer Elemente durch vegetabile Ornamente des Kunsthandwerklichen. Weit über die Ästhetik hinaus erweist sich die „Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität“ am Bild der „Mumie“ des Maximin-Idols.46 Diese von Benjamin in einem Wort hingeworfene Karikatur des Georgeschen Jugendkults, der in der Verklärung des frühverstorbenen Maximilian Kronberger ihren Höhepunkt hatte, kehrt die Wirkungen eines „Konservativismus“ heraus, für den der Tod zunächst eine Bedingung für Einhalten und Erhöhung war. Der Tod wird also nicht nur zum Thema, wie für die décadence allgemein zu gelten hat, er erscheint zudem speziell als gestaltgebende Kraft – als „Stil“.47 Die Einsetzung eines Kultus, oder dessen Imitation, verfährt qua Stil mit der Jugend wie mit der Dichtung, in einem gewaltsamen Willen nicht nur zur Gestaltung, sondern zur geschlossenen Gestalt. Im Anschluß an ein Zitat aus dem besprochenen Buch kommentiert Benjamin den Begriff der „Haltung“, um ihn von einem so aufgefaßten, ertötenden Stil abzuheben: „‚George hat die nur ästhetische Lebenshaltung durch ihre Heroisierung für sich und für solche, die sein Werk wirklich verstehen, aus der Welt geschafft‘ – so heißt es, zweideutig genug, bei Koch. Denn aus der Welt schaffte er mit der Haltung auch das Leben“.48 Benjamin nahm später gegenüber Adorno, im Brief über Hofmannsthals und Georges Briefwechsel, noch einmal die „Haltung“ in Schutz vor einem Verständnis von ihr, das sie dem „zur Schau getragen 44 Vgl. GS III, 393-394. In diesem Zusammenhang ist nicht unerheblich, daß Benjamin als eines seiner Lieblingsgedichte „Das Lied des Zwergen“ nennt, auf das noch zurückzukommen sein wird. Aber auch die in Verbindung mit George auftauchende Bildlichkeit des Felsmassivs und des Erdreiches, dies ebenfalls eine Anspielung auf das im George-Kreis bemühte „Chthonische“, ist nicht bedeutungslos. Vgl. ebd. und GS II.2, 623. 45 Der „Jugendstil“ der bildenden Kunst bezieht seine Geschichtslosigkeit daher, daß er als eine Gegenbewegung zum Historismus des neunzehnten Jahrhunderts auftrat und an Stelle des historischen Stilzitats Formen aus der Pflanzenwelt setzte, die ihm als zeitlos galten. Im literarischen Jugendstil erfüllen die typischen bukolischen Landschaften eine vergleichbare Funktion. 46 GS III, 394; 398. 47 Die Übergänge von Symbolismus, Neuromantik, dichterischem Jugendstil und décadence sind fließend; Benjamin verwendet die Begriffe zum Teil austauschbar. 48 GS III, 398.

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werden“ und der Selbststilisierung gleichsetzt.49 Am gleichen Ort wird George diese ostentative wie trügerische „Fülle“ der persona zugeschrieben, die dort, wo sie in sich zusammenfällt – und das wird im „Rückblick auf Stefan George“, dem Rezensions-Artikel von 1933, deutlicher als im späteren Brief – kläglich daherkommt, eine ausgetrocknete Hülle, kläglicher jedenfalls als die „Leere“ der von Benjamin verteidigten „Haltung“, die er beispielsweise bei den späten Werken Baudelaires vorfindet.50 Unter dem Stichwort des „Mißgeschicks“ gewinnt die Geschichtlichkeit dieser als leer bestimmten Haltung ihre Kontur. Umgekehrt ließe sich aber auch sagen, daß die Fülle, zumal im Hinblick auf das Heilsversprechen von Georges Poetik (zumindest von derjenigen, die er dekretierte), bei Benjamin durchaus auf die Idee der Erfüllung anspielt, oder, weltlich formuliert, auf ein versprochenes Gelingen. Das Gedicht als Rückzugsgebiet von der Geschichte,51 verstanden als Modell für eine Heilsgeschichte – vor allem, insofern es auf sich selbst zurückkommt und sich selbst meint: dies zeichnet sich als einer der wichtigsten Gründe ab, warum auf den Anspruch Georges auf Größe Benjamin mit Schrumpfung und Rückbildung kontert.52 Damit einher geht das Urteil, der „Reformator“ in George sei kraftlos verstummt – und zugleich der „Prophet“ in ihm hervorgetreten.53 Beide Rollen sind theologischen Wesens. Nicht nur kontrastiert das Rückwärtsgewandte des einen, der auf die Tradition zurückgeht um der Veränderung willen, mit der Vorausweisung des anderen; der Prophet steht, anders als der Reformator, unter dem Vorbehalt der göttlichen Eingebung – an ihm kündigt sich etwas an, was durchaus ohne sein Einverständnis geschehen kann. Diese Nichtkoinzidenz von Georges Selbststilisierung als Künder einerseits und wahrer prophetischer Wirkung andererseits ist es, die Benjamin sich zunutze macht, wenn er Georges Rollen in Spieler und „Gegenspieler“ aufteilt. Mit der 49 GB VI, 450-451. Für Benjamin verhält sich „unbewußte“ Haltung dazu wie ein „Brandmal“ zu einer „Tätowierung“ (GB VI, 451). Was sie als anderen Modus für Benjamin Geltung haben läßt, trägt weit über den Zusammenhang des späten Briefs an Adorno hinaus, der dazu aber wichtige Elemente beiträgt. 50 Ebd. 51 Vgl. dazu den letzten Absatz zur Auffassung des Krieges als „Naturgewalt“, aber auch den ersten Absatz des „Rückblicks“ von 1933: „Das heißt nicht, daß George das historische Geschehen, noch weniger, daß er dessen Zusammenhänge vorausgesehen hätte“. GS III, 399; 392393. 52 Damit allerdings ist bei Benjamin überhaupt nicht über die Begriffe der Schwäche und Kleinheit entschieden. Vgl. weiter unten das Kapitel über den Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“. 53 GS III, 393. Zu Georges Rolle als Prophet geschichtlichen Unheils vgl. auch eine briefliche Äußerung an Scholem vom Juni 1933: „wenn jemals Gott einen Propheten durch Erfüllung seiner Prophetie geschlagen hat, so ist es bei George der Fall gewesen“. GB IV, 237.

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gleichen Unterscheidung ist auch die Poetik Georges in Benjamins Darstellung zu beurteilen. Die als „Priesterwissenschaft der Dichtung, die in den ‚Blättern für die Kunst‘ gehütet wurde“ persiflierte Poetik (und das übrigens in beiden Artikeln zu George in exakt gleichem Wortlaut) ist eine, die das Monopol auf die Auslegung beansprucht, aber sie ist nicht die Poetik des Georgeschen Werkes.54 Hiervon führt der Weg auf die Unterschiedenheit von Kommentar und Kritik, auf die Benjamin an etlichen Stellen die Sorgfalt von vielen Seiten verwandte.55 Während sich ein Kommentar aus dem streng umrissenen Zirkel des George-Gefolges und seiner Weisungen nicht verbietet – die Gedichtkommentare von Ernst Morwitz beispielsweise erfüllen die Gebote –, ist Kritik im strengen Sinne etwas, das außerhalb des vorgegebenen Bereiches bleibt. „Georges großes Werk ist zu Ende gegangen, ohne im Zeitraum, den sein Wirken ausgefüllt hat, auf seinen echten und ihm zugeborenen Kritiker gestoßen zu sein“56 – dieser Formulierung zufolge ist der „Zeitraum“ selbst, wie die Jugend, die ihn bewohnte, von George beansprucht. Benjamin betrachtete sich offensichtlich nicht als denjenigen, der George auf diese Weise zubestimmt war – erinnert sei an die von ihm vorgebrachte Unmöglichkeit, auf die er gestoßen wäre, hätte er „über“ George schreiben sollen. Wenn er sich nicht als den George zugeborenen Kritiker sehen konnte, so vor allem, weil der Jugendliche jenem auf bestimmte Weise zugeboren war: als einer von denen, die unter seinem Zauber standen – und anders als sie diesen Zauber, freilich aber vor allem den Krieg, überlebt hatte: „Immerhin habe ich im Bezirk dieser Dichtungen zu lange verweilt, um nicht auch eines Tages seine Schrecken kennenzulernen“.57 Dies alles gehört in den Zusammenhang der „Herrschaft“, die Georges Dichtung über den jungen Benjamin ausübte, die in ihm „wurde“ und „zerfiel“.58 In seinem späteren Rückblick erscheint diese Herrschaft vor allem als Anspruch, der sich ostentativ gebärdete und Kultstätten in Gedichten errichtete, die der Befestigung einer Gemeinschaft dienten. Anders verhält es sich mit dem Kind am Ende des Stückes von den „Loggien“: sein Mausoleum ist ein Ort, an dem es bei der Einsamkeit bleibt. „Einmal in der Lage, Ihnen in einem Bereich zu begegnen, in dem ich mich ganz zu Hause fühle …“ – mit diesen Worten leitet Benjamin 54 GS II.2, 623; GS III, 398. 55 Vgl. zum Beispiel den Beginn des Aufsatzes zu Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, 125-126. Allerdings würde sich nach diesen Kriterien Benjamins früherer Text „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, der dazu bestimmt war, ein Kommentar zu diesen Gedichten zu sein, als Kritik ausnehmen. Darauf wird zurückzukommen sein. 56 GS III, 398. 57 GS II.2, 624. 58 GS II.2, 623.

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seine Antwort auf Adornos Rezension des Briefwechsels George-Hofmannsthal ein, dabei bedauernd, daß seine Anmerkungen von seiner Unkenntnis eben dieses Briefwechsels eingeschränkt sind: „Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen“.59 So berechtigt die erste, einleitende Aussage ist, angesichts von Benjamins brieflicher Verbindung zu Hofmannsthal in den Jahren vor dessen Tod wie auch seiner Vertrautheit mit der Georgeschen Welt, eignet ihr jedoch eine besondere Unheimlichkeit. Nicht zuletzt ergibt sie sich aus der Problematik des Territorialen, die nicht nur – in Form einer subtilen Rivalität – zwischen Adorno und Benjamin stand, sondern auch, auf andere Weise, Benjamins Verhältnis zu George und sein Bild von ihm prägt. Was besagt es in diesem Zusammenhang, daß er sich „ganz zu Hause fühle“? In Anbetracht des Kontextes – der Beurteilung von Adornos kritischer Leistung – wird damit gleichzeitig die Frage nach Benjamins eigener Rolle als Kritiker Georges gestellt. Aus dem Lob, das Benjamin Adorno zum Aufsatz über den George-Hofmannsthalschen Briefwechsels ausspricht, läßt sich schließen, daß Benjamin seinen jüngeren Briefpartner als den bedeutendsten und „echten“, wenn auch vielleicht nicht gerade „zugeborenen“ Kritiker Georges ansieht.60 Seine Gratulation betrifft „diese, unzeitgemäße und undankbare Aufgabe: eine ‚Rettung‘ Georges“.61 Freilich sind die Genauigkeiten der Sprache Benjamins genau zu nehmen; „Rettung“ steht in Benjamins Brief zwischen Anführungszeichen. Daß es sich um ein Selbstzitat handeln könnte, das das landläufige Verständnis von Rettung außer Kraft setzt, findet sich auch insofern bestätigt, als der Absatz mit einer Bemerkung zu Adornos Zitaten aus Georges Versen schließt: „Gewisse stehen in Ihrem Text besser als am Fundorte“.62 Die Rettung der Phänomene, wie Benjamin sie im Adorno gut bekannten Ursprung des deutschen Trauerspiels darstellt, beginnt mit Zerteilung.63 Er hebt denn auch an Adornos Essay kritische Perspektiven hervor, auf die er selbst 59 GB VI, 447. 60 Vgl. GB VI, 450: „Über George dürfte kein Text bestehen, der sich, selbst im Abstand, neben dem Ihren darf sehen lassen“. 61 Vgl. GB VI, 450. 62 Ebd. 63 Vgl. GS I.1, 213-215; 225-227. Siehe insbesondere GS I.1, 213: „Die Phänomene gehen aber nicht integral in ihrem rohen empirischen Bestande, dem der Schein sich beimischt, sondern in ihren Elementen allein, gerettet, in das Reich der Ideen ein. Ihrer falschen Einheit entäußern sie sich, um aufgeteilt an der echten der Wahrheit teilzuhaben“. Der Vollständigkeit halber sei nur erwähnt, daß eine weitere Beziehung zwischen den beiden Texten in der Bildlichkeit des Tanzes besteht, wenn auch ihr Bezugsbereich und ihre Wertung weit auseinanderklaffen: im Brief der politische „Veitstanz“ Deutschlands, in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ der „Reigen“ der Ideen, der ebenfalls dichterisch-politisch, aus dem Barock, inspiriert ist. Vgl. GS I.1, 209.

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schon in seinen früheren Aufsätzen unter anderer Bezeichnung verwiesen hatte – so auf den „Trotz“ Georges. Adorno „erfüllte“ daher, was Benjamin vorgezeichnet hatte. Falls sich bei Benjamins Komplimenten dadurch ein Rückbehalt ergibt, ist der doppelte Boden, den er einzog, derart hauchdünn, daß schwer über ihn zu entscheiden ist. Deutlich wird jedoch, daß dort, wo Adorno sich als „echter“ Kritiker George erweist, Benjamin ihm als vormals möglicher mitgegeben bleibt. Darin bleibt er dem Versäumnis treu, das er am Ende des Aufsatzes von 1928 zusammen mit der Einsamkeit als das „Notwendige“ bezeichnet. Was Benjamin in Adornos Artikel bezüglich Georges vermißt, sind die „Anklänge aus der Kinderwelt“.64 Benjamin fragt nach eben den Gedichten, die er in seinem Aufsatz für die Literarische Welt schon hervorhob: „Das Lied des Zwergen“ und die „Entführung“. Diese Gedichte sind es, die ihm, als „Spalten“ im „Massiv des Deutschtums“, das „innere Gold des Berges“ erschließen.65 Die Bildlichkeit des Schatzes ist aus dem „Lied des Zwergen“ übernommen.66 Hinzu kommt die Seltenheit – „nach der Sage nur alle tausend Jahre“ – dieses Einblicks, die der Unberechenbarkeit des Zwergenkönigs im Gedicht entspricht, der einer Fortuna ähnlich segensreiche Gaben verteilt – oder sie vorenthält. Die Wirkungen dieser Gedichte sind also als rare Glücksfälle zu sehen, und Benjamin betont das Beschenktwerden des Dichters und seiner Leser und gibt obendrein zu verstehen, daß dies nicht etwaigen Absichten Georges zu verdanken sei, indem er von Anklängen „aus der“, nicht „an die“ Kinderwelt schreibt. Diese Anklänge erscheinen außerdem als „verloren“. In Benjamins Brief an Adorno ergibt sich erst nachträglich, daß dieses Wort, „verloren“, im Satzzusammenhang eher ein Adverb als ein Adjektiv ist.67 So hält es die Waage zwischen zwei Bedeutungen: dem, was verloren ist, und dem, was allein oder isoliert steht. Freilich – es erscheint nur einem Blick auf diese Weise, der es als „Spalte“ auf etwas Verborgenes hin zu sehen vermag, und der es von seinem „Fundorte“ zu lösen versteht. Georges Gedichte schließen sich zu durchgeformten Zyklen mitsamt Unterzyklen zusammen, deren Titel oft auf eben einen sol64 GB VI, 448. 65 Vgl. GS II.2, 623. 66 Vgl. die zweite Strophe des zweiten Gedichtteils: „Der ich mich scheu verberge Ich habe kron und thron à Ich bin der feien sohn Ich bin der fürst der zwerge“. George, Stefan. „Das Lied des Zwergen“. In: Werke: Ausgabe in zwei Bänden, Band I. Stuttgart: Klett-Cotta, (4) 1984, 97. 67 GB VI, 448. Der komplette Satz bei Benjamin lautet: „Gern hätte ich Ihre Ansicht über Anklänge aus der Kinderwelt gefunden, wie sie, verloren, bei George vorkommen im ‚Lied des Zwergen‘ oder in der ‚Entführung‘“.

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chen Zusammenschluß als höhere Ordnung verweisen – die drei Bücher, Das Jahr der Seele, Der siebte Ring und Der Stern des Bundes. Den Gedichten kommt so aus ihrer Teilnahme am abgeschlossenen Gesamten ein hoher Anteil ihrer Bedeutung zu. In seinem George-Aufsatz für die Literarische Welt hebt Benjamin nicht nur einzelne Gedichte aus den überdeterminierten Zusammenhängen der Zyklen heraus, er stellt sie in einen anderen Kontext. Dieser ist so intim wie geschichtlich: es ist der von Benjamins Jugendfreundschaften. Jedem von Benjamins Freunden ist ein Gedicht zugeordnet, manchmal sind es auch zwei. Niemand ist namentlich genannt, nur die erhaltenen Notizen zum Beitrag über George enthalten ein Verzeichnis der „Figuren“: „Fritz Heinle, Wolf Heinle, Rika Seligson, W. S. Guttmann, Cohrs, Podszus, Jula Cohn“. Dem folgt eine Liste der Gedichte, die mit diesen Namen assoziiert sind.68 Benjamin betrachtet also die Freunde seines Lebens als Darsteller, als Personen eines theoretischen Stücks in dem Raum, den Leben und Dichtung sich teilen und sich dadurch gegenseitig tragen und formen. Nicht nur, daß es der „Jugend“ gegeben ist, „in Versen sich legitimieren, streitend und liebend sich auf Verse berufen zu dürfen“, also in Gedichten zu leben; auch diese bilden sich in neuem Zusammenhang: „wie ein Gedicht Georges die Gestalt einer Liebe annahm“.69 Diese „Gestalt“ ist nicht Gestalt im Sinne einer einmaligen und als einmalig konservierten Gesamtform. Sie ist eine Figur, gebildet vom Perspektivismus der intimen Erfahrungen eines Einzelnen. Diese Umbildung vollzieht sich vor allem anhand einer Verschiebung der Eigentumsverhältnisse: Benjamin spricht zwar vom „Gedicht Georges“, obwohl es sich um eine Dante-Übersetzung handelt, enteignet George jedoch auch. Er entwindet ihm die Gedichtgestalt wie auch den Gestaltbegriff und widmet das Gedicht um, indem er es „einer Liebe“ zueignet. Einer verlorenen, versäumten, unerfüllten Liebe, was allerdings den Lesern der Literarischen Welt, bis auf wenige Ausnahmen vielleicht, verborgen blieb.70 Höchstens durch die Angabe „der fünfte Gesang der ‚Hölle‘“ ist ein indirekter Hinweis auf

68 GS II.3, 1430. 69 Beide Zitate: GS II.2, 623. Das Verfahren der Verstellung und Entstellung war George selber durchaus nicht fremd, wie Benjamin bezeugt, wenn er von einer „Auswahl Jean Paulscher Stellen“ berichtet (GS II.2, 624). Es handelt sich um den ersten Band der von George zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Deutsche Dichtung: Jean Paul, Ein Stundenbuch für seine Verehrer. Berlin: Bondi, 1910. 70 Jula Cohn, die Freundin, auf die Benjamin hier anspielt, wie sich auch aus der Berliner Chronik ergibt, beschwerte sich in einem Brief vom August 1933, nachdem sie von Benjamins George-Rückblick Kenntnis genommen hatte: „Außerdem finde ich ja, wie bei all Deinen letzten Arbeiten, das Persönliche so sehr im Vordergrund, dass alles wie ein Tagebuchblatt wirkt, und nicht darüber hinaus“. Vgl. GB IV, 266.

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das unglückliche Los dieser Leidenschaft gegeben.71 Diese Übersetzung Georges wie auch seine Gedichte sind der Liebe wie dem Leben ein Medium, das sich in Benjamins bildlicher Ausdrucksweise geradezu räumlich darstellt und in einem mehrfachen „in“ das Ineinandergehen von mehreren Bereichen – Dichtung, Stimme, Atelier, Mensch – gestattet. Benjamin spricht vom Dante-Gedicht als einem Gesang, „in dem die Stimme, die ihn eines hellen Vormittags in einem Münchner Atelier mir las, durch Jahre in mir fortwirkte“.72 Bei der Entwendung und Übereignung des Georgeschen Gedichtes handelt es sich nicht um einen Akt der Aneignung; Benjamin gibt nicht etwas, über das er verfügt, wenn er Georges Gedichte seinen Freunden zueignet. Die Form, in der das Gedicht etwas bewahrt, benennt er als fortwirken. Es ist der einmalige und ehemalige Träger des Gedichts, eine besondere Stimme, die in ihm getragen und wiederholt wird. Benjamin enthüllt an dieser Stelle weniger die privaten Seiten seines Lebens, als daß er auf eine alternative Poetik hindeutet, die das Intime – leer – veröffentlicht und das zu Bewahrende fortgibt. Auch George war zu retten, indem er „verloren“ ging. Anders als die beschworene Jugend, die mythische Gemeinschaft des George-Kreises, ist die „Jugend“, von der Benjamin in seinem ersten George-Artikel spricht, eine so nie gewesene.73 Benjamins „Jugend“ ist eine, die sich erst im Nachhinein aus dem Blick des Schreibenden als Gemeinschaft andeutet, da sie schon verloren ist – auch in dem Sinne, daß für eine gesamte Generation ein früher Tod wahrscheinlich war.74 Indem der Text gleich zu Beginn die Flüchtigkeit dessen betont, „was sich sofort mir selbst entziehen würde“, hebt er schon aus dem Ephemeren an; er trotzt diesem aber genausowenig private Erinnerungen wie eine Beurteilung Georges ab. Stattdessen veräußert er sein Gedächtnis. Benjamins Zeitangaben sind bis auf die eine entscheidende unbestimmt, sie aber erfaßt und datiert den gesamten Text. Wenn auch George und 71 GS II.2, 623. Es handelt sich bei der Dante-Stelle um den Bericht von Francescas und Paolos unmöglicher und mit Tod und Verdammnis vergoltener Liebe. Benjamin spricht in „Über einige Motive bei Baudelaire“ von der Liebe „auf den letzten Blick“, der „die Erfüllung erspart“ bleibe, und verweist dabei auch auf George, dem dieser Zusammenhang bei seiner Adaptation von „A une passante“ entgangen sei. Vgl. GS I.2, 623-624. 72 GS II.2, 623-624. 73 Auch im Falle des „Beschwörens“ findet sich eine Ambivalenz in Benjamins Begrifflichkeit; im Text von 1928 „beschwören“ zwei Gedichte aus dem Teppich des Lebens für Benjamin die Züge Guttmanns herauf (GS II.2, 624); im Text von 1933 ist es das Bürgertum, für das „Jugend“ zum „Beschwörungswort“ wird (s.o. und GS III, 394). 74 Vgl. auch GS V.2, 686, ein Fragment aus dem Passagenwerk: „Vielleicht sollte man versuchen, den Jugendstil bis in seine Auswirkung in die Jugendbewegung verfolgend, diese Betrachtung bis an die Schwelle des Krieges heranführen“.

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Benjamin aneinander vorbeigehen, der Krieg trifft: „Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er in unserer Mitte ein“.75 – Es gibt, neben dem Danteschen Paar, eine weitere verborgene Liebe im Text, die gerettet wurde um den Preis des Todes. Sie steht wie die Geschichte vom Liebestod Francescas und Paolos im Hintergrund von Benjamins Hinweis auf seine im Gedicht bewahrte Zuneigung zur Bildhauerin Jula Cohn.76 Dieses andere Paar ist im Artikel nur erwähnt als „mein Freund“ und „die meinem Freunde in allem gefolgt ist“.77 Bei allem, was Benjamin vermeidet zu benennen und was ihm unmöglich wäre zu schreiben, eröffnet sich ihm auch eine Gelegenheit. Er findet durch die Gedichte „im Munde“ der anderen – und in seinem eigenen, als ob es der eines anderen wäre – die kaum erzählbaren Reste der Geschichte von Rika Seligson und Fritz Heinle, die sich bei Ausbruch des Krieges gemeinsam das Leben nahmen.78 Im Munde der anderen, „derer, mit denen verbunden ich damals lebte“ bedeutet also hier: in der Stimme der nunmehr Toten.79 75 GS II.2, 623. 76 Eine weitere Erwähnung der Francesca, in diesem Fall eine direkte, findet sich am Ende des Jula Cohn gewidmeten Essays „Goethes Wahlverwandtschaften“. Vgl. GS I.1, 200. 77 GS II.2, 624. 78 Friederike Seligson, genannt Rika, Ricka oder Rike, die älteste der Seligson-Schwestern (1891-1914), und C. Friedrich Heinle, genannt Fritz (1895-1914). Martin Gumpert, ein jüngeres Mitglied der Sprechsäle und der Freien Studentenschaft, schrieb in seiner Autobiographie 1939: „Es gab einige Hellsichtige unter uns, für die das Ende der Welt schon damals gekommen war. Am 1. August [recte: am 8. August] hatten im ‚Sprechsaal‘ ein Junge, er hieß Heinle, und ein Mädchen, sie hieß Rika, den Gashahn aufgedreht, um zu sterben. Ich habe unser Heim nie wieder betreten. Es war zerstört“. Gumpert, Hölle, 63. Ein weiteres Zeugnis stammt von einer Freundin der Familie Benjamin: „Er erzählte mir oft von zwei Menschen, die er liebte und die ihn in seinem Leben, wie ich glaube, am stärksten beeindruckt haben. Es waren der Dichter Heinle und seine Freundin Rika Seligson, die sich in jungen Jahren gemeinsam das Leben genommen hatten. Obwohl ihr Tod mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammenfiel, ließ sich ihr Entschluß zu sterben nicht mit einer so erzwungenen Trennung erklären. [Absatz] Walter sprach nicht von Heinle, er machte ihn gegenwärtig, denn er war ihm in seinem Bewußtsein immer gegenwärtig. Walter war mit Heinle über den Liebestod einer Meinung: Er sagte mir fast wörtlich folgendes darüber: [Absatz] Jede Liebe geht im Alltag kaputt; der Alltag drängt sich zwischen die Liebenden und verdünnt die Substanz der Liebe. Da keine Liebe den Kampf mit dem Leben aushalten kann, gibt es nur eine Möglichkeit, sie voll und ganz zu erhalten – den gemeinsamen Tod der Liebenden. Walter war überzeugt, daß Liebe und Tod zusammengehören, ein Thema, das immer wieder in unseren Gesprächen aufkam“. Aus: Wolff, Charlotte. Innenwelt und Außenwelt: Autobiographie eines Bewußtseins. München, 1971, 207. 79 GS II.2, 622. Benjamin schreibt weiter: „Verbunden mit diesen – von denen heute keiner mehr lebt“. Dies bezog sich zum Zeitpunkt der Niederschrift, im gänzlich unübertragenen Sinne, von den Widmungsträgern

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Das Gesprochene ist im Aufsatz der Ort der Vergänglichkeit und nicht, wie bei George, die Gewähr für eine monumentalen Einmaligkeit, für die höchste Gestalt. Selbst der von Benjamin erwähnte und geschätzte Aufsatz von Robert Boehringer, der im Jahrbuch des George-Kreises erschienen war, benennt Zerstreuung als die Gefahr des Wortes, die mittels einer regulierten und gleichbleibenden Rezitation, dem „Hersagen“ von Gedichten, gebannt werden sollte.80 Zusätzlich zu diesem besonderen Verhältnis zur Mündlichkeit ließe sich auf Georges Umgang mit der Schrift verweisen: sowohl auf die eigens für seine Veröffentlichungen entworfene Type als auch auf seine Modifikation der Orthographie und Interpunktion, in denen die Abweichung durch die Wiederholung reguliert wurde.81 Benjamins Aufsatz stellt das Abwehrende am Zaubermittel des Manierismus heraus, aber die Gefahr ist nicht nur eine, gegen die Georges Dichtung und Lehre sich sträuben, sondern sie geht, in der Logik des Apotropäischen, auch von ihnen selbst aus: in Form der Verführung, die über den Klang, die Stimme und den Spruch wirkt. Für die Jugend, die Benjamin meint, war George ein „Spielmann“, der sie „bewegte wie der Wind die ‚Blumen der frühen Heimat‘, welche draußen zum langen Schlummer luden“.82 Das Klanghafte, Mündliche als „Wind“ hat jedoch nicht nur etwas Forttragendes und Zerstreuendes; es verbindet sich auch noch einmal deutlicher mit dem Erotischen. Bei Benjamin markiert die Mündlichkeit der Georgeschen Dichtung ein anderes Verhältnis zur Gefahr als das einer Verteidigung und Befestigung: nämlich das der Hingabe an die verzaubernde Einladung, die jedoch anderes bereithielt. Objektiv meinte der „Schlummer“ für diese Generation den Tod, als Konsequenz der traumgleichen Geschichtslosigkeit des Jugendstils, aus dem die Überlebenden gewaltsam geweckt wurden, wie Benjamin an anderer Stelle schrieb.83 Die Hingabe, die immer eine an die Ge-

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im Text nur auf Wolf Heinle, Fritz Heinle und Rika Seligson (GS II.2, 622623). Vgl. GS II.2, 623 sowie Boehringer, Robert. „Über Hersagen von Gedichten“. In: Landmann, Georg Peter (Hg.). Der George-Kreis: Eine Auswahl aus seinen Schriften. Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch, 1965, 93-100. Erstveröffentlichung im Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911). Alle, die ihn zitierend aus dem Kontext lösten – selbst seine Gegner –, waren gezwungen, die generalisierte Kleinschreibung und veränderten Satzzeichen der Druckgestalt zu übernehmen. Zum Handschriftlich-Präziösen bei George vgl. auch Szondi, Peter. Vorlesungen, Band IV: Das lyrische Drama des fin de siècle. Frankfurt am Main: Suhrkamp, (2) 1991, 351. GS III, 399. Vgl. GS V.2, 684. Benjamin hatte Ludwig Klages Aufsatzfolge „Vom Traumbewusstsein“ gelesen (Zeitschrift fuer Pathopsychologie 3 Nr. 1 (1919), 1-38; 3 Nr. 4 (1919), 373-429) und reagierte auf die Ideen daraus teils kritisch, wie von dieser Stelle des Passagenwerks geschlossen wer-

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fahr ist, erweist sich auch am Beispiel des Gedichtes, das er mit Heinle verbindet. „Gemahnt Dich noch das schöne Bildnis dessen“ enthält eine Anspielung auf Autoerotik und den Narziß-Mythos, der allerdings eine Wendung vom Sichtbaren ins Klangliche erhält: „Der sinnend sass an jenes weihers kante / Und lauschte in die tiefe heimlichkeit …“.84 Durch Benjamins Widmung oder vielmehr Umwidmung öffnet sich der selbstbezügliche Rahmen, den das Gedicht um sich selbst bildet. Das Gedicht wird zum Bilderrahmen, indem es für Benjamin auf den geliebten Freund verweist, der es wiederum selber liebte und ihm damit „Züge von sich gegeben hat“.85 Das Gedicht als Rahmen enthält jedoch nicht das Bildnis Heinles, und der Schwan, der im Gedicht die Insel verläßt, um seinen „schlanken hals“ in die „kinderhand die feine“ zu legen, kommt nicht zu sich selbst zurück, sondern einem andern zu. Die Einsamkeit Georges und diejenige Benjamins mögen beide „das Notwendige“ sein; sie unterscheiden sich jedoch durch den Grad, in welchem sie sich in dieser Einsamkeit des Verlustes gewahr werden. Sowenig es möglich ist, in Benjamins raumordnender Darstellung nicht auf die George entwundenen Konzepte zu stoßen, deren politische und geschichtliche Relevanz sich aus dem entscheidenden Abstand behauptet, der sich zu den „Fundstellen“ ergibt – Gestalt, Haltung, Ergreifen, Herrschaft, Kraft –, sowenig auch ist es wahrscheinlich, ein Inventar der für Benjamin bei George wesentlichen Gesichtspunkte erstellen zu können, ohne die Frage der Landschaft zu durchlaufen. Nicht so sehr eine lokalisierbare Landschaft als das besondere Verhältnis des Gedichtes zu seiner Situation bildet den Hintergrund zu den meisten der von Benjamin geschätzten Gedichtbänden Georges, Die Bücher, Das Jahr der Seele und Der Teppich des Lebens.86 Den Ausführungen der Arbeit zum Ursprung des deutschen Trauerspiels entsprechend ist die Landschaft auch hier und prinzipiell als allegorische zu betrachten; ihren Höhenzügen kommt dabei eine den Gesichts- und Charakterzügen eines Menschen vergleichbare Funktion zu.87 Damit einher geht bei Benjamin ein spielerischer Protest gegen das Meisterliche. So bringt er am Ende seiner Besprechung von Max Kommerells Buch über Jean Paul, das er klar in der Tradition der „Georgeschule“ sieht, die zwei Physiognomien des Dichters in einer Landschaft zusammen:

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den könnte, teils zustimmend (vgl. „Schemata zum psychophysischen Problem“, GS VI, 84). George, Werke I, 133. GS II.2, 624. Vgl. GS II.2, 623. Vgl. GS I.1, 272-273 zu den pastoralen und sonstigen landschaftlichen Elementen der Allegorik des Trauerspiels. Zur Geschichte als Urlandschaft, die sich in einem „Antlitz – nein in einem Totenkopfe“ abzeichnet, vgl. GS I.1, 242.

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DER BERGWALD „Der Zauberstab, von dem die Rede ist, ist der der Phantasie; die Feuchte, die ihn benetzt, die des Humors, den man aus unergründlicher Quelle sprudelnd sich denken mag. Zu Füßen eines biedermeierlich geblümten Felsens springt sie auf. Gelehnt an eine himmelblaue Göttin lagert dort der Dichter mit den melodischen Händen. Was ihm die Muse eingibt, zeichnet ein Flügelkind neben ihm auf. Verstreut umher liegen Harfe und Laute. Zwerge im Schoß des Berges blasen und geigen. Am Himmel aber geht die Sonne unter. So hat Lyser einmal die Landschaft gemalt, in deren buntem Feuer die Gestalten Jean Pauls wandeln und sich verwandeln. Bei Kommerell zeichnet das Dichterhaupt nackt von dem grauen Hintergrund der Ewigkeit sich ab“.88

In derselben Kompositionsweise ist in der Berliner Kindheit, am Ende des Stückes über die Loggien, aus Stadtgott, Ort, Zeit und Kind das Emblem der Todgeweihtheit gebildet: die Hinfälligkeit einer bestimmten Lebensform wie auch das Aufgehen eines Einzelschicksals in den geschichtlichen Zusammenhängen. Sie werden von einer erstarrten urbanen Landschaft bewahrt.89 Erstarrt ist sie jedoch, da sie die Vergänglichkeit der allegorischen Wahrnehmung hervorkehrt – und nicht, da sie eine repräsentative Haltung für die Nachkommenden eingenommen hat. Der Ort, den die Loggien bezeichnen, ist zeit- aber nicht geschichtslos, da sie immer schon veraltet und vergessen waren am der Stadt abgekehrten Rande einer Wohnung. In einem Brief an Gretel Karplus, Felizitas, vom 10. Juni 1933 weist Benjamin deutlich auf seine Assoziation von Landschaftswahrnehmung mit der Dichtung und Poetik Georges hin.90 Die zeitliche Nachbarschaft, in der dieser Brief, das „Loggien“-Stück wie auch der zweite „Rückblick auf Stefan George“ verfaßt wurden, alle auf der Insel Ibiza, ist weniger bedeutend als die Art und Weise, in der Benjamin das allegorische Potential Georges in den Beziehungen dieser Texte untereinander kritisch freilegt. Der Landschaft kommt dabei die Rolle zu, über die Vergleichbarkeit mit der Charakteristik Fritz Heinles eine andere Poetik in kaum andeutenden Zügen zu entwerfen, die das von George 88 Aus „Der eingetunkte Zauberstab“. GS III, 417. Vgl. auch GS I.1, 363-364: „Sind nicht die Werke von Jean Paul, des größten Allegorikers unter den deutschen Poeten, dergleichen Kinder- und Geisterkammern?“ 89 „Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf“ (GS VII.1, 388). 90 Zur Bedeutung, welche die Landschaft in den ersten theoretischen Texten Benjamins spielt, vgl. auch den Abschnitt II aus „Metaphysik der Jugend“, ein Aufsatz, den Benjamin 1913-1914 verfaßt haben dürfte, in jedem Fall vor Ausbruch des ersten Weltkriegs. GS II.1, 98-101; GS II.3, 919.

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Gelernte bewahrt, und zwar im Verborgenen wie im Flüchtigen einer Sinneswahrnehmung:91 „Im Innern des Gebirges trifft man auf eine der kultiviertesten, fruchtbarsten Landschaften der Insel […] Es ist eine Landschaft, wie ich sie früher einmal im ‚Jahr der Seele‘ geliebt habe, heute drang sie vertrauter mit dem reinen flüchtigen Geschmack der grünen Mandeln in mich ein, die ich am andern Morgen um sechs Uhr von den Bäumen stahl. Auf Frühstück konnte man nicht rechnen; es war ein Ort abseits von aller Zivilisation“.92

Benjamin bringt sogleich diese Landschaft mit seinem Begleiter bei der Wanderung ins Inselgebirge in Verbindung: „Ebenso unzivilisiert, ebenso hoch kultiviert“.93 Dieser junge Mann, „flüchtiger Bekannter des Hauses“ und Enkel Paul Gauguins, der denselben Namen trägt,94 erinnert Benjamin „an einen der Brüder Heinle, die so jung gestorben sind und er hat einen Gang, der oft nach augenblicklichem Verschwinden aussieht“.95 Der Bericht von der Wanderung schließt hier, es folgen nur noch zwei Sätze zum Kampf dieses Begleiters gegen den Einfluß der Kunst des Großvaters. Der Jugendliche vereinigt Züge auf sich, deren besondere Ausprägung auch Fritz Heinle als Dichtertypos von George unterscheiden: seine besondere Haltung, die aus seiner Körperlichkeit, seinem Gang spricht; seine wesentliche Jugendlichkeit, die sich im Ringen um Behauptung gegenüber einem bedrückenden Älteren darstellt; der Name, der statt einer Wirkung von Einzigartigkeit im Gegenteil zuallererst das Sekundäre betont96 – und durch seinen Klang den „Gang“ nahelegt; die Unterscheidung von Kultivierung und Zivilisation, die das Gepflegte und das Gewohnte keiner regelhaften menschlichen Gemeinschaft unterstellt. 91 Adorno schrieb im Kontext der von Benjamin praktizierten Distanzierungstechniken, dieser habe von George „Schemata des Rituals“ gelernt. Das sei hier angefügt, da es das Schematische seiner möglichen Übernahmen bestätigt. Vgl. Adorno, Theodor W. „Benjamin, der Briefschreiber“. In: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, (6) 1994, 583-590, hier 584. Hingegen läßt sich im folgenden Zitat über Georges Einfluß auf Benjamin nur die Geste des Einhaltens, nicht jedoch ihr Charakter nachvollziehen: „An die Georgesche Schule, der er mehr verdankte, als der Oberfläche des von ihm Gelehrten sich anmerken ließe, gemahnt ein Bannendes, Bewegtes zum Einstand Zwingendes seiner philosophischen Gestik, jene Monumentalität des Momentanen, die eine der maßgebenden Spannungen seiner Denkform ausmacht“. Adorno, Über Walter Benjamin, 38. 92 GB IV, 231-232. 93 Ebd. 94 Vgl. GB IV, 230. 95 GB IV, 232. 96 Was der komplette Vorname, Paul-René, nur noch stärker hervorhebt. Vgl. GB IV, 234.

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Wäre es nicht um den Namen des Großvaters, der allzudeutlich in den Bereich der verbürgten Kulturgüter weist, in denen es sich von Wildheit nur träumen läßt, fiele es schwer, in dieser Begleiterfigur etwas anderes als die leeren Züge einer Allegorie zu sehen, die über ihr Fortdeuten hinaus den Zusammenhang eines Sinns bloß aus der Umgebung empfangen, in der sie sich aufhalten. „Figur“ nennt Benjamin diesen Gauguin ausdrücklich: „Am andern Tage machte ich die Bekanntschaft dieser Figur und sie war bestimmt ebenso faszinierend wie die seines Gebirgsdorfs, in dem er der einzige Fremde ist“.97 Ähnlich spricht Benjamin vom Tod; von einem „ziemlich skurrilen Burschen, dem ich bei meinen Kreuz- und Querzügen schon öfters begegnet bin“ hatte er ein Jahr zuvor an Scholem geschrieben, als er beabsichtigte, seinem Leben in Nizza ein Ende zu setzen.98 Zukunftslos und wie der Tod erscheint die Jugend, deren reinste Vertreter, wie Heinle, dennoch die Züge des Kommenden tragen. Der unwillkürlichen Haltung eines Menschen entsprechend ist das Gesicht der dichterischen Landschaft weder unveränderliche Gegebenheit noch vom Betrachter geschaffen – sie öffnet sich demjenigen, der von allem abzusehen versteht: als das, was begegnet, wenn einem nichts Besonderes begegnet: „Dann setzte man uns in einer versteckten Bucht ab. Und dort bot sich ein Bild von derart unverrückbarer Vollkommenheit, daß etwas Seltsames, aber nicht unbegreifliches in mir sich ereignete: ich sah es nämlich eigentlich garnicht; es fiel mir nicht auf; es war Vollkommenheit am Rande des Unsichtbaren“.99 Die Spannung von Verborgenheit und Offensichtlichkeit des Landschaftsbildes ist eine der Ahnung einer Deutung, die einer Wahrnehmung ohne Erkenntnis innewohnt. Bei alledem ist der Tod zu ahnen, der darinnensteckt – in diesem Fall der eines Kindes, was sich nach mehr als einer Stunde Anstieg ins Gebirge aufklärt. „Kurz: um dieses Schauspiel auffallend zu finden, mußte man es erst verstehen“.100 Die Struktur dieser Äußerung hebt das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf, indem das Verständnis dem Bemerken gegenüber der übergeordnete Begriff ist, es in sich faßt, hier als seine eigene Voraussetzung aber erst erschafft. Dies geht einher mit einer Verschränkung des Zeitgefüges. Zum einen erscheinen das Vorauseilen des lesenden Verstehens und seine Nachträglichkeit in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Zum anderen wird dadurch die Nähe zur logischen Tautologie hervorgehoben, die ebenfalls eine zirkuläre Wirkung hat: man muß verstehen und verstanden haben, um zu verstehen. Freilich deutet die Tautologie, die 97 GB IV, 230. 98 GB IV, 106. 99 GB IV, 231. 100 Ebd.

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logische wie die rhetorische, auch auf den Unterschied dessen, was doppelt zu sein scheint. Benjamin geht es bei der Erzählung von der Landung in der „versteckten Bucht“ vor allem um ein Bemerken, das die Landschaft wahrnimmt, das Potential an Deutung aber unberührt läßt: nicht den Tod eines Kindes sieht und als Erklärung einsetzt, sondern die Trauer bemerkt, die diese Landschaft birgt und zugleich offen trägt. Der Bericht von Landung und Aufstieg in dieser Landschaft im „Innern des Gebirges“ ist eine Allegorie eines anderen Lesens, und der Blick des Allegorikers ist dabei ein lesender wie ein schreibender. Er restituiert das Ungedeutete dessen, was er deutet. Insofern ist der Kritiker die Anamnese des Dichters, als er das Gedicht wiederherstellt in seinem Gehalt – dem, was verloren ist. Für Benjamins Verhältnis zu George und seiner Dichtung ist damit die mögliche „Rettung“ umrissen als Bewahrung des Verlorenen als Verlorenen. Ebenfalls eine Landschaft, nämlich der Wald, leiht sich dem indirekten Vergleich der Gedichte von Heinle und George. In den Monaten nach Heinles Tod, schreibt Benjamin, „trat, was er an Gedichten hinterlassen hatte, an die wenigen Stellen, wo noch in mir Gedichte bestimmend zu wirken vermochten. Sie bildeten eine andere Figur. Und wenn ich die alte der neuen vergleichen wollte: sie waren wie ein alter Säulenwald und eine junge Schonung“.101 Verglichen werden hier von Benjamin nicht die Figuren der Gedichte zweier Dichter – er vergleicht vielmehr das, was er diesen Figuren vergleicht; es handelt sich also um einen Vergleich von Vergleichen. Und diese in sich mehrgliedrigen Vergleiche, „ein alter Säulenwald“ und „eine junge Schonung“, tragen eine Kurzformel der Poetik in sich, die für Benjamin im dichterischen Unterschied zwischen George und Heinle sich verbirgt. Zunächst einmal ist festzustellen, daß es sich bei den beiden Vergleichen wiederum um Tautologien handelt, in diesem Fall Vervielfältigungen von bedeutungsgleichen Vorstellungen. Eine Schonung ist per Definition jung, und die Ruinen des Säulenwaldes evozieren ein hohes Alter. Zudem ist „Säulenwald“ in sich eine Tautologie, da das Wort Säule auf die gleichen Ursprünge wie das lateinische silva, Wald, zurückgeht.102 Weiterhin übersetzt die Tautologie „eine junge Schonung“ diejenige, die schon im Namen „Heinle“ angelegt ist, zumindest, wenn dieser seinem Klang nach als kleiner Hain, als junges Wäldchen aufgefaßt wird. Der offensichtliche Gegensatz von alt und jung wie auch die ästhetische Kommentierung, die darin besteht, den verfallenen, aber ehemals künstlerisch durchgeformten Kult- oder Herrschaftsbau gegen eine neue 101 GS II.2, 623. 102 Vgl. Happ. Heinz. Hyle: Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1971, 274-275.

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Baumpflanzung zu halten – einen Zwischenbereich von menschlichem Wirken und Wildnis –, hat demnach zur unauffälligen Begleitung das formale Moment der Wiederholung und Verdichtung. Es ist geradezu ein Dickicht. Die Benjaminsche Bildlichkeit des Waldes, die sich verleiht an Figuren für Figuren von Gedichten wie sie auch einen Vergleich von Vergleichen erlaubt, ist einerseits formal selbstbezüglich – indem ihre Bestandteile, minimal variiert, sich wiederholen –, aber öffnet sich andererseits auch auf eine Flucht von Verweisen aus dem heraus, was sie waldig in sich birgt. Nicht zuletzt auf den Verweis, daß der Dichtername Heinle, der auf den Wald hin gelesen werden kann, sich zu der langen Tradition fügt, die sich zur Veranschaulichung ihrer allegorischen Lehren auf Holz und Wald beruft.103 An der waldigen Stelle in seinem Beitrag zu Stefan George verdichten sich die Angaben zum Vergleich von Heinle zu George um die Bezüge zu weiteren Dichtungen, die das Verhältnis vom Vorvergangenen zum Kommenden in der Bildlichkeit des Waldes darstellen. Ohne die weitreichende Wirkung von zweien dieser Bezüge, Hölderlin und Baudelaire, auf Georges Dichtung wie auf Benjamins Kritikbegriff wäre wiederum das Verhältnis von Georges und Heinles Gedichten, wie Benjamin es darstellt, nicht auszumessen. Obwohl ihr Ort innerhalb der Konstruktion von Benjamins Werk noch nicht überschaut werden kann, ist es aber schon möglich, vom doppelten „Hain“ aus den Bereich von Georges vormaligem Herrschaftsgebiet nachzuzeichnen. Die Konstellation, die sich in Form von anderen literarischen „Stellen“ um das Bild von der alten Kultstätte und dem jungen Hain ergibt, bedeutet den Raum, der der Wahrnehmung und dem Lesen eröffnet ist. Der „Wald“, der märchenhafte und mythologische Züge zusammenbringt, bestimmt als Landschaftsform auch das Bild der labyrinthischen, unübersehbaren Stadt, in der sich der lesende und deutende Blick verirrt. Benjamin verwendete in der „Berliner Chronik“ – einem Projekt, das der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ vorausging – das Wort „Weichbild“, um abgelegene städtische Übergangszonen, Veraltetes und Vergessenes zu benennen.104 Sehr genau bezeichnet es das ehemalige 103 Vgl. vor allem die Kommentare des Augustinus zu Psalm 28:9 wie auch den Prolog zum Kommentar Gregors des Großen zum ersten Buch der Könige. Dem sind zumindest Hinweise auf weitere „waldige“ Traditionen hinzuzufügen. Zum einen die Rolle, die „Holz“ als hyle in der antiken Metaphysik, vor allem bei Aristoteles und den Stoikern spielt; weiterhin die literarische Bukolik von Theokrit über Vergil und Dante bis Tasso; schließlich die Stellung des Waldes oder Hains im deutschen Sprach- und Kulturraum – vgl. dazu z.B. Wuttke, Adolf. Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Dritte Bearbeitung von Elard Hugo Meyer. Berlin: Wiegandt & Grieben, 1900, 15 (§ 13: „Bäume“). Klopstock und der Göttinger Hain gehören ebenfalls in diesen weiten Zusammenhang. 104 GS VI, 470. Vgl. auch das Stück „Vorstädte“ aus „Denkbilder“, GS IV.1, 363-364.

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Herrschaftsgebiet Georges. Ähnlich dem, was Benjamin in der Landschaft von Ibiza widerfuhr, ist das entscheidend, was man wahrnimmt, wenn man nichts Besonderes wahrnehmen will. Als veraltete kann Benjamin somit die Dichtung Georges schätzen; als vergessene lieben, insofern sie einer Jugend „Asyl“ gewährte.105 Mit dieser Jugend verschwand der gebieterische Schein dieser Dichtung, indem ihr Verweis auf sich selbst, die Erfüllung im eigenen Klang sich an der sie bewohnenden und in ihrem Sinne sterbenden Jugend sich wahrer erwies als verschwindende, verwehende Lautlichkeit. Es muß dahingestellt bleiben, ob Benjamin sich in seinem Andenken an Heinle der gefährlichen Nähe zu Georges Kult um Maximilian Kronberger bewußt war. Benjamins Verweise, in ihrer sorgfältig konstruierten Indirektheit mehr als etwa in monumentaler Überhöhung, entbehren denn auch nicht des Pathos. Jedoch findet dies Gedenken an Heinle im Verschwinden statt, in der Verkleinerung, der Verschiebung und Verdichtung. Heinle, in seinen Gedichten, bildet für Benjamin und in seinen Schriften „eine andere Figur“, und sie ist fürwahr immer wieder anders: sie wird zum Stellvertreter schlechthin, zu einer leeren Stelle. – Der Verzicht auf die Einmaligkeit, die Benjamins Umgang mit der Figur des toten Freundes von Georges dichterischem Monument für Maximin unterscheidet, mag daher ebensosehr „Geister ungeborner Stunden, versäumter Möglichkeiten“ bergen wie die Gedichte Georges, die Benjamin „nur immer allein“ liebte.106 „Das ergebnis ist: in hainen bald der berge bald anmutiger auen war des ältesten gottesdienstes sitz, da werden nachher die ersten tempel gebaut worden sein, da lagen auch die mahlstätten des volks“. 107

105 GS III, 399. 106 GS II.2, 624. 107 Grimm, Jacob. Deutsche Mythologie, Band 1. Berlin: Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung, (4) 1878, 71.

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S au b e r k e i t. V o m T e r r o r d e r L i t e r at u r k r i ti k „Dem medusischen Blick verwandelt der Mensch weithin sich zum Schauplatz objektiven Vollzugs. Darum verbreitet Benjamins Philosophie Schrecken kaum weniger, als sie Glück verspricht“.108 „Er weiß nun aber genau was ich will und vor allem was ich nicht will“.109

„Es gibt ein Gedicht, das wirklich von Hölderlin sein könnte, wenn man sich den Dichter nach 1844 noch siebzig Jahre lebend denkt, als er selbst und ein anderer“: der letzte Teil dieser Formulierung ist es, Hölderlins Identität – als er selbst und als ein anderer – betreffend, welcher der Spekulation eine gewisse Interessantheit einträgt. Sie stammt von Werner Kraft, der sie 1984 zur Veröffentlichung gab, also genau siebzig Jahre nach dem Tode Fritz Heinles, von dessen Gedicht die Rede ist.110 – Werner Kraft war in den Jahren nach Heinles Tod mit Walter Benjamin bekannt und berichtet in seinem Rückblick vom extrem protektionistischen Umgang des Letzteren mit dem dichterischen Erbe des Freundes. Wie einige Briefe bezeugen, bemühte sich Benjamin, die Schriften des jung Gestorbenen im Manuskript zu sammeln, um sie der Öffentlichkeit vorstellen zu können.111 Sämtliche Publikationsversuche scheiterten jedoch. Die Liste derer ist lang, denen Benjamins Wertschätzung Heinles als Dichter, eben bis hin zum Vergleich mit Hölderlin, unverständlich blieb.112 Kraft selbst vermeidet es, sich der Frage nach der 108 Adorno, Über Walter Benjamin, 21. 109 Benjamin über seinen Verleger Weißbach in einem Brief an Scholem, Anfang August 1921. GB II, 179. 110 Kraft, Werner. „Friedrich C. Heinle“. Akzente 31 Nr. 1 (1984), 12. Es handelt sich hierbei um einen Aufsatz anläßlich der Veröffentlichung von verschollen geglaubten Werken Heinles. Werner Kraft hatte zum ersten Male 1967 über Heinle und sein Werk berichtet („Über einen verschollenen Dichter“. Neue Rundschau 78 Nr. 4 (1967), 614-621). Er bezog sich dabei fast ausschließlich auf die in den Nachlässen von Phillip Keller in Aachen und von Ludwig Strauß in Jerusalem erhaltenen Gedichte. 1982 veröffentlichte die Zeitschrift aut aut von Herbert Blumenthal-Belmore in Rom aufbewahrte Abschriften von Gedichten, die für verloren gehalten worden waren. Belmore, ein enger Freund Benjamins bis zu ihrem Zerwürfnis 1917, war in erster Ehe mit Carla Seligson verheiratet, selbst enge Freundin Benjamins und Schwester von Friederike Seligson, die sich 1914 zusammen mit Heinle das Leben genommen hatte. 111 Vgl. die Briefe an Siegfried Bernfeld vom 1. November 1914 und vom 2. Februar 1917 in GB I, 259; 353. 112 Hugo von Hofmannsthals Ablehnung der ihm übersandten Heinle-Werke ist bekannt (vgl. seinen Brief an Florens Christian Rang, wiedergegeben in GB II, 395). Ein neueres Zeugnis solcher Haltung findet in der amerikanischen Ausgabe der Benjamin-Schriften: „… few people then or since have

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dichterischen Bedeutung Heinles zu stellen, und auch Gershom Scholem, den er zitiert, faßt sich diplomatisch, wenn er vom „Rätsel der Dichtung Fritz Heinles“ spricht, die für Benjamin „Elemente von Größe enthalten haben muß“, die Heinle „vom Gros der Expressionisten absonderten“.113 Scholem führt seine Vermutung über die sich dem expressionistischen Gros enthebende Größe nicht weiter aus. Es ist ohnehin zweifelhaft, ob sich aus Benjamins Stellungnahmen zum literarischen Expressionismus auf direktem Wege Kriterien gewinnen ließen, die auch für Heinles Werk gelten könnten. Zwar hatte Heinle in seiner kurzen Berliner Zeit Kontakt zu den literarischen Zirkeln um die Neopathetiker und den „Neuen Club“, und auch seine einzige Gedichtveröffentlichung zu Lebzeiten steht in einem expressionistischen Kontext.114 Heinles Texte weisen zudem in mancherlei Hinsicht Nähen zu Gedichten auf, bei denen nie gezögert wurde, sie als expressionistisch zu bezeichnen. Trotz allem nahm Benjamin das Werk des Freundes von seiner schonungslosen Beurteilung des literarischen Expressionismus aus, ja er setzte es, wie der Plan zu seiner Zeitschrift Angelus Novus zeigt, ihm entgegen. Daraus ergeben sich auf Umwegen weitere Aufschlüsse über den poetologischen und damit politischen Ort von Heinles Dichtung für Benjamin – aber auch über die Aufgabe des Kritikers, deren Bestimmung sich im Zuge der Auseinandersetzung mit dieser Dichtung bildete. Die Formulierungen Benjamins in der Ankündigung der Zeitschrift legen nahe, daß die Gedichte der Heinle-Brüder, deren Veröffentlichung für die erste Nummer vorgesehen war, gemeinsam mit wenigen anderen Dichtungen als „Entscheidung über die deutsche Sprache selbst“ anzusehen seien.115 Dem Großteil der deutschen Literaturproduktion der zehner und frühen zwanziger Jahre galt hingegen Benjamins Absicht zu „annihilierender“ Kritik: „Nur der Terror wird der Nachäffung großen malerischen Schaffens Herr werden, die den literarischen Expressionismus ausmacht“.116 Diese Äußerung hat nicht das Befremden erregt, auf shared his [Benjamin’s] judgment of Heinle as a writer“, in Benjamin, Selected Writings 1, 495. 113 Scholem, Walter Benjamin, 85. 114 Vgl. „Tannenwald im Schnee“. In: Lautensack, Heinrich/Meyer, Alfred Richard/Ruest, Anselm (Hg.). Der Mistral, eine lyrische Anthologie (Bücherei Maiandros, Band IV und V). Berlin 1913. Dazu weiterhin Wizisla, Erdmut. „‚Fritz Heinle war Dichter‘: Walter Benjamin und sein Jugendfreund“. In: Jäger, Lorenz/Regehly, Thomas (Hg.). „Was nie geschrieben wurde, lesen“. Frankfurter Benjamin-Vorträge. Bielefeld: Aisthesis, 1992, 119; 124. 115 GS II.1, 243. 116 GS II.1, 242. Es ist nicht schwierig, die Bedeutung Fritz Heinles und vor allem die seines Todes für Benjamin zu erkennen, wovon der Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ zeugt. Über die Feststellung die-

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das sie in mehr als einer Hinsicht Anspruch zu erheben scheint. An ihr ist nicht allein bemerkenswert, daß Benjamin seine Haltung gegenüber der expressionistischen Literatur im Vorwurf der verfehlten Mimesis zusammenfaßt. Vor allem überschneiden sich in ihr ästhetische Kategorien wie selbstredend mit solchen der politisch-geschichtlichen Sphäre: „Terror“ wird als durchaus gebotenes, ja notwendiges Moment der Kritik präsentiert.117 Damit kommt zu einem nicht unauffälligen Zeitpunkt, nach der kompromittierten deutschen Revolution von 1918, ein in der heutigen Verwendung weitgehend verschütteter Aspekt des Wortes „Terror“ zum Tragen. Benjamin verwendet den Begriff hier auf affirmative Weise, wie auch in „Zur Kritik der Gewalt“, wo er implizit die Rolle des „geistigen Terroristen“ annimmt.118 Er verweist damit auf den Wortgebrauch „terreur“ während der Herrschaft des Konvents 1793-1794 sowie in der sich rhetorisch daran anlehnenden nihilistisch-anarchistischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Aber im Rückbezug auf die französische Revolution sprang die Verwendung des Begriffs vom Politischen im engeren Sinne auch auf andere Bereiche über.119 So bezeichnete August Wil-

ser Bedeutung für Benjamin und sein Werk – eingeschränkt zumeist auf den einen Aufsatz – reicht die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Fritz Heinle in Benjamins Leben und Werk jedoch selten hinaus. Es seien nun einige der wenigen Texte genannt, deren Berücksichtigung von Heinle sich nicht mit einer Bemerkung am Rande begnügt: Alexander Honold, Shoshana Felman, Martin Jay, Gianni Carcchia, Werner Kraft, Erdmut Wizisla, die schon genannte Veröffentlichung von Deuber-Mankowsky, und das Nachwort von Rolf Tiedemann zur Veröffentlichung von Benjamins Sonetten. Carcchias dreiseitiger Aufsatz aus dem Jahre 1982 stellt meines Wissens die einzige poetologische Auseinandersetzung mit Heinles Gedichten dar und ist zusammen mit Werner Krafts Aufsätzen aus den Jahren 1967 und 1984 auch insofern eine Ausnahme, als sie diese Gedichte nicht von vornherein für uninteressant erachtet. Krafts Texte, so bedeutend sie für das Gedächtnis des Dichters waren, erfüllten dabei allerdings eher die Funktion einer ersten Vorstellung Heinles. 117 Eine biographische Beobachtung, die nichts beweist, aber in diesen Umkreis gehört, findet sich bei Gershom Scholem: „So brachte er auch aus Moskau einen silbernen Dolch mit, über den er sich in nur halb ironischen Betrachtungen mit Hinblick auf den Terror erging“. Walter Benjamin, 52. 118 Vgl. GS II.1, 201. Benjamin zitiert dort Kurt Hiller: „töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr das Weltreich der Gerechtigkeit … so denkt der geistige Terrorist … Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und Gerechtigkeit eines Daseins … Dasein an sich steht“. Benjamin widerspricht Hillers Bekenntnis differenziert, aber entschieden. Obwohl er die Notwendigkeit des Tötens keinesfalls verteidigt, attackiert er vor allem die allgemeine und ungedingte Privilegierung des Lebens (des „bloßen“ Lebens), die Hiller betreibt. Gleichermaßen kritisiert Benjamin die naturrechtliche Gewaltauffassung während der französischen Revolution. Vgl. GS II.1, 180. 119 Vgl. Walther, Rudolf. „Terror/Terrorismus“. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.). Geschichtliche Grundbegriffe: Histo-

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helm Schlegel sein eigenes Wirken sowie das der übrigen Romantiker ironisch als „Terrorismus der Kritiker“.120 Selbst bei abwertender Begriffsverwendung fällt auf, daß in dieser Tradition Terror kaum mehr als Mittel auftaucht, als Mittel zu einem Zweck – ob er nun Abschreckung, Schrecken oder „Reinigung“ heißen mag. Vielmehr wird Schrecken zu einem verselbständigten Prinzip: zumindest, insofern die ausübende Kraft nicht mehr identifiziert werden kann, oder wiederum nur noch als Mittel und Medium des zum Selbstzweck gewordenen Terrors erscheint, wie es die Ambivalenz des Begriffes „Schreckensherrschaft“ vorzüglich benennt. Benjamin war um die Zeit des Zeitschriftenplans mit der gedanklichen Durchdringung des Zusammenhangs von Sprache und Herrschaft beschäftigt, wie etliche Aufsätze belegen, die er um das Jahr 1920 herum verfaßte. Wie der kritische Schrecken oder Terror genauer zu bestimmen wäre, der im Angelus Novus der expressionistischen Literatur und auch der sie auszeichnenden „Nachäffung“ auf vernichtende Weise Herr werden sollte, ist also eine Frage, die mehr anrührt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Mit der näheren Bestimmung des „Terrors“ ist nicht die Deutung einer vermeintlichen Prophetie beabsichtigt, die sich so leicht in Benjamins Satz hineinlesen läßt. Es geht vielmehr um den politischen Charakter „Benjamin“ – wie auch um die Rolle, die Heinles Dichtung und die Geschichte der Freundschaft zu Heinle, auch in der „Ankündigung“, spielt. Und nicht allein aus der beabsichtigten Bekämpfung von „spiritualistischem Okkultismus, politischem Obskurantismus, katholischem Expressionismus“121 ergibt sich der politische Umriß des Zeitschriftenprojekts. Er wird deutlich vor allem in dem, was Benjamin über die Literaturkritik schreibt, die im Angelus Novus neben Dichtung, Übersetzung und Philosophie ihren Platz haben soll. Allerdings verwahrt Benjamin sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß es sich um Disziplinen handelt, die losgelöst voneinander auszuüben wären. Erst ihr Verhältnis zueinander wird sie als einzelne hervortreten lassen, wobei Benjamin demjenigen zwischen Dichtung und Kritik besondere Aufmerksamkeit schenkt: „Die Zeitschrift wird keinen ‚kritischen Teil‘ haben […] Gerade weil sie ebensosehr der Dichtung wie der Philosophie und Kritik sich zu widmen gedenkt, darf die letzte von dem nichts verschweigen, was ihr risches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990, 323-444. 120 Schlegel, August Wilhelm. „Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theater-Präsidenten von Kotzebue bei seiner gehofften Rückkehr in’s Vaterland, VIII“. In: Sämmtliche Werke II: Poetische Werke Teil 2. Hildesheim/New York: Georg Olms, 1971 (Nachdruck der 3. Ausgabe Leipzig, 1846), 270. 121 GS II.1, 244.

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über die erste zu sagen obliegt“.122 Als „positive“ oder als „annihilierende“ im Sinne des genannten „Terrors“ kann sich Kritik auf Dichtung wenden. Die Übersetzung dieser Spezifizierungen Benjamins in die Vermutung, daß es ihm wohl um „lobende“ und „ablehnende“ Besprechungen von Werken gehe, reicht für das Erhellen des Bezugs von Dichtung und Kritik nicht hin, so sehr sie sich anzubieten scheint. Es ist nicht weniger von Kritik verlangt, als „von der Wahrheit der Werke jene Rechenschaft zu geben, welche die Kunst nicht weniger fordert als die Philosophie“.123 Nur eine Kritik, die sich dieser Wahrheit verpflichtet weiß, ist in der „Ankündigung“ ihres Namens würdig, oder andersherum, der Maßstab der Kritik hat nicht in einem Belieben, im Geschmack oder in der Gesinnung irgendeines Kritikers (noch irgendeines Publikums) zu liegen. Die Täterbezeichnung „Kritiker“ taucht in Benjamins Formulierungen überhaupt nicht auf, so häufig und umfangreich auch die Sprache auf Kritik kommen mag. Was immer den die Kritik Übenden sonst näher kennzeichnet: er verschwindet – anders als die Dichter, die Benjamin nennt – im Guten wie im Schlechten in seiner Aufgabe. Zunächst ungeachtet der Probleme, die sich hinsichtlich der Figur des Kritikers ergeben – die nicht unterbestimmt, aber deren Darstellung ins Implizite verschoben ist – läßt sich feststellen, daß Benjamin die Versachlichung der Kritik vorsieht.124 Sie wird in Anlehnung an die hygienische und politisch-rechtliche Sphäre beschrieben: „Da […] seit fast hundert Jahren jedes ungewaschene Feuilleton für Kritik sich in Deutschland ausgeben darf, so ist, dem kritischen Wort seine Gewalt zurückzugewinnen, doppelt geboten. Diktum und Verdikt sind zu erneuern“.125 Diese „Gewalt“ des kritischen Worts befindet sich in der Nachbarschaft des Terrors, den Benjamin unmittelbar darauf gegenüber dem Expressionismus für angemessen befindet. Zumindest rhetorisch stehen also die „Nachäffung“ in der expressionistischen Literatur und die Verkommenheit der Feuilletons, die sich für Kritik ausgeben, in engem Zusammenhang: Benjamin spricht nicht von ungefähr von ihrer „Ungewaschenheit“, der die kritische Gewalt entgegentreten soll (und es ist zu vermuten, daß diese sich „gewaschen“ haben dürfte). Auch in Benjamins Feststellung, Kritik habe es nunmehr mit „talentvoller Fälschung“ zu tun,126 zeichnen sich Echtheit und Reines als wertgeschätzte Gegenstücke zu 122 GS II.1, 242. 123 Ebd. 124 Vgl. GS II.1, 244, wo Benjamin die „sachliche Universalität, welche im Plan dieser Zeitschrift liegt“ erläutert. Er spricht dabei sowohl eine Universalität bezüglich der Gegenstände der Zeitschrift als auch eine Universalität an, die sich aus Sachlichkeit ergibt. 125 GS II.1, 242. 126 Ebd.

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Fälschung und Schund ab.127 Die Rhetorik des Reinen, die sich in der „Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus“ am Werke zeigt – und die in anderen, zeitgenössischen Aufsätzen und Notizen Benjamins manifest und massiv auftritt – führt auf weitere Probleme, statt dasjenige des Verhältnisses von Literatur und Kritik geradewegs aufzulösen. Es ist nämlich nicht nur so, daß Benjamin andernorts die Kategorien von Echtheit und Reinheit dem Bereich des Moralisierenden entrückt, um ihnen desto nachdrücklicher im Sprachlichen, und im Zusammenhang mit der Kritik genauer im Rhetorischen, ihren Platz anzuweisen (und damit wiederum im Ethischen, insofern der Raum des Schreibens, in dem der Kritiker eine entschiedene Haltung zu den Verhältnissen einnimmt, per Definition seinen Wohnort darstellt). Zu dieser minimalen, aber folgenreichen Verschiebung des „Reinen“ in den Bereich der sprachlichen Logik128 beziehungsweise implizit der Ethik kommt hinzu, daß der Akzent des Zeitschriftenplans auf Unabgeschlossenem, auf Vorgängen und Forderungen, nicht auf Zuständen liegt. Dementsprechend heißt die vernichtende Gewalt des kritischen Worts gegen das Ungewaschene und Gefälschte: Reinigung – nicht Reinheit.129 Der Betonung des Unabgeschlossenen täte der Einwand, daß es sich eben um einen Plan, eine „Ankündigung“ handle, keinen Abbruch. Bedingt aus der Form und der Aufgabe des Textes bilden Vorläufiges und Uneingelöstes nicht nur seinen Rahmen, sondern auch wesentlich seinen Gehalt. So führt Benjamin, um der falschen Erwartung vorzubeugen, daß das, was folge, ein „Programm“ sei, gleich in den ersten Sätzen der „Ankündigung“ die Notwendigkeit des Vorläufigen an: „… eine Zeitschrift, welche als Lebensäußerung einer bestimmten Geistesart immer sehr viel unberechenbarer und unbewußter, aber auch sehr viel zu-

127 In dieser Hinsicht explizit im Essay über Karl Kraus, den Benjamin zehn Jahre nach der „Ankündigung“ verfaßte (und in dem er ganze Passagen aus ihr zitiert): „Die Entlarvung des Unechten ist es, aus der dieser Kampf gegen die Presse entstand“. Vgl. GS II.1, 334-367, hier 336. 128 Während der Jahre bis 1918 ist Benjamins intensive Beschäftigung mit den Kritiken Kants unübersehbar. Um so überraschender erscheint zunächst, daß es keine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der „Reinheit“ bei Kant gibt, selbst im Zusammenhang der Entwicklung des Kritikgedankens bei Benjamin. Es wird zu zeigen sein, daß in dieser Hinsicht sein Denken den Weg über Hölderlin genommen hat. 129 Von neuem ist ein Verweis auf den Aufsatz „Karl Kraus“ angebracht. Während das Werk des Dilettanten dort als „harmlos und rein“ bezeichnet wird, ist „das Meisterliche verzehrend und reinigend“. GS II.1, 366. Es sei hinzugefügt, daß dem Begriff des „Meisters“ insofern eine Kritik zukommt, als der gesamte Essay die „Meisterschaft“ von Kraus, ja das Wirken, das unter diesem Namen firmiert, in seine Elemente auseinanderlegt.

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DER BERGWALD kunftsvoller und entfaltungsreicher ist als jede Willensäußerung, verstünde, in welchen Sätzen immer sich erkennend, schlecht sich selbst“.130

Dieses Offene, Unbeabsichtigte, vielleicht sogar im spezifisch analytischen Sinne Unbewußte der Zeitschrift manifestiert sich mitnichten in Bestimmungslosigkeit. Die Bestimmung der Zeitschrift ergibt sich allerdings nicht aus der Vorgegebenheit eines Zieles, sondern aus dem Rückgang auf ihre „Grundlagen und Gesetze“.131 Und diese benennt Benjamin als „Aktualität“: nichts unterstreicht er im Plan zum Angelus Novus öfter als ihre Notwendigkeit für die Daseinsberechtigung einer Zeitschrift.132 „Den Geist ihrer Epoche zu bekunden“ – wie er es ebenfalls formuliert –, diese Aktualität steht dabei stets deutlich in Verbindung mit dem Adjektiv „wahr“. Der Grund dafür ist zu suchen in der – falschen – Aktualität des „Neuen oder Neuesten“, von der sich der Plan distanziert.133 Angesichts dieser Abgrenzung sei jedoch daran erinnert, daß der Zeitschrift die Erneuerung aufgetragen ist: „Diktum und Verdikt sind zu erneuern“. Was auf den ersten Blick wie ein restaurativer, ja autoritärer Zug aussieht, nur um das eigene Projekt vom Allerneusten und Allerletzten der Zeitungen abzuheben,134 stellt sich jedoch anders dar, wenn bedacht wird, in welchem Zusammenhang Benjamin die Forderung nach der Erneuerung der Kritik formuliert: es geht ihm schließlich um Reinigung und Vernichtung. Sowenig das Zurückgewandte, Wiederholende und Restaurative bei einer Erneuerung geleugnet werden kann, hat doch auch das Annihilierende darin seinen Ort, und zwar keinen geringen. Die besondere Auffassung der Vernichtung ist es, die Benjamins Plan der Reinigung abhebt von den Absichten der Gruppierungen, die sich in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts „Reinigung und Erneuerung“ auf die Fahnen geschrieben hatten.135 Benjamins speziellerer Vernichtungsbegriff deutet sich im Schlußsatz der „Ankündigung“ an: „Daß der Zeitschrift solche Aktualität zufalle, die allein wahr ist, möge

130 GS II.1, 241. 131 Ebd. 132 Vgl. vor allem GS II.1, 241 und 246. Insgesamt kommt Benjamin auf den wenigen Seiten der „Ankündigung“ neunmal auf „Aktualität“ oder „Aktuelles“ zu sprechen. 133 GS II.1, 242. 134 Vgl. GS II.1, 243. Benjamin spricht dort von der „offenkundige[n] Mechanik allerneuester Produktion“. 135 Vgl. Adorno, Theodor W. „George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891-1906“. In: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, 264 (Fußnote 22). Benjamin, der Adorno einen ausführlichen Kommentar zu dessen Aufsatz sandte, muß von der Bemerkung Kenntnis genommen haben, wenn auch fraglich ist, ob sie ihn 1940 an seine eigene kritische Politik gemahnte. Vgl. GB VI, 444-455.

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ihr Name bedeuten“.136 So schließt Benjamin, und das nicht ohne Ironie. Zum einen greift er auf sie als Stilmittel zurück, kraft dessen die unauffällige Auffälligkeit der Definition hervorgehoben wird: „… solche Aktualität“ ist das In-Nichts-Vergehen der Engel. Es sind dies die Engel des am Ende gezeichneten Bildes von den vor Gott singenden Scharen, die an den Namen der geplanten Zeitschrift erinnern – die Erklärung, daß er dem Titel eines Bildes von Paul Klee entlehnt war, wollte Benjamin fürs erste zurückhalten.137 Wie es denn genauer um eine „solche“, „wahre“ Aktualität stünde, bleibt ebenfalls unerläutert. Die Formulierung Benjamins läßt allerdings keinen Zweifel daran, daß die Engel sind und singen um des Nichts willen, das sie aufnimmt: „Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel – neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen – geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen“.138 Der Satz, der mit dem Wort „werden“ beginnt und auf „vergehen“ endet, führt auf radikale Weise vor, was Benjamin das „Ephemere“ der Zeitschrift nennt. Zum anderen ist das Ende der „Ankündigung“ von anderer Ironie gezeichnet, in dem Sinne, wie Benjamin es für die Zeitschrift fordert: „unberechenbarer und unbewußter“. Es steht damit in engem Zusammenhang, wenn Benjamin auf das Athenäum der Romantiker als Vorbild verweist, begründet aus dem „historischen Anspruch“ seiner Aktualität.139 Dieser Anspruch, den der Angelus mit dem Athenäum teilen soll, besteht nicht zuletzt im Vertrauen darauf, daß die Wirkungen der Schrift ungeahnte sein werden. Nicht der Erinnerung eines Publikums, sondern einem objektiveren Medium wird die Zukunft und Wirkung der Zeitschrift anheimgegeben. Was aber sollte der historische Anspruch derjenigen Aktualität sein, die in einem Verschwinden besteht? Die „talmudische Legende“ von den Engeln, die immer neu geschaffen werden und vergehen – es handelt sich dabei um „Dienstengel“ –140 ist ein Kommentar zu einem Vers aus den Klageliedern, und dieser Vers wird in der Talmudstelle zitiert „Neu an jedem Morgen, groß ist deine Treue“.141 Die göttliche Treue, im Bilde der Engelscharen, geht in jedem 136 GS II.1, 246. 137 Vgl. GS II.3, 983, sowie GB II, 183 (Brief an Scholem vom 8. August 1921). 138 GS II.1, 246. 139 Vgl. GS II.1, 242. 140 Vgl. Talmud Chagiga, 14a. 141 Klagelieder 3, 23, in der Übersetzung von Gershom Scholem. Tagebücher: nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband 1917-1923. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 2000, 120. Für das erste Heft des Angelus Novus war ein Beitrag von Scholem über die Klagelieder vorgesehen. Scholem berichtet, er habe Benjamin nach der Anschaffung des KleeAquarells ausführlich von seinen Forschungen über Engel in Talmud und Kabbala erzählt. Vgl. Scholem, Walter Benjamin, 129.

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Augenblick zunichte: dies ist es, was ihre Erneuerung bedeutet. „Wahre“ Aktualität, die wie die des Athenäums die Öffentlichkeit souverän übergeht, „unerbittlich […], unbeirrbar“,142 erhebt Anspruch auf diese Erneuerung. Benjamins Zeitschrift wurde sie ungleich deutlicher zuteil als dem Organ der Romantiker. Was er nicht wissen, allenfalls ahnen hätte können, war das gänzliche Scheitern des Plans, mittelbar bedingt durch die deutsche Inflation. Im Oktober 1922 teilte Benjamin seinem Freund Florens Christian Rang mit: „Ich jedenfalls werde es so halten: diese nicht geschriebne Zeitschrift könnte mir nicht wirklicher und nicht lieber sein, wenn sie vorläge“.143 Im besten Sinne ironisch ist daran, daß im Namen der Zeitschrift das abgründige Programm beschlossen ist, das Benjamin sich in der „Ankündigung“ weigerte aufzustellen. Der Angelus Novus als der neue Künder der Kritik, der vernichtenden wie der positiven, würde seinen Spruch sagend und singend ins Nichts vergehen, um seine Wirkung weniger anderen als anderem zu überlassen – so ließe sich die „historische“ Aktualität umreißen, wie sie laut Benjamin das Athenäum auszeichnete und wie sie dem Angelus vorgegeben ist. Nicht anders zu formulieren wäre diese Hypothese und doch wirft sie in der Beleuchtung des Scheiterns einen tieferen Schatten. Der Angelus Novus verabschiedet die Vorstellung einer Wesenheit, welche die Aufeinanderfolge von Stadien einer Entwicklung kennt: Erschaffung, Dasein, Vergehen. So, wie der neue Engel sich immer gerade anschickt, geschaffen zu werden und zu singen, bleibt die Zeitschrift auf einer Schwelle stehen – es wird sich zeigen müssen, ob es diejenige ist, von der Benjamin schreibt, ihr „Hüter“ sei die Kritik.144 Es ist jedenfalls eine Schwelle von und zum Nichts, an der das Noch-nicht und das Nichtmehr aneinander angrenzen: die „nicht geschriebne“ Zeitschrift,145 die, ohne aus dem Nichts hervorgegangen zu sein, doch in ihm verschwunden ist. Was von ihr bleibt, ist ihr Name, ihre Ankündigung. Der Zeitschriftenengel erfüllt also seine Aufgabe, erfüllt sie noch und wieder, als der immer neu bleibende Engel, der alle Dienstengel der himmlischen Heerscharen auf einmal und zugleich nicht ist: nicht ein, sondern der Angelus Novus. Und es ist in diesem Sinne, daß das Scheitern des Projekts nachdrücklich auf die Bedeutung der „wahren“ Aktualität hinweist, die nicht weiter von einer landläufigen Zeitungs-Aktualität entfernt sein könnte. Veröffentlicht, unveröffentlicht, von einem Publikum gelesen 142 GS II.1, 242. 143 Benjamin, GB II, 279-280. 144 GS II.1, 243. 145 So jedenfalls Benjamin (im a.a.O. zitierten Brief an Rang), was als präzis zu bezeichnen ist, sofern es sich auf die Zeitschrift bezieht, die nie gedruckt und wohl auch nie gesetzt wurde; die Manuskripte der Beiträge lagen allerdings vor.

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oder in Vergessenheit gefallen – sub specie aeternitatis ist der Angelus Novus in höchstem Maße verwirklicht. Im gleichen Zuge erhält auch der Text, von Benjamin benannt „Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus“ seine Bestimmung und erfüllt sie: als Angelus der Zeitschrift Angelus Novus. Die „Ankündigung“ kündigt eine Ankündigung an, und genau an dem Punkt, an dem die Ankündigung gesprochen ist, „… möge ihr Name bedeuten“, endet sie. Wenn also die „Ankündigung“ in ihrer wesentlichen Beziehung auf den Engel und seine Kunde betrachtet wird, läßt sich die Frage nach der Versachlichung der Kritik unter einem verschobenen Gesichtspunkt wieder aufgreifen. Zunächst durch einen Hinweis auf eine spätere autobiographische Notiz, „Agesilaus Santander“, in dem das Bild von Klee wie auch die Talmud-Stelle abermals eine zentrale Rolle spielen, und in der Benjamin ausdrücklich auf den Engel als den nicht-menschlichen Aspekt des Namens zu sprechen kommt.146 Im Zeitschriftenplan selbst wiederum ist für das Verhältnis des Kritikers zur Kritik aufschlußreich, daß vom Angelus Novus – dem Zeitschriftenplan wie dem Engel – nicht zu entscheiden wäre, ob er etwas anderes sei als seine eigene Ankündigung. Er geht in der Verkündung seines Namens auf, in dem Sinne, daß er mit der Verkündung verschwindet, sein Verschwinden seine Verkündung freisetzt, die in diesem Verschwinden besteht. Indem der Gesang an die Stelle des Engels tritt, sind Kunde und Künder dennoch nicht eins: ihre Teilung ist es, die sich mitteilt. Auf den wenigen Seiten des Zeitschriftenplans finden Benjamins sprachtheoretische Überlegungen zur Mitteilung nicht nur einen entfernten Widerhall,147 sie stellen sich dar. Sinnfälliger jedenfalls als im Bilde des Engels, des Boten und Künders schlechthin, könnten sie kaum auftreten. Jedoch dieses der Theologie und Mystik entlehnte Bild bietet einer zu einfachen Anschaulichkeit keinen Halt; ein mit einem Gesangstext beauftragter Bote ist in ihm genausowenig zu finden wie ein mit Information beschickbares Medium. Vielmehr ist die äußerste Konzentration des Engelsbildes, das zeitlich und funktional in einzelne Vorgänge – in eine Geschichte, in Geschichte – auseinanderzulegen ist, auch für das Verhältnis von Kritiker und Kritik zutref146 Vgl. GS VI, 522: „Doch keineswegs ist dieser Name eine Bereicherung dessen, den er nennt. Im Gegenteil, von dessen Bild fällt vieles ab wenn er laut wird. Es verliert vor allem, die Gabe, menschenähnlich zu erscheinen. Im Zimmer, das ich in Berlin bewohnte, hat jener, ehe er aus meinem Namen gerüstet und geschient ans Licht trat, sein Bild an der Wand befestigt: Neuer Engel“ (Die Zeichensetzung ist aus der Vorlage übernommen). 147 Vgl. die ersten Seiten von „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. GS II.1, 140-157, hier vor allem 142: „Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt“.

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fend. Auch hier schlagen Tat und Täter, Tragendes und Getragenes ineinander um, insofern Kritik keine nach Ermessen des Kritikers auszufüllende Variable ist, sondern das, was des Rückzugs und des Verschwindens des Kritikers bedarf, und was nur an die Stelle des Kritikers treten kann, wenn dieser gleich dem Angelus verschwindet, vergeht, beiseitetritt. Überhaupt spielen in der Bildlichkeit der „Ankündigung“ Gang und Tritt eine große Rolle. Mag auch kein Kritiker auf ihren Seiten erwähnt sein, so fallen doch einige Zeilen ab für das Gleichnis vom Manne, „der des Abends nach getaner Arbeit und ehe er an sein Werk geht des Morgens, vor die Schwelle tretend […]“ sich als Herausgeber vorstellt.148 Dies ist das zweite Mal, daß der Text eine Schwelle nennt, aber diese zweite Erwähnung bezieht sich eher unauffällig auf die ihr vorangehende. Dort ist die „Kritik der Hüter der Schwelle“ für die Zeitschrift.149 Zu fragen, ob es dieselbe, ob es eine andere Schwelle ist als die, vor die der Herausgeber tritt, ist angebracht angesichts eines Textes, der sich in vielfacher Form auf sich – wenn auch nicht auf sich als sich selbst – zurückwendet. Um so mehr, da die Kritik hier der Hüter der Schwelle wird: nicht die Hüterin, obschon Benjamin der Kritik in dem Darauffolgenden wieder feminine Pronomen zugesteht. Wozu diese Auffälligkeit, warum ist hier, in der Camouflage einer Redensart, die Kritik gleichermaßen personifiziert wie der Hüter versachlicht? Der Wechsel des grammatischen Geschlechts wie auch die Spannung zwischen Personifizierung und Versachlichung sind Anhaltspunkte für das Verhältnis von Kritik und Herausgeber. Im zweiten Bild, das um die „Schwelle“ herum konstruiert ist, bezeichnet Benjamin den Herausgeber der Zeitschrift ausdrücklich als „Mann“. Die Landschaft, die ihn beherbergt, ist in wenigen Strichen ausgeführt: es gibt die „Schranken seines Blickfelds“, die Schwelle, vor die er tritt und den geistigen Horizont, den er „mit den Augen eher umfaßt als absucht“.150 Für dieses Umfassende der Herausgebertätigkeit ist beachtenswert unter anderem, daß die Leser der „Ankündigung“ den Herausgeber des Angelus nicht bei der Arbeit kennenlernen – präzise benannt als „philosophische“ –, sondern nur davor und danach, „vor die Schwelle tretend“. Auf dieser Schwelle hält die Bewegung inne, wird zum Bild. Indem er stets im Begriff ist, vor die Schwelle zu kommen – in welcher Richtung auch immer – wird die Schwelle zu der Stelle, auf der der Herausgeber tritt. Er wird somit ihr Bewohner, um so mehr, da von einer Wohnung vor oder hinter der Schwelle nicht die Rede ist, allenfalls vom „gewohnten“ Horizont. Damit ist die Mehrdeutigkeit des Bildes, das Benjamin auch 148 GS II.1, 245. 149 GS II.1, 242. 150 GS II.1, 245.

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„Gleichnis“ nennt, schon angedeutet, zumindest in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. In der aus Schwellen und Schranken bestehenden Landschaft ist schwer zu sagen, wo der Herausgeber des Angelus Novus sich in Bezug auf seine philosophische Tätigkeit befindet, ob er manchmal, immer, oder aber nie arbeitet. Es ist auch fraglich, ob der Mann im Bilde, der den Horizont umfaßt, überhaupt als Herausgeber handelt – ja ob er überhaupt handelt, zumal es schon mit dem Arbeiten bei ihm nicht zum besten steht. Er gibt nichts heraus, sondern er nimmt und behält: „um, was in dieser Landschaft Neues ihn begrüßte, festzuhalten“.151 Immer vor seinem Werk und nach seiner Arbeit, vor die Schwelle tretend selber festgehalten, stellt sich der Herausgeber wenn nicht passiv, dann wahrnehmend und bewahrend dar.152 Das von ihm entworfene Bild widerspricht, anders als an dieser Stelle zunächst behauptet werden könnte, keinesfalls der Vernichtung, die von der Kritik ausgeht. Denn was ist es, um Benjamins Bild weiter nachzugehen, das der Mann vor der Schwelle bewahren soll? Er behält das, was sich schon als „Neues“ am Horizont von allem anderen gesondert hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Formulierung „vor die Schwelle tretend“ eine weitere Möglichkeit in sich trägt. Der vor die Schwelle Tretende tritt ebenso vor den Horizont – ob nun vor den Horizont als Schwelle oder vor den Horizont wie auch vor die Schwelle. Dieses „Gleichnis“, wie Benjamin es nennt, vom philosophisch arbeitenden Herausgeber als Mann vor und auf der Schwelle sagt ebensoviel über die Funktion des Gleichnisses und der Kritik wie über die Funktion des Herausgebers. Nichts an diesem Gleichnis ist sich gleich, wenn man darunter „identisch“ verstehen will, aber alles kann in eine Gleichheit zueinander treten. Das Gleichnis erweist sich hier buchstäblich als Allegorie, als das, was anders zu lesen ist. Nur vollzieht Benjamins Gleichnis sich kaum als umgrenzte Einheit auf verschiedenen Stufen eines Auslegungsprozesses als vielmehr in jenem Moment, in dem jedes Bildelement sich in ein Gleichheitsgefüge löst, soweit, daß schwerlich bestimmt werden kann, was dieses Gleichnis selbst sei, wo es seine Grenzen findet. Somit bleibt die Frage, ob sich die Schwelle, deren „Hüter“ die Kritik ist, und die Schwelle, vor die der Herausgeber tritt, im gleichen Bilde befinden. Sind sie gleich, sind sie gar eine und dieselbe Schwelle? Die Antwort wird nicht einfacher dadurch, daß Benjamin eine Anweisung zum besseren Verständnis anschließt:

151 Ebd. 152 Im Englischen hat sich der haltende und bewahrende Aspekt der Wahrnehmung im Verb „behold“ erhalten.

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DER BERGWALD „jenes Gleichnis sucht es auszusprechen, daß nichts schlechthin Fremdes in den folgenden Blättern als unmaßgebliche Anregung dem Leser begegnen soll, daß dem, was in ihnen sich findet, in irgendeinem Sinne der Herausgeber sich verwandt fühlen wird“.153

Die Auslegung des Gleichnisses, in den Bereich des Verhältnisses von Herausgeber und Leser und unter dem Vorzeichen von Fremdheit und Verwandtschaft, mutet selber in gewissem Maße fremdartig an. Auch die Auslegung verweist zurück auf eine Schwelle oder Schranke: einmal die des Bildes, und weiterhin diejenige, vor und auf der sich Leserschaft findet. Wird der Herausgeber auf der Schwelle vom Neuen am Horizont begrüßt – von dem Neuen, das er festhält –, so sollen die Leser versichert sein, daß er sich diesem festgehaltenen Neuen verwandt fühlt, aber auch, daß „Art und Grad dieser Verwandtschaft zu ermessen nicht beim Publikum liegt“.154 Der Leser weiß also, daß er über diese Verwandtschaft nichts weiter weiß. Auch seinem lesenden Blick sind Schranken auferlegt, aber sein Blick, wie der des Herausgebers, umfaßt das Beschränkende. In diesem Sinne gleicht der Leser dem Herausgeber, wie dieser dem Kritiker gleicht – und dem philosophisch Arbeitenden. Dieser erfährt ebenfalls im Hinblick auf ein Umfassendes eine Einschränkung. Über die philosophische Perspektive des geplanten Angelus Novus ist gesagt, daß sie dem Sachlichen und Universalen verpflichtet ist. Die Art, wie Benjamin dieses Universale vorstellt, verrät deutlich den Scheitelpunkt des Gleichnisses, die Schwelle: „Diese philosophische Universalität ist die Form, in deren Auslegung am genauesten die Zeitschrift Sinn für wahre Aktualität wird erweisen können“.155 So wie der Engel des Aktuellen sich selbst und gleichnishaft die Zeitschrift auf der Schwelle der Zeit hält, hat sich der Herausgeber, der Kritiker auf und vor der Schwelle vom Nichts zu halten. Das trifft ihn nicht nur in dem Sinne, daß er das Scheidende und Entscheidende des Zeitschriften-Horizonts im Auge behält, sondern auch, insofern er „selber“ fast nichts ist: der vor die Schwelle tretende Mann steht damit vor wie auch unter dem Gesetz der Versachlichung. Als Kritiker ist er Kritik, hat Kritik zu sein. Er hütet die Schwelle und auf solche Weise entscheiden sich Dichtung, Philosophie und Übersetzung – kurz, alle sachlichen, und damit auch personalen Funktionen der Zeitschrift: Herausgeber, Kritiker, Dichter, Philosoph und Übersetzer, Bewahrer und Vernichter. Der wahrnehmende Herausgeber, als Angelus Novus, bringt eine neue Kritik. Neu ist diese Kritik, da sie immer neu bleibt. Dies ist nicht 153 GS II.1, 245. 154 Ebd. 155 GS II.1, 244.

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schlichtweg damit zu begründen, daß Benjamins Zeitschrift nicht gedruckt wurde. Wie immer es um den Zufall in dieser Sache bestellt sein mag: das Scheitern des Projekts war das einzige, was der „Ankündigung“ hätte angemessen sein können. Zum einen trägt der Plan die deutlichen Züge eines Rückzugs von jedweder Öffentlichkeit, und dies wäre schwerlich mit einer Publikation zu vereinbaren gewesen. Zum anderen verweist die „Ankündigung“ nicht auf ein Zukünftiges, in dem Sinne, daß dem Schema die Erfüllung auf den Fuß zu folgen habe: nicht umsonst streitet Benjamin ab, daß es sich bei der „Ankündigung“ um ein so verstandenes Programm handele. Es geht um „wahre Aktualität“, und darin ist der feine Unterschied zwischen Zukünftigem und Zukünftigem – als dem, was nicht gewesenen ist – zu vernehmen. Treu der Aktualität, ist die Kritik eine kommende, und darin gleich dem immer neuen Engel. Sie bleibt Aufgabe, sie bleibt zu tun, denn sie ist weniger auszuüben als vielmehr wahrzunehmen: „Eben darum aber scheint es an der Zeit, weniger denen ein Ohr zu leihen, die das arcanum selbst gefunden zu haben meinen, als denen, welche am sachlichsten, am ungerührtesten und unaufdringlichsten Drangsal und Not aussprechen und sei’s auch nur, weil eine Zeitschrift nicht für die Größten der Ort ist. Weniger noch darf sie für die Kleinsten es sein, vorbehalten also denjenigen, die nicht allein in ihrem Suchen der Seele, sondern zugleich in ihrem Denken den Dingen es abmerken, daß sie nur im Bekenntnis sich erneuern werden“.156

Die Rede ist in diesen Zeilen von der philosophischen Wachsamkeit über die „werdenden religiösen Ordnungen“. Während Benjamins Wiedergabe der Talmud-Stelle von den neuen Engeln als Gleichnis noch auf die „übertragene“ Bedeutung – und damit um die theologische Dimension – reduziert werden könnte, spricht er die religiöse Orientierung der kritischen Aufmerksamkeit hier unumwunden aus. Allerdings fügt er dem „Werdenden“ des Religiösen noch hinzu: „Nicht als ob solche Ordnungen absehbar wären“.157 Für die religiösen Ordnungen ist ein Ort leergehalten und bestimmt, ohne daß dieser vorbestimmt wäre. Es gibt also auch in diesen Worten ein Vorläufiges, eine Schwelle, auf der es sich zu halten gilt. Deutlich wird in Benjamins Ausführung über die angemessene Wahrnehmung nicht nur, daß die philosophische und damit religiöse Dimension der Zeitschrift von einer Kritik geprägt ist, die sich nicht als gesonderte Disziplin neben anderen versteht, sondern auch, daß diese Kritik an den Dingen geschieht. Das Philosophische verbindet sich mit 156 Ebd. 157 Ebd.

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dem Religiösen in der denkenden, sachlichen Aufmerksamkeit gegenüber der Erneuerung dieser Dinge, die „nur im Bekenntnis“ statthaben wird. Entsprechend dem Begriff von Kritik, die nicht eine Sparte unter anderen darstellt, ist auch das Bekenntnis nicht als Mitgliedschaftsausweis in einer der institutionalisierten Konfessionen zu verstehen.158 „Bekenntnis“, wie Benjamin das Wort verwendet, bedeutet die rückhalt- und vorbehaltlose Bejahung eines Sachverhalts; in den Religionen bezieht es seine Stellung unter anderem aus dem nachdrücklichen Bekunden der Annahme sämtlicher Lehren vom Göttlichen und damit der Unterstellung unter deren Gesetze. Freilich in diesem Fall nicht der institutionalisierten. Im Kontext der „Erneuerung“ ist das Bekenntnis als eines zur Hinfälligkeit und Nichtigkeit aufzufassen. Aus seiner Ambivalenz – sind es die Dinge oder die Denkenden, Aufmerksamen, die bekennen? – ergibt sich zudem die Verdinglichung des Bekennenden, auf dem Hintergrund der Neutralisierung aller „personalen“ Funktionen im Dienste des Neuen. Die Vernichtung erweist sich dabei auch als eine, die ihm den Kritiker als Herausgeber, als Philosoph, als Kritik, als Ding, zuträgt. In gewisser Hinsicht werden alle sie ins Mittel gehoben, das die Extreme verneint und ausgleicht: die Zeitschrift ist nicht „für die Größten der Ort“ und nicht „für die Kleinsten“. Daß Benjamin als Herausgeber sich dieser Erneuerung verwandt fühlt, die der Angelus sein und bringen soll, zeigen auch die Pseudonyme, mit denen er seine Beiträge zu zeichnen gedachte: „J.B. Niemann“, und „Jan Beim“.159 Es handelt sich um Anagramme seines Namens – abgesehen von einem wandernden Buchstaben, „n“. Benjamin bezeichnet sie als „Kryptogramme“.160 Was sich in ihnen verbirgt, geht in der Tat über eine Rekombination von Buchstaben hinaus, wenn auch das Verborgene gewisserweise offen zutage liegt. Das Element des Namen zeichnet sich in den Umstellungen von „Benjamin“ deutlich ab: als Namen, als Beinamen. In diesem Sinne heißt Benjamin nicht nur Benjamin, er ist der, der Benjamin heißt,161 und der Mann, der nie ist: beinah ein Niemand. Was die kritische Universalität der Zeitschrift gewährleistet, ist die Modalität, die „Behandlungsweise“, die alle ihre Gegenstände zur Schwelle, zum Bekenntnis zum Werdenden und damit Vergehenden

158 Vgl. GS II.1, 244-245 Benjamins Ausführungen über die Absage an die Gefälligkeit: „Statt dessen wird Rationalität bis ans Ende erstrebt werden und weil gerade von der Religion hier nur freie Geister handeln sollen, darf in diesem Sinne aus dem Umkreis ihrer Sprache, ja des Abendlandes hinaus die Zeitschrift auf die übrigen Religionen sich richten“. 159 So im Brief vom 21. Januar 1922 an den Verleger Weißbach. Vgl. GB II, 232. 160 Ebd. 161 Vgl. GS V.2, 1038.

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führt – oder ihnen vielmehr darin folgt.162 Beinahe nichts ist der Angelus Novus, nur eine Ankündigung des Kommenden und darin ein Schema der Kritik, welche die Zeitschrift durchwalten sollte. Sie hatte nicht Kritik als Entscheidung über die Dinge kundzutun, als vielmehr der Ort der Kritik zu sein, an dem die Dinge zur Entscheidung kommen. Benjamins Erarbeitung eines Kritikbegriffes trägt deutliche Spuren einer Schulung an der romantischen Idee einer Universalpoesie,163 das Universale der Kritik aber liegt für ihn in der Teilung der Dinge, nicht im Kontinuum ihrer Formen auf die höchste hin.164 Benjamins Dissertationsschrift „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, die mit dem Problem der Literatur und ihrer Kontinuität in die kritische Prosa hinein in engstem Zusammenhang steht, gibt auch Aufschluß über die noch bestehende Frage, warum „positive“ wie auch „annihilierende“ Kritik gleichermaßen von der Idee einer Kritik gefaßt werden können, die Scheidung und Reinigung mit Vernichtung zusammenbringt, so wie auch die Zeitschrift, die sie trägt, als eine Reinigung der publizistischen Situation hervortreten sollte: „Die theoretische Überzeugung von der höchsten Positivität aller Kritik hat die positiven Leistungen der romantischen Kritiker getragen. Sie haben nicht sowohl einen Kleinkrieg gegen das Schlechte, als die Vollendung des Guten und durch sie die Annihilierung des Nichtigen heraufführen wollen“.165 Das Erneuernde, Positive, ja 162 GB II.1, 244. 163 Sie ist auch nicht ohne Benjamins langjährige Auseinandersetzung mit Kant zu sehen, die allerdings nach der Entscheidung für die Romantik als Dissertationsthema hauptsächlich implizit weitergeführt wurde. Schon im November 1917 hatte Benjamin in „Über das Programm der kommenden Philosophie“ den Ausfall des Vergänglichen bei Kant bemerkt. Vgl. GS II.1, 157-170. Zum Kritikbegriff und Kant vgl. GS I.1, 13. Auch auf dieser Seite der Dissertation geht es um Einschränkungen. Benjamin weist darauf hin, daß die Einschränkung, welche die Verwendung der Romantiker dem Begriff der Kritik beifügte, hält man Kants philosophischen Kritizismus dagegen, in der Hinwendung zur Literaturkritik besteht. Ungeachtet der Resonanzen, die Benjamin in seiner Abhandlung am Kritikbegriff freisetzt, folgt er in seiner manifesten Wortverwendung den Romantikern – freilich nicht ohne Hölderlin am Ende an den Fluchtpunkt zu setzen. 164 Vgl. die „Erkenntniskritische Vorrede“, besonders den Passus über die Ideen als objektive Interpretation, nicht „Einverleibung“ der Phänomene. GS I.1, 214. Vgl. ebenfalls Gasché, Rodolphe. „The Sober Absolute: On Benjamin and the Early Romantics“. Studies in Romanticism 31 Nr. 4 (1992), 434-453. Es ist im übrigen kein Einwand gegen diese Bemerkung zur Diskontinuität auf das Absolute, daß Benjamin sich für die „typographische“ Kontinuität der Kritik in der geplanten Zeitschrift ausspricht (vgl. GS II.1, 242): die Unterbrechung hat ihren Ort in der Kritik und durch sie. 165 GS I.1, 109. Vgl. auch die folgende Äußerung Benjamins über die Zeitschrift in einem Brief an Fritz von Herzmanovsky-Orlando: „So positiv ihr Programm ist, so ist es nicht positiv formulierbar“. GB II, 221.

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Schöpferische einer solchen Kritik, deren Auffassung Benjamin ungeschmälert mit den Frühromantikern teilt, liegt in der Vernichtung der Institution des Kritikers wie auch all desjenigen, was als „trügerische[ ] Produktivität“ wuchert166 und damit unter das „Nichtige“ fällt – auf daß die Dinge sich entscheiden mögen. Mit den „Dingen“ sind zunächst literarische Dinge gemeint. Aber die Universalität, in der die Kritik derjenigen philosophischen Haltung sich fügt, die dem Vergängnis eingedenk bleibt, ruft die politische und geschichtliche Dimension des Unterfangens wieder auf den Plan. Wenn Benjamin schreibt: „Diktum und Verdikt sind zu erneuern“ und das Nichtige am literarischen Expressionismus einem kritischen Terror überantworten will, geschieht dies in der Zuversicht, Literatur und ihre Kritik mögen im gleichen Zug geläutert werden. Denn um nichts Geringeres als die Sprache selbst geht es: „restloser als seit Jahrhunderten fällt die Krisis der deutschen Dichtung zusammen mit der Entscheidung über die deutsche Sprache selbst“.167 Die Verwandtschaft von Krisis und Kritik erweist sich an Benjamins Einschätzung der literarischen Lage: „Täuscht nicht alles, so hat eine gefährliche, in jedem Sinne entscheidende Zeit für die deutsche Dichtung seit der Jahrhundertwende begonnen“.168 Es ist in dieser Hinsicht interessant, daß Benjamin acht Jahre nach dem Angelus Novus, also 1930, erneut ein Zeitschriftenprojekt sich vornehmen sollte, das dem alten frappant ähnelte, trotz seiner klassenkämpferischen Durchwirkung. Es trug den Titel Krisis und Kritik, der schon dem Angelus ein würdiger gewesen wäre, und kam ebenfalls nicht zustande.169 – Die explizit genannte und im Begriff der Krise angesprochene Gefahr bleibt und wächst. Es ist eine Gefahr der Dichtung und für die Dichtung gleichermaßen.170 Ihre Nennung ist in der „Ankündigung“ von einer Rhetorik des Wagnisses begleitet: erst „nach gewagtem Spruch“ sei die „Erwägung“ der Entscheidung möglich.171 Die Äußerung ist als weiterer 166 GS II.1, 241. 167 GS II.1, 243. 168 GS II.1, 242. 169 Vgl. auch das Memorandum der Zeitschrift in GS VI, 619-621. Hervorzuheben ist daran einmal, daß das Vorläufige auch bei diesem Projekt betont wird: die „Grundlagen“ der Zeitschrift seien erst zu erarbeiten; sie habe in ihrer politischen und gesellschaftlichen Aufgabe eine „leere Stelle“ einzunehmen. Auch ein gewisser Anspruch auf Universalität findet sich wieder, wenn Benjamin der Zeitschrift dezidiert politischen Charakter zuschreibt, diesen aber sofort von jeder Parteipolitik löst. 170 Wie Aufzeichnungen zeigen, trat bald nach der „Ankündigung“ die „Neue Sachlichkeit“ die Nachfolge des Expressionismus an, auch was Benjamins Aversion betraf. Vgl. GS VI, 179-180. Die Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ kann als Beispiel für die vanitas aller terminologischen Kleinkriege dienen. Sie hätte auch mit gutem Recht aber zu schlechtem Ende Benjamins Zeitschriftenplan etikettieren können. 171 GS II.1, 243.

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Hinweis auf die in Benjamins Text umrissene kritische Haltung zu sehen. Die Kritik bleibt vor der Entscheidung; diese wird erst nachträglich, sachlich, an „den Dingen“ erkennbar. Anders könnte die dargestellte Haltung auch als die des „Vertrauens“ bezeichnet werden, das zum Inhalt der Zeitschrift mitgeteilt werden soll – diesseits und jenseits aller Ironie.172 Etwas Ähnliches vertritt Benjamin für die Literatur. Dies läßt sich allerdings nur ex negativo nachvollziehen, denn der zeitgenössischen Dichtung spricht Benjamin sowohl sein Vertrauen ab, als er auch implizit ihr mangelndes Vertrauen gegenüber der Sprache feststellt: „Seitdem Georges Wirken in seiner letzten Bereicherung deutschen Sprachgutes historisch zu werden beginnt, scheint ein neuer Thesaurus deutscher Dichtersprache das Erstlingswerk jedes jüngern Autors zu bilden. Und so wenig von einer Schule erwartet werden darf, deren nachhaltigste Wirkung bald darin gesehen werden wird, aufdringlich eines großen Meisters Grenzen dargetan zu haben, so wenig läßt die offenkundige Mechanik allerneuester Produktion Zutrauen zu der Sprache ihrer Dichter fassen“.173

Es ließe sich fortfahren: so wenig diese Dichter – in denen, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, die Expressionisten zu erblicken sind – Vertrauen in die Sprache haben. Was in der „letzten Bereicherung“ der deutschen Sprache durch Georges Dichtung den Unterschied zur gewaltsamen Schöpfergebärde der „allerneueste[n] Produktion“ ausmachte, war in der Wirkung auf das deutsche Schrifttum vor allem ihr Hervorgehen aus der Übersetzung, „welche seit jeher heilsam seine großen Krisen begleitete“.174 Im Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“, den Benjamin zeitweilig für eine Veröffentlichung in der Zeitschrift vorgesehen hatte (und auf den er sich im Ankündigungstext beziehen dürfte, wenn er in Übersetzungsfragen auf das kommende erste Heft des Angelus verweist), wird George unter den Spracherneuerern in einem Zuge mit Luther, Voß und Hölderlin genannt.175 Letzterer ist es auch, der mit dem Begriff der „Cäsur“ und dem „Nüchternen“ Pate stand für das „Ausdruckslose“, wie Benjamin es im Essay über Goethes Wahlverwandtschaften definiert.176 Dort tut er es in ebendenselben Worten, mit denen er zur gleichen Zeit 172 GS II.1, 241. 173 GS II.1, 243. Vgl. auch folgende Passage aus der „Erkenntniskritischen Vorrede“, die den expressionistischen Sprachgestus mit dem barocken vergleicht: „Neologismen finden sich überall. Heute wie damals spricht aus vielen darunter das Werben um neues Pathos. Die Dichter suchten der innersten Bildkraft, aus welcher die bestimmte und doch sanfte Metaphorik der Sprache hervorgeht, sich persönlich zu bemächtigen“. GS I.1, 236. 174 Ebd. 175 Vgl. GS IV.1, 19; sowie GS IV.2, 891. 176 Vgl. GS I.1, 181-182.

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im Plan zum Angelus Novus auf das Desiderium für die Kritik zeigt, die ihre „Gewalt“ zurückzugewinnen hat – und zwar gerade nicht, indem sie über die Werke gesprochen wird, als Hinzufügung und so die Meinungen vermehrend. In dem, was Kritik und Werke teilen und was sie teilt, ist die Kritik das den Werken Abgelauschte. Sie ist gleichermaßen das, was den Werken als Kritik sich „selbst“ ablauscht, indem die Kritik sowohl „stillstellt“ als auch sich selbst anhält, still verhält: „Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt“.177 Es heißt nicht Benjamins Polemik gegen den literarischen Expressionismus uneingeschränkt übernehmen, wenn darauf verwiesen wird, daß schon der Terminus „Expressionismus“ das zum Prinzip erhebt, was in der Benjaminschen Argumentation in der „Ankündigung“ sich als expansive Tendenz abzeichnet – der unbedingte Wille zum gesteigerten Ausdruck. Schon die „Gewaltsamkeit“, die Benjamin den Expressionisten attestiert,178 erscheint als redundante, im engsten Sinne forcierte Nachahmung und Aneignung der Gewalt. Und Heinle in alledem? Er blieb dem Kommenden treu. Benjamins Einleitung zu seinen Gedichten blieb ungeschrieben oder ging verloren; der darauf gestellte Lyrikvortrag im Salon von Marianne Weber war ein Mißerfolg; und Heinles Gedichtabschriften verschwanden mit den anderen Papieren, die Benjamin 1933 bei seiner Flucht aus Deutschland zurückgelassen hatte.179

177 GS I.1, 181. 178 GS I.1, 236 (Hervorhebung hinzugefügt). 179 Vgl. GB II, 299; GB IV, 295-299.

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B e r g w e r k . D i e E l i m i n a t i o n d e s U n s ag b a r e n „UNLESBARKEIT dieser Welt. Alles doppelt“.180

In mancher Hinsicht finden sich in einer nicht für die Veröffentlichung bestimmten Schrift Benjamins, einem frühen Brief an Martin Buber, gedankliche Motive aus der „Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus“ wieder.181 Dazu ist gleich zweierlei zu präzisieren: einmal, inwiefern sie sich dort wiederfinden – auch wenn der besagte Brief 1916, also ein halbes Jahrzehnt vor der „Ankündigung“ verfaßt wurde. Einiges, was sich dort nur unter der Hand andeutet, steht ausgebreitet auf dem Plan des Briefes. Aber weder die – angesichts ihrer paradoxen Aufgabe gegenüber dem Publikum – exoterische Zurückhaltung der Zeitschriftenankündigung, noch die weitergehende Entfaltung der sprachphilosophischen Problematik im Brief sollen den Umstand verschleiern, daß sich die Zonen größter Dichte, und mit ihnen der ihnen gemäße Zugang, allenfalls verlagern. Hier ist die zweite Präzisierung anzufügen, nämlich, daß der Brief die Frage der Bewegung stellt und damit verschoben und verdichtet die politische Problematik des Zeitschriftenprojekts aufgreift, die nicht zuletzt eine von „Einsamkeit“ statt Öffentlichkeit ist. Auch im Brief stand die Frage einer Zeitschrift im Hintergrund, Bubers Der Jude.182 Von der aus Benjamins Brief sprechenden Skepsis, was Bewegung angeht, sind sowohl „Bewegung“ als Massenerscheinung als auch „Bewegung“ als Träger von Intention betroffen, anders gesagt: die gesellschaftliche und pragmatische Dimension. Die Gedanken zu Bewegung, Handlungsmotiven, Verhalten und Richtung weisen den Brief nicht nur als sprachtheoretisch und politisch, sondern auch ethisch als wichtigen Text Benjamins aus und verdichten sich so um die Frage der Orientierung – in mehr als einer Hinsicht. „Als ich ihn kennenlernte, hatte er, der bei aller metaphysischen Aufgeschlossenheit fast richtungslos lebte, nur einen Stern, auf den sein Kompaß zeigte und den ich bald erkennen konnte. Das war der späte Hölderlin“.183 Als Gershom Scholem, aus dessen Autobiographie der 180 Celan, Paul. Gesammelte Werke, Band II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 338. 181 Benjamin, GB I, 325-328. Kurze Zitate in diesem Kapitel, sofern nicht anders ausgewiesen, stammen ebenfalls aus dem Brief an Buber. 182 Genauer, das erste Heft dieser Zeitschrift: Der Jude 1 (1916-1917). 183 Scholem, Gershom. Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main: Suhrkamp/Jüdischer Verlag, 1994, 75.

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Satz stammt, 1915 Walter Benjamin kennenlernte, war der Krieg noch ein „europäischer“, drohte die Tauglichkeit, war der Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ geschrieben, und Benjamin hatte mit der Jugendbewegung in jeder ihrer Ausprägungen gebrochen.184 Er hatte dies jedoch nicht getan, ohne seinem Rückzug von allen öffentlichen und organisierten Erscheinungen des politischen Wirkens die Form einer prinzipiellen Entscheidung zu geben. In seinem Brief an Buber artikuliert Benjamin diese Entscheidung noch unter der Kautel des Unfertigen, aber dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie hier in den wesentlichen Zügen um vieles gefaßter ist als in der Absage an den Kriegsaufruf seines ehemaligen Lehrers Wyneken, die er diesem schon im März 1915 zukommen ließ.185 Auch Buber erhält von Benjamin eine Absage – und zwar bezüglich der Mitarbeit an der Zeitschrift. Eingeschränkt durch den Anlaß, gilt Benjamins Brief zum Teil für „Sprache“ und „Schrifttum“ generell – präziser jedoch für „eine Zeitschrift“, wobei Benjamin nicht nur Bubers Veröffentlichung im Auge hatte.186 Die Absage fällt zwischen zwei seiner eigenen, nicht zustande gekommenen Projekte, den Angelus Novus und einen im Juli 1914 gemeinsam mit Fritz Heinle gefaßten Plan zu einer Zeitschrift.187 Das Faktum der beiden Projekte und ihres Scheiterns setzt die Ablehnung der Zusammenarbeit mit Buber in eine besondere Perspektive, aber der zu diesem Behufe verfaßte Brief präsentiert seinerseits Benjamins Verhältnis zur Öffentlichkeit als handfestes Korrelat zu seinen Überlegungen zu Folge, Erfolg und Wirkung. Benjamins Kritik an der von Buber herausgegebenen Zeitschrift, gerichtet vor allem gegen die dort vertretene Kriegsaffirmation, ist auf zugespitzte Weise Begriffskritik. Das herausragende Beispiel dafür findet sich in Benjamins Ablehnung eines Begriffs von der Sprache als einem Mittel der Tat, genauer als einem Mittel, das zur „politischen“ Tat bewegen soll. Benjamin entfaltete das Problem der Medialität, oder vielmehr: Mittelbarkeit der Sprache wenige Monate später im Aufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, indem er Mitteilbarkeit gerade auf Unmittelbarkeit zurückführt, eine Unmittelbarkeit, die auf der Teilung oder, genauer, auf der Selbstteilung der Sprache beruht.188 Aber auch im Brief an Buber, in dem die Fragen des Wirkens 184 Vgl. auch Scholem, Walter Benjamin, 12. 185 Vgl. GB I, 263-265. 186 GB I, 327. Neben dem im weiteren Sinne kritischen Schrifttum der Zeitschriften kommt Benjamin auf Dichtung, Prophetie und Befehl als Wirkungen der Sprache zu sprechen. 187 Vgl. GB II, 178. 188 Vgl. GS II.1, 142. Der Brief an Buber ist auf den 17.7.1916 datiert; der Sprachaufsatz entstand innerhalb weniger Tage Anfang November 1916 (vgl. GS II.3, 931). In vieler Hinsicht stellt der Aufsatz eine Entfaltung des

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und der Wirksamkeit des Schrifttums im Vordergrund stehen, finden sich Aufschlüsse über die unmittelbare Selbstmitteilung der Sprache in der Sprache.189 So am sichtbarsten in der Charakteristik der Benjaminschen Unterstreichung, die qua kursivem Nachdruck auf Wortelementen – unmittel-bar – auf den Sprachaufsatz vorlaufend eben diese Teilung hervorhebt.190 Aber ebenso charakteristisch ist, daß auch die Benjaminschen Wortzusammensetzungen von Teilung zeugen. Während einerseits „politisch“ im Zusammenhang mit dem Wuchern der Worte erscheint, wie sie im gemeinen Schrifttum als Mittel verstanden werden, fällt andererseits das von Benjamin erläuterte „Hochpolitische“ mit dem „Sachlichen“ zusammen, das heißt, mit einer Bewegung auf eine Grenze der Sprache, in der Sprache hin.191 Dieser „sachliche“ und „hochpolitische“ Stil ist die einzige Weise zu schreiben, die Benjamin für eine Zeitschrift gelten läßt. Diese Form der Begriffskritik präzisiert weniger einen bestimmten Begriff auf den Gesichtspunkt seiner Verwendbarkeit hin, sondern zieht vielmehr seinen Status als Begriff in Frage, entwindet den Begriff dem Griff nach dem Werkzeug, mit gleichsam doppeldeutigem Erfolg. Die Kritik des Mittels,192 die Benjamin in seinem Brief entwirft wie auch vorführt, setzt sich fort in die Auseinandersetzung des Wirkens, des Wirklichen, des Werks – als Tat – sowie der Wirksamkeit, und ergibt eine veritable Fuge durch die verschiedenen Formen des „wirk“-Elements, die den gesamten Brief erfaßt. Auch dabei führt Benjamin auf eine Grenze der Worte, innerhalb der Worte. „So unmöglich es mir ist im Brief an Buber Dargestellten dar. Allerdings ist das Schreiben an Buber nicht gegen den Sprachaufsatz austauschbar. Zum einen wegen seiner Prägung durch die Zeitschriftenfrage, die hier bedeutend ist; zum anderen, da in ihm das ethische Problem nachdrücklich behandelt wird und als Verhalten in und durch die Sprache explizit in Beziehung zum Politischen gebracht wird. Anders als im Sprachaufsatz ist im Brief in der Hauptsache der profane Wirkungsbereich der Sprache angesprochen. Dafür bleibt die Selbstteilung der Sprache (wie sie der Titel des Aufsatzes ausspricht) im Brief unentwickelt. 189 Zur Unentscheidbarkeit des „wirk“-Elements, und zwar am Beispiel der „Wirklichkeit“, vgl. auch den letzten Absatz von Werner Hamachers „Afformativ, Streik“. In: Hart-Nibbrig, Christiaan (Hg.). Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, 358-359. 190 GB I, 326. 191 Ebd. 192 Benjamins Klage über eine „zum bloßen Mittel herabgewürdigte[n] Sprache und Schrift als eine ärmliche schwache Tat deren Quelle nicht in ihr selbst sondern irgend welchen sagbaren und aussprechbaren Motiven liegt“ findet eine Parallele in Hugo von Hofmannsthals Rede „Poesie und Leben“ (1896), in welcher er die Rückführung der Dichtung auf „Leben“ angreift und eine Theorie der Dichtung als reiner Wirkung andeutet. Vgl. von Hofmannsthal, Hugo. Gesammelte Werke: Reden und Aufsätze I, 1891-1913. Frankfurt am Main: Fischer, 1979, 13-19.

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wirkendes Schrifttum zu verstehen, so unfähig bin ich es zu verfassen“193 – dieser Satz mit seinen Verneinungen beschließt die sprachtheoretischen Ausführungen des Briefes in Zweideutigkeit, denn ihm geht schließlich nichts weniger als eine Darstellung der einzigen Wirkung des Schrifttums voraus – „magisch das heißt un-mittel-bar“ –, die Benjamin zulassen will, und die, wie er schreibt, die einzige ist, die er „verstehen“ kann. Es ist zweifelhaft, ob der Widerspruch zwischen einmal Verstehen-können und dann wieder Nicht-verstehen-können des wirkenden Schrifttums mit einem Verweis auf die Möglichkeit einer Ellipse restlos behoben werden könnte, eine Ellipse in dem Sinne, daß das unmöglich zu verstehende wirkende Schrifttum lediglich nicht weiter markiert wäre, aber mit jenem zur Tat motivierenden übereinstimmte, das Benjamin an Bubers Zeitschrift rügt. Diese Lösung ist nicht von der Hand zu weisen, fügte sich doch die Bekräftigung des abschlägigen Bescheids gut in den argumentativen Gang des Briefes ein. Jedoch würde dies die erkenntnistheoretische Dimension des „wirk“-Problems vernachlässigen, die vom zweimaligen „Verstehen“ angedeutet wird. Die Frage des „verstehenden“ Erkennens in ihrem Belang für Wirksamkeit und Wirklichkeit des Schreibens ist gemeinsam zu bedenken mit dem, was Benjamin über Haltung, „Verhältnis“ und „Stellung“ sagt. So sehr sich seine Besorgnis auf Sprachtheorie konzentriert, bleibt sein Schreiben an Buber dennoch am Gedanken seines „praktischen Verhaltens“ orientiert,194 gegenüber der Kriegssituation und im besonderen gegenüber Bubers Zeitschrift und der in ihr sich darstellenden Auffassung von instrumenteller Sprache. Die Haltung, das „Verhalten“ des Schreibenden steht selbst in einem wesentlichen Verhältnis zu der „Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat“.195 Erkenntnis, der als Bedingung und Ort die sich erschließende „Sphäre des Wortlosen“ zugewiesen ist, erscheint in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht: sie orientiert die Aufgabe des „nüchtern“ oder „sachlich“ Schreibenden – wobei der sich daran abzeichnende Aspekt der Kritik genauer zu erläutern sein wird – und gibt solcherart der „wahren Wirkung“ des Schrifttums statt. Der für Erkenntnis buchstäblich entscheidende Bereich des „in unsagbar reiner Nacht“ sich erschließenden Wortlosen ist zugleich der Ort der Einheit von Wort und Tat.196 Benjamins Anliegen im Brief an Buber, auch wenn es verborgen bleibt, soweit es ungenannt ist, kann ohne Willkür als

193 GB I, 194 GB I, 195 GB I, 196 GB I,

327. 325. 326. 326-327.

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ethisches ausgemacht werden.197 Haltung und Verhalten sind dabei nur bestimmbar in ihrem Verhältnis zu Wort und Sprache. Diesem Verhältnis nachzugehen wird in dem Maße komplizierter, da das Entscheidende dieses Verhältnisses an einem präzis benannten Ort geschieht, der als sprachlicher nur bedingt bezeichnet werden kann, zumindest insofern alle seine Bestimmungen, die Benjamin anführt, mit Einschränkungen versehen sind – „Sphäre des Wortlosen“, „das dem Wort versagte“, „Kern des innersten Verstummens“.198 Es ist einfacher festzustellen, daß dieses Vorgehen in Beziehung steht zu dem, was zuvor schon aufgefallen war als die Teilung der Begrifflichkeit auf verschiedene Weise – hochpolitisch statt politisch; „wirklich“ und wirklich –, als den Punkt aufzuweisen, an dem Benjamins Umgang mit Begriffen sich exakt zu dem fügt, was er über sie im Rahmen seiner Theorie des sprachlichen Wirkens aussagt: also wie sich seine „Schreibart“ verhält zum Was seines Arguments.199 Der Bereich der höchsten Dichte wird in einer Passage erreicht, welche die sprachliche Wirkung in einem Grenzbereich der Sprache verortet: „… so erscheint es mir immer wieder daß die kristallen reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache die uns gegebene und nächstliegende Form ist innerhalb der Sprache und insofern durch sie zu wirken. Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade mit der eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen Magie anzudeuten“.200

„Elimination des Unsagbaren“ vervollständigt die Benjaminsche Sammlung der geteilten Begriffe insofern, als der Status des Genitivs unsicher ist. Vieles spricht dafür, daß es sich um einen objectivus handelt: das Unsagbare in der Sprache wird eliminiert. Aber auch das „Unsagbare“ als subjectivus ist eine zulässige Auffassung der Stelle.201 In diesem Fall wäre zu lesen, daß die Elimination sich durch das Unsagbare in der Sprache vollzieht; was eliminiert wird, bliebe dann allerdings ungesagt. 197 Vgl. auch Benjamins Notizen zu „Arten des Wissens“. Dem „bestimmendem Wissen“ entspricht sehr genau, was Benjamin im Brief von 1916 als die Entsprechung von Tat und Wort entwickelt. GS VI, 48-49. 198 Ebd. (Kleinschreibung aus dem zitierten Text unverändert übernommen) 199 Zur Frage des „Was“ und „Wie“ eines Kunstwerks, in genau dieser Begrifflichkeit, vgl. GS II.1, 247: „So sind Wie und Was an ihm selbst grundsätzlich nicht unterscheidbar“. 200 GB I, 326. 201 Benjamin spricht sich im Sprachaufsatz im Sinne der ersten Leseweise des Genitivs aus, aber auch dort finden sich Grenzwert-Bedingungen genannt, unter denen das Unsagbare bzw. Unaussprechliche als eliminiertes eliminierend wirkt. Vgl. GS II.1, 146.

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Benjamins weitere Ausführungen lassen beide Lösungen zu und erhellen vor allem auch den Ort dieser doppelten Gültigkeit. Wenn Benjamin fortfährt, er wolle auf „das dem Wort versagte“, „die Sphäre des Wortlosen“ hinführen, erscheint die Elimination als ein Vorgang. Um nicht Tat zu sein, in der sich die Tat selber vorwegnimmt – die Elimination soll ja die Tat ermöglichen, indem jene auf den Ort der Einheit dieser mit dem Wort führt – tritt die Bedingung ein, daß die Elimination nicht ausgeführt wird, sondern geschieht, oder aber ohne Intention ausgeführt wird, ihr Subjekt zum Beispiel ein rein grammatisches bleibt. Hinzu kommt die Frage nach dem Verhältnis des Unsagbaren und Wortlosen zur Sprache. Benjamin verwendet vor allem räumliche Metaphern, um das Sprachgeschehen darzustellen. In diesem Sinne erscheint es angebracht, die „Elimination“ auch zunächst räumlich aufzufassen und in ihre Teile zu zerlegen: sie wird dabei zu einem Über-die-Schwelle-treiben. Dieser sprachliche Ostracismus steuert einiges zur Klärung der Bedingung bei, unter der beide Genitive gültige Verständnisse der „Elimination des Unsagbaren“ sind: es handelt sich um das Unsagbare in der Sprache. Benjamin unterstreicht noch einmal im gleichen Satz, daß die Elimination eine Weise ist, „innerhalb der Sprache“ zu wirken, „und insofern durch sie“. Von einem Außerhalb ist nicht die Rede;202 das Äußerste ist die Schwelle, über die das Unsagbare „in der Sprache“ getrieben wird – oder über die es treibt, und da dieses Über nicht über die Schwelle der Sprache hinauskann, ist die Schwelle der „Elimination“ der Ort und die Sphäre des Wortlosen. Diese Elimination ist zugleich ein Teil eines Vorgangs der Erkenntnis; sie erhellt die „Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat“. Ähnlich den antiken Lehren von der Erkenntnis besteht Elimination auch bei Benjamin darin, innerhalb des Vorgangs der Erkenntnis von einem Teil des zu Erkennenden abzusehen – da er ohnehin nicht erkannt werden kann –, ihn auf sein Geringstes zu reduzieren, um einen anderen Teil, als das Erkennbare, zu erfassen.203 „Die Sprache teilt das sprachliche Wesen 202 Vgl. zur Unendlichkeit der Sprache im Sprachaufsatz: GS II.1, 143. 203 Wie aus einem Brief an Scholem vom 30. März 1918 deutlich wird, in dem Benjamin Stellung nimmt zu Scholems Aufsatz über „Klage und Klagelied“, versuchte Benjamin in seinen sprachphilosophischen Überlegungen sein – wie er zugibt – unzureichendes Wissen über jüdische Theologie mit Betrachtungen der antiken Tragödie und der deutschen Sprache zusammenzubringen (vgl. GB I, 442-444). Aber auch in der antiken Erkenntnistheorie, der Tragödie nicht fremd, finden sich Parallelen, insbesondere bei Aristoteles, für dessen „aphairesis“ Elimination eine mögliche Übertragung ist. Es bezeichnet im zusammengesetzten Erkenntnisakt das Negative, Ausgeschiedene gegenüber dem positiven Erfassen, der „noesis“. Erkannt wird an einem Ding lediglich seine Form; die Differenz zum Gesamtgegenstand bezeichnet die Materie, „hyle“, die nicht als solche, sondern nur negativ erfaßt werden kann, da sie als solche gänzlich unbe-

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der Dinge mit“.204 In Benjamins Darstellung – und hier müßte weiter im Hinblick auf den Sprachaufsatz angefügt werden: sofern sie, im Brief an Buber, die menschliche Sprache betrifft – gehört die Tat einer gänzlich anderen Ordnung an als die Sprache und das Wort. Das, was nicht Wort ist, kann innerhalb der Sprache und mit ihren Mitteln nicht erkannt werden. Von ihm, dem Nicht-Wort, also von der Tat, ist abzusehen, außer dort, wo „die Einheit dieser beiden gleich Wirklichen ist“205 – auf der Schwelle und am äußersten Rand der Sprache. Zugleich ist die Erkenntnis diese Tat, das wortlose Wort. „Nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt kann der magische Funke zwischen Wort und bewegender Tat überspringen“.206 Dieses „Erschließen“ erweist sich als insistierendes Element: neben der Sphäre des Wortlosen erschließt sich für Benjamin im Brief auch das „Verhältnis zum europäischen Krieg“ sowie die „Würde“ und das „Wesen“ der Sprache. Es ist angebracht, angesichts der gleichwertigen Verwendung von „erschließen“ und „eröffnen“ ihren gleichen Ort trotz scheinbar gegensätzlicher Grundbedeutung zu berücksichtigen: es ist abermals an einer Tür, an einer Grenze oder Schwelle, daß mit dem Eröffnen oder Erschließen eines Raumes, einer Frage, eines Wesens sich etwas entscheidet und erkennbar wird. In „reiner Nacht“ ist dabei nicht nur das Medium und der Raum dieses Sich-erschließens und Sich-eröffnens, es ist zugleich ein verborgener Pleonasmus und auch selbst der Ort der Schwelle. Dies verlangt eine kurze Erörterung. Schon die nachhaltigen Hinweise Benjamins auf die notwendige Sachlichkeit des Schrifttums – einmal sogar mit dem expliziten Zusatz der Nüchternheit, der dabei eine Gleichheitsbeziehung feststellt – sind in Verbindung mit dem Reinen zu sehen, das in seiner Insistenz und Wandelbarkeit nur um Weniges dem vielfach auftretenden Wirk-Element in diesem Brief nachsteht. In „unsagbar reiner Nacht“ ist insofern dem restlichen Brief heterogen, als diese Prägung eine Ausnahme zur hier zwar generell intensiven,207 aber bildarmen Ausdrucksweise Benjamins darstellt. Hingestimmt ist. Auf diese negative Weise ist sie jedoch zu erkennen; die „Elimination“ kann sich also auch auf die Materie beziehen (vgl. zu diesem letzten Punkt Aristoteles, Metaphysik, Buch Z3). Interessant im Hinblick auf Benjamins Argumentation ist, daß sich bei Aristoteles implizit die Frage nach der Unterscheidbarkeit der Unbestimmtheit der höchsten Form und dem Unbestimmten der Materie stellt (vgl. Happ, Hyle, 560). Benjamin spricht zwar nicht von Form und Materie, sondern von Sprache und Tat, entscheidend aber sind die Relationen, in die diese Paare zueinander gesetzt werden. 204 GS II.1, 142. 205 GB I, 327. 206 GB I, 326-327. 207 Die Intensität des Tons in diesem Brief wird erheblich gesteigert durch die Seltenheit der Kommata. Obwohl dies Benjamins gewohntem Sprach-

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gen muß „reine Nacht“ geradezu als eine Dopplung gelten, wenn die Herkunft des Wortes „nüchtern“ aus der „Nacht“ berücksichtigt wird.208 Beide Möglichkeiten, „reine Nacht“ aufzufassen – als Intensivierung der Reinheitsbedingung wie auch als bildhafter Ausdruck – kündigen die Erwähnung des Athenäums wenige Zeilen später an. Antizipiert ist der Kritikbegriff als Darstellung der „Idee“, wie Benjamin ihn drei Jahre später am Ende seiner Dissertation über die „Kunstkritik in der deutschen Romantik“ bildhaft präsentieren sollte, bezogen auf die Werke: nämlich als „Blendung – das nüchterne Licht“.209 Die spätere Darstellung bringt so das Nächtliche und das Licht überein, das im Brief an Buber kontrastiv zumindest erscheint: der „magische Funke“ in „unsagbar reiner Nacht“. Das Nüchterne der Nacht bezeichnet diese selbst als den Ort, der sich mit einer Entscheidung eröffnet. In diesem Sinne läßt sich abermals der Gedanke der Kritik annähern – nicht nur an das, was Benjamin sagt, sondern vor allem aufgrund seiner Art es darzustellen, seiner „eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart“. Es ist in der kritischen Tat, daß Erkennen und Handeln eins sind. Von diesem Handeln aus, das mit dem Wort eins ist, ist die Tat eine „bewegende“. Sie ist nicht eine vom als Mittel zur Tat verstandenen Wort bewegte, sondern bezieht – um in Benjamins Bild zu bleiben – ihre bewegende Energie aus dem „tätlichen“ Wort. Was „zur wahren Wirkung“ gelangt, geschieht sowohl aus der Sprache heraus als auch auf die Mitte der Sprache hin: „die intensive Richtung der Worte in den Kern des innersten Verstummens hinein“.210 Die „unsagbar“ reine Nacht des Nüchternen ist ein Bild, wenn auch nicht nur ein Bild, für das Wesen der Sprache, das nichts Sprachliches ist. Wirklichkeit, so läßt sich folgern, erschließt und ergibt sich aus einem Verhältnis zur Sprache, das ihrer doppelten Binnenbewegung folgt – in ihr Zentrum, an ihre Ränder. Die bewegende Tat ist also auch im konkreten Hinblick auf die mögliche Beteiligung Benjamins an einem fluß entspricht, erscheint diese Besonderheit hier extrem. Rolf Tiedemann führt den Verzicht auf Interpunktion auf das reihende, parataktische Prinzip zurück (vgl. sein Nachwort in Benjamin, Walter. Sonette. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 93). 208 „Nüchtern“ als nächtliche mönchische Gebetskondition, „nicht gefrühstückt habend“. Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 593; Duden, Band 7: Herkunftswörterbuch. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut, 1963, 473. Weniger allerdings bräuchte Etymologie bemüht zu werden als Benjamins nicht gerade häufige, aber markante Verweise auf Kontemplation in Verbindung mit dem Kirchen- und Klosterleben (vgl. GS I.2, 698; GS I.1, 208). Ebenso bietet sich (wie schon im letzten Kapitel) der Vergleich von „sauber“ und „nüchtern“ an, und zwar über die lateinische Übersetzung des letzteren, „sobrius“. 209 GS I.1, 119. 210 Beide Zitate GB I, 327.

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Zeitschriftenprojekt zu verstehen: er sagt Buber ab – seine fürwahr kritische Tat bleibt zunächst verborgen vor der Öffentlichkeit und unterbricht damit das „Handeln das in der expansiven Tendenz des Wort-an-WortReihens liegt“.211 Dieses Expansive und Raumgreifende wird kontrastiert mit der Verdichtung und Intensivierung, die der „nüchternen Schreibart“ entsprechen. Die ethische wie politische Frage, mit der Benjamin Buber konfrontiert, ist die nach einer reinen Modalität. Das „Was“ der Tat entspricht genau dem „Wie“ der Haltung zur Sprache: „Mein Begriff sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils und Schreibens ist: hinzuführen auf das dem Wort versagte“. Diese äußerste Reduzierung des Unsagbaren innerhalb der Sprache – was zugleich ein Zurückbringen vor dieses Wortlose ist – und die damit verbundene Konzentration stellen nicht nur ein Gegenelement zur geschwätzigen Expansion des Wortes dar: „Als Mittel genommen wuchert es“.212 Das zurückgehende Intensive stellt in Benjamins Brief auch ein Gegenkonzept zur Intention dar, die sich des Wortes als Mittel und Vehikel bedient. Wie eine Passage zu Beginn der „Ankündigung“ des Angelus Novus belegt, ist mit der Aufgabe eines solchen Intentionsbegriffs nicht jegliche Orientierung für die kritische, „bewegende“ Tat hinfällig: „wie ja auch vom Menschen keineswegs das Bewußtsein seiner innersten Tendenzen, wohl aber das seiner Bestimmung ständig erwartet werden darf“.213 Und diese Bestimmung erschließt sich dem Menschen wie für die Worte im Rückgang auf den innersten Rand, der äußersten Mitte der Sprache. Die entsprechende Haltung ist eine Auffassung von Sprache nicht als Mittel, sondern als reines Mittel. Was sich als politischer wie ethischer Ansatz Benjamins andeutet, ist eine Verantwortung vor der wie auch eine Überantwortung an die Sprache. Hierbei kommt ein besonderer Gesichtspunkt der „Elimination“ zum Tragen, der sich Bescheidenheit nennen ließe, auch insofern Elimination eine Ausscheidung und Abtrennung impliziert. Für eine solche Haltung finden sich in Benjamins Brief etliche Anzeichen. Auf eine konventionelle Art ließe sich der Stil des Briefes betrachten, indem man seinen Ton gegenüber dem Adressaten berücksichtigt. Wenn sich Höflichkeit beschreiben ließe als eine andere Form der leeren Modalität,214 dann 211 GB I, 326. 212 GB I, 327. In mancherlei Punkten berührt sich Benjamins Sprachtheorie, wie sie im Brief an Buber in einem der ersten Entwürfe vorliegt, eng mit dem poetologischen Vortrag „Der Meridian“ von Paul Celan. Hier sei nur an eine Stelle zu Verdichtung und Umkehr erinnert: „Die Kunst erweitern? / Nein. Sondern geh mit der Kunst in Deine allereigenste Enge. Und setze Dich frei“. Celan, Werke III, 200. 213 GS II.1, 241. 214 „Höflichkeit“ und die Entsprechungen zu diesem Begriff aus dem romanischen Sprachraum stehen in enger Beziehung zu den wesentlichen Gesichtspunkten in Benjamins Brief, dem Räumlichen und der Reinheit.

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finden sich in diesem Brief ihre Extreme versammelt: auf der einen Seite gibt sich Benjamin, Student, jung und unbekannt, gegenüber Buber – einer tragenden Persönlichkeit des damaligen jüdischen Geisteslebens – in mehrfacher Hinsicht entschuldigend; auf der anderen Seite liegt genau in der Bescheidenheit ein Komplement zu der Dreistigkeit der gleichsam offenkundigen wie verborgenen Belehrung. Um zurückzukommen auf Benjamins Verstehen und Nicht-Verstehen: wenn er „wirkendes Schrifttum“ sowohl versteht als auch nicht versteht, und auch nicht verfassen kann, dann lassen sich nicht nur die sprachphilosophischen Bedingungen aus dem Text isolieren, die ein Verständnis dessen erlauben, wie es sich mit dem Verstehen bei Benjamin verhält. „So unmöglich es mir ist …“ – „so unfähig bin ich …“: in der Geste der Bescheidenheit215 verbirgt sich zudem ein Angriff auf die „Selbstverständlichkeit“, mit der in Bubers Zeitschrift wie anderswo Sprache als Mittel zu politischen Zwecken eingesetzt wird.216 Die Selbstrücknahme des Schreibenden – es ließe sich hier wiederum sagen: seine Versachlichung – hat zur unmittelbaren Nebenerscheinung auch die „Elimination“ des Lesers, und zwar nicht nur desjenigen Lesers, der angesprochen ist als „Sehr verehrter Herr Doktor Buber“.217 Wenn Benjamin sich der Richtung der Worte anvertraut, der Obhut des „sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils“, dann trägt er dem Leser gleichsam seine Begleitung an für den Weg zur Wirkung: „hinzuführen auf das dem Wort versagte“, also auf die Zone der Elimination.218 Die Übertragung der Elimination, der Rücknahme eines Selbst, auf den Adressaten zeigt sich auch im vorletzten Absatz des Briefes: „Und so wie mein Unvermögen zur Frage des Judentums jetzt etwas klares zu sagen mit diesem Stadium der Zeitschrift im Werden zusammenfällt so verbietet nichts zu hoffen daß es eine günstigere Koinzidenz in der Erfüllung geben möge“. Es ist ein fürwahr frommer Wunsch, der sich in der Verkettung von Koinzidenzen durch die Markierung ihrer Entsprechung, „so wie …“ – „so …“ äußert. Das spezifische „Unvermögen“ Benjamins gibt, insofern es sich mit dem Zustand der Zeitschrift trifft, durchaus zu verstehen, daß es sich mit diesem „Stadium der Zeitschrift“ ähnlich verhält, daß sich in ihrem „Werden“ ebensogut ein „Unvermögen“ ausspricht.219 Was ferner unter der – von Benjamin um nichts einge215 GB I, 327. 216 GB I, 325. 217 Ebd. 218 Vgl. auch die Bemerkungen zum Verhältnis vom sprachlichen und geistigen Wesen des Menschen im Aufsatz „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“: GS II.1, 143. 219 Benjamins eigenem Brief gehört ebenfalls dem „Werdenden“ zu, wie er voranschickend bemerkt. Auch hieran erweist sich die Korrelation vom ungenügenden eigenen Schreiben mit dem, womit die Zeitschrift Der Jude sich allerdings an die Öffentlichkeit wendet. GB I, 325.

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schränkten – „Erfüllung“ begriffen ist, in der eine „günstigere Koinzidenz“ vielleicht möglich wäre, läßt sich im Brief selber nachlesen,220 zumindest, wenn man Benjamins geäußerte Hoffnung, das Offenlassen aller Möglichkeiten, in Beziehung setzt zum Erschließen und Eröffnen des Bereichs des „Wortlosen“. Auf diesen soll sachliches Schreiben hinführen; das Wort selber, so „durch sich selbst“ ins Wortlose gebracht, „führt“ ebenfalls auf etwas, und zwar „ins Göttliche“.221 Der magische Funke, der unter den Bedingungen des Nüchternen, der Reinheit des Wortes zwischen diesem und der Tat überspringt, mag im Imaginarium Benjamins seine späteren Verwandten im „Sprung“ der Revolution222 und im Aufblitzenden des Bildes der Vergangenheit haben.223 Das Prekäre, Gefährdete und Gefährliche der Bedingungen für die Teilhabe des Menschen am Göttlichen jedoch – im Buber-Brief in der Form der Einheit der menschlichen Sprache, also des benennenden Wortes, mit der Sprache überhaupt, hier der erkennenden Tat – ist auch, wie im Sprachaufsatz ausgeführt ist, Ausdruck dessen, was diese Einheit von der unbedingten Entsprechung trennt: „Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im innersten mit dem schaffenden Wort identisch ist, das reine Medium der Erkenntnis“.224 Der benennende und erkennende Mensch bleibt auf den Moment des in Nüchternheit überspringenden Funkens verwiesen, der nicht einmal Maß der Zeit sein kann, wie verschwindend kurz auch immer, sondern Einbruch und Unterbrechung des Göttlichen ist. Und nicht nur in seiner Wirkung „magisch“, sondern unter einem anderen Blickwinkel – dem der Erkenntnis – auch „mystisch“ wäre dieser Moment zu nennen,225 insofern sich an ihm der „Widerstreit des Ausgesprochenen und des Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und dem Unausgesprochenen“ der Sprache manifestiert.226 Zwar keine umgekehrt proportionale Relation, aber eine absolut umgekehrte Relation herrscht zwischen der Sphäre des Wortlosen in der menschlichen Spra220 Vgl. auch „Die Aufgabe des Übersetzers“, wo Benjamin von dem „vorbestimmten, versagten Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen“ spricht als demjenigen, auf den die Übersetzungen aus den werdenden Sprachen hindeuten. GS IV, 15. 221 GB I, 327. 222 GS I.2, 701. 223 GS I.2, 695. Vgl. auch GS V.1, 591, über die Rettung der Phänomene: „Sie werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet“. 224 GS II.1, 148. 225 Zum „mystischen Nu“, allerdings unter dem Vorzeichen der Säkularisierung ins Allegorische, vgl. GS I.1, 342; 358. 226 GS II. 1, 146. Auch wenn Benjamin im Sprachaufsatz sich gegen eine gewisse mystische Sprachauffassung verwahrt, die das Wort als „Wesen der Sache“ ansieht (GS II.1, 150), ist der Einwand nicht auf alle mystische Denkformen zu verallgemeinern.

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che und der Offenbarung. Diese ist der einzige Bereich, der „das Unaussprechliche nicht kennt“.227 Die theologische Problemstellung der Sprachphilosophie bleibt in Benjamins Brief jedoch weitgehend unentfaltet, so bedeutend sie ist als der Untergrund der Auseinandersetzung, die Benjamin mit Buber führt. Entscheidend auf den an Buber gerichteten Seiten ist die ethische Frage, die aus den sprachphilosophischen Erwägungen hervorgeht. Nicht allerdings um die sprachliche Konstitution von Gutem und Bösem geht es dabei, sondern um das Wie des praktischen Verhaltens als einem Verhalten zu und in Sprache. Nüchtern, eliminierend in der Darstellung und damit erkennend ist die Haltung des Schreibenden und der Schrift, der die kritische, „bewegende“ Tat entspricht. So zeitigt Ethik als Sprachverhältnis auf dem Boden eines Zeitschriftenprojekts ihre „hochpolitischen“ Korrolarien. Benjamins Abhebung vom „Begriff ‚Politik‘ in jenem weitesten Sinne“228 betont nicht nur die Brisanz des Hochpolitischen und die Gefährdung, die in der Steigerung liegt; er geht auch gegen eine an Zwekken ausgerichtete Politik an, der zur Beförderung ihrer Intentionen jedes Mittel recht ist, zumal jedes sprachliche, und die, so raumgreifend, in Worten Expansion und die Expansion der Worte betreibt. „Jedes heilsame ja jedes nicht im innersten verheerende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis“.229 Heilsam wirkt eine Schrift gerade, insofern sie auf die Unterbrechung aller Sprache führt. Dieses „reine“ Wort, der Kern des Verstummens, gemahnt an die Teilung und so das Doppelte der Sprache überhaupt. Dieses ihr Geheimnis ist in Benjamins Brief verborgen wie es auch offen zutage liegt. Der heilsame Schnitt, die Cäsur, führt wiederum auf Hölderlin. „Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt“.230

227 GS II.1, 147. 228 GB I, 325. 229 GB I, 326. 230 GS V.1, 578.

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D i e B ah r e . V o m L e b e n d e r D i c h te r „Was wird ‚gelöst‘? Bleiben nicht alle Fragen des gelebten Lebens zurück wie ein Baumschlag, der uns die Aussicht verwehrte? Daran, ihn auszuroden, ihn auch nur zu lichten, denken wir kaum. Wir schreiten weiter, lassen ihn hinter uns und aus der Ferne ist er zwar übersehbar, aber undeutlich, schattenhaft und desto rätselhafter verschlungen“.231

Schwierigkeit und Leichtigkeit sind nicht Eigenschaften von Texten, sondern solche ihrer Lektüre. Wenn gesagt werden kann, daß Lesen – schwieriges, leichtes, Lesen überhaupt – einer Gelegenheit bedarf, so erst recht dasjenige Moment des Lesens, aus dem heraus die Lesenden getroffen werden: von Erkenntnis. Ein Moment, da der Text – „Text“ im Sinne von: das, was dem Lesen vorliegt – nicht so sehr im Hinblick auf ein Mitgeteiltes und ein Vorwissen verständlich wird, sondern vielmehr seine Teile sich in ihre Zusammenfügung auflösen und sein Belang sich als unabsehbar erweitert darstellt. Dabei würde auch die Gelegenheit selbst – bei weitem nicht nur die Belesenheit – der jeweiligen Lesenden schlagartig lesbar: die geschichtliche Lage. Der Hölderlin-Aufsatz Walter Benjamins konfrontiert seine Leser mit der Frage der Schwierigkeit: seiner eigenen Schwierigkeit und derjenigen der beiden Gedichte, die zu kommentieren er sich aufgibt. Die Unterscheidung zwischen einem Text und seiner Lektüre wird hierbei auf mehrfache Weise wirksam. Nicht zuletzt in der Hinsicht, daß die Selbstverständlichkeit der Unterscheidung entfällt. Das Zugleich und Auseinander von Text und Lektüre wird insofern an einen entscheidenden Punkt geführt, als Benjamins Aufsatz einerseits an den Gedichten „Dichtermut“ und „Blödigkeit“ das Problem der Zugänglichkeit, der Lesbarkeit untersucht und damit andererseits die Frage nach seiner eigenen Lage aufwirft.232 Wie verhält sich der Aufsatz zu den Gedichten? Springt das, was Benjamin über den Zugang zu den Gedichten feststellt, über die Gattungsgrenze auf die kritische Literatur über? So daß es nicht widersinnig wäre, sich mit dem Begriff des „Gedichteten“ – der bei Benjamin unter anderem das benennt, was dem Lesen zugänglich ist, auf eine verschlungene Art die materia des Lesens – auch dem Aufsatz mit der Überschrift „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ zuzuwenden? Diese Fragen geben nicht mehr vor als die Richtung auf weitere Fragen, unter anderen auch derjenigen nach dem Verhältnis des Dichters zum Leser, und zum 231 GS VI.1, 92. 232 GS II.1, 105.

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Leser als Kritiker: Figuren, die Funktionen entsprechen. Es gilt jedoch zunächst, im Dickicht der inneren Bezüge des Aufsatzes einen Weg zu finden, um das in ihnen angelegte „Gedichtete“ näher zu bestimmen. „Es soll hier ein ästhetischer Kommentar zweier lyrischer Dichtungen versucht sein“: was Benjamin in diesen Worten als die Aufgabe seines Essays über die Gedichte „Dichtermut“ und „Blödigkeit“ benennt, kündigt sich als Rarität, vielleicht sogar als etwas Unerhörtes in der Ästhetik, in der Literaturwissenschaft an.233 Es ist das bis dato uneingeübte Aufeinandertreffen des Kommentars, der sich dem Einzelwerk widmet, und des Anspruchs der Ästhetik, die aufs Allgemeine geht und sich vornehmlich der Gattung der Tragödie zugewandt hatte – so Benjamin. Diese ungewohnte Begegnung von Allgemeinem und Besonderem im ästhetischen Kommentar gibt ihm Anlaß zu einer längeren methodischen Vorbemerkung. Das, was am Ende jener Ausführungen in einer Figur des Widerspruchs erscheint, ist die Abgründigkeit der Aufgabe des ästhetischen Kommentars: um seine Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Wiederherstellung des „Gedichteten“, also der Voraussetzungen des Gedichts, darf er sie, die Aufgabe, nicht völlig erfüllen: „Das reine Gedichtete würde aufhören Grenzbegriff zu sein“.234 Der Ermittlung von Sollen und Notwendigkeit des Gedichts ist zugleich die vollkommene Übereinstimmung mit ihm versagt, damit dieses Sollen als unterscheidender „Grenzbegriff“ fungieren kann. Dazu ist nicht nur zu sagen, daß dies die Aufgabe des ästhetischen Kommentars als Kritik deutlich werden läßt, und zwar durch die konzeptuelle Anleihe bei Hermann Cohen. Dieser machte den Kantischen Terminus „Grenzbegriff“ für seine eigene Fassung der kritischen Methode urbar, indem er ihn auf die Ziele der Erkenntnis anwandte,235 die für diese unerreichbar sind, ihr jedoch die Orientierung vorgeben.236 Benjamin wiederum hebt zudem in seiner Verwendung des

233 Ebd. 234 GS II.1, 108. 235 Vgl. Cohen, Hermann. Kants Theorie der Erfahrung. Hildesheim, New York: Olms, (5) 1987, 645 ff. (in der 2. Auflage 1885: 507 ff). Der Grenzbegriff ist hier mit der „unendlichen Aufgabe“ identifiziert, der Benjamin einige Aufzeichnungen gewidmet hat. Vgl. GS VI, 51-52. Weiterhin fällt auf, daß die „Aufgabe“ des Gedichteten bei Benjamin auf eine andere Weise unendlich ist. Das Gedichtete als Grenzbegriff kann sich zwar unendlich an Gedicht oder Leben annähern, darf sie jedoch nicht überschreiten. Auf diesem Nicht-Dürfen statt auf einem Nicht-Ereichen-Können liegt Benjamins Emphase. Mit dem hypothetischen Erreichen des Zieles würde das Gedichtete mit diesem Ziel identisch und folglich auch die damit verbundene Erkenntnis hinfällig. Vgl. GS II.1, 108. 236 Odo Marquards Artikel zum „Grenzbegriff“ zufolge erscheint der Terminus bei Kant selbst nur an wenigen Stellen. Die genannten Beispiele für Grenzbegriffe sind für Leser des Hölderlin-Essays von Benjamin jedoch höchst aufschlußreich: „Noumenon“, „Welt“ und „Vollendung“. (Histori-

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„Grenzbegriffs“ die im Wort angelegte Bedeutung der Grenze als Abgrenzung von etwas hervor: „wie denn stets ein Grenzbegriff als Grenze zwischen zwei Begriffen nur möglich ist“.237 Zum anderen erscheint in Benjamins Formulierungen zur Aufgabe des ästhetischen Kommentars der Begriff der Kritik in seiner romantischen Verfassung,238 insofern die Idee der Durchlässigkeit der Gattungen und der Potentialität des Universellen im Einzelnen, sowie auch Novalis’ Begriff des dichterischen „Ideals a priori“ einen Rahmen für Benjamins Ausführungen zur Methodik bilden.239 Aber vor allem erscheint die kritische Idee hier so, wie sie durch die Romantiker hindurch auf die philosophische Mitte ihres Kreises verweist, und diese Mitte ist – Benjamins „Der Begriff der Kunstkritik“ zufolge – Hölderlin: da er die romantische Idee der Unzerstörbarkeit der Kunstwerke und ihrer Kritisierbarkeit schlechthin vorprägte.240 Indem die methodische Vorbemerkung die Aufgabe der Gedichtuntersuchung in die größte Nähe zur Kritik rückt, wenn Benjamin hier vom „Kommentar“ spricht,241 öffnet sich der engere kunstphilosophische Begriff der Ästhetik auf Erkenntnistheoretisches. Mit dem kritischen Urteil, „wenn nicht zu beweisen, so doch zu begründen“,242 ist die Frage nach der Erkennbarkeit und der Lesbarkeit, ja erneut der Kritisierbarkeit überhaupt verbunden. Und ihr Ort ist benannt als „die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt“.243 Es muß vorerst dahingestellt bleiben, wie diese Welt, von der das Gedicht im „Gedichteten“ Zeugnis ablegt, beschaffen sein soll – ohne dabei mit dem „Vorgang des lyrischen Schaffens“, der Person oder den Ansichten seines Autors verbunden zu sein. Insofern aber die Lesbarkeit des Gedichts in Abhängigkeit von der Lesbarkeit dieser bestimmten (und im folgenden weiter zu bestimmenden) Welt steht, erscheint die Ästhetik in Benjamins Vorhaben eines „ästhetischen Komsches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter et al. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co., 1972-, 871-873). 237 GS II.1, 107. 238 Vgl. Schlegel, Friedrich. Kritische und theoretische Schriften. Stuttgart: Reclam, 1978, 89: „Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist“. 239 Novalis [Hardenberg, Friedrich]. Werke, Band 2: Tagebücher. Fragmente. Hg. von Jacob Minor. Jena: Eugen Diederichs, 1907, 231; zit. n. GS II.1, 105-106. Benjamin zitiert diese Stelle auch in GS II.1, 238 („‚Der Idiot‘ von Dostojewskij“), und verweist darauf in GS I.1, 233 („Ursprung des deutschen Trauerspiels“) 240 GS I.1, 103-108. 241 Anhand des Begriffs des „Gehalts“, der dem des „Gedichteten“ entspricht, und seiner Teilung in „Sachgehalt“ und „Wahrheitsgehalt“ unterschied Benjamin im Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften die Aufgaben der Kritik und des Kommentars. Vgl. GS I.1, 125-127. 242 GS II.1, 108. 243 GS II.1, 105.

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mentars“ genauer als die Frage der Wahrnehmbarkeit. „Wahrnehmung ist Lesen“: so eine Notiz Benjamins, die kurz nach dem Hölderlin-Aufsatz entstand.244 Von hier aus – und durchaus in Verlängerung der romantischen, Hölderlinschen Idee der Kunst – wäre dem Begriff der „Ästhetik“ bei Benjamin nachzugehen. Wie wird gelesen? Ohne bislang auf die weiteren Bestimmungen eingegangen zu sein, die Benjamin über die Untersuchung und das zu Untersuchende trifft, ließ sich schon bemerken, daß die gestellte Aufgabe nicht nur Kommentar und Kritik zweier Texte ist, sondern diese Begriffe vertieft um das Problem ihrer Begründbarkeit, ihrer Berechtigung und ihrer Ermöglichung. Und dieser Vorwurf erfährt eine weitere ungeheure Erweiterung, indem Benjamin den Begriff des Lebens einführt als dasjenige, was durch die Aufgabe des Gedichts von diesem getrennt ist. Das Verwunderliche liegt vor allem darin, daß Benjamin, der sich implizit aber deutlich von Diltheys lebensphilosophischem Ansatz distanziert, wenn er die Befragung von „Person oder Weltanschauung“ des Dichters ausschließt,245 nur eine Seite später auf lebensphilosophische Annahmen zurückzukommen scheint, wenn er das Leben als die Aufgabe des Gedichts bezeichnet.246 Es ist also angebracht, noch einmal auf die Frage der „Aufgabe“ zurückzukommen. Auch bei dieser, nicht nur bei den Ausführungen zum „Leben“, deren Nachzeichnung noch einiges an Umwegen erfordern wird, findet sich mancherlei Erstaunliches. Zwar ist die Aufgabe der Untersuchung ein kritischer Kommentar zu den Gedichten „Dichtermut“ und „Blödigkeit“, aber die Gedichte sind trotzdem nicht Gegenstand der Untersuchung, können es nicht sein. Vielmehr wendet sich Benjamin dem zu, was er das „Gedichtete“ nennt. Es ist von den Gedichten abgeleitet und aufzufassen als der „letzte Grund, der einer Analysis zugänglich ist“.247 Über das Wort, die Bezeichnung „das Gedichtete“ soll hier lediglich festgehalten werden, daß diese substantivierte Partizipform schon eine Einheit von Stoff und erlittener dichterischer Prägung nahelegt. Das vom Gedicht erst abzuleitende Gedichtete ist dennoch auch die Voraussetzung des Gedichts. Diese zirkuläre oder selbsttragende Struktur, die nachträgliche Begründung des letzten Grunds, findet sich wenige Zeilen später wieder. Benjamin kappt dort die soeben erst formulierte Ableitung des Gedichteten aus dem Gedicht: ersteres „kann nicht mehr mit dem Gedicht verglichen werden, sondern ist vielmehr das einzig Feststellbare der Untersuchung“, es ist ihr „Erzeugnis und Gegen244 GS VI, 32. 245 Vgl. GS II.1, 105. 246 Vgl. GS II.1, 107. Vgl. auch „Goethes Wahlverwandtschaften“, GS I.1, 166: an dieser Stelle richtet Benjamin Hölderlins Gedicht „Blödigkeit“ gegen den vitalistischen Begriffsapparat, zumal das „Erlebnis“. 247 GS II.1, 105.

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stand“ zugleich.248 Der ästhetische Kommentar erschafft also erst, was er untersucht, aber dieser Umstand hindert nicht, daß sich im derart – grundlos – geschaffenen Gedichteten der wahre Bereich des Gedichts erschließt. Die Frage nach dem Lesbaren, Wahrnehmbaren des Gedichts ist die Frage nach dem Verhältnis von Gedichtetem und Gedicht. In ihr kehrt auch der Terminus des „Lebens“ wieder. Es ist der Begriff der Aufgabe, der die besondere Art der Beziehung von Gedicht, Gedichtetem und Leben benennt, wobei zu bemerken ist, daß es sich um eine doppelte Aufgabe handelt. Ist es zum einen die Aufgabe von Benjamins Aufsatz, die Sphäre des Gedichteten zu konstituieren, so ist zum anderen dies Gedichtete selbst Aufgabe – und zwar des Gedichts. Anders gesagt, es ist die Aufgabe des Kritikers, die Aufgabe des Gedichts herzustellen, oder, gemäß der erwähnten zirkulären Struktur, wiederherzustellen. Aufgabe des Gedichts wiederum, wie Benjamin schreibt, ist das Leben.249 Die Zusammenführung dieser Beobachtungen, nämlich daß es Aufgabe der Kritik sei, „Leben“ her- oder wiederherzustellen, versteht sich nicht von selbst. Was ist über dieses „Leben“ zu sagen? Über es als solches, wie auch über das Gedicht, sehr wenig. Der Begriff „Leben“ jedoch taucht in zwei Funktionen auf – zum einen als das, was durch das Gedichtete vom Gedicht abgehoben ist, und zum anderen, da „Leben“ die Aufgabe des Gedichts bezeichnet, als Gedichtetes. Insofern das Gedichtete, die Sphäre der Kritik, als Grenzbegriff Leben und Gedicht auseinanderhält, bezeichnet es auch das, was ihnen gemeinsam ist. Und sie sind sich geradezu selbst und gegenseitig gemeinsam, sind gefährlich ununterscheidbar in ihrem als solchem unzugänglichen So-sein. Das Gedichtete benennt genau diese Gefahr: denn Leben und Gedicht, Aufgabe und Lösung „sind nur in abstracto trennbar“.250 In der Abstraktion, in dem, was denkbar ist, liegt die Sphäre des Verhältnisses und des Übergangs, an dem Leben und Gedicht teilhaben und das an beiden teilhat. „Das reine Gedichtete würde aufhören Grenzbegriff zu sein: es wäre Leben oder Gedicht“.251 Das minimale Verfehlen der Aufgabe in der Kritik, oder anders, der Fehl in der Aufgabe öffnet die Lesbarkeit des Gedichts – und die des „Lebens“. Ist mit „abstractum“ im Hölderlin-Aufsatz schon der Begriff gefallen, mit dem Boethius „aphairesis“, den Moment der Elimination im aristotelischen Erkenntnisakt übersetzt hatte,252 so fügt Benjamin den epistemologischen Einsätzen, die schon auf dem Platz des „Gedichteten“ angehäuft sind, noch einen weiteren hinzu, nämlich den des Potentiellen, 248 Ebd. 249 GS II.1, 107. 250 Ebd. 251 GS II.1, 108. 252 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 1077b (Buch XIII, Kapitel 2).

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als einem der Pole des aristotelisch-scholastischen Begriffspaars von Akt und Potenz: vom Gedicht unterscheidet sich das Gedichtete allein „durch seine größere Bestimmbarkeit: nicht durch einen quantitativen Mangel an Bestimmungen, sondern durch das potentielle Dasein derjenigen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind“.253 Das Gedicht selbst, als „Lösung“, ist ironischerweise das, was den festesten Zusammenhalt hat – es ist so unendlich bestimmt, daß es einzig, aber als solches nicht zugänglich, nicht lesbar ist. Es ist bestimmt, aber, als solches, nicht bestimmbar. Im Gedicht ist das Leben als Stoff und Aufgabe gelöst. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß in dieser einen Hinsicht das Leben den Grund, den Träger für das Gedicht als zu Erscheinendes bildet. Die Eröffnung des Aufsatzes mit der Erwähnung der Tragödien; die Herausbildung einer Begrifflichkeit, die das „Griechische“ dem „Orientalischen“ entgegenstellt; die Bedeutung, die dem „Mythischen“ zukommt – all das trägt nicht nur Hölderlins geistigem Universum Rechnung in Benjamins Aufsatz, es stellt eine genuine Auseinandersetzung Benjamins mit dem Phantasma des griechischen Erbes in der deutschen Dichtung dar. Um also für einen Augenblick in der aristotelischen Diktion zu bleiben: in Benjamins Aufsatz entspricht die Situation des Lebens als Gedichtetem, als Potentiellem gegenüber dem Gedicht der Situation der hyle. Sie entspricht der materia des Gedichts, seinem hölzernen Bestand.254 Freilich wird man anmerken müssen, daß das Verhältnis der Bestimmbarkeit zwischen dem „potentiellen Dasein“ des Gedichteten und der hyle, die ja allenfalls negativ erkennbar ist, sich verschiebt. – Es wird noch weiter zu sehen sein, in welcher besonderen Weise im Potentiellen dieses „Holzes“ oder „Waldes“ auch Benjamins Kritik des „griechischen“ Prinzips begründet ist, also seine Kritik an der Intention auf die reine Form, auf die höchste Aktualität. Der Feststellung allerdings, daß Leben in einer Hinsicht der Träger des Gedichts ist, ist jedoch hinzuzufügen, daß sich andersherum auch formulieren läßt, daß das Gedicht das Leben trägt. Diese eine Hinsicht, in der sie sich gegenseitig halten, ist die des Gedichteten, das sie zueinander verhält, aber auch auseinanderhält in dem Maße, wie sie in ihrer vollkommenen Aktualität oder Verwirklichung ununter253 GS II.1, 106. Vgl. auch Benjamins Notizen zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, die seine Auseinandersetzung mit der Aristotelischen dunamis im Zusammenhang mit Calderons Trauerspielen belegt, GS I.3, 953. Für das deutsche Barockdrama schloß Benjamin diesen Einfluß jedoch aus. Vgl. GS I.1, 240-241. 254 Hyle, was bei Aristoteles die Grundlage für etwas zu Erscheinendes gibt, ist technomorph – das heißt, die Stoff-Form-Einheit ist schon gegeben, wie Benjamin es sowohl für das Gedicht als auch für das Gedichtete feststellt. Im Sinne von „Nutzholz“ trägt sie jeweils die Potentialität einer neuen Prägung in sich. In seiner weitesten Konsequenz ist hyle auch das, was nicht erkennbar ist als solches, also wie Leben und Gedicht.

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scheidbar zu werden drohen. Ihre Gleichheit ist, nach einem Ausdruck, der von Benjamin betont wird – „Vergleichheit“.255 Das „Identitätsgesetz“ als Prinzip des Gedichteten kennt nur noch Verhältnisse und keine als solche erfaßbaren Relata: „Wie zwei Waagschalen: man beläßt sie in ihrer Gegenstellung, doch hebt sie vom Waagebalken“.256 Bestimmbar, kritisierbar, lesbar: das ist das Tragen des Gedichteten als Aufgabe der Kritik. Der quantitative „Mangel an Bestimmungen“ ist es nicht,257 der das Gedichtete das Lesbare des Gedichts sein läßt. Dennoch ist es als der Bereich der potentiellen Bestimmungen, als das, in dem von der singulären Bestimmung des Gedichts abgesehen wird, eine Lösung und Lockerung. Dabei ist es mehr als ein erhabener Scherz, daß gerade die Kraft dieses Potentiellen auf seiner Schwäche beruht. Eine bedeutende Parallele hierzu läßt sich in der romantischen Theorie der – kritischen – Prosa als Idee der Poesie ausmachen. Benjamin sollte Novalis zu diesem Problem in seiner späteren Dissertation ausführlich zitieren: „Wenn die Poesie sich erweitern will, so kann sie es nur, indem sie sich beschränkt; indem sie sich zusammenzieht, ihren Feuerstoff gleichsam fahren läßt und gerinnt. Sie erhält einen prosaischen Schein, ihre Bestandteile stehen in keiner so innigen Gemeinschaft – mithin nicht unter so strengen rhythmischen Gesetzen – sie wird fähiger zur Darstellung des Beschränkten. Aber sie bleibt Poesie […] Je einfacher, gleichförmiger, ruhiger auch hier die Bewegungen der Sätze, je übereinstimmender ihre Mischungen im Ganzen sind, je lockerer der Zusammenhang, je durchsichtiger und farbloser der Ausdruck – desto vollkommener diese im Gegensatz zu der geschmückten Prosa – nachlässige, von den Gegenständen abhängig scheinende Poesie. – Die Poesie scheint von der Strenge ihrer Forderungen hier nachzulassen, williger 258

und gefügiger zu werden“.

Trotz Benjamins polemischer Verwendung des „Schwachen“ oder „Schlaffen“, das die mißverstandene „Lebensnähe“ schlechter Dichtung als „stofflich, formlos, unbedeutend“ kennzeichnet,259 ist es die schwächere Fassung des besprochenen Hölderlin-Gedichts, „Dichtermuth“, die

255 GS II.1, 122. 256 GS II.1, 112. 257 GS II.1, 106. 258 GS I.1, 101. Hingewiesen sei hier noch einmal auf das Problem „Ausdruck“: „je durchsichtiger und farbloser“ er ist, desto höher die „erweiterte“, höhere Poesie und damit die Kritik. Dies zeigt einmal mehr, wie sehr Benjamins „Ausdrucksloses“ sich mit Hölderlins „Nüchternem“ und dem Kritikbegriff der Romantik berührt. 259 GS II.1, 107.

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einen Zugang zu „Blödigkeit“ gewährt, wenn auch nur „schwer“260 – so dicht gefügt, so unlesbar als solches erscheint es. Auch bei Hölderlin findet sich das Problem der Erkennbarkeit in Bezug auf eine Schwäche artikuliert. Es lohnt sich, das Fragment über „Die Bedeutung der Tragödien“, das aus dem gleichen Jahre wie „Blödigkeit“ stammt, 1803, in seiner ganzen Länge zu zitieren: „Die Bedeutung der Tragödien ist am leichtesten aus dem Paradoxon zu begreifen. Denn alles Ursprüngliche, weil alles Vermögen gerecht und gleich getheilt ist, erscheint zwar nicht in ursprünglicher Stärke nicht wirklich sondern eigentlich nur in seiner Schwäche, so daß rechteigentlich das Lebenslicht und die Erscheinung der Schwäche jedes Ganzen angehört. Im Tragischen nun ist das Zeichen an sich selbst unbedeutend, wirkungslos, aber das Ursprüngliche ist gerade heraus. Eigentlich nemlich kann das Ursprüngliche nur in seiner Schwäche erscheinen, insofern aber das Zeichen an sich selbst unbedeutend = 0 gesetzt wird, kann auch das Ursprüngliche, der verborgene Grund jeder Natur sich darstellen. Stellt die Natur in ihrer schwächsten Gaabe sich eigentlich dar, so ist das Zeichen wenn sie sich in ihrer stärksten Gaabe darstellt = 0“.261

Es sei daran erinnert, daß Benjamin zu Beginn seiner Vorbemerkung die Tragödie als den bevorzugten Gegenstand der Ästhetik bezeichnete. Und auf die Frage der Ästhetik als Wahrnehmung und Erkenntnisbedingung ist hier, im Zusammenhang mit dem Zeichen, zurückzukommen. Peter Szondi deutet in seinem Kommentar des Fragments die Bedeutung der Tragödie als Beziehung des Menschen auf die Natur über die Kunst.262 Aufgabe der Tragödie als Kunstgattung speziell sei es, das Ursprüngliche erscheinen zu lassen, die Natur in ihrer vollen Stärke, indem das Zeichen der Tragödie eliminiert wird, und zwar als Unterlegenes gegenüber der Naturgewalt im Tod. „Dieses Zeichen ist in der Tragödie der Held“ – so Szondi. Diese Schwäche also, in der sich die Natur darstellt, und ihre Stärke, sofern ihre Schwäche in der Darstellung selbst vollkommen schwach gesetzt wird, finden ein Echo im Titel des Gedichts „Blödigkeit“ – was ursprünglich „Schwäche“ bedeutet. Für Benjamin benennt Blödigkeit das Verhalten des Dichters, des Helden, gegenüber der Welt, nämlich als völlige Passivität.263 Der Dichter, in seinem Tode, macht je260 GS II.1, 111. 261 Hölderlin, Friedrich. Sämtliche Werke und Briefe, Band II. München: Hanser, 1992, 114. 262 Szondi, Peter. Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967. 170-172. Szondi datiert das Fragment auf die Zeit vor 1800. 263 Vgl. GS II.1, 125.

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doch auch die „Kunst“ in ihrer stärksten Gabe erkennbar. Und nicht zuletzt liegt in dem Verhalten des „Helden“, der „Tat“ seines Todes, insofern sie Erkenntnis ermöglicht, ein emanzipatorischer Ansatz. Dieser ist nicht nur von Benjamin in seiner späteren Schrift über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ für die Tragödie herausgestellt worden;264 auch für seine Auslegung von „Blödigkeit“ wird sich dieser Aspekt in einem präzisen Sinn als wesentlich erweisen. Benjamins Lektüre der Hölderlin-Gedichte stellt dar, was er in seiner Vorbemerkung als Methode erläutert: die Lesbarkeit und Kommentierbarkeit der Gedichte aus sich selbst heraus. Soweit diese sich selbst tragen, sich selbst begründen und ihren Stoff und ihre Form sich gegenseitig aufheben lassen, ist für Benjamin das Gedichtete dieser Gedichte – das Gedichtete. Es findet sich benannt im Gedichttitel, der sich von „Dichtermuth“ zu „Blödigkeit“ präzisiert: also die Haltung des Dichters zur Welt, sein in der Passivität und „Blödigkeit“ beruhender Mut. Entsprechend den Verhältnissen, die Benjamin zwischen Leben und Gedicht über das Konzept des Gedichteten feststellte, finden sich in den Gedichtlektüren zwei Ordnungen von aufeinander verweisenden Elementen: zum einen die Reihe Lebendige – Raum – Fläche – Stoff, zum anderen Götter – Zeit – plastische Gestalt – Form. Zugeordnet sind sie einander über den Gesang des Dichters, als extreme Funktionseinheiten und in ihrer wechselseitigen Durchdringung. In der Architektur von Benjamins Aufsatz – sein Text folgt in seiner Konstruktion der zunehmenden „architektonische[n] Bedeutung“ der Gedichtfassungen – beruht auch die immer weiter in die Komplexität gehende „Fügung“ von Elementen auf diesen Beziehungen.265 Hervorzuheben ist die vor diesem Hintergrund dissonante Neigung fort vom „griechischen“ hin zum „orientalischen“ Prinzip, das assoziiert ist mit der Reihe der Lebendigen, dem „Volk“, als der flächenhaft-sinnlichen Erstreckung des Schicksals. Es ist dabei Benjamins besonderer Zugang zum Gedicht, das Teppichmotiv über die Assoziation des Ornaments mit dem Orientalischen in Verbindung zu bringen.266 „Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?“ – auf diese zweite Zeile von „Blödigkeit“ bezieht sich Benjamin, wenn er das Volk als „Zeichen und Schrift 264 Vgl. GS I.1, 287-288. 265 GS II.1, 120; 106. 266 Der Begriff des „Orientalischen“ erscheint bei Hölderlin in einem Brief an Friedrich Wilmans vom 28. September 1803. Während Benjamin, was „Dichtermuth“ und „Blödigkeit“ angeht, wahrscheinlich mit der von Wilhelm Böhme herausgegebenen Ausgabe der Gesammelten Werke Hölderlins arbeitete (Leipzig/Jena: Diederichs, 1905), die den Brief an Wilmans nicht enthält, lag dieser jedoch sowohl in Hölderlins Ausgewählten Briefen (Hg. von Wilhelm Böhme. Jena: Diederichs, 1910, 327) als auch im Band V der Hellingrath-Ausgabe von 1913 vor (329-330).

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der unendlichen Erstreckung seines Schicksals“ bezeichnet. Dieses Schicksal, in seiner Teilhabe an der göttlich-geistigen-zeitlichen Ordnung, ist das des Dichters, das des Gedichteten. Der Beginn der zweiten Gedichtstrophe – „Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!“ wird von Benjamin als die „Wahrheit der Lage“ gelesen, die Identität und gegenseitige Aufhebung von Bestimmendem und Bestimmtem.267 Ein Schicksal, in dem alles gelegen ist, bestimmt das Leben nicht in größerem Maße, als es auch von diesem bestimmt wird. Insofern in den Lebendigen die anschaulich-sinnliche Seite des Gedichts verkörpert ist, erstreckt sich mit ihnen als unendliches Schicksal das Aktualisierbare ihrer Bedeutung. Die „Wahrheit der Lage“ begründet die Wahrnehmbarkeit des Gedichts so, wie sich die Zeichen des Buchstabenteppichs – wie sie als gedrucktes Gedicht dem Leser auf einer Seite vorliegen mögen: im Extrem Vertreter einer stummen Materialität – zu der geistig-göttlichen Ordnung des Gedichts fügen.268 „Wahrnehmung ist Lesen“ – dieses schon zitierte Fragment aus dem mittelbaren Kontext des Hölderlin-Aufsatzes setzt sich fort: „Lesbar ist nur in der Fläche [E]rscheinendes“.269 Das Zeichen ist eine Schnittstelle der beiden Ordnungen. Bevor nach dem Schnitt dieser Stelle gefragt werden kann, bleibt zur geistig-göttlichen Ordnung zu sagen, daß sie, als griechisches Prinzip der geistigen Gestalt, ihr angestammtes Privileg als Intention auf die reine Form verliert, indem dieses Prinzip an sein Äußerstes geführt sich zurückwendet. Benjamin nennt diesen Umschlag des formgebenden Prinzips „Versachlichung“ und „Vergegenständlichung“. Nicht dem selbstgestalteten Gott, dem, der sich unendlich aktualisiert, sondern „Einem anderen gebührt die Mitte dieser Welt“.270 Der Ausgleich zur Mitte und ins Mittel, zum getragenen Träger hin, ist der Ausgleich zum Tod des Dichters hin. Die gewendete höchste Form wird „zu einer gleichsam eingesargten Plastik, in der die Gestalt mit dem Gestaltlosen identisch wird“.271 In dieser Formulierung Benjamins klingt

267 GS II.1, 115; 117. 268 Angemerkt sei hier, daß in Georges Titelgedicht zum Zyklus Der Teppich des Lebens eben eine solche Stummheit – nicht zuletzt die des Lebens – erst in der Lektüre zum Leben „erweckt“ wird (vgl. George, Werke I, 190. Diese im Gedicht angedeutete Doppelheit des Lebens durchzieht übrigens auch die frühen Schriften Benjamins). Der Bezug auf George – allerdings in kritischer Absicht – knüpft sich also auch im Teppichmotiv von „Blödigkeit“ an. 269 GS VI, 32. 270 GS II.1, 122. 271 GS II.1, 120. Die Erwähnung des Sarges verweist auf Hölderlins Brief an Boehlendorff vom 4. Dezember 1801 (in: Hölderlin, Werke II, 912-914, hier 913): „Denn das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn,

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zugleich das eigentliche „Leere“ des „tragischen Transports“ aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus an. Das Gedichtete von „Dichtermut“ und „Blödigkeit“ ist also das Gedichtete, insofern es sich bestimmt als das, was Benjamin – in seiner nun genauer erfaßbaren Aktualisierung der Hölderlin-Gedichte – in ihnen mit dem Ausgleich aufs „Orientalische“ als dem „anderen Griechischen“ erweckt: das kritische Vermögen von Hölderlins theoretischen Schriften. Nachdrücklicher ließe sich formulieren, daß Benjamin Hölderlins Kritik erweitert einlöst, und zwar indem er sie gegen das abgeschlossene und vollkommen aktualisierte Gedichtideal der George-Schule hält, das seine Parallele und wohl auch sein Vorbild in der Vorstellung von der Unkritisierbarkeit der Werke bei Goethe hat.272 Zum anderen ist das Gedichtete der Gedichte auch, in einem präzisen Sinne, „Leben“. Es ließe sich aber auch „Biographie“ nennen: Zeichen und Schrift als getragene Träger des „völlige[n] Leben[s]“.273 Unschwer ist in Benjamins Aufsatz auch Leben, seines und das eines anderen, als Aufgabe zu erkennen. Der rückgewendete Moment auf die Aufgabe des Gedichts, als Aufgabe der Kritik, löst also die gesonderte Gestalt wieder auf in die versachlichten Gewalten des Potentiellen. Der kritische Schnitt Benjamins geschieht im Namen desjenigen Holzes, derjenigen Vergänglichkeitserfahrung, die der Name benennt, indem er sie verfehlt. So wie der Fehl der Aufgabe, also der Fehl des Lebens, also der Tod und Todesmut des Dichters die Wahrnehmung des Gedichts ermöglicht. Was wäre nun wiederum die Wahrnehmbarkeit von Benjamins Aufsatz? Zunächst – wie verhält sich der Kritiker zum Dichter? Er tritt selbst in jene auflösende „Vergleichheit“ ein, er wird zum Dichter, indem er ihn als eliminierten wiederholt – oder, in einer bekannteren Formulierung: er liest, was nie geschrieben wurde. In diesem Sinne wiederholt Benjamin, der sich später selbst „Holz“ nennen und es in seine „Lebensflamme“ werfen sollte,274 Hölderlins Namen – Hölder, Holunder, Holz, Hain – in der hyle des Gedichteten. Wie ein Brief an Susette Gontard vom Juni 1799 bezeugt, sah

nicht daß wir in Flammen verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten“. 272 Vgl. auch Tiedemanns Nachwort zu Benjamin, Sonette, 89. Ihm zufolge ist Benjamins Theorie auf „Entstaltung“ gerichtet und damit gegen den Gestaltbegriff der George-Schule. Während zweiteres durchgängig zutrifft, sollte zumindest bemerkt werden, daß Benjamins eigener Umgang mit „Gestalt“ nicht eindeutig ist, insofern auch die „Gestalt“ ein gespaltener Begriff ist (wie zum Beispiel die „Wirkung“ im Brief an Buber) und die Entstaltung in sich schließen kann. Was Goethes Haltung betrifft, vgl. Benjamins Darstellungen in GS I.1, 110; 119; zur Übernahme dieser Ansichten bei Gundolf, Goethe selber betreffend, vgl. GS I.1, 158-159. 273 GS II.1, 113. 274 GB IV, 267.

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Hölderlin das sich, und ihn, Verzehrende seines Namens, seines Spitznamens „Holz“, ebenfalls deutlich: „Wenn ich an große Männer denke, in großen Zeiten, wie sie, ein heilig Feuer, um sich griffen, und alles Todte, Hölzerne, das Stroh der Welt in Flamme verwandelten, die mit ihnen aufflog zum Himmel, und dann an mich, wie ich oft, ein glimmend Lämpchen umhergehe, und betteln möchte um einen Tropfen Öl, um eine Weile noch die Nacht hindurchzuscheinen – siehe! da geht ein wunderbarer Schauer mir durch alle Glieder, und leise ruf’ ich mir das Schrekenswort zu: lebendig Todter!“275

Benjamin liest in „Blödigkeit“ jedoch noch einen anderen Namen, in welchen er Hölderlins Namen, Gedichtetes und Überschrift des Gedichts, übersetzt. Der Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ war Heinle gewidmet. Dies geht jedoch nur aus einer gestrichenen Stelle des George-Aufsatzes von 1928 hervor.276 Heinles Name wird nicht einmal dort, in der unveröffentlichten Passage, ausdrücklich erwähnt, aber die Tatsache der Übersetzung dieses Namens in das „kleine Wäldchen“, den Hain, ist im Aufsatz zu Stefan George evident. Wenn Benjamin später schreibt, er sei Heinle nicht im Leben, sondern in der Dichtung begegnet,277 dann wirft der Hölderlin-Aufsatz ein noch deutlicheres Licht auf die Bedingungen dieser Begegnung.278 Zum einen bezüglich ihres Mediums, der Dichtung; zum anderen durch das Wesen der Begegnung, im Sinne des „Treffens“, wie es aus dem Gedicht „Blödigkeit“ spricht. Wenn Benjamin es als das „unnennbare Glück der Jugend“ bezeichnet, in der Dichtung zu leben,279 dann kommt dem Dichter in diesem Glück darin eine besondere Rolle zu: im Gesang ist er „nichts als eine Grenze gegenüber dem Leben“.280 Der Dichter ist somit gehoben und gelöst ins Gedichtete, in den Gesang selber, denn auch diese sind eben eine solche Grenze, oder vielmehr ein Grenzbereich des Lebens. Der Ort des Dichters ist demnach der des Todes als Grenze des Lebens – und nicht das 275 Hölderlin, Werke II, 779. Zu Hölderlins Spitznamen „Holz“ vgl. zum Beispiel den Brief Magenaus an Neuffer vom November 1792 in Hölderlin, Werke III, 576-577. 276 Vgl. GS II.3, 1431. 277 Vgl. GS VI, 477 (aus der „Berliner Chronik“). 278 Vgl. § 35 in Wuttke, Volksaberglaube, 33-34: „‚Freund Hain‘ ist erst durch Claudius u. Musäus in Umlauf gekommen; der Sinn zweifelhaft; im Vogtlande soll früher ein Gott ‚Hain‘ verehrt worden sein“. Es sei erwähnt, daß auch Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung den Tod mit „Freund Hain“ adressiert. Vgl. Schopenhauer, Arthur. Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bände I und II. Hg. von Wolfgang Löhneysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, (4), 1993, § 41. 279 GS II.2, 623. 280 GS II.1, 125.

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ihm entgegengesetzte Reich, ein räumlich oder zeitlich aufgefaßtes „Jenseits“. Nichts Geringeres als die Vorgängigkeit und die Vorrangigkeit des Lebens steht im Hölderlin-Aufsatz in Frage, schon allein, indem es im Hinblick auf die Lektüre als Aufgabe erscheint und kritisch erschlossen werden muß. Unter diesen Umständen wird einsichtig, daß der Begriff des „Lebens“ in Benjamins Aufsatz implizit doppelt vorliegt. Mag dem Leben als „solchem“, oder, wie es in einem anderen Text Benjamins heißt, dem „bloßen“ Leben in seiner Unzugänglichkeit das völlig aktualisierte Gedicht entsprechen,281 dann kommt ihm seine Lesbarkeit erst durch seine Grenze, seine tödliche Endlichkeit zu. Das lesbare, kritisierbare, dem Lesen und der Erkenntnis zugängliche Leben ist dabei ein Überleben. Durchaus ist es möglich, dieses Leben im Gegensatz zum „bloßen“ als ein „höheres“ Leben aufzufassen, wie es die Übersetzung – die im weiteren Sinne bei Benjamin der Kritik vergleichbar ist – als „Überleben“ im Verhältnis zu den Werken bezeichnet.282 Benjamins Lektüre von „Blödigkeit“ suggeriert jedoch eine andere Verortung des Übertragens und Überlebens, und zwar in der Mitte, die mit dem Mittel und dem Vermittelnden übereins gebracht wird: „Offenbar ist, daß der Tod in der Gestalt der ‚Einkehr‘ in die Mitte der Dichtung versetzt wurde“.283 Benjamin sollte später das Gedicht „Blödigkeit“ im Essay zu den Wahlverwandtschaften aufgreifen, um den vitalistischen Geniebegriff mit Hölderlins „Genius“ zu konfrontieren.284 Er verlängerte dabei die Idee der „Versachlichung“, die er im Hölderlin-Aufsatz in ihrer Tödlichkeit vorstellte. Wenn der Dichter in „Blödigkeit“ seine Ermutigung ausspricht, erweist sich daran die Ungewißheit, inwieweit er überhaupt sich selbst anredet: „Drum, mein Genius! tritt nur / Baar in’s Leben und sorge nicht!“. Benjamin kommentiert: „Das ‚Leben‘ liegt hier außerhalb des dichterischen Daseins, es ist in der neuen Fassung nicht Voraussetzung, sondern Gegenstand einer mit mächtiger Freiheit vollzognen Bewegung“.285 In Benjamins Deutung steht der Dichter von vornherein unter dem Gesetz der Versachlichung; auch die Zeit hält inne, insofern die Bewegung von der zögerlichen Schwäche, die der Titel „Blödigkeit“ andeuten könnte, über die Ermutigung zum Schritt in die Einkehr eine angehaltene ist. Die „Freiheit“, die Benjamin diesem gehaltenen Eintritt ins Leben – Überleben – zuerkennt, gewinnt nicht viel, wenn man sie mit dem Hinweis auf Heinles Freitod, wenige Tage nach Beginn des ersten Weltkriegs, zu entschlüsseln meint. Jedoch eine 281 GS 282 GS 283 GS 284 GS 285 GS

II.1, 202 (in „Zur Kritik der Gewalt“). IV.1, 10. II.1, 124. I.1, 166. II.1, 116.

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genauere Betrachtung von „Freiheit“ als Modalität der „Bewegung“, qualifiziert obendrein durch „mächtig“, erlaubt vor dem Hintergrund des biographischen Datums weitreichende Einsichten in diesen Aufsatz, der den verborgenen Quellpunkt der Öffnung von Benjamins Denken auf Geschichtliches hin enthält. Der letzte Teil des Textes, zum Dichtermut als völliger Passivität, ist zu lesen unter Berücksichtigung der „mit mächtiger Freiheit vollzogenen Bewegung“, die, da sie das Leben auf seiner Grenze hält, dem geschichtlichen Überleben eröffnet. Indem sich der Dichter in seiner eigenen Elimination der Gefahr „baar“ und nackt preisgibt – also den Gewalten, die sich mythisch als solche der Natur geben – macht er die Gefahr als Ungeschiedenes aber Unterscheidbares erkennbar: „Die Größe der Gefahr entspringt im Mutigen – erst indem sie ihn trifft, in seiner ganzen Hingabe an sie, trifft sie die Welt“.286 Benjamin hat offen und öfter verborgen Zeugnis davon abgelegt, auf welche Weise ihn der Krieg erst im Tod Heinles getroffen hatte. Seine „Aktualisierung“ des Gedichtes von Hölderlin schöpft aus dem, was in ihm geborgen war und den Moment seiner Wahrnehmbarkeit erreicht hatte. Dieser ist in der „Wahrheit der Lage“, der „Gelegenheit“ benannt, die sich aus der einmaligen Fügung des Textes und seiner Lektüre ergab.287 Dem Gedichtetem entspricht dabei das Potentielle des Gedichts, insofern es dessen Lesbarkeit bestimmt. Im wahrsten Sinne des Wortes frappierend ist die verschobene Wiederholung, die sich in Benjamins späterer Lektüre von Goethes Wahlverwandtschaften vollzieht. Nicht nur ist es auch hier eine biographische Konstellation, die den Strahl der Lesbarkeit für Benjamin in den Text einfallen läßt, auch das Moment der „freien“ Entscheidung erscheint unter einem Hölderlinschen Himmel: sei es in der Nacktheit der Liebenden in der Novelle, die den Roman unterbricht, sei es im Zeichen des Sterns, der unerkannt über den Unglücklichen fällt und an die erlöste Welt der Novelle gemahnt.288 Deutlicher zeichnet in dieser kritischen Wiederholung der schlagende Aspekt des „Gehalts“ sich ab. Im Hölderlin-Aufsatz dient er einleitend als Synonym zum „Gedichteten“ und eröffnet so den Rahmen der methodologischen Referenzen – es kommen in einer beeindruckenden Liste Schiller, Novalis, Dilthey, die George-Schule, Aristoteles und die Vorsokratiker zusammen – mit Goethe.289 Indem der Dichter in „Blödigkeit“ in einer Reihe steht mit Leben und Aufgabe, Gesang, Gedichtetem und Gehalt, 286 GS II.1, 123. 287 Mit den späteren Begriffen des „zeitlichen Index“, das ein Phänomen mit sich führt, und dem „Jetzt der Erkennbarkeit“, kann die „Wahrheit der Lage“ durchaus in Verbindung gebracht werden. Das Konzept des „Jetzt der Erkennbarkeit“ stammt im übrigen aus dem Jahre 1917. 288 Vgl. GS I.1, 171; 200-201. 289 Vgl. GS II.1, 105.

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die alle ineins gezogen sind, können die Funktionen des Dichters und die des Wahrnehmenden, des Lesers und Kritikers in ihrer minimalen Verschiebung im Hinblick auf das Gedichtete bestimmt werden. Diese Verschiebung besteht in einer Wiederholung des Wiederholbaren, des Lesbaren, des Baren, was sagen will: der grundlosen Getragenheit und der Blöße in der Preisgabe. – Wie auch, freilich, der Wiederholung des „Dichters“ als verschwundenem. Mit der Elimination, dem Tod des Dichters steht die einzigartige und jeweilige Wahrnehmung des Gehalts in engstem Zusammenhang. Diese lesende Wahrnehmung prägt, stempelt und schlägt. Angemerkt sei, daß im Gehalt einer Münze sich ursprünglich Prägung und Metallwert unmittelbar entsprachen, so daß Prägezeichen und Gegenstand eine Einheit waren, die Münze gleichsam ein getragener Träger.290 Viel von der großen Dichte von Benjamins HölderlinAufsatz ist in der „Vergleichheit“ von personalen und poetischen Funktionen angelegt. Die Einmaligkeit des Gedichts „Blödigkeit“ ist geradezu auf die Wiederholbarkeit seines Charakters, seiner Haltung zurückzuführen, und sie entspricht dem Charakter des Dichters, seinem Mut.291 Wenn Benjamin hingegen im Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften auf die Frage hin „Hat sie Charakter?“ Ottilie diesen abspricht, 292 zeigt sich daran sowohl ihre Entfernung von der glücklichen Lösung wie auch die Verbindung, die der literaturtheoretische Begriff des Gehalts mit der erkenntniskritischen Zäsur eingeht. Die wilde Liebende der Novelle wie auch der „blöde“, mutige Dichter haben, sind Charakter. Sie sind entschieden – was durchaus nicht bedeutet, daß sie eine Entscheidung gefällt haben – und gehen in dieser Funktion der Entschiedenheit auf, sind in Form gelöst. Was sich hingegen kaum entscheiden läßt, ist, wer oder was trifft, und wer getroffen wird: die Wahrnehmung und dadurch zugleich Aufhebung der Gefahr vollzieht sich am Dichter, trifft ihn und an ihm wie auch durch ihn die „Welt“. Das heißt nicht notwendig, jede Wahrnehmung, jedes Lesen sei zugleich Erkennen.293 Wahrnehmung ist dem Bewußtsein nicht verpflichtet. In diesem Sinne kann auch das Schillerzitat verstanden werden, das Benjamin gegen Ende seines Aufsatzes lobend hervorhebt: „Das Gemüt des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des 290 Hier ließen sich auch einige Überlegungen zum Hervortreten des „Mals“ und dem Eingesenktsein des „Zeichens“ anschließen, wie Benjamin sie in „Über Zeichen und Mal“ entwickelt. Vgl. GS II.2, 603-607. 291 Diese Formulierung bedarf einer Präzisierung: Benjamin kritisiert in „Schicksal und Charakter“ die moralische Wertung, die in einigen Charakterzuschreibungen mitschwingt – so auch beim „Mutigen“ – jedoch steht der Mut des Dichters in „Blödigkeit“ außerhalb jeder moralischen Beurteilung; zudem ist das Schicksal aufgehoben in die Gelegenheit. GS II.1, 177. 292 GS I.1, 175. 293 Vgl. die Notizen zum Wahrnehmungsproblem, GS VI, 32.

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Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehn“.294 Benjamin pflichtet Schiller bei, um deutlicher mit dem Wort der „Zäsur“ auf Hölderlin zurückzukommen. Sie, die keinen Grund hat, ist der Grund aller Wahrnehmung, und in „Blödigkeit“, für Benjamin „völlige Passivität“, ist der Dichter ihr gleich die „unberührbare Mitte aller Beziehung“.295 Ungenannt bleibt Heinle, und ungeachtet der späteren, vorgeblichen und vergeblichen, Versuche Benjamins, den Dichter der Welt vorzustellen, legt Benjamins scheinbar aller Politik entrückter Aufsatz nahe, daß gerade das Verschwinden, das Bare, von Heinle das retten würde, was wahrnehmbar ist. Wiederum zu Heinle als einem anderen, dem Idioten von Dostojewski, – ohne sich dessen bewußt zu sein – schrieb Benjamin einige Jahre später. Dort fällt der Satz, er „stempelt alle Personen für immer mit diesem Leben, an dem sie teilhatten, sie wissen nicht wie“.296 Einige Fragen und Beobachtungen sind aus der Lektüre des Hölderlin-Aufsatzes mitzunehmen. Zunächst deutet sich an, daß der „Vergleichung“ aller Bestimmungen des Gedichts die Bedingung der Elimination zugrundeliegt, wie Benjamin sie in seinem Brief an Buber nennt, freilich in einen Bereich übertragen, der im Brief nur impliziert ist: den des menschlichen Lebens. Dieser äußersten Reduktion auf eine Grenze hin entspricht im Hinblick auf das „Leben“ der Tod. Als äußerste Grenze erscheint er jedoch auch als Unterbrechung und steht zugleich in der Mitte des Lebens, das von ihm getroffen ist: Rest und Rettbares des Lebens so wie Lesbares und Erkennbares des Gedichts verortet Benjamin somit kraft der Hölderlinschen Zäsur. Sie zeigt sich in den Gedichtkommentaren in ihrer Tragweite als Grundfigur Benjaminschen Denkens, indem sie gewendet als „Konstellation“ lesbar wird:297 „die unberührbare Mitte aller Beziehung“ und „Verbundenheit: als Einheit der Funktion von Verbindendem und Verbundenem“.298 Weiterhin erweist sich an ihr, der Zäsur, die politische Dimension von Benjamins scheinbar unpolitischer Literaturkritik. Die „Blödigkeit“ als Passivität des „orientalischen Prinzips“ ist nur insofern als Schwäche aufzufassen, als diese in ihrem Rückzug von jeglicher „aktueller“ Manifestation den Bereich des Vermögens und des Möglichen freigibt und erweitert. Benjamin liest nicht aufs Ge294 GS II.1, 125. Benjamin zitiert: Schiller, Friedrich. Sämtliche Werke, Band 4. Hg. von Karl Goedeke. Stuttgart: Cotta, 1877, 611 („Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“, aus dem 22. Brief). 295 GS II.1, 125. 296 GS II.1, 240. Benjamin zeigte sich überrascht, daß Scholem Heinle in der Besprechung des Idioten als unwillentlich Gemeinten erkannte. Vgl. GB I, 398. 297 „Grundfigur“ und „Konstellation“ sind hier als Tautologie unvermeidlich. 298 GS II.1, 125; 122.

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ratewohl in Hölderlins Gedicht Revolutionäres: im Absturz aus „alten Ordnungen“ findet die neue Reihung der „Menschen, Himmlische[n] und Fürsten“ zueinander statt,299 dabei dem dichterischen Prinzip der „harten Fügung“ folgend, das Zäsur und Konstellation in sich vereint.300 So kann denn gesagt werden, daß auch in diesem Hinblick der „Getragenheit“ ein besonderer egalitärer Zug innewohnt. Nicht auf die göttliche Form im Sinne der Entelechie hin geht die kritische Bewegung Benjamins, sondern sie ist ein Rückgang auf die „Materie“ als verzehrter und getilgter, als die reine Grenze des Dichters, „auch seinen eigenen Körper noch Tragendes“. Hieran schließt sich die Frage nach der Gefahr von Benjamins Hölderlin-Lektüre an. Weniger die Gefahr, wie sie in ihr erscheint, als die ideologische Gefahr des Aufsatzes, die sich im Problem des Opfers ankündigt. Entscheidend ist, so könnte die vorläufige Antwort lauten, das Ausbleiben jeglicher Ritualisierung. Daher wohl auch die Notwendigkeit des Verschweigens von Heinle und seinem Namen. So unterschlägt Benjamin am Ende des Hölderlin-Aufsatzes in seinem Zitat aus dem Gedicht „Herbst“ den zweiten Vers, der die christologische, ja messianische Dimension hervorhebt: „Die Sagen, die der Erde sich entfernen, / Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret, / Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen / Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret“.301

299 GS II.1, 112. 300 Vgl. GS II.1, 117. Benjamin kommt hier auf Norbert von Hellingraths Konzept zurück, das dieser in seiner Dissertationsschrift für Hölderlins Pindar-Übersetzungen entwickelte. Vgl. Pindarübertragungen von Hölderlin: Prolegomena zu einer Erstausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910, 18. Zugleich bildet sich in diesem Verweis der Spannungsbereich von Nähen und Fernen Benjamins zu Stefan George und seinem Kreis. Der Hölderlin-Aufsatz Benjamins kann somit als erste „kritische“ Auseinandersetzung mit der Georgeschen Ästhetik gelten. 301 Hölderlin, Werke I, 924.

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HIMMELSKÖRPER „Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt unbewußt ein glücklicher Mensch seines Daseins erfreut“.1

D r . N e b b i c h. D a s G l ü c k d e r L e hr e Sterne erfahren bei Benjamin eine Dopplung wie auch der um das Holz und das Wasser gruppierte Bildschatz. Gerade in seinem Aufsatz zu Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, in dem Benjamin sich pointiert mit dem Mythischen in Literatur und Literaturwissenschaft auseinandersetzt,2 geben sich Elemente aus diesen Bildbereichen unter dem Aspekt einer mythischen Naturauffassung ein Stelldichein. Kein anderer dieser Bereiche ist dort jedoch Gegenstand einer solch expliziten theoretischen Umwertung wie die Sterne, in Form des einzelnen Sterns, am Ende des Aufsatzes.3 Dieser Stern, der den Ort der „Zäsur“ des Romans bezeichnet, hält in seinem Fall über den Häuptern das Geschehen an. Er prägt so – wie Benjamin schreibt: als „Symbol“ – und als einzelner eine Konstellation in sich aus. Es ist die Konstellation von der mit Tod und Untergang endenden Romanhandlung und der Allegorie von den glücklich Liebenden in der Novelle. Fallend und auseinanderfallend ist dieser Stern, was die entgegengesetzte Deutigkeit betrifft, die er birgt – und in dieser Hinsicht schwerlich Symbol; Symbol hingegen ist er durch den Verweis auf den unendlichen Bereich, in dem die Gegensätze wiederum 1 2 3

Goethe, Johann Wolfgang. „Winckelmann und sein Jahrhundert“. In: Sämtliche Werke, Band 13. Hg. Ernst Beutler. Zürich: Artemis, 1954, 417. Benjamins Polemik ist dabei vor allem gegen Gundolfs Goethe gerichtet. Vgl. GS I.1, 200. Die Ausführungen über Astrologie (vgl. GS I.1, 150; 158) komponiert Benjamin gegen den fallenden Stern am Ende seines Aufsatzes, während das stehende, dunkle Wasser des Teichs mit dem reißenden Fluß der Novelle kontrastiert (vgl. GS I.1, 133). Der im Rahmen einer üppigen Vegetation im Roman Goethes vielgestaltig vertretene Wald ist nur mit einem Hinweis auf die Wendbarkeit der theoretischen Bedeutung bedacht, und zwar dem Hinweis auf Kant und „den kahlen Wald des Wirklichen“. GS I.1, 126.

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gelöst sind.4 Den Essay über die Wahlverwandtschaften abschließend kommentiert Benjamin den George-Vers „Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterne“, in welchem die Erlösungsverheißung als vorgezeichnete bedeutet ist. „Jene Liebenden ergreifen ihn nie“5 – so Benjamin. In diesem „nie“ allerdings liegt ihr Glück und ihre Erlösung.6 Dem Nu des Sternenfalls entspricht dieses Nie, wie auch dem gemeinsamen Liebestod – den Benjamin aus erfindlichen Gründen anführen mag, obwohl er den Wahlverwandtschaften äußerlich ist – und der unbedingten Entschlossenheit der Liebenden, der „wunderlichen Nachbarskinder“.7 So „verschwinden“ sie, „die Vereinten der Novelle […] gleichsam in der unendlich fernen Perspektive“,8 und in diesem Verschwinden benennt Benjamin das direkte Korrelat zum Glück, zur Erlösung. Es fügt sich nicht ganz zufällig, daß ein Text Benjamins, der die Frage der Darstellung – die Darstellung des Scheins und scheinhafte Darstellung – als geheimes Zentrum des Goetheschen Romans ausmacht,9 in gewisser Weise wiederum selbst das Glück zum Thema hat. Der Zusammenhang ist auf den ersten Seiten des Essays angesprochen, unter dem Stichwort der „Armseligkeit der Sachgehalte“ der Epoche der europäischen Aufklärung.10 Die Werke von Kant und Goethe stellt Benjamin als Exponenten zweier gegeneinander wogender geistesgeschichtlicher Strömungen vor, denen sich die „Erfahrung“, in seinem Wortgebrauch verstanden, gleichermaßen verschließt. Zu Beginn des Aufsatzes, zumal wenn man die einige Jahre früher verfaßte programmatische Schrift „Über das Programm der kommenden Philosophie“ berücksichtigt,11 mag sofort einleuchten, wie Benjamin dazu kommt, die Anmahnung der Vergänglichkeit gegenüber einer Aufklärung zu erneuern, die sich bei Kant in aller Folgerichtigkeit die Kontemplation der „Realien“ aus ihrer Anschauung verbietet. Jedoch was Goethe betrifft, von dessen besonderer „Richtung des Klassizismus“ Benjamin schreibt, ihr Denken sei „auf die geformten Gehalte, wie sie Leben und Sprache verwahrten“ gegangen, bedarf es einiger Ausführungen mehr, um ihm nachzuweisen, auch er habe sich notwendig um die Einsicht in die höhere Bedeutung der „Sach-

Vgl. auch zum Zusammenhang von Sternenferne und Erfüllung eines Wunsches: GS I.2, 635. 5 GS I.1, 201. 6 Benjamin spricht an der gleichen Stelle von „Erhabner Ironie“. Für diese mag der Reim „nie“ – „Ironie“, an dem entlang sich das Argument aufzieht, ebenfalls nicht unerheblich sein. 7 Vgl. GS I.1, 187-188. 8 GS I.1, 171. 9 Vgl. GS I.1, 125; 187. 10 GS I.1, 126. 11 GS II.1, 157-171. Der Aufsatz stammt aus dem Jahre 1917. 4

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gehalte“ gebracht,12 wenn auch nicht um ihre Darstellung. So kann Benjamin unter den Voraussetzungen, die sich als die seinigen in „Goethes Wahlverwandtschaften“ zu erkennen geben, mit Fug schreiben: „der Gegenstand der Wahlverwandtschaften ist nicht die Ehe“,13 auch wenn diese Aussage zunächst verwundern mag. Lediglich ein Beispiel, wenn auch das bezeichnendste, ist ihm die Ehe in Goethes Darstellung für eine Weltsicht, in der versucht wird, selbst das Ethische aus den Naturgegebenheiten abzuleiten. Über weite Strecken verfolgt Benjamins Werk die späten Auswirkungen des Verfalls der beatitudo und der Jenseitsgewißheit der mittelalterlichen Heilslehren – sicherlich am deutlichsten in der Abhandlung über den Ursprung des deutschen Trauerspiels, aber auch in seinen Arbeiten zur deutschen, europäischen Literatur seit der Aufklärung. Die „Emanzipation“ des Bürgertums geht Hand in Hand mit einer Diesseitsverhaftung, die, was naheliegt, fließende Übergänge zur vielgestaltigen Abdrängung aller Todeserscheinungen aufweist. An Goethe, am Menschen wie an seinen Werken, bestätigt sich diese Beobachtung, und sie wird auch Benjamins spätere Untersuchungen zum bürgerlichen neunzehnten Jahrhundert in Europa prägen.14 Folglich, und darin ist Goethes Roman so exemplarisch wie herausragend, stellt sich das Problem der Darstellung verschoben und verstellt um den Bezirk, der gemieden wird. Nur auf der inneren Grenze, in der ein- oder vielmehr ausgeklammerten Novelle, hat das Glück in den Wahlverwandtschaften seinen Ort. Das französische achtzehnte Jahrhundert brachte eine wahre Flut an Veröffentlichungen über das Glück. Die meisten von ihnen waren an der Frage nach der Erreichbarkeit und Bewahrung des Glücks orientiert, also an der technischen Beherrschung des diesseitigen Menschenlebens.15 Es finden sich jedoch auch Einsichten in das Wesen des Glücks, die weitab vom üblichen Schema „Was ist das Glück? – Es ist …“ sich einstellen, ja die Deutung der Novelle durch Benjamin vorwegnehmen – auch, was das Gefüge der literarischen Gattungsaspekte betrifft, wenn am Ende der Roman und die ihn unterbrechende Novelle nach den Gesetzen des Dramas sich zueinander verhalten. Im Discours sur le bonheur der Madame du Châtelet steht Glück in Abhängigkeit von Darstellung, zunächst einmal in einem ihrer Sonderfälle, der Theateraufführung – einer représentation: „les malheureux sont intéressants, les gens heureux sont inconnus [...] Voilà pourquoi lorsque deux amants sont raccommodés, 12 13 14 15

GS I.1, 126. GS I.1, 131. Zu Goethes Verdrängung des Todes vgl. GS I.1, 151. Im Extrem zeigt sich dies bei La Mettrie; vgl. Mauzi, Robert. L’Idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris: Armand Colin, 1960, 249-252.

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lorsque leur jalousie est finie, lorsque les obstacles qui les séparoient sont surmontés, ils ne sont plus propres au théâtre ; la pièce est finie pour les spectateurs“.16 Das Glück, das Stück und seine Fährnisse überstanden, wenn auch vielleicht nicht eigentlich überlebt zu haben, erinnert an den Rat, niemanden zu den Glücklichen zu zählen, bevor nicht sein Leben geendet habe.17 Wie in der Heilslehre als Ganzheit, Erfüllung und Lösung einer Geschichte verstanden, mag Glück für den Betrachter nicht nur etwas Langweiliges haben und somit eine schlechte dramaturgische Wahl sein, sondern sich auf grundlegendere Weise der Darstellung entziehen. Im Nach- und Überleben, zuweilen in Erstorbenheit, ist Glück als Glückseligkeit allen irdischen Wechselfällen und Geschichten fremd. Unter der Bedingung eines unabgeschlossenen Zeitlaufs jedoch kündigt dem Leser oder Zuschauer kaum eine andere Äußerung größere Gefahr an als die Behauptung des Glücks: es scheint sein Glück in Form seiner Widerlegung herauszufordern. Benjamin arbeitete dies an einer Haltung eines anderen Zeitalters heraus, an der „Hybris“, die er aus einem vermeintlichen Anspruch auf Sieg und Glück sich erheben sieht. „Glück“ ist jedoch nichts als eine Gabe, es ist gegeben wie Sprache oder Namen und niemals verdient oder verschuldet.18 Die Bedingungslosigkeit des Glücks zeichnet sich indirekt auch an einer Stelle von Rousseau ab (dem Madame du Châtelet eine Zeitgenossin war), eine Stelle, die sich jedoch zunächst in den Dienst der lebenstechnischen Beherrschung zu stellen scheint. „Tout homme veut être heureux; mais pour parvenir à l’être il faudrait commencer par savoir ce que c’est le bonheur“.19 Vom Glück zu handeln, vom „Glück“, kann von diesen Worten aus zunächst nur eine Frage der gelingenden Übersetzung von „bonheur“ sein. Um glücklich zu sein, genauer „heureux“, bedarf es ihrer jedoch auch, insoweit Übersetzung oder Übertragung, gänzlich über das Vermitteln zwischen Landessprachen hinaus, wesentlich ist für Erkenntnis und Wissen. Der Frage nach der Übersetzung gesellt sich also die nach der Erkennbarkeit hinzu. Was heißt es, Glück vor allem als Ziel der Erkenntnis aufzufassen? Folglich als etwas, das jeweils noch anzustreben ist, oder vielmehr, zu dem der Beginn zu einem Übergang und einem Ankommen – so die beiden Grundbedeutungen von „parvenir“ – noch gesetzt werden muß durch ein Erkennen? Der instrumentale und zeitlich lineare Charakter der Rousseauschen Empfehlung, die Glück in der schlichten Beleuchtung durch die richtige Technik zu zeigen scheint, 16 Madame du Châtelet. Discours sur le bonheur. Hg. und Anm. von Robert Mauzi. Paris: Société d’Édition „Les belles lettres“, 1961, 4. 17 Vgl. Aristoteles. Nikomachische Ethik, 1100a 10. 18 Vgl. „Das Glück des antiken Menschen“. GS II.1, 126-129, hier 128. 19 Rousseau, Jean-Jacques. Traité sur l’éducation. Zit. n. Tatarkiewicz, Wladislaw. Analysis of Happiness. Den Haag: Nijhoff, 1976, 1.

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löst sich bei der Betrachtung des zuallererst vorgestellten Menschen, „Tout homme“. Sofern die Richtung seines Willens durch das Glücklichsein bestimmt ist, scheint er, der Mensch schlechthin, als bekannt vorausgesetzt. Das Glück, das er anstrebt, ist jedoch nicht gegeben in Rousseaus Satz. Es bliebe immer zu bilden, durch Erkenntnis genauso wie durch Willen. Die willentliche Ausrichtung des Jedermanns auf etwas, das Rousseau uns nicht gibt, eine Richtung also ohne ein Ziel, das präziser zu bestimmen wäre als durch das Wort „Glück“, läßt die Bestimmtheit des Menschen durch seinen Glückswillen anders lesbar werden. Nicht nur schleicht sich die Frage ein, wie es um die Erkennbarkeit von Glück überhaupt steht, also die Übersetzbarkeit des Wortes „Glück“ in etwas noch zu Findendes. In der leeren Ausrichtung, der Brechung der Instrumente der Lebensbeherrschung über Rousseaus abgründiger Bedingung, wird auch die Einheit und Bekanntheit des Menschen, „tout homme“, zweifelhaft. Wer ist also dieser „tout homme“? Die Frage des Namens ist im Kreis derer um Glück und Darstellung enthalten. Steht und fällt „der Mensch“, also jedermann, mit dem Glück, so steht und fällt, wörtlich, das Glück mit der Frage der Darstellung. Daß es auf Darstellung angewiesen ist, um Glück gewesen zu sein, und zugleich die Frage nach seinem Wesen in eine Myriade von Definitionen aus Theologie, Philosophie und Volkstümlicherem zerstäubt – die Widersinnigkeiten des Glücks sind in die besondere Art der Überschneidung von Begriff, Idee und Wort gebettet, die beispielsweise die auf lateinisch „cadere“ zurückgehende Entsprechung des Glücks, „chance“, neben die dem „stehen“ Verwandten wie „destin“ stellt. So verhält es sich mit dem Glück: es zerfällt, steht und fällt wie der Stern. – Zum einen zerfällt er in seiner etymologischen Befragung: der Stern, der den Stoff des ihn bedeutenden Wortes aus dem quer über den Himmel Ausgestreuten und Verteilten bezogen haben dürfte.20 Zum anderen fällt der Stern als Zäsur in den Text und gewährt ihm Glück: die Darstellung der Aufhebung der Darstellung in der Erlösung. Der weitere Zusammenhang von Namen, Darstellung und Stern, der die Wahlverwandtschaften kennzeichnet, erhellt sich – zugegeben, auf Umwegen – aus einer späteren Notiz Benjamins, die auf den ersten Blick wenig mit Sternen zu tun hat: „Bin ich der, der W.B. heißt, oder heiße ich bloß einfach W.B.? Das sind zwei Seiten einer Medaille, aber die zweite ist abgegriffen, die erste hat Stempel-

20 Die Idee des überreichlich Ausgeschütteten findet sich wieder in den Mythologien, z.B. als die quer über den Himmel versprühte Muttermilch der Hera, ein dem Füllhorn der Fortuna eigentümlich verwandtes Bild. Vgl. Duden Herkunftswörterbuch, Einträge „Stern“, „Strahl“ und „Strand“.

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DER KONSERVATIVE CHARAKTER glanz. Diese erste Fassung macht es einsichtig, daß der Name Gegenstand einer Mimesis ist. Freilich ist es deren besondere Natur, sich nicht am Kommenden sondern immer nur am Gewesnen, das will sagen: am Gelebten, zu zeigen. Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet“.21

Was soll sich am „Habitus eines gelebten Lebens“ der Figuren der Haupthandlung in den Wahlverwandtschaften zeigen, wenn nicht sein Fehlen? Benjamin weist darauf hin, daß der Roman kaum Namen enthält;22 dies verschärft sich noch darin, daß von den wenigen vorkommenden die wichtigsten als nahe verwandt sich erweisen: Eduard Otto, Otto, Ottilie, Charlotte: sie alle heißen „Otto“. Ein Vermeiden bewahrheitet sich hieran ebenso wie die Unentschiedenheit der Personen, die unwillkürlich der Ungeschiedenheit der Namen entsprechen mag. Die eben zitierte Notiz zum Namen benennt, was Goethe sowohl vermeidet als auch, was ihm in der Haupthandlung der Wahlverwandtschaften entgeht: „Stempelglanz“. – Ottilie, wie auch ihrer Entsprechung in Benjamins Leben, der Widmungsträgerin seines Essays, wird auffälligerweise eine „stumpfe“ Schönheit zugeschrieben.23 – Nicht so sehr die Prägung im Namen als das Prägende überhaupt ist dem Goetheschen Denken in seiner gewollten Form fremd. Benjamin deutet darauf, daß Goethe wie Kant trotz unterschiedlichster Auffassungen über die „Sache“ an ihrem Gehalt beide gleichermaßen vorübergehen, indem sie Ableitbarkeit zum Prinzip einsetzen, wo alle Kontinuität im Schlag und Übersprung verloren geht. Denn der Sachgehalt ist „erfaßbar allein in der philosophischen Erfahrung ihrer göttlichen Prägung, evident allein der seligen Anschauung des göttlichen Namens“.24 Der Sprung im menschlichen Namen ist Siegel der Endlichkeit seines Trägers. Eine Endlichkeit, deren geistesgeschichtliche Manifestation wie auch ihre sich wandelnde Verdrängung Benjamin anhand der Wahlverwandtschaften für Goethe nachzeichnete. Benjamins Notiz über seinen Namen führt verborgen doch unbeirrt auf die Sterne wie sein Essay auf den von Hölderlin vorgezeichneten Stern. Deutlich wird dies in ihrer Fortsetzung, einer Gesprächsaufzeichnung über die Opern Elektra und Carmen, deren Bedeutung für den Zusammenhang in den Frauennamen ihrer Titel besteht: „wiefern ihre Namen schon ihren eigentlichen Charakter in sich enthalten und so dem Kinde lange schon, ehe es diese Opern noch kennt, eine Ahnung von ihnen geben […] Die Erkenntnis im Namen ist am meisten im Kinde aus21 GS V.2, 1038. 22 Vgl. GS I.1, 135. 23 Vgl. GS I.1, 186; siehe auch GS I.1, 175 („Pflanzenhaftes Stummsein“ und „Verschlossenheit“). Zu Jula Cohn vgl. GS VI, 493 („Berliner Chronik“). 24 GS I.1, 128.

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gebildet“.25 Es ist der Bereich der Mimesis, der bislang noch aus dem gedanklichen Gefüge von Namen, Darstellung, und Stern zu heben ist. Die Namensnotiz Benjamins aus seinen ersten Aufzeichnungen zur Passagenarbeit mutet an wie eine Studie zu den späteren Aufsätzen „Über das mimetische Vermögen“ und die „Lehre vom Ähnlichen“. Dort erfährt der Bereich der Sterne und ihrer Deutung, kurz der Astrologie, im Zuge der Erschließung des Archivs aller Ähnlichkeiten in der Sprache eine Rehabilitation im Benjaminschen Sinne – und zwar im Rückgang auf das in ihrem Ursprung erschlossene Potential, das Vermögen. So wie die „Erkenntnis im Namen“ im Kind am stärksten ist, ist es die Fähigkeit zur Nachahmung überhaupt. Diese Nachahmung ist unwillkürlich wie universell: „Wenn aber wirklich das mimetische Genie eine lebensbestimmende Kraft der Alten gewesen ist, dann ist es kaum anders möglich, als den Vollbesitz dieser Gabe, insbesondere die vollendete Anbildung an die kosmische Seinsgestalt, dem Neugeborenen beizulegen. [Absatz] Der Augenblick der Geburt, der hier entscheiden soll, ist aber ein Nu“.26

Die Geburt ist das Prägende, insofern es der Moment ist, in dem die Benennung des Kindes mit der Entscheidung über seine Endlichkeit zusammenfällt. In seinem Namen ist der Ursprung, „flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation“ besiegelt. Der so, im Namen, bewahrte mimetische Vorgang entspricht der „Konstellation“ der Welt, des Gestirnstandes bei der Geburt. Das Horoskop wird bei Benjamin zum „Thema“ des Lebens,27 als sein Charakter und als der Name, der diesem Leben Aufgabe ist. Aus dem Gestempeltwerden mit dem Einmaligen des Namens heraus liest sich eine Bemerkung Benjamins gegenüber Ernst Schoen: „die Einsicht in das Wesen des Glücks als welches ist: alles im Leben so zu tun und zu fühlen, daß es auf unser Geborensein zurückgeht“.28 „Einmal ist keinmal“ – bezeichnenderweise gibt es in Benjamins Werk gleich zwei Fragmente, die diese volkstümliche Redewendung zum Titel tragen.29 Und noch öfter wird eine Formel wiederholt und variiert, in der Einmaligkeit als Keinmaligkeit und Wiederholung als die doppelte

25 GS V.2, 1038. 26 GS II.1, 206. 27 „Thema“ ist ein anderes Wort für „Horoskop“. Vgl. Roob, Alexander. Alchemie und Mystik. Köln: Taschen, 1996, 143. Die gleiche Stelle merkt die lateinischen Entsprechungen „constellatio“ und „genitura“ an. 28 Aus einem Brief an Ernst Schoen vom 20. Juli 1916. GB I, 329. 29 Vgl. GS IV.1, 369; 433-334.

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Gestalt des Glücks bezeichnet wird.30 Benjamin erweist sich dementsprechend in den Aufsätzen, die in den folgenden Teilkapiteln diskutiert werden sollen, als von der mehrmaligen Keinmaligkeit des Namens so bestimmt, wie es dessen Einmaligkeit vorsieht. Ausdrücklich vermerkt ist in der Notiz „Agesilaus Santander“, daß der Name, in diesem Fall der „geheime“, sich als erneuerter präsentieren könne, sobald er sich seinem Träger enthülle.31 Die Wahrnehmung des eigenen, gegebenen Namens ist fürwahr das „Thema“ eines Lebens, eine Lebensaufgabe. Nicht Schicksal, sondern Charakter ist es, der sich im Namen als einer Konstellation lesen läßt.32 Pseudonyme, Spitz- und Kosenamen sind dabei insofern Aspekte einer solchen Aufgabe, als sie Splitter des gegebenen Namens einsammeln. „Walter“, das ist „der, der herrscht oder herrschen soll“, ein Name germanischer Herkunft,33 und „Benjamin“, hebräisch, bedeutet „Sohn meines Glücks“, „Sohn des Glücks“.34 Dem Namen Benjamins ist seine Kehrseite, der Wechselhaftigkeit des Glücks und der Dopplung des Wortes gehorchend, schon im Ursprung beigelegt. Der erste Name des biblischen Benjamin war der ihm zuvor von seiner sterbenden Mutter gegebene, „Benoni“: „Sohn meines Unglücks“.35 „Nebbich“ ist der Name, in den Benjamin diesen Gesichtspunkt seines Familiennamens übersetzt. Er legte ihn sich in privaten Situationen zur Selbstcharakterisierung bei. „Dr. Nebbich“ war er in seiner Funktion als Rektor der Universität Muri.36 Besagte Universität, benannt nach dem Vorort von Bern, in dem die Benjamins und Scholem eine 30 Vgl. GS I.2, 682-683 (aus „Zentralpark“); GS II.1, 313 („Zum Bilde Prousts“); GS VI, 202; GS VI, 523 („Agesilaus Santander“). 31 Vgl. GS VI, 520; 522. 32 Vgl. auch den Abschnitt zum „Ursprung“ in der „Erkenntniskritischen Vorrede“, der die Frage der Einmaligkeit (und der Wiederholung) für das Ursprungsphänomen anspricht. GS I.1, 226. 33 Vgl. Gottschald, Max. Deutsche Namenkunde: Unsere Familiennamen. 5. Aufl. Hg. von Rudolf Schützeichl. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1982, 514: „WALTEN: zu ahd. waltan ‚herrschen‘, doch zeigt Waltgang neben Widugang, daß man schon früh auch an den Wald gedacht hat“. In einer gewissen Perspektive wiederholt sich der Familienname Benjamin im Vornamen Walter: während Gottschald vermerkt, daß es eine „Berührung“ zwischen „walten“ und „Wolf“ gibt (siehe Eintrag dazu), ist „Wolf“ auch Kinnui für „Benjamin“. Vgl. Kaganoff, Benzion C. A Dictionary of Jewish Names and Their History. New York: Schocken, 1977. 34 Interessanterweise legt sich auch König Oedipus bei Sophokles genau dies als Epitheton zu, am Ende der ersten Szene des vierten Akts, unmittelbar bevor die Erkenntnis seiner Herkunft über ihn hereinbricht. 35 Vgl. Gen 35, 18. Zu den „Benonijim“ als den Mittelmäßigen zwischen Gerechten und Frevlern vgl. Scholem, Tagebücher I, 406. 36 Vgl. Scholem, Walter Benjamin, 76-77. Vgl. auch ebd., 129-130: „Benjamin zeichnete ‚im Auftrage der Kommission‘ als Dr. Nebbich, wie er sich bei verspielten Äußerungen gern selbstbedauernd oder ironisch nannte“. Ein Beispiel dafür findet sich in GB II, 165.

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Zeitlang Ende der zehner Jahre lebten, war spezialisiert auf die Ähnlichkeit mit tatsächlichen Bildungsanstalten und versammelte die führenden Wissenschaftler der Zeit virtuell zur Erforschung der höheren Nichtigkeit.37 Was im Scherz offen daliegt, durchzieht auch auf verborgenere Weise die Texte Benjamins. Die Auseinandersetzung mit der Polarität von Hölderlins „Blödigkeit“ als Passivität und Vermögen findet in „Nebbich“ eine Fortsetzung, insofern auch in anderen Aufsätzen dem Unglück, als Mißlingen und Scheitern, wie auch der Schwäche ein Potential eingezeichnet ist.38 Das Bedauernswerte und Bedürftige, Arme des jiddischen Ausdrucks, der zunächst ein Ausruf ist und erst dann ein Adjektiv, eine Person, die nebbich verkörpert, liegt zudem durchaus auf der Linie der Dummheit, die schon in der neueren, alltagssprachlichen Bedeutung von „Blödigkeit“ anklingt.39 „Nebbich“ verlängert damit ebenfalls das öffentlichere und schon besprochene Pseudonym Benjamins; ein „shtik holtz“ bezeichnet eine dumme Person.40 „‚Der Stumpfsinn‘, schreibt Baudelaire in einer seiner ersten Veröffentlichungen, ‚ist oft eine Zier der Schönheit‘“.41

37 Vgl. eine Auswahl der „Acta Muriensa“, GS IV.1, 441-448. 38 Vgl. die folgende Stelle über den Engel aus „Agesilaus Santander“, GS VI, 522: „Er wußte vielleicht nicht, daß sich die Stärke dessen, den er so treffen wollte, derart am besten zeigen konnte: nämlich wartend“. 39 Vgl. Birnbaum, Salomon A. Yiddish: A Survey and a Grammar. Toronto/Buffalo: University of Toronto Press, 1979, 77: „nébex ‚alas, poor him/her/them/you/you people/me/us‘. Its derivation from Cz is proved by the /x/ (