176 14 8MB
German Pages 247 [248] Year 1995
Reihe Germanistische Linguistik
159
Herausgegeben von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand
Andrea Bastían
Der Heimat-Begriff Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Meinen
Eltern
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff : eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache / Andrea Bastian. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Reihe Germanistische Linguistik ; 159) NE: GT ISBN 3-484-31159-2
ISSN 0344-6778
(D25 Philosophische Fakultät, 1992) © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Inhalt
Vorwort
IX
0.
Einleitung
1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8. 1.9. 1.10. 1.11. 1.12. 1.13.
Forschungskontext und methodische Vorüberlegungen Begriffsgeschichtliche Forschungsansätze Sprachgeschichtliche Zugänge Abgrenzungen zur Wortgeschichte Inhaltliches Konzept Zur Bedeutsamkeit des Ausdrucks Methodische Zugriffe Wahl der Zeitausschnitte Erstellen eines Textkorpus Eklektischer Semantikbegriff Zur Etymologie des Wortes "Heimat" Ausgangsfrage und Hypothesenbildung Definition von "räumlicher" und "sozialer" Kategorie Zur Entstehung unterschiedlicher Teilbereiche. Begründung einer grundsätzlichen Unterscheidung der Teilbereiche Alltag und Theorie Grundsätzliches zur funktional-zweckhaften Kommunikation
1.14.
2. 2.1. 2.1.1. 2.1.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.3.1. 2.1.3.2. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.1.1. 2.3.1.2. 2.3.2. 2.3.2.1.
Der Heimat-Begriff im Alltagsbereich Konstitutive Elemente des Heimat-Begriffs (Nachweis 1) Emotionale Elemente von "Heimatgefühl" Auslöser heimatbezogener Emotionen Heimat-Elemente der räumlichen Kategorie Heimat-Elemente der sozialen Kategorie Gemeinschaftstiftende Faktoren Potentielle Heimat-Elemente im Sozialisationsverlauf Ergebnis von Nachweis 1 Universalität emotionaler, räumlicher und sozialer Heimat-Elemente (Nachweis 2) Methodische Vergleichsbasis zur Ermittlung universeller menschlicher Verhaltensweisen Zur menschlichen Gattungsgeschichte Zum Kulturenvergleich (Definition von "Universalia") Ursprung und Ursachen emotionaler Elemente des Heimat-Begriffs Ermittlung universaler Gefühle, Wertvorstellungen und Auslöser
1 2 2 7 10 11 12 13 15 15 16 20 23 25
26 31 33 33 33 34 37 40 40 41 43 44 44 44 45 45 45
VI 2.3.3. 2.3.3.1. 2.3.3.2. 2.3.3.3. 2.3.3.4. 2.3.4. 2.3.4.1. 2.3.4.2. 2.3.5. 2.3.5.1. 2.3.5.2. 2.3.5.3. 2.3.5.4. 2.3.5.5. 2.3.5.6. 2.3.5.7. 2.3.5.8. 2.3.5.9. 2.3.6. 2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.5.3. 2.5.4. 2.5.5. 2.5.6. 2.5.7. 2.6. 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.6.3.1. 2.6.3.2. 2.6.3.3. 2.6.4. 2.6.5.
Raumgebundenheit bzw. Territorialität als anthropologische Konstante Territorialverhalten aus Sicht der Ethologie Erkenntnisse der menschlichen Entwicklungsgeschichte Kulturenvergleich heute lebender Naturvölker Raumbezogenes Verhalten in der modernen Gesellschaft Universelle gemeinschaftsbildende Strukturen Bindungsfestigung durch Tradition (Kulturenvergleich) Universelle Bedeutung traditioneller Bräuche und Rituale Primäre gemeinschaftliche Elemente der sozialen Kategorie .... Individuelle Bindung in tierischen Sozietäten Gemeinschaftswesen Mensch entwicklungsgeschichtlich betrachtet Verbundenheitsstrukturen bei heute lebenden Naturvölkern Elementare Mutter-Kind-Beziehung Notwendigkeit der Familienbildung Sozialisationsprozesse: Primärsozialisation in der Familie Primärfunktion von Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft Verbundenheit durch die Gemeinde Zusammenfassung der primären sozialen Strukturen Zusammenwirken von räumlicher und sozialer Kategorie Schlußfolgerungen aus Nachweis 1 und Nachweis 2 Bestimmung des Alltagsbereichs als "primärer" Bereich (Nachweis 3) "Alltag" in der sozialwissenschaftlichen Forschung Husserls "Lebenswelt"-Begriff Heideggers "Welt des alltäglichen Daseins" Der Schützsche Alltagswelt-Begriff Der Alltagsbereich als primärer Sinnbereich menschlichen Daseins "Primäre" lebenspraktische Alltagssprache Folgerung aus den drei Nachweisen Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich Die Verwendung des Heimat-Begriffs im 18. Jahrhundert Die Verwendung des Heimat-Begriffs im 19. Jahrhundert Bedeutungen des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich des 20. Jahrhunderts Empirische Erhebungen zum Heimat-Begriff Eine Gesprächsaufzeichnung zur Bedeutung von "Heimat" Individuelle Äußerungen zum Heimat-Begriff Auflistung der genannten Heimat-Elemente des Alltagsbereiches Elementarer Zusammenhang zwischen HeimatBegriff und Alltagsbereich
49 49 51 52 54 56 56 58 59 59 60 62 64 64 66 68 69 70 71 72 73 73 74 75 76 77 78 80 80 81 82 84 85 88 88 93 93
VII 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.5. 3.6.
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Der institutionelle Heimat-Begriff im Bereich des Rechts 96 Anmerkungen zum Verhältnis von Sprache und Recht 96 Die Bedeutungsverknüpfung von Heimat mit Besitz, Haus und Hof 98 Das "historische" Heimatrecht 101 Das Recht auf Heimat im 20. Jahrhundert 105 Das Recht auf Heimat in völkerrechtlicher Sicht 106 Das Recht auf Heimat in rechtspolitischer Sicht 108 Das Recht auf Heimat in staatsrechtlicher Sicht 110 Der Heimat-Begriff in bundesdeutschen Gesetzesvorschriften ... 111 Zusammenfassende Bemerkungen zum juristischen Heimat-Begriff 116 Der Heimat-Begriff in der Politik Zur Verflechtung von Politik und Sprache Zum Auswahlprinzip des Quellenmaterials Wahl der Zeitausschnitte Der Heimat-Begriff des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende Der bürgerlich-utopische Heimat-Begriff Der politische Heimat-Begriff der Heimatbewegung Der nationalpolitisch-ideologische Heimat-Begriff Der politische Heimat-Begriff der Arbeiterbewegung Der politische Heimat-Begriff vor dem Hintergrund der Auswanderwelle Der politische Heimat-Begriff im Dritten Reich Der Heimat-Begriff im offiziellen Sprachgebrauch der ehemaligen DDR Der politische Heimat-Begriff in der Bundesrepublik Zusammenfassung der wichtigsten Verflechtungen zwischen der politischen Praxis und dem Heimat-Begriff
144
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
Der Heimat-Begriff im funktional-zweckhaften Bereich der Naturwissenschaft Einleitende Anmerkungen zur Wissenschaftssprache "Heimat" als Herkunftsregion und Lebensraum "Ortstreue" und "Heimatprägung" Sozial organisierte Gemeinschaften Abschließende Bemerkungen zum Heimat-Begriff der Biologie .
147 147 148 151 156 157
6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.
Der Heimat-Begriff im Bezugsbereich der Religion Merkmale der Sprache des religiösen Bereiches Zur religiösen Grundbedeutung von "Heimat" Der Heimat-Begriff im Alten Testament Der Heimat-Begriff im Neuen Testament
159 159 159 161 164
4.4.1. 4.4.2. 4.4.3. 4.4.4. 4.4.5. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8.
5.
117 117 119 120 121 121 122 123 125 127 131 136 139
Vili 6.5. 6.6.
7. 7.1. 7.1.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6.
7.6.1. 7.6.2. 7.7.
7.7.1. 7.7.2. 7.7.3. 7.8.
8.
Zur Verknüpfung von Heimatverbundenheit und religiösem Leben in der theologischen Praxis Zusammenfassung zum Heimat-Begriff im Bereich der Religion
167 172
Der Heimat-Begriff im Bedeutungsbereich der Literatur Erläuterungen zum Terminus "Literatursprache" und zur Textauswahl Zum Dichtungsbegriff der Neuzeit Der Heimat-Begriff in der "Idylle" Der Heimat-Begriff in der "Robinsonade" Zum Heimat-Begriff in der literarischen Epoche der Romantik Zum Heimat-Begriff im poetischen Realismus Der Heimat-Begriff in der sogenannten "Heimatliteratur". Von der Dorfgeschichte über die Heimatkunstbewegung zur Blut-und-Boden-Dichtung Der Heimat-Begriff im Genre Dorfgeschichte Der Heimat-Begriff in der Heimatkunstbewegung und in der Blut-und-Boden-Dichtung Literarische Gestaltung des Heimat-Begriffs aus einer Verlust-Erfahrung heraus. Heimatverlust durch Exil, Zerstörung, Vertreibung Die Bedeutung von "Heimat" für die Literaten im Exil Heimatverlust durch die Zerstörungen des Krieges Heimatverlust durch das Verlassen der besetzten Ostgebiete Abschließende Bemerkungen zu den literarischen Heimat-Bedeutungen der behandelten Epochenausschnitte
216
Zusammenfassung
218
Literaturverzeichnis
174 174 174 177 178 180 183
189 190 192
197 198 201 203
222
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im wesentlichen identisch mit meiner Dissertation, die im Sommersemester 1992 von der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg angenommen wurde. Für den Druck wurde sie redaktionell überarbeitet. Ich möchte allen danken, die mich beim Zustandekommen dieser Arbeit unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hugo Steger. Mit seinen fachlichen Anregungen, seiner ermutigenden Kritik und durch das Einräumen notwendiger Freiräume hat er mich angeleitet und gefördert. Dem Korreferenten Herrn Prof. Dr. Karlheinz Jakob danke ich herzlich, daß er sich dieser Aufgabe so freundlich und engagiert angenommen hat. Für die Hilfeleistungen in technischen Fragen der Texterstellung danke ich Herrn Dr. Markus Hundt. Bei den Herausgebern der Reihe Germanistische Linguistik bedanke ich mich für das Angebot, die Arbeit zu publizieren, und dem Verlag möchte ich für die problemlose Zusammenarbeit in der Endphase der Druckvorbereitung danken. Mein letztes und persönliches Dankeschön gilt meinem Mann für seine unermüdliche Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage und für seine Toleranz während besonders arbeitsintensiver Monate.
Freiburg, im März 1995
Andrea Bastian
0. Einleitung
Die vorliegende Untersuchung will durch die Analyse eines Begriffs in den verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache einen Beitrag zur begriffsgeschichtlich orientierten Wortgeschichte leisten. Da die historische Wortforschung sich bis in die jüngste Vergangenheit schwerpunktmäßig auf die sprachliche Ausdrucksseite von Begriffen konzentriert hat und die historisch-philosophisch orientierte Begriffsforschung ihr vorwiegendes Interesse auf fachsprachliche Begriffe gerichtet hat, wird als Untersuchungsgegenstand für die vorliegende Studie der Begriffsbezirk "Heimat" ausgewählt, dessen breites inhaltliches Spektrum sich für eine semantische Analyse im Rahmen einer deutschen Wortgeschichte als Begriffsgeschichte anbietet. Der Begriff "Heimat" und das an ihn gebundene Begriffsfeld erscheint facettenreich, bündelt eine Vielfalt ideengeschichtlicher, kultureller Erfahrungen und ist zudem in den meisten Kommunikationsbereichen vorhanden, wodurch es sich für das Forschungsvorhaben in besonderem Maße eignet. Als relevante Funktionsbereiche bezüglich "Heimat" werden untersucht: der Bereich des Alltags und die Bereiche Recht, Politik, Naturwissenschaft sowie Religion und Literatur. Nur durch eine gesonderte Betrachtung der verschiedenen Kommunikationsbereiche kann das Begriffsfeld in seiner bestehenden Vielfältigkeit geschichtlich dargestellt werden; in diachronen Längsschnitten soll die historische Tiefendimension des Begriffs erfaßt und der Begriffswandel innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche untersucht werden. In Verlauf der begriffsgeschichtlichen Untersuchung ist die Frage nach kulturellen und geistigen Wandlungsprozessen als mögliche Ursache für einen Begriffswandel zu stellen. "Hinter" dem aufzuzeigenden Begriffswandel sollen ideengeschichtliche Aspekte und gesellschaftspolitische Umwälzungen sichtbar gemacht werden, wodurch sich die sprachwissenschaftliche Zielsetzung mit kulturgeschichtlichen Perspektiven verbindet. Zentrales Untersuchungsobjekt ist das Inhalts-/Begriffsfeld "Heimat", welches getrennt vom Ausdrucks-/Bezeichnungsfeld "Heimat" im Mittelpunkt der Studie steht. Die Analyse der Begriffsinhalte ermöglicht auch den Nachweis der Verwendung von je eigenen Semantiken in den einzelnen Funktionsbereichen. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Annahme des Vorhandenseins von zwei grundsätzlich getrennten Bereichen Alltag und Theorie. Eine innere Verflechtung und übergreifende Verbindung zwischen den Begriffssystemen beider Bereiche oder aber eine völlig separate Entwicklung von Alltag und Theorie soll durch die vergleichende Analyse des Heimat-Begriffs dokumentiert werden. Zu diesem Zwecke ist es notwendig, die Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs im einzelnen zu bestimmen und die Frage nach deren Ursprung (wurzeln sie im Alltags- oder Theoriebereich?) zu stellen. Im letztgenannten Punkt ist zugleich die Forschungsprämisse der vorliegenden Studie thematisiert.
1. Forschungskontext und methodische Vorüberlegungen
1.1. Begriffsgeschichtliche Forschungsansätze Grundlagen aller späteren Begriffslehren liefern bereits Ansätze von Piaton und Aristoteles. Die in der Scholastik im wesentlichen einheitliche Auffassung vom Begriff als "natürliches Zeichen der Dinge im Bewußtsein" wird verdrängt durch Descartes Gebrauch des Ideenbegriffs. Dies ist symptomatisch für die Verlagerung der erkenntnistheoretischen Fragestellung; die Herkunft, die Entdeckungszusammenhänge von Begriffen sind interessanter geworden als ihre Begründung. Eine erstmalig klare Trennung von Begriff und Anschauung wird von Kant vorgenommen. 1 Hegel hat die Metapher von der "Arbeit" des Begriffs geprägt. 2 Sie setzt voraus, daß Begriffe nicht zeitlos ewige Größen sind, sondern sich ändern. Bei Hegel erscheint auch zuerst der Terminus "Begriffsgeschichte" 3 als Kennzeichnung einer der drei Weisen des "Geschichtsschreibens". Danach ist Begriffsgeschichte diejenige Art der "reflectierten Geschichte", die "einen Übergang zur philosophischen Weltgeschichte" darstellt. Auf philosophischer Ebene kommt es schon im 18. Jh. zu Vorformen begriffsgeschichtlicher Arbeiten. Mitte des 20. Jh. emanzipiert sich Begriffsgeschichte und erlangt den Rang einer unabhängigen Disziplin der Philosophie. Gegenwärtig gilt sie als eigenständiges methodisches Instrument für die philosophische Theorie. 4 Abgesehen von der Philosophie bahnt sich, was den Begriff betrifft, im 19. Jh. eine Wende von der bis dahin vorherrschenden Auffassung vom Begriff als Form oder mentales Zeichen von den Dingen an. Die Begriffs-Auffassung spaltet sich in zwei Lager: einerseits wird der Begriff in formallogischen Theorien verwendet (z.B. Frege), andererseits tritt die sprachliche Komponente des Begriffs in den Vordergrund (z.B. Mill). 5 Von den zentralen Forschungsdisziplinen, die sich mit der Kategorie Begriff beschäftigen, sollen an dieser Stelle lediglich formallogische, sprachwissen-
1 Kant, Logik I, 1 Paragraph 1, zit. nach LEWANDOWSKI, Th.: Linguistisches Wörterbuch, 4. Aufl. Heidelberg 1984, S. 160. 2
HEGEL, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hoffmeister, 6.Aufl. Hamburg 1952, S. 57; vgl. auch LÜBBE, H.: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg/München 1975 ( = 1975 a). 3
Hegel in seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, zit. nach MEIER, H.G.: Begriffsgeschichte, in: RITTER, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971, S. 788. 4
vgl. MEIER 1971; vgl. MITTELSTRASS, J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/Zürich, Bd. 1, 1980 ff. 5 vgl. SCHWARTZ, R.L. : Der Begriff des Begriffs in der philosophischen Lexikographie. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, München 1983, S. 120.
3 schaftliche und philosophische Ansatzpunkte als drei unterschiedliche Zugänge zum Komplex "Begriff/Begriffsgeschichte" kurz erläutert werden. Die methodologische Interpretation dessen, was Begriffsgeschichte tut, orientiert sich an der funktionalen Sprachtheorie, wie sie den "Philosophischen Untersuchungen" Ludwig Wittgensteins zugrunde liegt. 6 In ihnen findet sich im Gegensatz zum frühen Wittgenstein des "Tractatus" eine gewandelte Auffassung von der Sprache: nicht mehr Abbild soll sie sein, sondern selbst Tätigkeit, Technik, Lebensform, Sprachspiel. Wittgensteins These lautet, daß sich nur in der Art des Gebrauchs der Sinn eines Wortes erfassen lasse. Dieser gewandelten Theorie entspricht auch ein gewandeltes Forschungsprogramm, dessen Aufgabe nicht Erklärung, sondern Beschreibung der tatsächlich gegebenen Sprache ist.7 Schon bei John L. Austin, der sich an Wittgenstein orientiert, ist der Beginn der Verselbständigung des linguistischen Ansatzes zu erkennen. Auch seinen Überlegungen zu einer Begriffslehre zufolge ist für die Bedeutung eines Wortes der Gebrauchskontext bestimmend. Austin bestreitet, daß der Begriff in allen Fällen nach dem Modell der Satzfunktion definiert werden kann. 8 Der formallogische Forschungsansatz, der den Begriff als Satzfunktion definiert, orientiert sich an mathematischen Modellen. Am Anfang dieser Entwicklung steht Frege 9 , ihm folgen Modelle von Russell und Whitehead 10 sowie Cassirer 11 . Der Begriff ist nach dem Modell der mathematischen Funktion zu denken. Begriffe stehen immer in Sätzen, durch die sie bestimmt werden, und zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen, in denen sie erst ihre Bedeutung erhalten. Ohne diese Zusammenhänge sind sie unvollständig (Frege: "ungesättigt"). Eine Funktion allein ist ungesättigt. Sie bedarf der Ergänzung durch Werte, die selber nicht zur Funktion gehören, deren Einsetzung aber erst einen Satz ergibt. Begriffe haben prädikativen Charakter und die Argumente, die sie "sättigen", sind Bezeichnungen von Gegenständen oder Sachverhalten (Frege: "Eigennamen"). 12 Russell und Whitehead knüpfen mit der Entwicklung der symbolischen Logik an Freges logizistisches Programm an. Russell sah das wesentliche Moment des Begriffs in der Relation (Begriffe repräsentieren Relations-
6
WITTGENSTEIN, L.: Philosophische Untersuchungen (dt. und engl.), 2. Aufl. Oxford 1958, Frankfurt am Main 1977; vgl. auch LÜBBE 1975 a, S. 12. 7
vgl. SCHWARTZ 1983, S. 86.
8
J.L. AUSTIN in seinem Aufsatz: "The meaning of a word", in: ders.: Philosophical Papers, London 1961. 9
FREGE, G.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. und eingeleitet von G. PATZIG, 4. Aufl. Göttingen 1975. 10
RUSSELL, Β./WHITEHEAD, A.N.: Principia Mathematica (Ausz. dt.), Lizenzausg., Vorw. und Einleit. übers, von H. MOKRE, Frankfurt am Main 1986. 11 CASSIRER, E.: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, 6. Aufl. Darmstadt 1975. 12
vgl. GÜNTHER, H. : Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historischpolitischen Welt, Frankfurt am Main 1979, S. 17.
4 gefüge oder funktionale Zusammenhänge). 13 Auf Frege und Russell gleichermaßen fußend, hat Ernst Cassirer die Lehre vom Begriff als Satzfunktion in sein neukantisches System eingegliedert und philosophisch gedeutet. Cassirer sieht den Begriff (im Sinne von Regel und Funktion) als Angabe einer bestimmten Richtung und einer bestimmten Norm. Einen Begriff kann man "begreifen", nicht wie einen Gegenstand greifen. Er gibt einen Gesichtspunkt an für den Aufbau der "Welt". Vom Symbolgehalt der Sprache und des Zeichens her ist evident, "daß alles Sein nur vom Sinn her und vermittels des Sinns faßbar und zugänglich ist".14 Der Begriff ist nicht Abbildung, sondern eine neue logische Perspektive. Ausgehend von solchen formallogischen Begriffszugängen beschäftigt heute die Konstruktion und Analyse von Begriffen Theoretiker und Anwender in vielen Wissenschaftsbereichen, beispielsweise in der Mathematik, der Informatik, der Psychologie 15 , der Philosophie und der Linguistik. Denn durch die neuen Möglichkeiten der Wissensdarstellung und Wissensverarbeitung gewinnen Theorien begrifflichen Denkens und deren Anwendung zunehmend an Interesse. 16 Auf dem Gebiet wissenschaftstheoretischer und sprachphilosophisch orientierter Begriffszugänge sind die Arbeiten von Balzer, Bickes, Bungarten, Hempel, Jäger, Koenne, Kutschera, Pawlowski, Stegmüller, Ströker u.a. zu nennen. 17 Zu den neueren Versuchen einer Fundierung der Begriffsgeschichte auf philosophischem und linguistischem Gebiet zählen die Konzepte von Blumenberg,
13
vgl. LEWANDOWSKI, 4. Aufl. 1984, S. 161.
14
CASSIRER, 6. Aufl. 1975, S. 350.
15
AEBLI, H.: Begriffliches Denken, in: SPADA, H. und H. MANDL (Hrsg.): Wissenspsychologie, München/ Weinheim 1988, S. 227-247. 16
z.B. GANTER, B./WILLE, R./WOLFF, Κ.E. (Hrsg.): Beiträge zur Begriffsanalyse, Mannheim/Wien/Zürich 1987; STÖHR, H.-J.: Begriff, Sprache, Zeichen in Philosophie, Naturwissenschaft und Technikwissenschaften, Rostock 1980. 17
BALZER, W.: Empirische Theorien: Modelle, Strukturen, Beispiele. Die Grundzüge der modernen Wissenschaftstheorie, Braunschweig/Wiesbaden 1982; BICKES, H.: Theorie der kognitiven Semantik und Pragmatik, Fftn./Bern/New York/Nancy 1984; BUNGARTEN, Th. (Hrsg.): Wissenschaftssprache und Gesellschaft. Aspekte der wissenschaftlichen Kommunikation und des Wissenschaftstransfers in der heutigen Zeit, Hamburg 1986; HEMPEL, C.G.: Aspekte wissenschaftlicher Erklärungen, Berlin/New York 1977; JÄGER, L.: Erkenntnistheoretische Grundfragen der Sprachgeschichtsschreibung. Thesen, in: IdS 41, 1977, S. 332-342; KOENNE, W.: Statischer und dynamischer Aufbau der Begriffe. Untersuchung zu den Grundlagen des begrifflichen Denkens, Wien 1974; KUTSCHERA, F.V.: Sprachphilosophie, 2. Aufl. München 1975; ders.: Einführung in die intensionale Semantik, Berlin/New York 1976; PAWLOWSKI, T.: Begriffsbildung und Definition, Berlin/New York 1980; STEGMÜLLER, W.: Theorie und Erfahrung. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie, 2 Bde., 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1985; STRÖKER, E.: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 2. Aufl. München 1977; dies.: Wissenschaftphilosophische Studien, Frankfurt am Main 1989.
5 Gadamer, Lübbe und Sommer. 18 Eine der zusammenfassendsten Darstellungen begriffsgeschichtlicher Methoden ist die Dissertation von Dietrich Busse 19 , in deren erstem Teil die Konzepte der historischen Semantik diskutiert werden. Im zweiten Teil beschäftigt sich Busse mit den sprachwissenschaftlichen Grundlagen der historischen Semantik und geht besonders auf die philosophische und historiographische Begriffsgeschichte ein. Bei seinem Vergleich der verschiedenen begriffsgeschichtlichen Konzeptionen steht die historische Methode im Mittelpunkt seiner Betrachtung. Da in der vorliegenden Untersuchung zum HeimatBegriff kulturelle Bezüge hergestellt werden sollen, erscheint es wenig sinnvoll, spezielle wissenschaftstheoretische und abstrakte, fachspezifische Modelle anzuwenden. Einen weitaus besseren Zugang für das angestrebte Ziel dieser Studie bieten die Forschungsansätze anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen. In den letzten beiden Jahrzehnten sind zahlreiche Versuche unternommen worden, die Begriffsgeschichte für die Geschichte historisch-politischer, philosphischer Theorien und für die Sozialgeschichte fruchtbar zu machen. Dabei sind zwei wissenschaftliche Unternehmungen besonders hervorzuheben: das "Historische Wörterbuch der Philosophie" 20 und das Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" 21 . Das historische Wörterbuch der Philosophie, mittlerweile maßgebliches Lexikon der Philosophie, wurde von Joachim Ritter begründet. Es ist eine Neubearbeitung von Rudolf Eislers "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" 22 , des bis dato einzigen mehrbändigen philosophischen Wörterbuchs. Als methodische Richtschnur gilt, die Geschichte der begrifflichen Bedeutung von Wörtern, vor allem in ihrer Wechselwirkung mit geisteswissenschaftlichen Disziplinen, zu ergründen; bei Eisler dagegen standen Naturwissenschaft und naturwissenschaftliche Psychologie im Vordergrund.23 Wesentliche Vorarbeiten zu Ritters Wörter-
18 BLUMENBERG, H.: Paradigmen zu einer Metaphorlogie, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 9 ff.; GADAMER, H.-G.: Begriffsgeschichte und Philosophie, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 14 (1970), S. 137-151; LÜBBE, H.: Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 8-15. ( = 1975 b); SOMMER, M.: Kritische Anmerkungen zu Theorie und Praxis begriffsgeschichtlicher Forschung, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 16 (1972), S. 227-224. 19 BUSSE, D.: Historische Semantik. Analyse eines Programms, (Diss.) Stuttgart 1987; vgl. auch ders.: Überlegungen zum Bedeutungswandel, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 17 (1986/2), S. 51-67. 20
RITTER, J. (Hrsg.), 1971 ff.
21 BRUNNER, O./CONZE, W./KOSELLECK, R.: Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", 6 Bde., Stuttgart 1972 ff. 22 EISLER, R.: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 3 Bde., 1. Aufl. 1897, Aufl. Berlin 1927-1930. 23 vgl. RITTER, J . : Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 75-80, hier S. 77; vgl. ROTHACKER, E . : Geleitwort in: Archiv f. Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 5-9, hier S. 5.
6 buch wurden durch das "Archiv für Begriffsgeschichte" geleistet. Dieses "Archiv", von Erich Rothacker begründet, ist bemüht, Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie zu erarbeiten. In ihm werden monographische begriffsgeschichtliche Untersuchungen gesammelt. 24 Jenseits der Grenze der Philosophie ist die begriffsgeschichtliche Praxis auf dem sozialhistorischen Sektor besonders weit fortgeschritten, was sich im Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" (hrsg. von Brunner, Conze, Koselleck) manifestiert. Neben dem Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte in Heidelberg, der die Arbeit am Wörterbuch politisch-sozialer Begriffe trägt, existiert eine Kommission für begriffsgeschichtliche Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Leitung von Hans-Georg Gadamer, ebenfalls in Heidelberg (sog. "Heidelberger Schule"). Vor allem in Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtlichen Arbeiten besteht eine enge Verbindung zur Sozialgeschichte. 25 Bei Koselleck und den durch seine Veröffentlichungen provozierten Kritiken finden sich die am weitesten entwickelten Überlegungen zur Theorie der Geschichte von sozialen und politischen Begriffen. 2 6 In den genannten Forschungsansätzen und auch in anderen Fachdisziplinen, die ihre Begriffe geschichtlich betrachten 27 , kommt in exemplarischer Weise das Bedürfnis nach Darstellung des in Sprache gefaßten historischen Denkens und der Begriffsentwicklung der Disziplinen zum Ausdruck. 28 Es wird deutlich, daß Begriffsgeschichte nicht nur als Hilfsmittel für die Sprachwissenschaft (insofern sie als spezialisierte Methode der Quellenkritik die Bedeutungen von Begriffen verzeichnet) einzustufen ist, sondern durchaus einen eigenen Wissenschaftszweig konstituiert, dessen Gegenstandsbereich die sprachliche Bewältigung von Erfahrungs-, Theorie-, Gesellschaftswandel ist. Die gegenseitige Einflußnahme von moderner Sprachwissenschaft und Begriffsgeschichte wurde zu einem Zeitpunkt interessant, als die Wendung von der linearen historischen Erfassung einzelner sprachlicher Phänomene zur strukturell orientierten Sprachforschung vollzogen war (im Anschluß an F. de Saussure). Entscheidende Anstöße kamen durch die strukturelle Sprachhistorie, welche die
24
vgl. RITTER 1967, S. 79; vgl. ROTHACKER 1955, S. 8.
25
vgl. SCHULTZ, H.: Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: KOSELLECK, R.: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 43-75, hier, S. 48. 26 KOSELLECK 1979; ders.: Richtlinien für das "Lexikon politisch-sozialer Begriffe" der Neuzeit, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 11/1 (1967); ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Kölner Zeitschr. für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderh. 16 (1972), S. 116-131; MEIER 1971; RITTER 1967; SCHULTZ, H.: Einige methodische Fragen der Begriffsgeschichte, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 17 (1973), S. 221-231; SOMMER 1972. 27 z.B. HUND, F.: Geschichte der physikalischen Begriffe, 2 Bde., 2. Aufl. Mannheim 1978. 28
vgl. STEGER, H.: Revolution des Denkens im Fokus von Begriffen und Wörtern. Wandlungen der Theoriesprache im 17. Jh., in: Festschr. f. I. Reiffenstein ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik 478), Göppingen 1988 ( = 1988 a), S. 84.
7 Wortgeschichte und die Geschichte des Menschen korrelativ behandelt. 29 Zur Strukturforschung hinsichtlich sprachlicher Bedeutungen und Bezeichnungen werden kulturgeschichtliche und soziologische Aspekte wesentlich. 30 Das Verhältnis von Begriffsgeschichte und Sprachwissenschaft ist in Beziehung zu sehen mit der "Semasiologie und Onomasiologie, mit der Sprachinhalts- und Feldforschung, speziell mit der inhaltsbezogenen Wortforschung und ihrer wortvergleichenden und wortgeschichtlichen Methodik". 31
1.2. Sprachgeschichtliche Zugänge Im folgenden sollen diejenigen Aspekte der Sprachgeschichte kurz skizziert werden, aus denen sich für die vorliegende begriffsgeschichtliche Untersuchung hilfreiche Anregungen ergeben. Eine enge Verbindung von Begriffsgeschichte zur Sprachgeschichte besteht allein schon deshalb, weil eine historische Klärung von Begriffen auf sozialgeschichtliche Daten und auf Sprachgeschichte zurückgreifen muß. Von besonderem Interesse für diese Studie sind bezüglich der Sprachgeschichte zwei Bereiche: 1. Sprachgeschichtliche Arbeiten, in denen Bezüge zur kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen Entwicklung hergestellt werden. 2. Die methodischen Vorgehensweisen von sprachgeschichtlichen Arbeiten, deren Schwerpunkt im Teilbereich Wortgeschichte liegt. zu 1.: Bei Hermann Paul, für den es "keine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache [...] als die geschichtliche" 32 gibt, spielen kulturelle Einflüsse eine große Rolle. Sprachwissenschaft wird von ihm in der Einleitung seiner Sprachgeschichte zunächst als "Kulturwissenschaft", also Geisteswissenschaft aufgefaßt. "Erst die Gesellschaft [mache] den Menschen zu einem gesellschaftlichen Wesen" 33 . Bei Paul ist die Wirkung von Steinthals Sprachpsychologie 34 , mit der die Hinwendung zu mehr geistes- und sozialwissenschaftlicher Betrachtung beginnt 35 , unverkennbar. In Friedrich Kluges sprachwissenschaftlicher Darstellung ist es bedeutsam, eine Beziehung zwischen Sprache und Volkstum
29
MEIER 1971, S. 789.
30
vgl. BALDINGER, K.: Sprache und Kultur, in: Ruerto-Carola 29, 1961.
31
MEIER 1971, S. 789.
32
PAUL, H.: Prinzipien der Sprachgeschichte, 1. Aufl. 1880, 2. Aufl. 1886, 5. Aufl. Halle 1920, S. 20. 33
PAUL 5. Aufl. 1920, S.7.
34
STEINTHAL, H.: Abriß der Sprachwissenschaft, 2 Bde., Berlin 1881-1893 (Nachdruck HUdesheim 1972). 35
vgl. POLENZ, P.V.: Die Geschichtlichkeit der Sprache und der Geschichtsbegriff der Sprachwissenschaft, in: BESCH, W./REICHMANN, O./SONDEREGGER, S. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1, Berlin/New York 1984, S. 1-8, hier S. 4.
8 herzustellen: " [ . . . ] das Wesen in unserer Sprache in ihrem Werden und Wachsen darzustellen [...]. In großen Zügen [...] den Zusammenhang von Sprache und Volkstum für unser Deutsch geschichtlich [zu] schildern". 36 Bachs erklärtes Ziel ist es, ein "Bild eines zusammenhängenden zeitlichen Geschehens zu vermitteln". Er strebt eine "Zusammenschau [ . . . ] [der] historischen Entwicklung unter großen Gesichtspunkten"37 an. Seine Definition von Sprachgeschichte wurde von Lewandowski als heute noch gültig in dessen terminologisches Wörterbuch übernommen, als "Zusammenfassung der Ergebnisse der verschiedenen unter geschichtlichen Gesichtspunkten bearbeiteten Einzelfelder der Wissenschaft von der deutschen Sprache und der Versuch einer Deutung der Gesamtentwicklung nach den in ihr wirksamen Kräften. " 38 Neben den bisher genannten ist besonders auf die sprachgeschichtlichen Arbeiten von Eggers, Erben, Frings, Maurer, Mitzka, Moser und Schwarz zu verweisen. 39 Nach Tschirch ist es Aufgabe des Sprachhistorikers, "die Veränderungen der Sprache in der [ . . . ] Zeit auf die Veränderungen im Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung [...], auf sein jeweiliges Weltbild, auf sein dauernd sich wandelndes Lebensverhältnis zurückzuführen." 40 Sonderegger geht von einem "mehrdimensionalen" Gegenstand der Sprachgeschichte aus. In diesem Zusammenhang sind für ihn Veränderungsprozesse, denen Mensch und Zeit unterworfen sind, ein maßgebender Faktor der Sprachgeschichte. Zu den Teilthemen, welche die Sprachgeschichte umfassen sollen, gehören für Sonderegger u.a. "Fachsprachen [sowie] Sprache und Gesellschaft, in synchronem Schnitt und diachronischer Kontrastivität. "41 In Peter von Polenz' Sprachgeschichte heißt es: "Die Sprachgeschichtsschreibung wählt [ . . . ] für die Entwicklung einer Sprache wesentliche Erscheinungen des Sprachwandels aus und sucht nach ihren möglichen außersprachlichen Ursachen oder Wirkungen, sei es im politischen, sozialen [ . . . ] religiösen oder geisteswissenschaftlichen Bereich [...]. Sprachgeschichte fragt also nach der historischen Stellung der Sprache in der Gesamtkultur der jeweiligen Sprechergruppe." 42 Besonders die zuletzt zitierten sprachgeschichtlichen Aspekte sollen auch in der vorliegenden begriffsgeschichtlichen Untersuchung zum Tragen kommen. In
36
KLUGE, F.: Deutsche Sprachgeschichte, Leipzig 1920, S. V.
BACH, Α.: Geschichte der deutschen Sprache, 9. Aufl. Heidelberg 1970, S. 8 (Vorw. zur 9. Aufl.). 37
38
BACH, 9. Aufl. 1970, S. 17.
39 z.B. EGGERS, H.: Deutsche Sprachgeschichte, 4 Bde., Reinbek 1963 ff.; FRINGS, Th.: Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, 3. Aufl. Halle/S. 1957; MOSER, H.: Deutsche Sprachgeschichte, 6. Aufl. Tübingen 1969; SCHWARZ, E . : Kurze deutsche Wortgeschichte, 2. Aufl. Darmstadt 1982. 40
TSCHIRCH, F.: Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1, 3. Aufl. Berlin 1983,
S. 15. 41 SONDEREGGER, S.: Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems, Bd. 1, Berlin/New York 1979, S. 29. 4 2 POLENZ, P.V.: Geschichte der deutschen Sprache, 9. Aufl. Berlin/New York 1978, S. 6 f.
9 den genannten Sprachgeschichten werden häufig kulturelle Bezüge hergestellt, aber in keinem der erwähnten Forschungsansätze wird zwischen Ausdrucksgeschichte und Inhaltsgeschichte unterschieden. Diese für eine klare Systematik notwendige Trennung soll in der Analyse des Heimat-Begriffs geleistet werden. zu 2.: Eine allgemeine Definition von Wortgeschichte lautet: Wortgeschichte ist die Untersuchung und Darstellung der historischen Entwicklung des Wortschatzes in seiner Gesamtheit und in seinen Einzelwörtern. 43 Ebenso wie diese Definition keinerlei Differenzierungen beinhaltet, ist auch in den vorliegenden Wortgeschichten kein durchgehendes systematisches Konzept erkennbar. "Wortgeschichten [...] sind gegenwärtig eher eine Mischung aus sich teilweise verselbständigenden Bedeutungs-/Konzeptgeschichten, Wortgeschichten, Etymologien, Fremdwörter- und Lehnbeziehungsgeschichten unter Einschluß sprachkritischer Gesichtspunkte."' 14 Zum Vergleich werden die Wortgeschichten von Maurer/Rupp, Schwarz und Schirmer/Mitzka 45 herangezogen. Schon deren Epochenbenennungs-/Kapitelbezeichnungen machen das Herausgreifen eines geistesgeschichtlichen, philosophischen oder literarischen Bereiches sichtbar und deuten das Fehlen einer geeigneten Systematik an. 46 Kapitelüberschriften und Artikelinhalte verdeutlichen, daß Autoren und Herausgeber stark auf inhaltliche Konzepte der Wortschatzentwicklung zielen; aber zum ordnungsstiftenden Prinzip werden sie nicht erhoben. "Nirgends ist ein als Bezugsbasis durch die verschiedenen Epochen hindurch verwertbares Ordnungsschema und semantisches Konzept auch nur angedeutet. "47 Innerhalb der bezeichneten Epochen werden die Übergänge vom Alltagswortschatz zu den Sprachen des Theoriebereichs nicht klar gekennzeichnet und "die Kapitel springen oft scheinbar willkürlich" zwischen den einzelnen Kommunikationsbereichen hin und her. 48 Doch wenn man zu einer vergleichenden Systematik kommen will, müßten die sprachlichen Mittel und die Semantiken nach Alltags- und Theoriebereich getrennt betrachtet werden. Steger sieht den "Ansatz für eine neue Wortgeschichte" in einer "Zusammenschau der Begriffsentwicklung und des an sie gebundenen Wortschatzes in den verschiedenen kommunikativen Bereichen. Eine Gesamtdarstellung der Wortgeschichte würde
43
LEWANDOWSKI 1984, S. 1203.
44
STEGER, H.: Zur Frage einer Neukonzeption der Wortgeschichte der Neuzeit, in: Sprachnormen: lösbare und unlösbare Probleme/Kontroversen um die neuere deutsche Sprachgeschichte/Dialektologie und Soziolinguistik: Die Kontroverse um die Mundartforschung. Hrsg. v. P. v. POLENZ u.a. ( = Alte und neue Kontroversen. Akten des VII. Intern. Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, Bd. 4), Tübingen 1986 ( = 1986), S. 203209, Hier S. 205.; ders. 1988 a, S. 84 f. 45
MAURER, F./RUPP, H.: Deutsche Wortgeschichte, 3. Aufl. Berlin/New York 1974-1978; SCHIRMER, A./MITZKA, W.: Deutsche Wortkunde. Kulturgeschichte des deutsche Wortschatzes, 6. Aufl. Berlin 1969; SCHWARZ, 2. Aufl. 1982. 46
vgl. STEGER 1986, S. 207 f.
47
vgl. STEGER 1986, S. 207.
48
vgl. STEGER 1986, S. 207.
10 mehrere Betrachtungsebenen getrennt nebeneinander herführen und gleichzeitig miteinander verknüpfen müssen." 4 9 Ebenfalls problematisch bezüglich einer wortgeschichtlichen Arbeit ist es, daß zwei recht verschiedene Entwicklungslinien einer Wortgeschichte zu berücksichtigen sind: Zum einen eine teilweise autochthone Formengeschichte, welche die innerlinguistisch-formale Entwicklung der Ausdrücke bei stabil gehaltenem Inhaltskern verfolgt. Zum anderen eine sozialgeschichtliche Linie, welche die begrifflich-historischen Bedeutungsseiten untersucht. Steger leitet daraus "die Aufforderung für den Sprachhistoriker ab, [die ...] Ausdrücke im Hinblick auf die zu erbringenden semantischen Leistungen und die [...] sozial- und wissenschaftsgeschichtlich gesteuerten Semantiken vor dem Hintergrund der formalen Ausdrucksmittel als Indikatoren für die Inhalte zu studieren". 50 Steger beschäftigt sich in einigen seiner Veröffentlichungen mit einer wortgeschichtlichen Konzeption unter begriffsgeschichtlichem Aspekt. Die vorliegende Studie beabsichtigt, an Stegers Forschungsansatz anzuknüpfen.
1.3. Abgrenzungen zur Wortgeschichte Konventionelle wortgeschichtliche Untersuchungen differenzieren nicht nach verschiedenen Funktionsbereichen. Fachliche Verwendungen des untersuchten Wortes, z.B. in der Jurisprudenz, Theologie, Philosophie und anderswo sollen sogar nach Möglichkeit ausgeklammert werden. Der Gebrauch eines Wortes soll in der "allgemeinen Sprache der Gebildeten" (was immer dies auch sein mag) festgestellt werden. 5 1 In dieser begriffsgeschichtlichen Untersuchung wird aber gerade angestrebt, den Begriff in den verschiedenen Kommunikationsbereichen zu betrachten. Es soll der Versuch unternommen werden, die Semantiken und sprachlichen Mittel der verschiedenen Bereiche zu trennen. Die Begriffsgeschichte enthält zwar semasiologische und onomasiologische Aspekte, sie soll aber keine detaillierte Wortgeschichte liefern, sondern sie ist in der Mitte zwischen Wortgeschichte (daran bleibt sie nicht haften) und Ideen-, Kultur-, Sachgeschichte (diese kann sie nicht vollständig erfassen) anzusiedeln. 52 Begriffsgeschichte soll die geistigen Konzepte, die hinter den Begriffsbedeutungen stehen, beleuchten. Sie soll, ähnlich der Semantik, in engstem Zusammenhang mit der geistigen und materiellen Entwicklung des Menschen stehen. 53
49
STEGER 1988 a, S. 84.
50
STEGER 1988 a, S. 120.
51
SCHMIDT-HIDDING, W.: Zur Methode wortvergleichender und wortgeschichtlicher Studien, in: MOSER, H. et al. (Hrsg.): Europäische Schlüsselwörter Bd. 1, München 1963, S. 18-33, hier S. 29. 52
vgl. auch KOSELLECK 1967.
53
vgl. STEGER 1986, S. 205.
11 Insofern hat Begriffsgeschichte die Spannung zwischen Begriff und Gesellschaft zum Thema. Gesellschaftliche, kulturelle Veränderungen schlagen sich in Begriffen nieder; Welt und Gesellschaft werden durch Begriffe interpretiert. 54 Durch das Aufzeigen solcher Wechselbezüge tritt die Wortgeschichte in den Hintergrund und begriffsgeschichtliche Aspekte werden betont. Die konventionelle Wortgeschichte kann insoweit als Hilfsmittel dienen, als der Ansatzpunkt der Analyse am Wort festgemacht wird. Der Einstieg der Untersuchung geht quasi "durch das Wort hindurch". 55 Eine Begriffsgeschichte muß sich aber von einer reinen Wortgeschichte, die das Wort bis in seine Laut- und Gestaltentwicklung hinein untersucht, entfernen; sie muß darüberhinausgehen und sich mehr den inhaltlichen Aspekten einer Ideen-/Geistes-/Kultur- Geschichte zuwenden. Begriffsgeschichte ist weder Wort- noch Ideen-/Geistes-/KulturGeschichte, bedient sich aber deren Hilfen.
1.4. Inhaltliches Konzept Daß die "musterbildende Struktureinheit [...] im inhaltlich-motivationalen Konzept des Wortes" liegt, darauf hat die inhaltbezogene Sprachforschung immer wieder hingewiesen. 56 Die inhaltbezogenen Sprachauffassung ist im Anschluß an Herder und Humboldt von Trier, Weisgerber u.a. entwickelt worden. 57 Sie ist eine Forschungsmethode, die die Sprachinhalte zum Bezugspunkt und Maßstab ihres Verfahrens macht. 58 Ihr Gesamtziel besteht darin, den Prozeß der sprachlichen Bewältigung der Welt aufzudecken. 59 Auf den ersten Blick bereitet es oft Schwierigkeiten, zwischen Sprache und Welt zu unterscheiden; zwischen beiden besteht eine Art Kreisprozeß. Die inhaltbezogene Sprachauffassung besagt, daß die dem Menschen zugängliche Welt in seiner Muttersprache in der Weise auf den Begriff gebracht ist, daß im Wortschatz die außersprachliche Gegenständlichkeit in den Gedanken überführt und damit dem Denken verfügbar ist.60 Sprache ist also wesentlich Erkenntnismittel, dessen der Mensch auch "in
54
vgl. MEIER 1971, S. 797 und KOSELECK 1967.
55
vgl. KOSELLECKs "Richtlinien" 1967.
56
vgl. STEGER 1986, S. 204.
57
vgl. GIPPER, H.: Die Sprache als Voraussetzung und Medium der kulturellen Entwicklung, in: Besch et al. 1984, S. 8-19, hier S. 11; vgl. DITTMANN, J.: Sprachtheorie der inhaltbezogenen Sprachwissenschaft, in: ders. Sprachtheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980 f. 58
vgl. WEISGERBER, L.: Hauptgesichtspunkte inhaltbezogener Wortforschung, in: MOSER et al. (Hrsg.), Bd. 1, München 1963, S. 23-17, hier S. 13. 59
vgl. WEISGERBER, L.: Das Worten der Welt als sprachliche Aufgabe der Menschheit, in: Sprachforum I, 1955, S. 10 ff. 60
vgl. GIPPER 1984, S. 11.
12 abgeschlossener Einsamkeit" 61 bedarf. Wenn Sprache als Voraussetzung und Medium der kulturellen Entwicklung gelten soll, dann muß sie primär im Sinne Humboldts als Erkenntnismittel und nicht nur als Werkzeug der Verständigung betrachtet werden. 62 Weisgerbers Sprachauffassung geht über die übliche Werkzeug- und Mittel- Bestimmung hinaus. Er zeigt mannigfache Beziehungen zwischen Sprache und "Sprachkultur" auf, in den Bereichen von Sprache und Technik, Wirtschaft, geistiger Kultur, Religion, Recht, Kunst, Wissenschaft. Seine Forschung verdeutlicht, daß die Sprache in allen Kulturbereichen als Bedingung und Voraussetzung aller Kultur zu betrachten ist. 63 "Wenn in der Seele wahrhaft das Gefühl erwacht, dass die Sprache nicht bloss ein Austauschungsmittel zu gegenseitigem Verständniss, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muss, so ist sie auf dem wahren Wege, immer mehr in ihr zu finden und in sie zu legen. 1,64 Diese zentralen Gedanken Humboldts gehören zum Fundament der inhaltbezogenen Sprachforschung. Die schöpferische Rolle der Sprache im Bereich der Kultur soll gewürdigt werden. 65 Die Entwicklung der Sprache und ihr Wandel erweisen sich jeweils an die Welt und die Entwicklung des Menschen gebunden. Mit und durch die Sprache gewinnt das menschliche Denken jene abstraktive und reflexive Leistungsfähigkeit, die sie über alle tierischen Verständigungsmittel und Zeichensysteme weit hinaushebt. 66 Aus dem engen Zusammenhang zwischen Sprache und Welt müßte die Folgerung gezogen werden, die Begriffsgeschichte dementsprechend zu vertiefen, um "inhaltliche Begriffsforschung und Sprachforschung wieder anzunähern". 67
1.5. Zur Bedeutsamkeit des Ausdrucks Ausdrücke lassen "Strömungsrichtungen erkennen, in denen sich geistige und materielle Entwicklungen entfalten, so daß über neue Bedeutungen neue Ausdrücke auftreten und alte Ausdrücke neue Bedeutungs-/Begriffsmerkmale erhalten". 68 Es besteht eine Diskontinuität von Ausdruck und Inhalt. Sie können aus-
61
HUMBOLDT, W.V.: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hrsg. v.d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, 17.Bde., Berlin 1903-1936 (Reprint 1968), hier Bd. VII: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835], S. 55. 62
vgl. LEWANDOWSKI 1984, S. 974; vgl. GIPPER 1984.
63
vgl. GIPPER 1984, S. 14.
64
HUMBOLDT, Bd. VII, S. 176.
65
vgl. GIPPER 1984, S. 11.
66
vgl. GIPPER 1984, S. 11.
67
vgl. STEGER 1988 a, S. 118.
68
STEGER 1988 a, S. 85; vgl. ders. 1986, S. 205.
13 einandertreten und es ist nicht gesagt, daß dem Wandel des Inhalts auch ein Wandel des Ausdrucks folgt. Bestimmte Benutzer beharren auch bewußt auf einem Ausdruck, um so Traditionen aufrecht zu erhalten.69 Methodisch sinnvoll erscheint hier die Testfrage, ob in den einzelnen Funktionsbereichen der Heimat-Begriff relativ zu bestimmten Situationen und Benutzern wirklich identisch geblieben ist und ob dies zur Erklärung des Wandels in anderen Bereichen beiträgt. Ergänzend ist die Frage nach der kausalen Erklärung der Veränderungen zu stellen: Erklärt sich der Wandel des Ausdrucks als Folge des Wandels von kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen, politischen u.a. Sachverhalten? Auf jeden Fall sind Ausdrücke Indikatoren für außersprachliche Sachverhalte und gedankliche Konzepte.70 Ohne Ausdrücke keine sprachlichen Begriffe. Die Wichtigkeit der sprachlichen Ausdrücke als Indikatoren kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn vordringliche Aufgabe der Ausdrücke - wie aller formalen Elemente einer Wortgeschichte - ist ihre Indikatorfunktion. Das ist von entscheidender Bedeutung, wenn Wortgeschichte vorrangig Bedeutungs-/Begriffsgeschichte sein will.71
1.6. Methodische Zugriffe Bei den im folgenden aufgezeigten methodischen Fragestellungen/Vorgehensweisen besteht keine hierarchische Anordnung; sie können einander lose zugeordnet werden. Als methodische Richtschnur gilt, den Gebrauch eines Begriffs bzw. sein Vorkommen in den verschiedenen Funktionsbereichen der Kommunikation vergleichend zu analysieren und dabei den Wandel seiner Bedeutung aufzuzeigen. Die Rekonstruktion des Begriffsfeldes: Für eine begriffsgeschichtliche Untersuchung wird es sich als notwendig und sinnvoll erweisen, über den Einzelbegriff hinaus, zur Begriffsgeschichte eines ganzen Feldes vorzudringen.72 Durch die Betrachtung des Begriffsfeldes sollen eventuelle Gemeinsamkeiten seiner Bedeutungsentwicklung in den einzelnen Funktionsbereichen ermittelt werden. Sich verändernde Bedeutungskonventionen können eruiert werden.73 Dabei ist zu fragen, ob zeitlich parallele Entwicklungen in den Kommunikationsbereichen festzustellen sind. Auch die Frage nach Gegenbegriffen wird zu stellen sein. Bei der Rekonstruktion des Begriffsfeldes erweisen sich geistes- und sozialgeschichtliche Interpretationsverfahren als hilfreich. Dadurch soll beispielsweise ermittelt werden, ob zu "Heimat" äquivalent ist: "daheim" oder "Vaterland" oder die verbale Umschreibung "zu Hause sein". Ein solches Interpretationsverfahren
69
vgl. SCHULTZ 1979, S. 65 f.
70
vgl. SCHULTZ 1979, S. 67 und S. 45.
71
vgl. STEGER 1988 a, S. 85.
72
vgl. STEGER 1988 a, S. 91.
73
vgl. STEGER 1988 a, S. 88.
14
kann synchrone und diachrone Begriffsinterpretationen verbinden: Der Begriff soll in seinem Gebrauch und seiner Bedeutung rekonstruiert werden durch Interpretation ganzer Texte oder anhand von Textausschnitten. Dieser Interpretationsvorgang impliziert eine Rückübersetzung, die von einer Ergründung vergangener Bedeutungen zu der Festsetzung aktueller Bedeutungen führt. Auf diese Weise wird die synchrone Untersuchung vergangener Bedeutungen diachron ergänzt.74 Der Bereich vergangener Wirklichkeit wird zwar methodisch mit erfaßt, aber nie soweit, daß gesellschaftliche Gegebenheiten als solche thematisiert werden und im Vordergrund stehen. Die Analyse konzentriert sich auf die begriffliche Erfassung von gesellschaftlichen Phänomenen.75 Die historisch kritische Textanalyse faßt die Untersuchungsschritte konkret zusammen: Ihr Weg führt von der Wortgeschichte über die Bedeutungsanalyse von Texten zur Ermittlung des Wortgebrauchs. Koselleck formuliert es so: "Die Worte werden in ihren vergangenen sozialen und politischen Kontexten gelesen, die Zuordnung von Wort- und Sachverhalt wird interpretiert, das begriffliche Ergebnis definiert." 76 Neu gegenüber der traditionellen historisch-kritischen Methode ist dabei eine methodisch bewußte Untersuchung der wechselseitigen Zuordnung und Einwirkung von Sprache und politisch-sozialer Wirklichkeit. Der historisch-kritische Forschungsansatz wird in der vorliegenden Arbeit dazu dienen, die wechselseitige Einflußnahme von Gesellschaftsentwicklung und Begriffsentwicklung zu beleuchten und zwar gegliedert nach parallelen Funktionsbereichen der Kommunikation. Neben diesen geistes- und sozialgeschichtlichen Forschungsaspekten werden miteinbezogen: Die semasiologische Bedeutungsanalyse visiert normalerweise alle Bedeutungen eines Terminus an. Sie erfährt in dieser Untersuchung ihre Eingrenzung dadurch, daß nur die bezeichneten Funktionsbereiche in den Blick gerückt werden. Die onomasiologische Betrachtungsweise notiert normalerweise alle Bezeichnungen für einen vorgegebenen Sachverhalt. Ausgehend von den Bedeutungen der "Sache Heimat", sollen außer dem Ausdruck "Heimat" selbst, Parallel- und Nebenbezeichungen sowie Synonyma mit erfaßt werden (z.B. "daheim", "zu Hause sein", "Vaterland"). Die angeführten methodischen Zugriffe sollen dazu dienen, die verschiedenen Facetten der Begriffsbedeutung und deren Wandel zu dokumentieren. Das methodische Instrumentarium soll es ermöglichen, Begriffsinhalte der unterschiedlichen Kommunikationsbereiche differenziert zu analysieren.
74
vgl. KOSELLECK 1979, S. 25.
75
vgl. auch Methode von KOSELLECK 1967.
76
zit. nach SCHULTZ 1979, S. 46.
15
1.7. Wahl der Zeitausschnitte Die Entwicklung des Heimat-Begriffs soll nicht kontinuierlich durch alle Epochen und dabei parallel in allen Funktionsbereichen der Kommunikation verfolgt werden. Die Frage nach dem Ursprung der Bedeutungselemente des HeimatBegriffs bedingt auch die Wahl der zeitlichen Ausschnitte innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche. Eine Untersuchung erscheint nur dort angebracht, wo aufgrund der Quellenlage interessante Einsichten und charakteristische Einschnitte zu erwarten sind. Es werden solche Abschnitte herausgegriffen * in denen bis heute vorhandene Inhalte erstmals mit dem Ausdruck "Heimat" verknüpft worden sind; * in denen sich Synonyme und Gegenbegriffe etabliert und stabilisiert haben, die auch heute noch mit "Heimat" assoziiert werden; * die erkennen lassen, daß einzelne Elemente/Merkmale des Begriffs benutzt werden, um bestimmten (gesellschaftspolitischen) Zielen zu dienen; * in denen zentrale Bedeutungselemente des Begriffs das Begriffsfeld dominieren und zu konstanten Teilbedeutungen werden, die bis heute Auswirkungen auf die Verwendung im Alltagsbereich haben. Bedingt durch diese Prämissen wird es innerhalb der verschiedenen Bezugsbereiche, d.h. innerhalb der einzelnen Kapitel, durch zeitrelevante Bedeutungsauswahlen des Heimat-Begriffs zu "Inselbildungen" kommen.
1.8. Erstellen eines Textkorpus Der Quellenbereich umfaßt potentiell alle schriftlich fixierten Quellen. Bei der Auswahl von Belegtexten stellt sich zunächst die Frage, welche Verwendungszusammenhänge interessante Aufschlüsse über die Bedeutung des Heimat-Begriffs versprechen, bzw. in welchen Schreib- und Sprechzusammenhängen Bedeutungselemente von "Heimat" vorkommen können und in welchen Quellen dieser Kontext anzutreffen sein müßte. Diese Fragemethode, die von Hans Sperber entwickelt wurde 77 , erscheint bei einer funktional-zweckhaften Aufgliederung der Begriffsbedeutung angebracht. Da sich die Untersuchung in mehreren Kommunikationsbereichen bewegt, findet bei den herangezogenen Texten keine Klassifikation von Texttypen statt; dies würde den Untersuchungsrahmen sprengen. Verwendet werden Alltagstexte, Behördentexte, Texte der Religion, politische, naturwissenschaftliche und literarische Texte.
77
vgl. SCHMIDT-HIDDING 1963, S. 28.
16
1.9. Eklektischer Semantikbegriff Das Interesse an Bedeutung ist so alt wie die Sprachforschung selbst. Semantik bezeichnet die Wissenschaft von der Bedeutung und wurde im 19. Jh. als eigenständiger Zweig der Linguistik anerkannt. 78 Neben der linguistischen Semantik existieren noch andere Zweige der Semantik, wie z.B. die logische, die psychologische oder die anthropologische Semantik. Obwohl sich diese Disziplinen in ihrer Betrachtungsweise und Zielsetzung unterscheiden, fallt es der Forschung häufig schwer, eine Trennung durchzuführen. 79 In der Geschichte und in der Gegenwart sind "die wechselseitigen Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von Semantik komplex und bis zu einem gewissen Grad kontrovers". 80 Eine zentrale Gestalt in der Entwicklung der modernen formalen Semantik ist der deutsche Logiker Gottlob Frege. Auch andere philosophische Logiker und Sprachphilosophen (Russell, Carnap, Austin, Montague, Lewis, Kaplan u.v.a.) hatten entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der theoretischen Semantik in der Linguistik. 81 Zur Zeit gibt es gerade auf dem Gebiet der Semantik einige Forschungsschwierigkeiten und beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist noch vieles kontrovers. Bei einigen Forschungsansätzen erscheint eine Abgrenzung zu theoretischen Ansatzpunkten dieser Arbeit sinnvoll. Von anderen semantischen Ansätzen konnten einige Aspekte für die methodische Grundlage genutzt werden. Der theoretische Rahmen wurde entwickelt aus Auffassungen der Sprachphilosophie, deren Positionen entscheidend auf die Entwicklung der theoretischen Semantik in der Linguistik eingewirkt haben und aus allgemeineren semantischen Fragestellungen, die einen Zuschnitt auf die konkrete Problemstellung der vorliegenden Arbeit erlauben. "Unter den verschiedenen Konzeptionen der Semantik hat sich die Wahrheitsbedingungen-Semantik als besonders einflußreich erwiesen. Sie ist zum vorherrschenden Paradigma der formalen linguistischen Semantik geworden. "82 Da die in diesem Forschungskontext entwickelten Theorien davon ausgehen, daß die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks "berechenbar" sein muß und die Konstruktion der Bedeutung aufgrund des Satzbaus zu erfassen versucht, bilden die modelltheoretischen Methoden der wahrheitskonditionalen Auffassung keine geeignete Grundlage für die Analyse der Bedeutung von "Heimat". In der aktuellen Forschung machen viele Wissenschaftler einen terminologischen Unterschied zwischen Semantik und Pragmatik. Dies führt dazu, daß diese
78
vgl. LYONS, J.: Bedeutungstheorien (Theories of Meaning), in: STECHOW, A. v./WUNDERLICH, D. (Hrsg.): Semantik: ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 6, hrsg. v. H. STEGER/H.E. WIEGAND), Berlin/New York 1991, S. 1-24, hier S. 1. 79
vgl. LYONS 1991, S. 2.
80
LYONS 1991, S. 2.
81
vgl. v. STECHOW/WUNDERLICH 1991, S. V.
82
v. STECHOW/WUNDERLICH 1991, S. V.
17 Linguisten de facto eine enge Definition von "Linguistik" und von "Bedeutung" voraussetzen. Wenn linguistische Semantik per Definition "die Erforschung der Bedeutung in der Linguistik" bedeutet, dann wird "nicht-linguistische Semantik" definiert als "die Untersuchung der Bedeutung in nicht-linguistischen Disziplinen" wie z.B. Philosophie, Psychologie u.s.w. 83 Da es in der vorliegenden Arbeit sowohl um sprachliche als auch um nichtsprachliche Aspekte von Bedeutung geht, kann die Definition von "Semantik" und "Bedeutung" keine enge sein, sondern sie muß weiter und allgemeiner gefaßt werden. Der Terminus Semantik wird allgemein definiert als "die Erforschung der Bedeutung". 84 Diese Definition legt die Vermutung nahe, daß "Bedeutungstheorie" und "semantische Theorie" synonym seien. Der Verfasser schließt sich der vorherrschenden Forschungsmeinung jüngster Zeit an, wonach der Terminus "Bedeutungstheorie" traditionell in einer "weiteren Bedeutung" gebraucht wird als der Terminus "semantische Theorie", der in seiner "engeren Bedeutung" auf lingistische Semantik eingeschränkt ist. Aufgabe einer Semantiktheorie ist es, die systematische Zuordnung von sprachlichen Ausdrücken und Bedeutungen zu explizieren. "Dazu wählt sie sich ihrerseits eine Repräsentations'sprache' für Bedeutungen, mit der die strukturellen und z.T. auch funktionalen Aspekte mentaler Bedeutungsrepräsentationen erfaßt werden." 85 Auf die Verwendung formaler, insbesondere algebraischer modelltheoretischer Methoden, die die Konstruktion der Bedeutung kompositional aufgrund ihres Satzbaus erfassen 86 , kann in der vorliegenden Arbeit verzichtet werden, da mit der "Erforschung der Bedeutung" eine "weitere Bedeutung" im Sinne des Terminus "Bedeutungstheorie" gemeint ist.87 Die meisten Bedeutungstheorien haben ihren Ursprung in von der Linguistik verschiedenen Disziplinen und wurden dazu entworfen, sowohl linguistische als auch nichtlinguistische Bedeutungen abzudecken. 88 Bedeutungstheorien, die von Linguisten, Philosophen, Psychologen u.a. vertreten wurden, können in der Regel unter folgende Überschriften gruppiert werden: Referenztheorie, Ideationstheorie oder behavioristische Theorie. Diese Kategorien schließen sich nicht wechselseitig aus und jede von ihnen enthält Varianten. 89 Das semiotische Dreieck (Ogden & Richards), auch Basisdreieck (Ulimann) genannt, dient der Veranschaulichung der Theorien (bes. Referenz- und Ideationstheorie). Ogden und Richards (1923) entwickelten eine einflußreiche Verhaltenstheorie der Bedeutung, die allerdings nicht behavioristisch ist. Sie besagt, daß Wörter kausal mit Situa-
83
vgl. LYONS 1991, S. 3 f.
84
LYONS 1991, S. 2.
85
WUNDERLICH, D.: Bedeutung und Gebrauch (Meaning and Use), in: v. STECHOW/WUNDERLICH (Hrsg.): Semantik. a.a.O. 1991, S. 32-53, hier S. 35. 86
vgl. v. STECHOW/WUNDERLICH 1991, S. V.
87
vgl. LYONS 1991, S. 7.
88
vgl. LYONS 1991, S. 4.
89
vgl. LYONS 1991, S. 8.
18 tionen verbunden sind, in denen sie vorkommen und daß ihre Bedeutung von dieser kausalen Verbindung abhängt. Alle Verhaltenstheorien der Bedeutung tendieren dazu, die Sichtweise von Ogden und Richards zu teilen. 90 Nur wenige Linguisten oder Psychologen verteidigen heute die Prinzipien der Verhaltenstheorie der Bedeutung oder die behavioristische Semantik der Theorien von Ogden & Richards, Morris, Bloomfield oder Skinner. "Es muß deshalb betont werden, daß der verhaltenstheoretische, wenn nicht sogar der behavioristische Standpunkt in der modernen philosophischen Semantik noch stark vertreten ist." 91 Hier sei besonders auf das klassische Werk von Quine (1960) verwiesen. Von den Theorien, die den kommunikativen Sinn von Äußerungen zu explizieren suchen (z.B. Theorie der performativen Akte und Sprechakttheorie) wird die "Gebrauchstheorie der Bedeutung" (Wittgenstein 1953/67) 92 zur Methodenbildung der vorliegenden Arbeit herangezogen, da die von Wittgenstein vertretene Auffassung von "Bedeutung" in den theoretischen Begründungszusammenhang hineingehört. Die Frage: "Was ist Bedeutung?" ist nach allgemeinem Konsensus die zentrale Frage der Semantik. 93 Innerhalb der linguistischen Semantik ist es zur Zeit eine kontroverse Frage, ob man eine "breitere" oder "engere Definition von "Bedeutung" verwenden soll. 94 Die logische Semantik hat nach allgemeiner Auffassung den restriktivsten und am weitesten abstrahierten Bedeutungsbegriff entwikkelt. 95 Dem gegenüber steht der sprachphilosophische Bedeutungsbegriff Wittgensteins. Seiner "Gebrauchstheorie der Bedeutung" zufolge, sind Bedeutungen "im Leben, in den Tätigkeitsfeldern des Menschen verankert; sie sind an soziale Akte gebunden". 96 Der in dieser Schrift verwendete Bedeutungsbegriff gründet sich auf den folgenden allgemeingültigen Forschungsstandpunkt: "Für jeglichen Bedeutungsbegriff ist es zentral, daß mit sprachlichen Äußerungen Informationen über nichtsprachliche Sachverhalte vermittelt werden." 97 Bei der Analyse des Heimat-Begriffs kommen semantische und pragmatische Bedeutungsanteile zum Tragen. Nach der inzwischen am weitesten verbreiteten Auffassung unter Semantikern ist "semantisch" an der Bedeutung eines Ausdrucks der Anteil, der sich modelltheoretisch rekonstruieren läßt. Dieser Bedeutungsaspekt reicht im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit nicht aus, um eine brauchbare Definition von "Bedeutung" herzuleiten. "Bedeutung" muß weiter abgesteckt werden, d.h. alle übrigen Bedeutungsaspekte des Ausdrucks, die im weitesten Sinne mit der Verwendung des Ausdrucks zu tun haben, mit raumzeitlichen Eigenschaften
90
vgl. LYONS 1991, S. 13 f.
91
LYONS 1991, S. 14 f.
92
vgl. WUNDERLICH 1991, S. 44.
93
vgl. LYONS 1991, S. 7.
94
vgl. LYONS 1991, S. 3.
95
vgl. WUNDERLICH 1991, S. 32.
96
vgl. WUNDERLICH 1991, S. 44.
97
WUNDERLICH 1991, S. 32.
19 des Kontextes, mit möglichen Sprecherannahmen u.s.w. und in der umfangreichen Forschungsliteratur zur Semantik recht undifferenziert "pragmatisch" genannt werden, sind wesentliche Kriterien für die Abgrenzung inhaltlicher Aspekte des Heimat-Begriffs. 98 Wichtig für den Bedeutungsbegriff, der hier zugrunde liegt, sind auch folgende wortsemantische Überlegungen: Durch sprachspezifische Bedeutungspostulate kann der sprachübergreifende Charakter vieler Bedeutungsbeziehungen nicht erfaßt werden." Hier erweist sich ein Terminus aus dem Bereich der strukturalistischen Semantik als hilfreich: der "Sinnbezirk" (Trier 1931), der definiert ist als eine bestimmte, nicht sprachlich vorgegebene Gliederungseinheit eines Gegenstandsbereiches. Innerhalb eines Sinnbezirks sind Wortbedeutungen definiert durch distinktive Merkmale, auch Seme genannt. Die Gesamtheit der nach semantischen Merkmalen spezifizierten Wörter eines Sinnbezirks konstituiert das sog. Wortfeld (Trier 1931).100 Neben der "Theorie der Wortfelder" ist die "Merkmalstheorie" von Katz und Fodor ein wichtiger Vertreter der Dekompositionstheorie im engeren Sinne. 101 Dabei wird zunächst von der Annahme ausgegangen, daß sich Bedeutungen von Wörtern zerlegen lassen in Inhaltskerne und logische bzw. quasilogische Komponenten (Dekomposition). 102 Den Versuch einer weiteren Zerlegung der Inhaltskerne in atomare Bedeutungseinheiten bezeichnet man als "Dekompositionstheorie im engeren Sinne". 103 Wie für die Dekomposition der Simpliziabedeutungen in Inhaltskern und quasilogische Operatoren stellt sich "auch für die weitergehende Merkmalszerlegung das Problem, daß nur in den seltensten Fällen Paraphrase und Wort als synonym betrachtet werden können". 104 Weiteren schwerwiegenden Einwänden ist die Merkmalsanalyse ausgesetzt, weil die vorgenommenen Bedeutungsanalysen die Existenz von Bedeutungswahrheiten voraussetzen. "Die Existenz solcher Bedeutungswahrheiten, ja die Existenz von einer Entität 'Bedeutung' schlechthin ist jedoch nicht unumstritten." 105 Was unreflektiert als Bedeutung angesehen wird, stellt Quine (1960) zufolge nur ein System von allgemein geteilten Glaubensannahmen über die Welt dar. Quines Ansicht ist von verschiedenen Seiten angegriffen worden (z.B. von Chomsky 1980).106 Putnam (1975) wendet sich grundsätzlich gegen die Annahme, daß das, was herkömmlich unter Bedeutung verstanden wird, sich "im Kopf" befin-
98
Zu diesem Begründungszusammenhang vgl. WUNDERLICH 1991, S.38.
99
vgl. FANSELOW, G./STAUDACHER, P.: Wortsemantik (Word Semantics), in: v. STECHOW/WUNDERLICH (Hrsg.): Semantik. a.a.O. 1991, S. 53-71, hier S. 62. 100
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 64.
101
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 64.
102
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 61.
103
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 63.
104
FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 65.
105
FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 65.
106
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 66.
20 det. Er faßt "die Bedeutung eines Wortes als nichtmentales mehrdimensionales Gebilde auf, in das soziale, individuelle und weltbezogene Faktoren eingehen" 107 . Von dieser Bedeutungsauffassung lassen sich einige zentrale Aspekte im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit diskutieren, zumal sich Putnam ausdrücklich gegen den analytischen Charakter semantischer Merkmale wendet; für ihn erscheint fast jedes von ihnen aufgrund von Erfahrungen revidierbar. 108 Dies wäre am Beispiel von "Heimat" zu überprüfen: Ist die Bedeutung von "Heimat" ein mehrdimensionales Gebilde, in das soziale, individuelle und weltbezogenen Faktoren eingehen? Befindet sich dieses Bedeutungsgebilde "im Kopf"? Ist es aufgrund von Erfahrungen revidierbar? Aus dem dargestellten Begründungszusammenhang ergibt sich, daß die übliche Definition von Semantik als "Erforschung der Bedeutung" für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit konkretisiert werden muß. Der Terminus "Bedeutung" wird im Sinne von "Begriffsinhalt" verwendet. Semantik wird gleichgesetzt mit Inhaltssystem und definiert als "Vereinigungsmenge" aller sozial/gesellschaftlich/historisch bedingten Faktoren des jeweiligen Kommunikationsbereichs. 109 Dieses Vorgehen erscheint gerechtfertigt, da die außersprachlichen Bedingungen ein entscheidender Faktor der Untersuchung sind. Es wird von unterschiedlichen Semantiken ausgegangen, welche an die verschiedenen Kommunikationsbereiche gebunden sind. 110 Die semantische Analyse wird auf den Alltagsbereich und auf die sprachlichen Theoriewelten gerichtet sein, "für deren Konstruktion und Benutzung funktional-zweckhafte Semantiken im Laufe der Geschichte geschaffen und immer weiter differenziert wurden." 111 Bevor auf die Semantik des Heimat-Begriffs in den verschiedenen Funktionsbereichen eingegangen wird, erfolgt zunächst die Sicherung des Wortkörpers und die Rekonstruktion der Wortentstehung, um von der Basis des Ausdrucks "Heimat" ausgehen zu können.
1.10. Zur Etymologie des Wortes "Heimat" "Heimat" geht zurück auf "ahd. hpimöti, -uoti, mhd. hpimöt, -uot(e), -üete n.f., mnd. hemöde n.f. (got. nur die im zweiten Glied abweichende Zusammensetzung haimö£li η. 'Grundbesitz', die in ahd. heimödil, oberösterr. hoamatl n. 'Gut,
107
FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 67.
108
vgl. FANSELOW/STAUDACHER 1991, S. 67.
109
vgl. STEGER 1988 b, S. 312.
110
vgl. STEGER 1988 a, S. 83.
111
STEGER, H.: Erscheinungsformen der deutschen Sprache. "Allagssprache" "Fachsprache" - "Standardsprache" - "Dialekt" und andere Gliederungstermini, in: Deutsche Sprache 16. Jg. Heft 4, 1988 ( = 1988 b), S. 289-319, hier S. 312.
21 Anwesen' wiederkehrt)." 112 Die Form "heimat ist seit dem 15. jahrh. aus verschiedenen gegenden nachweisbar [...], Luther braucht diese form, ebenso kennt sie Maaler" 113 und schon im 16. jahrh. überwiegt sie entschieden. "Aus ihr entspringen zwei nebenformen: eine mit nasal versehene heimant [...] und eine abgeschwächte heimet." 114 Die Abschwächung führt "zu den obd. md. Formen heimet, hamet, heimde." 115 Die Schwächung der nhd. Form zu heimet erfolgte nur mundartlich, hat sich dort aber bis heute erhalten. 116 "Es ist sehr wahrscheinlich, daß die letzte Sylbe aus der Endung -de entstanden ist, [...] indem dieses Wort im gemeinen Leben vieler Gegenden wirklich Heimde geschrieben und gesprochen wird." 117 Das a in Heimat "beruht auf einer Abschwächung wie in 'Monat' und 'Zierat' - auch 'kleinat' findet sich im 15. Jh." 118 Die Bildungssilbe tritt auch in 'armut' und 'kleinod' auf. 119 Das Wort zeigt vor dem "suffixalen, zustands- und ortsbildenden t [den] ursprünglich langen vocal, der sich auch, nachdem im allgemeinen solche vocale zu tonlosem e zurückgegangen waren, ausnahmsweise erhielt, freilich nicht ohne schwanken." 120 In dem heute "ausschlieszlich schriftgemäszen heimat ist die ursprüngliche Ableitungssilbe -ôt durch at verdrängt, ganz so wie zu mhd. mânôt sich mânât, ebenso zu kleinôt [...] die nebenform kleinât findet."121 "Das geschlecht des Wortes ist ursprünglich nur neutrales gewesen, bereits im mhd. aber entwickelt sich daneben das weibliche und erscheint bald gleich häufig" 122 : "ahd. heimôti, heimuoti als Neutr., mhd. heimôt, heimuot, heimuote als Neutr. und Fem." 123 Im 16. Jh. wird es noch häufig als Neutrum verwendet, im 17. Jh. ist es als solches ebenfalls noch gebräuchlich. 124 In den
112
KLUGE, F.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 19. Aufl. bearbeitet von W. MITZKA, Berlin 1963, S. 299 s.v. "Heimat". 113
GRIMM, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch, München 1984, Bd. 10, S. 864 s.v. "Heimat". 114
GRIMM 1984, S. 865.
115
TRÜBNERs Deutsches Wörterbuch (1939-1957), Berlin 1939, Bd. 3, S. 387 s.v. "Heimat". 116
vgl. GRIMM 1984, Bd. 10, S. 865; vgl. HEYNE, M.: Deutsches Wörterbuch, 2. Aufl. Leipzig 1906, Bd. 2, S. 103 s.v. "Heimat". 117
ADELUNG, J.Ch.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2. Aufl. Leipzig 1796, Bd. 2, S. 1077 s.v. "Die Heimath". 118
TRÜBNER 1939, Bd. 3, S. 387 s.v. "Heimat".
119
vgl. HEYNE 2. Aufl. 1906, Bd. 2, S. 103 s.v. "Heimat".
120
GRIMM 1984, Bd. 10, S. 864 s.v. "Heimat".
121
GRIMM 1984, S. 864 s.v. "Heimat".
122
GRIMM 1984, S. 865 s.v. "Heimat".
123
HEYNE 2. Aufl. 1906, Bd. 2, S. 103 s.v. "Heimat".
124
vgl. GRIMM 1984, Bd. 10, S. 865 s.v. "Heimat".
22 Wörterbüchern von Adelung (1796)125 und Campe (1808) 126 heißt es, Heimat sei in einigen Gegenden ungewissen Geschlechts, und in beiden Wörterbüchern wird ein Zitat von Frisch angeführt: "Ein Mann verlässet sein eigen Heimat und hanget seinem Weibe an", 3 Esr. 4, 20. Das Geschlecht von Heimat schwankt zwischen Neutr. und Fem., "bis das Neutr. seit dem 18. Jh. auf mundartlichen Gebrauch beschränkt wird. " m "Noch jetzt ist das neutrale geschlecht mundartlich vielfach ausschlieszlich üblich, so z.b. in Hessen 'das heimed, hêmed', bair. 'das haimât', plur. 'die haimâter', ebenso in Kärnten 'hâmat'." 128 In der heutigen Standard- und Hochsprache wird "Heimat" ausschließlich als Fem. gebraucht. Das germ. * haima-, -i-, verweist auf Heim. 129 Im Wörterbuch von Weigand aus dem Jahre 1881 findet sich unter dem Artikel "das Heim, die Heimat" folgende Formulierung: "In der früheren Sprache kam ein der Lautverschiebung gemäß mit gr. die körne (χώμη), litthau. der kaimas = Dorf, in der Wurzel mit sanskr. pi = liegen stimmendes noch an Ortsnamen erhaltenes, doch bald nach 1770 für sich stehend spärlich erneuertes und in jüngster Zeit viel gebrauchtes das Heim reichlich vor." 130 "Das gemeingerm. Wort mhd., ahd. heim 'Haus, Wohnung, Heimat', got. haims ' D o r f , engl, home 'Haus, Wohnung, Aufenthaltsort, Heimat'" 131 , "asächs. h£m m. n. 'Heimat, Wohnort, -sitz eines Geschlechts', mnl. heem, heim n. 'Wohnplatz, Erbe', afries. hem, hSm m.n. 'Heim, D o r f , ags. häm m. 'Dorf, Landgut, Haus, Wohnung', anord. heimr m. 'Wohnung, Welt', heima n. 'Heimat', schwed. älter dän. hem, dän. (jüt.) hjem" 132 , "mit dem in anderen idg. Sprachen z.B. gr. kome ' D o r f und die baltoslaw. 'Sippe' von russ. sem'já 'Familie' verwandt sind, ist eine Substantivbildung zu der idg. Wz. *fkei- 'liegen' und bedeutet demnach ursprünglich O r t , wo man sich niederläßt, Lager'." 133 "Das Subst. ist gemeingerm. in der Bedeutung 'Heimat eines Stamms' (Boi(o) haemum Tacitus, Germ. 28; Vellejus Patere. 2, 109; BOVÍOCLJUOU Strabo 7, 290), einer Gemeinde (so in den vor allem fränk. Ortsnamen auf -heim), [...] des einzelnen, dies erst mit dem Erstarken des Privateigentums am fränk. Niederrhein; von da frühestens im 7. Jh. in
125
ADELUNG 2. Aufl. 1796, Bd. 2, S. 1077 s.v. "Die Heimath".
126
CAMPE, J.H.: Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1808, Bd. 2, S. 603 s.v. "Die Heimath". 127
TRÜBNER 1939, Bd. 3, S. 387 s.v. "Heimat".
128
GRIMM 1984, Bd. 10, S. 865 s.v. "Heimat".
129
vgl. KLUGE/MITZKA 19. Aufl. 1963, S. 299 s.v.
Heim".
130
WEIGAND, F.L.K.: Deutsches Wörterbuch, Gießen 1881, Bd. 1, S. 789 s.v. "das Heim". 131
DUDEN Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, S. 257 s.v. "Heim". 132
KLUGE/MITZKA 19. Aufl. 1963, S. 299 s.v. "Heim".
133
D U D E N Etymologie 1963, S. 257 s.v. "Heim".
23 den Norden gelangt." 134 "Während das Adv. heim ständig in lebendigem Gebrauch blieb, fehlt das Subst. Heim vom 16. Jh. bis zur Mitte des 18. Jh. in den literarischen Belegen. Wohl unter dem Einfluß von engl, home wurde dann das Substantiv neu belebt oder das Adverb heim substantiviert." 135
1.11. Ausgangsfrage und Hypothesenbildung Jede wissenschaftliche Analyse, setzt eine möglichst genaue Bestimmung des Gegenstandes voraus, dem diese Analyse gilt. Eine derartige Bestimmung erweist sich für den Inhalt des Heimat-Begriffs als überaus schwierig. Selbst die "naive" Ausgangsfrage: "Was bedeutet Heimat?" läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Im Kontext empirischer Erhebungen hat sich herausgestellt, "daß es für einfache Menschen gar nicht so leicht ist, ihre [...] Heimatvorstellungen in Worte zu kleiden." 136 Man fühlt sich an Augustinus' Betrachtungen über das Problem der Zeit erinnert, der auf die Frage "Was ist Zeit?" antwortet: "Solange mich niemand danach fragt, ist es mir, als wüßte ich es; fragt man mich aber und soll ich es erklären, dann weiß ich es nicht mehr." 137 Die Ausgangsfrage nach der Bedeutung von "Heimat" soll zunächst durch Beispiele spontan geäußerter Heimatvorstellungen einzelner Menschen hypothetisch beantwortet werden, um daraus Schlüsse für ein weiteres methodisches Vorgehen ziehen zu können. Das Entstehen einer individuellen Empfindung, die man mit "Heimatgefühl" umschreiben könnte, ist beispielsweise so vorstellbar: * der Geruch auftauender Erde im Vorfrühling oder eines frisch gebohnerten Holzfußbodens; * der Anblick eines Gegenstandes oder Gebäudes; * das Hören einer bestimmten Melodie oder einer Stimme; rufen Erinnerungen wach z.B.: * an ein begrenztes Stück Natur; * an ein Zimmer im Elternhaus oder in der Schule; * an einen bestimmten Wohnort; * an nahestehende, vertraute Menschen; * an regelmäßig wiederkehrende Feste. Diese Erinnerungen sind verbunden mit Empfindungen wie: Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit, Anerkennung, Geborgenheit.
134
KLUGE/MITZKA 19. Aufl. 1963, S. 299 S.v. "Heim".
135
DUDEN Etymologie 1963, S. 257 s.v. "Heim".
136
SCHNEIDER, H.: Heimat. Wohnort - Gemeinde - Landkreis. Einige empirische Befunde, in: WEIGELT, K. (Hrsg.), Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein, Mainz 1986 ( = Studien zur politischen Bildung Bd. 11), S. 57-78, hier S. 62. 137
zit. nach BAUSINGER, H.: Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis, in: HEIMAT HEUTE, Der Bürger im Staat, 33. Jg. Heft 4, Nov. 1983, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg S. 211-217, hier S. 211.
24 Indem man sich etwas vertraut gemacht hat, sei es einen bestimmten Raum (z.B. Landschaft/Ort/Elternhaus, in dem das heranwachsende Individuum sich Winkel für Winkel vertraut macht) oder einen Menschen, verleiht man ihm Einzigartigkeit und darin ist der Kern des individuellen Heimatgefühls begründet. Aus diesen Beispielen "naiver" Heimatvorstellungen läßt sich folgern: "Heimatgefühl" richtet sich auf Landschaften, Orte, Gebäude (räumliche Elemente) oder soziale Beziehungen, die als einmalig empfunden werden. Als Vertrautheitsfaktor wirkt ein bestimmter Raum, in dem sich soziale Bindungen, Gemeinschaft und Tradition verwirklichen können. Die erste Annäherung an den Begriffsbezirk "Heimat" hat verdeutlicht, daß * die Frage nach dem Inhalt des Heimat-Begriffs nur individuell und nicht allgemeingültig zu beantworten ist; * sich hinter dem "naiv" gebrauchten Ausdruck "Heimat" eine Fülle von Bedeutungen verbirgt, die nicht als einheitlicher Komplex abgehandelt werden können; * der Heimat-Begriff als Forschungsobjekt nur durch die Zuhilfenahme von räumlichen und sozialen Bezugskategorien zugänglich wird, die jeweils Teilbedeutungen des Begriffsinhalts umfassen. Aufgrund der objektiven Vielfalt und subjektiven Variationsbreite der Bedeutungselemente des aktuellen Heimat-Begriffs wird es nicht möglich sein, sie in ihrem gesamten Umfang zu erfassen und sinnvoll zu kategorisieren. Deshalb soll das vielsträngige Beziehungsgefüge des Begriffs reduziert werden auf räumliche oder sozial determinierte inhaltliche Elemente, die sich als konstitutiv erweisen könnten und die bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden sollen, um festzustellen, ob sie im Alltag oder Theoriebereich wurzeln. Die gegebenenfalls zu verifizierende/falsifizierende Hypothese lautet: Konstitutive Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs der räumlichen und sozialen Kategorie haben ihren Ursprung im "primären" Alltagsbereich, wurden teilweise in den Theoriebereich übernommen und wirken kulturell überformt auf den Alltagsbereich zurück. Auf diese Weise konnten sich einerseits alltägliche Teilbedeutungen des Heimat-Begriffs im Theoriebereich manifestieren und andererseits Teilbedeutungen aus dem Theoriebereich in den Heimat-Begriff des Alltags eingehen. Um die theoretische Basis dieser Hypothese abzusichern, bedarf es einiger Definitionen bzw. Herleitungen, die jedoch nicht auf das sprachwissenschaftliche Gebiet beschränkt bleiben können, sondern in sozial- und naturwissenschaftliche Disziplinen ausgreifen müssen, um sich nicht im Bereich purer Spekulationen zu verlieren: 1. Die Definition von räumlicher und sozialer Kategorie erfolgt in Abgrenzung von wissenschaftstheoretischen und soziologischen Begriffen. 2. Die Entstehung und Aufspaltung der grundsätzlich zu unterscheidenden Bereiche Alltag und Theorie wird anthropologisch begründet. 3. Die Benennung konstitutiver Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs und der Nachweis von deren Universalität erfolgt unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Teildisziplinen von Biologie, Anthropologie und Soziologie. 4. Die Bestimmung des Alltagsbereichs als primärer Lebensbereich wird durch philosophische und sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster hergeleitet.
25
1.12. Definition von "räumlicher" und "sozialer" Kategorie In der Realität sind soziale, räumliche, situative und zeitliche Faktoren am Entstehen von "Heimatgefühl" beteiligt und wirken somit bei der Konstitution des Heimat-Begriffs zusammen. Bei den nachstehenden Definitionen handelt es sich um theoretische Konstrukte, die es ermöglichen sollen, räumliche und soziale Kategorien getrennt zu betrachten. Da beispielsweise Sozialisationsfaktoren sowie gemeinschaftsstiftende Aspekte (Traditionen, Bräuche) nur im Zusammenhang des situativen und zeitlichen Gefüges eines individuellen Lebenslaufs bzw. durch die Einordnung in größere Zusammenhänge der kulturgeschichtlichen Entwicklung einen Sinn ergeben, werden die situativen und zeitlichen Faktoren nicht isoliert betrachtet und als gesonderte Kategorie (neben der räumlichen und sozialen Kategorie) aufgefaßt. Zur konkreteren Analyse des Heimat-Begriffs soll eine Reduzierung der komplexen räumlichen und sozialen Kategorien auf die Faktoren "Territorium" und "Gemeinschaft" beitragen. * Die "räumliche Kategorie" wird definiert als Raum i.S. von Wohnraum oder Landschaft; beides wird unter den Begriff "Territorium" subsumiert und somit auf die geographische Dimension reduziert. Raum wird hier nicht als die gesamte, den Menschen umgebende "Um-Welt" oder als gesamter "Lebensraum" verstanden. Ohne näher auf die Mensch-RaumBeziehungsmodelle der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen eingehen zu wollen, wird lediglich ein isolierter Aspekt einer Raum-Vorstellung verwendet, denn Wohnraum und Landschaft werden als ein Aspekt aus der Vorstellung des doppelten Charakters eines "gestimmten Raumes" herausgegriffen.138 * Die "soziale Kategorie" wird durch den Terminus "Gemeinschaft" definiert und umfaßt auch gemeinschaftsstiftende bzw. gemeinschaftserhaltende Aspekte wie z.B. Traditionen, Bräuche und Rituale. Eine Verwendung des Begriffs "Gemeinschaft" bezüglich sozialer Gegebenheiten kann nicht an der soziologischen Begriffsbestimmung von Ferdinand Tönnies vorbeigehen.139 Nach anthropologischem Verständnis steht der Mensch in einer Spannung zwischen Natur und Geist. Tönnies hat diesen Antagonismus vom Willen zur sozialen Bindung her verstanden. "Daraus ergibt sich auf der Naturseite der Wesenwille in der Gemeinschaft. Menschen wirken zusammen,
138
Der zweite Aspekt des gestimmten Raumes, welcher hier ausgeklammert wird, da er sich nicht zur Bestimmung eines "Territoriums" i.S. von Gebiet eignet, beinhaltet die Veränderlichkeit von Ausdrucksgehalt und Atmosphäre des Raumes durch unser Befinden (vgl. dazu Edward T. HALL: Die Sprache des Raumes, Düsseldorf 1976). Den "gestimmten Raum" aus wissenschaftstheoretischer Sicht untersucht Elisabeth STRÖKER in: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfiirt a. Main 1965, Kap. 1, S. 22-54; vgl. auch Ludwig BINSWANGER: Das Raumproblem in der Psychopathologie in: ders., Ausgewählte Vorträge und Aufsätze Bd. 2, Bern 1955, S. 205 f. 139
TÖNNIES, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Neuausgabe Darmstadt 1963.
26 weil sie bereits zusammengehören, in der Familie, der Nachbarschaft, als Freunde usw. Auf der Seite des Geistes stehen die willkürlich geschlossenen Verbindungen, der 'Kürwille' [...] in der Gesellschaft." 140 Zu den unterschiedlichen Theorien von Gemeinschaft und Gesellschaft führt Tönnies aus: "Die Theorie der Gemeinschaft gehe [...] von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch, sich erhalte [...] Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt; die Tatsache, daß menschliche Willen, insofern als jeder einer leiblichen Konstitution entspricht, durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden sind und bleiben, oder notwendigerweise werden." 141 (Unter Gemeinschaft wird z.B. Familie gefaßt). "Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche [...] auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden [...] sind." 142 Derselbe Mensch steht normalerweise in verschiedenen (gemeinschaftsgebundenen und geselischaftsgebundenen) Bindungen zugleich (z.B. ist das Individuum primär gemeinschaftsgebunden in der Familie und daneben primär gesellschaftsgebunden im Beruf) 143 ; und alle diese Beziehungen, ob auf Gemeinschaftsoder Gesellschaftsebene angesiedelt, können potentiell über die Emotionen Verbundenheit und Zugehörigkeit zum Entstehen von "Heimatgefühl" führen. Folglich umfaßtdie soziale Kategorie "Gemeinschaft" in der vorliegenden Schrift auch institutionalisierte bzw. gesellschaftlich bedingte Sozialisationsfaktoren.
1.13. Zur Entstehung unterschiedlicher Teilbereiche. Begründung einer grundsätzlichen Unterscheidung der Teilbereiche Alltag und Theorie Zur Herleitung der Unterscheidung von zwei grundlegenden Bereichen (Alltag und Theorie), in denen sich menschliches Dasein abspielt und in denen mit unterschiedlichen Begriffssystemen und Semantiken kommuniziert wird, wird die Frage nach dem spezifisch Menschlichen im Zusammenhang mit der MenschUmwelt-Beziehung thesenartig formuliert: * Der Mensch unterscheidet sich vom Tier im wesentlichen durch sein "weltoffenes" Wesen und seine anders geartete instinktmäßige Ausstattung. Die hierbei angesprochene "Frage nach der Korrelation zwischen Umwelt und Lebewesen" 144 ist wesensbestimmend für den Menschen, der sich "seit unvor-
140
GABLENTZ, O.H. von der: Einflihning in die Politische Wissenschaft, Köln/ Opladen 1965, S. 33 f. 141
TÖNNIES 1963, S. 8.
142
TÖNNIES 1963, S. 40.
143
vgl. GABLENTZ 1965, S. 34.
144
GREVERUS, I.M.: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt am Main 1972, S. 17.
27 denklichen Zeiten [ . . . ] als Mit- und Gegenspieler einer Natur gegenüber sah, [... die] ihn herkunftsmäßig bestimmt und artmäßig vorgeprägt" hat.145 Diese Zusammenhänge wurden schon vom Beginn wissenschaftlicher Forschungen an problematisiert und können bis auf Aristoteles und Hippokrates zurückverfolgt werden. 146 Eine antagonistische Betrachtungsweise, nach welcher der Mensch durch die beiden Pole Umwelt und Anlage (bzw. philosophisch-anthropologischer Dualismus Kultur - Natur; bzw. Vernunft - Natur im positivistischen Denken des 19. Jh.) determiniert ist, ist bis in unser Jahrhundert hinein vorherrschend. Erst durch Erkenntnisse naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschungsansätze des 20. Jh. wurde versucht, den Antagonismus von Umwelt und Anlage als ein aufeinander bezogenens System zu sehen. 147 Auf naturwissenschaftlicher Seite begründet Jakob von Uexküll eine neue Umweltlehre, in der Umwelt mit Verhaltensschemata polarisiert wird, die auch prägungsoffen sein können. 148 "Der Begriff des Schemas intendiert aber, daß dieses nur ein Potential ist, das sich erst in Korrelation zur Umwelt erfüllt. "149 Uexküll stellt fest, daß ein Tier ein untrennbares Teil seiner (sozialen) Umwelt ist und mit deutlichem Hinweis auf den Menschen äußert er: "[...] ein jedes Subjekt [lebt] in einer Welt [...], in der es nur subjektive Wirklichkeiten gibt und die Umwelten selbst nur subjektive Wirklichkeiten darstellen. Wer die Existenz subjektiver Wirklichkeiten leugnet, hat die Grundlagen seiner eigenen Umwelt nicht erkannt."150
145 WAGNER, F.: Mensch und Umwelt - Ein Kulturvergleich, in: GADAMER, H G./VOGLER, P. (Hrsg.): Neue Anthropologie Bd. 3: Sozialanthropologie, Stuttgart 1972, S. 3-33, hier S. 3 f. 146 vgl. MÜHLMANN, W.E.: Das Problem der Umwelt beim Menschen, in: Zeitschr. f. Morphologia und Anthropologia XLIV (1952), S. 153-181, hier S. 153; vgl. SOMBART, W.: Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, 2. Aufl. Berlin 1956, S. 385. 147
Es bestehen jedoch nach wie vor Extrempositionen in der Forschung. Eine gängige Behauptung der milieutheoretischen oder lerntheoretisch orientierten Soziologie und Anthropologie ist: Das menschliche Verhalten sei weitgehend durch soziokulturelle Beziehungen determiniert, es beruhe auf kulturellen Normen und zeuge von sozialen Lernprozessen. Alles eigentlich Menschliche am Menschen sei traditions-, gesellschaftsund kulturbedingt (z.B. Jürgen Habermas, M.F. Ashley Montagu, Derek Freeman). Eine extreme Gegenströmung dazu bildet eine von weiten Kreisen der Soziobiologie vertretene Auffassung, welche die menschlichen Verhaltensweisen auf ihre genetische Basis zurückführt (Reduktionismus). (Z.B. E.O. Wilson, D. Barash, R. Dawkins, W. Wickler/U. Seibt). Zusammenfassend läßt sich dieser Antagonismus durch die Faktoren ererbt, anlagebedingt gegenüber erlernt, soziokulturell bedingt darstellen. 148
vgl. UEXKÜLL, J.V.: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann, Hamburg 1956. 149
GREVERUS 1972, S. 18.
150
UEXKÜLL 1956, S. 93.
28 Heute wird der Mensch in der Humanethologie als "weltoffenes Neugierwesen" bezeichnet, als "Universalist", der sich über die ganze Erde verbreiten konnte und Wüsten ebenso wie arktische und tropische Regenwälder besiedelt. "Die Einnischung erfolgt über kulturell entwickelte Subsistenzstrategien." 151 Plessner formuliert hierzu den Standpunkt der philosophischen Anthropologie: "Die menschliche Fähigkeit, überall zu leben und sich an alle Milieus und an jede Umgebung, sei es dann auch mit Hilfe künstlicher Mittel, anzupassen" ist dem "selektiven isolierenden aktionsrelativen Charakter" der Umwelt und ihrer "Nichttransportierbarkeit" entgegengesetzt. 152 Rothacker stimmt der Uexküllschen Umwelttheorie zu und nimmt eine Übertragung des Umweltbegriffs auf das Kulturwesen Mensch vor. 153 Er stellt die Überbetonung des Distanzierungsvermögens der Menschen in Frage und damit auch das grundsätzliche Postulat der "Weltoffenheit". Für Rothacker handelt der Mensch in einer "naiv gelebten Welt", die als "echte Umwelt [...] in strenger Korrelation zum konkreten Menschen" steht.154 Dazu entwickelte sich, in Auseinandersetzung mit der Uexküllschen Umwelttheorie, eine Gegenströmung, die die "Weltoffenheit" des Menschen als unterscheidendes Kennzeichen gegenüber dem Tier thematisierte. Resultat von Plessners Überlegungen ist, daß dem Menschen "Weltoffenheit ohne jede Einschränkung nicht zukommen" kann. Der Status der "Weltoffenheit" selber sei eine dem Menschen spezifische Form seiner Umweltbindung. 155 Plessner lehnt eine Übertragung des Uexküllschen Umweltbegriffs auf den Menschen als Kulturwesen ab. Der "sogenannte Umweltcharakter" der Kultur sei nicht als "eine echt Umwelt" zu bezeichnen. Das Uexküllsche Schema sei "mit den nötigen Restriktionen [auf] niedere triebbedingte, gefühlsnahe und dem körperlichen Dasein verhaftete Bindung" anzuwenden. Damit plädiert Plessner aber nicht für eine einfache Zuordnung von "geschlossener Umweltbindung zum Tier und Weltoffenheit zum Menschen [...], weil [diese] der Zweideutigkeit der menschlichen 'Natur' nicht gerecht wird. " Plessner sieht eine dialektische Grundstruktur von Umweltbedingung und Weltoffenheit gegeben. Diesen "Doppelcharakter" des Menschen bezeichnet er als "Exzentrität" oder "exzentrische"
151 EIBL-EIBESFELDT, I.: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1984, S. 760. 152
PLESSNER, H.: Conditio Humana, in: Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, hrsg. von G. MANN und A. HEUß, Berlin/Frankfurt am Main 1991 (Neudruck der Ausgabe von 1960-1964), Bd. 1, S. 33-87, hier S. 64. 153
In seiner Philosophischen Anthropologie thematisiert Rothacker den Unterschied von Mensch und Tier; er behandelt die anthropologischen Untersuchungen zur "Sonderstellung des Menschen" u.a. von Scheler, Portmann, Gehlen und Klages. (ROTHACKER, E.: Philosophische Anthropologie, Bonn 1964, Kap. II. A. a-f). 154 155
ROTHACKER, E.: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 166.
"[...], die ganze Umweltbindung beim Menschen [hat] ein erworbenes und bewahrtes Wesen, [sie] ist nicht mit der Natur seines Leibes einfach gegeben, sondern [...] nur in übertragenem Sinne natürlich gewachsen." (PLESSNER 1991, S. 65).
29 Position im Unterschied zur "zentrischen" des Tieres. 1 5 6 Der Mensch sei nicht an eine partikulare Umwelt gebunden wie das Tier, sondern kraft seines Geistes "weltoffen", so auch der Grundtenor bei Gehlen, Mühlmann und Portmann. 1 5 7 In Mühlmanns zusammenfassender Darstellung heißt es: "Der Mensch ist fáhig, von einem gewissermaßen 'exzentrischen' Standpunkt aus seine aktuell gehabte Umwelt zu überschreiten, j a zu negieren, oder sie zu relativieren zu einer Welt, zu der er prinzipiell offen" ist. 158 W a s für Mühlmann "höchste Stufe" menschlichen Verhaltens zur Welt darstellt - "er [der Mensch] kann [ . . . ] den Gedanken eines Weltzusammenhanges fassen, er kann sich selbst als winziges Wesen in diesen Weltzusammenhang hineinstellen und beweist in dieser Fähigkeit des Sichselbst-Relativierens doch eben seine exzentrische Stellung zur Welt, seine Fähigkeit freien geistigen Gestaltens" 159 -, das nimmt Gehlen für den Menschen schlechthin in Anspruch. 1 6 0 Er spricht von einer "mangelhaften instinktmäßigen Ausstattung" des Menschen. Nach Gehlen ist das "Mängelwesen" Mensch, von Natur aus ein Kulturwesen, gekennzeichnet durch Instinktarmut 161 und Unangepaßtheit. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit spezifisch menschlichen, nämlich
156
PLESSNER 1991, S. 64 ff.
157
vgl. GREVERUS 1972, S. 21.
158
MÜHLMANN 1952, S. 164.
159
MÜHLMANN 1952, S. 164.
160
vgl. GREVERUS 1972, S. 22.
In der Ethologie, Anthropologie und Soziologie besteht keine übereinstimmende Auffassung zum Instinktbegriff und zur Bedeutung von Instinkten im menschlichen Leben (vgl. BELLEBAUM, Α.: Soziologie der modernen Gesellschaft, 3. Aufl. Hamburg 1980, S. 127). Z.B. schreibt Gehlen: "Außerordentlich mager und enttäuschend sind [...] die insbesondere von K. Lorenz unternommenen Versuche einer direkten Übertragung dieses [tierischen] Instinktbegriffs auf den Menschen ausgefallen. Die für den Menschen entscheidende Eigenschaft besteht [..] in einer Instinktreduktion, d.h. in einem offenbar stammesgeschichtlichen 'Abbau' fast aller fest montierten Zuordnungen von 'Auslösern' zu speziellen, angeborenen Bewegungsweisen (GEHLEN, Α.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main/Bonn 1966, S. 26). Dagegen dokumentiert Leyhausen am Beispiel einer instinktiven Schlagbewegung - von oben nach unten auf eine Unterlage - deren Bedeutung für die Entwicklung von Schlagwerkzeugen. Die Entwicklung des Hammers sei zwar eindeutig ein kultureller Vorgang und mit dem Besitz der erwähnten Instinktbewegung sei auch noch nicht der Hammer erfunden, aber ohne sie könne er nicht erfunden werden. "Und genauso ist das Verhältnis von angeborenen Antrieben und Verhaltensweisen zu allen anderen 'höheren Funktionen'. Instinkte sind nicht, wie man früher einmal meinte, kulturfeindliche Primitivismen, sondern Voraussetzung und Entstehungsgrund auch für das scheinbar aller biologischen Grundlagen fernste Geistesprodukt" (LEYHAUSEN, P.: Sozialverhalten, Kulturentwicklung und Bevölkerungsdichte, in: WENDT, H./LOACKER, N. (Hrsg.): Kindlers Enzyklopädie "Der Mensch", Bd. V, Zürich 1983: Soziales und geschichtliches Verhalten der Menschen, S. 223-243, hier S. 237). 161
30 weltoffenen Handelns und kulturell-sozialen Aufbaus. 162 Gehlen verweist auf die Notwendigkeit, die fragmentarischen naturgegebenen Verhaltensdispositionen durch Normen und deren Institutionalisierung zu ergänzen. Normative Verhaltensordnungen, d.h. Institutionen, sollen "eine Verhaltenssicherheit und gegenseitige Einregelung möglich machen, wie sie von verunsicherten Instinktresiduen gerade nicht geleistet wird." Erst durch sie leben Menschen "in stabilen Gefügen". 163 Der Mensch bedarf um Überleben zu können sein Dasein stabilisierender soziokultureller Institutionen, durch die er jene Sicherheit wieder erlangt, die das instinktgesicherte Tier naturhaft besitzt.164 Insofern sind Institutionen das "Fundament menschlichen Existierens". Ihr Ordnungscharakter besteht in der Wiederkehr des Gleichen, in der Wiederholbarkeit gleicher Akte. Durch ihre tiefe Verwurzelung überdauern sie in ihrer Konstanz große Zeiträume. Der Mensch findet in ihrer Beharrlichkeit die Sicherheit seines Daseins.165 Zusammenfassend kann man feststellen: Der Mensch hat sich im Gegensatz zum Tier aus den sicheren Grenzen seiner Umweltstruktur emanzipiert. Indem er bestimmte, dem Tier eigentümliche Instinktregulationen aufgab, zeichnet er sich durch Weltoffenheit aus. Aus diesem Grunde wird seine Existenz durch Unsicherheit geprägt. Der Versuch, den negativen Begleitumständen dieser Unsicherheit zu begegnen, läßt das Bedürfnis nach Institutionen entstehen, die Sicherheit gewähren. 166 Aus diesem Resümee läßt sich eine grundsätzliche Unterscheidung der beiden Funktionsbereiche - Alltag und Theorie - des menschlichen Daseins herleiten, die das Entstehen bzw. das Vorhandensein unterschiedlicher Begriffsysteme und Semantiken für Alltag und Theorie erklären. Steger begründet diese Tatsache folgendermaßen: Die intelligente Absonderung des Menschen von anderen Lebewesen bewirkt seine Suche nach naturwissenschaftlich-analysierender oder philosophisch-sinnsuchender Welterkenntnis. Dazu sind wissenschaftliche Begriffssysteme und wissenschaftliche Semantiken notwendig. 167 Nach Stegers Auffassung erfahren ererbte, irrtumsfreie Verhaltensnormen (Instinkt)168, wie
162 vgl. GUTJAHR-LÖSER, P./HORNUNG, K.: Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch, 2. Aufl. Regensburg 1985, S. 375. 163 GEHLEN, Α.: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 3. Aufl. Frankfurt am Main/Bonn 1973, S. 96.
vgl. MÜLLER, J.B.: Soziale Sicherheit aus anthropologischer WENDT/LOACKER (Hrsg.) Bd. V. 1983, S. 312-322, hier S. 312. 164
Sicht, in:
165 vgl. HEUSS, Α.: Zum Problem einer geschichtlichen Anthropologie, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.) Neue Anthropologie Bd. 4: Kulturanthropologie, Stuttgart 1973, S. 150-195, hier S. 171 f. 166
vgl. MÜLLER in: WENDT/LOACKER (Hrsg.) Bd. V. 1983, S. 312.
167
STEGER 1988 b, S. 299.
168 Im Zusammenhang mit der Aufitrennung der Teilbereiche Alltag und Theorie verweist Steger häufig auf die "Instinktschwäche" des Menschen. Vgl. STEGER, H.: Über die Würde der alltäglichen Sprache und die Notwendigkeit von Kultursprachen.
31 sie die Natur sonst kennt, durch die kulturelle Entwicklung des Menschen eine Reduktion. Das unsicher gewordene menschliche Verhalten muß durch geistige Prozesse stabilisiert und 'künstlich' legitimiert werden. Der Verlust an 'Natur' wird durch den Aufbau von 'theoriegeleiteten' Ordnungs-, Steuerungs- und Wertegewinnungsinstrumenten (Institutionen), die auf Sprache gegründet und durch Sprache vermittelt werden, ausgeglichen. 169
1.14. Grundsätzliches zur funktional-zweckhaften Kommunikation Die Prinzipien und Mittel der Ausdrucksgebung und Bedeutungsentwicklung stellen sich in den einzelnen Funktionsbereichen unterschiedlich dar. 170 Beim Überblick über alle Funktionsbereiche der Kommunikation wird eine Zweiteilung zwischen dem Alltagsbereich und einem Gesamtbereich mit theoretischen Funktionen offenbar. Die Sprachen des Theoriebereichs lassen sich durch folgende Merkmale vom Alltagsbereich abgrenzen: * sie begründen den Sprachbesitz, der nicht zum allgemeinen Sprachwissen gehört, sondern sich auf spezielle Ausschnitte von "Welt" bezieht; * sie schaffen "zweite Welten" durch bewußte, zielorientiert geschaffene und vom Individuum erst später gelernte Sprachen; * sie verändern sich nicht "unbemerkt", sondern aufgrund von Setzungsnormierungen. Charakteristische linguistische Eigenschaften sind: * jede Bedeutung ist je nur einem Ausdruck zugeordnet; * die einzelnen Begriffe sind fachlich definiert, d.h. möglichst scharf und einheitlich eingegrenzt; * "konnotative Wertungen als semantische Merkmale sind möglichst zurückgedrängt"; * speziell definierte Fachbegriffe erhalten bereits im isolierten Terminus und nicht erst im Satz ihren eindeutigen Sinn. 171 Die Teilbedeutungen des Heimatbegriffs im Theoriebereich sollen mittels eines hermeneutischen Verfahrens aus den Texten der verschiedenen Kommunikations-
Rede anläßl. der Überreichung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim am 10.3.1982 (Duden-Beiträge 46), MannheimAVien/Ziirich 1982 ( = 1982 a), S. 20; ders. Was ist eigentlich Literatursprache?, in: Freiburger Universitätsblätter Heft 76, 1982 ( = 1982 b), S. 32 f.; ders. Über das Ganze und die Teile. Zur Situation der deutschen Sprache am Ende des 20. Jh., in: Kolloquium zur Sprache und Sprachpflege der deutschen Bevölkerungsgruppen im Ausland, Flensburg 1985 ( = 1985), S. 19-48, hier S. 34; ders. Institutionensprachen, in: Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. Freiburg 1989 ( = 1 9 8 9 b), Sp. 125-128, hier Sp. 125; ders. 1988 b, S. 29. 169
vgl. STEGER 1988 b, S. 299.
170
vgl. STEGER 1986, S. 206.
171
STEGER 1988 b, S. 297.
32 bereiche herausgelöst werden. Da sich die einzelnen Funktionsbereiche als relativ abgeschlossene und eigenständige Gebilde darstellen, erfolgt am Beginn eines jeden Kapitels eine kurze Erläuterung über die Besonderheiten und charakteristische Eigenschaft der Sprache des jeweiligen Funktionsbereichs der Kommunikation. Doch zunächst zur Überprüfung der unter 1.11. aufgestellten Hypothese.
2. Der Heimat-Begriff im Alltagsbereich
Die entscheidenden Nachweise zum Verifizieren der Hypothese müssen im Zusammenhang mit dem Alltagsbereich erbracht werden: * Nachweis 1: Konstitutive inhaltliche Elemente des Heimat-Begriffs müssen sich aus der räumlichen und sozialen Kategorie rekrutieren; gemeinschaftliche und territoriale Bedeutungselemente müssen sich im Verlauf des Sozialisationsprozesses als ursächlich für das Entstehen von "Heimatgefühl" erweisen. (1. Elemente des Heimat-Begriffs = territoriale/gemeinschaftliche/emotionale Elemente) * Nachweis 2: Die durch den ersten Nachweis als konstitutiv benannten räumlichen, sozialen und emotionalen Elemente müssen sich aufgrund ihrer Bedeutung im menschlichen Verhaltensinventar oder ihres gattungsgeschichtlichen Stellenwertes als "universal" oder "primär" erweisen. (2. territoriale/gemeinschaftliche/emotionale Elemente = universal/primär) (aus 1. und 2. folgt: Elemente des Heimat-Begriffs = universal/primär) * Nachweis 3: Der Alltagsbereich muß sich als "primärer" Bereich erweisen. Sind alle drei Nachweise zu führen, so ist daraus zu folgern, daß universale/ primäre, den Heimat-Begriff konstituierende Elemente der räumlichen und sozialen Kategorie im "primären" Alltagsbereich wurzeln.
2.1. Konstitutive Elemente des Heimat-Begriffs (Nachweis 1) Um zu zeigen, mit welchen emotionalen Elementen "Heimatgefühl" assoziiert wird und aus welchen räumlichen und sozialen Elementen sich der HeimatBegriff konstituiert, werden vorwiegend sozialwissenschaftliche Abhandlungen sowie Nachschlagewerke und Handbücher zu Rate gezogen, die sich mit dem Heimat-Begriff auseinandersetzen.
2.1.1. Emotionale Elemente von "Heimatgefühl" Der meistverwendete Ausdruck für "Heimatgefühl" ist "Geborgenheit" bzw. "Geborgensein".' Z.B. heißt es im Brochkaus: "Besonders im Deutschen be-
1 lt. BREDOW, W.v./FOLTIN, H.-F.: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Berlin/Bonn 1981, S. 37.
34 greift das Wort eine Gemütsbindung ein, das Daheim-Geborgensein. "2 Spranger schreibt: "Der Kern des Heimatlebens ist das Gefühl der Geborgenheit." 3 Und Weigelt kommentiert: "Heimat ist die Erfahrung, als Mensch angenommen zu sein, [...] irgendwohin zu gehören, wo man willkommen ist, wo man geliebt und geachtet wird, [...] Geborgenheit kann es nur geben, wo der Mensch sich in dieser Weise angenommen und damit auch in seiner Würde geachtet weiß." 4 Oder Köhler formuliert im Staatslexikon: "Heimat ist notwendig klein, weil sie nur dann [...] sich zu jener völligen Vertrautheit öffnet, in der Menschen als beheimatet sich geborgen wissen können." 5 Hier wird ein weiteres, sehr häufig genanntes emotionales Merkmal von "Heimat" erwähnt, die "Vertrautheit". Moebus spricht von "urtümlichem Vertrautsein" 6 , Richard Weiß von "innigstem Vertrautsein" 7 . Konrad Lorenz beschreibt den Zusammenhang von Sicherheitsgefühl und "Heimat". Lorenz glaubt, "daß wir alle unterschätzen, wie sehr uns dauernd die Angst im Nacken sitzt und wie sehr wir uns nach Sicherheit sehnen!" Aus dieser Erkenntnis heraus beschreibt er "Heimatgefühl" als "qualitativ eigenartiges Lustgefühl", das jeder kennt und das man empfindet, "wenn man etwas sehr Vertrautes, eine aus der Kindheit bekannte Landschaft, das Innere eines vor langer Zeit bewohnten Hauses oder das Anlitz eines alten Freundes wiedersieht." Daraus entsteht "ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit. Man fühlt sich zu Hause". 8 2.1.1.1. Auslöser heimatbezogener Emotionen Lorenz hat individuelle Auslöser für die heimatbezogene Emotion "Sicherheit" beschrieben. Von der Soziologie häufig benannte Auslöser sind Elternhaus und
2
BROCKHAUS Enzyklopädie, Bd. 8, Wiesbaden 1963, S. 316 s.v. "Heimat".
3
Spranger, zit. nach WEIGELT, K.: Heimat - der Ort personaler Identitätsfindung und sozio-politischer Orientierung, in: ders. (Hrsg.): Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, Mainz 1984 ( = Studien zur politischen Bildung, Bd. 7), S. 15-26, hier S. 16. 4
WEIGELT in ders. (Hrsg.) 1984, S. 16.
5
KÖHLER, O.: Heimat, in: Staatslexikon, Bd. 4, Freiburg 1959, Sp. 56-59, hier Sp.
56 f. 6
MOEBUS, G.: Heimat und Heimatbewußtsein als psychologische Begriffe und Wirklichkeiten, in: RABL, K. (Hrsg.): Das Recht auf die Heimat. Zweite Fachtagung, München 1959, Bd. 2, S. 40-50, hier S. 42. 7
WEIß, R.: Heimat und Humanität, in: Heimat und Humanität. Festschrift für Karl Meuli zum 60. Geburtstag, Basel 1951, S. 1-10, hier S. 8. 8 LORENZ, K.: Die Rückseite des Spiegels. Der Abbau des Menschlichen, München/Zürich 1988, S. 263.
35 Kirchturm.9 Brepohl stellt die Auslöser-Funktion des Kirchturms für den Landmenschen gleichbedeutend neben die Funktion von Fabrikschloten für den "Industriemenschen": "Der Industriemensch lebt in einer Heimat, in der Schornsteine und Hütten etwas 'bedeuten'; er leidet, wenn sie aus seinem Gesichtskreis verschwinden. Und die Freude des Wiedersehens ist dem Heimkehrenden so eigen wie dem Landmann, der seinen Kirchturm wiedersieht."10 Ein bemerkenswerter Auslöser für "heimatliche Gefühle" ist der Geruch. Christian Graf von Krockow schreibt zu dieser Thematik 1984 in der "ZEIT": "Heimat riecht: nach Harz und nach Heu, nach Kartoffelfeuern, Leder, Kuchenbacken, gebrannten Mandeln, [...] Oder sei's [...] Schweinemist, Ruß und Rauch: sie riecht jedenfalls und kündet damit vom Leben."11 Des weiteren kann das Gefühl heimatlicher Vertrautheit ausgelöst werden durch: * "heimatliche Sprache"12: der "Sprachlaut der Heimat" vermittelt Menschen gleicher Herkunft, die in der "Fremde" aufeinandertreffen "so etwas wie eine freudige Begegnung"13; * die Melodie eines Liedes; * den Geschmack einer Speise; * den Anblick eines Gegenstandes; * die Nennung eines Namens.14 Über den Stellenwert der beiden zuletzt genannten Auslöser herrscht Uneinigkeit in der Forschung. René König vertritt den Standpunkt, daß "wir uns nicht emotional an Namen binden; vielmehr sind wir gebunden an bestimmte Bilder, Gebäudeformen, Straßenzüge, Plätze, Farben, Lichter und überhaupt an den Reichtum der optisch greifbaren Außenwelt in allen ihren Gestalten. So gewinnt die Anschaulichkeit des Lebens in der heimatlichen Gemeindebindung ein kaum wieder erreichbares Maximum an Eindringlichkeit".15 Umgekehrt, meint Vilfredo Pareto, nicht die Örtlichkeit einer Gemeinde, sondern der ihr zugeschriebe-
9
König nennt z.B. Geburts- oder Elternhaus und den Kölner Dom als Symbol einer ganzen Stadt (KÖNIG, R.: Der Begriff der Heimat in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in: Jahrbuch des deutschen Heimatbundes 1959, S. 22-26, hier S. 24; zum Vaterhaus vgl. MOEBUS 1954, S. 42). 10
BREPOHL, W.: Die Heimat als Beziehungsfeld. Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat, in: Soziale Welt, Jg. 4, 1952/53, S. 12-22, hier S. 22. 11
KROCKOW, Ch. Graf von: "Heimat", in: "DIE ZEIT" Nr. 41 vom 5. Okt. 1984,
S. 73. 12
Der Terminus "heimatliche Sprache", den Bredow/Foltin benutzen, umschreibt den Auslösecharakter für das "Heimatgefühl" ausreichend. Es erübrigt sich eine Differenzierung von Dialekt und Regionalsprache (Terminus "Regionalsprache" von JAKOB, Karlheinz: Dialekt und Regionalsprache im Raum Heilbronn. Zur Klassifizierung von Dialektmerkmalen in einer geographischen Übergangslandschaft, Diss. Freiburg 1984). 13
MOEBUS 1954, S. 42.
14
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 34.
15
KÖNIG 1959, S. 24.
36 ne Name löse die Gefühlszusammenhänge aus.16 Diese Position übernimmt auch Heiner Treinen 17 . Er spricht von einer Ortsbezogenheit, die sich "über die Identifizierung mit einem Ortsnamen" vollzieht. Ein "Ortsname dient nicht nur als 'Zeichen', sondern [besitzt] für bestimmte Menschen einen zusätzlichen Inhalt". Dem "universalen menschlichen Streben nach der Verknüpfung von Dingen, Handlungen und Gefühlen" zufolge sind beide Faktoren - der Ortsname, sowie konkrete gegenständliche Ortsmerkmale - bedeutsam als Auslöser für "Heimatgfühl". Georg Simmel stellt eine Verbindung her zwischen persönlichen Erlebnissen und der Örtlichkeit, an der diese Erlebnisse stattfanden. "Für die Erinnerung entfaltet der Ort, weil er das sinnlich Anschaulichere ist, gewöhnlich eine stärkere assoziative Kraft als die Zeit; so daß, insbesondere w o es sich um einmalige und gefühlsstarke Wechselbeziehungen handelt, für die Erinnerung gerade er sich mit dieser unlöslich zu verbinden pflegt." 1 8 Neben den bisher erwähnten Auslösern für "Heimatgefühl" spielen die im folgenden aufgeführten Symbole eine gleichbedeutend wichtige Rolle für das Entstehen von "Heimatgefühl". Als spezifisch deutsche Heimat-Symbole erweisen sich Natur- und Landschaftskomponenten. Der Wald wird als "Symbol für Heimat" bevorzugt 19 , ebenso die Gebirgswelt 20 . Nach Georg Simmel eignet sich besonders das Gebirge als Auslöser für "Heimatgefühl". Er meint, daß die "Leidenschaft für die Heimat [ . . . ] auf die auffällige Differenzierung des Bodens" zurückgeht. Das "Gefühlsleben verschmilzt allenthalben mit der differenziertunvergleichlichen, als einzig empfundenen Formation in besonders enger und wirksamer Weise, deshalb mehr mit einer alten, winkeligen, unregelmäßigen Stadt als mit der schnurgraden modernen, mehr mit dem Gebirge, in dem jedes Stück des Bodens ganz individuelle, unverkennbare Gestalt zeigt, als mit der Ebene, deren Stücke alle gleich sind". 21 Der Argumentation Simmeis kann man insoweit folgen, als der Anblick einer gebirgigen Landschaft mehr Geborgenheit ( = emotionales Heimat-Element) vermittelt als der einer Ebene. Aber es ist weder zutreffend alle "Stücke" der Ebene als gleich zu bezeichnen noch kann
16
vgl. PARETO, V.: Traité de Sociologie Générale, Genf 1968, Paragraph 1041,
1042. 17 TREINEN, H.: Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimat-Problem, in: ATTESLANDER, P./HAMM, B.: Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln 1974, S. 234-259, hier S. 237 f. 18 SIMMEL, G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 2. Aufl. München/Leipzig 1922, S. 475 f. 19
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 32.
20 Hermann Bausinger zufolge dient die Heimatkulisse (Hoch)-Gebirge zur Symbolisierung eines "allgemeinen Heimatgefühls". Bausinger dokumentiert durch viele Belege, "daß das Gefühl des Heimatlichen sich [...] gar nicht in erster Linie an Realitäten orientiert, daß es sich vielmehr mit vorgeprägten, klischierten Inhalten befriedigt" (BAUSINGER, H.: Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart 1961, S. 90 ff.). 21
SIMMEL 2. Aufl. 1922, S. 466.
37 behauptet werden, eine Ebene könne nicht "Heimat" symbolisieren. Denn selbstverständlich kann jedes beliebige Stück Natur zur individuellen "Heimat" werden. 22
2.1.2. Heimat-Elemente der räumlichen Kategorie Ina Maria Greverus, die maßgeblich an der "Heimat"-Diskussion der letzten Jahrzehnte beteiligt ist, ersetzt den Begriff "Heimat" durch "Territorialität" bzw. "Territorium". In ihrer Habitilationsschrift von 197223 definiert sie "Territorium" ethologisch als Raum des Besitz- und Verteidigungsverhaltens. Dahinter steht die Frage nach einem auch für den Menschen notwendigen Raum, in dem seine Bedürfnisse nach Identität, Sicherheit, Aktivität und Stimulation erfüllt werden. Das Territorium "Heimat" wird als Ziel dieser primären Bedürfnisse definiert, "die durch territoriales Verhalten abgesättigt werden". 24 Eine Reduzierung des Heimat-Begriffs auf die räumliche Kategorie ist häufig festzustellen. "Heimat" wird meist mit der Bindung an einen bestimmten geographischen Raum erklärt: "Heimat [ist] zunächst auf [einen] Ort (auch als Landschaft verstanden) bezogen", heißt es in der neuesten Brockhaus Enzyklopädie. 25 Friedrich Bülow bezeichnet "Heimat" als "örtlich-geographisch einheitlich erlebte[n] Raumbereich". 26 Fedor Stepun vertritt die Auffassung, zur "Heimat" gehöre "zunächst ein Stück Erdoberfläche, welches von Menschen besiedelt wird" 27 . Und in Meyers Enzyklopädischem Lexikon wird "Heimat" definiert als "subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger
22
Die Humanethologie belegt, daß beim Menschen ein Bedürfiiis besteht, aus der ihn umgebenden Natur ein Stück als sein Territorium auszuklammern und innerhalb diese Territoriums sein "Heim" einzurichten. Das Individuum will sich ein Gebiet aneignen, d.h. eine territoriale Bindung herstellen. Diese Tatsache wird im Zusammenhang mit der heutigen Mobilität gesehen, die das Bedürfnis nach einem Stückchen "Heimat" verstärkt. Indem man ein bestimmtes Fleckchen Erde (z.B. einen bestimmte(n) Weg, Wiese, Baum, Bank, Rastplatz, Aussichtspunkt) aufsucht, wird eine innere Beziehung geknüpft, die mit der Zeit immer enger wird; dem territorialen Bezugspunkt wird Einzigartigkeit verliehen, (vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 778 f.). 23
GREVERUS, I.M.: Der territoriale Mensch, Frankfurt a. Main 1972.
24
GREVERUS 1972, S. 383. Zur Benennung der erwähnten Grundbedürfnisse und der Diskussion um den "territorialen Imperativ" von Robert ARDREY s.u. 25
BROCKHAUS Enzyklopädie 19. Aufl. Mannheim 1989, Bd. 9, S. 617 s.v. "Heimat". 26 27
BÜLOW, F.: Heimat, in: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 415 f.
STEPUN, F.: Heimat und Fremde. Allgemeinsoziologisch. ( = Verhdlg. des X. dt. Soziologentages), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 3. Jg. 1950/51, S. 146-159.
38 Verbundenheit besteht." 28 Das Territorium "Heimat" hat offenbar immer auch bei Mensch und Tier - mit "Überleben" zu tun; zumindest gewährt die Rückkehr auf ein eigenes oder gemeinsames Territorium Sicherheit und Entspannung. Dies gilt schon für die kleinsten territorialen Bereiche wie z.B. "ein eigenes Bett oder ein eigenes Zimmer in einer gemeinsamen Wohnung oder auch nur ein Bibliotheksplatz für einen Nachmittag." 29 Für den Menschen ist es wichtig, sich auf eine "Identität des Ortes" 30 berufen zu können und ein Heimatterritorium zu besitzen. " W e r dauerhaft einen bestimmten Platz bewohnt, ein Haus, eine Straße, ein Stadtviertel usw., der bezieht einen großen Teil des Vertrauens in seine eigene Identität schon aus der Identität des Ortes." 31 In aller Regel können sich emotionale Bindungen an kleine territoriale Einheiten intensiver entwickeln: "Heimat in einem ursprünglichen, nicht übertragenen Sinn ist überall dort, w o Menschen eine kleine, aber doch eine Lebensganzheit repräsentierende Welt jeder anderen vorziehen." 32 Diese Regel kann aber nicht verallgemeinert werden, da die geographische Ausdehnung der subjektiven Einschätzung von "Heimat" unterliegt und somit variabel ist.33 Ebensowenig kann eine Einschränkung auf spezifisch ländliche Territorien vorgenommen werden, wie es z.B. bei Stavenhagen (für ihn ist die Großstadt lediglich "Unterkunftsstätte von Leuten", aber nicht "Heimat" von Menschen) 34 und Spranger (er spricht vom "Elend des Großstädters" der in den Heimatboden "nicht mehr tief einwurzeln" könne)35 der Fall ist. In industrialisierten Gesellschaften kann "Heimat" sowohl als "eine ländliche Erfahrungswelt als auch als eine städtisch-industrielle Herkunft empfunden werden". 36 Auch König wendet sich gegen eine Begrenzung des Heimat-Begriffs auf kleine und nichtindustrialisierte, ländliche Gemeinden. Er weist es als Vorurteil zurück, "daß jenes besondere Umweltverhalten, das wir als Heimatbeziehung bezeichnen, unter dem Einfluß der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung im Verschwinden
28
MEYERS Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 11, MannheimAVien/Zürich 1974, S.
629. 29 vgl. BÜHL, W.L.: Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens, Tübingen 1982, S. 269. 30 vgl. SIMMEL, G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1958, S. 476. 31
BÜHL 1982, S. 280.
32
KÖHLER 1959, Sp.56 f.
Eine Definition von "Heimat" bezüglich des territorialen Aspekts, die Allgemeingültigkeit besitzt, liefert Günter Hartfiel: "Heimat [ = ] territoriale Einheit eines subjektiv erlebten Raumbereiches, mit dem der Mensch eine besondere Verbundenheit empfindet. " (HARTFIEL, G.: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. Stuttgart 1976, S. 264). 33
34
STAVENHAGEN, K.: Heimat als Lebenssinn, 2. Aufl. Göttingen 1948, S. 7.
35
SPRANGER, E.: Der BUdungswert der Heimatkunde, 7. Aufl. Stuttgart 1967, S.
17 f. 36
HARTFIEL 2. Aufl. 1976, S. 265.
39 begriffen sei [...] die großen Städte, sofern sie sich jeweils als Kulturzentren darstellen [können] als solche unter Umständen mehr und intensiver heimatliche Bindungen erzeugen [...] als irgendeine Kleinstadt". 37 Die unverbindliche "Heimat"-Definition des "Neuen Brockhaus" setzt der individuellen Variationsbereite eines geographischen "Heimat-Raums" keine Beschränkung: "Heimat ist der Ort, wo man zu Hause ist, der Wohnort und seine Umgebung oder der Geburtsort." 38 "Heimatort" als Begriff im Duden-Bedeutungswörterbuch ist erstmals in der Ausgabe von 1985 verzeichnet. Bausinger, Braun und Schwedt befassen sich in ihrer Untersuchung u.a. mit der geographischen Ausdehnung von "Heimat": "Um die Wohnung als Zentrum gruppieren sich - gewissermaßen in Kreisen von wachsendem Durchmesser - das Haus, der nachbarliche Bezirk und die Siedlung als weitere räumliche Merkmale. Dem folgen größere regionale Einheiten wie 'Bayern', 'Süddeutschland' und 'Deutschland', die weniger historisch-normativ als räumlich-deskriptiv zu verstehen sind." 39 Die Bedeutsamkeit von Haus und Wohnung wird heute in verstärktem Maße hervorgehoben: Bollnow definiert Haus und Wohnung als "Heim im engeren Sinn"; die "Heimat" umfaßt "die Landschaft des vertrauten Umkreises". 40 Wohnen bedeutet, "einen abgeschlossenen Bereich der Geborgenheit, einen Eigenraum des Hauses zu haben, in dem sich der Mensch vor der bedrohlichen Außenwelt zurückziehen kann". 41 "Wohnen heißt an eine bestimmte Stelle hingehören, an ihr verwurzelt und zu Hause sein." 42 "Der Mensch braucht eine solche Mitte, in der er im Raum verwurzelt ist und auf die alle seine Verhältnisse im Raum bezogen sind. [...] Das ist der Ort, wo er in seiner Welt 'wohnt', wo er 'zu Hause' ist und wohin er immer wieder 'heimkehren' kann." 43 Der Psychiater Zutt betont die Abgrenzungsfunktion des Wohnraums gegenüber dem Fremden. Wichtig sei, daß der Mensch "nicht im Kosmos verloren ist, sondern einen Ort hat, wohin er gehört [...], wo er zu Hause ist, seine Heimat hat [...]. n 4 4 In der Humanethologie wird die Auffassung vertreten, daß jeder Buschmann und jeder steinzeitlich lebende Papua das Bedürfnis nach Abschließung und
37
KÖNIG 1959, S. 22.
38
Der neue Brockhaus. Allbuch in fünf Bänden und einem Atlas, 3. Aufl. Wiesbaden 1964-1965, hier Bd. II, 1965 s.v. "Heimat". 39
BAUSINGER, H./BRAUN, M./SCHWEDT, H.: Neue Siedlungen. Volkskundlichsoziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen, Stuttgart 1959, S. 183 ff. 40
BOLLNOW, O.F.: Der Mensch braucht heimatliche Geborgenheit, in: Heimat heute 1983, S. 217-218, hier S. 217. 41
BOLLNOW, O.F.: Mensch und Raum, 4. Aufl. Stuttgart 1980, S. 131, (zitiert nach der 2. Aufl. von 1971). 42
BOLLNOW 2. Aufl. 1971, S. 277.
43
BOLLNOW 2. Aufl. 1971, S. 123 f.
44
ZUTT, Jürg: Transkulturelle Psychiatrie, in: Der Nervenarzt 38, 1967, S. 8., zit. nach GREVERUS, I.M.: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 13.
40 Abgrenzung sowie nach Kontakt und Geselligkeit hat. Dieses Bedürfnis nach Privatheit und Sozialkontakt gekoppelt mit dem Bedürfnis nach territorialer Inbesitznahme eines Raumbezirks 4i kann in der heutigen Zeit am besten durch Wohnungseigentum erfüllt werden. Dadurch reduziert sich das territoriale Gruppenleben auf die Familie und eventuellen Kontakt zu den Nachbarn. 46
2.1.3. Heimat-Elemente der sozialen Kategorie Daß für die Konstitution des Heimat-Begriffs neben der räumlichen die soziale Kategorie gleichbedeutend wichtig ist, verdeutlicht das folgende Zitat von Bülow: "Heimat ist nicht ein geographischer Raum an sich [...], sondern [...] eine Verbundenheit, die sich auch noch aus der Ferne und in späterer Zeit des Lebens, meist auf Grund von Jugenderlebnissen, im Gemüt des Menschen fühlbar macht. [...] die Raumbezogenheit dessen, was wir Heimat nennen, wird erst erfüllt und gewinnt Leben durch die sozialen Verbundenheiten, die sich im Sinne gemeinsamer Heimat manchmal als stärker erweisen als alle anderen. " 47 Der Heimat-Begriff umfaßt neben dem Bezug zu Wohnort und Landschaft auch soziale, gesellschaftliche Strukturen. So vertritt Bollnow zu Recht die Auffassung, Heimat dürfe "nicht zu früh mit einem räumlichen Bereich gleichgesetzt werden.4® Die vertrauten menschlichen Beziehungen gehören ebenso dazu, die Familie und die Verwandten und die alten Freunde, die vertrauten Gewohnheiten, Gebräuche und Sitten, die Art die Feste zu feiern, und allgemein die festen Ordnungen, in denen das Leben abläuft. "49 2.1.3.1. Gemeinschaftstiftende Faktoren Bollnow benennt gemeinschaftstiftende Faktoren (Traditionen und Bräuche), die über die Verinnerlichung von Sitten und Werten zur Stabilisierung von "Heimatgefühl" beitragen, wobei er die Bedeutung der Tradition hervorhebt: "[...] die Tradition gehört zu der im vollen Sinn genommenen Heimat. Sie gibt Sicherheit im Verhalten, indem sie bestimmte überlieferte Verhaltensmuster bereitstellt. n5° Auch für Stepun ist Tradition eng mit Heimat verbunden. Für ihn gehören zur Heimat "Menschen [die] im Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit leben [und] die
45
vgl. hierzu die Stellungnahme von Eibl-Eibesfeldt 1984, s.o. Anm. 22, S. 37.
46
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 788 und S. 779.
47
BÜLOW 1969 s.v. "Heimat ".
48
Die Gleichsetzung von Heimat mit Gemeinschaft, wie sie von R. Weiß (WEIß 1951, S. 8) und F. Stepun (STEPUN 1950/51, S. 148) - von diesem unter ausdrücklicher Berufung auf F. Tönnies - vorgenommen wird, greift jedoch auch zu kurz. 49
BOLLNOW in: Heimat heute 1983, S. 217.
50
BOLLNOW in: Heimat heute 1983, S. 217.
41 durch gemeinsame Tradition [...] geeint sind." 51 Beispielsweise vermitteln traditionelle Feste, tradierte Bräuche und Wertvorstellungen Sicherheit und Geborgenheit, die im "Heimatgefühl" impliziert sind. Hartfiel beschreibt die Entwicklung von "Heimatgefühl" folgendermaßen: "Unter Heimat versteht man in der Regel die Gesamtheit der durch Traditionen und spezifische Lebensbedingungen geprägten Erfahrungen der Kindheit und Jugend [...], in der der Mensch zur Persönlichkeit heranwächst und seine ersten entscheidenden sozialen Beziehungen und Bindungen anknüpft. Die [...] Erinnerung an die Erlebnisinhalte der Heimat gibt einen wirksamen Orientierungs- und Wertmaßstab für alle späteren sozialen Erfahrungsräume und Zugehörigkeiten ab. "52 2.1.3.2. Potentielle Heimat-Elemente im Sozialisationsverlauf Heimat-Definitionen wie: * "[...] Heimat ist die Umgebung, in welcher der Mensch ins Leben tritt und heranwächst" 53 * "[...] Heimat ist da, wo uns die Welt und das Leben zum ersten Mal gedeutet worden ist"54 * "[...] unter Heimat versteht man [...] den Lebensbereich, in dem der Mensch geboren und aufgewachsen ist"55, legen ihren Schwerpunkt auf die Primärsozialisation und stellen somit die Primärerfahrungen der Kindheit und Jugend als sozialen Kern des Heimat-Begriffs dar. Anthropologisch orientierte Wissenschaftler räumen frühen Prägungserlebnissen bei der Entwicklung von "Heimatgefühl" den Vorrang ein. 56 Von den zahlreichen Beziehungen, die der Mensch als soziales Wesen im Laufe seines Lebens zu Einzelpersonen und zu Gruppen eingeht, werden die meisten bereits im Elternhaus vermittelt. 57 Den Beginn und Mittelpunkt bildet die Beziehung zur Mutter. Röhrig meint, Heimatgefühl sei "in seinem innersten Kern der Drang zur Mutter, den das kleine Kind [...] empfindet". 58 Moebus formuliert, Heimat sei zunächst die "mütterliche Lebenslandschaft", die dem Kind "in Gestalt des Gesprächs mit der Mutter entgegentrete". 59 Das Kind "tritt vom Saugen an der Mutterbrust an in bestimmte Interaktionen ein". Von diesem Zeitpunkt an wird
51
STEPUN 1950/51.
52
HARTFIEL 2. Aufl. 1976, S. 264.
53
zit. nach JEGGLE, U.: Wandervorschläge in Richtung Heimat, in: Heimat und Identität. Themenheft der Zeitschrift Vorgänge, 47/48 (1980) S. 55-63, hier S. 58. 54
SPRANGER, zit. nach WEIGELT in: ders. 1984, S. 16.
55
BOLLNOW in: Heimat heute 1983, S. 217.
56
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 27.
57
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 46.
58
RÖHRIG, H.: Der Heimatgedanke in unserer Zeit, in: Jahrbuch Deutscher Heimatbund, 1959, S. 27-37, hier S. 28. 59
MOEBUS 1954, S. 41.
42 die "Vielfalt der kindlichen Heimat [...] einerseits gesellschaftlich geformt, andererseits gruppenspezifisch verformt". 60 Mit zunehmendem Alter erweitern sich die Heimat-Beziehungen über die Mutter und die Familie hinaus und das Individuum tritt in vielfältige Beziehungen zu seiner Umwelt. "Die Heimatfindung des Individuums [ist] aus seiner Lebensgeschichte zu entwickeln." 61 Neben Familie, Verwandtschaft, Freunde und Nachbarn treten im Laufe des Sozialisationsprozesses Institutionen wie Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Parteien. Aus all diesen Beziehungen, die dem Individuum potentiell zur Verfügung stehen, kann sich, bedingt durch das Bewußtsein von Zusammengehörigkeit, Heimatgefühl entwickeln. Heimat könnte dann als "gebündelte Zugehörigkeit des Individuums zu seiner ständigen Umwelt" 62 bezeichnet werden. Brepohl beschreibt "Heimat" als einen "zwischenmenschlichen Zusammenhang", als ein Beziehungsgeflecht zwischen Individuum und Umwelt: "Die Verspannung des Zwischenmenschlichen in seinen unübersehbaren Gruppierungen, Gebilden, Schichten, die Ich-Du-Sache-Beziehungen [...], die Verflechtungen der Beziehungen [...] gehören [...] in den Grundbestand der Heimatmerkmale." 63 Von dem "unaufhebbare[n], nie ganz zu entwirrende[n] Geflecht von Beziehungen, [die] den Heimatraum ausfüllen]" 6 4 , benennt Brepohl auch einige ganz konkret z.B.: "Beziehungen zu den Nachbarn, die wichtig sind [...] für die reale Aufrechterhaltung des Daseins, [...] in dem sich die geordnete Hilfsbereitschaft als Verfassungsmerkmal der ländlichen Nachbarschaft verwirklicht. Andere Beziehungen bestehen [...] zur Jugend wie zur älteren Generation, zu den Vertretern der Obrigkeit, angefangen beim Amtmann, Gemeindevorsteher oder beim Geistlichen." 65 Es ist offensichtlich, daß Brepohl sich auf das Gemeindeleben in vergangenen Jahrhunderten bzw. Jahrzehnten in einem Dorf bezieht. Für König spielt die Beziehungsstruktur innerhalb einer Gemeinde eine ganz entscheidende Rolle für die Entstehung von Heimatgefühl (er mißt ihnen mehr Bedeutung bei als der Primärsozialisation): "Natürlich steht fest, daß [die emotionale Bindung] in der Kindheit und frühen Jugend außerordentlich stark ist. Es gibt aber auch Umstände, in denen der Mensch später noch starke emotionale Entwicklungsstöße empfängt und aus diesen in anderen örtlichen Verhältnissen als denen seiner Jugend ein neues Heimatgefühl entwickeln kann. "66 König sieht in der Wohndauer und im Engagement für einen Ort den ausschlaggebenden Faktor für die Entwicklung und Intensität von Heimatgefühl.
60
JEGGLE in: Vorgänge, 1980 S. 58 f.
61
JEGGLE in: Vorgänge 1980, S. 58.
62
BREDOW/FOLTIN 1981, S. 294.
63
BREPOHL 1952/53, S. 14.
64
vgl. BREPOHL 1952/53, S. 14.
65
BREPOHL 1952/53, S. 14 f.
66
KÖNIG 1959, S. 22.
43 Abschließend soll ein Zitat aus der Heimatdefinition der neuesten Brockhaus Enzyklopädie die wichtigsten Aspekte der Sozialisation im Zusammenhang mit der Entstehung des Heimatbegriffs zusammenfassen: Heimat ist der Ort, "in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellung und schließlich auch Weltauffassung prägen. Insoweit kommen dem Begriff grundlegend eine äußere, auf den Erfahrungsraum zielende, und eine auf die Modellierung der Gefühle und Einstellungen zielende innere Dimension zu". 67
2.2. Ergebnis von Nachweis 1 Die herangezogenen wissenschaftlichen Erklärungen und Definitionen zum Heimat-Begriff haben zahlreiche Belege dafür erbracht, daß sich räumliche und soziale Kategorien im Verlauf individueller Sozialisationsprozesse als konstitutiv für die Entwicklung von "Heimatgefühl" und somit für die Entstehung des Heimat-Begriffs erweisen. Aus den dargestellten Zusammenhängen der zitierten Texte lassen sich zusammenfassend folgende zentralen Elemente des Heimat-Begriffs benennen: * Emotionale Elemente von "Heimatgefühl": Geborgenheit, Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit, Anerkennung. * Auslöser für heimatbezogene Emotionen: Geburts- oder Elternhaus, Kirchturm, Fabrikschlote, Sprache, Namensnennung, Geruch, Geschmack, optische und akustische Auslöser (Anblick eines Gegenstandes oder einer Person; Melodie eines Liedes); Natur- bzw. Landschafts- "Symbole": Wald, Gebirge. * Elemente der räumlichen Kategorie, die als konstitutiv für den HeimatBegriff benannt werden: Wohnung, Haus, Ort (Geburtsort, Dorf, Stadt), Landschaft, Region, Deutschland (räumlich-deskriptiv verstanden). * Gemeinschaftstiftende Strukturen zur Festigung von "Heimatgefühl": Traditionen, Bräuche. * Elemente der sozialen Kategorie, die als konstitutiv für den Heimat-Begriff benannt werden (teilweise Institutionen, die potentiell bei der Entstehung des Heimat-Begriffs mitwirken): Mutter, Familie, Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn, Gemeinde, Vereine, Kirche, Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz, Verbände, Gewerkschaften, Parteien. (Der Schwerpunkt wird auf die Primärsozialisation gelegt.)
67
BROCKHAUS Enzyklopädie 19. Aufl. 1989, S. 617 s.v. "Heimat"
44 2.3. Universalität emotionaler, räumlicher und sozialer Heimat-Elemente (Nachweis 2) Um die Bedeutung von räumlichen und sozialen Kategorien im menschlichen Verhaltensinventar zu untersuchen und festzustellen, ob die als konstitutiv benannten Elemente des Heimat-Begriffs als universal oder primär einzustufen sind, werden folgende wissenschaftliche Disziplinen zu Rate gezogen, die sich mit der Entwicklung der menschlichen Gattungsgeschichte und dem menschlichen Verhalten befassen: Humanethologie, Anthropologie, Soziologie.
2.3.1. Methodische Vergleichsbasis zur Ermittlung universeller menschlicher Verhaltensweisen Zur * * * * * *
Erbringung des zweiten Nachweises sollen berücksichtigt werden: Vergleiche mit tierischen Sozietäten; Einsichten aus der stammesgeschichtlichen Evolution; Erkenntnisse der Ur-, Früh- und Kulturgeschichte; Kulturenvergleiche heute lebender Naturvölker; Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Ontogenese; Sozialisationsforschung in der modernen Gesellschaft.
2.3.1.1. Zur menschlichen Gattungsgeschichte Die menschliche Gattungsgeschichte verläuft über drei große Entwicklungsstufen. Von den Primitivkulturen über die Hochkulturen zur modernen Industriegesellschaft. Auf die Wildbeuterkulturen der Jäger und Sammler folgten die Feldbeuterkulturen der jüngeren Steinzeit (vor 15000 Jahren). Ackerbau und Viehzucht zeigten sich in ersten Ansätzen. Dieser entscheidende Schritt vom Nahrungssammeln zur Nahrungsproduktion, der die Seßhaftigkeit menschlicher Gemeinschaften bedingte, wird als "neolithische Revolution" bezeichnet, denn die Herausbildung eines Bauerntums in Verbindung mit dem Seßhaftwerden des Menschen, der Domestikation und Zucht vieler Tierarten sowie dem Kultivieren von Pflanzen ist die Voraussetzung jeder Hochkultur. Die Entwicklungsstufe der Jäger und Sammler, auf welcher der Mensch den überwiegenden Teil seiner Geschichte verbrachte68, ist für die vorliegende Schrift von besonderem Interesse, weil deren Verhalten über das der heute noch lebenden Jäger- und Sammlervölker rekonstruiert werden kann. 69
68 69
lt. Eibl-Eibesfeldt 99% seiner Geschichte (EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 749).
vgl. KLEINER, H.: Zivilisation und Utopie, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.): Der Mensch Bd. V 1983, S. 728-762, hier S. 735 ff.; vgl. LUCKMANN, Th./MÜLLER, K.E.: Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, in: IMMELMANN, K./SCHERER, K.R./VOGEL, Ch./SCHMOOK, P.: Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens, Stuttgart/New York/Weinheim/München 1988, S. 758-796, hier S. 762; vgl. EIBL-EIBES-
45 2.3.1.2. Zum Kulturenvergleich (Definition von "Universalia") Zum Nachweis universeller Strukturen im menschlichen Verhalten wird auf die humanethologische Methode des Kulturenvergleichs, als Mittel zur Isolation invarianter Züge im menschlichen Verhalten, zurückgegriffen. 7 0 Eibl-Eibesfeldt (1973) hat den Beweis erbracht, daß unterschiedlichen und geographisch weit voneinander entfernt lebenden Naturvölkern bis ins einzelne gehende Gemeinsamkeiten im Verhalten eigen sind, wobei ausgeschlossen ist, daß diese Gemeinsamkeiten über Kontakt gelernt sein könnten. 71 Die im Interkulturenvergleich erkannten Universalia werden bevorzugt als genetisch fixierte artspezifische Verhaltensweisen interpretiert. Darin liegt jedoch eine der Hauptschwierigkeiten humanethologischer Interpretation. Es bedarf zur Identifikation und Interpretation von menschlichen Verhaltens-Universalia im Sinne von genetisch programmierten artspezifischen stammesgeschichtlichen Anpassungen noch etlicher gesicherter Belege, die infolge der mangelnden experimentellen Möglichkeiten sehr schwer zu erbringen sind und für die meisten komplexen Verhaltensmustern des Menschen bisher noch fehlen. 72 Daher werden "Universalia" in dieser Schrift, in Anlehnung an die Argumentation von Vogel/Eckensberger 73 als Verhaltenskonstanten definiert. Verhaltensmuster, die unter den verschiedenartigsten kulturellen Bedingungen in gleicher Form auftreten, werden als universale Verhaltensmuster bezeichnet, unabhängig davon, ob sie genetisch fixiert sind oder nicht.
2.3.2. Ursprung und Ursachen emotionaler Elemente des Heimat-Begriffs Zunächst sollen Ursprung und Ursachen der unter Nachweis 1 benannten emotionalen Elementen des Heimat-Begriffs ergründet werden. 2.3.2.1. Ermittlung universaler Gefühle, Wertvorstellungen und Auslöser Das Verhalten ist in allen Bereichen von Wertvorstellungen bestimmt, auf die der Mensch sehr früh prägungsartig fixiert wird und die er mit hohen Emotionen verteidigt.
FELDT 1984, S. 749. 70
GRAMMER, K.: Biologische Grundlagen des Sozialverhaltens. Verhaltensforschung in Kindergruppen, Darmstadt 1988 (= Dimensionen moderner Biologie Bd. 5), S. 29 ff. 71
vgl. MORATH, M.: Der biologische Anteil im Verhaltensprogramm des Menschen, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.) Der Mensch, Bd. V. 1983, S. 35-60, hier S. 35. 72 vgl. VOGEL, Ch./ECKENSBERGER, L.: Arten und Kulturen - Der vergleichende Ansatz, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 563-608, hier S. 593. 73
VOGEL/ECKENSBERGER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 590 ff.
46 Konrad Lorenz klassifiziert "Wertempfindungen" als menschliche Gefühle und einige von ihnen bezeichnet er als universal, bzw. als "allgemeinmenschlich". Lorenz räumt ein, es sei nicht leicht, die Qualitäten der verschiedenen Gefühle zu analysieren; sie seien grundsätzlich "nur phänomenologischen Methoden zugänglich", so daß in bezug auf sie genaugenommen jeder nur von sich selbst sprechen kann". 74 Gefühle, vor allem Wertempfindungen, gehören zu der Sparte realer Vorgänge, die "zwar existent", aber wegen ihrer subjektiven Qualität kaum mit Worten definierbar sind. Unter den Verhaltensforschern "besteht jedoch kein Zweifel, daß eine große Anzahl von qualitativ unverwechselbaren Gefühlen allgemeinmenschlich" sind. 75 Die prägungsähnliche Fixierung auf gewisse Grundhaltungen erfolgt in sog. sensiblen Perioden der menschlichen Entwicklung. Frühe menschliche Entwicklungsstadien sind gekennzeichnet durch eine große Umweltoffenheit des Organismus, der über die Sinnesorgane erste Umwelteindrücke aufnimmt und rasch Erfahrungsinhalte im Gedächtnis speichert. 76 Ohne auf Einzelheiten von Aufbau und Funktion des menschlichen Gehirns und Zentralnervensystems einzugehen, kann man die Gefühlsentwicklung folgendermaßen skizzieren: Durch die Verbindung mit dem Neokortex werden die Gefühle sozusagen aus dem (animalischen) Spontanbereich herausgehoben: "Dank der Verbindung des Hippocampus mit dem temporalen Neokortex wird das Gedächtnis vertieft; Gefühle gelten nicht nur für den Augenblick, sondern auch noch morgen und noch in Jahrzehnten. Dank der Sprache und der sprachlichen Begriffsbildung, aber auch dank der Metaphern und Analogien, [...] können Gefühle benannt, umschrieben, wiedererinnert und umgeformt werden. Dank des Neokortex und der mit seiner Hilfe fixierten Kulturleistungen kann sich der Mensch auch von seinen unmittelbaren Gefühlen distanzieren, oder er kann sie in einen größeren Zusammenhang einbinden. Zwar wird man in einer angespannten Situation nach wie vor von Gefühlen 'überwältigt' oder 'davongetragen' werden; bei einer stärkeren kortikalen Kontrolle aber wird man in der Lage sein, diese Gefühle in einen weiteren Zeithorizont und in einen größeren Projekt- und Interaktionszusammenhang einzuordnen." 77 Zur Veranschaulichung des Zitates wird auf das Schema der Gehirnorganisation von Sagan 78 zurückgegriffen, das auch Bühl in seiner Darstellung verwendet.
74
LORENZ 1988, S. 263 f.
75
LORENZ 1988, S. 392.
76
vgl. EIBL-EIBESFELDT, I.: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, Kiel 1985, S. 66; vgl. IMMELMANN, K./KELLER, H.: Die frühe Entwicklung, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 133-180, hier S. 133. 77
vgl. FISHBEIN, H.D.: Evolution, Development and Childrens Learning, Pacific Palisades, Cal. 1976, S. 10 ff., zit. nach BÜHL 1982, S. 110 f. 78
vgl. Abb. S. 47 nach: SAGAN, C.: Die Drachen von Eden. Das Wunder der menschlichen Intelligenz, München 1978, S. 83.
47 Gehirnaufbau und Verhaltenskontrolle
Schema der Gehirnorganisation nach Sagan Für Gefühle, die mit dem Heimat-Begriff assoziiert werden, ist das "vertiefte Gedächtnis" bedeutsam, wodurch Gefühle noch nach Jahrzehnten wiedererinnert werden können. In diesem Zusammenhang spielt auch das Langzeitgedächtnis eine Rolle, "das an den emotionalen Grundwerten orientiert ist". 79 Bemerkenswert für die Entwicklung individueller Heimatgefühle ist auch, daß Gefühle nicht einfach "bewußtlos" ablaufen, sondern mit einem "Selbstbild" verglichen werden, welches der Mensch "von frühester Kindheit an" entwickelt. 80 Das "Selbst" ist eine dynamische Größe, die das "sich wandelnde körperliche wie soziale und symbolische Koordinatensystem eines sich als Individuum erlebenden Organismus darstellt". "Das 'Selbst' ist ein Ergebnis vor allem des internen Systems, das erst in der Interaktion mit der Umwelt und mit anderen Personen ausdifferenziert werden kann." "Das interne System besteht vor allem aus dem autonomen Nervensystem, dem Geruchs- und Geschmackssinn, den Rückenmarkszentren und verschiedenen [...] Zentren im Limbischen System, die wiederum mit dem limbischen Kortex und verschiedenen Zentren des Neokortex verbunden sind." Das interne System ist mit "den inneren Zuständen des Organismus beschäftigt [und] vielstufig geschaltet". 81
79
BÜHL 1982, S. 112.
80
vgl. BÜHL 1982, S. 111.
81
BÜHL 1982, S. 117 f.
48 Dem Geruchssinn kommt besondere Bedeutung als Auslöser für bestimmte Empfindungen zu. Auf neue Erkenntnisse über geruchliche Auslöser kann die humanethologische Forschung über angeborene Auslösemechanismen verweisen.82 (Eibl-Eibesfeldt stellt fest, daß für die EIPO "nin tong" [= der Geruch der Mutter] ein Heimat assoziierendes Element darstellt.83) Die bindende Wirkung von Gerüchen läßt sich aus dem gegenüber anderen Sinnen hervorragenden Langzeitgedächtnis des Menschen für Gerüche erklären. Ein "vorwiegend unbewußter Einfluß und starker Bezug zur Emotionalität" ist eine Eigentümlichkeit des Geruchssinns, die ihm eine besondere Rolle auf verschiedenen Bindungsebenen des Menschen zuweist (z.B. Mutter-Kind-Bindung, Partner-Bindung, Heimat- oder Ortsbindung).84 In der menschlichen Ontogenese spielen neben genetischen Voraussetzungen auch kulturgeschichtliche Entwicklungen eine Rolle, welche die sozioökonomischen Lebensumstände bedingen. Das Kleinkind lernt schon in den ersten beiden Lebensjahren, komplexe Erkenntnisse über die belebte und unbelebte Umwelt zu sammeln. Es übt sich in komplizierte soziale Verhaltensmuster ein, es lernt Beziehungskomplexe wie beispielsweise "Freundschaft" zu entwerfen.85 Eine Bindung wird aufgebaut, indem das Individuum den Bindungspartner oder das Objekt seiner Bindung kennenlernt. Kennenlernen heißt Sammeln von Erfahrungen86; und dies ist es, was eine Mutter zu meiner Mutter, einen Menschen zu meinem Freund, einen Ort zu meinem Heimatort macht. Aus Kennenlernen und Erfahrung resultiert Vertrautheit; Vertrautheit schafft Einzigartigkeit und diese kann zum festen, dauernden Band werden.81 Einzigartigkeit bedingt das Gefühl der Verantwortung und Zusammengehörigkeit, es gewährt die Möglichkeit der Identifikation. Hieraus ist auch das Entstehen der Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit und Identität zu erklären, die als zentrale emotionale Elemente des Heimat-Begriffs einzustufen sind.88
82
vgl. EIBL-EIBESFELDT, I.: Der Mensch - das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft, München 1988, S. 79 f. 83 EIBL-EIBESFELDT, I./SCHIEFENHÖVEL, W./HEESCHEN, V.: Kommunikation bei den Eipo. Eine humanbiologische Bestandsaufnahme, Berlin 1989, S. 52. 84
EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 540; vgl. SCHLEIDT, M./NEUMANN, P.: Vorstellung und Bewertung von Gerüchen. Eine empirische Studie mit der Methode der kritischen Ereignisse, demn. 85
vgl. VOGEL, Ch. A O L AND, E.: Evolution und Kultur, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 101-132, hier S. 131. 86 WICKLER, W./SEIBT, U.: Das Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens, Hamburg 1977, S. 318. 87 88
vgl. LORENZ 1988, S. 398.
Die Humanethologen zählen zu den universalen moralischen Werten menschlichen Verhaltens, die sich von der Urzeit bis in die Gegenwart nachweisen lassen auch die "Heimatliebe". Vgl. EIBL-EIBESFELDT, I. et al.: Conditio humana. Vorträge und Materialien zur Biologie des Menschen, Göttingen 1976 ( = 1976 b), S. 79; vgl. ders. 1985, S. 62.
49 2.3.3. Raumgebundenheit bzw. Territorialität als anthropologische Konstante Für den Nachweis, daß es sich bei Raumgebundenheit bzw. Territorialität um eine anthropologische Konstante handelt, erweist sich die Humanethologie als hilfreich. Sie zeigt Parallelen zum Territorialverhalten der Tierwelt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf, versucht mittels Kulturenvergleich herauszufinden, ob es sich bei Territorialität um ein universales Verhaltensmuster handelt und untersucht menschliches Territorialverhalten in der modernen Gesellschaft. Forschungsergebnissen der Humanethologie zufolge ist das menschliche Streben nach Sicherheit/Schutz/Geborgenheit als anthropologisches Grundbedürfnis zu bezeichnen. Diese Erkenntnis der Naturwissenschaft wird von Sozialwissenschaftlern bestätigt. 89 Die These, daß dieses allgemein anerkannte Grundbedürfnis nach Sicherheit, welches ein zentrales Element des Heimatgefühls ist, durch das territoriale Prinzip d.h. durch Raumgebundenheit bzw. Besitz eines Territoriums befriedigt wird, soll zunächst durch Erkenntnisse der Ethologie gestützt werden. 2.3.3.1. Territorialverhalten aus Sicht der Ethologie In der Ethologie wird neben dem Bedürfnis nach Schutz bzw. Sicherheit das Bedürfnis nach Aktion (Aktivität/Stimulation) als Grundbedürfnis eingestuft 90 und von Ardrey wird der "Wunsch nach Identität" als "drittes grundlegendes Bedürfnis" benannt, welches durch "das territoriale Prinzip voll befriedigt" werde. 91 Diese Ansicht erregt jedoch z.T. heftigen Widerstand. Territorialverhalten bei Tieren wird als angeborenes Verhalten mit offenem Instinktprogramm interpretiert; genetische Veranlagungen werden durch Lernen und Erfahrung ergänzt. "Die Veranlagung, ein Territorium zu besitzen, ist
Lorenz versucht diesen klischeehaften Ausdruck näher zu erläutern. Da das Wort Liebe qualitativ unterschiedliches meint, sei die Bezeichnung "gern haben" die treffendste für das Gefühl welches man den Subjekten (Eltern, Traditionsgebern), die Heimat verkörpern, entgegenbringen müsse. Nach Lorenz überträgt der Mensch Gefühle die er dem Traditionsgeber entgegenbringt auf alles von ihm Tradierte und stattet es so mit entsprechenden emotionellen Werten aus (vgl. LORENZ 1988, S. 263 und S. 296). 89 vgl. RIESCHER, G.: Gemeinde als Heimat. Die politisch-anthropologische Dimension lokaler Politik, Diss. Augsburg 1987 ( = tuduv-Studie/Reihe Politikwissenschaft, Bd. 21), München 1988, S. 70 f.; vgl. GREVERUS 1972; vgl. ders. 1979; vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 44 ff.; vgl. STAMMEN, Th.: Geborgenheit als anthropologisches Bedürfnis - Die politischen und kulturellen "Kosten" der Kommunal- und Gebietsreform, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 78-92, hier S. 86 f. 90 z.B. bei DARLING, Frank Fraser, Social Behavior and Survival, in: Archtv Univ. Karlovi, 69, 1952, S. 183-191. 91
ARDREY, R.: Adam und sein Revier. Der Mensch im Zwang des Territoriums, München 1972, S. 176.
50 angeboren. Aber seine Lage und seine Grenzen werden aus Erfahrung bestimmt." 92 Die Raumgebundenheit der Tierarten bezeichnet Ardrey als "territorialen Imperativ". Diese Formulierung Ardreys ist irreführend und in der Forschung umstritten vor allem deshalb, weil er (Ardrey) sie auch auf den homo sapiens anwendet. Eibl-Eibesfeldt wendet ein, Territorialität sei kein fest vorgezeichnetes Verhaltensmuster, sondern eine Disposition, die verschiedene kulturelle Ausfaltungen erfahren könne. 93 Noch schärfer formuliert Bühl seine Gegenposition zu Ardrey: "Es ist völlig unhaltbar, den Menschen schlicht 'das territoriale Wesen' zu nennen und sein gesamtes Sozialverhalten aus einem fingierten 'territorialen Imperativ' zu erklären." 94 Die Ethologie unterscheidet zwischen einem engeren Territorium (Revier, Aktionsraum) und einem Streifgebiet (home range). 95 Wesentlich für das Tier ist es, ein Gebiet bzw. einen Wohnraum zu besitzen, der durch Fixpunkte (z.B. Futterplätze, Brutplätze) gegliedert ist. Diese Fixpunkte sind durch ein Wegenetz miteinander verbunden und werden nach einem regelmäßigen Fahrplan (täglich oder jahreszeitlich) aufgesucht. 96 Das "Heim" (z.B. Erdhöhle, Einstand) des Tieres wird als "Fixpunkt größtmöglicher Geborgenheit" bezeichnet. 97 Es genießt als "sicherste und bequemste Ruhestelle eine besondere Bevorzugung seitens des Tieres". 98 Leyhausen weist nach, daß bei Individuen vieler Tierarten nicht nur ein starkes Bedürfnis nach vertrauten Artgenossen besteht, sondern auch nach der vertauten Umgebung, vor allem dem "Heim". 99 Schon Holzapfel spricht Mitte unseres Jahrhunderts ausdrücklich vom "Individuum mit dem Heimcharakter". Bei den in Familiengruppen lebenden Tieren ist die Gruppe noch klein genug um das Festhalten an einem "Heim" zu ermöglichen. Die "in Herden lebenden Großtiere müssen infolge des großen Nahrungsbedarfs des Verbandes ständig in ihrem Revier umherstreifen und können sich daher nicht in dem Maße an einen Ort als Heim binden, wie einzelne oder paarweise lebende Tiere" oder kleine Familiengruppen. "Außerdem bedingen die jahreszeitlichen
92
ARDREY 1972, S. 33.
93
EIBL-EIBESFELDT, I.: Gruppenverhalten und Sexualität des Menschen aus ethologischer Sicht, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 97-149, hier S. 133. 94
BÜHL 1982, S. 233.
95
vgl. BURT 1943 und HEDIGER 1949, in: LEYHAUSEN, P.: Soziale Organisation und Dichtetoleranz bei Säugetieren, in: LORENZ, K./LEYHAUSEN, P.: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen, 4. Aufl. München 1973, S. 142-168, hier S. 143 u. S. 146. 96
HEDIGER, H.: Tiergartenbiologie und Verhaltensforschung, in: IMMELMANN, K. (Hrsg.): Sonderband "Verhaltensforschung". Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs, Zürich 1974, S. 594-603, hier S. 598; vgl. HEDIGER 1949, in: LEYHAUSEN 1973, S. 143; vgl. LEYHAUSEN, in: ders. 4. Aufl. 1973, S. 119. 97
HEDIGER, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 598.
98
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 119.
99
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 398.
51 Vegetationsschwankungen bei diesen Tieren häufig saisonbedingte Wanderungen innerhalb ihres Reviers oder von einem Sommer zu einem Winterrevier". 1 0 0 Leyhausen faßt die zentrale Bedeutung des Territoriums für das Tier zusammen: "Kein freilebendes Tier, ganz gleich, ob es einer soziallebenden Art angehört oder den größten Teil des Lebens als Einzelgänger verbringt, bewegt sich frei, d.h. beliebig und rein zufallig. Es ist durch seine Organisation schon an einen begrenzten Lebensraum gebunden, der ihm die notwendigen Lebensbedingungen bietet." 1 0 1 Diese Feststellung bezüglich des tierischen Territorialverhaltens enthält einige auffällige Übereinstimmungen mit dem Territorialverhalten primitiver Jäger- und Sammlervölker in der Gattungsgeschichte der Menschheit. Bei nichtmenschlichen Primaten, bei anderen Tieren und bei einfachen Jäger- und Sammlervölkern läßt sich Gleiches beobachten. 2 . 3 . 3 . 2 . Erkenntnisse der menschlichen Entwicklungsgeschichte Die primitiven Jäger- und Sammlervölker lebten in einem bestimmten Jagd- und Schweifgebiet, das im allgemeinen ein fest abgegrenztes Territorium darstellte. 1 0 2 "Die Erschöpfung von Sammelobjekten, [ . . . ] die saisonalen Wanderungen von Tieren und ähnliche Faktoren dürften zwar eine ziemlich häufige Verlagerung des Aufenthaltsortes erfordert [haben], aber nicht die Territorialität, das möglichst weitgehende Verharren in einem Revier, aufgehoben haben. (Das [territoriale Verhalten] scheint [somit] schon auf vormenschlicher Stufe angelegt i-])."103 Die Lebensweise der Wildbeuterkulturen förderte die Entwicklung von Lokalgruppen mit festen Wohnplätzen, an denen die Nahrung zusammengetragen und geteilt wurde, wodurch die Bindung an das Territorium gefestigt wurde. Folglich kann man die Jäger- und Sammlervölker erwiesenermaßen als "territorial gebundene Kleingruppen" bezeichnen. 1 0 4 Die These von der nichtterritorialen Urgesellschaft gilt als widerlegt. 1 0 5 Im L a u f e der Zeit lehrte die Erfahrung, daß z . B . die Jagd in bestimmten J a g d gründen, das Fischen an bestimmten Flußstellen besonders lohnend war. Diese Tatsache führte zunächst zu einer vorübergehenden Seßhaftigkeit. 1 0 6 Nach der
100
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 122.
101
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN (zit. nach der Ausgabe von 1968),
S. 119.
vgl. NARR, K.J.: Beiträge der Urgeschichte zur Kenntnis der Menschennatur, in: GAD AMER/VOGLER (Hrsg.) Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S. 3-63, hier S. 38.; vgl. LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 124. 102
103
NARR, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.) Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S.
104
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 759 f.
105
EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.) Bd. V. S. 133.
106
vgl. REDING, M.: Politische Ethik, Freiburg i.Br. 1972, S. 116.
28.
52 neolithischen Revolution erforderte die dauernde Seßhaftigkeit der Feldbeuterkulturen neue kulturelle Anpassungen auf vielen Gebieten u.a. entwickelte sich familiäres oder individuelles Besitzrecht an einem Stück Land, was die Territorialität verstärkt hat. Die Auffassung, daß erst zu diesem Zeitpunkt der Mensch damit begonnen hätte, sein Territorium abzugrenzen und zu sichern, hat sich als zwischenzeitliche "Modemeinung" erwiesen, die mittlerweile kaum noch vertreten wird. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte bildeten sich mit der fortschreitenden Entwicklung des Ackerbaus und der Stadtkulturen immer größere territoriale Einheiten, die zunehmend dichter besiedelt wurden. (Die Bandkeramiker als erste Ackerbauern Mitteleuropas beispielsweise bevölkerten 4500 v.Chr. mit einer Dichte von nur 1,45 Einwohner pro Quadratkilometer das Land.) Die Menschen verteidigten ihre Territorien und nahmen auch neue Gebiete in Besitz.107 Im Laufe höherer Kulturentwicklung haben sich einfache räumliche Verhältnisse vergrößert und vielfach abgewandelt, bestimmte Züge kehren jedoch immer wieder, z.B. gilt das Bestreben eines Sozial Verbandes, sich einen bestimmten Raum als Eigentum zu reservieren, als allgemein vorhanden.108 Um solche territorialen Verhaltensweisen zu dokumentieren, bietet sich die Methode des Kulturenvergleichs an, wobei die Entwicklugsstufe der Wildbeuterkulturen - die den mit Abstand größten Zeitraum in der menschlichen Gattungsgeschichte einnimmt - von besonderem Interesse für die Humanethologen ist. Die vergleichende Verhaltensforschung geht von der Annahme aus, "daß diese Stufe annähernd dem entspricht, was wir bei noch heute lebenden Jäger- und Sammlervölker finden." 109 Aus den einfachsten heute noch beobachtbaren Gemeinschaften werden Rückschlüsse auf das menschliche Zusammenleben in der Urgeschichte gezogen.110 2.3.3.3. Kulturenvergleich heute lebender Naturvölker Territoriale Ortsgebundenheit und Abgegrenztheit sind typisch für die individualisierten Menschengruppen heutiger Naturvölker.111 Die Mehrzahl der Jäger- und
107
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 761; vgl. ders. in: WENDT/LOACKER (Hrsg.) Bd. V. S. 132 u. S. 135. 108
vgl. LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 124.
109
GRAMMER 1988, S. 12.
110
Daß ein prinzipieller Vergleich urgeschichtlicher mit heutigen Menschen statthaft ist, davon geht auch die Kulturanthropologie aus. (Vgl. NARR, in: GADAMER/VOGLER, Kulturanthropologie 1973, S. 37). 111
Eine Übersicht über die Territorialität von Naturvölkern hat Maurice Godelier 1979 veröffentlicht. (GODELIER, M.: Territory and property in primitive society, in: CRANACH, M.v./FOPPA, K./LEPENIES, W./PLOOG, D. (Hrsg.): Human ethology. Claims and limits of a new discipline, Cambridge 1979).
53 Sammlervölker des 20. Jh. leben territorial und zwar in Hordenterritorien. 112 Hordengemeinschaften wandern im jahreszeitlichen Rhythmus in einem der Gruppe gehörenden Territorium, in dem sie feste Wohnplätze haben; kleine Dörfer aus Rundhütten, worin sie einen großen Teil des Jahres verbringen. Hirtenvölker ziehen in einem ihnen vertrauten Gebiet, in dem jede Gruppe eigene Rechte z . B . an Wasserstellen hat. Sie haben immer wieder benützte Lagerplätze. Selbst die sog. Nomaden, die große Teile des Jahres im Familienverband wandern, besitzen meist Weidegebiete und ihre Wanderwege sind genau festgelegt. Sie finden sich vorübergehend in Gruppen zusammen, deren Mitglieder ständig wechseln. 113 Auch die häufig als Beispiel für die nichtterritoriale Urnatur des Menschen zitierten Eskimos und Pygmäen sind erwiesenermaßen territorial. Sie verteidigen ihre Jagd- und Sammelgebiete sogar mit Waffen. 1 1 4 Ebenso kann man den Nomadismus der Kalahari-Buschleute nicht mit territorialer Ungebundenheit gleichsetzen; auch sie verteidigen das gruppeneigene Territorium gegen Eindringlinge. 115 Carol R. Ember untersuchte die gängigen Ansichten über Jäger und Sammler im Kulturenvergleich und schreibt zusammenfassend: "Die hier vorgelegten Daten legen nahe, daß einige Ansichten über Jäger und Sammler korrigiert werden müssen. Diese Daten weisen - im Gegensatz zur bis dahin gängigen Meinung - darauf hin, daß heute lebende Jäger und Sammler typisch ortsgebunden sind." 116 Das aus der Urgeschichte herrührende Bedürfnis nach territorialer Abgrenzung, Schutz, Identifikation, Orientiertheit und Privatheit, aber auch nach Sozialkontakt und Öffnung zur Gemeinde wird bei jeder Siedlungsanlage von Naturvölkern berücksichtigt. Das Heim urgeschichtlicher Jäger und Sammler hatte vor allem die Funktion einer Schlafstätte, bot Schutz vor Feinden sowie vor Witterungseinflüssen und sicherte die Privatheit für die Kernfamilie. Das eigene Heim heute lebender Naturvölker besteht im einfachsten Fall aus einem Windschirm oder einem Pultdach. 117 Bei den Kalahari Buschleuten spiegelt sich die Abgeschlossenheit der individualisierten Gruppe in der Siedlungsform wider: Familienhütten sind um einen Dorfplatz herum angeordnet, wobei die Eingänge nach dem Platz ausgerichtet
112 Gesicherte Untersuchungsergebnisse bieten z.B.: EIBL-EIBESFELDT, I.: Die !Ko-Buschmanngesellschaft. Gruppenbindung und Aggressionskontrolle. Monographie zur Humanethologie 1, München 1972; HEINZ, H.J.: Territoriality among the bushmen in general and the !Ko in particular, in: Anthropos, 67, 1972, S. 405-416; LEE, R.B.: !Kung spatial organization. An ethological and historical perspective, in: Human Ecology, 1, 1972, S. 125-147; SILBERBAUER, G.B.: The G/wi bushmen, in: Bicchieri, M. G.(Ed.): Hunters and gatherers today, New York 1972, S. 271-326. 113
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 378.
114
vgl. EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 133.
115
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 378.
116
EMBER, C.R.: Myths about hunter-gatherers, in: Ethnology 17 (1974), S. 439-
117
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 779, S. 784, S. 795 u. S. 799.
448.
54 sind, der als Kommunikationszentrum dient. Die einzelnen Familien leben also der Gemeinschaft zugewandt. Die Siedlung ist nach außen durch Zäune, Palisaden und Hecken abgeschirmt. 1 1 8 Ob Windschirm der " A g t a " , kleine Rundhütten der "G/wi-Buschleute" der Kalahari oder Pultdächer der " Y a n o m a m i " und "Waika-Indianer" am oberen Orinoko; all diese Behausungen schützen nicht nur vor Sonne, Wind und Regen, sondern sie sichern Privatheit und ermöglichen gleichzeitig Sozialkontakt. Dadurch ist die Identifikation mit einem abgegrenzten kleinen Territorium gewährleistet, und die Identität mit der Dorf- oder Hordengemeinschaft wird bestärkt; man fühlt sich "zuhause". 1 1 9 Wie viel Heimatbindung und Heimatgefühl mit Territorialität zu tun hat, dokumentiert Eibl-Eibesfeldt am Beispiel der Eipo: "Die Vorfahren sagten, als sie in 'Eipomek' eintrafen: 'ole dobnab' (laßt uns bauen), was aber auch heißt: 'Hier wollen wir ein Zuhause finden, hier wollen wir uns niederlassen.'" 1 2 0 2 . 3 . 3 . 4 . Raumbezogenes Verhalten in der modernen Gesellschaft Raumbezogenes Verhalten des Menschen ist durch stammesgeschichtliche Anpassung in bestimmter Weise vorgezeichnet und unterliegt einer Anzahl genetisch bedingter Antriebe, die ohne Schaden zu nehmen langfristig nicht mißachtet werden dürfen. 1 2 1 Zweifellos verhalten sich Menschen in vielen Bereichen des sozialen Lebens territorial. Für die menschliche Neigung zum Territorialverhalten hat Klimpfinger 1 2 2 Beispiele angeführt: Grundstücksbegrenzungen wie Gartenmauern oder Zäune; Schilder 'Betreten verboten'; Redewendungen wie ' M y home is my castle'; Strandreviere, die im Urlaub abgesteckt werden. Leyhausen stellt fest, daß die meisten Menschen es lieben, überall dort, wo sie häufiger verweilen, bestimmte Plätze ("Stammplätze") einzunehmen: Beispielsweise wird ein bestimmter Platz in der Natur jedes Wochenende aufgesucht; oder im Urlaub wird das selbe Zimmer vom Vorjahr beansprucht; oder ein bestimmter Sitzplatz in Schule, Hörsaal, Bibliothek oder Kirche wird bevorzugt. 1 2 3 Auch das Besitzergreifen eines konkreten räumlichen Bereichs, den man als "Heimat" empfindet (z.B. Zimmer, Haus, Straße, Viertel, Ort, Dorf, ein Stück
118
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 378.
119
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 379.
120
EIBL-EIBESFELDT et al. 1989, S. 52.
121
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 795.
KLIMPFINGER, S.: Kindergartenstudien I und II, Film der Bundesstaatlichen Hauptstelle für den Unterrichtsfilm, Wien 1952 (zit. nach LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 160). 122
123 Unter ungewöhnlichen Bedingungen des Daseins wird diese Erscheinung noch deutlicher. Leyhausen erwähnt das Beispiel von Kriegsgefangenen: Wenn sie in ein neues Lager verlegt werden, sucht sich jeder zuerst einen Platz zum Schläfen (Schlafplatz = Wohnung). Vgl. LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 125 und S. 162.
55 Natur), kann somit als allgemeinmenschlich bezeichnet werden. Edward T.Hall meint, Territorialität sei "ein für lebende Organismen, den Menschen eingeschlossen, charakteristisches, grundlegendes Verhaltenssystem". 124 Leyhausen vertritt die Auffassung, das Raumverhalten des Menschen sei genetisch bedingt. "Der individuelle wie der soziale Raumanspruch sind durch unsere Stammesgeschichte gegeben und daher ein konstituierendes Merkmal der Gattung, d.h. sie sind innerhalb gewisser Grenzen unabdingbares Naturrecht." 125 "Es finden sich größere Gruppenterritorien, an die erhebliche affektive Bindung besteht. Diese wird zwar durch Erziehung und Tradition an das jeweils bestimmte Gebiet und manche Besonderheiten fixiert, aber diese Faktoren schaffen eben nicht die Möglichkeit einer derartigen Fixation und erklären sie auch nicht, sondern die ist in der Anlage eines jeden Menschen vorgegeben, ebenso wie viele Formen, in denen sich diese Bindung äußert" (Auch das "Heimweh" ist nichts Angelerntes). 126 Die entgegengesetzte Behauptung, Territorialität sei ein vorherrschend kultureller Mechanismus der Anpassung, ist nach heutigem Forschungsstand nicht zu halten. Die Frage, ob menschliches Raumverhalten ausschließlich genetisch fixiert oder gelernt ist, sollte nicht polarisierend beantwortet werden, denn eine Orientierung an den bisher bekannten Fakten läßt keine absoluten Aussagen zu. 127 Keineswegs alle Universalia sind genetisch verankert bzw. angeboren. Das Faktum einer universalen Verbreitung als solches läßt keine Entscheidung darüber zu, ob es sich um eine Erb- oder Traditionshomologie handelt oder gar um eine Traditionsanalogie. Schon Ethologen, die mit nicht-menschlichen Primaten arbeiten, haben festgestellt, daß Universalität von komplexen Verhaltensmustern innerhalb einer Art auch ohne entsprechende genetische Fixierung auftreten kann, z.B. wenn gleiche Sozialisationsbedingungen vorliegen. 128 Wichtig für die Beweisführung dieser Schrift ist die Tatsache, daß Territorialität eine anthropologische Konstante ist, die jedoch kulturell mannigfache Ausprägung findet. 129 Eibl-Eibesfeldt stellt fest: "Territorialität gehört sicher zu den Universalien, und die Anlagen reichen wohl auf altes Primatenerbe zurück. Diese Disposition kann jedoch kulturell sehr vielgestaltige Ausformung finden." 130
124
HALL, E.T.: Die Sprache des Raumes, Düsseldorf 1976, S. 23.
125
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 129.
126
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 124.
127
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 430.
128
vgl. VOGEL/ECKENSBERGER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 592.
129
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 430.
130
EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 431.
56 2.3.4. Universelle gemeinschaftsbildende Strukturen 2.3.4.1. Bindungsfestigung durch Tradition (Kulturenvergleich) Tradition trägt zur Festigung von Bindungen bei. 131 Dies geschieht auf kultureller Ebene durch vielfältige Rituale, Sitten und Bräuche. Das Zusammenwirken in Gemeinschaftsaufgaben, Ritualen und Festen fördert Bindemechanismen, die die Integration und Identität einer Gemeinschaft nach innen verdichten und verstärken und zugleich Abgrenzugscharakter gegenüber dem Fremden besitzen. Der innersoziale Zusammenhalt und das Sicherheitsgefühl des einzelnen werden durch Traditionspflege bekräftigt, denn Traditionalismus bedeutet, auf eigene unverfälschte Kultur zu achten; z.B. sollen Brauchtum, Moral, Glaube, Tracht, Bauweise, Ernährung, eigene Sprache oder Mundart möglichst unverfälscht erhalten bleiben. Archaische Gesellschaften befürchten im Falle einer Durchsetzung ihrer Kultur mit Fremdgut einen Verlust an Identität und besitzen deshalb eine ausgeprägte Abneigung allem Neuen gegenüber. 132 Rituale der Bindung werden von jedem Individuum gepflegt. Beispielsweise in Form von bindenden Verhaltensweisen, die bereits in der Mutter-Kind-Beziehung entwickelt werden, wie Streichelrituale und dergleichen, die auch eine große Rolle im Leben der Erwachsenen spielen. Bindungen werden auf dieser Basis gestiftet und erhalten. 133 Die bandstiftende Funktion des Festes dient der Gruppenbindung. Es entstehen Freundschaften auf individueller Basis und bestehende Bindungen werden bekräftigt. Bei Familienfesten oder Gruppenfesten wird gemeinsam gespeist. Die bindende Funktion solcher Mahlzeiten ist bis in religiöse Riten nachzuweisen. Die Menschen haben die Darreichung von Nahrung zur allgemeinen freundlichen Geste erhoben. Eibl-Eibesfeldt bezeichnet es als weltweit verbreitete Sitte, einander zu beschenken und zu bewirten. 134 Auch gemeinsame Trauer ist ein bindendes Ritual, das sich in unterschiedlichen Begräbnisbräuchen und Totenfesten äußert. Das einigende Erleben der gemeinsamen Totentrauer fördert die Bindung und das Zusammengehörigkeitsgefühl in einem Klansystem. 135
131
Traditionen resultieren aus der Tatsache der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Angewiesenheit auf institutionelle Sicherung (A. Gehlen) und spielen von daher eine Rolle bei der Aufgliederung der Funktionsbereiche Alltag und Theorie s.o. 132
vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 767 ff.
133
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 155.
134
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 237.
135
Eibl-Eibesfeldt führt als Beispiele den Begräbnisbrauch der "Tasday" und die Totenfeste der "Himba" an. * Begräbnisbrauch der "Tasday ": "Der Tote wird begraben - jeder wirft eine Handvoll Erde in die Grube, ähnlich wie es bei uns Brauch ist. Nach dieser rituellen Verabschiedung wird die Begräbnisstätte jedoch gemieden und nicht weiter gepflegt. " (EIBL-EIBESFELDT, I.: Menschenforschung auf neuen Wegen. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen, Wien/München/Zürich 1976 ( = 1976 a), S. 71). * Die Totenfeste der "Himba" erfüllen zwei wichtige Funktionen: Der Tote wird in den
57 Verallgemeinernd spricht man von Ritualen gemeinsamen Tuns, die anläßlich der unterschiedlichen Feste gepflegt werden. Darunter fallen z.B. Spiele, Tänze und Gesänge. 136 Auch das ausgeprägte Territorialbewußtsein der Naturvölker wird durch Rituale bestärkt. Der Anspruch auf ein ganz bestimmtes Gebiet, das sozusagen räumlicher Ausdruck ihrer Identität ist, wird durch magische Riten - zunächst bei der Gründung des Dorfes und dann später in regelmäßiger Wiederkehr vorgenommen - abgesichert. 137 In Zentralaustralien ist eine Form von ritualisierter Territorialität nachgewiesen, die als "mythische Landbindung" bezeichnet wird, weil die Stammesmitglieder durch "die Rituale, die sie an den heiligen Stätten abhalten an ihr Land gebunden" sind. 138 Die Humantethologie dokumentiert auch Lieder und Gedichte, die das Stammesterritorium preisen und dadurch die Heimatbindung festigen. 139 Eibl-Eibes-
Kreis der Ahnen aufgenommen und weiterverehrt. "Diese Kontinuität nimmt dem Tode das Schreckliche." Das Fest dient "zur Pflege der Bindung über die Klangemeinschañ hinaus. Bei keiner anderen Gelegenheit kommen Mitglieder so weit entfernter Klane an einem Ort zusammen". (EIBL-EIBESFELDT 1976 a, S. 243). 136
Die "Tasday" z.B. bekräftigen "in ihren kooperativen Spielen und in den Ritualen des Teilens und Schenkens von früher Kindheit an das die Gruppe Bindende. [...] eine Fülle ritualisierter Kampfspiele helfen, Aggressionen in unblutiger Weise auszuleben". Geselliger Kontakt wird bei den "Tasday" auch durch gemeinsamen Tanz gepflegt. (EIBLEIBESFELDT 1976 a, S. 71). Eibl-Eibesfeldt bezeichnet Volks- und Gruppentänze als "hochritualisierte Form", die zur Demonstration von Einigkeit und zur Festigung der Gruppenidentität dienen und auch nach außen den Eindruck der Geschlossenheit vermitteln. "Tänze definieren wie die Stile in der visuellen Kunst Gruppenzugehörigkeit". Die Gruppenmitglieder handeln aufeinander abgestimmt in einer Art "Synchronisationsritual". Als Beispiel für "Tänze bindender Funktion" führt Eibl-Eibesfeldt die "Melonenballtänze der Frauen bei den Buschleuten (!Ko, !Kung und G/wi) der Kalahari" an. (EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 854). Bei den "Eipo" gibt es eigens Tanz- und Gebefeste, die den Zusammenhalt der Gruppe fordern und speziell der Heimat-Bindung dienen sollen. (EIBL-EIBESFELDT et al. 1989, S. 52). 137
vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 766.
138
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 146; vgl. ders. 1984, S. 433 f. Ortsbindung über Mythen bei Zentralaustralischen Stämmen hat schon MEGITT 1962 erwähnt: Die patrilinearen Gruppen der 'Walbiri' sind aufgrund von Mythen emotionell stark an bestimmte Lokalitäten gebunden, weil ihre Totem-Ahnen der jeweiligen Gruppe in grauer Vorzeit (sog. Traumzeit) ihnen das Gebiet zugeteilt haben, in dem sie heute leben. Die Beobachtungen von I. MEGITT (1962) bestätigen T.G. STREHLOW (1970) und N. PETERSON (1972). 139
* Die "Eipo" West-Neuguineas preisen in Gesängen die Berge ihrer Heimat, von denen ihre Kulturbringer herabstiegen (EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 857). * Ein Gesang der "Trobriand-Insulaner", der bei den abendlichen profanen Tänzen gesungen wird, beinhaltet wehmütige Gedanken eines jungen Mannes, der seine Heimatinsel verlassen mußte. * Die "Nama-Hottentotten", die im Gebiet der Walfischbucht als Jäger- und Sammler der Küste lebten, verehrten die See als Heimat in ihren Preisliedern.
58 feldt sieht in den Liedern Beispiele für die "grundsätzliche Gleichheit menschlicher Empfindungen" und schließt daraus, daß "bei den Naturvölkern die Mechanismen, die genutzt werden, um Heimatliebe und Gruppenidentität zu festigen, die gleichen sind wie bei uns". Durch Erfahrung werden universale Empfindungen mit einer ganz bestimmten Heimat assoziiert. 140 Solche "Verhaltensmuster, die als 'Universalien' auftreten, können u.a. auf gemeinsamen Jugenderfahrungen beruhen, die in allen Kulturen in gleicher Weise gemacht werden". 141 2.3.4.2. Universelle Bedeutung traditioneller Bräuche und Rituale Dem äußeren, variablen, kulturell unterschiedlich ausgeprägten Erscheinungsbild von Bräuchen und Ritualen liegt eine regelmäßige, überall gleiche Tiefenstruktur zugrunde. 142 Beispielsweise sind die Strukturelemente gemeinschaftsbindender Bräuche und Rituale stets die gleichen: Elemente der Selbstdarstellung (Imponieren z.B. durch Kleidung), der Beschwichtigung und Anteilnahme (Totengedenken, Trauer, Freude), der Bewirtung und des Geschenkaustauschs (gemeinsames Mahl) und des gemeinsamen Tuns (Musik, Gesänge, Tanz, Aufmärsche, Spiele). Eibl-Eibesfeldt stellt dazu fest: "Vergleicht man Feste in verschiedenen Kulturen und bei verschiedenen Anlässen, dann kann man über kulturelle und funktionsbedingte Abwandlungen hinweg wieder die gleichen Strukturelemente nachweisen, gleich ob es sich um ein Familien- oder Volksfest handelt, um ein Trauerritual auf Neu-Guinea oder ein Schützenfest in Bayern." 143 Er wertet solche universalen Strukturen als Ausdruck ähnlich vorprogrammierter Hirntätigkeit des Menschen. 144 Auch in der Anthropologie wird Tradition unbestritten als allgemein-menschliches Phänomen anerkannt und ist daher als universal zu bezeichnen. Und das gilt nicht nur für archaische Kulturen, auch in der modernen Gesellschaft ist Tradition ein unverzichtbares Element, zu ihr gehört alles, was von den Vätern übernommen Geltung beansprucht und das Leben einer Gemeinschaft ordnet. 145 Traditionelle Bräuche sind elementare Bestandteile sozialer Konfigurationen; sie bedeuten akzentuierende Durchformung des Daseins. Bereits beim Säugling ist
* Die "Nama", die angrenzend im Landesinneren lebten, begrüßten bei Rückkehr nach längerer Abwesenheit ihr Land, indem sie "Wasser mit dem Mund auf den Boden sprühten und dabei ausriefen: 'Du Land meiner Vorfahren, komm mir entgegen, schon habe ich dich erblickt'". (EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 857). 140
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 858 f.
141
EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 242.
142
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 7 ff.
143
EIBL-EIBESFELDT 1985, S. 238 ff.
144
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 638.
145
vgl. Staatslexikon Recht-Wirtschaft-Gesellschaft in fünf Bänden, hrsg. v. der GÖRRES-GESELLSCHAFT, 7. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1985-1989, hier Bd. 5, 1989, S. 494.
59 das Bedürfnis nach vertrauten Verhaltensweisen der Mutter stark ausgeprägt. Kleine Kinder erfinden ihre eigenen Konventionen, an die sie sich im Spiel halten. "Das Bedürfnis des Menschen, den zwischenmenschlichen Umgang im Tages- Jahres- und Lebenslauf über Rituale zu ordnen" ist erwiesenermaßen vorhanden. Eibl-Eibesfeldt stellt fest: "Rituale ordnen den Alltag und sie geben damit Sicherheit - nicht umsonst gewinnt man Bräuche lieb, fühlt sich über sie in eine Gemeinschaft ähnlich Handelnder eingebettet, vor Unvorhersehbarem geschützt." 146 Diese Tatsache wird von soziologischer Seite gleichermaßen anerkannt. Für Max Weber gehören "Bräuche und Sitten zu den Regelmäßigkeiten im sozialen Handeln". 147 "Alle markanten Punkte der sozialen Existenz zeigen brauchtümliche Ausgestaltung. [...] Insbesondere sind die festlichen Begehungen im Lebens- und Jahreslauf [...] von Bräuchen aller Art erfüllt. Aber auch das alltägliche Dasein ist im Wechsel von Arbeit und Freizeit von ihnen durchprägt, ohne daß man sich dessen im allgemeinen bewußt wäre." 148 Obwohl viele unserer Rituale und Bräuche ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt haben, stiften sie jedoch nach wie vor Verbundenheit und vermitteln Sicherheit. 149 Das Festhalten an Bräuchen und Ritualen macht das Verhalten voraussehbar, trägt Ordnung in die Gemeinschaft und verleiht dem Menschen innere Sicherheit. 150 Zusammenfassend zu den gemeinschaftsstiftenden sozialen Bindungsstrukturen läßt sich der Faktor Tradition, der sich in Bräuchen und Ritualen äußert, dadurch Verbundenheit stiftet und Sicherheit gewährt, als universaler Faktor bestimmen.
2.3.5. Primäre gemeinschaftliche Elemente der sozialen Kategorie Das gemeinschaftliche Element der sozialen Kategorie meint eine besonders enge Verbundenheit zwischen zwei oder mehreren Individuen. 2.3.5.1. Individuelle Bindung in tierischen Sozietäten Die Ursachen von Bindungen in tierischen Sozietäten sind relativ gut erforscht. Sozial bindende Strukturen existieren im Tierreich z.B.in Form von Mutter-Kind-
146
EIBL-EIBESFELD 1984, S. 641.
147
zit. nach BERNSDORF, W. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, 3 Bde. Frankfurt am Main 1972, S. 124. 148
BERNSDORF, Bd. 1, 1972, S. 125.
149
Feiern jeder Art stärken die Verbindung innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft: z.B. fördern Volksfeste die Verbundenheit mit der Heimatgemeinde; Vereins- und Familienfeiern bestärken die Zusammengehörigkeit; religiöse Rituale an kirchlichen Feiertagen verstärken die Verbundenheit der heimatlichen Kirchengemeinde; der feierliche Akt an der Universität soll Verbundenheit mit der akademischen Gemeinschaft stiften, (vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 639 f.). 150
f.
vgl. LORENZ 1988, S. 268 f.; EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 33, S. 409, S. 640
60 Beziehungen, ehelichen oder eheähnlichen Bindungen und Familiengruppen. Das gilt zwar nicht generell, es trifft aber beispielsweise bei Vögeln und Säugern zu, denn hier tritt "an die Stelle der Anonymität der Mitglieder die Tendenz zur individuellen Bindung mit einem Füreinander und schließlich einem hochentwikkelten Wechselverhalten von Eltern und Kindern." 151 Die gelegentlich sehr komplizierten und teilweise relativ eigenständig gestalteten sozialen Beziehungen, individuellen Bindungen und fürsorgliches Verhalten sind relativ gut erforscht. Daß Tiere eine Bindung an die Mutter entwickeln, haben Wickler/Seibt nachgewiesen, indem sie bei Jungtieren die Mütter vertauscht haben. 152 "Die Fähigkeit eine persönliche Mutter-Kind-Bindung einzugehen, ist bei manchen Säugern auf eine bestimmte sensible Periode beschränkt und zwar von beiden Seiten." Diese Tatsache dokumentiert Eibl-Eibesfeldt u.a. am Beispiel von Ziegenmüttern. 153 Die Prägung der Nachfolgereaktion bei Vögeln ist durch Konrad Lorenz "Gänsekind Martina" populär geworden. Mittlerweile ist die Prägung bei Tier (und Mensch) differenziert untersucht. 154 Das junge Individuum reagiert in der ersten Zeit seines Lebens aufgrund psychobiologischer und sozialer Bedingungen besonders offen und anpassungsfähig auf seine Umwelt. In "sensiblen Phasen" wird das Jungtier beispielsweise auf seine Eltern oder den Heimatort geprägt, wodurch es zur Bildung fester Eltern-Kind-Bindungen und zur Ortsbindung bzw. Heimatbindung kommt. 155 Das Bindungsobjekt ist Schutz spendend; Schutzspender ist z.B. die Mutter oder eine Höhle. Bei einer Bindung des Lebewesens an einen Ort ist klar, daß das Lebewesen sozusagen Träger der Bindung ist, denn Orte bleiben selbstverständlich passiv. 156 "Das Aufbauen einer Bindung ist also ein Prozeß, der sich im Individuum abspielt." 157 2.3.5.2. Gemeinschaftswesen Mensch - entwicklungsgeschichtlich betrachtet Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist die Meinung vorherrschend, daß der Mensch von seiner Organausstattung her ein Gemeinschaftswesen ist.158 Befunden der Primaten-Soziologie zufolge ist es wahrscheinlich, "daß eine ganze Reihe
151
BELLEBAUM, 3. Aufl. 1980, S. 126.
152
vgl. WICKLER/SEIBT 1977, S. 318.
153
EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.) Bd. V. S. 104.
154
HESS, E.H.: Prägung. Die friihkindliche Entwicklung von Verhaltensmustern bei Tier und Mensch, München 1975. 155 VOGEL/VOLAND, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 131 ;IMMELMANN/KELLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 135; vgl. Prägungsartige Vorgänge: Heimatoder geographische Prägung z.B. Ortstreue bei Vögeln (Vogelzug); Ortsprägung durch Geruch z.B. bei Lachsen, Aalen, Bienen, Wespen. - s.u. Kapitel: "Der Heimatbegriff im funktional-zweckhaften Bereich der Naturwissenschaft".
117.
156
vgl. WICKLER/SEIBT 1977, S. 314 u. S. 319.
157
WICKLER/SEIBT 1977, S. 318.
158
vgl. SCHÄFERS, B. (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S.
61 von sozialen Bindungsmechanismen menschlicher Kultur-Institutionen und Traditionen nicht rationale Erfindungen des Menschen sind, sondern institutionalisierte Verfestigungen und Differenzierungen von bereits evolutiv vorangelegten Tendenzen seines sozialen Verhaltens, d.h. sie besitzen einen vorkulturellen Kern. 159 Rein zeitlich betrachtet lebt der Mensch über die mit Abstand längste Phase seiner Geschichte in erweiterten Familiengemeinschaften und überschaubaren Stammesorganisationen. 160 Beispielsweise betont Parsons, die Urgesellschaft habe sich auf der Ebene der Familie organisiert. 161 In den urgeschichtlich einfachen Jäger- und Sammlerkulturen dominiert die Klein- oder Kernfamilie (Mann und Frau - oder vielleicht einige Frauen -, Kinder, vielleicht Alte und Schwache); Sie gilt als wahrscheinlichste und natürlichste Art der kleinsten menschlichen Gemeinschaftsform. Eine isolierte Existenz von Kleinfamilien ist jedoch kaum denkbar, vielmehr ist ein Zusammenschluß von Familien in lose gefügte, autonome und exogame Lokalgruppen anzunehmen. 162 "Schutzbedürfnis und wirtschaftliche Notwendigkeit erforderten eine gewisse Mindestgröße der Gruppen. Effektivere Sicherung und Jagd waren nur möglich als Leistungen von Gemeinschaften, die über eine ausreichende Anzahl geeigneter Individuen verfügten." 163 Auf der Stufe des Jägers und Sammlers entstehen Regeln und Riten des Teilens, die den Gruppenzusammenhalt bestärken. Die Lokalgruppen pflegen Gemeinsamkeiten bei Festen und Ritualen. Die Grundzüge menschlichen Gemeinschaftslebens sind bereits voll entwickelt. 164 "Die quantitative und strukturelle Entfaltung [frühmenschlicher] Gemeinschaften wird [jedoch] begrenzt durch die Möglichkeit der Nahrungsbeschaffung d.h. die wirtschaftlich-technischen Mittel einerseits, die natürlichen Bedingungen andereseits." 165 Funde von Lagerplätzen der späten Altsteinzeit zeigen, daß nur selten bis zu hundert Menschen an einem Platz wohnen. Die altsteinzeitlichen Lokalgruppen sind kleiner als die Dorfgemeinschaften der Pflanzer und Ackerbauern. Für die Anfange von Bodenbau und Viehzucht ist aber auch noch an eher kleine undifferenzierte Gemeinschaften von kaum mehr als jeweils einigen Dutzend Menschen zu denken. 166 Über die längste Zeit seiner Geschichte lebt der Mensch in Verbänden,
159 vgl. EIBL-EIBESFELDT 1976 a, S. 79; lt. Eibl-Eibesfeldt pflegte bereits Homo erectus, der vor 1,5 Mio. Jahren auftauchte und bis vor 200.000 Jahren lebte, stabile Traditionen. (EIBL-EIBESFELD 1984, S. 758). 160
vgl. SCHÄFERS 1986, S. 117.
161
vgl. REDING 1972, S. 144.
162
vgl. NARR, in: G ADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S. 29 u. S. 37. 163
NARR, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S.
164
vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 385, S. 752, S. 758 f.
165
NARR, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S.
28.
25. 166 vgl. NARR, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 4 (Kulturanthropologie) 1973, S. 49 f.; vgl. EIBL-EIBESFELDT 1984, S. 763.
62 die klein genug bleiben, so daß jeder die anderen persönlich kennt. Das gilt für Wildbeuter ebenso wie für seßhafte, dorfbewohnende Feldbeuterkulturen. Bei seßhaften Feldbeutergesellschaften entwickeln sich verstärkte soziale Probleme, weil wenig Ausweichmöglichkeiten in Spannungsfállen bestehen. Dadurch werden stabilere Bindungsmechanismen nötig. Das Verhalten wird ritualisiert; es entwickelten sich Binderiten und Verhaltensvorschriften. 167 Sozial und politisch kann man diese Gemeinschaften als Gemeinden bezeichnen. Es läßt sich "mit Sicherheit sagen, daß der Mensch seit dem Neolithikum mehr und mehr in festen Gemeinden lebt, die für lange Zeit die einzigen gesamtgesellschaftlichen Gebilde dargestellt haben. Dieser Zustand ändert sich erst um das fünfte Jahrtausend v. Chr., wo die vorderorientalischen Reiche entstehen, insbesondere Ägypten, während in Griechenland die Gemeinde als 'Polis' (Stadtstaat) eine vielleicht nie wieder erlebte, einmalige soziale und politische Hochblüte erreicht". 168 Mit dem Aufblühen der Stadtkulturen entwickelt sich vielerorts die soziale Umwelt der Gemeinde zu einem anonymen Verband. Nachfolgende Epochen sind durch die Entstehung gesamtgesellschaftlicher Gebilde höherer Ordnung (z.B. Nationen) charakterisiert, denen eine wachsende politische Bedeutung zukommt, während in den Gemeinden das soziale Lebenselement stärker hervortritt. 169 2.3.5.3. Verbundenheitsstrukturen bei heute lebenden Naturvölkern Aus dem Kulturenvergleich heute lebender Naturvölker ergibt sich, daß die Wurzeln menschlichen Gemeinschaftslebens: der Familialismus und das darauf aufbauende Verwandtschaftssystem sowie höhere Sozialorganisationen, wie beispielsweise die Horde, bei heutigen "Primitiven Gemeinschaften" der Tropen, Subtropen und Gebirgsregionen Süd- und Südostasiens anzutreffen sind. 170 Eine enge, von besonderer Qualität ausgezeichnete Mutter-Kind-Bindung ist z.B. für die in Kleinverbänden lebenden Naturvölker, wie die Buschleuten der Kalahari, die Yanomami oder Eipo typisch. Zwar werden bei den Buschleuten die Kinder oft viele Stunden von anderen Gruppenmitgliedern betreut, "kommt aber die Mutter vom Sammeln zurück, dann strebt das Kind sogleich zu ihr; und es protestiert, wenn die Mutter es in der Gemeinschaft zurückläßt, um sammeln zu gehen. Die Bindung an die Mutter wird [...] von den Buschmannsäuglingen eifersüchtig verteidigt". 171 Die Kerneinheit der sogenannten "primitiven" Gesellschaften stellen die Familien dar. Erst über die individualisierten Beziehungen in der Familie wird der Mensch dazu befähigt, sich auch mit anderen Bindungen stark emotionell zu
167 vgl. EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 143; vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 773. 168
KÖNIG, R.: Soziologie (Fischer Lexikon), Frankfurt am Main 1972, S. 82.
169
vgl. KÖNIG 1972, S. 82.
170
vgl. BÜHL 1982, S. 84 f.
171
EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 109.
63 identifizieren. In der Familie entwickelt das Individuum jenes Familienethos, das dann auf die Gruppe ausgedehnt werden kann. (So ist es z.B. für die individualisierte Gruppe der Kalahari Buschleute nachgewiesen). 172 Die Identifikation mit der Gruppe fördert "eine scharfe Grenzziehung zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe (ingroup und outgroup), besonders gegenüber benachbarten und unmittelbar konkurrierenden Gruppen", wodurch es zu einer starken Bindung nach innen und einer starken Aggression nach außen kommt. 173 Die Gesellschaften der Naturvölker differenzieren zwischen Kernfamilie, Großfamilie, Sippe, Freundeskreis, Lokalgruppe der Horde oder Dorfgemeinschaft. (Individualisierte Gruppen können verschiedene Organisationsformen haben). Die Anreden der Eipo lassen auf den Kreis ihrer vertrauten Menschen schließen: "nape" (die Meinigen), "kayape" (Freunde oder Verwandte), "nawite" (du mein Freund aus der gleichen Initiationsgruppe). 174 Während die Mutter-Kind-Beziehung in allen Gesellschaften von relativ wenigen kulturellen Geboten und Verboten kontrolliert wird, sind die Beziehungen der Mitglieder der erweiterten Familie in zunehmendem Maße durch kulturelle Regeln beeinflußt. Alle diese Regeln sind als kulturelle Anpassungen zu deuten. Der Mensch ist sich der Verwandtschaftsbeziehungen bewußt, in die er eingebettet ist, und richtet sein Verhalten danach, z.B ist oft festgelegt, ob die Frau zur Familie des Mannes übersiedelt oder umgekehrt; oder bestimmte Vermeidegebote sind zu befolgen (so ist etwa bei den Yanomami der Kontakt mit der Schwiegermutter untersagt). Konventionen legen das Verhalten in einem bestimmten Rahmen fest und machen es damit voraussehbar (z.B. fördert die Regel der Exogamie, nach der nur außerhalb des eigenen sozialen Verbandes geheiratet werden darf, die Bildung von Allianzen). 175 Die Menschen leben weitgehend seßhaft in kleinen Weilern oder Dörfern zusammen, die aus einer oder mehreren Sippen oder Clanen bzw. Untersippen, also Verbänden von Blutsverwandten zusammengesetzt sind. Eine größere Anzahl von Dörfern bildet einen Stamm oder Unterstamm. Darüber hinaus gibt es territorienübergreifende Vernetzungen durch Clanzugehörigkeit u.a. kulturell definierte Gemeinsamkeiten. Die Einbindung in diese verschiedenen Gemeinschaften vermittelt dem einzelnen Sicherheit. Das Leben des Individuums ist in die Gemeinschaft zumeist vertrauter Leute eingebettet und durch ein System gegenseitiger Verpflichtungen abgesichert. 176 Bei den Eipo z.B. besteht ein soziales und solidarisches Gemeinschaftsleben darin, daß nichts hinterfragt wird; nicht moralische Begründungen stehen im Vordergrund oder Zweifel, ob etwas Richtiges getan wurde, sondern die Solidarität der Gemeinschaft umschließt den
172
vgl. EIBL-EIBSEFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 108
173
BÜHL 1982, S. 85.
f.
174
EIBL-EIBESFELDT et al. 1989, S. 52.
175
EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 130 f.
176 vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 763; EIBLEIBESFELDT 1984, S. 788.
64 in Not Geratenen. Die festgefügte Ordnung in allen Lebensbereichen stiftet Verbundenheit. 177 Bei den heute lebenden Naturvölkern bestehen Abhängigkeiten: "Weder die Geschlechter noch die Generationen können ohne einander bestehen; alle sind zwingend aufeinander angewiesen: die Jugendlichen auf die Hilfe und Erfahrung der Erwachsenen; diese auf die Bereitschaft der Jugendlichen, die Traditionen zu wahren und ihnen im Alter beizustehen." 178 Solche bindenden Sozialstrukturen konnten bei den bisher erforschten Naturvölkern nachgewiesen werden. Gegenseitige Verpflichtungen und Abhängigkeiten im Leben einer Gemeinschaft sind soziale Elemente, die Sicherheit und Verbundenheit stiften. 2.3.5.4. Elementare Mutter-Kind-Beziehung In allen sozialen Gemeinschaften, in der Urgesellschaft, in heutigen "Primitivgesellschaften" und in der modernen Industriegesellschaft besteht eine besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind (in den modellhaften Überlegungen von Luckmann/Müller als Mutter-Kind-Dyade bezeichnet 17 '). Diese Bindung ist elementarer Baustein und Kern von Familienbildung und Verwandtschaft. Mutter und Kind sind und bleiben nächstverwandt. Diese bestehende Beziehung "wird im gesellschaftlichen Gedächtnis wichtig genommen [und] ist an der Identität beider befestigt. [...] Was sie so selektiv verbindet und was nicht vergessen wird, ist der Umstand, daß diese Mutter diesen Menschen als Kind geboren hat." 180 Durch den Vorgang der Geburt stellt die Mutter die individualisierte Bindung zum Kind her. Während der Säugling motorisch noch unreife Züge zeigt, ist er sehr früh, mittels seiner gut entwickelten Sinne, in der Lage, die Mutter am Geruch und an der Stimme zu erkennen. Die individualisierte Bindung von seiten des Säuglings an die Mutter ist jedoch erst in einigen Monaten gefestigt. (Die gefestigte Bindung äußert sich in Fremdenfurcht). 181 2.3.5.5. Notwendigkeit der Familienbildung Gut begründete soziologische Theorien leiten die Notwendigkeit und Universalität von Familienbildung aus der biologischen Sonderstellung des Menschen her, d.h. aus der im Vergleich zu allen Tieren ungewöhnlich langen Zeit der Kleinkindaufzucht. Soziologen sehen darin den entscheidenden Impuls zur Bildung eines Dauerverhältnisses von Eltern und ihren Nachkommen und sprechen von einer "zweiten, sozio-kulturellen Geburt" des Menschen in der Kernfa-
177
EIBL-EIBESFELDT et al. 1989, S. 52.
178
LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 765.
179
LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 744.
180
LINSENMAIR, K.E/TYRELL, H./SCHULZE, H.-J./MÜLLER, K.E.: Familie und Kleingruppe, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 709-757, hier S. 745. 181
vgl. EIBL-EIBESFELDT, in: WENDT/LOACKER (Hrsg.), Bd. V. 1983, S. 105.
65 milie.182 Die Kernfamilie wurde lange Zeit von Soziologen und Ethologen als ein "quasi-natiirliches, in jeder Gesellschaft gegebenes Sozialsystem" betrachtet.183 Die These von der Universalität der Kernfamilie wird heute jedoch nur noch bedingt vertreten - diese These ist abhängig vom Forschungsansatz, von der wissenschaftliche Disziplin und der Definition des Begriffs Familie - da in einigen Kulturen eine schwache bzw. nahezu fehlende Ausprägung der Institution Ehe oder eine unterentwickelte bzw. fehlende Bindung des Mannes an seine Kinder festgestellt wurde.184 In der Nachwuchssicherung, Kleinkindaufzucht, Sozialisation und Kindererziehung wird eine Zentralfunktion des modernen Familienlebens gesehen. Die zweite Zentralfunktion besteht in der Intimität und Emotionalität der Familienbeziehungen, die als Contrapunkt zu ursprünglich-anonymisierten Sozialverhältnissen der modernen Gesellschaft, Privatheit und Geborgenheit sichert. Beide Zentralfunktionen weisen die Familie als primäres soziales System aus.185 Daß die Familie eine "Primärinstitution" ist, die zur Erfüllung "vitaler, biologisch bedingter Grundbedürfnisse" beiträgt, kann nicht bestritten werden.186 Wissenschaftler, die auf die Primärfunktion der Familie abstellen, betonen ihre Rolle im alltäglichen Zusammenleben. Vorausgesetzt wird soziale Nähe durch Zusammenwohnen, gemeinsames Haushalten, Wirtschaften und Füreinandersorgen, wodurch die soziale Bindung bestärkt wird. "Familienbildung und Verwandtschaft statten den einzelnen mit stabilem Stützpersonal für alle Belange des täglichen Lebens aus; sie weisen ihm Angehörige zu, die auch in der Not zu ihm halten" sollten und verschaffen dem Individuum Identität.187 Solche Abhängigkeiten sind als universales Lösungsmodell für die Probleme in allen Gesellschaften denkbar, denn durch das Sozialsystem Familie könnten dem sozialen Wesen Mensch lebenslang verläßliche Mitmenschen zur Seite gestellt werden.188 Fürsorge und Hilfsbereitschaft sollten im Idealfall bei Familienzusammengehörigkeit ohne Zwang und Gegenleistung abrufbar sein. Häufig sind es in der modernen Gesellschaft aber auch andere Primärgruppen wie Freunde oder Nachbarn189,
182
vgl. dazu CLAESSENS, D.: Familie und Wertsystem. Eine Studie zur Zweiten sozio-kulturellen Geburt des Menschen und der Balastbarkeit der Kernfamilie. Berlin 1967. 183
LINSENMAIR/TYRELL/SCHULZE/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988,
S. 744. 184 vgl. dazu: EICKELPASCH, R.: Ist die Kernfamilie universal? Zur Kritik eines ethnozentrischen Familienbegriffs, in: Zeitschrift für Soziologie 3 (1974), S. 323-338. 185
vgl. LINSENMAIR/TYRELL/SCHULZE/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 748. 186
SCHLESKY, zit. nach BELLEBAU 1980, S. 128.
187
LINSENMAIR/TYRELL/SCHULZE/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988,
S. 746. 188 vgl. LINSENMAIR/TYRELL/SCHULZE/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 742. 189
s.u. Kapitel 2.3.5.7.
66 in die man im Alltag stark eingebunden ist und die Familienzusammengehörigkeit teilweise ersetzen und deren Funktionen übernehmen können. 2 . 3 . 5 . 6 . Sozialisationsprozesse: Primärsozialisation in der Familie In der Soziologie gilt die Familie als "wichtigste Primärgruppe"190 und als "Grundform der Gesellschaft" 191 , denn aus soziologischer Sicht ist die Familie "nach zeitlicher Dauer und Intensität wichtigste soziale Institution im Sozialisationsprozeß" 192 und wirkt als primärer Sozial isationsfaktor entscheidend auf die Persönlichkeitsentwicklung ein. In welchem Ausmaß und in welcher Weise "soziale, kulturelle, ökonomische und ökologische Strukturen und Prozesse als Bedingungen und konstituierende Faktoren der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung wirken" untersucht die Sozialisationsforschung. "Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die menschliche Persönlichkeitsentwicklung sich in einer wechselseitigen Beziehung zwischen biologischem Organismus und sozialer sowie dinglicher Umwelt vollzieht." 193
190
vgl. z.B. SCHÄFERS 1986, S. 118.
191
vgl. z.B. KÖNIG, R.: Soziologie der Familie, in: ders. (Hrsg.). Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 7: Familie und Alter, Stuttgart 1. Aufl. 1969; ders: Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze, Köln 1973. 192 ENDRUWEIT, G./TROMMSDORFF, G. (Hrsg.) : Wörterbuch der Soziologie, 3 Bde. Stuttgart 1989, hier Bd. 3, S. 607. 193
ENDRUWEIT/TROMMSDORFF (Hrsg.) 1989, Bd. 3, S. 604 ff. Zur Sozialisationsforschung vgl. HURRELMANN, K./ULICH, D.(Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1980. Als die wichtigsten soziologischen Konzeptionen, die Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß der Auseinandersetzung des Menschen mit gesellschaftlichen Bedingungen verstehen, gelten: * Sozialstrukturelle und gesellschaftstheoretische Konzeptionen versuchen die "makrosozialen Beziehungen zwischen Person und Umwelt zu berücksichtigen und neben gesellschaftsstrukturtheoretischen auch interaktions- und handlungstheoretische Elemente einzubeziehen". Vor allem J. Habermas (HABERMAS, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981) hat versucht, die soziostrukturellen Makro- und Mikrobedingungen herauszuarbeiten, die für die Konstitution einer autonom handlungsfähigen Person Voraussetzung sind. (vgl. ENDRUWEIT/TROMMSDORFF (Hrsg.) 1989, Bd. 3, S. 606). * Interaktions- und handlungstheoretische Konzeptionen gehen auf G.H. Mead (18631931) zurück, der in Weiterentwicklung behavioristischer Psychologie die Theorie der symbolischen Interaktion begründet hat. Danach vollzieht sich Menschwerdung in Interaktionen, in denen das heranwachsende Individuum lernt, sich selbst und die Welt auch aus der Sicht der anderen zu begreifen und das eigene Verhalten auf das der anderen abzustimmen. Folglich wird Persönlichkeitsentwicklung als dialektischer Prozeß zwischen Mensch und Umwelt aufgefaßt. (vgl. GUTJAHR-LÖSER/HORNUNG, 2. Aufl. 1985, S. 375; ENDRUWEIT/TROMMSDORFF (Hrsg.) 1989, Bd. 3, S. 606). * Systemtheoretische Konzeption: Die allgemeine Systemtheorie hat seit dem Zweiten Weltkrieg Furore gemacht und kann dank der hohen Abstraktheit und Allgemeinheit, die kybernetischen Modellen zueigen sind, in vielen Einzeldisziplinen (u.a. Biologie, Sozio-
67 Im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung kommt es meist zu einem Bruch und zwar zwischen der Primärsozialisation in der Familie und der Sekundärsozialisation späterer Sozialisationsprozesse (z.B. in Schule, Kirche, Vereinen, Beruf). Ob während der Sekundärsozial isation feste Bindungen an eine Gemeinschaft entstehen und in welchem sozialen Beziehungsgefüge sich ein Verbundenheitsgefühl entwickelt, ist individuell unterschiedlich. Die kulturelle Vielfältigkeit der modernen Gesellschaft bringt es mit sich, daß nach der Primärsozialisation keine Weltauffassung allgemein verbindlich ist. Es besteht ein vielfältiges Angebot, aus dem das Individuum auswählen kann, um den in der Primärsozialisation gelegten Grundstock auszubauen. 194
logie, Politikwissenschaft, Psychologie) verwendet werden, um die Komplexität von Zusammenhängen zu reduzieren. Kybernetische Systeme sind offen insofern, als sie von ihrer Umwelt über bestimmte Wege, die Inputs, beeinflußt werden, wie sie umgekehrt über Outputs auf ihre Umwelt wirken. Speziell läßt sich auch die Komplexität menschlichen Handelns kybernetisch reduzieren, indem Handeln versuchsweise modelliert wird als Rückkopplungssystem: Der Mensch empfängt über Rezeptoren (sensorischer Bereich) Signale aus der Außenwelt, verarbeitet die Information bewußt und verändert die Außenwelt aktiv mittels Effektoren (motorischer Bereich). Im Anschluß an Durkheim (DURKHEIM, E.: Erziehung und Soziologie, Düsseldorf 1972) hat die durch Talcott Parsons entwickelte funktionalistische Systemtheorie bisher wohl den größten Einfluß auf die soziologische Sozialisationsforschung ausgeübt (PARSONS, T.: Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt am Main 1981). Nach dem strukturell-funktionalen Ansatz Parsons gestaltet sich der Sozialisationsprozeß durch die Übernahme sozialer Rollen, die die Verinnerlichung der Erwartungen und Wert- und Normvorstellungen der sozialen Umwelt repräsentieren und in einem fortschreitenden Prozeß zu Selbstmotivierungskräften und Zielen des eigenen Handelns werden, (vgl. WASCHKUHN, Α.: Politische Systemtheorie. Entwicklung - Modelle - Kritik, Opladen 1987, S. 23; NOACK, P./STAMMEN, Th. (Hrsg.): Grundbegriffe der politikwissenschaftlichen Fachsprache, München 1976, S. 166; ENDRUWEIT/TROMMSDORFF (Hrsg.) 1989, Bd. 3, S. 606.) Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann hat eine eigenständige funktional-strukturelle Systemtheorie entwickelt, welche Strukturen und Prozesse, Verhaltenserwartungen und Entscheidungsabläufe sozialer Systeme in bezug auf ihre Umwelt analysiert. Vereinfacht ließe sich auf einer Makroebene von der Umwelt der Gesellschaft und im weiteren Sinne von der Weltgesellschaft sprechen; auf einer Mikroebene von den Umwelten der Kultur, Politik, Wirtschaft, Familie bis hin zu einfachen Interaktionen. Die Sichtweise kompliziert sich dadurch, daß diese Umwelten allerdings immer auch Systeme sind. Die organisierten Teilsysteme sind in komplexer Weise miteinander verflochten, so daß sich ihre Anforderungen und Angebote überlagern und gegenseitig beeinflussen. Sie funktionieren miteinander und nebeneinander nach Maßgabe ihrer eigenen jeweils spezifischen Systemvorgaben. (LUHMANN, N.: Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984; vgl. WASCHKUHN 1987, S. 23; vgl. NOHLEN, D./SCHULTZE, R.O. (Hrsg.): Politikwissenschaft. Theorien - Methoden - Begriffe (Pipers Wörterbuch zur Politik in 6 Bänden, Bd. 1), 3. Aufl. München/Zürich 1989, S. 1045; vgl. ENDRUWEIT/TROMMSDORFF (Hrsg.) 1989, Bd. 3, S. 607). 194
vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 797 ff.
68 2.3.5.7. Primärfunktion von Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft können aus soziologischer Betrachtungsweise neben der Familie als Primärgruppen angesehen werden. 195 Der "Primärgruppen"-Begriff, von Ch.H. Cooley (1864-1929) geprägt, meint eine Gemeinschaft, in der persönliche Vertrautheit vorherrscht. Alle Verwandtschaftsbeziehungen haben ihre Wurzeln im Familialismus bzw. ihren Ursprung in der Mutter-Kind-Beziehung. Verwandtschaft ist aber nicht nur im Sinne moderner Genetik, sondern auch als "kulturelles Prinzip" zu verstehen. Aus beiden Sichtweisen ist im Zusammenhang mit Verwandtschaft "Zusammengehörigkeit" bzw. "Zugehörigkeit" (aus der Sicht des Individuums) als Schlüsselbegriff einzustufen. "Verwandtschaft stiftet unter denen, die miteinander verwandt sind, ein besonderes soziales Band, eine selektive Zusammengehörigkeit", die nicht ohne weiteres zu kündigen ist, aber nicht obligatorisch positiv gestaltet sein muß. Verwandtschaft stattet den einzelnen Menschen mit Identität aus und zwar in dem Sinne, daß der einzelne, rein abstammungsmäßig gesehen weiß, wer er ist, wo er herkommt und hingehört. 196 Nachbarschaft, Verwandtschaft und Freundschaft werden von der Mobilität der modernen Industriegesellschaft beeinflußt. "Für alle drei Formen steht hoher Mobilität und damit einer vermuteten strukturellen Schwächung die Tatsache gegenüber", daß entsprechende Anpassungen zum Überleben dieser primärgruppenhaften Strukturen beitragen. 197 Lüschen faßt anhand von erhobenen Daten die Funktionen von Nachbarschaft und Freundschaft zusammen: Der Nachbarschaft wird eher die Funktion zugewiesen, bei Alltagsproblemen Rat und Unterstützung zu gewähren, "während Freundschaft in zumeist altershomogenen Verbindungen durch gleiche Erfahrungen Funktionen für Probleme haben, die sich unmittelbar aus sozialem Wandel und Fluktuation ergeben". 198 Für die genannten Formen sozialer Beziehungen - Familie, Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft - läßt sich differenzierend feststellen, daß sie nach wie vor als Primärgruppen gemeinschaftlichen Lebens eingestuft werden können und sich im Idealfall durch engen sozialen Kontakt auszeichnen. "Das trifft für Familie und Freundschaft zu, nicht aber notwendigerweise für die Nachbarschaft und im Sinne notwendiger Bedingungen am wenigsten für die Verwandtschaft.
195
vgl. dazu LÜSCHEN, G.: Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, in: NAVE-HERZ, R./MARKEFKA, M.: Handbuch der Familien und Jugendforschung, Bd. 1 (Familienforschung), Neuwied/Frankfurt 1989, S. 435^53, hier S. 449 ff. (Dort findet sich reichhaltige weiterführende Literatur zu diesem Thema.). 196
LINSENMAIR/TYRELL/SCHULZE/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988,
S. 743. 197
LÜSCHEN, in: NAVE-HERZ/MARKEFKA 1989, S. 445.
198
LÜSCHEN, in: NAVE-HERZ/MARKEFKA 1989, S. 445.
69 Man kann verwandt sein, auch ohne sich zu sehen und zu mögen; trotz räumlicher Nähe kann man Nachbarn haben, die man selten sieht; in Familie und Freundschaft sind enge Beziehungen die Bedingung", wobei sie aber lediglich in einer Freundschaft positiv sein müssen. 199 2.3.5.8. Verbundenheit durch die Gemeinde Ein weiterer wichtiger sozialer Faktor für das Entstehen von Verbundenheit zwischen Individuen ist die Gemeinde. König bezeichnet die Gemeinde ebenso wie die Familie als eine "Grundform der Gesellschaft" 200 : "Neben der Familie und anderen verwandtschaftlichen Ordnungen ist die Gemeinde eine der bedeutsamsten sozialen Erscheinungen der vergesellschafteten Menschheit überhaupt. [...] In der Soziologie bedeutet Gemeinde eine mehr oder weniger große soziale Einheit auf lokaler Basis (Lokalgruppe), in der die Menschen zusammenwirken, um ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben zu fristen. 1,201 König betont die Vorzüge städtischer Gemeinden gegenüber kleinen Dorfgemeinden. Er argumentiert, daß Konflikte in einer "kleinen Gemeinde viel schärfer sein können als in einer großen, weil die Menschen einander räumlich nahe sind und keine Ausweichmöglichkeiten haben". Er hält es für erwiesen, "daß die früher als selbstverständlich angenommene 'unbewußte Gemeinschaft des ganzen Dorfes' (H. Tenhumberg) in der Gegenwart nicht existiert". Zur Begründung seiner These führt König zahlreiche Faktoren an, die selbst eine "sehr kleine Gemeinde daran hindern können, eine integrierte Ganzheit zu bilden". Die Gemeinde als "Gemeinschaft" oder als integrales Ganzes sei ein Idealfall. 202 Trotz des hohen Konfliktpotentials und anderer Nachteile werden gerade durch das Leben in Dorfgemeinden, welches sich beispielsweise auch in der Kirchengemeinde oder im Vereinsleben abspielt, prägende Erfahrungen gemacht, die eine zentrale Rolle in der Sozialisation spielen; denn in aller Regel stellt eine kleine Gemeinde "eine Einheit lokaler Natur mit sozialen Interaktionen, eigenen Wertvorstellungen, Bindungen und Traditionen dar" 203 , was die Identitätsfindung des Individuums erleichtert. Eine Vielzahl der soziologischen Studien, die ihre Aufmerksamkeit auf das Heranwachsen des Menschen in der Gemeinde richten, gelangen daher berechtigterweise zu dem Ergebnis, daß die Gemeinde ebenso wie die Familie als "Primärgruppe" bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung zu werten ist.204
199
LÜSCHEN, in: NAVE-HERZ/MARKEFKA 1989, S. 435.
200
KÖNIG, R.: Grundformen der Gesellschaft. Die Gemeinde, Hamburg 1958.
201
KÖNIG 1972, S. 81.
202
KÖNIG 1972, S. 88.
203
KÖNIG 1972, S. 88.
204
vgl. KÖNIG 1972, S. 86.
70 2.3.5.9. Zusammenfassung der primären sozialen Strukturen Aus den dargestellten Forschungsstandpunkten läßt sich folgendes Ergebnis zusammenfassen: * Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und der Kulturenvergleich heute lebender Naturvölker belegen, daß soziale und gesellschaftliche Elemente unabdingbar zur Gattung Mensch gehören. Sozialstrukturen, die enge Verbundenheit stiften, bilden die Voraussetzung für "Heimatbindung". * Die Mutter-Kind-Beziehung als erste und engste Verbindung zwischen zwei Individuen ist universal. * Die Universalität der Familie ist umstritten, da sie sich nicht für alle Kulturen nachweisen läßt. Die Familie hat jedoch eine "Grundfunktion, die ihrem Wesen nach als 'global' zu bezeichnen ist: Primärsozialisation und Stabilisierung der persönlichen Identität".205 Da der Familie sowohl in der Individualentwicklung als auch in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine primäre Funktion zukommt, wird sie als "primäre" soziale Kategorie eingestuft. * Im sekundären Sozialisationsprozeß (Schule, Kirche, Arbeitsplatz u.a.) entwickelt sich individuell unterschiedlich starke Verbundenheit. Hierin sind potentielle Faktoren für das Entstehen von "Heimatgefühl" zu sehen. Die vielfältigen sozialen Faktoren, welche im Laufe des Lebens die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen, sind potentielle Träger von "Heimatbindung" und "Heimatgefühl", die nicht bei jedem Individuum zur Entfaltung kommen. * Die sozialen Beziehungsformen Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft gelten neben der Familie als Musterbeispiele einer Primärgruppe. Alle drei genannten Formen sind durch enge soziale Kontakte gekennzeichnet. Aber lediglich für die Freundschaft besteht die obligatorische Bedingung einer positiven Beziehung. Verwandtschaftliche Bande stiften selektive Zusammengehörigkeit und abstammungsmäßige Identität und können dadurch zum Träger von Heimatverbundenheit und Heimatgefühl werden. Die Primärgruppen Nachbarschaft und Freundschaft, in die man im Alltag stark eingebunden ist, können soziale Funktionen von Familie und Verwandtschaft übernehmen und zum zentralen Faktor der Sozialisation werden, indem sie Zugehörigkeit, Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen gewährleisten. Die Freundschaft ist, bedingt durch ihren positiven Charakter, wichtigstes Element zur Bildung und Erhaltung von "Heimatgefühl". * Auch die Gemeinde spielt bezüglich der Sozialisation eine primäre Rolle. Durch Traditionspflege prägt sie Wertvorstellungen und festigt Bindungen, was vor allem aus der Erinnerung heraus starke "heimatliche" Emotionen hervorrufen kann.
205 LUCKMANN, T.: Zwänge und Freiheit im Wandel der Gesellschaft, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 3 (Sozialanthropologie) 1972, S. 168-199, hier S. 189.
71 2.3.6. Zusammenwirken von räumlicher und sozialer Kategorie Es konnte aufgezeigt werden, daß bestimmte Elemente des sozialen Verhaltens, die bereits für tierische Sozietäten nachweisbar sind, sich bis in menschliche Gemeinschaften der Gegenwart erhalten haben: die territoriale Orientierung, die besondere Mutter-Kind-Beziehung, das bevorzugte Zusammenleben in Familien und Kleingruppen.206 Es ist zu vermuten, daß bereits auf nichtmenschlicher Stufe Territorialität sowie Kooperation innerhalb einer Gemeinschaft dazu dienten, ein "Wir-Gefühl" der Zusammengehörigkeit auszulösen und dadurch "eine unterschiedliche Einstellung zur Eigengruppe (ingroup) und zur Fremdgruppe (outgroup) zu begründen".207 Das Territorium dient gleichzeitig der sozialen Bindung wie der sozialen Distanzierung. Auf jeden Fall gewährt es seinem "Eigentümer" das Vorrecht das Verhalten des Gastes oder Eindringlings zu antizipieren, während er sich selbst weitgehend der Kontrolle durch Fremde entziehen kann.208 Ein gesichertes Territorium, auf das man immer wieder zurückkehren kann, mit seinen verschiedenen Funktionsorten und Ruhepunkten, mit seinen Baulichkeiten und Gerätschaften, dient der Kanalisierung des eigenen Verhaltens; und der Rekurs auf dieses Territorium sichert schließlich die eigene kollektive und individuelle Identität.209 Soziologisch gesehen ist jedes Territorium sozusagen Interaktionsraum. Es erweist sich als soziokultureller Bezugsraum, in dem Identität "als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung"210 erfahrbar wird. Zwischen Individuum und räumlicher Umwelt, innerer und äußerer Bewegung ist ein "komplementäres Bedingungsverhältnis" anzunehmen.211 Georg Simmel stellt fest: "Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgte Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile [haben] gesellschaftliche Bedeutung."212 Folglich können das räumliche Element der Territorialität und die sozialen Elemente gemeinschaftlicher Verbundenheit nicht als getrennt voneinander existierende Faktoren betrachtet werden. Territoriales Verhalten bzw. die Bindung an einen Raum/Ort ist eine Möglichkeit des menschlichen Verhaltens, die der Identitätssicherung dient und steht prinzipiell im Zusammenhang mit der sozialen
200
vgl. LUCKMANN/MÜLLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 783.
207
NARR, in: GADAMER/VOGLER (Hrsg.), Bd. 4 (Kulturanthropologie), S. 30; vgl. auch SCHÄFERS 1986, S. 117. 208
vgl. EDNEY, J.J.: "Territoriality and Control. A Field Experiment", in: Journal of Personality and Social Psychology 38 (1975), S. 1108-1115. 209
vgl. CAIRNS, R.B.: "Attachment Behavior of Mammals", in: Psychological Review 73 (1966), S. 409-426. 210
BAUSINGER, zit. nach GREVERUS 1979, S. 32.
211
BÜHL 1982, S. 236.
212
SIMMEL: Soziologie, 1958, S. 461.
72 Organisation der Gemeinschaft 213 , denn zu einer sozialen, gemeinschaftlichen Daseinsführung benötigt das Individuum einen konkreten (Lebens-) Raum.
2.4. Schlußfolgerungen aus Nachweis 1 und Nachweis 2 Im Nachweis 1 konnte, vorwiegend mittels sozialwissenschaftlicher Zugriffe belegt werden, daß an der Konstitution des Heimat-Begriffs soziale, räumliche und emotionale Elemente beteiligt sind214, bzw. daß während eines lebenslangen Sozialisationsprozesses "Heimatgefühl" in Abhängigkeit von sozialen und räumlichen Faktoren entsteht und sich entwickeln kann. Der in manchen sozialwissenschaftlichen Arbeiten vorgenommenen Gleichsetzung bzw. Ersetzung des Heimat-Begriffs durch das räumliche Element (Territorum) oder das soziale Element (Gemeinschaft) kann nicht zugestimmt werden, da beide Elemente nur eine Teilbedeutung des Heimat-Begriffs umfassen. Eine derart isolierte Betrachtungsweise kann lediglich in Form eines Analysekonstrukts zu Forschungszwecken sinnvoll sein. Bei den, während des Quellenstudiums festgestellten einseitigen Reduzierungen, wird jeweils nur eine Teilbedeutung in den Blick gerückt, auf die sich die jeweilige Begriffsdefinition von "Heimat" stützt. In der Realität hingegen vermögen räumliche und soziale Kategorie nur im Zusammenwirken den Heimat-Begriff inhaltlich zu füllen. Die dokumentierte Verwendung von derlei eingeschränkten Ersatzbegriffen in der sozialwissenschaftlichen Literatur (Territorium=Heimat oder Gemeinschaft = Heimat) stützt jedoch die These, daß die genannten Faktoren elementare Bedeutung für den Heimat-Begriff haben. Die durch Nachweis 1 als konstitutiv benannten räumlichen, sozialen und emotionalen Elemente des Heimat-Begriffs konnten im Nachweis 2 durch Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Disziplinen Biologie, Anthropologie und Soziologie teilweise als Universalia (z.B. "Territorialität") zumindest aber als "primäre" Faktoren (z.B. Familie) bestimmt werden. Auch das gemeinschaftstiftende Element "Tradition", das im Zusammenhang mit dem HeimatBegriff eine zentrale Rolle spielt, da es sich in Bräuchen und Ritualen äußert und dadurch Verbundenheit herstellt und Sicherheit gewährt, ist ein universales Phänomen. Ebenso konnte nachgewiesen werden, daß es sich bei den am häufigsten im Zusammenhang mit Heimat genannten emotionalen Elementen um anthropologische Grundbedürfnisse handelt.
213 214
vgl. BÜHL 1982, S. 233; vgl. STAMMEN, in: WEIGELT 1986, S. 86.
Die einzelnen Elemente wurden bereits im Kapitel "Ergebnis von Nachweis 1" (2.2., s.o.) aufgelistet.
73
2.5. Bestimmung des Alltagsbereichs als "primärer" Bereich (Nachweis 3) In Auseinandersetzung mit dem Husserlschen "Lebenswelt"-Begriff 215 , in Abgrenzung zur Heideggerschen "Welt des alltäglichen Daseins" und in Anlehnung an den Schiitzschen "Alltagswelt"-Begriff soll der Alltagsbereich als "primärer" Bereich des alltäglichen Lebens bestimmt werden, zu dessen Bewältigung Alltagswissen und Alltagssprache notwendig sind.
2.5.1. "Alltag" in der sozialwissenschaftlichen Forschung "Alltag" als Perspektive und Forschungsgegenstand hat in den modernen Sozialwisssenschaften wie auch in deren geschichtsphilosophischen und geisteswissenschaftlichen Vorläufern eine lange Tradition. In der gegenwärtigen modernen Soziologie ist das Studium des "Alltags" als vornehmliches Untersuchungsobjekt anzusehen. Der Grund dafür, daß zur Zeit noch keine hinreichende begriffliche Definition von "Alltag" 216 vorliegt, ist u.a. darin zu suchen, daß im aktuellen soziologischen Alltags-Verständnis teilweise miteinander unvereinbare philosophische und sozial wissenschaftliche Theorien und Denkströmungen konvergieren. 217 Für den Alltagsbegriff der vorliegenden Schrift werden Ansätze der phänomenologischen Sozialtheorie genutzt. Ausgangspunkt dieses Entwicklungsstrangs bildet die Phänomenologie Edmund Husserls mit ihrer transzendental-philosophischen Kategorie der "Lebenswelt". Darauf folgt auf philosophischer Ebene, die von der Daseinsdynamik geprägte existentiale Phänomenologie Heideggers mit ihrer "Welt des alltäglichen Daseins". Auf soziologischer Seite war es vor allem Alfred Schütz, der auf dem Husserlschen Fundament aufbaute, die phänomenologische Sozialtheorie inspirierte und zu einer "Alltagswelt-Theorie" weiterentwickelte. Der SchützSchüler Thomas Luckmann gilt als Hauptvertreter der "Neueren Wissenssoziolo-
215 Zum Begriff "Lebenswelt" vgl. MITTELSTRASS, J.(Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/Zürich, 1980 ff., hier Bd. 2, 1984, S. 883-884. 216
Bestimmungs- und Definitionsversuche des "Alltags"-Begriffs sind zusammmengestellt bei: * BERGMANN, W.: Lebenswelt. Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? Ein grundbegriffliches Problem alltagstheoretischer Ansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1981, 1, 33. Jg. S. 50-72. * DREWE, B./FERCHHOFF, W.: Alltag, in: KERBER, H./SCHMIEDER, A. (Hrsg.): Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek 1984, S. 16-24, hier S. 17 f. * ELIAS, N: Zum Begriff des Alltags, in: HAMMERICH, K./KLEIN, M.: Materialien zur Soziologie des Alltags. Sonderband Nr. 20 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1978, S. 22-30, hier S. 26. 217
Einen komprimierten Überblick zu dieser Problematik bieten KERBER/SCHMIEDER 1984, S. 21 ff.
74 gie", die relativ eng an die Schützsche "Alltagswelt-Theorie" anlehnt und um die Analyse des Alltagswissens bemüht ist.218
2.5.2. Husserls "Lebenswelt"-Begriff Die phänomenologische Betrachtungsweise der menschlichen Umwelt wird von Edmund Husserl begründet. Husserl spricht von einer "Welt der natürlichen Einstellung" und meint damit eine 'natürliche Umwelt', "die sich vor den 'idealen Umwelten' der Wissenschaft durch ihre fraglose und ständige Gegenwart auszeichnet und sich von vornherein als Welt der Sachen, Werte und Güter sowie als soziale und intersubjektive Umwelt darstellt". 219 Husserls Lebensweltbegriff wird vor allem in seiner "Krisis der europäischen Wissenschaften" 220 ausgebaut, wo er jedoch in mehrfachem Sinne verwendet wird: Der Terminus "konkrete Lebenswelt" 221 umfaßt nicht nur Ziele, Resultate und Wahrheiten des Alltags, sondern auch die Wissenschaften. Mit "relativen Lebenswelten" 222 sind historische und berufliche Sonderwelten gemeint. Von beiden zu unterscheiden ist ein "abstrakt herauszupräparierender Weltkern", nämlich die "Welt der schlichten intersubjektiven Erfahrungen" 223 ; sie gilt als das Erstgegebene und Letztregelnde. Husserls Lebenswelt "ist die Welt, die immer schon und immer fort 'von selbst' ist, in der wir immer schon ganz selbstverständlich leben, die anschaulich konkrete, sinnvolle Welt, die vor jeden wissenschaftlichen Fragen, aber auch als Grundlage jeden Fragens 'vorausgesetzt' wird und vorgegeben ist". 224 Es ist dies die Welt, die uns ganz selbstverständlich umgibt, in ihr "leben wir bewußt-
218
Zu anderen Theorieströmungen, auf die in dieser Schrift nicht zurückgegriffen wird, z.B. den symbolisch-interaktionistischen Strang (dessen Vertreter sind: Peirce, Cooley, Mead, Vehlen, Goffman, Strauss, Cicourel u.a. - sie behandeln den Problemkreis des situativen Handelns von sozialer Wirklichkeit) oder die Ethnomethodologie (dessen Begründer der Schütz-Schüler Garfinkel ist; Weingarten, Sack, Schenkein u.a. zählen zu dieser Richtung - sie befassen sich mit Regelstrukturen des Alltagslebens) vgl.: * ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek 1978. * HAMMERICH/KLEIN 1978. * WEINGARTEN, E. et al.: Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt am Main 1979. 219
KERBER/SCHMIEDER 1984, S. 332.
220
HUSSERL, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954. 221
HUSSERL 1954, z.B. S. 134.
222
HUSSERL 1954, z.B. S. 150.
223
HUSSERL 1954, S. 136.
224
KRUSE, L.: Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie, Berlin/New York 1974, S. 81.
75 seinsmäßig immer; normalerweise ist kein Anlaß, sie uns als Welt ausdrücklich thematisch zu machen". 225
2 . 5 . 3 . Heideggers "Welt des alltäglichen Daseins" Die Daseinsanalytik Martin Heideggers nimmt eine Bestimmung des Daseins vom Sinn des Seins her vor. Dabei beschreibt Heidegger die Alltäglichkeit als einen Seinsmodus des Daseins, um sich so dem Sein zu nähern. Er geht ursprünglich von der "Husserlschen Frage nach den kritischen Grenzen von Wissenschaft und Technik in unserer Welt aus, radikalisiert dieses Problem jedoch letztlich in eine Ablehnung der wissenschaftlich-technischen Rationalitäten der Welt". 226 Der "natürliche Weltbegriff" Husserls wird zu einer "Alltäglichkeit des Daseins"227 verarbeitet. "Alltägliches Leben in der Anonymität des 'Man' verbirgt nicht mehr die lebensweltliche Quellkraft des 'Wir' und der Intersubjektivität, sondern wird zum bloßen Vermitteln, Durchschnitt Setzenden und in diesem Verharrenden von [...] Konsum und Verlust."228 Es, das Seiende, soll sich so zeigen, wie es "zunächst und zumeist ist, in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit". 229 "Die Alltäglichkeit meint doch offenbar die Art zu existieren, in der sich das Dasein 'alle' Tage hält". Alle Tage meint ein "bestimmtes wie der Existenz, das zeitlebens das Dasein durchherrscht". Es ist die Art des Daseins, die "im Miteinander der Öffentlichkeit 'offenbar' ist" und in der das Dasein sich "in der Regel [...] für Jedermann zeigt". 230 Heidegger kritisiert die "Alltäglichkeit des Daseins": Da die Dringlichkeit alltäglicher Aufgaben jedes tiefere Eindringen und jede Auseinandersetzung verhindern, wird das Uneigentliche bzw. die Uneigentlichkeit zum Kennzeichen des alltäglichen Daseins.231 Das alltägliche Dasein ist unbestimmt und in seiner Befindlichkeit ungestimmt. Durch diese "oft anhaltende und fahle Ungestimmt-
225 HUSSERL, zit. nach KRUSE 1974, S. 81. Der Lebensweltbegriff Husserls entspricht dem eingeengten Umweltbegriff - als subjektive Umwelt oder Eigenwelt - von U E X K Ü L L (s.o.). 226 GRATHOFF, R.: Alltag und Lebenswelt als Gegenstand der phänomenologischen Sozialtheorie, in: HAMMERICH/KLEIN 1978, S. 67-86, hier S. 72. 227 Der Terminus "Alltäglichkeit des Daseins" stammt aus Martin HEIDEGGERS "Sein und Zeit" von 1926, Paragraph 11. Die folgenden Zitate aus "Sein und Zeit" wurden der 16. Auflage, Tübingen 1986, entnommen. 228
GRATHOFF, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 72.
229
HEIDEGGER, M: Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen 1986, S. 16.
HEIDEGGER, 16. Aufl. 1986, S. 370 f.; vgl. SEELIGER-WÜRTZ, S.: Die literarische Darstellung der Alltagswelt in modernen Prosatexten, Diss. Freiburg, demn. S. 56 f. 230
231
vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn., S. 56.
76 heit" wird es [das Dasein] seiner "selbst überdrüssig". 232 Das Dasein leidet "dumpf" an seiner Alltäglichkeit. 233
2.5.4. Der Schützsche "Alltagswelt"-Begriff Durch Alfred Schütz finden die Problematik der Lebenswelt und der LebensweltBegriff Husserls Eingang in die Sozialforschung und werden weiterentwickelt zur "Alltagswelt"-Theorie. Schütz fragt nach den "universalen Strukturen, die allen historisch-kulturellen Alltagswelten zugrunde liegen und auch nach dem Gesamtzusammenhang des Lebens, der verschiedenartige Sinnbereiche wie Alltag, Traum, Spiel und Wissenschaft durchzieht". 234 Der Ansatz von Schütz hat eine ausgezeichnete Bedeutung für die Soziologie des Alltags. Im Gegensatz zu Heidegger zeichnet sich Schütz durch eine vorwiegend positive Einstellung zum Alltag ("common sense world") aus. Zudem besteht nach Heidegger die Notwendigkeit sich sein eigenes Dasein über das alltägliche Dasein hinaus zu erschließen (zu einem eigenen "jemeinigen" Dasein), dagegen sieht Schütz das typische der Alltagswelt in ihrem Gemeinschaftscharakter. 235 Er beschreibt die alltägliche Lebenswelt als "die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann" und als den Bereich, in dem er sich mit den Mitmenschen verständigen kann; "und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken". 236 Die "alltägliche Lebenswelt", so Schütz, wird geteilt "mit anderen Menschen, mit denen ich sowohl Ziele als auch Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele gemeinsam habe. Ich wirke auf andere Menschen, sie wirken auf mich, wir können zusammen handeln. Die Lebenswelt des Alltags ist jene Wirklichkeit, in der wechselseitige Verständigung möglich ist". 237 Die alltägliche Welt ist "grundsätzlich intersubjektiv, ist Sozialwelt" 238 ; darin ist auch ihre Abgrenzung zu anderen Welten begründet, welche vornehmlich einsam erlebt werden. Die Alltagswelt in ihrer Intersubjektivität ist zunächst eine "fraglose Gegebenheit", d.h. sie ist unproblematisch und unreflektiert erfahrbar. Die Welt der "fraglosen Gegebenheiten" ist gekennzeichnet durch die "Idealität" des "Und-so-weiter" und die "Idealität" des "Ich-kann-immer-wieder". 239 Diese
232
vgl. HEIDEGGER, 16. Aufl. 1986, S. 134.
233
vgl. HEIDEGGER, 16. Aufl. 1986, S. 371; vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn., S.
234
KERBER/SCHMIEDER 1984, S. 334.
57.
235
vgl. HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 68; vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn., S. 16, S. 22 und S. 58. 236
SCHÜTZ, A./LUCKMANN, Th.: Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt am Main 1979 (Bd. 1) und 1984 (Bd. 2), hier Bd. 1, S. 29. 237
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 62.
238
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 39.
239
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 29.
77 Idealisierung nennt Schütz "pragmatisch motivierte Grundkonstruktion". 240 Alltagswelt ist der "Sektor der Welt, der meiner unmittelbaren Erfahrung zugänglich ist". 241 Schütz bezeichnet die verschiedenen Welten seiner WeltenTheorie auch als "Sinnbereiche" ("Sinnprovinzen"/"Sinnbezirke") "finite provinces of meaning". Die Alltagswelt/alltägliche Lebenswelt ist wie die anderen Sinnbereiche, ein geschlossener Sinnbereich 242 , der aber auch im Vergleich zu den anderen Bereichen "Vorzugsrealität" besitzt 243 , d.h. den lebenspraktischen Aufgaben, die in diesem Bereich gestellt werden, kann man sich nicht entziehen. 244 In seiner Systematik der Sinnstrukturen kommt Schütz zu einer Unterscheidung zwischen Alltag und Lebenswelt. Während die Lebenswelt der umfassende Sinnhorizont aller finiten Sinnbereiche ist, ist der ausgezeichnete Sinnbereich des Alltags begrenzt und bildet einen eigenen Sinnbereich innerhalb der Lebenswelt. 245
2.5.5. Der Alltagsbereich als primärer Sinnbereich menschlichen Daseins In Anlehnung an den Schützschen "Alltagswelt"-Begriff soll im folgenden der Alltagsbereich als primärer Sinnbereich des menschlichen Daseins bestimmt werden. Der Sinnbereich des Alltags besteht aus einem System tagtäglicher Verhaltensweisen und Handlungen, die zum notwendigen Lebensablauf dazugehören. Der wichtigste Faktor im alltäglichen Bereich ist das Alltagswissen. Es bildet "die Grundlage jeglichen Verhaltens [und] ist Ausgangspunkt für die Orientierung in Situationen des Alltagslebens". 246 Alltagswissen ist intuitiv, es enthält vereinfachtes, praktisches und wissenschaftliches Wissen, Erfahrungen, Erklärungs- und Handlungsmuster, die entweder selbst erworben oder traditionell übernommen sind. 247 Alltagswissen enthält individuelle, oft irrationale Vorstellungen und Erfahrungen, die im Leben, in der jeweiligen Biographie des einzelnen begründet sind. Das bedeutet: Alltagswissen ist ein individualisiertes System, es ist Eigentum eines jeden einzelnen und die Grundlage seines individuellen Verhaltens. 248 Durch implizierte allgemeingültige Wertvorstellungen ist Alltags-
240
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 88; vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn.,
S. 25. 241
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 64.
242
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 49.
243
SCHÜTZ/LUCKMANN, Bd. 1, 1979, S. 62.
244
vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn., S. 19 ff.
245
vgl. GRATHOFF, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 75.
246
SZCZEPANSKI, J.: Reflexionen über das Alltägliche, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 314-325, hier S. 319. 247
vgl. SEELIGER-WÜRTZ, demn., S. 26.
248
vgl. SZCZEPANSKI, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 319 f.
78 wissen darüberhinaus der "Bestand des tagtäglichen Wissens, auf dessen Grundlage die gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren wird" und der gesellschaftliche Fortbestand gesichert wird. 249 Erst ein gemeinsames Basiswissen der Alltagswelt ermöglicht gemeinschaftliches Leben. Obwohl im Alltagsbereich immer relativiert werden muß in bezug auf einzelne, Familien u.a. größere Gemeinschaften, deren Alltag durch unterschiedliche Abläufe gekennzeichnet ist, gleicht sich der Hintergrund von Handlungsstrukturen, denn die meisten Menschen verhalten sich in Übereinstimmung mit anerkannten Werten der Gemeinschaft. Der Alltagsbereich ist gekennzeichnet durch die Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zur Erhaltung individuellen Lebens in einer Gemeinschaft. Alltäglich ablaufende notwendige Handlungen, die der biologischen, psychischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Existenzsicherung und damit der Befriedigung primärer Bedürfnisse dienen, orientieren sich an ästhetischen, religiösen, moralischen u.a. Wertvorstellungen der Gemeinschaft. 250 Der Alltagsbereich erweist sich als primärer Sinnbereich des menschlichen Daseins. Er ist primärer Bereich * bezüglich der alltäglichen Lebensbewältigung: alltägliche lebenspraktische Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden; * bezüglich der Individualentwicklung: er wird vom einzelnen biographisch als erster Lebensbereich erfahren (primäre Welt, in die man hineingeboren wird und in der die Primärsozialisation stattfindet); * bezüglich der gattungsgeschichtlichen Entwicklung: der Mensch lebte zu Beginn seiner Entwicklungsgeschichte in jenem Alltagsbereich, der zur Befriedigung seiner Primärbedürfnisse notwendig und ausreichend war. Wichtigster Zugang zum Verständnis des Alltagsbereichs ist die Sprache. "Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen [...]. Die allgemeinen und gemeinsamen Objektivationen der Alltagswelt behaupten sich im wesentlichen durch ihre Versprachlichung. Vor allem anderen ist die Alltagswelt Leben mit und mittels Sprache, die ich mit den Mitmenschen gemein habe." 251
2.5.6. "Primäre" lebenspraktische Alltagssprache Der alltäglich-lebenspraktischen Erfahrungs- und Handlungswelt und dementsprechend der alltäglich-lebenspraktischen Sprache kommt ein besonderer Sitz im Leben (primäre Bezugswelt) zu. 252 Sie ist in jeder Hinsicht als primär zu bezeichnen:
249
Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1978, S. 16.
250
vgl. SZCZEPANSKI, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 316 f.
251
BERGER, P. L./LUCKMANN, Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1971, S. 39. 252
STEGER 1982 a, S. 14.
79 * Der Mensch hat sie sich zuerst geschaffen, um anthropologische Konstanten und seine Beziehung zur Umwelt auszudrücken. * Sie wird vom einzelnen biographisch als erste Sprache und Semantik, ohne bewußte Lernintention erworben. * Sie dient zur Befriedigung lebenspraktischer kommunikativer Grundbedürfnisse; zur praktischen Lebensbewältigung (Versprachlichung von sozialen Kontakten und Bedürfnisse zur Sicherung von Nahrung, Wohnung, Kleidung, Fortpflanzung). 253 Lebenspraktische Alltagssprache 254 : * ist allen Sprachteilnehmern gemeinsam; * ihr kann sich keiner entziehen; * zeichnet sich durch allgemeine Bekanntheit und Benutzung aus; * vermittelt dem einzelnen einen selbstverständlichen und sicheren Wissensbestand, um überhaupt interagieren zu können; * erbringt verhaltenssichernde und verhaltenssteuernde Leistungen für alle Sprachteilhaber; * ermöglicht ein Sichzurechtfinden aufgrund naiver Theoriebildung. Der Alltagsbereich ist somit als Basis der Kommunikation und des kooperativen Zusammenlebens der Menschen zu bezeichnen. 255 Als semantische Eigenschaften sind hervorzuheben: * Die Bedeutungen sind bei den einzelnen Sprechern begrifflich nicht scharf und gleichartig umgrenzt. * Es entsteht der Eindruck einer Plastizität der Bedeutungen. * Oft werden mehrere solcher alltäglicher Bedeutungen einem einzigen Ausdruck zugeordnet. 256 Es erweist sich als schwierig, zu sinnvollen Abgrenzungskriterien innerhalb der funktional-zweckhaften Gliederungsdimension zu kommen. 257 Zwischen der Sprache des Alltagsbereichs und institutionellen oder wissenschaftlichen Fachbegriffen finden Austauschvorgänge statt. Auch wird ein Teil des allgemeinen Bildungswissens und Wissen für grundlegende soziale Normen aus dem Theorie-
253
vgl. STEGER 1988 b, S. 296, S. 298; ders.: Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten/Texttypen und ihrer kommunikativen Bezugsbereiche, in: BESCH et al. Bd. 1, S. 186-205 ( = 1984 a), hier S. 200. 254
In der älteren Sprachwissenschaft wird der Terminus "Alltagssprache" zwar auch verwendet für Sprache, die der "unmittelbaren Verständigung in praktischen Lebenslagen" dient (TRIER, J.: Alltagssprache, in: Die deutsche Sprache des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1966, S. 110-132, hier S. 119; PORZIG, W.: Das Wunder der Sprache, 5. Aufl. München 1971, S. 251.), aber Alltagssprache wird nirgends deutlich von den Begriffssystemen und Semantiken des Theoriebereichs abgegrenzt, weder bei Porzig, der sich als erster ausführlich mit der Alltagssprache auseinandersetzt noch bei Moser (MOSER, H. : Umgangssprache. Überlegungen zu ihren Formen und ihrer Stellung im Sprachganzen, in: Zeitschr. f. dt. Mundartforschung, 1960, S. 215-232). 255
vgl. STEGER 1982 a, S. 14 ff.; ders. 1988 b, S. 298 f.; ders. 1984 a, S. 200.
256
STEGER 1988 b, S. 296.
257
vgl. STEGER 1988 b, S. 299.
80 bereich der Institutionen, Wissenschaften, Religion oder Literatur übernommen und in den Alltag eingeformt. 258 Alltagssprachen sind Vielzwecksprachen im Gegensatz zu Fach- und Wissenschaftssprachen, die als Einzwecksprachen genau und eindeutig sind. Für den Alltag ist nur eine mittlere Genauigkeit erforderlich. Alltagssprache ist stark assoziativ vernetzt und gröber gegliedert als z.B. die Institutionensprache. Dadurch kann sie unterschiedliche Leistungen erbringen. 259 Quantitativ hat dieser Bereich den größten Anteil an der Kommunikation. Er umfaßt die gesamte Breite des Lebens, d.h. neben der unmittelbar lebensnotwendigen Grundkommunikation z.B. auch sprachlich gefaßte Orts- und Raumbegriffe, Handlungs-, Bewegungs- und Richtungsbegriffe, sowie Gefühlsausdrücke. Alltagssprache füllt fast den gesamten Freizeit- und Unterhaltungssektor; sie läuft ständig neben der beruflichen Kommunikation her und verändert sich unmerklich "gleitend" mit dem Wandel konventioneller Normen. 260 Die lebenspraktische Alltagssprache bietet "in begriffsgeschichtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten". 261 Es läßt sich schwer zurückverfolgen und anhand von Quellenmaterial belegen, wie die alltägliche Kommunikation einer Epoche tatsächlich aussah. Die Alltagssprache und -semantik ist schwer zugänglich und unscharf für den, der sie dokumentieren will.262 Im nachfolgenden Kapitel sollen Beispiele für die Verwendung des HeimatBegriffs und seiner Teilbedeutungen im Alltagsbereich herangezogen werden, die zur Überprüfung der Hypothese geeignet sind.
2.5.7. Folgerung aus den drei Nachweisen Aus den drei Nachweisen, die geführt wurden, ist zu folgern, daß universale/ primäre Elemente der räumlichen, sozialen und emotionalen Kategorie, die sich als konstitutiv für den Heimat-Begriff erwiesen haben, im "primären" Alltagsbereich wurzeln. Diese Feststellung soll durch die Beispiele des Kapitels 2.6. (Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich) untermauert werden.
2.6. Bedeutungselemente des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich Um anhand von Beispielen die Semantik des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich dokumentieren zu können, werden schriftlich fixierte Heimat-Bedeutungen
258
vgl. STEGER 1988 b, S. 298 f.
259
vgl. STEGER 1982 a, S. 9; vgl. auch: ders. 1989 b, Sp. 125 ff.
260
vgl. STEGER 1984 a, S. 200; ders. 1988 b, S. 298, S. 296.
261
STEGER 1988 a, S. 119.
262
vgl. STEGER 1988 b, S. 299.
81 benutzt, die aus unterschiedlicher Motivation heraus zu verschiedenen Zwecken und Zielen entstanden sind. Der Entstehungshintergrund ist meist im politischgesellschaftlichen (z.B. soziale Mißstände werden beklagt; Vertreibung und Exil werden dokumentiert; empirischen Zwecken soll gedient werden) oder im literarischen Bereich (z.B. Briefe, Gespräche oder Essays vermitteln/konservieren "Heimatgefühl") zu suchen. Die jeweiligen Heimat-Bedeutungen das Alltagsbereichs sind bestimmt von individuellen Erfahrungen, die in der Biographie des einzelnen ihren Ursprung haben und von allgemeinen gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen. Diese Bestimmungen weisen sie als Bestandteile des Alltagswissens aus. Der Heimat-Begriff im Alltagsbereich läßt sich schwer historisch dokumentieren. Die ausgewählten Quellen sind zwar rein formal dem literarischen Bereich zuzuordnen (Autobiographie, Briefe) scheinen aber doch durch ihren Inhalt dazu geeignet den Alltagsgebrauch von "Heimat" in den vergangenen Jahrhunderten zu dokumentieren.
2.6.1 Die Verwendung des Heimat-Begriffs im 18. Jahrhundert Von den zahlreichen Autobiographien des deutschen 18. Jh. wird die "Lebensgeschichte des Armen Mannes" Ulrich Bräker wegen ihres kulturhistorischen Dokumentationswertes ausgewählt. Bräker wurde am 22. Dez. 1735 zu Wattwil im Toggenburg geboren und beschreibt in seiner Selbstbiographie seine "Jugend- und Mannesjahre". Im Vorwort zur Ausgabe aus dem Jahre 1978 zählt Hans Mayer ihn wegen seiner "unverkennbaren poetischen Begabung [...] ganz ohne Frage" zur deutschen Literatur. Mayer hebt besonders den "realistischen Ausgleich" zwischen den "modischen Literaturströmungen" seiner Zeit hervor: "Nüchternheit, Kraft des Wortes, Lauterkeit des Gefühls, Schärfe der Beobachtung machen Bräkers berühmtes Buch nach wie vor zu einem der wichtigsten poetischen und kulturhistorischen Dokumente der damaligen Zeit" ,263 Kapitel XXXIV (S. 117 ff.) überschreibt Bräker mit "Abschied vom Vaterland". Damit ist "Heimat" aber nicht im politischen Sinne zu interpretieren, wie der Ausdruck "Vaterland" nahelegt, sondern Bräker betont die soziale Kategorie des Heimat-Begriffs. Er beschreibt den Abschied von seiner Familie (Vater, Mutter und Geschwister) und von seinem "Schätzle" ("[...] giengs mir freylich entsetzlich nahe- [...] das Land zu meiden wo mein Liebstes wohnte." 264 ). Bei der Schilderung seiner Rückkehr, in den Kapiteln, in welchen die "Heimreise" (Kap. LVII: "Heim! heim! Nichts als heim!" 265 ) und die Ankunft in der "Hei-
263
H. MAYER: Vorwort zu Ulrich BRÄKER: Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg, hrsg. v. Samuel Voellmy, Basel 1978 (ersch. Zürich 1789), S. 30. 264
BRÄKER 1978, S. 117.
265
BRÄKER 1978, S. 192 ff.
82 math" beschrieben werden (Kap. LVIII: "O des geliebten süssen Vaterlands!"266) bleibt es zunächst bei der Gleichsetzung: Vaterland = Heimat = zu Haus = die "Meinigen": "Den 5. Okt. traten wir nun unsre wirkliche Heimreise an. [...] mein einziges Sehnen [war] wieder nach Haus, zu den Meinigen, zum Anneli."267 "[...] so nahe bey meiner Heimath, brannt' ich vor Begierde, dieselbe völlig zu erreichen. [...] und die lebhafte Vorstellung des Wiedersehens von Eltern, Geschwistern, und meinem Liebchen, gieng mir einstweilig für Essen und Trinken. " 268 Im weiteren Verlauf der Schilderung tritt die räumliche Kategorie des HeimatBegriffs in den Vordergrund: "Als ich nun dergestalt meinem geliebten Wattweil immer näher und näher, und endlich auf die schöne Anhöhe kam, von welcher ich seinen Kirchturm ganz nahe unter mir erblickte, bewegte sich alles in mir, und grosse Thränen rollten haufenweis über meine Wangen herab. O du erwünschter, gesegneter Ort! so hab'ich dich wieder [...] Dann eilt'ich unserem Wohnort zu. Es war ein schöner Herbstabend als ich in die Stube trat, (Vater und Mutter waren nicht zu Hause) merkt' ich bald, daß auch nicht eines von meinen Geschwistern mich erkannte [,..]." 269 "Heimat" wird territorial eingegrenzt zunächst auf die Landschaft um Wattweil, dann auf den konkreten Ort mit seinem Kirchturm als Wahrzeichen und schließlich auf das Elternhaus, die Wohn-"Stube".
2.6.2. Die Verwendung des Heimat-Begriffs im 19. Jahrhundert Der deutsche Alltag im 19. Jh. war geprägt durch gesellschaftspolitische Faktoren. Im Zuge der Industrialisierung kam es zu einer Wanderbewegung vom Land in die Stadt. Diese Tatsache sowie die zum Ende der 70er Jahre einsetzenden Rezessionsphase der enthusiastischen Gründerzeit führte zur Emigration deutscher Bürger nach Nord- und Mittelamerika und nach Australien, wo vor allem die Arbeiterschaft neue Arbeits- und bessere Verdienstmöglichkeiten suchte. 270 Siegfried Grosse et al. haben schriftliche Zeugnisse verschiedener Textsorten aus dem "Alltag der unbekannten Bürger gesammelt, der sogenannten kleinen
266
BRÄKER 1978, S. 195 ff.
267
BRÄKER 1978, S. 192.
268
BRÄKER 1978, S. 195.
269
BRÄKER 1978, S. 195 f.
270
vgl. GROSSE, S./GRIMBERG, M./HÖLSCHER, Th./KARWEICK, J.: "Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung". Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert, Bonn 1989, S. 10 f. u. S. 129.
83 Leute". 271 Zur Dokumentation des Heimat-Begriffs in der vorliegenden Schrift werden Auswanderbriefe gewählt, die teilweise von Heimweh und Sehnsucht aus der Ferne geprägt sind. "Die Texte sind einerseits Ausdruck der existentiellen Not (Heimweh, Alleinsein, ökonomische Probleme) in einer völlig fremden und auch fremdsprachlichen Umgebung, andererseits dokumentieren sie die Angst der Verfasser, fern der Heimat in Vergessenheit zu geraten." 272 In den Briefen des Matthias Dorgathen, der 1881 nach Nordamerika auswandert, kommt zum Ausdruck daß sein Aufenthalt in den USA nur ein vorübergehender ist, deshalb sind seine Bemühungen um "den Kontakt zur Heimat bzw. zu Heimatlichem" für ihn besonders bedeutsam. "Heimat" beinhaltet für ihn: Deutschland als Territorium aber vor allem die gemeinschaftlichen Faktoren Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft. Dorgathen schreibt: "Liebe Eltern und Brüder ich hatte jetz in die 4 Wochen keinen Brief mehr von Haus überhaubt von Deutschland gar keinen beckomen ich habe nach Haus und nach Schwestern und Schwägern geschrieben, [...] ich Glaube ich bin schon bait vergessen in dem fernen Amerika [...] ich denke wenn es noch ein bar Monathe flott geth das ich dann nach Haus kome ich habe jetz das Gelt noch nicht. [...] liebe Mutter [...] ich weis jetz sicher das du wider Gesund bist wenn ich kann kom ich nach Haus [...] Grüst Alle Verwände und Bekante."273
Das Heimatliche verkörpert für Dorgathen der "Gesangverein", aber nicht der deutsche Gesangverein im fremden Amerika, ("[...] sie wollen hir ein deutschen Gesangverein gründen [...] Ich weis noch nicht op ich mith singe weihl ich doch nach Haus komen wil." 274 ) sondern der Gesangverein seiner Freunde und Bekannten in Deutschland, derer er am Ende seines Reiseberichtes gedenkt: "[...] und du Heinrich Grüse das ganze Gesang-Verein [...] von mir." 275 Im Brief eines ausgewanderten Ehepaars wird über die Verdienstmöglichkeiten in den USA als Schneider und Landwirt berichtet. In diesem Zusammenhang heißt es: "Da sucht sich ein jeder seine Heimat nach seinem Werke." 276 Heimat meint hier, in Freiheit über die Art und den Ort seines Auskommens zu bestimmen. Beim Heimatbegriff in diesem Beispiel steht der Faktor eines gesicherten Lebensunterhaltes im Vordergrund.
271
GROSSE et al. 1989, S. 12.
272
GROSSE et al. 1989, S. 121.
273
zit. nach GROSSE et al. 1989, S. 128.
274
zit. nach GROSSE et al. 1989, S. 129.
275
zit. nach GROSSE et al. 1989, S. 128.
276
DIEHL, W.: Brief eines nach Amerika ausgewanderten Ehepaars aus Birkenau (1831), in: Hessische Chronik. Monatsschrift für Familien- und Ortsgeschichte in Hessen und Hessen-Nassau, 17 (1930), S. 83-86, hier S. 84.
84 Der Heimat-Begriff des USA-Auswanderers L.D. 2 7 7 weist eine negative und eine positive Bedeutungskomponente auf: Das staatspolitische Gebilde "Deutschland" verliert für ihn immer mehr den Heimatcharakter. Die private Umgebung, die ihm einst "Heimat" war, schätzt er hingegen weiterhin. Persönliche Erinnerungen, die ihm aus eigener Erfahrung als wichtig erscheinen, behält er dauerhaft als "Heimat" in seinen Gedanken. Konkret bedeutet das für die momentane Lebenssituation des L . D . : "Ich fühle mich jetzt sehr einsam auf dieser Welt und wäre gern wieder bei Euch daheim." 278 Bei den meisten Brasilien-Auswanderern bleibt der Heimat-Begriff fest mit allem "deutschen" verbunden, da sie keinerlei Integrationsbestrebungen unternehmen. "Deutschtum" oder das, was man dafür hält, wird durch deutsche Schulen, das Vereinswesen u.a. kulturelle Institutionen der deutschen Kolonien hochgehalten und bildet den eigentlichen Orientierungspunkt im alltäglichen Leben. Ein Verfasser von Auswanderbriefen aus Brasilien (E.H.), lebt aus der Überzeugung heraus, es bestehe eine Übereinstimmung zwischen seiner persönlichen Biographie und der deutschen Geschichte, woraus sich der synonyme Gebrauch von: "das Deutsche", "das Deutschtum" und "die Heimat" erklären läßt.279 Für die Verfasserin einer weiteren Briefserie aus Brasilien (Em.H.) "reduziert sich der Begriff 'Heimat' auf ein paar Stunden an jedem Sonntag": "Meine Abwechslung ist des Sonntags zuweilen, dann geht man zur Nachbarin 'maien' wie man sagt. [Dieses 'Maien' ist ein Gespräch mit den Nachbarn in der deutschen Kolonie über die alltäglichen Sorgen und Nöte.] Das Gespräch lautet dann ungefähr so: ' [ . . . ] Lege Eir Hinkel viele Eier? Die schwarze Bohne koste nit viel die Milho ach net, der Schnaps ist so billig, man weiß nicht, womet mer alles bezahle soll.' Das ist die deutsche Sprache unter den Bauern auf der Kolonie. Lieber Bruder, hier auf der Kolonie wird in den deutschen Schulen deutsch gesprochen, wir Bauern müssen die Kirchen und Schulen selbst bezahlen der Staat baut nur brasilianische Schulen." 280
Wesentliches Heimat-Element der Brasilien-Auswanderer ist die deutsche Sprache, als wichtigste Voraussetzung zur Pflege deutscher Kultur.
2.6.3. Bedeutungen des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich des 20. Jahrhunderts Im Zuge der neuen Heimatwelle, die seit den 70er Jahren andauert, wird Heimat häufig im Zusammenhang mit menschlichen Grundbedürfnissen und elementarer Lebensgestaltung gesehen. "Wenn 'Heimat haben' und 'sich zu Hause fühlen'
277 Eine Briefserie von L.D. aus den Vereinigten Staaten ist nachzulesen bei GROSSE et al. 1989 S. 137-144. 278
zit. nach GROSSE et al. 1989, S. 137.
279
Die Briefe von E.H. sind nachzulesen bei GROSSE et al. 1989, S. 145 ff.
280
zit. nach GROSSE et al. 1989, S. 144.
85 vielfach synonym gebraucht wird, dann meint das mehr, als [nur ...] ein Haus besitzen", so schreibt Ina Maria Greverus in "Auf der Suche nach Heimat"281 und verweist damit auf eine elementare Bedeutung von "Heimat", die hinter die juristischen Bedeutungskomponente zurückreicht.282 Für Greverus, die auf den territorialen Aspekt des Heimat-Begriffs abstellt, bedeutet Schaffung von HeimatRäumen, "daß [der Mensch] sich aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und sich in ihm einrichtet - d.h. ihn zur Heimat macht". 283 Auch Bausinger, dessen Schwerpunkt auf dem sozialen Aspekt des Heimat-Begriffs liegt, betont die Funktion von Heimat in der aktiven praktischen Auseinandersetzung mit alltäglichen Lebensmöglichkeiten. 284 Neben der Bedeutung für eine aktive Gestaltung der räumlichen und gesellschaftlichen Umgebung kommt "Heimat" auch eine passive Bedeutung zu, die in einem Rückzug ins Private, bzw. in einer Flucht vor der "rauhen Wirklichkeit" zu sehen ist, begründet mit der Desorientierung und Dynamik des modernen Lebens und einem steigenden Bedürfnis nach Halt und Ruhepunkten.285 Ob der Schwerpunkt auf dem territorialen oder dem sozialen Aspekt liegt, in beiden Fällen ist Bausinger zuzustimmen, daß "Heimat heute wieder viel mit Alltag zu tun"286 hat und ein psychisches Grundbedürfnis des modernen Menschen darstellt. "Die Sehnsucht nach einem Ort, in dessen Überschaubarkeit und Unverwechselbarkeit man sich wiederfinden kann, nach Geborgenheit, menschlicher Nähe und Vertrautheit stellt [ . . . ] eine Antwort dar auf die massiven Gefährdungen unserer Existenz, die Bedrohungen unserer Umwelt und die Infragestellung unserer Identität. " 28? 2 . 6 . 3 . 1 . Empirische Erhebungen zum Heimat-Begriff Um sich den Inhalten des alltäglichen Heimat-Begriffs im 20. Jh. zu nähern, sollen die Einzelelemente von Heimat und deren Sitz im Leben genauer betrachtet werden. Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Heimat-Begriff dokumentieren, welche Vorstellungen der "Normalbürger" mit Heimat verbindet. Daneben sollen schriftlich fixierte Aussagen bekannter (Literaten, Politiker u.a.) und unbekannter
281
GREVERUS 1979, S. 13.
282 In einer ausführlichen Rezension zu der erwähnten Greverus-Studie resümiert "DER SPIEGEL" 1979: " [...] der Begriff Heimat, lange von organisierten Vertriebenen und völkischen Klüngeln vereinnahmt [erlebt] eine überraschende Erneuerung aus oppositionellem Geist." ("Heimat unter grüner Flagge". In: DER SPIEGEL 3 0 / 7 9 , S. 134). 283
GREVERUS 1979, S. 28.
BAUSINGER, H.: Heimat in einer offenen Gesellschaft, in: KELTER, J. (Hrsg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Weingarten 1986, S. 89-116, hier S. 108 f., S. 111; ders. in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 215. 284
285 vgl. GAUGER, J.-D.: Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein. Bemerkungen zu einem vermuteten Zusammenhang, in: WEIGELT 1986, S. 9-44, hier S. 41. 286
BAUSINGER, in: KELTER 1986, S. 111.
287
HEIMAT HEUTE, S.209.
86 Personen zur Bedeutungsbestimmung eines alltäglichen Heimat-Begriffs beitragen. Bei einer Umfrage zum inhaltlichen Heimatverständnis der Bürger, die 1984 im Odenwald durchgeführt wurde 288 , stellt Herbert Schneider 289 fest, daß ein "aktives Heimatverständnis" (Heimat als zu gestaltender Lebensraum), das vor allem in der sozialwissenschaftlichen Literatur betont wird, in einer alltäglichen, realistischen Beurteilung auf wenig Gegenliebe stößt. 290 Bei den Auswahlvorgaben zur Beantwortung der Frage: "Wenn Sie das Wort 'Heimat' hören, woran denken Sie?" 291 , entschieden sich nur 2,1% der Befragten für einen HeimatBegriff, der die aktive Gestaltung des nahen Lebensraumes beinhaltet. Die traditionelle Besetzung des Heimat-Begriffs mit Gefühlsbindungen und sozialen Erfahrungen scheint nach wie vor maßgeblich zu sein: 86,9% der Befragten definierten ihren Heimat-Begriff emotional-kulturell. Dabei geht es um die zeitliche (z.B. Zeit der Kindheit) und inhaltliche Dimension des Enkulturationsprozesses und um Gefühlswerte. Demnach ist Heimat: * die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, * wo mir die Landschaft gefällt, * wo meine Mundart gesprochen wird, * wo ich mich geborgen fühle. 11 % der Befragten entschieden sich für einen von sozialen Aspeten dominierten Heimat-Begriff. Hier geht es um menschliches Zusammenleben. Demnach ist Heimat: * wo meine Familie/mein Lebenspartner wohnt, * wo meine Bekannten und Freunde leben, * wo ich in Vereinen mitarbeite, * wo man leicht Anschluß findet. Bemerkenswert sind die Präferenzen bei der Einzelfragenbeantwortung bezüglich des Faktors "Heimat als Haus und Grundbesitz". Da er überraschenderweise nach der Gegend des Aufwachsens und noch vor dem Wohnort der Familie am häufigsten genannt wird 292 , spricht manches dafür, daß Haus/Grundbesitz nicht
288
Das Befragungsgebiet umfaßte die beiden Odenwaldkreise, den baden-württembergischen Neckar-Odenwald-Kreis (NO-Kreis) mit Sitz in Mosbach und den hessischen Odenwald-Kreis (O-Kreis) mit Sitz in Erbach. Siebenhundert Bürgerinnen und Bürger wurden jeweils eine halbe Stunde mit einem siebzig Punkte umfassenden Fragenkatalog interviewt. (SCHNEIDER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 60). 289 Zur Gesamtdarstellung seiner politikwissenschaftlich orientierten Umfrage vgl. SCHNEIDER, Herbert in: WEIGELT (Hrsg.): Heimat und Tradition 1986, S. 57-77. 290 Schneider räumt ein, daß sein Umfrageergebnis vermutlich etwas anders aussehen würde, wenn er ein Befragungsgebiet ausgewählt hätte, in dem das überlieferte Heimatbild durch Umweltbelastungen und -eingriffe gefährdet erscheint und es daraufhin zur Bildung von Protestbewegungen kommt. (SCHNEIDER, in: WEIGELT 1986, S. 66). 291 292
SCHNEIDER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 62 f.
Umfrageergebnis: (SCHNEIDER, in: WEIGELT 1986, S. 63). 1. Die Gegend, in der ich aufgewachsen bin: 66,5 % 2. Wo ich/wir Haus/Grundbesitz habe(n): 8,5% 3. Wo meine Familie/mein Lebenspartner wohnt: 7,9%
87 nur Ansehen und Einfluß vermittelt, sondern vielen Menschen auch ein Gefühl der Geborgenheit und Verwurzelung schenkt. Diese aus dem institutionellen Bereich stammende juristische Bedeutungskomponente von "Heimat" erweist sich als prägend für den Heimat-Begriff des Alltagsbereichs. Die Fragestellung der nachfolgend erwähnten empirischen Erhebungen sind nicht ausreichend, um dem komplexen Heimat-Begriff gerecht zu werden, lassen aber doch bestimmte inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Im Juli 1983 legte das Meinungsforschungsinstitut Emnid 1016 Bundesbürgern über 14 Jahren die Frage vor: "Was braucht der Mensch zum Glück?" Sieben Begriffe standen zur Wahl. Den höchsten Anteil mit 45% uneingeschränkter Zustimmung und 43% mehr oder weniger Zustimmung erhielt 'Heimat'. 293 Demzufolge scheint Heimat viel mit den alltäglichen Lebensbedingungen des modernen Menschen zu tun zu haben. Der Begriff wird jedoch in der erwähnten Umfrage ohne nähere Inhaltsbestimmung, nur schlagwortartig verwendet. Etwas differenzierter ist die Fragestellung einer Infas-Repräsentativerhebung vom Mai/Juni 1981 zum Hessenbewußtsein, wobei auch der Heimat-Begriff thematisiert wurde. "Dabei ging man von einem 'altmodischen' (Heimat ist der Ort, wo man aufgewachsen ist) und einem 'modernen' (Heimat ist der Ort, wo man sich wohlfühlt) Heimat-Begriff aus" 294 . Das Ergebnis (44% entschieden sich für den 'altmodischen' und 52% für den 'modernen' Heimatbegriff) ist belanglos, da die Fragestellung einen nicht ohne weiteres bestehenden Gegensatz konstruiert; deutlich wird durch diese Befragung jedoch die territoriale Prämisse bei Vorstellungen zum Heimat-Begriff. Bereits 1979 hatte das Bielefelder Emnid-Institut eine Umfrage mit der offenen Fragestellung: "Was denken Sie, wenn das Wort 'Heimat' fällt?" durchgeführt. Den höchsten Stellenwert von 37% (bei der Gruppe der 14-19jährigen) erreichten die Antworten: "Geburtsort, Elternhaus, Kindheit", gefolgt von "mein Zuhause, Verwandte, Freunde" mit 27% und "Wohnort, unmittelbare Umgebung" mit 14%. Die abstrakten Begriffe "Geborgenheit, Ruhe, Frieden" nannten 5%, "Deutschland, Vaterland, Nation" gaben 11% an und die "Bundesrepublik" nur 1%.295 Weigelt kommentiert das Ergebnis folgendermaßen: Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland identifizieren "mit dem Begriff 'Heimat' entweder überwiegend den Ort personaler Geborgenheit [...] oder auch den Ort erster sozialer Orientierung für ihr Leben. Diese beiden Aspekte hängen eng miteinander zusammen und werden auch durchaus komplementär zueinander gesehen. Eine dritte [...] Gruppe verbindet den Begriff der Heimat mit einer allgemeinen politischen Orientierung, d.h. für sie hängt Heimat eng mit nationaler Identität zusammen". 296 Aus den zitierten empirischen Befunden läßt sich die Erkenntnis ableiten, daß der räumliche und soziale Bezug in Verbindung mit einer gefühlsmäßigen Orien-
293
ROTH, E.: Heimatkunde als Grundlage von Geschichtsbewußtsein, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 134-159, hier S. 136. 294
SCHNEIDER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 61.
295
zit. nach ROTH, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 135 f.
296
WEIGELT, in: WEIGELT (Hrsg.) 1984, S. 15.
88 tierung die dominierenden Inhalte des Heimat-Begriffs eines deutschen "Durchschnittbürgers" sind. 2.6.3.2. Eine Gesprächsaufzeichnung zur Bedeutung von "Heimat" Die im Kapitel 2.6.3.1. gewonnenen Erkenntnisse bestätigt auch ein aufgezeichnetes Gespräch mit vierzehnjährigen Schülern einer Realschulklasse in Blumberg/Baar im September 1978:297 Frage: Was gehört eigentlich zu Heimat dazu, was fällt Euch ein, wenn ihr das Wort hört? Schüler: Das Land, in dem man wohnt. Dass man da zuhause ist. Frage: Und was heißt "zuhause"? Schüler: Dass man da immer lebt und die Gegend kennt. Dass man da immer seine Freunde hat, die zum selben Staat gehören. Dass man da immer hingehen kann, wenn man will. Frage: Und was verstehst Du unter "hingehen können"? Schüler: Meistens hat man ja auch Verwandte in der Heimat, und zu denen kann man ja auch hingehen. Frage: Meinst Du, daß man dann auch irgendwie sicher ist? Schüler: Ja. Man hat Freunde. [...] Frage: Ist Heimat für Euch immer an einen Ort gebunden? Und an was für einen Ort? Schüler: Also wenn ich das Wort "Heimat" höre, meine ich, wo ich aufgewachsen bin. Hier in Blumberg. Für mich ist Heimat nicht direkt Stadt, sondern mehr so Umgebung: Wald, Felsen, Hütten und so Sachen, die es da gibt. Es kann auch ein Land sein. Für viele ist Heimat das Stück Land, das sie besitzen. Frage: Ist ein Land ohne Menschen Heimat? Schüler: (im Chor) Nein! Schüler: Land und Menschen, glaube ich, gehören zusammen. Das ergibt dann den Begriff Heimat. Und wenn man sich im Land wohlfühlt und die Menschen dazu auch noch freundlich sind, ich glaube, dann kann man das schon als Heimat betrachten. 2.6.3.3. Individuelle Äußerungen zum Heimat-Begriff Die nachstehenden individuell geäußerten Aussagen zur Bedeutung von "Heimat" sind nach Themengruppen geordnet. * "Heimat" ist Kindheit und Erinnerung: Die meisten Aussagen zum Thema "Heimat" erfolgen aus der Erinnerung heraus und wurzeln in der Kindheit. Dem liegt eine Erfahrung zugrunde, die bei Moosmann zitiert wird: "Wenn wir heute über Heimat reden, dann haben wir zumeist das Bedürfnis, etwas festhalten zu wollen, in unserer eigenen Geschichte. [...] Wenn Heimat überhaupt eine reale Erfahrungsbasis hat, dann liegt diese in den
297 zit. nach MOOSMANN, E. (Hrsg.): Heimat - Sehnsucht nach Identität, Berlin 1980, S. 146 ff.
89 Bedeutungen, die wir in die Orte und die Menschen unserer Kindheit hineingelegt haben und die wir selbst leben. "298 ** "Stammt also Heimat aus der Kindheit? Wie kann ein Kind sich aneignen, was erst Heimat werden soll?" [...] "Muß man, um Heimat zu besitzen, in ihr Kind gewesen sein? [...] Woraus bezieht ein Kind, was es später Heimat nennt? Oder eben nicht, weil es sie nicht kennt? [...] Ist Heimat gleich Haus, Hinterhof, Straße, Bäckerladen, ein Baum, ein Stück Himmel?" (Hannsmann) 299 ** "Es gibt keine 'neue Heimat'. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener." (Améry) 300 ** "Heimat, das ist [...] Kindheit. Eine nicht immer leichte Kindheit und Jugend, wenn man rote Haare hat. " (Hoffmann) 301 ** "Heimat ist eine Kinderkrankheit die Erwachsene befällt hinterrücks und heimtückisch. Der Traum deiner Kindheit. Die grüne Wiese deiner Kindheit bekommt einen falschen Stellenwert. [...] Der Laden mit dem monatealten Joghurt bekommt einen gefährlichen Stellenwert [... Den] süßlichen Milchgeruch der dich immer wieder in eine Kindheit hineinzaubert verwandelst du in deinem erwachsenen Gehirn. " (Derschau/Buchrieser) 302 ** "Wenn man von Heimat spricht, tut man es höchst individuell, im Erfahrungsbereich der Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten. Und diese Erfahrung ist gleichsam höchst variabel." (Pazarkaya) 303 ** "Heimat: bestimmte Träume, Stimmungen. Eine bestimmte Strasse früh morgens im Winter greifbar vor einem." (Hoffmann) 304 ** "Und die Erinnerung an Vertrautheit, an Stimmen, an Düfte - [...] an die verschiedensten Gelegenheiten von Geborgenheit. [...] Ob Erinnerungen Heimat sind? - Mir fällt ein, daß die Brötchen bei meiner Oma immer ganz anders dufteten und viel besser schmeckten als bei uns zuhause, [...] mein Vater fuhr immer Fahrrad und er hatte für mich einen Holzwagen auf zwei Rädern gebastelt, den er an sein Rad hinten dranhängen konnte. Da drin saß ich dann und fuhr mit, raus ins Grüne und durch Alleen, in denen ganz große Bäume standen,
298
zit. nach MOOSMANN 1980, S. 53 ff.
299
HANNSMANN, M.: Heimatweh oder: Der andere Zustand, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 31-38, hier S. 32 f. 300
AMERY, J.: Wieviel Heimat braucht der Mensch, in ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 74-102, hier S. 84. 301
HOFFMANN, F.: Heimatdichtung ohne Heimattümelei am Beispiel von vier Landschaften und vier Autoren, in ders.: Zwischenland, Hildesheim 1981, S. 143-166, hier S. 147. 302 DERSCHAU, Christoph/BUCHRIESER, Franz: Also Wandsbek oder Überall wo Windeln beschissen werden ist Heimat, in: BRANDSTETTER, A. (Hrsg.): Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten, Salzburg 1973, S. 61-66, hier S. 64. 303 PAZARKAYA, Y.: Die Heimat ist in mir, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 21-27, hier S. 21. 304
HOFFMANN, 1981, S. 147.
90 und in den Wald. Mit ihm zusammen immer dahin, wo es Bäume gab. Dieses Wägelchen, das war dann wohl meine Heimat. " (Parnass)305 ** "'Ach du liebe Heimat', kommentierte meine Mutter das Zerbersten einer irdenen Schüssel auf den Steinplatten vor dem Haus. Die rituelle Formel für die Beschwörung eines Verlustes." (Sammet)306 ** "Wo wir Kinder gewesen sind und die ersten Bilder von der Welt und dem menschlichen Leben empfangen haben, da ist unsere Heimat." (Hesse)307 * "Heimat" ist Sprache: ** "Heimat, das ist [...] auch die Mundart als Kommunikationsmedium und Sprachmaterial." (Hoffmann) 308 ** "Liebevoll leidenschaftliche Pflege, kreativ menschliche Pflege der Sprache, ein Umgang mit ihr, der einem selbst und anderen Freude und Vergnügen bereitet, macht die Sprache zu einem warmen Zuhause, zur Heimat. Heimat ist dort, wo der Mensch [...] Sprache hat." (Pazarkaya) 309 * "Heimat" ist Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit: ** "Es gibt Menschen, die unsere Mundart nicht sprechen und trotzdem zu meiner Heimat gehören, sofern Heimat heißen soll: Hier weiß ich mich zugehörig." (Frisch) 310 ** "Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zur Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt. [...] Heimat ist Sicherheit sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen. [...] In der Heimat leben heißt, daß sich vor uns das schon Bekannte in geringfügigen Varianten wieder und wieder ereignet. Das kann zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen [...] Hat man aber keine Heimat, verfallt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit." (Améry) 311 * "Heimat" ist Besitz: ** "Deutsche [...], die aus ihren im Osten gelegenen Heimatländern vertrieben wurden. Sie verloren ihren Besitz, Haus und Hof, Geschäft, Vermögen." (Améry)312
305
PARNASS, P.: Wo es schön war, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 61-73, hier S.
62 f. 306 SAMMET, G.: Heimat. Im Zentrum der Zumutungen, in: Heimat und Identität. Themenheft der Zeitschrift VORGÄNGE 47/48 (1980), S. 90-99, hier S. 96. 307
Hermann HESSE, zit. nach WEIGELT 1986, S. 66.
308
HOFFMANN 1981, S. 147.
309
PAZARKAYA, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 26.
310
Ausschnitt aus einer Rede von Max FRISCH, zit. nach KAMBERGER, K.: Mit dem Hintern am Boden und dem Kopf in den Wolken. Entdeckungsfahrten in Richtung Heimat, Frankfurt am Main 1981, S. 71. 311
AMERY 1977, S. 81-84
312
AMERY 1977, S. 75.
91 ** "Man sagt ja: Hier ist man daheim. Im engeren Sinne verstehe ich darunter - also unter dem Hof - die Heimat. Man kann das immer noch ausdehnen. Man kann sagen: Das Dorf ist die Heimat, der Schwarzwald ist die Heimat. Aber im engeren Sinne ist doch das Haus und der Hof die Heimat. " (Jautz)313 * "Heimat" ist Vaterland: ** "[Ich] lehne die scharfsinnige Unterscheidung von Heimat und Vaterland ab und glaube schließlich, daß der Mensch meiner Generation ohne die beiden, die eins sind, nur schlecht auskommen kann. Wer kein Vaterland hat, will sagen: kein Obdach in einem selbständigen, eine unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat, so glaube ich, auch keine Heimat. "(Améry) 314 ** "Das Vaterland ist der Albdruck der Heimat. " (Tucholsky) 315 * "Heimat" sind Menschen: ** "Heimat ist für mich nie ein politischer Begriff gewesen, sondern ein rein menschlicher. " (Hesse) 316 ** "Heimat ist dort, wo der Mensch [...] Freunde, Sprache und Hoffnung hat. [...] Heimat ist Lebensfreude. Wo sie nicht ganz versiegt und ausgedorrt ist, überall dort kann Heimat sein, überall bei Menschen, bei einem Menschen. [...] Heimat ist Verschmelzung mit dem Du, Selbstauflösung im Freund." (Pazarkaya) 317 ** "Heimat? Ich fühl mich in Freunden zuhause. Menschen sind für mich am ehesten Heimat." (Parnass) 318 ** "Heimat: Personen mit [...] Spitznamen, Eigenarten [...].Heimat ist mehr als ein Ort. Heimat, das sind vor allem die Menschen, die dieser Ort geprägt hat." (Hoffmann) 319 ** "Ich gehöre zu denen, für die Heimat dort ist, wo Menschen sind. Das hat wohl auch mit meinem Naturell zu tun [...] und mit meinem Schicksal: Zu Hause sind die mir nahestehenden Menschen geblieben, all das, was man mit Worten nicht ausdrücken kann. " (Orlowa) 320 ** "Ich komme aus einer grauen Industriestadt, Rüsselsheim. Wenn ich nun nach Wolfsburg umziehe, dann würde ich sagen, da habe ich weder Heimat verloren noch neue hinzugewonnen. Ich sehne mich höchstens nach dem Karl und Fritz, den ich in Rüsselsheim kannte, aber Heimat als Landschaft, da würde
313
Aufgezeichnetes Gespräch mit dem Schwarzwaldbauern Erich Jautz, zit. nach MOOSMANN 1980, S. 182. 314
AMERY 1977, S. 93.
315
Kurt Tucholsky 1927, zit. nach SPOHN, M.: Albdruck der Heimat, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 17-21, hier S. 17. 316
Hermann HESSE, zit. nach WEIGELT 1986, S. 66.
317
PAZARKAYA, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 26 u. S. 23.
318
PARNASS, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 61.
319
HOFFMANN 1981, S. 145 ff.
320
ORLOWA, R.: In der Emigration, in: KUNERT, G. (Hrsg.): Aus fremder Heimat. Zur Exil-Situation heutiger Literatur, München/Wien 1988, S. 31-40, hier S. 34.
92 ich sagen, die ist in Wolfsburg so, wie sie in Rüsselsheim war. " (Blüm) 321 * "Heimat" ist ein Ort: ** "Heimat: ein Ort zunächst, geographisch, historisch, ökonomisch und soziologisch fixier-, sinnhaft erfahr- und gemütsmässig erlebbar." (Hoffmann) 322 ** "Ich will nur mal einen Bereich nennen: Ruhrgebiet, Industrielandschaft und die Rezession [...] als soundsoviele Arbeiter im Steinkohlenbergbau auf einmal ohne Arbeitsplatz waren. [...] Und wie schwer ist es diesen Bergarbeitern gefallen, den Arbeitsplatz - auch ein Stück Heimat -, den Taubenzüchterverein, die Kneipe an der Ecke etc. zu verlassen [...]." (Grass) 323 ** "Natürlich, es ist ein Stadtviertelgefühl, das Heimatgefühl. [...] Ich glaube, [...] daß der Mensch möglicherweise da zu Hause ist oder Heimat hat, wo er Wohnung findet, Arbeit hat, Nachbarn, Freunde." (Boll)324 ** "Die einen haben einen Begriff von Heimat, der trennt sich radikal von Tradition, [...] und dem Ort, wo man herkommt. Heimat ist da, wo man sich verbindlich niederläßt, wo man ein paar Leute hat, auf die man sich verlassen kann." (K.R.) 325 ** "Man versucht natürlich wegzukommen. Ernsthaft. Ich versuche es immer wieder einmal. Immer weniger ernsthaft. Sicher ist, ich bin jetzt ohne Absicht hiergeblieben. Ohne einen leicht mitteilbaren Grund. Manchmal gegen besseres Wissen. Gegen ausgezeichneten Rat. Aber warum? [...] Die Hauptsache ist wahrscheinlich das Wasser [...] Wahrscheinlich bleibt man doch des Wassers wegen. [...] der Bodensee ist ein freundliches Gewässer [...]" (Walser) 326 ** "Heimat - man gehört an einen bestimmten Platz; man stammt von dort; [...] Die einen haben mehrere Heimaten und können damit umgehen. Die anderen kennen nur ihr Tal, ihr Dorf, ihr Städtchen oder ihren Bezirk in der Großstadt. Wieder andere gibt es, deren Heimat wird immer größer, je weiter sie sich von ihr entfernen. Heimat bedeutet für jeden etwas anderes." (Spohn) 327 ** "Was ist Heimat für diejenigen, die nie länger an einem Ort gelebt haben? Ist Heimat immer mit bestimmten Orten verknüpft [...]?" (Moosmann) 328 ** "Ich suche die Heimat nicht in einer Landschaft, an einem Ort, in einer Stadt, in einem Land, auf einem Kontinent. Ich suche und orte sie in mir, am
321
BLÜM, Norbert, in: MITSCHERLICH, A./KALOW, G. (Hrsg.): Hauptworte Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat - Nation, München 1971, S. 23. 322
HOFFMANN 1981, S. 145.
323
GRASS, Günter, in: MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 27.
324
BOLL, Heinrich, in: MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 35 und S. 41.
325
Stellungnahme von Klaus R., aus einer Montage von Redebeiträgen einer Diskussion zum Thema "Heimat", zit. nach MOOSMANN 1980, S. 71. 326
WALSER, Martin: Heimatkunde, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 147-158, hier S. 148 und S. 155 ff. 327
SPOHN, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 17.
328
MOOSMANN 1980, S. 71.
93 Sitz meiner Befindlichkeit, meiner Empfindungen und Wahrnehmungen, meines Gefühls und Gemüts, meines Geistes und Verstands. [...] Nicht ich bin in der Heimat, die Heimat ist in mir. " (Pazarkaya) 329
2.6.4. Auflistung der genannten Heimat-Elemente des Alltagsbereiches Im Zusammenhang mit dem Heimat-Begriff im Alltagsbereich wurden folgende Elemente zuerst genannt bzw. besonders hervorgehoben: "Heimat" ist: "ein psychisches Grundbedürfnis des modernen Menschen"; "Erinnerung", "Bindung", "Geborgenheit", "Verwurzelung", "Sicherheit", "Identität", "Überschaubarkeit", "Unverwechselbarkeit", "Vertrautheit", "menschliche Nähe", "Ruhe", "Frieden", "Glück"; "wo man sich wohlfühlt", "sich heimisch-, daheim-, zuhause fühlen"; "wo man aufgewachsen ist", "Kindheit", "Eltern und Geschwister", "die erste Liebe", "Lebenspartner", "Freunde", "Verwandte", "Nachbarn", "Vereine", "Kneipe", "Arbeitsplatz"; "Geburtsort", "Elternhaus", "Stube", "Zuhause" i.S. v. Wohnung, "Wohnort", "Kirchturm", "ein bestimmtes Dorf/Stadt/Stadtviertel", "die Natur der unmittelbaren Umgebung", "eine bestimmte Gegend/Landschaft/Region"; "Sprache", "Dialekt", "Mundart"; "Vaterland", "Deutschland", "Nation", "nationale Identität", "Staat", "Deutschtum", "aktiv und selbst gestaltete Umwelt", "ein Rechtsanspruch", "Grund- Haus- Hof- Besitz", "gesicherter Lebensunterhalt". Politisch und rechtlich motivierte Aussagen stehen neben teilweise stark gefühlsbetonten Aspekten der sozialen und natürlichen Umwelt. Der offensichtliche Bezug der meisten Heimat-Elemente zum Alltag soll im folgenden zusammenfassend erläutert werden.
2.6.5. Elementarer Zusammenhang zwischen Heimat-Begriff und Alltagsbereich Den zusammengestellten Aussagen zufolge impliziert der Heimat-Begriff ein besonders emotionales Verhältnis zu Personen, Dingen oder Räumen, wobei die Erinnerung an Vergangenes eine entscheidende Rolle für den Heimatbezug eines gesamten Lebenslaufs spielt. Luhman hat diesen Mechanismus im Zusammenhang mit der Reduktion sozialer Komplexität einmal so beschrieben: "In vertrauten Welten dominiert die Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft. In der Vergangenheit gibt es keine 'anderen Möglichkeiten' mehr, sie ist stets schon reduzierte Komplexität. Die Orientierung am Gewesenen kann daher die Welt vereinfachen und verharmlosen. Man unterstellt, daß das Vertraute bleiben, das Bewährte sich wiederholen, die bekannte Welt sich in die Zukunft hinein fort-
329
PAZARKAYA, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 22.
94 setzen wird." 3 3 0 Die meisten Menschen assoziieren die Erinnerungen an "Heimat" mit dem Stichwort "Geborgenheit, wenn sie umschreiben sollen, welches Gefühl sich bei ihnen einstellt, wenn sie an Heimat denken". 331 Neben "Geborgenheit" werden "Sicherheit", "Orientiertung" und "Identität" in einen soziokulturellen Lebensraum als Grundthema der menschlichen Existenz im Zusammenhang mit Heimat angesprochen. Diese "Heimatgefühle" werden vermittelt und bestärkt durch Wertvorstellungen der Gemeinschaft, überlieferte Gewohnheiten, traditionsgebundene Verhaltensweisen, Bräuche und Rituale. 332 Heimatgefühl definiert als "Eingebundensein in einen kleinräumlichen Traditionsraum" entsteht während des Heranwachsens in einer bestimmten Region, im Verlaufe von Kindheit und Jugend, in denen der Mensch zur Persönlichkeit heranwächst und seine ersten Beziehungen knüpft, welche die stärksten Eindrücke vermitteln und die einprägsamsten Bindungen begründen. 333 Diese Bindungen werden nicht in jedem Falle aufrechterhalten und positiv bewertet; sie können sich jedoch bei entsprechendem soziokulturellen Umfeld durch kulturelle Traditionen, die von Familie, Kirche, Gemeinde und Verein gepflegt werden, festigen und zum stabilisierenden Lebensfaktor werden. Beispielsweise kann ein Mensch durch die kontinuierliche Wiederkehr kirchlicher und weltlicher Feste, verbunden mit den jahreszeitlichen Veränderungen in der Natur, das "Gleichmaß des Jahres" als gesicherte Abläufe in einem ansonsten unwägbaren Leben erfahren. 334 Solche Konstanten vermitteln Geborgenheit, setzen Markierungspunkte im Alltag und verstärken das Heimatgefühl. Die dargestellte kleinräumliche Variante ist jedoch nur eine (aber sicher die konventionellste) Form von Heimatbindung. Heimatgefühl, das sich erst allmählich im Verlauf einer Lebensgeschichte entwickelt, ist aber ebenso determiniert von einer positiven Verankerung in einer staatlichen Gesellschaftsordnung oder der Identifikation mit dem mitteleuropäischen Kulturraum. 335 Der gesamte Lebenshintergrund des Menschen basiert auf Elementen des Heimat-Begriffs. Jeder Mensch braucht Geborgenheit und Sicherheit die ihm (1.) durch Familie und Freunde, (2.) durch Vertrautheit eines bestimmten Raumes/Ortes, (3.) durch Sprache und Kulturlandschhaft (eventuell auch durch nationale Identität) gewährt werden. "Erst innerhalb eines kulturell geprägten Daseinsrahmens findet der Mensch sein Zuhause" schreibt Plessner und führt weiter aus: "Die Regionen der Geborgenheit und Vertrautheit, des Selbstverständlichen und Natürlichen liegen in einer spezifisch geistigen Ebene: heimatliche Landschaft, Muttersprache, Familie und Sitte, Überlieferung, Gesellschaftsordnung, Vorbilder, die eigene Stadt, Straße, Heim, Zimmer, die Gebrauchs-
330
LUHMANN, N.: Vertrauen - ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973. 331
WEIGELT, in: ders. (Hrsg.) 1984, S. 15.
332
GAUGER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 41 f.
333
GRIESWELLE, D: Tradition und kleinräumliche Identität, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 175-196, hier S. 182. 334
WEIGELT, in: ders. (Hrsg.) 1984, S. 19.
335
GAUGER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 43.
95 dinge und heiligen Zeichen, das ganze Drumherum des Lebens." 336 Am präzisesten faßt das Gemeinte wohl Lübbe zusammen, der Heimat als "kulturelle Herkunftswelt" bestimmt. 337 Die Wirklichkeit unseres Lebens spielt sich im wesentlichen im Alltagsbereich ab. Der eigentliche Inhalt und der größte Anteil unseres Lebens werden von der Alltäglichkeit dominiert. Die Beständigkeit unseres Lebens und unserer Gesellschaft entspringen im Alltag, denn dort besteht Dauerhaftigkeit und Stetigkeit durch das Wiederholen gleicher Handlungen und Verhaltensweisen. In ihnen wiederholen wir "uns selbst, da unsere Psyche und Individualität sich nicht in feierlichen und außergewöhnlichen Gesten ausdrückt, sondern in der alltäglichen Art und Weise des Verhaltens. Hier bekunden wir, daß wir [...] moralischen Vorstellungen der Gemeinschaft genügen". 338 Die Wiederholung gleicher Akte, die Möglichkeit des Aufsuchens gewohnter Plätze (Wohnung/Haus/Ort/Landschaft) sowie ein verlässliches familiäres und gemeinschaftliches Leben gewähren Sicherheit und Geborgenheit. Insofern ist "Heimat" elementarer Bestandteil des alltäglichen Lebens; die meisten und wichtigsten Elemente des Heimat-Begriffs wurzeln im Alltagsbereich. Der Heimat-Begriff des Alltagsbereichs setzt sich zusammen aus subjektiven Empfindungs-Elementen (durch die Biographie des einzelnen nur individuell nachvollziehbar) und naiven Wissens-Elementen aus einem gemeinsamen Wissensbestand der Gesellschaft, in den auch Erklärungsmuster des Theoriebereichs unreflektiert übernommen werden. In den anschließenden Kapiteln soll nachgewiesen werden, daß im HeimatBegriff des Alltagsbereichs neben den benannten räumlichen, sozialen und emotionalen Elementen verschiedenen Heimat-Merkmale relevant sind, die im Theoriebereich kulturell überformt wurden und von dort in den Alltagsbereich zurückwirken.
336
PLESSNER 1991, S. 66.
337
zit. nach GÖRLITZ, A./PRÄTORIUS, R. (Hrsg.): Handbuch Politikwissenschaft. Grundlagen - Forschungsstand - Perspektiven, Reinbek 1987, S. 452. 338
SZCZEPANSKI, in: HAMMERICH/KLEIN (Hrsg.) 1978, S. 320 f.
3. Der institutionelle Heimatbegriff im Bereich des Rechts
Aus evolutionstheoretischer Perspektive ist die Institutionalisierung eines allgemeinverbindlichen Wertsystems erforderlich, welches durch ein Gefüge von konkreten Rechtsgrundsätzen ausgestaltet werden muß. "Angesichts der Weltoffenheit und Instinktbildung des Menschen ist es durch nichts gewährleistet, daß ein gemeinsames Handeln überhaupt zustande kommt [...]. Gerade in diese Lücke tritt ja die Institution, sie steht an der Stelle des fehlenden automatischen Zusammenhangs zwischen Menschen, und gerade sie verselbständigen sich zur Sollgeltung."1 Die bindende Kraft des Rechts läßt sich letztlich dadurch erklären, "daß der Mensch, soweit er ein vernünftiges Wesen ist, gezwungen ist, zu glauben, daß Ordnung und nicht Chaos das bestimmende Prinzip der Welt ist, in der er zu leben hat".2 Das Recht konnte sich im Verlauf einer immer differenzierteren Aufgliederung der modernen Gesellschaft als eigenständiger Bereich etablieren, der nach besonderen Prinzipien organisiert und damit für den Bürger zunehmend unüberschaubar wurde. Gegenwärtig ist der institutionelle Bereich des Rechts allenfalls für Spezialisten voll überschaubar, gleichzeitig ist jedoch jedermannn davon betroffen. Bis in höchst persönliche Beziehungen des alltäglichen Lebens greift das Recht ein, indem es immer mehr Verhältnisse gesetzlich regelt; zudem engen bürokratische Eingriffe den Bewegungsspielraum der Bürger ein.3 Auf diese Weise durchdringt das Recht mittels Verrechtlichung von früher informell geregelten Bereichen immer tiefer die Lebenswelt des einzelnen. In den kritischen Theorien von Jürgen Habermas wird dieser Prozeß der Verrechtlichgung der Lebenswelt (und der Prozeß der Politisierung der Lebenswelt) als "Kolonialisierung der Lebenswelt" bezeichnet und auf eine "Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis" zurückgeführt. 4
3.1. Anmerkungen zum Verhältnis von Sprache und Recht Grundsätzlich wird das Verhältnis von Sprache und Recht durch den allgemein anerkannten Satz bestimmt, "daß Recht notwendigerweise an Sprache gebunden
1
GEHLEN, Α.: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 178.
2
BERBER, F.: Lehrbuch des Völkerrechts, Bd 1. Allgemeines Friedensrecht, München 1975, S. 38. 3 vgl. BEYME, K.v./CZEMPIEL, E.O./KIELMANSEGG, P./SCHMOOK, P.: Politikwissenschaft. Eine Grundlegung, Bd. 2: Der demokratische Verfassungsstaat, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, S. 70 ff. 4
HABERMAS 1981, Bd. 2, S. 566.
97 ist". 5 Der Zusammenhang zwischen Sprache und Recht ist vom Mittelalter bis in die Neuzeit nicht mehr aus den Augen verloren worden. Savigny hat in seiner Grundlegung der juristischen Methoden die philologische Methode als eine der vier juristischen Arbeitsmethoden klassifiziert. Umgekehrt kommt auch dem Recht innerhalb der Sprache besondere Bedeutung zu. Der Rechtsbereich ist ein Teilbereich innerhalb des funktional-zweckhaften Kommunikationsbereichs der Institutionen. Institutionelle Sprache 6 * verwirklicht sich im Rahmen der verschiedenen Organisationsformen (z.B. Parteien, Verbände, Gesetzgebungskörperschaften, Gerichte); * beruht auf der integrativen Inbezugsetzung der institutionellen Komplexe Recht, Verwaltung, Politik (und Wirtschaft) als Institutionen im engeren Sinne; * vereinigt eigenständige normierte fachliche Semantiken und Wortschätze mit nicht-normiertem Wortschatz; * ist gekennzeichnet durch die sprachlichen Maximen der Sprachrichtigkeit und Kürze; * steht in engster Verbindung zum Alltag des einzelnen; * wirkt kühl und distanziert u.a. durch das Fehlen einer sozialen Beziehungsebene, wie sie in der alltäglichen Kommunikation besteht (dort werden die Partner als Subjekte einbezogen und auf ihr Wertsystem sowie ihre Gefühls- und Interessenlage hin individuell angesprochen). Institutionelle Begriffe * sind eindeutig im Gegensatz zu mehrdeutigen Alltagswörtern auf eindeutigen Gebrauch hin stabilisierte denotative Kunstwörter; * sind gewöhnlich hoch differenziert/zweckrational systematisiert; * haben kleinere, genauer festgelegte Bedeutungsumfänge und feste Stellenwerte im System; * sollen Würde vermitteln und Zweckmäßigkeit/Effizienz erreichen. Der institutionelle Bereich Recht * gestaltet die gesellschaftlichen Werte als konkrete Rechtssatzungen aus; * überwacht ihre Einhaltung; * arbeitet nach der Maxime, Wertvorgaben möglichst in objektive Rechtssätze zu fassen. Sein wichtigstes konstitutives Merkmal ist die Verfahrensfestigkeit: eine schwindende Verbindlichkeit von inhaltlichen Wahrheiten und Werten ("Legitimationskrise") wird ersetzt durch die institutionelle Feststellung von Wahrheiten mittels gesetzlicher Verfahren (Luhmann).
5 KÖBLER, G.: Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte, in: Besch et al. 1984, Erster Halbband, S. 56-70, hier S. 56. 6
Die folgenden Merkmale des institutionellen Bereichs orientieren sich an STEGER 1989 b, Sp. 125 ff.
98 3.2. Die Bedeutungsverknüpfung von Heimat mit Besitz, Haus und Hof Wie bereits im Kapitel über die Etymologie des Heimat-Begriffs dargelegt, verweist die gemeingermanische Wurzel *haima auf den substantivischen Gebrauch von "Heim" im Sinne von Besitztum oder Aufenthaltsort einer Stammes, einer Gemeinde oder eines einzelnen. 7 Die Bedeutungskomponente "Besitz" steht im Zusammenhang mit einem rechtlichen Zuständigkeitsraum und wird mit dem Begriff "Haus" und "Hof" ausgedrückt. In deutschen Wörterbüchern finden sich Dokumente, die diesen Sachverhalt bestätigen: "Der Heimatbegriff beschränkte sich in germanischer Zeit auf das väterliche Erbgut. In diesem Sinne erscheint got. die mit haims gebildete Zusammensetzung haimQfli." 8 "In Bayern und in der Schweiz ist Heimat ferner 'das Heimathaus, der väterliche H o f : 'Dar jüngst Sun kriegt s Haamet'; ' S o einen schönen Hof, wie unsere Heimat ist'. Ja es wird allgemein zu 'Haus und Hof, Besitztum' und bildet da auch einen Plural (bair. haimater, Schweiz, hemeta, heimatli): 'Ich bin nicht aufgewachsen da heroben, aber ich geh'so hart fort von dem Heimatl'." 9 In einem historischen Wörterbuch für Mittelalter und Neuzeit werden die Begriffe "Hof" und "Heimat" unter einem Artikel abgehandelt: "Hof = Bauernstelle, Gut, Hauptgut, [ . . . ] Hofgut, auch hausendes Recht, Heimat, Heimgut, [ . . . ] wesentliche Wohnung." 1 0 Dies ist durchaus einleuchtend, da Heimat etymologisch auf ahd. heimoti "Gut, Anwesen", zurückgeht. Das Grimmsche Deutsche Wörterbuch nennt neben "Heimatland" und "Heimatort" "das elterliche Haus und Besitztum" als engsten Begriff der Heimat. Auch das "Heimfall(s)recht" regelt Besitzansprüche. Die Zusammensetzung "Heimfall" ist ein rechtlicher Begriff und bedeutet, daß "einem durch Todesfall ein Genuß oder Eigentum wieder zufällt". 11 In Bluntschli's Staatswörterbuch von 1860 heißt es: "Das Völkerrecht versteht unter dem Heimfallsrecht ein angebliches Recht der Obrigkeit, den Nachlaß eines im Lande gestorbenen Fremden zu konfisciren. [ . . . ] Weder dem griechischen, noch dem römischen Alterthum ist das Heimfallsrecht unbekannt gewesen. [ . . . ] Im Laufe des Mittelalters legt sich bald der Staat, bald die Obrigkeit des Ortes, wo der Sterbefall erfolgte, das Heimfallsrecht bei." 1 2 Im Staats-Lexikon von Rotteck/Welcker aus
7 In diesem letztgenannten Punkt sind die zentralen Bedeutungskomponenten des aktuellen alltäglichen Heimat-Begriffs - ein bestimmter Ort (territorial) und eine menschliche Gemeinschaft (sozial) enthalten. 8
TRÜBNERs Deutsches Wörterbuch 1939, S. 387 s.v. "Heimat".
9
TRÜBNERs Deutsches Wörterbuch 1939, S. 388 s.v. "Heimat".
HABERKERN, E./WALLACH, J.F.: HUfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. Berlin 1964, S. 285 s.v."Hof'. 10
11
WENIG, Ch. 5. Aufl. 1870, S. 345 s.v. "Heimat".
BLUNTSCHLI, J.C./BRATER, K.: Deutsches Staats-Wörterbuch, Stuttgart/ Leipzig, Bd. 5, 1860, S. 86 ff. s.v. "Heimfallsrecht"; LÖNING (Hrsg.): Bluntschli's Staatswörterbuch in drei Bänden, Zürich 1871, Bd. 2, S. 218-221, s.v. "Heimfallsrecht". 12
99 dem Jahre 1862 findet sich unter dem Eintrag "Heimfall" lediglich ein Verweis auf den Artikel "Lehenswesen", in dessen Kontext "Heimfall" offensichtlich gehört. 13 Rechtsgeschichtlich betrachtet ist der Terminus "Heimfall" zu definieren als: "Recht, den erblosen Nachlaß Verstorbener einzuziehen, insbesondere im Lehnsrecht, wenn nach dem Tode des Vasallen keine Erbberechtigten vorhanden waren." 1 4 In der Gegenwart ist "Heimfallrecht" (oder Anfallrecht) im Privatrecht geregelt. Es umfaßt "die Verpflichtung des Nutzungsberechtigten, die Sache unter bestimmten Voraussetzungen auf den Eigentümer zurückzuübertragen; [...] wenn weder Ehegatte noch Verwandte des Erblassers vorhanden sind (Paragraph 1936 BGB) und dieser keine gültigen letztwilligen Verfügungen getroffen hat". 15 "Heimfall" bedeutet Zufallen von Besitz. Ein konkreter Heimat-Begriff, der an den Besitz von Haus und Hof gebunden ist, äußert sich im Schwäbischen: "Der Älteste kriegt die Heimat" heißt es und den Hochzeitstag dieses Ältesten, mit dem er meist den Hof übernahm, charakterisierte man durch den Ausspruch, daß an diesem Tag die Geschwister "ihre Heimat zur Leiche gingen". 16 Im Bayrischen kann man sich "eine Haimat eintuen" 17 , d.h. ein Anwesen durch Kauf an sich bringen. In Süddeutschen Mundarten bezeichnet "Heimat" bis ins 20 Jh. hinein das väterliche Erbe (Grundbesitz). Den Aspekt des väterlichen Hof-Erbes beinhaltet heute das "Höferecht" bzw. die "Höfeordnung" vom 26.7.1976 (BGBl. I 1933), die das nationalsozialistische Erbhofrecht abgelöst hat. "Die Höfeordnung bezweckt die Erhaltung der Einheit des Hofes dadurch, daß dieser abweichend von der gesetzlichen Erbfolge auf einen von mehreren Miterben übergeht. Bei land- und forstwirtschaftlich genutzten Betrieben mit mindestens 20.000 DM Wirtschaftswert fällt der Hof dem vom Erblasser bestimmten Hoferben zu, gegen den die Miterben einen Ausgleichsanspruch in Geld haben." 1 8 Der historische Terminus "Heimat" = väterliches Erbgut/Besitztum/Haus/Hof, wird heute in dieser Form nicht mehr im institutionellen Sprachgebrauch des Rechts verwendet, sondern der ehemalige Begriffsinhalt "Heimat" reduziert sich auf den juristischen Ausdruck "Erbhof". In der Alltagssprache hingegen hat sich die Bedeutungsverknüpfung - Heimat/Haus/Hof/Besitz - bis in die Gegenwart erhalten. Daß "Haus" und "Erbhof" früher den gesamten Besitz meinten, dokumentiert die bis heute gebräuchliche Redensart: "Er hat Haus und Hof verspielt/vertrun-
13
ROTTECK, K.v./WELCKER, K. (Hrsg.): Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Staende, Bd. 7, 3. Aufl. Leipzig 1862, S. 684. 14
BROCKHAUS Enzyklopädie, Bd. 9, 1989, S. 622.
15
BROCKHAUS Enzyklopädie, Bd. 9, 1989, S. 622 f.
16
FISCHER, H.: Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1911, Bd. 3, Sp. 1364.
17
SCHMELLER, J.A.: Bayerisches Wörterbuch, Aalen 1966 (Neudruck der Ausgabe von München 1872) Bd. 1, Sp. 1108. 18
MODEL, O./CREIFELDS, C.: Staatsbürger-Taschenbuch, 17. Aufl. München 1978, S. 788.
100 ken".19 Auch im Schweizerdeutschen war die Gleichsetzung von "Besitz", "Haus" und "Hof" lange üblich, beispielsweise schreibt Gotthelf: "Das neue Heimat kostet ihn wohl 10.000 Gulden".20 Ebenso schwingt in dem Volkslied "Im schönsten Wiesengrunde", das 1851 vom damals 33jährigen Oberamtsrichter Wilhelm Ganzhorn verfaßt wurde, die Bedeutungsverknüpfung von "Haus" und "Heimat" mit: "Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus."21 Im Begriff des "Hauses", der synonym zu "Heimat" verwendet wurde, verbindet sich die Bedeutungskomponente "Besitz" mit räumlichen und sozialen Bedeutungselementen. Mit dem Seßhaftwerden des Menschen nach der neolithischen Revolution "wurde das Haus eine der Grundformen bewußter Lebensgestaltung". Es förderte die Ortsgebundenheit, gewährte Sicherheit sowie Abgrenzung gegenüber allem Fremden und "trug zur Bildung und Festigung einer kleineren Gemeinschaft bei".22 Im Mittelalter umfaßte der Begriff des Hauses "nicht nur die Familie im engeren Sinne, sondern auch die Dienstboten". Dies gilt sowohl für den Typus der "großen Hausfamilie" mittelalterlicher Städte als auch für die "alten patriarchalisch geordneten Sippen" auf dem Lande.23 Bis heute werden das Familienoberhaupt bzw. die Hausfrau oder Gastgeberin als "Herr des Hauses"/"Dame des Hauses" bezeichnet. Auch der synonyme Gebrauch von Haus und Heimat ist bis in die Gegenwart zu dokumentieren: "[...] nach einer langen Reise kehrte er gern wieder nach Haus[e] (in seine[n] Heimat/ort) zurück".24 "Haus" und "Hof" gehören zu den Rechtswörtern, die zwar auch in anderen Zusammenhängen gebraucht werden, aber in rechtlicher Beziehung einen besonderen Sinn haben.25 Die präzise Rechts- und Eigentumsbedeutung, die den synonym gebrauchten Begriffen "Haus", "Hof" und "Heimat" in den vergangenen Jahrhunderten zukam, ist je nach Benutzerintention noch in der aktuellen Verwendung im Alltagsbereich nachzuweisen.
19
MEYERs Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 31, 1980, S. 1160.
20
GOTTHELF, J.: Erlebnisse eines Schuldnerbauerns, Berlin 1954, S. 19.
21
Differenziertere Analysen dieses Volksliedes finden sich bei BAUSINGER, H.: Heimat und Identität, in: Köstlin, K./Bausinger, H. (Hrsg): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur (Volkskunde - Kongreß in Kiel 1979), Neumünster 1980, S. 12; ders. in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 95; JEGGLE in: Vorgänge, S. 60. 22
vgl. BROCKHAUS Enzyklopädie Bd. 9, 1989, S. 535.
23
GUTJAHR-LÖSER/HORNUNG, 2. Aufl. 1985, S. 159.
24
zit. nach MEYERs Enzykl. Lex., Bd. 31, 1980, S. 1160.
25
vgl. KÖBLER, in: BESCH et al. 1984 Bd. 1, S. 57.
101 3.3. Das "historische" Heimatrecht Bis ins 19. Jh. hinein äußert sich der rechtliche Charakter von "Heimat" in den einzelnen Heimatrechten. 26 Dabei handelt es sich stets um individuelle Rechte, die in dem Rechten-Pflichten-Kanon zwischen dem Zuständigkeitsraum und dem Individuum verankert sind. Das Heimatrecht entwickelt sich im 16. Jh. "Heimat" ist Garant für die existentielle Sicherheit des Menschen. "Heimat ist armenrechtliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde. Was sie vor anderer armenrechtlicher Kommunalangehörigkeit auszeichnet, ist nicht die Art ihres Erwerbs und Verlustes, sondern ihr Inhalt. [...] Wesentliches Merkmal des Heimat-Begriffes ist die Verbindung armenrechtlicher Unterstützungsanwartschaft gegenüber einer Ortsgemeinde mit mehr oder minder unentziehbarem Wohnrechte in derselben." 27 - Eine "verbale Ableitung erscheint in dem Amtswort 'beheimatet', 'heimatberechtigt'." 28 - Gewährung von Unterstützung und Wohnsitz durch die Gemeinde sind also die Eckpfeiler des Heimatrechts. Es beruht auf dem Grundgedanken, daß der Gemeindeangehörige durch wirtschaftliche Tätigkeit seiner Heimat nützlich sei, wofür er als Gegenleistung bei Alter, Krankheit oder sonstiger Hilflosigkeit auf die Hilfe der Gemeinde rechnen dürfe. Heimat sichert lebenslanges Aufenthaltsrecht, Armenpflege im Bedarfsfalle und die letzte Ruhestätte zu. Das Heimatrecht wird erworben durch Geburt, durch Verheiratung oder durch die Aufnahme in die Gemeinde. Da mit ihm erhebliche rechtliche Vorteile verbunden sind, liegt es nahe, seinen Erwerb an strenge Voraussetzungen zu knüpfen und diese Rechte dem Fremden vorzuenthalten. 29 In einem staatswissenschaftlichen Handwörterbuch von 1923 heißt es in einem Artikel zum "Älteren Heimatrecht": "Die Heimat verdankt ihre Entstehung der im 16. Jh. allenthalben erfolgenden Einführung einer Verpflichtung der politischen oder Kirchengemeinde zur Unterstützung 'ihrer' Armen und dem damit verbundenen Gebot, fremde Bettler des Ortes zu verweisen. Den Kreis der Unterstützungsanwärter näher zu bestimmen, unterließ die Gesetzgebung zunächst." 30 Nach Beginn der Reformation werden auf der gesamtstaatlichen Ebene des älteren Deutschen Reiches in den Jahren 1530, 1548 und 1577 "Policeyordnungen" zur Regelung und Einschränkung der Bettelei erlassen. Die Ordnung von 1577 erneuert "sub titulo XXVII Paragraph 1" einen bereits 1497 auf dem königlichen Tag zu Lindau verabschiedeten Passus und bestimmt: "item, daß eine jede Stadt und Kommune ihre Armen selbst
26
vgl. HANDWÖRTERBUCH der STAATSWISSENSCHAFTEN, 2. gänzl. umgearb. Aufl. Jena 1898-1901, s.v. "Heimat". 27 ELSTER, L./WEBER, A./WIESER, F. (Hrsg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. Bd. 5. 1923, S. 214 s.v. "Heimat". 28
TRÜBNERs Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, 1939, S. 388, s.v. "Heimat".
29
vgl. FISCHER, R.: Fachlexikon sozialer Arbeit, hrsg. v. Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1986, S. 398. 30
ELSTER/WEBER/WIESER, Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 214.
102 ernehre und unterhalte". 31 "Ihre" Armen sind aber für jede Gemeinde oder jedes Kirchenspiel nicht alle "daselbst sich aufhaltenden, sondern nur die dem Orte zugehörenden, die in einem dauernden Verhältnis zu ihm Stehenden, für die Gemeinde also die Bürger und Beisassen, welche letztere durch einfaches, später qualifiziertes Domozil die Gemeindemitgliedschaft erwarben". 3 2 Bei dem Kompositum "Heimbürge" handelt es sich um einen historischen Rechtsbegriff. Ein "Heimbürge" ist "der Kämmerer oder auch zuweilen der Syndikus eines Dorfes, der Dorfrichter, Gemeindevorsteher [oder] eine obrigkeitliche Person, welche die Feldstreitigkeiten untersucht und entscheiden muß [oder] ein Gerichtsbote." 3 3 Auch dieser Terminus steht im Zusammenhang mit dem historischen Heimatrecht, in dem "die Heimat" ein Synonym für "Heimatrecht" ist und die rechtliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde umfaßt. Die Heimat ist der Raum der Zuständigkeit, der Raum, der dem Heimatangehörigen, selbst wenn er verarmt ist, Schutz gewähren muß. Durch Heimatangehörigkeit erwirbt man - (durch Geburt, Heirat oder Einkauf) - Heimatrecht. Dem Heimatrecht als einer gemeindlich oder territorial definierten rechtlichen Zuständigkeit entspricht Einordnung und Verbleib in einem Lebens- und Traditionsgefüge bei Strafe von Außenseitertum (oder Ausstoßung). Hierin ist auch die Kehrseite des Heimatrechts enthalten, die sich beispielsweise im sogenannten "Landsbrauch", der bis 1804 im Bregenzerwald Anwendung findet, dokumentiert. Danach darf sich niemand außer Landes begeben, insbesondere nicht an unkatholische Orte, was zwangsläufig ein reduziertes, verengtes Leben mit sich bringt. Der einzelne ist vor allem durch die Gemeinschaft und ihre rituell erstarrten Erwartungen definiert. Die Autobiographie Franz Michael Felders beschreibt diesen Tatbestand: "Und den, welcher draußen in der Welt sein Brot oder einen weiteren Wirkungskreis finden wollte, den hielten damals gewöhnlich seine treuen Verwandten und die ganze Gemeinde an Leib und Seele für verloren. Bestand doch bis zum Jahre 1804 [...] in unserer freien Landesgesetzgebung, dem sog. Landsbrauch [...] die Bestimmung, daß niemand sich außer Landes, besonders an unkatholische Orte, begebe [...] Über die Berge hinaus durfte also ein sogenannter unruhiger Kopf kaum denken, wie viel zu eng es ihm auch im Tale der Bregenzerach werden mochte. "M Das historische Heimatrecht bezieht sich auf die einzelnen Gemeinden, es begründet einen Versorgungsanspruch und wirkt als Ausschlußprinzip. Heimat wird rechtlich zunächst meist in seiner eindeutigen Negation als "heimatlos" gebraucht und dieser Begriff taucht auch häufig in alten Gerichtsberichten auf. 3 5 Im rechtlichen Sinne heimatlos ist der, "dem keine Gemeinde
31
zit. nach BAUSINGER in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 118.
32
ELSTER/WEBER/WIESER, Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 214.
33
WENIG, 5. Aufl. 1870, S. 345 s.v. "Heimat".
34
FELDER, Franz Michael: Aus meinem Leben (geschrieben um 1868/69), Bregenz 1974, zit. nach Themenheft der Zeitschr. VORGÄNGE, 47/48 (1980) S. 134 f. 35
vgl. BAUSINGER in: KÖSTLIN 1980, S. 11.
103 Unterkunft und Armenpflege zu geben braucht". 36 Besitzlosigkeit kann zur Aufenthaltsverweigerung und folglich zur Heimatlosigkeit führen. Heimatlos ist also eine präzise Bestimmung, ein Synonym für besitzlos. Auch der Freiherr vom Stein benutzt "heimatlos" und "besitzlos" als bedeutungsgleiche Begriffe. Im Jahre 1831 spricht er im westfälischen Provinziallandtag von der Gefahr, "die aus dem Wachstum der Zahl und der Ansprüche der untersten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft entsteht, die aus dem heimatlosen, eigentumslosen Pöbel besteht; sie nährt und hegt in sich den Neid, die Habsucht". 37 Die Worte des Freiherren unterstreichen den eindeutig negativen Gebrauch von "heimatlos" im Gegensatz zu "Heimat". Dort wird "heimatlos" synonym gebraucht mit "eigentumslos". Diese beiden Attribute bestimmen das Substantiv "Pöbel". Im weiteren Verlauf dieses Satzes wird die Klasse der "Heimatlosen" ( = Pöbel) in Verbindung gebracht mit den negativ anmutenden Nomina "Neid" und "Habsucht". "Das Heimatrecht", so plädiert Stein, "könne nur jemand erwerben, der zum ersten bescheidene Kapitalien aufbringe, zum zweiten Atteste über seine Moralität vorweisen könne und zum dritten in der Lage sei, zu lesen, zu schreiben, bis zur Regel de tri einschließlich zu rechnen und einen einfachen deutschen Aufsatz zu machen". 38 Im Zusammenhang mit der wachsenden Mobilität infolge der einsetzenden Industrialisierung äußert der Freiherr vom Stein: "So ist denn [...] sowohl unter den Landleuten als unter den Städtern eine ganz neue, bis dahin unbekannte Klasse entstanden, nämlich die der Heimatlosen - oder mit einem neumodischen, der Fremdheit wegen angenehmeren Namen, die Proletarier." 39 Vor allem die Großgrundbesitzer wollen die sich verstärkende Landflucht durch gesetzliche Maßnahmen eindämmen. Friedrich August Ludwig von der Marwitz, ein Repräsentant des preußischen Junkertums, fordert: "Jeder, der seinen Ort verläßt müßte an dem Ort, wo er Dienst oder Niederlassung sucht, mit Entrichtung einer Abgabe anfangen. Wer zu Hause bleibt, bezahlt nichts." 40 Das historische Heimatrecht entspricht den Prinzipien einer stationären Gesellschaft, an deren Rändern die Zahl der Heimatlosen ständig wächst. Bis zur Mitte des 19. Jh. vollziehen sich zwei unterschiedliche Entwicklungen: Zum einen eine Erweiterung des Heimatrechts in Süd- und Mitteldeutschland, ebenso in Österreich. Zum anderen eine Beseitigung des Heimatrechts in Preu-
36
HEYNE, 2. Aufl. Bd. 2, S. 103 s.v. "Heimat".
37
zit. nach BAUSINGER, in: KÖSTLIN 1980, S. 12.
38
zit. nach JENS, W.: Nachdenken über Heimat, in: BIENEK, H. (Hrsg.): Heimat Neue Erkundung eines alten Themas, München/Wien 1985, S. 14-27, hier S. 15. 39
STEIN, Freiherr vom: Über die unterste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, in: JANTKE, O./HILGER, D. (Hrsg.): Die Eigentumslosen, Freiburg/München 1965, S. 133. 40 von der MARWITZ, Friedrich August Ludwig: "Von der Schrankenlosigkeit" (Denkschrift von 1836), in: JANTKE/HILGER (Hrsg.) 1965, S. 139.
104 ßen, ebenso in England, Belgien, Dänemark.41 Für das Jahr 1723 wird im österreichischen Gebiet ein bezeichnender Satz angeführt: "[...] daß alle bettler [...] in ir heimath oder herrschaft [...] sich begeben."42 Die Erweiterung des Heimatrechts in südlichen Regionen erklärt, warum sich die stark rechtliche Interpretation des Heimat-Begriffs in Bayern, Österreich und vor allem in der Schweiz noch länger hält als beispielsweise in Norddeutschland. "In Österreich wurde das Heimatrecht am 30.6.1939 aufgehoben. Gesetzliche Bestimmungen knüpfen heute an den ordentlichen Wohnsitz eines Staatsbürgers in einer Gemeinde an. - Die Schweiz kennt neben dem Schweizerbürgerrecht das kantonale Heimatrecht und das Gemeindebürgerrecht. Jeder Kantonsbürger ist Schweizer Bürger."43 Noch heute kennt "der alemannische Montafoner nur das 'Heemat'(a schö's Heematli), der Oberösterreicher das 'Hoamatl' als Bezeichnung des elterlichen oder eigenen Anwesens".44 In einer württembergischen Gemeindeverordnung aus dem ersten Drittel des 19. Jh. heißt es: Heimatrecht gewährt "die Befugnis, in der Gemeinde sich häuslich niederzulassen und unter den gesetzlichen Bestimmungen sein Gewerbe zu treiben, so wie im Falle der Dürftigkeit den Anspruch auf Unterstützung aus den örtlichen Kassen".45 Preußen reagiert auf die zunehmende Mobilität seiner "Staatsbürger" mit der Loslösung des Wohn- und Armenversorgungsrechts von der Herkunftsgemeinde. Das Prinzip der Freizügigkeit gilt schon nach Verordnungen des 17. Jh. als "weise Staatsverwaltungsmaxime", aus der sich das Wohnrecht am jeweiligen Ort ableitete. Die Unterstützungspflicht der Wohnsitzgemeinde wird bereits im "Allgmeinen Landrecht für die Preußischen Staaten" von 1794 begründet. In der 2. Hälfte des 19. Jh. setzt sich das Prinzip des "Unterstützungswohnsitzes" durch und ersetzt in Preußen formal das Heimatrecht.46 Gesetzlich verankert wird das Freizügigkeitsprinzip am 31.12.1842 durch das preußische "Gesetz über die Aufnahme neuanziehender Personen in einen Gemeinde- oder Gutsbezirk" und das "Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege", in dem die Unterstützungspflicht der Wohnsitzgemeinde angewendet 41
Durch die Entstehung und das zahlenmäßige Anwachsen neuer sozialer Klassen wurde das Heimatrecht auf Unterstützung und Wohnen um weitere Rechte ergänzt: um das Recht zum Grundstückserwerb, zum Gewerbebetrieb, zur Teilnahme an Stiftungen und an öffentlichen Anstalten, das Recht der Verehelichung in der Gemeinde, das Recht zum erleichterten Erwerb der Vollbürgerschaft und die Ausgestaltung des Wohnrechts zu einem unentziehbaren Recht. (BAUER, R.: Über das falsche Versprechen von Heimat, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 116-132, hier S. 119). 42 DEUTSCHES RECHTSWÖRTERBUCH. Wörterbuch der ältesten deutschen Rechtssprache. Bd. I ff. Weimar 1914 ff. von 1953-1960, S. 588. 43
BROCKHAUS Enzyklopädie Bd. 9 1989, S. 612 s.v. Heimatrecht.
44
BEITL, R./ERICH, O.A. (Begründer): Wörterbuch der deutschen Volkskunde, 3. Aufl. Stuttgart 1974, S. 344 s.v. "Heimat". 45
Gesetz über das Gemeinde-, Bürger- und Besitzrecht 1828 und 1833. Vgl. REYSCHER, A.L. (Hrsg.): Sammlung der württembergischen Gesetze, 15. Band, 2. Abteilung, Tübingen 1847, S. 1064. 46
vgl. BAUSINGER, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 94 und 120.
105 wird auf jeden, der "nach erlangter Großjährigkeit während der drei letzten Jahre vor dem Zeitpunkte, wo seine Hilfsbedürftigkeit eintritt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat", sofern zur Fürsorge "kein anderer verpflichtet und vermögend ist". 47 Der preußische Rechtszustand dient als Vorbild der Gesetzgebung im Norddeutschen Bund (ab 1866) und wird ab 1870 schrittweise vom Deutschen Reich übernommen. In Bayern behält das alte Heimatrecht bis 1919 seine Gültigkeit. Ein staatswissenschaftliches Wörterbuch aus dem Jahre 1923 kommentiert das "Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6./VI. 1870 mit der "Vernichtung des Heimat-Begriffes in Deutschland: "In der zweiten Hälfte des 19. Jh. verliert das Heimatrecht [...] im Deutschen Reiche zunächst mit Ausnahme von Bayern seine Existenz." 48 Innerstaatliche Freizügigkeit, sowie Auswanderungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Aufhebung des Zunftzwanges und der Kampf um die Bauernbefreiung dokumentieren eine charakteristische Entwicklung des 19. Jh., die auf eine Lockerung der Bindungen an die angestammte Region abzielen und die richtigerweise mit dem Kampf um Freiheit von der Heimat zu bezeichnen wäre, vorausgesetzt man definiert "Heimat" aus dem Begriffsverständnis der damaligen Zeit heraus als bindenden rechtlichen Zuständigkeitsraum. Historisch gesehen besteht sowohl im Lehensrecht des Mittelalters als auch im Absolutismus der Neuzeit ein Abhängigkeitsverhältnis der Bevölkerung von der Grundherrschaft. Verständlicherweise zielen daher die Bestrebungen seit der Aufklärung auf mehr Freiheiten auch bezüglich der Wahl eines Aufenthaltsortes. 49 Da bei jedem Gebietserwerb die Übernahme der Wohnbevölkerung eine Selbstverständlichkeit ist, wird jahrhundertelang das Recht auf Heimat, welches sich in der Verbindung zwischen Raum und Mensch äußert, nicht problematisiert. 50
3.4. Das Recht auf Heimat im 20. Jahrhundert Erst im 20. Jh. wird der Komplex "Recht auf Heimat" durch Erscheinungen der Vertreibung und Zwangsumsiedlung zum Gegenstand völkerrechtlicher, rechtspolitischer und staatsrechtlicher Diskussionen. Durch die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung des 19. Jh. kommt es zur Zerschlagung von Vielvölkerstaaten, zur Staatenzersplitterung und zur Staatengründung. Dies wiederum führt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Zwangsumsiedlungen großen Aus-
47
zit. nach BAUSINGER, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 120.
48
ELSTER/WEBER/WIESER (Hrsg.) Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 215.
49
vgl. KUNST, H./GRUNDMANN, S. (Begründer), HERZOG, R./KUNST, H./ SCHLAICH, K./SCHNEEMELCHER, W.: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. in 2 Bänden, Stuttgart 1987, Bd. 1, S. 1251. 50
KIMMINICH, O.: Heimat, in: SEIDL-HOHENVELDERN, I. (Hrsg.): Lexikon des Rechts. Völkerrecht, Neuwied/Darmstadt 1985, S. 118.
106 maßes.51 Insbesondere seit Beendigung des 2. Weltkrieges gibt die Zwangsvertreibung von etwa fünfzehn Millionen Volks- und Reichsdeutschen aus den Ostgebieten Anlaß zur Forderung, dem "Recht auf Heimat" international Geltung zu verschaffen. Dieses Vorhaben erweist sich jedoch in vielerlei Hinsicht als problematisch. Schon die juristische Begriffspräzision bereitet Schwierigkeiten, da es sich weder bei der Zusammensetzung "Recht auf Heimat" noch bei dem Begriff "Heimat" selbst um juristisch aussagekräftige Termini der aktuellen Rechtssprache handelt. Der Ausdruck "Recht auf Heimat" ist nicht präzise, weil er nicht das Recht auf irgendeine, sondern auf die angestammte Heimat umschreiben soll und daher als "Recht auf die Heimat" zu verstehen ist. Zudem wird nicht immer deutlich genug unterschieden, ob "Recht auf Heimat" als Teil des objektiven Staats- oder Völkerrechts oder als subjektives Recht eines Individuums oder eines Kollektivs verstanden wird. Juristische Aussagen lassen sich daher nur treffen, wenn die Völker- oder staatsrechtlich üblichen Begriffe wie " Selbstbestimmungsrecht", " Diskr iminierungsverbot ", " Vertreibungsverbot ", "Wohn- und Aufenthaltsrecht", "Ausbürgerungsverbot" oder "Rückkehrrecht verwendet werden, die allerdings nur bestimmte Erscheinungsformen des "Rechts auf Heimat" umfassen.52
3.4.1. Das Recht auf Heimat in völkerrechtlicher Sicht Das Recht auf Heimat konnte bisher nicht im Völkerrecht verankert werden. Die völkerrechtliche Praxis hat eine Rechtsnorm des Inhalts, daß jeder Mensch ein Recht auf Verbleib an einem bestimmten Aufenthaltsort besitzt, noch nicht anerkannt.53 Innerhalb Internationaler Organisationen finden sich zwar Ansätze von denen sich die Geltendmachung und Wahrung eines Rechts auf Heimat ableiten läßt, diese können aber nicht als Wiedergabe des geltenden Völkergewohnheitsrechts angesehen werden. Die von der Generalversammlung der UNO am 10.12.1948 angenommene Allgemeine Erklärung ("Deklaration") der Menschenrechte ist eine bloße Empfehlung der Generalversammlung und hat keinen Normcharakter. "Die Mitgliedstaaten der UNO sind durch die Annahme der Erklärung nicht einmal rechtlich verpflichtet, deren Grundsätze in ihrem innerstaatlichen Recht zu verwirklichen. Die Resolution enthält also lediglich programmatische Verheißungen." In der Deklaration wird der Begriff der Menschenrechte sehr weit gefaßt. "Sie versteht darunter nicht nur die klassischen
51 Hier sind insbesondere der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch von 1923, die von Hitler mit Italien, Estland, Lettland, Rumänien und Ungarn abgeschlossenen Umsiedlungsverträge, die die Rückführung von Volksdeutschen bezweckten, und die im Hinblick auf die Aufteilung Polens geschlossenen deutsch-sowjetischen Verträge zu erwähnen. (KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1251 f.). 52 53
vgl. KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1251.
vgl. SEIDL-HOHENVELDERN, I.: Völkerrecht, 6. Aufl. Köln/Berlin/Bonn/ München 1987, S. 329; vgl. KIMMINICH, in: SEIDL-HOHENVELDERN (Hrsg.) 1985, S. 118.
107 politischen Menschenrechte, sondern auch soziale Menschenrechte." 54 Bedeutsam im Zusammenhang mit dem Recht auf Heimat sind folgende Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO: Art. 9 untersagt die willkürliche Landesverweisung; Art. 13 sichert jedem neben der Freizügigkeit das Recht, jedes beliebige Land zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren; Art. 15 erkennt das Recht aller Menschen auf ihre Staatsangehörigkeit an und verbietet deren willkürliche Entziehung. 55 Die UNO-Pakte vom 19.12.1966 schützen die sozialen bzw. politischen Menschenrechte. 56 Art. 49 Abs. 1 des Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 (Genfer Konvention) enthält ein klares Deportationsverbot der Zivilbevölkerung aus besetzten Gebieten. 57 Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls vom 16. Sept. 1963 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet Kollektivausweisung von Ausländern; Art. 3 dieser völkerrechtlichen Vereinbarung bestimmt: "(1) Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme ausgewiesen werden. (2) Niemand darf das Recht entzogen werden, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen dessen Staatsangehöriger er ist." 58 Verdross/Simma kommentieren den Art. 3: "Auf diese Weise wird das Recht jedes Menschen, in seiner Heimat zu bleiben oder in diese zurückzukehren, anerkannt. "59 Darin ist eine eindeutige Gleichsetzung der Begriffe Heimat und Staat zu erkennen. Georg Dahm, der die völkerrechtlich gesicherte Existenz eines Rechtes auf Heimat bejaht, betont den territorialen Aspekt der Heimat als Siedlungs- und Kulturraum und verweist auf die Bindung von Heimat an ein konkretes Stück Erde: "Es ist ein [...] Grundsatz des Sittengesetzes [...], daß der Bestand, die biologische, kulturelle, geschichtliche Existenz des Volkes respektiert werden muß. Die Vertreibung aus dem Siedlungs- und Kulturraum verletzt das Volk in seiner Substanz und stellt schon deshalb eine Verletzung des Völkerrechts dar. [...] Die Verbindung mit Heimat und Boden ist ein Teil des menschlichen Wesens, [...] Wenn man überhaupt eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Respektierung der Menschenrechte annehmen will, so stellt gerade auch die zwangsweise Entfernung aus der Heimat eine Verletzung des Völkerrechts dar." 60 In den Regeln des internationalen Menschenrechtsschutzes, des Selbstbestimmungsrechts und des humanitären Völkerrechts wird das Recht auf Heimat in
54
SEIDL-HOHENVELDERN 6. Aufl. 1987, S. 198.
55
vgl. KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1252.
56
SEIDL-HOHENVELDERN, 6. Aufl. 1987, S. 198.
57
vgl. Staatslexikon hrsg. v. der GÖRRES-Gesellschaft, Bd. 2, 1986, S. 1237.
58
zit. nach VERDROSS, A./SIMMA, B.: Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. Berlin 1984, S. 794. 59
VERDROSS/SIMMA, 3. Aufl. 1984, S. 794.
60
DAHM, G.: Völkerrecht Bd. 1, Stuttgart 1958, S. 410.
108 herkömmlicher Sicht als Umsiedlungsverbot interpretiert. Dahinter wird ein Heimat-Begriff sichtbar, der vorwiegend territorial determiniert ist. Aber nur wenn man Heimat auch als eine nationale, ethische, sprachliche oder gesellschaftliche Zugehörigkeit begreift, kann der Heimat-Begriff dem "Recht auf Heimat" einen sinnvollen Inhalt verleihen.
3.4.2. Das Recht auf Heimat in rechtspolitischer Sicht Unabhängig von der völkerrechtlichen oder staatsrechtlichen Argumentation wird das Recht auf Heimat rechtspolitisch begriffen und "unter Hinweis auf den naturrechtlichen Charakter als Forderung auf positiv-rechtliche Anerkennung durch die Völkergemeinschaft geltend gemacht". 61 Der Deutsche Bundestag hat in einer Erklärung vom 14. Juli 1950 den "unveräußerlichen Anspruch des Menschen auf seine Heimat" festgestellt. 62 Wenn auch der Terminus "Recht auf Heimat" nicht definiert sondern nur schlagwortartig benutzt wird, steht hinter dieser Erklärung die Forderung auf die Rückkehr in ein angestammtes Territorium. Die Verbände der Heimatvertriebenen versuchen ihre politische Forderung unangreifbar zu machen, indem sie sie in eine Rechtsposition umdefinieren, die naturrechtlich und religiös begründet ist. Das Naturrecht gründet auf der Annahme einer gemeinsamen und allgemeinmenschlichen Natur, auf deren Basis sich übereinstimmende Rechtsvorstellungen der verschiedenen Völker entwickeln konnten. Ein in seiner Wurzel einheitliches normatives Bewußtsein der Menschheit stellt den Erkenntnisgrund des Naturrechts dar. "Eine Positivierung des Naturrechts bilden die übereinstimmenden Rechtsgrundsätze der Völker." 6 3 So konnte auch die international übereinstim-
61
KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1251.
62
vgl. KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1255.
63
VERDROSS, Α.: Völkerrecht, 5. Aufl. Wien 1964, S. 12. Die Idee einer universellen Rechtsordnung schimmert aber schon bei HESIOD, dem Begründer der abendländischen Rechtsphilosophie durch, da er das Recht als allgemeinmenschliche Ordnung gegenüber der Ordnung der unvernünftigen Natur abgegrenzt hat. Dieser Gedanke wurde dann von der stoischen Philosophie, vor allem von CICERO ausgebaut, in dessen Werken die Idee einer universellen Rechtsordnung, die im ewigen Gesetz (lex aeterna) wurzelt, klar ausgesprochen wird. An diese Lehre knüpft die christliche Rechtsphilosophie an. Sie übernimmt vor allem den Begriff der lex aeterna, die AUGUSTINUS als einen Ausdruck der ordnenden Weisheit Gottes betrachtet. Ihr Abbild im menschlichen Bewußtsein bildet die lex naturalis. Aus dem Naturrecht geht schließlich das positive Recht als dritte Rechtsstufe in doppelter Weise hervor: Einmal dadurch, daß die Menschen aus dem Naturrecht bestimmte Konklusionen ableiten. Die andere Bildung des positiven Rechts erfolgt in der Weise, daß ein naturrechtlicher Grundsatz durch den Gesetzgeber näher bestimmt wird. Das Naturrecht muß durch das positive Recht ergänzt werden. Indem das positive Recht an der Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in hervorragender Weise mitwirkt, dient es dem Frieden. Es besteht eine unlösliche Verknüpfiing von Recht und Frieden.
109 mende Deklaration der Menschenrechte angenommen werden, in der jedoch das Recht auf Heimat nicht ausdrücklich benannt oder als Menschenrecht definiert wird. In der von den Vertriebenenverbänden am 5. August 1950 gemeinsam formulierten "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" wird die Forderung, das Recht auf die Heimat als ein Grundrecht der Menschheit anzuerkennen und zu verwirklichen, postuliert: "Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird." 64 Auf dem ersten deutschen Bundeskongreß der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften am 1. Juli 1951 in Frankfurt a. Main begründet auch Rudolf Laun das Recht auf die Heimat mit religiösen und naturrechtlichen Vorstellungen: "Einer der heiligsten Werte, die der Mensch auf dieser Erde hat, ist die Heimat. [...] Sobald die Heimat nicht bloß Jagd- und Weidegebiet ist, wie bei Nomaden, sondern die Scholle durch den Schweiß der Väter bearbeitet ist und geistige Werte mit ihr verknüpft sind, kann sich die Liebe zur Heimat auch in der Ferne durch viele Gererationen, ja viele Jahrhunderte erhalten, und je höher ein Volk geistig stand, als es die Heimat verlor, desto unvergeßlicher wird sie ihm bleiben [...] Der erdrückenden Mehrheit aller Menschen ist eine alte angestammte Heimat ihres Volkes [...] etwas Heiliges." 65 Ebenso versucht der evangelische Theologe Walter Künneth das Recht auf die Heimat mit naturrechtlich religiösen Argumenten zu rechtfertigen: "[Der] Verzicht auf das im Sinn unserer Darlegung begründete Heimatrecht wäre gleichbedeutend mit Untreue gegenüber dem Vermächtnis Gottes [...] Untreue gegen den Heimatanspruch ist daher immer auch Untreue am Menschen, mehr: ist Untreue an der Völkerwelt J j »66 Es ließen sich noch zahlreiche "naturrechtlichen" Argumentationen dieser Art anfügen. Darauf kann jedoch verzichtet werden, da die Fülle von HeimatSchriften aus dem Umkreis von Vertriebenen-Verbänden allesamt auf die gleichen semantischen Aspekte abzielen - (Verlust des angestammten Territoriums) und meist eine religiöse Überhöhung des Heimat-Begriffs beinhalten, welche nicht durch eine allgemein anerkannte völkerrechtliche Gesetzesgrundlage zu stützen ist; daher sind solche Schrifen auch nicht eindeutig dem Rechtsbereich zuzuordnen.
(VERDROSS, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 13 f.). 64 zit. nach: JACOBSEN, H.-A. (Hrsg.): MLBtrauische Nachbarn. Deutsche Ostpolitik 1919-1970. Dokumente und Analysen, Bonn 1970, S. 233. 65
LAUN, R.: Das Recht auf die Heimat, in: RABL, K. (Hrsg.): Das Recht auf die Heimat. Zweite Fachtagung, Bd. 2, München 1959, S. 95-118, hier S. 95 ff. 66 KÜNNETH, W. in: RABL, K. (Hrsg.): Das Recht auf die Heimat, München 1959, S. 24 ff.
110 Abschließend zum Terminus "Recht auf Heimat" in rechtspolitischer Sicht noch ein Zitat von Heinz-Dietrich Wendland (ehemaliger Direktor des Instituts für christliche Gesellschaftswissenschaften), der die Vertriebenenproblematik treffend zusammenfaßt: "Aus dem Recht auf Heimat kann nicht mit zwingender Logik das Recht auf die alte Heimat abgeleitet werden. Ich kann als Christ auf geschichtlich positive Rechtstitel verweisen, ich kann auch als Christ widerfahrenes Unrecht aufdecken, beklagen und anklagen, aber ich kann nicht im Namen Gottes [...] ein absolutes Recht auf die alte Heimat verkünden."67
3.4.3. Das Recht auf Heimat in staatsrechtlicher Sicht In staatsrechtlicher Sicht bedeutet das Recht auf Heimat den gegen den eigenen Staat gerichteten Anspruch, nicht aus dem engeren oder weiteren Bezirk der Heimat vertrieben und im Falle der Abwesenheit dort wieder aufgenommen zu werden.68 Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg bekennt sich als einzige Länderverfassung ausdrücklich zu einem "Menschenrecht auf Heimat". Art. 2 bestimmt in Abs. 1 die Grundrechte des Grundgesetzes als Bestandteil und unmittelbar geltendes Recht der Baden-Württembergischen Landesverfassung. In Abs. 2 heißt es: "Das Volk von Baden-Württemberg bekennt sich darüber hinaus zu dem unveräußerlichen Menschenrecht auf die Heimat. " In den Grundrechtsteil des Grundgesetzes wurde das Recht auf Heimat nicht aufgenommen. Art. 11 GG, der die Freizügigkeit aller Deutschen im ganzen Bundesgebiet garantiert (Art. 11 Abs. 1 GG) beinhaltet durch Gewährleistung von Wohn- und Aufenthaltsrecht des Staatsangehörigen im eigenen Staatsgebiet den staatsrechtlichen Aspekt eines Rechts auf Heimat. Es besteht staatsrechtlich keine Notwendigkeit, den Begriff "Heimat" geographische abzugrenzen. Da sich die Freizügigkeit auf die Zugfreiheit von Bundesland zu Bundesland, von Gemeinde zu Gemeinde und innerhalb der Gemeinde erstreckt, umfaßt sie auch das Recht, in jeder dieser größeren oder kleineren Regionen als "Heimat" zu bleiben.69 Die Funktionen des historischen Heimatrechts erfüllt heute neben dem Art. 11 GG, der Art. 33 Abs. 1 GG, der die Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten garantiert. In inhaltlich enger Verbindung zum "Recht auf Heimat" steht auch der Art. 16 GG, der die Unzulässigkeit von Zwangsausbürgerungen Deutscher bestimmt: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird" (Art. 16 Abs.l GG).
67 WENDLAND, H.-D., zit. nach SCHWAB-FELISCH, H.: Das Flüchtlingsproblem, in: RICHTER, H.-W. (Hrsg.): Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz, München/Basel 1962, S. 116. 68
vgl. KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1250.
69
vgl. KUNST/GRUNDMANN, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, S. 1254 f.
Ill 3.5. Der Heimat-Begriff in bundesdeutschen Gesetzesvorschriften Einen theoretischen Zusammenhang zum Komplex "Recht auf Heimat" stellt der Begriff der "Heimatvertriebenen" her. Zur Regelung der Rechtsstellung und Eingliederung der Vertriebenen wurde das Bundesvertriebenengesetz vom 19.5.1953 (BGBl. I 201) - BVFG - erlassen.70 Deutsche Volkszugehörigkeit wird dort definiert als ein Merkmal, das sich aus dem umfassenden Bekenntnis zum deutsche Volkstum in der alten Heimat bestimmt. Ergänzende Untermerkmale sind Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur. Bemerkenswert bei dem BVFG ist die juristische Unterscheidung zwischen Vertriebenen, Heimatvertriebenen und Flüchtlingen ("Sowjetzonenflüchtlinge"). Es enthält in Abschnitt I die Begriffsbestimmung für die drei anerkannten Gruppen von Vertriebenen und Flüchtlingen: * Vertriebener ist insbesondere, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in Gebieten außerhalb des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstand vom 31.12.1937 im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere Ausweisung oder Flucht, verloren hat (Paragraph 1 BVFG); * Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der am 31.12.1937 oder vorher seinen Wohnsitz im Gebeit des Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist (Paragraph 2 BVFG); * Sowjetzonenflüchtling ist ein deutscher Staatsangehörigrer oder Volkszugehöriger, welcher in der sowjetischen Besatzungszone oder in Ostberlin seinen Wohnsitz hatte und von dort geflüchtet ist [...] (Paragraph 3 BVFG). Rogge weist darauf hin, daß der deutsche Rechtsterminus "Vertriebene" (i.w.S.) sich, gleichsam als fortlaufender Protest gegen das Unrecht der Vertreibung, auch an die internationale Öffentlichkeit wendet. Im Begriff des "Heimatvertriebenen" werde das Unrecht der Vertreibung mitgedacht, wodurch dem Ausdruck eine andere Würde gegeben sei als der Bezeichnung "Flüchtling".71 Folglich sind die Begriffe "Heimatvertriebener", "Vertriebener" und "Flüchtling" keineswegs synonym zu gebrauchen. Der Begriff "Heimkehrer" meint Kriegsheimkehrer, die "innerhalb militärischer oder militärähnlicher Verbände auf deutscher Seite gekämpft haben; ferner Deutsche, die wegen ihrer Staats- oder Volkszugehörigkeit oder anläßlich der
70 "Die Sorge für die Vertriebenen und Flüchtlinge war zunächst Aufgabe der Länder, was sehr unterschiedliche gesetzliche Regelungen zur Folge hatte. Erst nach Inkrafttreten des GG, das in Art. 74 Nr. 6 die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zuweist, konnten bundeseinheitliche Vorschriften erlassen werden." (MODEL/CREIFELDS, 17. Aufl. 1978, S. 709). 71
vgl. ROGGE, H.: Vertreibung und Eingliederung im Spiegel des Rechts, in: LEMBERG, E./EDDING, F. (Hrsg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, 3 Bde. Kiel 1959, Bd. 1, S. 190.
112 Kriegsereignisse außerhalb der BRep. interniert oder verschleppt waren". 7 2 Um den jahrelang von Familie und Arbeitsstätte getrennt gewesenen Heimkehrern das Wiederhineinfinden in das Arbeits- und Wirtschaftsleben zu erleichtern, erging das Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz) vom 19.6.1950 (BGBl. 221). Sowohl beim Terminus "Heimat"-Vertriebener als auch bei dem des "Heim"kehrers ist die juristische Bedeutung durch den räumlichen Aspekt eines bestimmten Territoriums determiniert und wird durch "Wohnsitz" ausgedrückt. Im Differenzierungsverbot des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 3 GG) wird "Heimat" ausdrücklich benannt: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden" (Art. 3 Abs. 3 GG). In diesem Zusammenhang interpretieren Kommentatoren des Verfassungsrechts die Heimat als "die örtliche (räumliche) Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit". 73 Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung. Der Heimat-Begriff findet sich hierbei nicht im Wortlaut des Gesetzes, sondern in der Interpretation desselben durch das Bundesverfassungsgericht wieder. Die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung in der heutigen Zeit wird vom Bundesverfassungsgericht wie folgt hervorgehoben: "Kommunale Selbstverwaltung - wie sie heute verstanden wird - bedeutet ihrem Wesen und ihrer Intention nach Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die in der örtlichen Gemeinschaft lebendigen Kräfte des Volkes zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren." 7 4 Im Sachverzeichnis des Bürgerlichen Gesetzbuches findet sich das Stichwort "Heimatlose". Im Wortlaut des entsprechenden Paragraphen steht jedoch der Begriff "Staatenlose". Hieraus ist zu folgern, daß in dieser gesetzlichen Vorschrift Heimat und Staat synonym gebraucht werden. Im Artikel 29 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es wörtlich: "Staatenlose. Soweit die Gesetze des Staates, dem eine Person angehört, für maßgebend erklärt sind, werden die Rechtsverhältnisse einer staatenlosen Person nach den Gesetzen des Staates beurteilt, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat" (Art. 29 EGBGB). Wie diese Beispiel deutlich gezeigt hat, wird in den meisten Gesetzestexten und juristischen Verlautbarungen der Begriff "Heimat" durch den präzisen Rechtsterminus "Staat" ersetzt oder zumindest konkretisiert in dem Kompositum "Heimatstaat". Beispielsweise führt Ignatz von Seidl-Hohenveldern in seinem Völkerrecht im Zusammenhang mit der Bindung an einen Staat zur Personalho-
72
MODEL/CREIFELDS, 17. Aufl. 1978, S. 708.
73
ν.MANGOLDT/KLEIN: Das Bonner GG 1966, S. 210, zit. nach SEIDL-HOHENVELDERN (Hrsg.) 1985, S. 118. 74 zit. nach HAASE, R./KELLER, R.: Grundlagen und Grundformen des Rechts, 6. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 208.
113 heitdes Heimatstaates aus: "Der Staatsangehörige ist nach innerstaatlichem Recht verpflichtet, auch außerhalb des Staatsgebiets die Befehlsgewalt des Heimatstaates zu beachten. Diese persönliche Bindung an den Heimatstaat, die im Inland wie im Ausland wirkt, bezeichnet man als Personalhoheit des Heimatstaates. Andererseits hat der Staatsangehörige in seinem Heimatstaat gewisse Rechte, die dessen sonstige Bewohner in der Regel nicht besitzen. "75 Oder Michael Schweizer kommentiert in seinem Staatsrecht die Position des Einzelmenschen als Völkerrechtssubjekt: In den meisten Bereichen kann der einzelne seine Rechte "nur über seinen Heimatstaat" geltend machen; "eine Verletzung der Rechte eines Menschen stellt - völkerrechtlich gesehen - eine Verletzung der Rechte seines Heimatstaates dar, und es bleibt diesem überlassen, ob er sie geltend macht. Der einzelne hat allenfalls aufgrund von innerstaatlichem Recht einen Anspruch auf Tätigwerden seines Heimatstaates." 76 Auch der Begriff "Nation", der im politischen Bereich ein häufig gebrauchtes Synonym für "Heimat" ist, wird im juristischen Sprachgebrauch durch die Definition von "Staatsvolk" inhaltlich miterfaßt. Die rechtlich-institutionelle Terminologie der Bundesrepublik Deutschland ist von der "Gleichsetzung Nation = Sprach- und Kulturgemeinschaft abgerückt" (BVerfGE 36, 19) und umfaßt "nicht mehr alle Gebiete der Germanophonie (z.B. nicht mehr die der deutschsprachigen Kantone der Schweiz, Österreich, Liechtenstein), sondern nur mehr das Staatsvolk der Bundesrepublik". 77 Die Bevölkerung des Staates Bundesrepublik Deutschland bildet die "Deutsche Nation". Das Volk ist aber nur eines von drei Erfordernissen des Staates. "Ein Staat i.S.d. Völkerrechts liegt dann vor, wenn eine menschliche Gemeinschaft ( = Staatsvolk) volle Selbstregierung ( = Staatsgewalt) über ein Gebiet ( = Staatsgebiet) effektiv ausübt". 78 Zwei von den für einen juristischen Staatsbegriff erforderlichen Voraussetzungen - die menschliche Gemeinschaft und das Gebiet - sollen in ihrer aktuellen juristischen Bedeutung definiert und zu ihrem historischen Ursprung zurückverfolgt werden, um die in zentralen Punkten vorhandene inhaltliche Übereinstimmung der Begriffe "Heimat" und "Staat" anhand der Parallelität ihrer konstitutiven Elemente zu dokumentieren. "Unter Staatsvolk versteht man die Gesamtheit der physischen Staatsangehörigen. Ihre Staatsangehörigkeit ergibt sich aus der staatlichen Verleihung." 79 Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit richten sich nach dem
75
SEIDL-HOHENVELDERN, 6. Aufl. 1987, S. 263 f.
76
SCHWEITZER, M.: Staatsrecht III. Staatsrecht, Völkerrecht, Heidelberg 1986, S. 147. 77
SEIDL-HOHENVELDERN, 6. Aufl. 1987, S. 263.
78
SCHWEITZER
79
SCHWEITZER 1986, S. 149.
1986, S. 149.
Europarecht,
114 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 191380, das trotz vieler Änderungen auch heute noch gilt. Ursprünglich unterschied dieses Gesetz "zwischen der Reichsangehörigkeit einerseits und der diese Reichsangehörigkeit vermittelnden Staatsangehörigkeit der Bundesstaaten - seit der Weimarer Reichsverfassung der deutschen Länder - andererseits. Durch Paragraph 1 der Verordnung vom 5.2.1934 wurde diese Landesstaatsangehörigkeit beseitigt; zugleich trat an die Stelle der Reichsangehörigkeit die 'deutsche Staatsangehörigkeit'."81 Historisch rückblickend betrachtet ersetzte der Terminus "Reich" oftmals den Begriff "Staat" oder beide Wörter wurden ergänzend benutzt. Die Frage der deutschen Staatsangehörigkeit regelt das Grundgesetz in den Artikeln 16 und 116: "Nach Art. 16 Abs. 1 GG darf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden. Eine Ausbürgerung durch Verwaltungsakt oder ein 'Maßnahmegesetz' ist demnach von Verfassungs wegen verboten."82 Ob Art. 116 Abs. 1 GG eine völkerrechtlich relevante Aussage über den Umfang der deutschen Staatsangehörigkeit enthält, ist umstritten. "Zwar unterscheidet Art. 116 Abs. 1 GG vom Wortlaut her zwischen deutschen Staatsangehörigen und sog. Statusdeutschen ( = wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat), so daß man davon ausgehen muß, daß Statusdeutscher nur sein kann, wer nicht deutscher Staatsangehöriger ist."83 Zur Staatsangehörigkeit hat das BVerfG ausgeführt: "Art. 16 GG geht davon aus, daß die 'deutsche Staatsangehörigkeit', die auch in Art. 116 Abs. 1 GG in Bezug genommen ist, zugleich die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist. Deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Bürger der Bundesrepublik Deutschland." (BVerfGE 36, S. 1 ff., 30).
80 Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz kennt vier Gründe für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit: * die Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen; * die Legitimation durch einen Deutschen; * die Adoption eines minderjährigen Kindes durch einen Deutschen; * die Einbürgerung eines Ausländers oder eines Staatenlosen; und folgende Verlustgründe: * die Entlassung auf Antrag; * der Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf Antrag durch einen deutschen Staatsangehörigen; * der Verzicht eines deutschen Staatsangehörigen im Falle mehrfacher Staatsangehörigkeiten; * die Adoption durch einen Ausländer, wenn damit der Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit verbunden ist. (vgl. GEIGER, R.: Grundgesetz und Völkerrecht - Die Bezüge des Staatsrechts zum Völkerrecht und Europarecht, München 1985, S. 277 f; vgl. SCHWEITZER 1986, S. 155). 81
GEIGER 1985, S. 272.
82
GEIGER 1985, S. 277.
83
SCHWEITZER 1986, S. 153.
115 Aus der Staatsangehörigkeit ergeben sich Rechte und Pflichten, genauso wie aus der "Heimat" ( = Zugehörigkeit zu einer Gemeinde) des historischen Heimatrechts. Mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit gehört der Erwerber (Staatsbürger) zum Schutzverband des Heimatstaates. "Unter Staatsgebiet versteht man den Raum, der unter der territorialen Souveränität des Staates steht, d.h. der dem freien Verfügungsrecht des Staates unterliegt."84 Zur Abgrenzung des Staatsgebietes unterscheidet das Völkerrecht zwischen den verschiedenen Räumen: Landgebiet, Küstenmeer und Luftgebiet. Das Grundgesetz bezieht sich an verschiedenen Stellen auf das deutsche Staatsgebiet, wobei die Begriffe * Deutschland: (Art. 23 Satz 2, Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG), * Reich: (Art. 134, Art. 135a GG), * Deutsches Reich: (Art. 116 Abs. 1 GG) * Bundesgebiet: (Art. 11 Abs. 1, Art. 25 Satz 2, Art. 29 Abs. 1 Satz 1, Art. 115a GG), * [Gebiete der] Länder: (Präambel Abs. 3, Art. 23 Satz 1, Art. 144 GG) verwendet werden. Historisch betrachtet ist es zweifellos eine Tatsache, daß es keinen Staat ohne ihn konstituierende Menschen gibt. Das soziale Element einer menschlichen Gemeinschaft ist obligatorische Voraussetzung für die Existenz eines Staates, wobei die Regierungsform, in der diese Menschen staatlich organisiert sind, gleichgültig ist. "Das deutsche Staatsleben hat sich in einer mehr als tausendjährigen Entwicklung aus germanischen Wurzeln geformt. Die älteren Staatsformen beruhten weniger auf einer staatsrechtlichen Organisation neuerer Prägung als vielmehr auf einem Personalverband mit beschränkten zentralen Funktionen und starker Selbstverwaltung. [...] Erst mit zunehmender Seßhaftigkeit kam zu dem Personalverband das Staatsgebiet hinzu."85 Das Erfordernis eines Gebietes für die Existenz eines Staates ist von Theoretikern erst seit etwa zweihundert Jahren aufgestellt worden.86 Vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (962-1806) über den Deutschen Bund (1815-1866), den Norddeutschen Bund (1866-1870), das Deutsche Kaiserreich (1871-1918), die Weimarer Republik (1919-1933), das Dritte Reich (1933-1945), bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, waren alle staatlichen Gebilde geprägt von territorialen Gebietsansprüchen, -Veränderungen, -erwerbungen, -Verlusten.
Resümierend kann man feststellen, daß das gemeinschaftlich-soziale Element "Staatsvolk" dem Element "Gemeinschaft" des Heimat-Begriffs entspricht und das räumliche Element "(Staats-) Gebiet" mit dem Element "Territorium" des Heimat-Begriffs zu vergleichen ist. Daraus läßt sich die Ersetzung des ideolo-
84
"Von der territorialen Souveränität ist zu unterscheiden die Gebietshoheit, d.h. die tatsächliche Ausübung der staaüichen Hoheitsgewalt in einem Gebiet. In der Regel fallen territoriale Souveränität und Gebietshoheit zusammen, in besonderen Fällen können sie aber durch verschiedene Staaten ausgeübt werden." (SCHWEITZER 1986, S. 156). 85
MODEL/CREIFELDS, 17. Aufl. 1978, S.23.
86
vgl. BERBER 1975, S. 118.
116 gisch mißbrauchten Heimat-Begriffs durch den exakt zu definierenden Begriff Staat im institutionellen Bereich des Rechts erklären. Die vielschichtigen Begriffsinhalte von Heimat müssen für den juristischen Gebrauch reduziert und konkretisiert werden.
3.6. Zusammenfassende Bemerkungen zum juristischen Heimat-Begriff Der institutionelle Heimat-Begriff ist als historisch konkreter Rechtsbegriff zu bezeichnen. Heimat war Synonym für Besitz (väterliches Erbe) Haus und Hof. Diese Bedeutungskomponente ist bis in die Gegenwart im Sprachgebrauch des Alltagsbereichs nachzuweisen. Ebenfalls ein Synonym für "die Heimat" war "Heimatrecht". Es umfaßte das Recht auf Wohnsitz und Unterstützung durch die Gemeinde. Durch die wachsende Freizügigkeit der Niederlassungen wurde das kleinräumliche Heimatbürgerrecht vom Staatsbürgerrecht abgelöst. Im Verlauf der Sozialgeschichte erfuhr der institutionelle Heimat-Begriff eine ständige Erweiterung, der zunächst auf den Lebensraum um das eigene Haus herum begrenzt war, sich dann auf die Lokalgemeinde bezog und im 20. Jh. auf das gesamte Staatsterritorium ausgedehnt wurde. In der Gegenwart gilt "Heimat" als juristisch nicht aussagekräftig; nur Komposita wie "Heimatstaat" und "Heimatgemeinde" sind konkrete Rechtsbegriffe. Auch bei dem Themenkomplex "Recht auf Heimat", der vor allem von den Vertriebenenverbänden weiterhin als aktuelle Rechtsfrage eingestuft wird, handelt es sich um keinen exakten Rechtsterminus. Im Vokabular der Vertriebenenverbände wird der Heimat-Begriff religiös überhöht, denn durch eine religiöse, naturrechtlich begründete Rechtsposition versucht man, einer politischen Forderung Nachdruck zu verleihen. Einzelne Tatbestände des Gesamtkomplexes lassen sich juristisch erfassen durch Begriffe wie "Selbstbestimmungsrecht", "Vertreibungsverbot", "Ausbürgerungsverbot", "Wohn- und Aufenthaltsrecht", Rückkehrrecht". Bedingt durch seine Bedeutungsvielfalt erweist sich der Heimat-Begriff als ungeeignet, im monosemierenden institutionellen Funktionsbereich als präziser Rechtsterminus zu fungieren. Der juristische Begriff "Staat" ist am besten geeignet, die zentralen Begriffsinhalte von "Heimat" zu erfassen. Die Bedeutungskomplexität von "Heimat" muß notwendigerweise reduziert werden. Die beiden wesentlichen inhaltlichen Elemente des Heimat-Begriffs - die Gemeinschaft ( = Volk) und das Gebiet ( = Territorium) - sind auch konstitutiv für den exakten Rechtsterminus "Staat".
4. Der Heimat-Begriff in der Politik
4.1. Zur Verflechtung von Politik und Sprache Unter "Bedeutungsbereich der Politik" werden im folgenden die vielfältigen Relationen und engen Verflechtungen verstanden, die zwischen Politik, Sprache und Gesellschaft bestehen. Zum Zusammenleben brauchen die Menschen das Kommunikationssystem Sprache, um unter den jeweiligen Lebensbedingungen ihre Bedürfnisse durch Zusammenarbeit besser befriedigen zu können. Aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben haben sich notwendig die Formen politischer Gemeinschaft entwikkelt. In der Moderne gliedert sich die Gesellschaft immer stärker auf. Auch die Politik etabliert sich als eigenständiger Bereich, der jedoch in zunehmendem Maße die Lebenswelt der Menschen (=Alltag der Bürger) durchdringt.1 Da die Politik immer mehr Menschen in immer weiteren Lebensbereichen betrifft, erweist es sich im Gegenzug als notwendig, die Gesellschaft politisch zu aktivieren. Somit stellt die Politisierung der Massen im wesentlichen eine neuzeitliche Entwicklung dar.2 In der "Ausformung des Verwaltungs- und Machtstaates der frühen Neuzeit" werden Strukturen grundgelegt, die sich zu politischen Problemen der modernen Gesellschaft entwickeln (z.B. Bürokratismus, Militarismus, Sozialdisziplinierung).3 Die Einheit einer Gesellschaft wird gewährleistet durch ein gemeinsames Wertsystem, aus dem sich gesellschaftliche Normen ergeben (Talcott Parsons).4 Sinnsetzung und Werte, welche die Gesellschaft entwickelt, werden in Demokratien durch die Politik gebündelt.5 Sie ordnet die menschlichen Beziehungen in einem Gemeinwesen durch ein "System von Regeln des gemeinsamen Umgangs".6
1
vgl. BEYME et al. Bd. 2, 1987, S. 70 ff.
2
vgl. KROCKOW, Ch. Graf v.: Der Begriff des Politischen. Überlegungen zur Fundamentalpolitisierung und zur politischen Kultur, in: KRAINER, J./MANTL, W. et al. (Hrsg.): Nachdenken über Politik. Jenseits des Alltags und diesseits der Utopie, Graz/ Wien/Köln 1985, S. 15-27, hier S. 17. 3
OESTREICH, G.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 6. 4
vgl. REDING 1972, S. 109.
5
vgl. STEGER 1989 b, Sp. 125 f.
6
ZÖLLNER, M.: Wissenschaft und politische Kultur. Zur Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Rolle der Wissenschaft, in: PAUS, A. (Hrsg.): Kultur als christlicher Auftrag heute, Kevelaer/Graz 1981, S. 72.
118 Griinert beschreibt die komplexen Beziehungen zwischen Sprache und Politik: 7 * Politik ist immer unlösbar mit Sprache verbunden; * Politik ist auf Sprache angewiesen, auf den Austausch von Signalen; * Politik wird durch/mit Sprache entworfen, vorbereitet, ausgelöst; * Politik wird von Sprache begleitet, beeinflußt, gesteuert, geregelt; * Politik wird durch Sprache beschrieben, erläutert, motiviert, gerechtfertigt, verantwortet, kontrolliert, kritisiert, be- und verurteilt. Der politische Sprachgebrauch folgt dem sich aus dem Pluralismus herausbildenden öffentlichen Bewußtsein. "Jeder der über Politik spricht, beteiligt sich an der politischen Auseinandersetzung im Felde der Sprache und wirkt mit seinem Verständnis politischer Begriffe ein auf den Prozeß ihrer inhaltlichen Stabilisierung oder Veränderung." 8 Dieckmann 9 wertet schon das Erlernen der Sprache als einen Vorgang der gesellschaftlichen Kontrolle: Das Individuum erwirbt im Lernprozeß Verhaltensmuster, "die von dem Normsystem der Gesellschaft bestimmt und in der Sprache abgelagert sind". Sprache macht die Realitäten des Lebens kommunizierbar und interpretiert zugleich die Wirklichkeit. Sprache erweist sich als Träger von gesellschaftlichen Normen und verbindet mit dem Wort bestimmte Wertvorstellungen und Gefühle dem Bezeichneten gegenüber. "Der Mensch lernt also nicht nur die begriffliche Bedeutung eines Wortes, sondern zugleich, wie das Bezeichnete zu beurteilen ist." 10 Gerade im Bereich der Politik spielen solche konventionell assoziierte Wertvorstellungen eine zentrale Rolle. "Nebensinn" und "Gefühlswert" 11 haften einem Begriff häufig so fest an, daß sie die schnellen Veränderungen in Politik und Gesellschaft und den langsam nachfolgenden Wandel des "begrifflichen Inhalts" zumindest in einem größeren Zeitraum unverändert überdauern und somit die einzige Kontinuität in der Entwicklung eines Begriffs darstellen. 12 Struck 13 spricht von "regulär an
7
GRÜNERT, H.: Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung, in: BESCH et al. Erster Halbband 1984, S. 29-38, hier S. 29; ders.: Politische Geschichte und Sprachgeschichte. Überlegungen zum Zusammenhang von Politik und Sprachgebrauch in Geschichte und Gegenwart, in: Sprache und Lit. in Wiss. und Unterricht 14, 1983, 2, S. 43-58, hier S. 43. 8 BERGSDORF, W.: Herrschaft und Sprache. Studien zur politischen Terminologie der BR Deutschland, Pfullingen 1983, S. 41. 9
DIECKMANN, W.: Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg, 2. Aufl. 1975; ders.: Politische Sprache, politische Kommunikation. Vorträge - Aufsätze - Entwürfe, Heidelberg 1981. 10
DIECKMANN 1981, S. 31.
11
Terminologie ERDMANN, K. O.: Die Bedeutung des Wortes. Aufsätze aus dem Grenzgebiet der Sprachpsychologie und Logik, 4. Aufl. Leipzig 1925, S. 107. 12
vgl. DEUTSCH, K. W.: Staat, Regierung, Politik, Freiburg 1976, S. 107; vgl. DIECKMANN, W.: Wortschatz und Wortgebrauch der politischen Werbung. Ein Beitrag zur Wortforschung am Beispiel der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert, Diss. Marburg 1964.
119 die Wertvorstellung gebundenen Begleitgefühlen", die den Gebrauch eines Begriffs in einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft beeinflussen. Von dem "regulären Begleitgefühl" unterscheidet Struck das "singulär bedeutungsgebende Begleitgefühl" das nur von einzelnen Individuum empfunden werden kann. Diesen rein subjektiven Gehalt meint auch Erdmann, wenn er von schwankenden und veränderlichen, "subjektiven Zutaten zu einer Vorstellung oder einem Begriff" spricht. 14 Diese sprachwissenschaftlichen Feststellungen haben ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Ein allgemeingültiger politischer Begriffsinhalt ist schwer zu bestimmen. Die Faktoren Zeit und Gesellschaftssystem müssen in die Betrachtung mit einbezogen werden, denn die politische Bedeutung eines Begriffs ist abhängig vom Standort des Betrachters. 15 Nicht nur unmittelbare Gegenstände politischer Macht und politischer Auseinandersetzung sind politische Begriffe, sondern jeder beliebige Begriff kann zu einem politischen Begriff werden. 16 Diese Tatsache ist auf den seit dem 18. Jh. stetig wachsenden Wortbedarf in der Politik zurückzuführen. Die Politik hat Wörter aus allen Sach- und Kulturbereichen in ihren Bereich gezogen und ihnen politische Bedeutungen beigefügt. 17 So läßt es sich auch erklären, daß "Heimat" auf den ersten Blick als unpolitischer Ausdruck erscheint, sich bei näherem Hinsehen jedoch als Begriff erweist, der im politischen Meinungsstreit verschiedene, teilweise gewichtige Bedeutungen gewinnt. Beispielsweise können Aufschlüsse über den Einfluß von Ideologien auf die Begriffsbedeutung gewonnen werden, indem man innerhalb zeitlich fest umgrenzter Kontexte den jeweils aktuellen politischen Inhalt von "Heimat" bestimmt. 18
4.2. Zum Auswahlprinzip des Quellenmaterials Als methodisch übergeordnetes Auswahlprinzip der Quellen erweist sich zunächst das einfache semantische Kriterium von Dieckmann, "ob das Bezeichnete in den Sachbereich der Politik fallt", als hilfreich. 19 Zur näheren Bestimmung wird ein Abgrenzungskriterium von Ischreyt hinzugenommen, das die Zugehörigkeit zum politischen Bereich von Ziel und Funktion der Aussage abhängig macht. 20 Aus
13
zit. nach DIECKMANN 1964, S. 38 f.
14
ERDMANN, 4. Aufl. 1925, S. 124 f.
15
vgl. DIECKMANN 1964, S. 32 f.
16
GÜNTHER, H.: Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historischpolitischen Welt, Frankfurt am Main 1979, S. 8. 17
vgl. DIECKMANN 1964, S. 84.
18
vgl. DIECKMANN 1964, S. 32 f.
19
DIECKMANN 1975 (hier zit. nach der Aufl. von 1969), S. 47.
20
ISCHREYT, H.: Gibt es eine politische Fachsprache?, in: Deutsche Studien 9 (1971), S. 249-260, hier S. 251 ff.; vgl. FLUCK, H.-R.: Fachsprachen, 4. Aufl. Tübin-
120 dieser ersten Bestimmung des Quellenmaterials ergibt sich eine Zuordnung zum Kapitel "Der Heimat-Begriff in der Politik" für den Fall, daß die Verwendungszusammenhänge des Begriffsfeldes "Heimat" politische Intentionen erkennen lassen. Die Vielschichtigkeit des bisher nur abstrakt verwendeten Begriffs "Politik" bringt es mit sich, daß von der Existenz einer einheitlichen Sprache der Politik nicht gesprochen werden kann. Eine Aufgliederung des Gesamtkomplexes "Sprache der Politik" scheint geboten. Angeregt durch die Systematisierungsvorschläge von * Dieckmann (politische Sprache der: Ideologien, Institutionen, Verwaltung); 21 * Schippan (politische Sprache der: Wissenschaften, Ideologien, Institutionen, Verwaltung); 22 * Ischreyt (politische Sprache der: Wissenschaften, Propaganda, Gesetzgebung und Verträge, Verwaltung und Organisation); 23 * Bergsdorf (politische Sprache der: Erziehung, Propaganda, Verhandlung, Gesetzgebung und Rechtsprechung, Verwaltung); 24 wird im vorliegenden Kapitel "Der Heimat-Begriff in der Politik" eine begrenzte Auswahl der von der Forschung benannten Teilgebiete behandelt. Das eingangs erwähnte semantische Kriterium von Dieckmann findet übergeordnet Anwendung. Die Kategorien Verwaltung, Organisation, Rechtsprechung werden in diesem Kapitel nicht berücksichtigt; sie sind dem Kapitel über die institutionelle Rechtssprache zuzuordnen. Im Politik-Kapitel werden Quellen berücksichtigt, die sich den Bereichen: politischer Gemeinschaft, politischer Ethik, politischer Kultur, politischer Wissenschaft zuordnen lassen. Der Bedeutungsbereich der Politik umfaßt hier die Kategorien: * inhaltliche Zugehörigkeit zur politischen Thematik; * öffentlicher Sprachgebrauch der politischen Praxis; * wissenschaftlicher Sprachgebrauch der politischen Theorie.
4.3. Wahl der Zeitausschnitte Als zeitlicher Einstieg wird das 19. Jh. gewählt, denn zu dieser Zeit gewinnt "Heimat" maßgebliche Bedeutung im politischen Bereich.
gen 1991, S. 76. 21
DIECKMANN, 2. Aufl. 1975, S. 50.
22
SCHIPPAN, Th.: Die Rolle der politischen und phil. Terminologie im Sprachgebrauch beider deutscher Staaten und ihre Beziehungen zum allgemeinen Wortschatz, in: Wiss. Zeitsch. d. Karl Marx Universität Leipzig, Ges. Sprachw. Reihe 17, 1968, S. 177183, hier S. 182. 23
ISCHREYT, H.: Gibt es eine politische Fachsprache?, in: Deutsche Studien 9 (1971), S. 249-260, hier S. 258 f. 24
BERGSDORF 1983, S. 34-39.
121 Im Laufe der politischen und sozialen Umwälzungen des 19. Jh. tritt "Heimat" als Eigenwert ins Bewußtsein und zwar dadurch, daß man den Begriffsinhalt als Wert thematisiert und in Frage stellt. Erst dieses Öffentlichmachen und zur Diskussion stellen schafft die Voraussetzung dafür, den Heimat-Begriff bewußt politisch einsetzen zu können. Wichtige Begriffe des politischen Bereichs der damaligen Zeit konnten an den Heimatbegriff gekoppelt werden.25 Als zentrale politische Begriffe des 19. Jh. etablieren sich "Volk" und "Nation". Für die deutsche "verspätete" Nation war dieses Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Im 19. Jh. ist "sozusagen das deutsche Volkstum ins Nationale eingemündet und hat die Politik bestimmt" ,26 Die schwerpunktmäßig im 19. Jh. festzumachende politische Verknüpfung von "Volk", "Nation" und "Heimat" hat sich derart verfestigt, daß bis heute "Heimat" im Zusammenhang mit Volk und Nation definiert wird und diese Verbindung auch auf die allgemeinverbindliche Begriffsdefinitionen sowie auf die Verwendung im Alltagsbereich durchgeschlagen ist: "Heimat" wird definiert als "subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit".27 Für das Politik-Kapitel werden solche Zeitausschnitte gewählt, in denen politische Schlüsselbegriffe wie "Staat", "Volk", "Gesellschaft" Parallel- oder Gegenbegriffe zu Heimat darstellen, bzw. Bedeutungskomponenten des vordergründig unpolitischen Ausdrucks Heimat auf zentrale politische Begriffe projeziert werden, wodurch Heimat mit politischen Inhalten gefüllt wird und dadurch politische Funktionen erhält.28
4.4. Der Heimat-Begriff des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende
4.4.1. Der bürgerlich-utopische Heimat-Begriff Im 19. Jh. bildet sich zunächst ein bürgerlicher, positiver, utopischer HeimatBegriff heraus. In der Jahrhundertmitte äußert sich dieses freundliche Bild in einer "Heimat", die mit "schöner Natur" in Verbindung gebracht wird (Zur Jahrhundertwende ist in diesem Bedeutungsbereich ein Wandel festzustellen;
25
vgl. BUCHWALD, K.: Heimat heute. Wege aus der Entfremdung, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 219-227, hier S. 219. 26 vgl. WALSER, M./KELTER, J.: Deutschländer oder Brauchen wir eine Nation. Ein Gespräch über Staaten, Nationen, Heimat und Literatur, in: ALLMENDE, Heft 15 (1986), S. 77-89, hier S. 79. 27 MEYERs Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 11, Mannheim/Wien/Zürich 1974, s.v. "Heimat". 28
vgl. MANTL, W.: Sprache und Politik. Politische Kommunikation und Kampf um Wörter, in: KRAINER/MANTL et al. (Hrsg.) 1985, S. 299-315, hier S. 305.
122 "Heimat" wird dann auf den ländlichen Lebensraum festgelegt). Durch die fortschreitende Industrialisierung, die dem Bürgertum immer mehr Einfluß streitig macht und die traditionellen Strukturen bedroht, wird der Heimat-Begriff mit utopischen Bedeutungselementen verbunden, um die Unsicherheiten des eigenen Lebens auszugleichen und die Annehmlichkeiten zu überhöhen. Bausinger 29 faßt diese Heimatfunktion unter den Begriff "Kompensationsraum". Er beschreibt Heimat als "ausgeglichene schöne Spazierwelt". Anhand des Beispiels von Wilhelm Ganzhorns Lied "Im schönsten Wiesengrunde", welches im Jahre 1851 entstand, analysiert Bausinger die Modellierung des Heimat-Begriffs repräsentativ für das 19. Jh. Er kommt zu dem Schluß, daß die politische Funktion dieses Liedes und somit auch des darin gebrauchten Heimat-Begriffs gerade in seiner unpolitischen Ausrichtung bestünde. Bausinger kategorisiert Heimat als "Besänftigungslandschaft, in der scheinbar die Spannungen der Wirklichkeit ausgeglichen sind" und darüberhinaus sei ein "politisches Beschwichtigungsangebot" mit dem Heimat-Begriff verbunden worden, um ein gemeinsames Vaterland, eine gemeinsame Nation zu beschwören.
4.4.2. Der politische Heimat-Begriff der Heimatbewegung Die Entstehung der Industriegesellschaft bringt tiefgreifende Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen mit sich. Drei Faktoren wirken sich in besonderem Maße auf die sogenannte Heimatbewegung aus, die in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreicht 30 : * die Zunahme geographischer und sozialer Mobilität; * der Niedergang der ländlichen Lebensform im Zuge der Verstädterung; * die Akzentverlagerung in den Produktionsbereichen (von der Landwirtschaft zu Industriearbeit). Durch innerdeutsche Mobilität (und durch Auswanderung) geht die individuelle Bindung an einen Ort verloren, was auch den Wortgebrauch von Heimat beeinflußt. Die alte, aus dem juristischen Bereich stammende Gleichsetzung von Heimat mit Haus und Hof bietet für weite Bevölkerungsteile keine Identifikationsmöglichkeit mehr. Da die gesicherte Zugehörigkeit der Menschen erschüttert wird, findet die Ideologisierung von "Heimat" besondere Resonanz. Die innenpolitische Krisensituation nach 1890 verstärkt die politische Umwertung des Heimat-Begriffs und dessen Vereinnahmung durch Bürgertum und Bauernstand, die Träger der Heimatbewegung sind. Aus der Stadtfeindlichkeit des Bürgertums, einer konstanten Erscheinung des 19. Jh., folgt logisch die Aufwertung des Landes, die eine ideologische Verherrlichung des Bauernstandes mit sich bringt. Auf diese Weise wird dem Heimat-Begriff ein spezifisch ländlicher Charakter zu eigen. Die Aufwertung des Bäuerlichen verstärkt sich im letzten
29
BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 212 f.; ders.: in KELTER (Hrsg.) 1986, S. 96. 30
vgl. "Heimatkunstbewegung" im Kapitel: Der Heimatbegriff in der sogenannten "Heimatliteratur", s.u.
123 Jahrzehnt des 19. Jh., als die Freihandelspolitik den preußischen Landadel wirtschaftliche und politische Einbußen befürchten läßt und er sich daraufhin organisiert ("Agrarier"), um Widerstand gegen diese neue Form der Wirtschaftspolitik zu leisten. 31 Eine weitere Funktion der Heimatbewegung besteht in ihrer Wendung gegen den Internationalismus, womit sie vor allem öffentlich Druck auf die Internationalisten der Arbeiterbewegung ausübt. 32 Dem zu Verunsicherungen führenden schnell fortschreitenden Wandel der Lebensbedingungen will die Heimatbewegung durch die bewahrenden, beharrenden Heimatwerte Traditionsund Gemeinschaftsbewußtsein kompensieren. Das praktisch-politische Ziel, Tradition und Gemeinschaft mit positiven Werten zu besetzen und zur vaterländischen Tugend zu erheben, wird durch den wissenschaftlichen Organismusgedanken untermauert.
4.4.3. Der nationalpolitisch-ideologische Heimat-Begriff In dem Organismusgedanken gilt die Tradition als historische Kontinuität und Gemeinschaft als "wunderbarer Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit" 33 , d.h. als ein harmonisch aufeinander abgestimmtes Funktionssystem von "Kopf" und "Einzelgliedern" mit dem Vorbild der patriarchalischen, in gegenseitiger Pflicht und Liebe aneinander gebundenen Familie. Politisch-pädagogisches Anliegen ist es, dem Volk durch Tradition und Gemeinschaftsbewußtsein ein bindendes, alle Gegensätze überwindendes Element zu schaffen. IntegrationsBegriff für diese volkserzieherische Absicht wird "Heimat". Wilhelm Heinrich Riehls nostalgische Forderung nach dem "sittlichen Verhältnis der Autorität und Pietät" 34 , nach patriarchalischen Abhängigkeitsverhältnissen ist Ausdruck seiner konservativen Ideologie und mündete in der praktischen Forderung nach "einer konservativen Sozialpolitik" 35 . Riehls "mit liebevoller Hingabe an Art und Sitte des Volkes unternommene Durchforschung der modernen Gesellschaftszustände" 36 erhebt den Bauern zum nationalen Tugendsymbol. Der Bauer als "noch nicht entarteter" Mensch, der relikthaft in einer patriarchalischen Ordnung lebt, ist für Riehl von "tiefster Bedeutung für die soziale Festigung des ganzen Volkes". 37
31 vgl. BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE, S. 213; vgl. ders. in KÖSTLIN 1980, S. 14; vgl. BERGMANN, K.: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970; vgl. KRAMER, D.: Die politische und ökonomische Funktionalisierung von "Heimat" im deutschen Imperialismus und Faschismus, in: Diskurs 6-7 (1973), S. 3-22. 32
vgl. BAUSINGER, in: KÖSTLIN 1980, S. 15.
33
RIEHL, W.H.: Volkskunde als Wissenschaft, in: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 205-229, hier S. 215. 34
RIEHL, W.H.: Die Familie, 10. Aufl. Stuttgart 1889 (1. Aufl. 1855), S. 156.
35
RIEHL, W.H.: Die bürgerliche Gesellschaft, 9. Aufl. Stuttgart 1897, S. 38.
36
RIEHL, 9. Aufl. 1897, S. 38.
37
RIEHL, 10. Aufl. 1889, S. 156.
124 An die nationalpolitisch engagierte ideologische Geisteswissenschaft Riehls können die national orientierte "Deutschtumswissenschaft" sowie "Heimatschutz" und "Heimatpflege" anknüpfen. In einer Ideologie, die verstärktes Heimatbewußtsein erreichen will, sollen die Ersatzwerte Heimatliebe, Heimattreue, Heimatglück zur Identifikation mit dem Vaterland führen. Das Volk soll zu Deutschen gebildet werden, nationale Haltung wird groß geschrieben. Sichtbare Zeichen des teilweise aggressiven Nationalismus sind "die großen nationalen Denkmäler, die als neue Kristallisationspunkte eines die partikularen Heimatgefühle überhöhenden und auffangenden Nationalgefühls entstanden". 38 Im Gründungsaufruf eines "Bundes Heimatschutz" von 1903 heißt es: "Heimatschutz fordern wir [...] Die Erhaltung deutscher Eigenart in baulichen Denkmälern, Volkskunst, Sitten, Gewohnheiten, Festen" sind die Ziele, zu denen sich "alle Stände und Berufe, die Herz und Sinn für unser teures Vaterland haben vereinen sollen". 39 Erklärtes Ziel ist die "Durchdringung der Volksseele in der Jugend". 40 Im "Geleit" der "Zeitschrift für deutsche Bildung" von 1925 heißt es: "Es ist die Bildung des Deutschen zum Deutschen, die Verwurzelung der deutschen Einzelseele in der deutschen Volksseele. Es handelt sich heute nicht nur um die Erziehung zum Gemeinschaftsmenschen, es geht um die Erziehung zum bewußten deutschen Staatsbürger. Und der Weg der Erziehung zum deutschen Staatsbewußtsein führt über die Erziehung zum deutschen Volksbewußtsein, und die Erziehung zum deutschen Volksbewußtsein geht über die Erziehung zum deutschen Heimatbewußtsein. In der Heimat liegt das Geheimnis aller Urkräfte völkischen Staatslebens beschlossen. Von der engeren Heimat zum deutschen Volk und vom deutschen Volk zum Staat, das ist der Weg, den unsere Jugend gehen soll." 41 Der letzte Satz beschreibt die Entwicklung, die der politische Heimat-Begriff im 19. Jh. nimmt und die den nationalsozialistischen Weg vorbereitet. 42 Heimat wird benutzt um das individuelle Bedürfnis nach Identität auf ein größeres Territorium "Vaterland" zu übertragen. So werden beispielsweise die Werte Heimatliebe und Heimattreue mit Vaterlandsliebe und Vaterlandstreue gleichgesetzt. Die Gleichsetzung von Heimat und Vaterland bewirkt die Ausdehnung des Heimat-Begriffs auf die politische deutsche Nation. Heimat wird zur Basis von vaterländisch-nationaler Volkstumsideologie. Der Heimat-Begriff soll aber nicht nur territorial ausgeweitet werden, sondern darüberhinaus auch gesellschaftlich, d.h. Heimat im Sinne von Vaterland bleibt nicht nur auf Adel, Bürgertum und Bauern beschränkt, sondern die Gleichsetzung Heimat = Vaterland dient zugleich als Identifiktionsangebot an die "heimatlose Arbeiterbewe-
38
BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 213.
39
zit. nach GREVERUS 1979, S. 8.
40
BAUER, in KELTER (Hrsg.) 1986, S. 126.
41
Zeitschrift für deutsche Bildung I (1925), S. 5.
42
s.u. Kapitel: Der politische Heimat-Begriff im 3. Reich.
125 gung". 43 Aber die Fronten zwischen Bürgertum und großen Teilen der Arbeiterschaft waren schon verhärtet, seitdem Riehl 1851 das Wort von der Vaterlandslosigkeit auf die Proletarier gemünzt hatte44, welches der deutsche Kaiser 1895 wieder aufnimmt, als er von den "vaterlandslosen Gesellen" spricht und damit die Weigerung der Arbeiterschaft rügt, das Vaterland zu ihrer Heimat zu machen. 45
4.4.4. Der politische Heimat-Begriff der Arbeiterbewegung Insbesondere das organisierte Proletariat nimmt das Identifikationsangebot der staatlichen Machthaber nicht an. Der preußische Politiker Johann Jacobi publiziert 1870 seine Schrift: "Das Ziel der Arbeiterbewegung" 46 . Darin heißt es: "Das Wort Vaterland, das ihr im Munde führet, hat keinen Zauber für uns; Vaterland in Eurem Sinne ist uns ein überwundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff; die Menschheit läßt sich nicht in nationale Grenzen einsperren; unsere Heimat ist die Welt: ubi bene, ibi patria - wo es uns wohlgeht, das heißt, wo wir Menschen sein können, ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ihr nennt uns, scheltend, 'vaterlandslos', und ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht." 47 In einer der zahlreichen Autobiographien aus den Kreisen der Arbeiterschaft beschreibt die Näherin Ottilie Baader (um 1867)48 ihre unannehmbaren Lebens- und Arbeitsverhältnisse: "Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da [...] Von Organisation hatten wir keine Ahnung - und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeiterinnen waren auf sich selbst angewiesen, sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. [...] Das brutale Vorgehen des Unternehmers brachte uns zur Besinnung. [...] es dauerte noch manches Jahr, bis die Arbeiterinnen die Absicht erkannten, und dem Unternehmertum in geschlossener Organisation entgegentraten. Das war für viele ein langer Leidensweg. [...] Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine [...] das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaus-
43 KASCHUBA, W.: Arbeiterbewegung - Heimat - Identität, in: Tübinger Korrespondenzblatt, hg. im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., Nr. 20/Juni 1979, S. 11-15, hier S. 14. 44
RIEHL 1851, 9. Aufl. 1897, S. 288.
45
vgl. BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 213.
46
JACOBI, J.: Das Ziel der Arbeiterbewegung, Berlin 1870.
47
zit. nach KASCHUBA, in: Tübinger Korrespondenzblatt, hg. im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., Nr. 20/Juni 1979, S. 11-15, hier S. 14 f. 48
1979.
BAADER, O.: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin, Bonn
126 sichten." 49 Ottilie Baader findet eine Heimat in der revolutionären Sozialdemokratie und Frauenbewegung, in der Solidarität der Genossinnen und nicht in Nation und Vaterland. 50 Die Beschreibung des proletarischen Elends von Nikolaus Osterroth 51 macht verständlich, warum es mißlingen mußte, eine einheitliche, alle sozialen Schichten umfassende "Heimat" zu schaffen, um die vaterländischen Gefühle von Arbeiterschaft und Unternehmer zu integrieren: "Der Fabrikant war ein gerissener Spekulant, der im wahrsten Sinne des Wortes aus Dreck Gold zu machen verstand. [... Er] wandte seine Aufmerksamkeit den zahlreichen noch schulpflichtigen Kindern armer Leute zu. [...] Der Presser saß auf einem Stuhl hinter der Presse und gab die Holzleiste mit Ziegeln an einen dreizehnjährigen Jungen weiter. Der Junge machte in einer Sekunde einen meterlangen Satz und legte die Holzleiste auf einen rotierenden Aufzug; dann machte er in der nächsten Sekunde einen Satz zurück und nahm die neuen Ziegel in Empfang. [...] Außer an Ruhe und Sterben dachte der Junge oft gar nichts mehr. [...] Die Maschine hatte ihn um alles gebracht. In fünf Monaten hatte sie aus einem frohen, helläugigen Jungen einen sich nach Tod und Grabesruhe sehnenden Greis gemacht. Der Junge war ich." 52 Eine Heimat schaffen bedeutet für das Proletariat gerechtere gesellschaftliche Bedingungen erkämpfen. "Heimat" wird vor allem dann in der Solidarität gemeinsamer politischer und sozialer Überzeugungen gesucht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen sozial benachteiligt werden. Dann ist das Erlebnis des Verstandenwerdens, der Identität mit einer größeren Gemeinschaft um so wichtiger. 53 Der Arbeiterschriftsteller Ernst Preczang schreibt um 1888: "Die rein politische oder wirtschaftliche Wertung der Arbeiterbewegung reicht nicht aus, um ihre Bedeutung zu erklären. Für Zehntausende ist sie auch eine seelische Heimat geworden, wurde sie rein menschlich zu lebendig-freudevollem Daseinsinhalt. n54 Die Gleichsetzung von Arbeiterbewegung und Heimat beinhaltet einen extremen Wandel gegenüber den bis dahin gängigen politischen Heimat-Begriffen. Heimat ist nicht mehr an ein Territorium, an einen begrenzeten Raum gebunden, sondern an eine organisierte Gruppe von Menschen. 55 Diese Bedeutungsvariante
49
zit. nach: HEIMAT UND IDENTITÄT. Themenheft der Zeitschrift VORGÄNGE 47/48 (1980), S.135 f. 50 vgl. BOSCH, M.: Nicht zu Kreuz kriechen, in: KLICKER, J.R. (Hrsg.): Heimat. Almanach für Literatur und Theologie 14, Wuppertal 1980, S. 68-77, hier S. 73. 51
OSTERROTH, N.: In der Ziegelfabrik, in: EMMERICH, W. (Hrsg.): Proletarische Lebensläufe. Bd. 1, Reinbek 1974. 52
zit. nach: HEIMAT UND IDENTITÄT. Themenheft der Zeitschrift VORGÄNGE 47/48 (1980), S.139 f. 53 vgl. KUNDLER, H.: Von Heimat sprich behutsam, in: KLICKER (Hrsg.) 1980, S. 62-68, hier S. 65 f. 54
vgl. EMMERICH, W. (Hrsg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Bd. 1: Anfänge bis 1914, Reinbek 1974, S. 288 f. 55
vgl. BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 213.
127 von "Heimat" bleibt jedoch auf die gesellschaftliche Schicht des Proletariats beschränkt. Die sich ständig ausweitende kapitalistische Produktionsweise führt zu einer enormen Zunahme von Heimatlosigkeit ("Heimatlosigkeit" in der allgemein gültigen politisch-alltäglichen Begriffsbedeutung). 56 Materielle Not zwingt die Menschen zur Mobilität, zum Verlassen ihrer angestammten "Heimat". Dieser Faktor bedingt auch maßgeblich die große Auswanderwelle des 19. Jahrhunderts.
4.4.5. Der politische Heimat-Begriff vor dem Hintergrund der Auswanderwelle Die Definition von Auswanderung als "das freiwillige Verlassen der Heimat unter dem Entschluß einer dauernden oder zumindest längeren Ansiedlung in einem neuen Territorium" 57 enthält zunächst keine eindeutigen Hinweise, welche die Zuordnung von "Heimat" zum Bedeutungsbereich der Politik erkennen ließe. Aber erstens ist dieses "freiwillige" Verlassen durch politisch-soziale Verhältnisse motiviert, und zweitens ist die Grenze von sogenannter "Freiwilligkeit" zur politisch organisierten Zwangsauswanderung und Deportation häufig schwer zu ziehen. Wellenförmig auftretende Auswandererscheinungen sind im 18. und 19. Jh. festzustellen. Während im 18. Jh. die politischen Positionen zur Auswanderung relativ klar zu umgrenzen sind (1768 ergeht ein Auswanderungsverbot durch Kaiser Josef II. 58 ), bietet die Auswanderwelle des 19. Jh. ein sehr heterogenes Bild und wird zum brisanten Thema der Innen- und Außenpolitik. Zu Beginn des 19. Jh. gehört die Zwangsauswanderung zur kommunalpolitischen Praxis. So schiebt beispielsweise Mecklenburg im Zuge der Brasilienauswanderung ganze Sträflingstransporte ab: 59 "[...] die mecklenburgische Regierung [...] beeifert sich [...] dem Kaiser von Brasilien Subjekte und Verbrecher aller Art [...] zu liefern, [...] daß dadurch dem Staate jährlich große Summen erspart werden können." 60 Auch der Hamburger Senat hält es für wünschenswert "sich auf solche Art einer Menge Vagabunden und müßigen Volkes entledigen zu können". 61 Der Gedanke eines gesunden Aderlasses für das Staatswesen taucht in der Diskussion zum Auswanderproblem immer wieder
56
vgl. JEGGLE, in: Vorgänge 1980, S. 57.
57
vgl. ZEEGERS, H.L.: Aus- und Einwanderung, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. GÖRRES GESELLSCHAFT, 6. Aufl. Bd. 1 1957, Sp. 745. 58
Im Auswanderungsverbot und dessen Begründung durch ein kaiserliches Edikt von Josef II. 1768 heißt es: "[...] daß dadurch das deutsche weite Vaterland einen merklichen Verlust vieler Diensttauglicher Leute erleiden und nicht wenig entvölkert werde." (zit. nach GREVERUS 1972, S. 162). 59
vgl. GREVERUS 1972, S. 133.
60
SUDHAUS, F.: Deutschland und die Auswanderung nach Brasilien im 19. Jahrhundert, Diss. Hamburg 1940, S. 36 f. 61
SUDHAUS 1940, S. 37.
128 auf. Der Staat sollte nur für ordentliche Bürger Vaterland und Heimat sein. Mitte des 19. Jh. nutzt die politische Linke die Auswanderdiskussion, um auf soziale Mißstände und innenpolitische Defizite aufmerksam zu machen. Auswanderung wird zum gesellschaftspolitischen Thema und mit dem "Heimatverlust" weiter Bevölkerungsteile begründet. Nicht nur der, durch Landflucht verursachte Verlust eines traditionellen Lebens- und Erfahrungsbereichs, sondern mehr noch die "Unheimatlichkeit der Bedingungen", unter denen in schnell wachsenden Städten gelebt und gearbeitet wird, bedroht das Heimatgefühl der Menschen, d.h. die positiven Erfahrungen heimatlichen Geborgenseins in der Gesellschaft. Urbanisierung und Industrialsierung als Auslöser für die Entwurzelung und Deklassierung ganzer sozialer Schichten sind Erscheinungen, die man mit Heimatverlust bezeichnet hat. 62 Seit den 30er Jahren des 19. Jh. wird die Auswanderung auch verstärkt in außenpolitische Konzepte einbezogen. Durch planmäßige Kolonisation soll sie dem Vaterland nutzbar gemacht werden. Dabei hat man vor allem Brasilien und den Donauraum im Auge. Dort sollen weitgehend geschlossenen Siedlungen entstehen, die in Koexistenz mit der angestammten Bevölkerung existieren könnten. Man will eine "Heimat ohne Aufgabe des Ethnikums" 63 schaffen. Andernfalls befürchtet man eine "Entnationalisierung", wie sie bei Nordamerika-Auswanderern festzustellen ist: "Unsere Auswanderer selbst gehen regelmäßig der nächsten Aussicht nach, welche ihnen eine behagliche Zukunft eröffnet. Ob sie dabei mit der alten Heimath verbunden bleiben, oder ob ihre Kinder vollständig denationalisiert werden; das ist ihnen für gewöhnlich einerlei." 64 "Alte Heimat" ist hier Synonym für Vaterland, Deutschland, Nation. Solche von Roscher erwähnten Assimilierungstendenzen laufen staatspolitischen Kolonisationsbestrebungen entgegen und stellen lediglich einen naiven Anpassungsprozeß dar. Als Zeugnis der nationalromantischen Haltung, die Anpassung ablehnt und für geschlossene Siedlungen sowie Erhaltung des Deutschtums eintritt, ist auch eine Aussage von Jakob Grimm auf dem Germanistentag in Frankfurt 1846 zu werten. Grimm schlägt vor, man müsse für die deutschen Auswanderer Maßregeln treffen, um "auch unter ihnen an der neuen statte, die sie sich erwählen, althergebrachte spräche und dadurch warmen Zusammenhang mit dem Mutterlande zu bewahren". 65 Aus den genannten Gründen (Entnationalisierung, Assimilation) ist die Kolonialpolitik bemüht, die Auswandererströme von Nordamerika nach Brasilien und in den Südosten Europas umzulenken. Soweit die Auswanderer der (politischen) Idee von deutschen Koloniengründungen folgen, denken sie dabei aber nicht an die Verbindung zur alten Heimat, zum Vaterland in staatspolitischem Sinne, sondern sie sehen in einer Kolonie, die ihnen die Beibehaltung
62
vgl. BOSCH, in: KLICKER (Hrsg.) 1980, S. 72 f.
63
vgl. GREVERUS 1972, S. 135 f.
64
ROSCHER, W.: Kolonien. Kolonialpolitik und Auswanderung, 2. Aufl. Leipzig/Heidelberg 1856, S. 368. 65 GRIMM, Jakob: Über den Werth der ungenauen Wissenschaften, 1884, S. 565 f., zit. nach GREVERUS 1972, S. 165.
129 ihrer Sprache, Sitten und Bräuche ermöglicht, wesentliche Elemente zur Schaffung einer neuen Heimat garantiert. 66 Den kolonialpolitischen Utopien von einer deutschen Wirtschaftskolonie in Brasilien67 stehen ideenpolitische Utopien von einem klassenlosen "neuen Deutschland" gegenüber, in denen Heimat als Programm zur Überwindung gesellschaftlicher Zustände gewertet wird. Auswandergesellschaften entstehen vor dem Hintergrund beider Utopien, z.B. gründet Andreas Dietsch 1844 eine Gesellschaft, um eine Auswandergruppe in die "Neue Welt" zu führen 68 . In seinem Reisebericht heißt es: "[...] keine Träne sah ich zum Abschied fließen, ja nicht einmal ein trauriges Gesicht zeigte sich. Frohe Hoffnung einer besseren Zukunft schien sich aller Herzen bemeistert zu haben. Kein gutes Zeugnis für die Verhältnisse unseres alten Vaterlandes [...] Es sind nicht 10 auf unserem Schiffe, die nicht wegen Mangel an Verdienst oder schlechter Aussicht für die Zukunft ihr Vaterland verlassen haben; denn trotz aller Anstrengung und Mühe, trotz aller knappen Lebensweise, konnten sie sich nichts mehr erwerben." 69 Dietsch fehlt zwar noch die tiefe Einsicht, daß "HeimatVerhinderung" und Auswanderung kein bloßes Schicksal sind, sondern strukturelle Gründe haben, aber seine Zeit- und Gesellschaftskritik ist geprägt von kollektiv proletarischer Erfahrung und Ausdruck eines utopischen Bewußtseins. Für Dietsch und seine Auswandergesellschaft ist Heimat nicht das Vaterland, das man verläßt, sondern die Beseitigung sozialer, gesellschaftlicher und ökonomischer Mißstände, die Möglichkeit sich als Gleicher unter Gleichen zu verwirklichen in einer neuen, noch zu schaffenden Gesellschaft, in einem neuen Land; das bedeutet hier "Heimat". 70 Verursacht wird die Auswanderung fast immer durch schlechte Lebensbedingungen. Die soziale Lage erweist sich als Motivation für Mobilität. Greverus analysiert die beiden wichtigsten Komponenten "aller freiwilligen Mobilität [als] bewußt gewordenen [...] Satisfaktionsverlust im Heimatraum und die Möglichkeit zu neuer Territorialitätsbefriedigung in einem anderen Raum" und erklärt daraus "auch das wellenförmig auftretende Auswanderungsfieber". Die Auswertung von Auswanderer-Briefen, die Greverus vornimmt, gibt nicht nur Aufschluß über die Beweggründe der Auswanderung sondern auch über die Bedeutung des HeimatFaktors Territorium. Greverus kommt zu dem Schluß, daß "menschliche Territorialität" als "Heimatverbundenheit, im Sinne des Einmaligen, nur eine sehr bedingte Geltung hat. "71 Als Resümee ergibt sich daraus, daß der Auswanderer auf ein Zukunftsterritorium reflektiert, auf eine "neue Heimat". Für die Bedeutung des Heimat-Begriffs der Auswanderer heißt das: "Heimat" ist nicht mehr das politische System oder das Territorium, welches verlassen wird (Heimat ist
66
vgl. GREVERUS 1972, S. 162.
67
vgl. dazu SUDHAUS 1940.
68
DIETSCH, Α.: Die großartige Auswanderung des Andreas Dietsch und seiner Gesellschaft nach Amerika. Zürich 1978. 69
DIETSCH 1978, S. 81 ff.
70
vgl. BOSCH, in KLICKER (Hrsg.) 1980, S. 72.
71
GREVERUS 1972, S. 137 ff.
130 nicht gleich Vaterland; Heimat ist nicht gleich Deutschland), sondern Heimatgefühl muß auf das neu aufzubauende Leben übertragen werden. "Heimat" muß mit positiven gesellschaftsorientierten, wertorientierten, zukunftsorientierten Faktoren ausgestattet sein, um als neue Heimat akzeptiert zu werden. Diese Vorstellungen kommen auch in der Äußerung von Carl Schurz zum Ausdruck: "Die Ideale, von denen ich geträumt und für die ich gekämpft habe, finde ich dort [...] Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine große Welt großer Ideen und Zwecke. In dieser Welt gibt es wohl auch für mich eine neue Heimat." 72 Die politische Heimat eines Menschen findet sich dort, wo soziale, ethische Normen, Prinzipientreue und Solidarität eine Alternative zur Geborgenheit in einem regionalen Milieu bilden. "Heimat" ist folglich nicht notwendig eine geographische Dimension. "Oft genügt die Gemeinsamkeit der Ideale, um das Gefühl des Beheimatetseins zu vermitteln." 73 Das 19. Jh. ist geprägt vom deutschen Schicksal der "verspäteten Nation". Dadurch kommt es zu einer "Zeitverschiebung, die eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung des Nationalstaates in Deutschland verhindert". 74 Der entscheidende ideele Impuls für die politische Einigung geht von der französischen Revolution aus, die den modernen NationBegriff prägte. Träger der nationalen Einigungsbestrebungen ist das wirtschaftlich aufstrebende, leistungsorentierte Bürgertum. 75 Dieser bürgerliche Mittelstand erweist sich auch als emotional engagierte Trägerschicht des deutschen Nationalismus, für die der Begriff des Vaterlandes noch über den der Nation hinausgeht. Zunächst wird die Vorstellung von Heimat organisch mit der Orientierung an der Nation verbunden. Heimat wird zum Ersatzbegriff für ein nationales Bewußtsein. Dann wird der Heimat-Begriff immer mehr in das von der neuen Nation bestimmte Bild des Vaterlandes eingeschmolzen. "Heimat" wird zu einem zentralen politischen Integrationsbegriff, der eine Brücke schlägt zwischen einer kulturkritischen Haltung, die die gesellschaftliche Dynamik als Bedrohung erfahrt und der Loyalität gegenüber dem Vaterland. 76 Heimat stellt auch die Verbindung zwischen individuellem kleinräumlichen Erfahrungsbereich und politischem System dar; mit beiden kann man sich identifizieren, wenn die Gefühlswerte von Heimat auf die entsprechenden Begriffe übertragen werden (z.B. Familie, Dorf, Vaterland, Nation, Staat und später "Deutsches Reich"). Diese politische Integrationsfähigkeit des Heimat-Begriffs machen sich die Nationalsozialisten zunutze.
72
Carl Schurz, Lebenserinnerungen I. 1906, S. 410, zit. nach GREVERUS 1972, S.
73
KUNDLER, in KLICKER (Hrsg.) 1980, S. 65.
166. 74
PLESSNER, H.: Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959, S. 13. 75
vgl. GAUGER, J.-D.: Nation, Nationalbewußtsein und Nationwerdung, WEIGELT (Hrsg.), 1984, S. 26-45, hier S. 38 f. 76
vgl. MOOSMANN 1980, S. 47.
in:
131
4.5. Der politische Heimat-Begriff im Dritten Reich Der Nationalsozialismus hat keine eigenständige, geschlossene Ideologie entwikkelt. Er wurzelt in der imperialistischen Ideologie des 19. Jh. und benutzt auch andere ideologische Einzelelemente die zumeist im 19. Jh. entwickelt worden sind. Im gedanklichen System des Nationalsozialismus gibt es nichts, was nicht schon Jahrzehnte vorher gedacht und diskutiert worden wäre. 77 Wie die Ideologie, so hat auch die Sprache des Nationalsozialismus ihre Wurzeln im 19. Jh. Die nationalistische Überbewertung des Deutschtums spiegelt sich in den Bedeutungen von deutscher Nation, deutschem Reich, deutschem Boden, die das deutsche Volk als deutsche Ur-Heimat verinnerlichen soll. 78 Da die Absichten des Nationalsozialismus eine Revolutionierung der Welt implizieren, ist es zunächst nötig, die Ziele der Bewegung zu Zielen der einzelnen Individuen zu machen. Der Grundstein für eine staatskonforme Gesinnung und der Wille zum Dienst an der Gemeinschaft, die hierfür unabdingbare Voraussetzung sind, werden schon lange vor der Machtergreifung gelegt. Beispielsweise wird in der Jubiläumsschrift zum zehnjährigen Bestehen der " Reichszentrale für Heimatdienst" von 1928 der Reichsinnenminister Karl Severin (SPD) mit folgenden Worten zitiert: "Der modernen Führer des Volksstaates braucht gleichermaßen Autorität und Vertrauen [...] Das Vertrauen soll er nicht durch seine Nachgiebigkeit erhalten, sondern durch Festhalten an dem als richtig erkannten, durch die Staatsgesinnung und das soziale Selbstbewußtsein der Volksgemeinschaft. "79 Auch der Beitrag Eduard Sprangers in der gleichen Schrift verdeutlicht, was unter "Dienst an der Heimat" zu verstehen ist: "[...] den begrenzten Eigenwillen in dem höheren Willen des Staates aufgehen zu lassen oder die enge Seele mit dem weiten Ethos der freien Pflichtübung am Staate zu erfüllen." 80 Schon im Vorwort zur ersten Auflage seines Hauptwerkes "Der Bildungswert der Heimatkunde" faßt Spranger seine pädagogische Absicht zusammen: "Aus den Nöten der Zeit geboren, möchte es (das Bildungsprogramm) einen Weg zeigen, der zur Einheit des Volkes und zur geistigen Einheit in uns selbst, also in doppeltem Sinne zu unserer eigentlichen Heimat, zurückführt." 81 Spranger vereint unter dem Begriff Heimat die kollektive und die individuelle Ebene von "Einheit". Auf diese Weise soll die Vorstellungsverknüpfung von Heimat mit der Rückkehr zu etwas Verlorenem zurückgedrängt werden, zugunsten eines konkreten politischen Ziels, das mit "eigentlicher Heimat" die Einheit des Volkes (soziale Integration und geographische Einheit) meint. Aufbauend auf eine Staatsbürger-Pädagogik
77
vgl. NOACK/STAMMEN (Hrsg.) 1976, S. 207; vgl. FENSKE, H./MERTENS, D./REINHARD, W./ROSEN, K.: Geschichte der politischen Ideen von Homer bis in die Gegenwart, Frankfurt am Main 1987, S. 524. 78
vgl. KÖNIG, W.: dtv-Atlas zur deutschen Sprache, 4. Aufl. München 1981, S.
79
zit. nach BAUER, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 128.
80
zit. nach BAUER, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 128 f.
81
SPRANGER, 7. Aufl. 1967, S. 5.
121.
132 dieser Art werden im Nationalsozialismus die politischen Pflichten eines Pädagogen festgeschrieben: "[...] nur soll künftig ein [...] volkhaft [...] eingesetztes Lehrertum die Gewähr dafür bieten, daß die begeisterungsfahige, in Angriff und Abwehr zum höchsten Einsatz für unser umdrohtes Reich heranzubildende Jugend an ihren schulischen Führern männlichen Rückhalt, [...] ja ein wirklich leuchtendes Beispiel findet." Von "heimatschaffender geistiger Freiheit", die von dem "neuen Erziehungsstand auf die Jugend" auszugehen habe, ist die Rede. 82 Ziel ist es, der Jugend in Volk und Reich eine Heimat zu schaffen, in ihrem Bewußtsein Heimat mit Volk und Reich gleichzuschalten. Diesen Prozeß bereitet Spranger vor. In seiner Heimat-Vorstellung sind viele Kennzeichen des nationalsozialistischen Begriffs bereits vorgeformt, u.a. die Nähe zur Sprache der Religion, das Überhöhende und das völkische Blut-und-Boden Element. 83 Spranger meint, "das Heimat-Erlebnis" binde "den Menschen in seiner höchsten Subjektivität an Gott selbst"; die "Liebe zur Heimat" habe "einen letzten Gesamtsinn, der religiös genannt werden muß". Er spricht wiederholt vom "tief Religiösen" das im Heimaterlebnis "mitschwinge" und von der "erlebten und erlebbaren Totalverbundenheit mit dem Boden: [...] denn das Volk muß zum Totalbewußtsein der Lebenszüge in Natur und Geschichte gebildet werden". In den geistigen Grundlagen, die durch Sprangers Heimatkunde vermittelt werden, liegt zugleich die Gewähr, "daß das tiefe Verbundenheitsgefühl mit dem eigenen Volke nicht bloß das Vorurteil einer Epoche von besonderer politischer Richtung ist". 84 Die Ausdrücke "Totalbewußtsein", "Totalverbundenheit", "Verbundenheitsgefühl" weisen darauf hin, daß Heimatgefühl nicht mehr an überschaubare Strukturen des Privaten gebunden sein sollte, sondern daß der Heimat-Begriff auf ein Ganzheitserlebnis des Menschen, durch Gemeinschaft mit dem Volk ausgelöst, zielt. Diese Erweiterung des Heimat-Begriffs vom kleinen Familienglück zum "Totalbewußtsein" wird damals allgemein propagiert: "Das Heimaterlebnis ist erweitertes Familienerlebnis, das Gefühl des Geliebtwerdens und des Geborgenseins in einem kosmischen Ganzen, dessen lebendiges Glied der Mensch selbst in der Liebe und Treue ist. [...] Kernstück des Heimaterlebnisses ist daher auch, wie beim Familienerlebnis, die Mutter als Symbol kosmischen Verbundenseins. [...] Heimatgefühl ist weibliches Gefühl für Kultur, Sitte, Verbundenheit in Liebe und wechselseitigem Verstehen" definiert das im Herder-Verlag erschienene "Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft von 1927. 85 Hier wird die Familie jedoch noch als Voraussetzung, als Grundlage für die Entwicklung eines Heimatgefühls eingestuft, das sich zum Verbundenheitsgefühl mit "einem kosmischen Ganzen" ausweiten läßt. Die nationalsozialistische Familienideologie hingegen ist nur vordergründig auf die Förderung der Familie gerichtet (z.B.
82 zit. nach SEIDEL, E. / SEIDEL-SLOTTY : Sprachwandel im Dritten Reich. Eine kritische Untersuchung faschistischer Einflüsse, Halle 1961, S. 12 f. 83
vgl. KÖNIG, dtv-Atlas, 4. Aufl. 1981, S. 121.
84
SPRANGER: Der Bildungwert der Heimatkunde, 7. Aufl. 1967 (hier zit. nach der 3. Auflage 1952), S. 5 und S. 12. 85
zit. nach BAUER, in: KELTER (Hrsg.) 1986, S. 129.
133 "Mutterkreuz", Kinderbeihilfen, Ehestandsdarlehen); bei näherem Hinsehen offenbart sich jedoch die familienverachtende Komponente (z.B. die Einrichtung des "Lebensborn" der SS86). Familie wird lediglich unter dem Aspekt des Dienstes für ein höheres Staatsziel positiv bewertet. Die familiäre Gemeinschaft ist nicht das wesentliche Moment der Heimat, sondern es soll verdrängt werden. Was zählt, ist Heimat im Sinne von Volksgemeinschaft. Genauso widersprüchlich, wie sich die nationalsozialistische Politik im Bereich der Familie offenbart, verfährt sie in allen Bereichen. Nur was der angestrebten sozialen und politischen Zentrierung förderlich ist, wird akzeptiert. Auch der Umgang mit Heimat ist nicht widerspruchsfrei. Nicht alle Institutionen, die sich mit irgendeiner Form von Heimatpflege beschäftigen, werden gefördert. Man befürchtet das "zentrifugale Moment", ein Aufkommen von regionalistischen Tendenzen, wenn Heimat zu sehr an einen engen Raum gebunden sei. Einem System mit zentraler Steuerung und vereinheitlichender Gleichschaltung kann nur eine "Heimat" genehm sein, die als umfassender politischer Begriff mit Vaterland gleichgesetzt werden kann. Konstruktionen wie die "organische" Gliederung des Reiches in Stämme und Gaue sollen den Zusammenhalt sichern. 87 Eine wichtige ideologische Aktivität der nationalsozialistischen Bewegung besteht in der Verlagerung der Gefühswerte von Heimat auf größere Einheiten wie Volk, Vaterland oder Reich. Die "Heimholung ins Reich", eine von den Nationalsozialisten durchgeführte Umsiedlung deutscher Außenposten in den Ländern Osteuropas 88 mußte ideologisch vorbereitet werden. Die Bezeichnung "Drittes Reich", eine nationalsozialistische Prägung, die u.a. auf die Größe der beiden ersten deutschen Reiche verweist, sollte vom Juli 1939 an durch "Großdeutsches Reich" ersetzt werden, diese Bezeichnung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. 89 Beide Begriffe ("Drittes Reich" und "Großdeutsches Reich") implizieren Expansionsbestrebungen, die man durch die Ausweitung des Heimat-Begriffs in den Köpfen der Staatsbürger gefühlsmäßig rechtfertigen will. Der Nationalsozialismus ist durch den "zur Lebensraumidee gesteigerten Großdeutschen Reichsgedanken" bestimmt. 90 "Heimatboden", "Volksboden", "Volksheimat" sind zentrale Komposita der Blut-und-Boden Ideologie, die auf den Zusammenhang von Territorium, Volk und Heimat verweisen. Seidel und Seidel-Slotty verweisen in ihrer Untersuchung auf die damals häufig gebrauchte Wendung "in engster Bindung mit dem Heimat-
86
Kinder sollten außerhalb der Familie gezeugt und aufgezogen werden.
87
vgl. BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 214; vgl. ders.: Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde, in: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), S. 177-204; ders: Zwischen Grün und Braun. Volkstumsideologie und Heimatpflege nach dem Ersten Weltkrieg, in: CANCIK, Hubert (Hrsg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 215-229. 88
vgl. GUTJAHR-LÖSER/HORNUNG, 2. Aufl. 1985, S. 95.
89
vgl. KÖNIG, dtv-Atlas, 4. Aufl. 1981, S. 121.
90
vgl. GUTJAHR-LÖSER/HORNUNG, 2. Aufl. 1985, S. 169.
134 boden" 91 . Der Blut-und-Boden Kult bringt die Dämonisierung eines bestimmten Stücks Erde mit sich. "Heimat ist in Gefühl und Geist verwandelte Bodenständigkeit. Durch den Heimatsinn ist der einzelne, die Familie, die Gruppe einem Stück Erde schicksalhaft verfallen und seelisch unter ihrer Gewalt", äußert Boehm 1932. 92 Die Bindung an "Heimat" soll jedoch nicht auf ein begrenztes Territorium beschränkt bleiben, sondern sich nationalsozialistischer Expansionspolitik gemäß ausdehnen lassen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Inhalte von Heimat auf das "Volk" zu übertragen, die Wichtigkeit eines großen Lebensraums für das deutsche Volk zu betonen und den traditionellen Anspruch auf diesen Raum als "Heimat" zu begründen: "Eine Rasse oder Völkerfamilie [kann] ihren ewigen Lebensraum oder Geburtsraum [...] nicht verlassen, ohne sich selbst zu verlassen", so lautet eines von vielen Argumenten der nationalsozialistischen Propaganda zu diesem Thema. Seidel und Seidel-Slotty zitieren weitere Rechtfertigungsthesen für die Expansionsbestrebungen: "[...] die stille unbeirrbare Größe [hat] ihre Wurzeln tief in den deutschen Volksboden und seinen nordischen Urgrund gesenkt. [...] der geschlossene deutsche Siedlungsboden [soll] vornehmlich weit nach dem NO und SO Europas vorgeschoben werden. [...] die Wiedergeburt echter Großräume [ist nötig] als Lebensräume von Völkerfamilien." 9 3 Im Territorium, vorwiegend bezeichnet als "Boden" oder "Raum", verbinden sich die ideologisch politischen Aspekte Expansion und Tradition. Diese Verbindung dokumentiert sich in den folgenden Zitaten: "[...] der Boden war und ist wieder Quelle jeglicher Volkskultur". "[Die Völker] schöpfen ihr Leben aus dem gesegneten Boden ihres Landes", dem sie "entstammen". Oftmals ist von der "Verwurzelung im Grund und Boden der Väter" die Rede oder von "Kräften, die aus dem Heimatboden hervorgewachsen und fest in ihm verwurzelt sind". 94 Der Verweis auf "Volkskultur" und Herkunft ("entstammen", "Väter") sowie "Verwurzelung" bezeichnen das traditionelle Element. Das Bild der Wurzel wird auch verwendet für einen weiteren wichtigen semantischen Aspekt von "Heimat", nämlich für "Bindungen an "/"Geborgensein in "/"Zugehörigkeit zu" einer Gemeinschaft. Seidel und Seidel-Slotty zitieren beispielsweise den Satz: "Zutiefst verwurzelt in der Gemeinschaft der Heimatgemeinde." 95 Der unscharfe Begriff "Gemeinschaft" 96 hat im Zusammenhang mit der Entwertung des Gesellschaftsbegriffs im Dritten Reich große Verbreitung erfahren. Er wird zum mystischen Begriff der nicht nur zur Bezeichnung von "seelischer Gemeinschaft" ( = Steigerung von Freundschaft) und "blutlicher und
91
SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. 87.
92
BOEHM, M.H.: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaft, Göttingen 1932, S. 100. 93
zit. nach SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. 86, S. 88, S. 116.
94
zit. nach SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. 87.
95
zit. nach SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. 88.
96
vgl. hierzu den soziologischen Gemeinschaftsbegriff von TOENNIES; s.o. Kap.
1.12.
135 vertrauter Gemeinschaft" 97 dient, sondern für die nationalsozialistische Politik im Zusammenhang mit Kultur/Volk/Staat besondere Bedeutung gewinnt. Gemeinschaftsgefühl soll von kleinen Einheiten (Familie und Dorfgemeinschaft) auf große Zusammenhänge wie Volk und Kultur übertragen werden. Hier läßt sich besonders gut zeigen, wie gerade Begriffe mit unscharfen Konturen durch den Gebrauch in gewissen Kontexten, die politisch-ideologisch vorgegeben sind, ihre Bedeutung entsprechend veränderten. Es kommt den Demagogen nicht darauf an die begrifflichen Inhalte von Heimat und Gemeinschaft rational zu vermitteln oder ihren Begriffsumfang zu konkretisieren, sondern man will (u.a. durch den Gebrauch von Komposita) die Wirkung erzielen, die Gefühlswerte der Begriffe "Heimat", "Gemeinschaft", "Kultur", "Volk", "Staat", "Nation", "Reich", "deutsch", einander anzugleichen. 98 Die ausgiebige Verwendung von "deutsch", "Volk", "Nation" ist bereits in Wilhelminischer Zeit zu konstatieren. 99 Im Dritten Reich sind die Inhalte von "Volk" und "deutsch" jedoch fast synonym und werden auch von Hitler selbst immer wieder in direkten Zusammenhang gebracht: "[...] Aus Bauern, Bürgern und Arbeitern muß wieder werden ein deutsches Volk. Es soll dann für ewige Zeiten in seine treue Verwahrung nehmen unseren Glauben und unsere Kultur, unsere Ehre und unsere Freiheit. [...] Heute, Herr Generalfeldmarschall, läßt Sie die Vorsehung Schirmherr sein über die neue Erhebung unseres Volkes. Dies Ihr wundersames Leben ist für uns alle ein Symbol der unzerstörbaren Lebenskraft der deutschen Nation. So dankt Ihnen des deutschen Volkes Jugend und wir alle mit, die wir Ihre Zustimmung zum Werk der deutschen Erhebung als Segnung empfinden. Möge sich diese Kraft auch mitteilen der nunmehr eröffneten neuen Vertretung unseres Volkes." 100 "[...] Jeder deutsche Stamm und jede deutsche Landschaft, sie haben ihren schmerzlichen Beitrag geleistet zum Gelingen dieses Werkes. Als letzte Opfer der deutschen Einigung aber sollen in diesem Augenblick vor uns auferstehen jene zahlreichen Kämpfer, die in der nunmehr zum Reich zurückgekehrten alten Ostmark die gläubigen Herolde der heute errungenen deutschen Einheit waren und als Blutzeugen und Märtyrer mit dem letzen Hauch ihrer Stimme noch das aussprachen, was von jetzt an uns allen mehr denn je heilig sein soll: Ein Volk, ein Reich. Deutschland! Sieg Heil!"101 "Hitler [...] mythisierte mit "unserem Glauben", "deutscher Erhebung", "wundersamem Leben", "Symbol", "Segnung", "letztem Opfer", "auferstehen", "gläubigen Herolden", "Blutzeugen und Märtyrern", "heilig", "Heil" und sentimentalisierte mit "treuer Verwahrung" und "schmerzlichem Beitrag". 102 Wenn das "wir" bzw. "unser" in unklarer Kon-
97
SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. 104.
98
vgl. KÖNIG, dtv-Atlas, 4. Aufl. 1981, S. 121.
99
vgl. POLENZ, P.V.: Geschichte der deutschen Sprache, 9. Aufl. Berlin/New York 1978, S. 168. 100
Hitler, Garnisonskirche Potsdam 21.3.1933, zit. nach v.POLENZ, 9. Aufl. 1978,
S. 166. 101
Hitler, Reichstagsrede 18.3.1938, zit. nach v.POLENZ, 9. Aufl. 1978, S. 167.
102
vgl. v.POLENZ, 9. Aufl. 1978, S. 170.
136 textbeziehung zu "Volk" oder "Nation" steht, beginnt die sprachliche Mythisierung des Volksbegriffs. 103 Auf diese Weise wird Gemeinschaftsbewußtsein beschworen. Der letzte Satz von Hitlers Reichstagsrede unterstreicht die Gleichsetzung von "Deutschland", "Volk" und "Reich". Alle drei Begriffe lassen sich im politischen Kontext des Dritten Reiches durch "Heimat" ersetzen. Im HeimatBegriff vereinen sich die eng miteinander verflochtenen Faktoren nationalsozialistischer Gesinnung, nationalsozialistischer Ideologie, nationalsozialistischer territorialer Ansprüche und nationalsozialistischer Menschengemeinschaft. Der Heimat-Begriff wird der Vielfalt seiner Bedeutungen beraubt und für ein systemkonformes Herrschaftsidiom vereinnahmt. Über einen harmlos, bieder und unpolitisch anmutenden Begriff, der von der "Aura des Bewährten und Guten" umgeben ist104, wird aggressive nationalsozialistische Ideologie vermittelt. "In der Ideologie des Dritten Reiches pervertierte "Heimat", im Grunde eine friedliche Vorstellungswelt, unversehens zum Lebensborn des Terrorstaates" 105 Die propagandistische Verwertung des Heimat-Begriffs durch die nationalsozialistische Urheimat-Ideologie verstärkt den emotionalen Begriffsgehalt. Diese Einflüsse auf die Bedeutung von Heimat wirken bis in die Gegenwart fort; bestimmte Ideologiegehalte sind im Zusammenhang mit "Heimat" nach wie vor abrufbar. Diese Tatsache bestätigt die eingangs 106 erwähnte These von der Langlebigkeit des begrifflichen Gefühlswerts.
4.6. Der Heimat-Begriff im offiziellen Sprachgebrauch der ehemaligen DDR Die Symbiose von Sprache und Politik besteht unabhängig vom Gesellschaftssystem. Man benötigt in jedem Fall Sprache, um politisch in Aktion treten zu können. Politische Systeme unterscheiden sich voneinander durch ihre Formen, Inhalte, Ziele und Methoden. Damit unterscheiden sie sich auch in der Art und Weise ihrer politischen Kommunikation. "Die Frage nach dem Charakter eines politischen Systems, einer politischen Ordnung hängt eng zusammen mit der Frage, wie in dieser Ordnung, in diesem Land zu einer bestimmten Zeit kommuniziert werden kann." 107 Die geringe Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der DDR zum Thema "Heimat" 108 dokumentieren den niedrigen Stellenwert des Begriffs
103
vgl. v.POLENZ, 9. Aufl. 1978, S. 169.
104
BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 214.
105
KUNDLER, in: KLICKER (Hrsg.) 1980, S. 64.
106
s.o. Einleitung des Kapitels: Der Heimat-Begriff in der Politik.
107
GRÜNERT, in: BESCH 1984, Bd. 1, S. 29; ders. 1983, S. 43.
108
Die wichtigsten Arbeiten sind: Art.' Heimat" im: Kulturpolitischen Wörterbuch, Berlin 1970 (2. Aufl. 1978). LANGE, G.: Das Wesen der Heimat aus der Sicht des Marxismus-Leninismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität.
137 für die Ideologie des Systems. In der lexikalischen Definition heißt es zwar: "Unter den Bedingungen der Klassengesellschaft wird der Begriff Heimat [...] von der Ausbeuterklasse mißbraucht, um nationalistische und revanchistische Gefühle der Menschen zu erzeugen" 109 ; aber auch in der sogenannten "klassenlosen Gesellschaft" der DDR wird Heimat genutzt, um eine emotionale Bindung an den Staat herzustellen: "In der DDR werden die Heimatgefühle der Bürger in harmonische Verbindung mit [...] dem [...] sozialistischen Staatsbewußtsein gebracht und in das Streben nach sozialistischer Menschengemeinschaft sowie der ihr gemäßen demokratischen Mitarbeit der Bürger an der Gestaltung der sozialen und kulturellen Umwelt einbezogen." 110 Dem Heimat-Begriff wird politische Funktion zugewiesen, indem man ihn rigoros auf den Staat festschreibt und so für ideologische Zwecke nutzen kann. Es handelt sich hierbei um eine, für autoritäre Systeme typische Gleichsetzung, die es ermöglicht, den Gefühlswert eines Begriffs auf einen anderen zu übertragen (in diesem Falle von "Heimat" auf den Staatsbegriff). Die Wirksamkeit von "Heimat" als Integrationsideologie wird aus obrigkeitlicher Sicht um so höher eingeschätzt, je deutlicher die politischen Defizite den Bestand des gesellschaftlichen Gefüges bedrohen. 111 Auf lokaler und regionaler Ebene wird Heimat als Mittel zur Integration benutzt und die subjektiven Elemente des Begriffs werden als wichtige Sozial isationsfaktoren hervorgehoben. Heimat wird definiert als "territoriale Einheit [...], in [der] der Mensch seine erste wesentliche Persönlichkeitsprägung erfahrt; im engeren Sinne die Landschaft und Siedlungsform (Dorf, Stadt oder Stadtbezirk), in der die Jugend verlebt wird, der Mensch zum gesellschaftlichen Individuum heranwächst und seine ersten gemeinschaftlichen Bindungen (Kameradschaft, Freundschaft, Liebe) eingeht." 112 "Der Begriff 'sich heimisch fühlen' bezeichnet ein sozial und kulturell verwurzeltes psychisches Wohlbefinden, ein Gefühl der Geborgenheit, das sich auf die Erfahrung sozialer Sicherheit, persönlicher Entwicklungschancen und den geistig-kulturellen Bedürfnissen entsprechenden Umwelterlebnisse gründet." 1 1 3 Den klassischen Gegenbegriff zu "Heimat", die "Fremde", beschreibt G. Lange 114 seinem marxistischen Ansatz entsprechend, zum einen als Lohnarbeiter-
Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. 20 (1971), S. 11-22. LANGE, G.: Heimat - Realität und Aufgabe. Zur marxistischen Auffassung des Heimatbegriffs, Berlin 1973. SCHWARZ, S.: Die Liebe zur Heimat, ein wesentliches Ziel unserer patriotischen Erziehung, Diss. Berlin 1956. 109
MEYERs Neues Lexikon, Leipzig 2. Aufl. 1973, S. 195.
110
KULTURPOLmSCHES Wörterbuch 1970, S. 206 s.v. "Heimat".
111
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 195.
112
KULTURPOLITISCHES Wörterbuch 1970, S. 206 s.v. "Heimat".
113
KULTURPOLITISCHES Wörterbuch 1970, S. 206 s.v. "Heimat".
114
Professor für wissenschaftlichen Sozialismus.
138 schicksal das in entfremdeter Arbeit besteht115, zum anderen als Kapitalismus, den es zu bekämpfen gilt. Man müsse "die kapitalistische Fremde im eigenen Land überwinden, im Klassenkampf das Feindliche in Heimat verwandeln". 116 Lange versteht es als sozialistischen Gestaltungsauftrag, durch Arbeit "Fremde" in "Heimat" zu verwandeln: "Ob wir in den Makrokosmos fliegen, im Labor in die Geheimnisse des Mikrikosmos eindringen oder die gesellschaftlichen Verhältnisse des Sozialismus vervollkommnen: immer und überall sind wir dabei, Fremdes in Heimat zu verwandeln." 117 In den erwähnten Fällen wird Fremde mit Arbeit in Verbindung gebracht. Den Zusammenhang von Arbeit und Heimat erläutert Lange in seinem Kapitel "Die Rolle der Arbeit für die Entwicklung der Verbundenheit mit der engeren Heimat". 118 Dieser Teil des marxistischen Ansatzes bietet interessante Aspekte zum subjektiven Heimat-Erleben, die im Kapitel zum Alltagsbereich bereits behandelt wurden. 119 Der territoriale Aspekt des sozialistischen Heimat-Begriffs ist mehrschichtig. Der räumliche Bereich wird zunächst als das "unmittelbar gegebene Milieu" abgegrenzt, weitet sich zu "Dimensionen des Vaterlandes" und stellt schließlich die "Beziehung" zur "ganzen sozialistischen Welt" her: "Heimat (im engeren Sinne) ist das für eine regionale Gemeinschaft innerhalb des Vaterlandes unmittelbar gegebene Milieu. [...] Andererseits ist es unverkennbar, daß sich in unserer Zeit das unmittelbar gegebene Milieu weitet, daß es sich den Dimensionen des Vaterlandes annähert, in gewisser Beziehung schon die ganze sozialistische Welt einzuschließen beginnt." 120 Diese Reihung verweist auf die bedeutungsmäßige Verknüpfung von Raum und Gesellschaft durch den Begriff "Heimat" sowie auf die Sinnverwandtschaft von Heimat und Vaterland. Vaterland wird im Sozialismus definiert als "das gegebene politische, kulturelle Milieu" (Lenin), als "Einrichtung auf einem bestimmten Territorium, innerhalb dessen ein Volk lebt". 121 "Ein echtes Vaterland und eine wirkliche Heimat können die werktätigen Menschen nur dort haben, wo die Ausbeutermacht gebrochen und unter Führung der Arbeiterklasse die eigene politische und ökonomische Macht errichtet wurde. Echte Heimatliebe muß deshalb immer mit dem Kampf um
115 vgl. BOSCH, M.: Heimat und Identität, in: Themenheft der Zeitschrift VORGÄNGE 47/48 (1980), S. 116-129, hier S.117. 116
LANGE 1971, S. 21.
117
LANGE 1971, S. 22.
118
LANGE 1973.
119
Im gegenwärtigen Erleben wie in der Erinnerung werden wichtige Bezugspunkte zur Heimat durch Arbeit hergestellt z.B. durch einen Baum, den man gepflanzt hat; durch einem Damm, den man als Kind im heimatlichen Bach gebaut hat; durch einen Schreibtisch, an dem man arbeitet. 120 121
LANGE 1973, S. 130 ff.
BÖHME, W./DOMINIK, S. et al. (Hrsg. Autorenkollektiv): Kleines politisches Wörterbuch, 4. Auflage, Berlin (Ost) 1983, S. 965.
139 sozialen und politischen Fortschritt verbunden sein." 122 Nach Lange ist "für die Arbeiterschaft in der DDR von ihrer Interessenlage her durchaus ein Heimatbezug gegeben, allerdings verbunden mit der Liebe zum sozialistischen Vaterland, die wiederum dem sozialistischen Internationalismus unterzuordnen sei". 123 Sozialistische Heimat stellt sich somit als Ableitung des sozialistischen Vaterlandes dar, und dieses ist als Teil des sozialistischen Weltsystems einzuordnen. 124 Der offizielle marxistische Sprachgebrauch im sozialistischen System der DDR deutet auf eine einseitige marxistische Begriffsbedeutung von Heimat. Daß die propagandistische Verwendung des Begriffs jedoch gegenüber den Traditionen des 19. Jh. oder gegenüber dem Dritten Reich kaum Veränderungen aufweisen, belegt das folgende Zitat: "Sein Heimatland lieben heißt vom flammenden Wunsch beseelt sein, in ihm die Ideale der Menschheit verwirklicht zu sehen und mit allen seinen Kräften dazu beizutragen [...] Großen und erhabenen Ideen ist unsere Arbeit gewidmet [...] Die schönen und großen Ziele der Natur- und Heimatfreunde können nur dann verwirklicht werden, wenn sie vom Volke begrüßt, vom Volke verstanden, vom Volke gefördert und vom Volke getragen werden [...] Wir haben ein großes Erbe zu verwalten und müssen uns dessen würdig erweisen." 125 Die Verwendung von "Heimat" in so enger Verbindung zu Volk ist zum einen typisch für die Ideologie eines totalitären Staates, zum anderen erweist sich hier die traditionalistische Seite des offiziellen Sprachgebrauchs der DDR. Der gleiche Ausdruck "Heimat" dient in Ost- und Westdeutschland der Nachkriegszeit nach wie vor als politisches Integrationsinstrument; verschieden sind weniger die Begriffsbedeutungen von "Heimat", die hier wie dort auf das jeweils entstehende Staatsgebilde fixiert sind, als vielmehr die dahinter stehenden systempolitischen Absichten.
4.7. Der politische Heimat-Begriff in der Bundesrepublik Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg hat der politische Heimat-Begriff in der Bundesrepublik einen relativ hohen Stellenwert. "Heimat" als "Reich" und politische Großmacht hat aufgehört zu existieren. Man sieht sich zurückgeworfen
122
MEYERs Neues Lexikon, Leipzig VEB. 2. Aufl. 1973.
123
LANGE 1971, S. 14.
124
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 199; weitere Analysen zu diesem Zusammenhang in BREDOW/FOLTIN 1981 und in FOLTIN, H.-F.: "Heimat" aus der Sicht des Marxismus. Der Heimat-Begriff in der DDR, in: BREDOW, W.v./BECKER, J. (Hrsg.): Andere Aspekte der politischen Kultur. Freundesgabe fiir Charlotte Oberfeld, Frankfurt am Main 1980, S. 149-155. 125
Aus dem Referat "Heimat und Nation" des 1. Bundessekretärs Kneschke der DDR im Juli 1954, in: Delegiertenkonferenz der Natur- und Heimatfreunde 1954, S. 16 f., S. 18, zit. nach GREVERUS 1972, S. 333.
140 auf eine kleinräumliche Heimat. Die Politik der großen Bereiche wird von den Siegermächten diktiert. Eine Heimat schaffen bedeutet zunächst, die unmittelbare Umgebung zu gestalten, um sich zumindest mit einem kleinen Bereich identifizieren zu können. Die vaterländischen Werte, die ideologisch mit Heimat verknüpft worden waren, gelten nicht mehr. Die Menschen müssen sich neu orientieren, ihre politische Heimat neu definieren. Der politische Nachkriegs-HeimatBegriff zielt auf ein soziales Miteinander. Ein Grund für sein baldiges Verschwinden aus der offiziellen politischen Diskussion (ausgenommen im Umfeld der Heimatvertriebenen-Verbände) ist in einem, sich angesichts des Wirtschaftswunders schnell stabilisierenden, kollektiven öffentlichen Selbstbewußtsein zu sehen. Krockow spricht von einer "Vertreibung aus der Heimat, nicht nur als ein bitteres Schicksal für die Menschen aus dem Osten, sondern in Wahrheit als das allgemein herrschende Lebensgefühl, [...] als [...] Entfremdung [als] Modernität um beinahe jeden Preis, sogar noch um die Zerstörung des Alten [,..]" 126 Der wichtigste Grund für das vorübergehende Meiden des Heimat-Begriffs liegt in der wachsenden Skepsis, vor allem der politisch engagierten Jugend gegenüber den "Werten" einer Väter générât ion, die den Heimat-Begriff politischideologisch überstrapaziert hatte. 127 Man beabsichtigt, sich von traditionellen Zwängen und Bindungen zu befreien. "Wir Nachgeborenen glaubten auf Heimat und das, was damals damit gemeint war, verzichten zu können. Wir sahen darin nur das Enge und Spießige, das Kleinbürgerliche und Kitschige, das Rückwärtsgewandte. Wir träumten von Europa und der Welt, fuhren per Schüleraustausch nach England und Frankreich, [...] schwärmten von Bob Dylan, Joan Baez und den Beatles. Die Welt war gerade groß genug. Wir träumten von China, Kuba und Chile." 128 Der Ausdruck Heimat wird hier mit etablierten, konventionellen Inhalten gefüllt und abgelehnt. "Daheim" fühlt man sich nicht im eigenen engen Lebensbereich, sondern die als erstrebenswert erachteten Inhalte von Heimat werden auf andere Gebiete der Welt projeziert. Für die Studenten der 68er Generation bietet der eigene Staat Bundesrepublik kaum Identifikationspunkte, er kann nicht politische Heimat sein und das suspekt gewordene "Vaterland" schon gar nicht. 129 Politisches Engagement im Vietnam-Konflikt, die Solidarität mit lateinamerikanischen Guerilleros und der Befreiungsbewegung der Dritten Welt: dieser "Internationalismus" ist der politische Bereich in dem man sich "heimisch" fühlt, mit dem man sich identifiziert, auf den man die Gefühlswerte des HeimatBegriffs überträgt. Die emotionale Bindung, das überzeugte Eintreten für Ideale, das Gemeinschaftserlebnis beim Engagement für die erwähnten weit entfernten Regionen und politischen Bewegungen kann man als "eine Art weltbürgerliche
126
KROCKOW, in: DIE ZEIT Nr. 41 vom 5.10.1984, S. 73.
127
vgl. GREVERUS 1972, S. 393; ders. 1979, S. 47.
128
LIEBING, J. (Hrsg.): Heimat deine Heimat, Darmstadt/Neuwied 1982, S. 9.
129
vgl. BOLTEN, J.: Heimat im Aufwind. Anmerkungen zur Sozialgeschichte eines Bedeutungswandels, in: POTT, H.-G. (Hrsg.): Literatur und Provinz. Das Konzept "Heimat" in der neueren Literatur, Paderborn/München/Wien/Zürich 1986, S. 23-38, hier S. 25.
141 Heimatsuche interpretieren".130 Die politische Stimmungslage der 60er Jahre und generelle Berührungsängste mit nationalsozialistisch vorbelasteten Begriffen führen zur Diskriminierung des Heimat-Begriffs. Vor allem in "links" orientierten Kreisen ist eine signifikante Abstinenz hinsichtlich der Verwendung von "Heimat" offensichtlich. "Die Welt" stellte in ihrer Ausgabe vom 29.12.1967 fest, Heimat sei "seit Jahrzehnten schon ein Begriff, der sozusagen aus der öffentlichen Diskussion verbannt" ist.131 "An den Heimatbegriff heranzugehen" wird als "eine heikle Sache" angesehen und aus diesem Grunde findet "die ernsthafte Diskussion um den Heimatbegriff weithin unter Ausschluß der Öffentlichkeit" statt.132 Im "Rheinischen Merkur" heißt es: "Der Begriff Heimat ist in Verruf geraten, geradezu ideologisch vorbelastet. [...] Sowie das Stichwort Heimat fallt, stellt sich die falsche Vorstellung des Dumpfen und Engen, des Beschränkten, der bösartigen Biederkeit und Langweile ein."133 Zu Beginn der 70er Jahre ist eine Abkehr vom Internationalismus, verbunden mit einer Hinwendung zum Regionalismus, zum näheren politischen Umfeld, festzustellen. "Von den 'Weltdörfern' (unterentwickelte Agrarländer) in der Ferne kehrt man zurück zu den politischen Anliegen des eigenen Dorfes im Westerwald"134 oder in anderen Regionen Deutschlands. Eine Politik der kleinen Räume ist wieder gefragt und damit gewinnt der Heimat-Begriff seine politische Aktualität zurück. Eine von vielen politischen Ursachen für die Verengung des Territoriums, auf welches die Bedeutungselemente für Heimat projeziert werden, ist die kommunale Gebietsreform. Anhand dieses politischen Projekts läßt sich zeigen, daß politische Fremdbestimmtheit nicht selten als Auslöser oder Verstärker territorialen Heimatbewußtseins wirksam ist.135 Nach Gisela Riescher, die in ihrer Dissertation die politisch-anthropologischen Implikationen der kommunalen Gebietsreform untersucht hat, offenbart sich bei der Auseinandersetzung um kommunale politische Selbständigkeit, daß für die Bürger gemeindliche Freiheit und Heimat zusammengehören. "Sie verteidigten ihr Rathaus als den Mittelpunkt der Heimat" und verweisen auf die Tradition ihrer "jahrhundertealten verwaltungsmäßigen Freiheit".136 Die Analyse von Riescher und andere Arbeiten zu diesem Themenkomplex belegen, daß Heimatgefühl und Gemeindeidentität bei den ehemals bestehenden Ortsgemeinden weitgehend zusammenfallen. Die Gebietsreform hat beide voneinander getrennt, so daß heute ein orts- oder landschaftsbezogenes sozio-kulturelles Heimatverständnis unverbunden neben einem von einer Min-
130
BREDOW/FOLTIN 1981, S. 9.
131
zit. nach BOLTEN, in POTT 1986, S. 26.
132
GÖB, R.: Ein Wort ohne Plüschgefühle, in: Christ und Welt, 17.5.1968, S. 23.
133
BADEN, H.J.: Kein Grass ohne Danzig, in: Rheinischer Merkur vom 23.10.1970.
134
BREDOW/FOLTIN 1981, S. 9.
135
vgl. GEIPEL, R.: Regionale Fremdbestimmtheit als Auslöser territorialer Bewußtseinsprozesse. Berichte zu dt. Landeskunde 58/1984, S. 37-46. 136
RIESCHER 1988, S. 151.
142 derheit vertretenen gemeinde- und kreisbezogenen Heimatverständnis stehen kann. Da Gemeinde und Kreis die Identifikationsstütze Heimat entbehren, bleiben sie häufig bloße Verwaltungsräume.137 Heimat wird nach wie vor mit der Ortsidentität verbunden. Auch durch das Politikum der Kommunal- und Gebietsreform wird diese Verknüpfung nicht aufgehoben. Der zentrale Aspekt für die wachsende politische Bedeutung des HeimatBegriffs ist in der Zunahme von Landschafts- und Umweltzerstörung durch eine fortschreitende Industrialisierung zu sehen. Peter Rühmkorf stellt in der FAZ vom 29. November 1980 fest: "Was wir gerade eben noch Heimat nennen können, ist nämlich [...] bereits in der Substanz bedroht [...] Ein kleines Weilchen noch an industriellem Vormarsch, und die Heimat hat sich wie von selbst verflüchtigt."138 Je rapider die "Heimat-Qualität" der Umwelt abnimmt, desto größere Bedeutung gewinnt der Heimat-Begriff im gesellschaftlichen Bereich. Erwachendes ökologisches Bewußtein bedingt wachsende Protestbewegungen. Die Träger des neuen politischen Heimatbewußtseins der 70er und 80er Jahre sind zunächst im Umfeld der "Grünen" und der "Friedensbewegung" auszumachen, deren politisch-soziale Spektren jedoch sehr weit gefächert sind. Gemeinsame Motivationsbasis ist der Widerstand gegen umweltgefährdende Projekte wie z.B. AKW's, Autobahnen, Mülldeponien u.a. Entsorgungsanlagen oder die Aufforderung zu Maßnahmen gegen das Waldsterben. Heimat als politische Aufgabe verstanden, bleibt aber nicht auf den Umweltschutz beschränkt, sondern bezieht sich auf alle Faktoren der "Lebensqualität". Heimatbedingungen schaffen heißt: Heimatzerstörungen ökologischer und gesellschaftlicher Art nicht resignativ über sich ergehen zu lassen, sondern eine humane politische Ordnung in der eigenen Umgebung anzustreben und sich ein Territorium aktiv und selbstgestaltend anzueignen.139 In seiner Regierungserklärung im Januar 1973 hat Willy Brandt mit der Bezeichnung "Heimat" keine Identität von Heimat und Staat gemeint, sondern von einer zu schaffenden "sozialen" und "geistigen Heimat der Bürger" im Staat, in der Gesellschaft gesprochen.140 Diese politische Heimatauffassung kann mit dazu beitragen, ideologische Begriffsbelastungen vorangegangener Epochen zu überwinden. Der politische Heimat-Begriff der 70er und 80er Jahre ist neu definiert worden. Heimat ist nicht mehr an ein verklärtes, auf die Vergangenheit bezogenes Gefühl gebunden, sondern versteht sich als "konkrete Utopie". "Heimat" im politischen Sinn meint auch in den 90er Jahren noch eine selbst mitgeschaffene kleine Welt, die Verhaltenssicherheit gewährt, eine menschlich gestaltete Umwelt, die Gebor-
137
vgl. SCHNEIDER, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 74.
138
Rühmkorf, Peter, in: FAZ vom 29.11.1980, zit. nach BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 215. 139
vgl. GREVERUS 1979, S. 17; vgl. BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983,
S. 215. 140
zit. nach GREVERUS 1979, S. 16.
143 genheit vermittelt. 141 Aber darüberhinaus ist Heimat heute mit "unserem deutschen Vaterlande" und "unserem geeinten Deutschland" wieder politisch relevant geworden. Spätestens seit der sogenannten "Wende" der 80er Jahre haben sich auch die etablierten politischen Kräfte und Parteien der Integrationskraft des Heimat-Begriffs erinnert. Heimat wird zum "Reizwort" mit dem sich wieder Politik machen läßt. Der Ausdruck Heimat eignet sich u.a. dazu, die UmweltThematik mit zu erfassen und damit dieses öffentlichkeitswirksame Thema auch konservativ zu besetzen. Mittlerweile schätzt man den Heimat-Begriff bei konservativen Politikern vor allem wegen seiner identitätsstiftenden Qualität. Vor, während und nach dem Vollzug der politischen Vereinigung Deutschlands dient Heimat als zugkräftige Formel staatlicher Integrationsbemühungen. Da der Prozeß des Zusammenwachsens von Ost- und Westdeutschland noch lange nicht abgeschlossen ist, wird der Heimat-Begriff sicher noch häufig Verwendung im offiziellen politischen Sprachgebrauch finden. Dabei sollte man einer Feststellung Hermann Bausingers Beachtung schenken: "Wer Heimat sagt, begibt sich auch heute noch in die Nähe eines ideologischen Gefälles, und er muß zusehen, daß er nicht abrutscht." 142 Zu einer kritischen Neubeschäftigung mit dem HeimatBegriff im Bereich der Politik gibt nicht nur die Entwicklung des deutschen Einigungsprozesses Anlaß. Auch bei politischen Verlautbarungen, die sich mit weltpolitischen Ereignissen beschäftigen, wird in jüngster Zeit häufig auf den Heimat-Begriff zurückgegriffen. Abschließend soll auf die aktuelle brisante Thematik der "Autonomiebestrebungen" in bezug auf wesentliche Bedeutungskomponenten des Heimat-Begriffs eingegangen werden. Kulturelles Verbundenheitsgefühl einer Volksgemeinschaft ist ein solches zentrales Element von Heimat, das für die politische Praxis in der Vergangenheit nur vereinzelt und regional begrenzte Bedeutung erlangt hat. Zwar sind zu den in den 60er Jahren aufkommenden Bestrebungen um regionale Autonomie (z.B. Korsen, Basken, Nordiren) im Laufe der Jahrzehnte immer neue Gruppierungen hinzugetreten (etwa die Wallonen und Andalusier) aber stets hat es sich dabei um kleinräumliche Erscheinungen "an den Peripherien Europas" 143 gehandelt, die wenig Einfluß auf das Weltgeschehen genommen haben. In den 90er Jahren wächst den Autonomiebestrebungen, ermöglicht durch den Zerfall kommunistischer Herrschaftssysteme, eine neue Dimension zu. Mit dieser politischen Ausweitung des Phänomens Autonomie erlangt auch der HeimatBegriff eine neue Qualität. Der Rückgriff auf emotionale Bindungen, die in einem langen kulturellen Stabilisierungsprozeß mit dem Heimat-Begriff verkoppelt worden sind, wird genutzt zur politischen Rechtfertigung von Auflösungsbestrebungen mit globaler Bedeutung, von Volkserhebungen gegen einen
141 vgl. KRAMER, D.: Die Provokation Heimat, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft 13 (1981), S. 32-40. 142
BAUSINGER, in: KÖSTLIN 1980, S. 22. (entspricht Bausinger in Moosmann 1980, S. 28). 143 vgl. BLASCHKE, J.: Regionalismus, ein neues Phänomen an den Peripherien Europas, in: Themenheft der Zeitschrift VORGÄNGE 47/48 (1980), S. 104-111, hier S. 104-107.
144 Zentralismus politischer, ökonomischer und kultureller Art, der zu Veränderungen gesellschaftlicher, politischer sowie territorialer Strukturen führen und einen Wandel der politischen Weltordnung mit sich bringen wird.
4.8. Zusammenfassung der wichtigsten Verflechtungen zwischen der politischen Praxis und dem Heimat-Begriff Den Heimat-Begriff im Bereich der Politik zu untersuchen, fördert sicher umstrittene Aspekte zutage. Aber durch die Betrachtung seiner Verwendungszusammenhänge lassen sich Rückschlüsse auf die politische Entwicklung nicht umgehen. Seine verbindende Stellung zwischen Individuum und politischem System vermittelt auch einen Eindruck davon, "wie sehr sich die Menschen in ihrer eigenen Geschichte betroffen und geprägt sehen durch weltgeschichtliche Ereignisse". 144 Bei der Festlegung von Heimat-Merkmalen im Bereich der Politik treten Irrationalismen und Verfälschungen auf, zum Teil in deutlicher Abhängigkeit von den jeweils dominierenden politischen Zielsetzungen (z.B. im Faschismus). Das demagogische Prinzip des Mißbrauchs von "Heimat" im Bereich der Politik entwickelt sich mit dem Entstehen des Kapitalismus, artete im Nationalismus aus und ruft nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus zunächst eine Abwehr gegen den Heimat-Begriff hervor, die spätestens seit Beginn der 70er Jahre einer politischen Heimatwelle mit neuer Qualität gewichen ist. 145 Im Deutschland des 19. Jh. fallt es schwer den Begriff Heimat in eindeutigen Bezug zu Begriffen wie Staat, Nation, Volk, Vaterland zu bringen, da diese Kategorien selbst noch der konkreten Festlegung bedürfen. Heimat meint zunächst noch die an den privaten Bereich angrenzende kleinräumliche, unmittelbare Umgebung. Gesellschaftspolitische Entwicklungen lassen eine Übertragung der positiven Begriffsinhalte von Heimat, auf größere politische Systeme als wünschenswert erscheinen. Das politisierende Volk, häufig gleichbedeutend mit Nation verwendet, soll so positiv wie "Heimat" gewertet werden; ebenso der Staat, der im Gegensatz zu Frankreich und den angelsächsischen Ländern noch nicht mit "Nation" identisch ist. 146 "Vaterland" beinhaltet die meisten semantischen Kriterien von "Heimat" und kann geradezu als verbalisierter Gefühlswert bezeichnet werden. Gegen Ende des 19. Jh. avanciert "Vaterland" zum häufigsten Synonym für "Heimat" im politischen Bereich. Die durch Demagogie bewußt herbeigeführte Übertragung der Gefühlswerte des Heimat-Begriffs auf das "Vaterland" verlagert und erweitert sich durch Nationalismus und Nationalsozialismus auf die staatliche Organisation "Reich" und deren politische Ziele. Wichtigster Träger des inneren Heimat-Merkmals
144
WEIGELT, in ders. (Hrsg.) 1984, S. 23.
145
vgl. GREVERUS 1979, S. 47 f.
146
vgl. DEUTSCH 1976, S. 103.
145 Gemeinschaftsgefühl wird das Wort " V o l k " , seine ideologisch erstrangige Bedeutung dokumentiert auch die Häufigkeit der Verwendung von " V o l k " und dessen Verbindung zu "Heimat" (z.B. "Heimatvolk"/"Volk der Heimat"): "Im Dritten Reich [existiert] kaum Geschriebenes in der deutschen Sprache, w o nicht ' V o l k ' vorkommt, [zudem] hat das Wort ' V o l k ' [ . . . die] größte Zahl von Komposita aufzuweisen." 147 Neben der Heimat-Komponente Gemeinschaftssinn/Gemeinschaftserlebenis, die eine bindende politische Funktion ausüben soll, um so zur Identifikation mit dem politischen System beizutragen, kommt während des Dritten Reiches dem Heimat-Element "Territorialität" besonders große Bedeutung zu. Durch geschickte Propaganda wird der Begriff "Territorium" einerseits an "Tradition" ( = Verwurzelung/Bindung an den Boden) gekoppelt, andererseits mit "Expansion" ( = neuer Siedlungsraum/notwendiger Lebensraum) in Verbindung gebracht. So wird das politische Ziel der Expansion durch Verknüpfung mit traditionellen Tugenden, welche gefühlsmäßig in der Bedeutungskomponente Territorialität des Heimat-Begriffs verankert sind, insgesamt aufgewertet. Heimat wird aufgrund seiner vielfaltigen Bedeutungskomponenten im politischen Bereich immer in einer Weise manipuliert, die den herrschenden oder um Herrschaft bemühten Ideologen förderlich erscheint. Dies gilt für alle Organisationsformen von Staaten. Im sozialistischen Herrschaftssystem existiert ein sozialistischer Heimat-Begriff als Ableitung des Begriffs "sozialistisches Vaterland". In marxistisch orientierter politischer Umgebung wird häufig die menschliche Gemeinschaft als "Heimat" aufgefaßt. Der aufgeklärte Mensch wird dazu angehalten soziale und staatliche Gesellschaftssysteme "heimatlich" zu gestalten und nötigenfalls durch eine Revolution in humanere Formen zu transformieren. Diese Aufforderung zur aktiven Gestaltung bleibt, wenn auch in abgeschwächter Form, in allen utopischen Heimat-Begriffen präsent. Jede Abhandlung in der es um die Themenbereiche: Utopie, politische Verantwortung und Aktivität, Gesellschaft als Heimat - geht, beruft sich auf Ernst Blochs berümtes Zitat aus dessen "Prinzip Hoffnung", das auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben kann: "Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." 148 Die Aufforderung zu handeln, Umwelt und Politik aktiv zu gestalten, machen sich Politiker demokratischer Systeme zunutze, indem sie von "konkreter Utopie" sprechen. "Heimat" meint dabei die konkreten Lebensbedingungen eines kleinen regionalen Raumes, in dem jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit zur
147
SEIDEL/SEIDEL-SLOTTY 1961, S. XIII.
BLOCH, E.: Gesamtausgabe in 16 Bänden, Frankfurt am Main 1977, Bd. 5: Prinzip Hoffnung, Kap. 55, S. 1628. 148
146 politischen Einflußnahme gegeben ist. Ein politischer Heimat-Begriff dieser Qualität, der nach realen Bedingungen fragt, beinhaltet schon in der Betonung der Realität eine Aktivitätsaufforderung und ein gemeinschaftsbildendes Element. Heimat-Bindung wird in allen politischen Organisationsformen als staatsförderliche und auf das Gemeinwohl gerichtete Tugend proklamiert; als "Motiv für vernünftiges, sachorientiertes, uneigennütziges und sozial verantwortliches Handeln" 149 von der Ebene der Kommunal- bis hinauf zur Staatspolitik. Bei der rückblickenden Betrachtung der ausgewählten Zeitabschnitte läßt sich ein für den politischen Bereich repräsentatives Begriffsfeld von "Heimat" konstatieren, das durch folgende Ausdrücke markiert wird: "Vaterland", "Reich", "Staat", "Deutschland", "Volk", "Nation", "Gesellschaft", "Gemeinde". Insgesamt handelt es sich um ein Geflecht von Ausdrücken, die inhaltlich mit Heimat in Beziehung stehen. Dadurch, daß man Heimat mit den benannten Ausdrücken synonym verwendet, wird der politische bedeutsame Gefühlswert des Heimat-Begriffs auf diese Parallelbegriffe übertragbar, und "Heimat" übernimmt die Funktion der Identifikation mit dem Bezeichneten (z.B. "Vaterland", "Staat" etc.). In der Politik benutzt man den gegenüber "Staat", "Deutschland" oder "Gemeinde" gefühlsmäßig beladenen und semantisch positiveren Begriff Heimat "zur Kreation oder Verstärkung des Sonderbewußtseins 'unser Territorium'" 150 sowie zur Aktivierung des Gemeinschaftsbewußtseins, wodurch man die Einordnungsbereitschaft in eine bestimmte Gesellschaftsstruktur, bzw. in ein bestimmtes politisches System fördert. Daß der Heimat-Begriff im Bereich der Politik heute im besonderem Maße Beachtung findet, dokumentiert eine zweibändige Untersuchung mit dem Titel "Heimat - Analysen, Themen und Perspektiven", die Ende Februar 1991 von der Bundeszentrale für politische Bildung vorgestellt worden ist.151
149
Zur Manipulierbarkeit von "Heimatbindung" durch den Tugendbegriff "Ratio" und dessen Auswirkung auf Demokratie-Konzeptionen vgl. GREVERUS 1979, S. 45 f.; dies. 1972. S. 391 f. 150 151
GREVERUS 1972, S. 334.
"Thema 'Heimat' erlebt eine Renaissance", in: DIE WELT Nr. 44 vom 21. Februar 1991.
5. Der Heimat-Begriff im funktional-zweckhaften Bereich der Naturwissenschaften
5.1. Einleitende Anmerkungen zur Wissenschaftssprache Mit der Hinwendung der europäischen Wissenschaften vom Latein zu den Nationalsprachen geht die Internationalität einer gemeinsamen lateinischen Wissenschaftssprache verloren; die Wissenschaft kann dadurch jedoch zunehmend Einfluß auf das alltägliche Leben nehmen. In der Folge kommt es zu einer stärkeren Verbreitung wissenschaftlicher Ideen und Erkenntnisse bei der Bevölkerung und zu einer größeren Einflußnahme der Gesellschaft auf die Wissenschaft. Durch die Verwendung von Nationalsprachen setzen gleichzeitig Bestrebungen ein, die eine den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Kommunikation angemessene Differenzierung der Wissenschaftssprache von der Alltagssprache mit sich bringen. Diese Entwicklung setzt sich fort bis hin zu dem heutigen Ausmaß der sprachlichen Spezialisierung. Die Differenzierung äußert sich in lexikalisch-terminologischen Besonderheiten sowie spezifisch semantischen Strukturen. Wissenschaftssprachen entstehen und verändern sich unter Bedingungen der Arbeitsteilung der Gesellschaft als spezifische Formen der sprachlichen Kommunikation. Sie müssen speziellen fachspezifischen Ansprüchen genügen und besondere kommunikative Funktionen erfüllen, die sich von den Bedürfnissen der alltäglichen Kommunikation erheblich unterscheiden. 1 Die Sprache der Wissenschaften soll dem Zweck der Welterkenntnis dienen; dahinter steht das wissenschaftliche Motiv der Weltanalyse (mit Hilfe von Modellen und Experimenten) 2 . Ebenso wie die Institutionensprache ist sie gekennzeichnet durch Genauigkeit und Eindeutigkeit (im Gegensatz zu Alltag, Literatur, Religion) 3 . Die Reduktion im wissenschaftlich-kommunikativen Bereich ist mit der wissenschaftlichen Gegenstandsbegrenzung zu erklären. Wegen der ständigen Erneuerung und Verfeinerung der Methoden und Theoriebildungsprozesse kann man von einer nur "dünnen" historischen Schicht sprechen (überholte Methoden und Benennungen "verschwinden in der Geschichte, spielen für die aktuelle Kommunikation keine Rolle mehr"). 4
1
vgl. BUNGARTEN, Th., Wissenschaftssprache, München 1981, S. 9 ff.; vgl. DROZD/SEIBICKE, Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache, Wiesbaden 1973, S. 178 ff. 2
vgl. STEGER, H.: Probleme der religiösen Sprache und des religiösen Sprechens, in: Sprechend nach Worten suchen. Probleme der philologischen, dichterischen und religiösen Sprache der Gegenwart, hg. v. K. Mönig, München/Zürich 1984 ( = 1984 b), S. 96-133, hier S. 101. 3
vgl. STEGER 1982 a, S. 9.
4
STEGER 1984 b, S. 101.
148 Die Sprache der Wissenschaften, insbesondere die der Naturwissenschaften 5 stellt sich heute als zweck- und funktionsgebundenes Sprachsystem dar; daher kann der entsprechende Funktionsbereich als "funktional-zweckhafter Bereich der (natur)wissenschaftlichen Kommunikation" bezeichnet werden.
5.2. "Heimat" als Herkunftsregion und Lebensraum In den meisten populären Nachschlagewerken findet sich ein Hinweis auf die naturwissenschaftliche Bedeutung des Heimat-Begriffs. Im Duden Wörterbuch heißt es im Artikel "Heimat": "Ursprungs-Herkunftsland eines Tieres, einer Pflanze [...] 'Die Heimat dieser Fichte ist Amerika'" wird als Beispielsatz angeführt. 6 Im "Brockhaus/Wahrig" wird als dritte Bedeutungsmöglichkeit des Heimat-Begriffs "Heimat" definiert als "Ort, aus dem etwas stammt: 'die Heimat dieser Pflanze, dieses Tieres ist Südamerika'". 7 Auch Klappenbach/Steinitz erwähnen die biologische Bedeutungsvariante von "Heimat": "wo etw. heimisch ist, woher etw. stammt: 'die Heimat des Elefanten ist Indien, Afrika; diese Pflanze hat ihre Heimat in Europa'". 8 Durch allgemein vertraute Definitionen dieser Art angeregt, wird im folgenden der Bedeutung des Heimat-Begriffs im naturwissenschaftlichen Bereich der Biologie nachgegangen. Die nachstehenden Beispiele sollen das Vorkommen des Heimat-Begriffs in der biologischen Fachliteratur dokumentieren, wobei auffällig ist, daß der Ausdruck "Heimat" in populärwissenschaftlichen Darstellungen (wie z.B. bei Vitus B. Dröscher) häufig Verwendung findet und auch in älteren Abhandlungen noch vielfach benutzt wird, im aktuellen naturwissenschaftlichen Gebrauch jedoch selten anzutreffen ist. Vitus B. Dröscher spricht im Zusammenhang mit Orientierungsmechanismen der Tiere und dem Phänomen des Vogelzugs häufig von "Heimat". Unter der Kapitelüberschrift "Der Wegweiser zu fernen Reisezielen. Der Sonnenkompaß" 9 berichtet Dröscher von Strandflöhen, die sich nach der Sonne orientieren: "Die Strandflöhe der italienischen Westküste bei Pisa fliehen [...] stets in westlicher Himmelsrichtung, wenn es ihnen zu trocken, und in östlicher Richtung, wenn es zu naß ist. In ihrer Heimat ist das sehr zweckmäßig, da sie auf diese Weise
5
Zur Sprache der Naturwissenschaften vgl. PÖRKSEN, Uwe: Deutsche Sprachgeschichte und die Entwicklung der Naturwissenschaften - Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschafitssprache und ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache, in: BESCH et al. (Hrsg.) 1984, Erster Halbband, S. 85-101. 6
DUDEN Wörterbuch, 1977, S. 1179.
7
BROCKHAUS/WAHRIG, Bd. 3, Wiesbaden 1981, S. 456.
8
KLAPPENBACH, R./STEINITZ, W. (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin (Ost) 1969, S. 1767. 9 DRÖSCHER, Vitus B.: Magie der Sinne im Tierreich. Neue Forschungen, München 1968, S. 244.
149 immer wieder zur mäßig feuchten Uferzone finden. [...] Die höchste Vollendung findet der Sonnenkompaß im Insektenreich bei Bienen und Ameisen. [...] Der Sonnenkompaß ist lebenswichtig für Bienen, Wespen, Hornissen, Ameisen, Libellen u.a. Insekten, die von ihren Ausflügen in unbekannte Gegenden wieder heim finden müssen." 10 Zur astronomischen Navigation der Brieftauben schreibt er: "Jedes Kind weiß, daß eine flugerfahrene Brieftaube aus fremden Gegenden mit großer Wahrscheinlichkeit wieder zum heimatlichen Schlag zurückfindet. " Vitus B. Dröscher stellt die Frage: "Was muß die Taube alles sehen, um den georaphischen Standort der Heimat zu erfassen?" und berichtet von Versuchen mit "Anfanger-Brieftauben", die "nicht nur grob die Heimatrichtung [finden], sondern direkt auf dem Dach der Volière [landen]. Diese Brieftauben hatten ihren Heimateindruck ausschließlich vom Käftig aus in sich aufgenommen." 1 1 Bezüglich der "Wanderflüge" des Monarch-Falters stellt Dröscher fest: "Es sind zwar nicht dieselben Tiere, die im Frühjahr nach Norden gezogen waren, aber trotzdem kennen sie in etwa die Heimat ihrer Eltern." 12 Im Kapitel "Rekordleistung weltreisender Vögel. Der Vogelzug" heißt es: "Auch soll die Heimat nicht nur so ungefähr wiedergefunden werden, sondern der genaue Geburtsort [...] hinterer Garten, zweiter Eichenbaum links". In diesem Zusammenhang verweist Dröscher auf den Albatros als "König unter den weltreisenden Vögeln" und bewundert dessen "großartige Heimkehrleistung". 13 In der "Biologie der Süßwassertiere" von Wesenberg-Lund 14 werden "Heimat" und "zu Hause" synonym gebraucht und bezeichnen eine geographische Region oder ein Biotop. Im Kapitel über Spinnentiere heißt es: Bei den Wassermilben handelt es sich um "Hydryphantes Arten, die in temporären Teichen zu Hause sind". Und im Zusammenhang mit unterschiedlichen Krabbenarten wird differenziert nach einer Krabben Hauptart, die "ihre Heimat in den Mittelmeerländern" hat, einer Wollhandkrabbe, die von "einem Neueinwanderer überschwemmt worden ist, dessen ursprüngliche Heimat weit weg im fernen Osten liegt" und der Chinesischen Wollhandkrabbe, die "wie alle Mitglieder der Gattung ursprünglich in Ostasien zu Hause war und ganz Nordchina bewohnt". 1 5 Auch in neueren naturwissenschaftlichen Abhandlungen meint Heimat immer einen bestimmten Lebensraum. Wickler schreibt: Es ist wahrscheinlich, "daß [der Fisch] 'Steatocranus' in seiner Heimat gezwungen ist, Schlupfwinkel aufzusuchen, die wohl zu klein sind, mehrere Tiere zu beherbergen oder zu ernäh-
10
DRÖSCHER 1968, S. 244-248.
11
DRÖSCHER 1968, S. 261.
12
DRÖSCHER 1968, S. 241.
13
DRÖSCHER 1968, S. 223-227.
14
WESENBERG-LUND, C. (dt. Ausgabe von O. STORCH): Biologie der Süßwassertiere. Wirbellose Tiere, Braunschweig/Königstein 1982 (Reprint der Ausgabe von 1939). 15
WESENBERG-LUND 1939, S. 589 und S. 547.
150 ren". 16 Lorenz und Leyhausen stellen fest: "Nur in sehr wenigen Fällen konnte bisher beobachtet werden, wie ein bereits fest in seinem Revier 'beheimatetes' Tier von einem übermächtigen Fremdling daraus vertrieben wurde." 17 In Grzimeks Tierleben heißt es: "[...] die [in Grasländern] beheimateten Antilopen unterscheiden sich grundsätzlich von den Trockenland und Buschlandbewohnern." 18 Und im Herder Lexikon der Biologie steht der Satz: Die "Wandermuschel [ist] ursprünglich in den Flüssen im Einzugsbereich des Kaspischen und schwarzen Meeres beheimatet." 19 Wie die zitierten Beispiele verdeutlichen sind "Heimat" und "zu Hause sein" Synonyma für Lebensraumbezeichnungen wie "Areal", "Biotop" oder "Revier". Diese wissenschaftlichen Fachtermini der Biologie, die auf die territoriale Bedeutungskomponente des Heimat-Begriffs abzielen, ersetzen in der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Fachliteratur zunehmend den Ausdruck "Heimat". Denn in der modernen Wissenschaft werden Begriffe benötigt, die sich exakt definieren und voneinander abgrenzen lassen. * Areal: Siedlungs-, Wohngebiet einer systematischen Kategorie (Sippe) der Tiere oder Pflanzen z.B. einer Gattung, Art, Unterart. Man unterscheidet geschlossene Areale (wenn es sich um eine einheitliche Fläche handelt) und disjunkte Areale (wenn das Areal aus mehreren Teilflächen besteht). 20 * Biotop: Ort, Lebensraum einer Lebensgemeinschaft aus Pflanzen und Tieren mit seinen typischen Umweltbedingungen, z.B. Auenwälder, Trockenwiesen, Quelle, Moore, Meeresstrände, Teiche. 21 * Revier: Territorium, Gebiet; Lebensraumbereich einzelner oder in Sozietäten (Familien, Herden, Horden etc.) zusammenlebender Individuen einer Tierart; das in Anspruch genommene Wohngebiet wird in bestimmter Weise gekennzeichnet, abgegrenzt (Reviermarkierung) und verteidigt (Revierverteidigung). 22
16
WICKLER, W.: Verhalten und Umwelt, Hamburg 1972, S. 100.
17
LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 121.
18
KLINGEL, H.: Gruppenbildung bei Huftieren, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 506-519, hier S. 511. 19
HERDER Lexikon der Biologie in acht Bänden. Allgemeine Biologie - Pflanzen Tiere, Freiburg/Basel/Wien 1983-1987, hier Bd. 8, S. 382. 20 vgl. HENTSCHEL, E.: Zoologisches Wörterbuch, 3. Aufl. Stuttgart 1986, S. 103; vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 1, 1983, S. 233. 21
vgl. HENTSCHEL 3. Aufl. 1986, S. 130 f.; HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 2, S. 29. 22 vgl. HENTSCHEL, 3. Aufl. 1986, S. 523 £; vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 7, 1986, S. 135.
151 5 . 3 . "Ortstreue" u n d " H e i m a t p r ä g u n g "
Das biologische Phänomen der Ortstreue bezeichnet die Eigenschaft vieler Tiere, an einem bestimmten Aktionsraum festzuhalten, dessen Teile weit auseinander liegen können (z.B. Winterquartier und Brutort bei Zugvögeln), der aber auch aus einem einzigen Territorium bestehen kann. Ein freischweifendes Leben ohne Ortstreue scheint bei höheren Tieren sehr selten zu sein. Ortstreue wird zurückgeführt auf die sogenannte Ortsprägung, eine Form von Prägung auf Merkmale einer bestimmten geographischen Region, die beispielsweise bewirkt, daß wandernde Tiere ihren früheren Lebensraum wieder aufsuchen. In der Literatur wird die Ortsprägung als "Heimat- oder geographische Prägung" bezeichnet. Daneben gibt es eine "Biotop- oder Umgebungsprägung", die besagt, daß die Auswahl eines bestimmten Lebensraumes häufig auf Erfahrungen in früher Jugend beruht. Die genannten Erscheinungen sind jedoch nicht als klassische Prägung (wie die Nachlauf- oder sexuelle Prägung) aufzufassen, sondern werden als prägungsartige Fixierung definiert. 23 Aktuelles Beispiel, mit dem sich die Umweltschützer auseinandersetzen ist die Ortstreue von Amphibien. Zur Laichzeit ziehen Frösche und Kröten Jahr für Jahr in dieselben Gewässer. Die einzige Möglichkeit Laichplätze umzusiedeln besteht darin, den Laich selbst an die neuen Orte zu transportieren. Eindrucksvolle Erscheinungen für eine Heimatprägung gibt es bei Fischen, die zum Aufsuchen bestimmter Laichplätze große Wanderungen unternehmen. Hierbei unterscheidet man zwischen "anadromen Fischen", die zum Laichen vom Meer in einen Fluß schwimmen (z.B. Lachse, Störe, Alsen, Hechtlinge, Stichlinge, Stinte) und "katadromen Fischen", die zum Laichen vom Süßwasser eines Flusses ins Meer ziehen (z.B. Dorsch, Aal). 24 Lachse25 werden im Süßwasser groß und wandern anschließend in die Meere. Die juvenilen Tiere werden auf ihr Heimatgewässer geprägt und kehren als Adulttiere dorthin zurück, um an den traditionellen Plätzen zu laichen. Austauschversuche mit pazifischen Lachsen haben ergeben, daß die Lachse nach mehrjähriger Wanderung im stillen Ozean zum Laichen wieder in denselben Neben- und Quellfluß zurückkehren, in dem sie selber geboren wurden. Durch den Austausch von Laich zwischen verschiedenen Quellgewässern läßt sich zeigen, daß angeborene Präferenzen hier nicht im Spiel sind. Arthur D. Haslee vermutete schon vor dreißig Jahren, daß sich die Lachse
23
vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 6, 1986, S. 257; vgl. IMMELMANN/ KELLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 140 f.; IMMELMANN, K./MEVES, Ch.: Prägung als frühkindliches Lernen, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 337-354, hier S. 347. 24 25
vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 1, 1983, S. 167 und Bd. 3, S. 323.
Zur Ortsprägung, bzw. "Geruchsprägung" von Lachsen vgl. Mc.FARLAND, D.: Biologie des Verhaltens. Evolution, Physiologie, Psychobiologie, dt. Ausg. hrsg. v. A. STAHNKE und K. VOLGER, ins Dt. übertragen von W. Dreßen, V. Laske, B. Nixdorf, Weinheim 1989, S. 466; vgl. IMMELMANN/KELLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 141; vgl. IMMELMANN/MEVES, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 347; vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 6, 1986, S. 257.
152 nach dem Geruch ihres heimatlichen Quellgewässers orientieren.26 Bestätigt wird seine These durch die Beobachtung, daß "riechunfahig gemachte Tiere" sich völlig desorientiert verhalten.27 Daraus ist zu schließen, daß die Ortsprägung beim Lachs auf dem Erlernen des typischen Geruchs der Heimatgewässer beruht. Man spricht auch von "Geruchsprägung".28 Auch Aale haben einen hervorragenden Geruchssinn; auch sie erkennen "ihr" Gewässer am Geruch. Flußaale halten sich mit Ausnahme der Larven- und Fortpflanzungsperiode im Süßwasser auf und machen weite Laichwanderungen. Nach etwa acht bis fünfzehnjährigem Aufenthalt im Süßwasser wandern sie, vorwiegend bei abnehmendem Mond, ohne Nahrungsaufnahme flußabwärts und verschwinden im Meer. Man nimmt an, daß sie bis zum nächsten oder übernächsten Frühjahr zur Sargassosee ziehen, hier ablaichen, bzw. die Spermien abgeben und dann sterben.29 Aus der Klasse der Vögel zeichnen sich sehr viele Arten durch große Ortstreue aus. Sie kehren zur Brut nach Möglichkeit an ihren eigenen Geburts- bzw. Aufzuchtort oder in dessen unmittelbare Nähe zurück. Wie durch Austauschversuche mit Halsbandschnäppern (Ficedula albicollis) gezeigt werden konnte, beruht die Geburtsorttreue nicht auf angeborenen Grundlagen, sondern auf entsprechenden individuellen Erfahrungen unmittelbar vor dem Abflug ins Winterquartier30. Fernwanderer, die den Winter im mittleren oder südlichen Afrika verbringen, bevorzugen selbst auf dem Durchzug und im Winterquartier Lebensräume, die dem heimatlichen Lebensraum ähnlich sehen und behalten sie unter Umständen über Jahre hinaus bei.31 Konrad Lorenz Beobachtungen bei Wildganskolonien haben ergeben, daß bei Wildgänsen nicht nur der allgemeine Verlauf des Zugweges von Generation zu Generation überliefert wird, sondern auch die Kenntnis jedes Rastplatzes. Da Wildgänse ein sehr dauerhaftes Gedächtnis besitzen und die einmal erworbenen Wegdressuren ungemein fest haften, spielt die Tradition für die Kenntnis des Zugweges eine wichtige Rolle.32 Der Vogelzug gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen unserer Umwelt. Er wird definiert als: Jahresperiodisch, gerichtete Wanderung von Vögeln zwischen zwei Gebieten (Brutgebiet, Winter- oder Ruhequartier), wobei Entfernung, Zeitpunkt und Zugrichtung von Art zu Art variieren; allgemein wird zwischen Heim- und Wegzug differenziert (in mittleren und nördlichen Breiten zwischen
26
HASLER, A.D.: Wegweiser für Zugfische, in: Naturwissenschaftl. Rundschau 15 (1962), S. 302-310. 27
DRÖSCHER 1968, S. 122.
28
HASLER, A.D./SCHOLZ, A.T./HORVALL, R.M.: Olfactory imprinting and homing in salmon, in: American Scientist 66 (1978), S. 347-355. 29
vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 1, S. 1 ff.
30
IMMELMANN, Κ.: Ecological significance of imprinting and early learning, in: Annual Review of Ecology and Systematics 6 (1975), S. 15-37. 31
vgl. IMMELMANN/KELLER, in: IMMELMANN et al. 1988, S. 141; vgl. IMMELMANN/MEVES, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 347. 32
vgl. LORENZ 1988, S. 212 f.
153 Frühjahrs- und Herbstzug). 33 Über die Evolution des Vogelzugs und die Frage nach dessen Entstehung und Ursachen bestehen eine Reihe von hypothetischen Vorstellungen. Ein großer Teil der Zugmuster auf der Nordhalbkugel muß nach der letzte Glazialperiode, d.h. innerhalb der letzten 1 5 . 0 0 0 Jahren entstanden sein. Im Wechsel von Rückzug und Vorstoß als Reaktion auf klimatische Veränderungen dürften sich periodische Wanderbewegungen entwickelt haben. Bei verschiedenen Arten konnte nachgewiesen werden, daß sie einem endogenen Jahresrhythmus unterliegen und daß ein genetisches Programm den Zeitverlauf der Zugunruhe festlegt. Für die Auslösung und Steuerung der Zugdisposition zeichnen endogene und/oder Umweltfaktoren, wie Klima, Witterung, Nahrungsfaktoren und die Änderung der Photoperiode, verantwortlich. 34 Es liegen Hinweise vor, daß endogene Faktoren nicht nur den Beginn der Zugaktivität kontrollieren, sondern auch deren Muster. Viele Tierarten benutzen Flugrouten, die für bestimmte Brutkolonien charakteristisch sind. Untersuchungen weisen darauf hin, daß die Zugrichtung genetisch beeinflußt ist und legen die Vermutung nahe, daß die Disposition für Zugverhalten von einem genetischen Polymorphismus bestimmt wird. 3 5 Man kann heute durch Radar- und Funkpeilung, die die klassische Methode der Beringung und Fernglasbeobachtung abgelöst haben, einzelne Zugvögel orten und ihre Wege oder Verhaltensweisen über längere Strecken genau verfolgen. 36 Zahlreiche Untersuchungen befassen sich mit der Orientie-
33 Die Ornithologie differenziert nach: * Schmalfrontzieher: Sie folgen relativ scharf begrenzten Routen (z.B. Gänse, Enten, auch Singvögel wie der Neuntöter - er führt einen sog. Schleifenzug durch; er nimmt im Herbst und Frühjahr eine unterschiedliche Wegstrecke); * Breitfrontzieher: Sie ziehen nicht auf eng begrenzten "Zugstraßen" (die meisten Vögel); Je nach Ausprägungsgrad des Zugverhaltens unterscheidet man Standvögel, Strichvögel, Teilzieher und eigentliche Zugvögel. * Kurzstreckenzieher: Sie wandern innerhalb eines Klimagebiets nur über kürzere Strecken (z.B. Ringeltaube, Kiebitz, Bleßhuhn, Graureiher; Singvögel wie der Zeisig, Star, Wiesenpieper, Rotkehlchen, Heidelerche); i.d.R. rechnen auch Teilzieher (z.B. Feldlerche) und Strichvögel (z.B. Wachholderdrossel) dazu. * Langstreckenzieher: Sie wandern 2x jährlich zwischen zwei weit voneinander entfernten Gebieten hin und her, die i.d.R. verschiedenen Kontinenten und Klimazonen angehören (viele Watvögel, Seeschwalben, Wachtel, Kuckuck, Mauersegler, Wiedehopf, Wendehals, insekteniressende Singvögel wie Schwalben, Grasmücken, Laubsänger, Braunkehlchen, Nachtigall). (vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 8,1987, S. 360). 34
vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 8, 1987, S. 361.
35
vgl. Me FARLAND 1989, S. 271.
Innerhalb der Singvogelarten wurden insbesondere die Gattungen Phylloscopus (Gwinner 1971) und Sylvia (Berthold 1973) untersucht, die verschiedene Zuggewohnheiten ausgebildet haben. Europäische Populationen der Arten, die als typische Langstrekkenflieger bekannt sind, wie die Gartengrasmücke (Sylvia borin), die Weißbart-Grasmücke (Sylvia cantillans) und der Fitis (Phylloscopus trochilus) überwintern in Afrika und ziehen quer über die Sahara. 36
154 rung der Vögel während des Zuges. Der Orientierungsvorgang ist Bestandteil des Verhaltens. Er ist an die physiologischen Voraussetzungen gebunden, die dem Verhalten zugrunde liegen. 37 Die Orientierungsmechanismen werden häufig als "Heimfindevermögen" bezeichnet. Orientierungen nach Gestirn oder Landmarken spielen beim "Heimfinden" wahrscheinlich eine weit geringere Rolle als zunächst angenommen; denn auch unter dichter Wolkendecke ziehen Vögel geradlinig. Die Vektornavigation ist das bisher einzige Navigationsverfahren, das von Versuchsergebnissen im Freiland und im Labor gestützt wird. Navigationshypothesen wie Sonnen-, Sternen- oder Trägheitsnavigation, konnten experimentell
* Den Langstreckenrekord unter den Zugvögeln hält wohl die Küstenseeschwalbe (Sterna paradisaea). Sie brütet in nördlichen bis arktischen Breiten, z.B. im nördlichen Kanada, zieht im Herbst zunächst nach Osten über den Atlantik, ändert dann ihren Kurs vor der englischen Küste nach Süden und überwintert weit im Süden bis hin zur Antarktis. Der Zug weg der Küstenseeschwalbe ist ein Beispiel dafür, daß der Vogelzug nicht rein in Nord-Süd-Richtung orientiert ist. * Sehr eindrucksvoll ist auch der Zugweg der in Alaska beheimateten Pfuhlschnepfe (Limosa lapponica). Sie zieht nach Südwesten über Japan und den Malaiischen Archipel, überquert den Äquator und fliegt dann nach Südosten über Ostaustralien nach Neuseeland. * Eine bemerkenswerte navigatorische Leistung vollbringt ein Vogel der Südhalbkugel, der Kurzschwanz-Sturmtaucher (Puffinius tenuirostris). Er brütet auf einigen Inseln in der Bass-Straße vor der australischen Südküste auf Tasmanien, wandert alljährlich in einer großen Schleife im Uhrzeigersinn um den Pazifik, überquert zweimal den Äquator und erlebt dabei mannigfaltige Änderungen der Tageslänge, der Sonnenbahn, des Klimas und so weiter. * Weißstörche (ciconia ciconia), die in Westeuropa brüten, ziehen zu ihren Überwinterungsquartieren auf einer westlichen verlaufenden Route über Spanien und Gibraltar. Störche, die in Osteuropa brüten, wählen eine östlich verlaufende Route. * Rotkehlchen sind ein Beispiel dafür, daß nicht alle Popuationen einer Art wandern müssen: In Skandinavien lebende Vögel fliegen im Winter südwärts; Rotkehlchen der Kanarischen Insen bleiben am Ort. (SCHMIDT-KÖNIG, K.; HERDER Lexikon der Biologie, S. 182 f., 215; Me. F ARLAND 1989, S. 270 f.). 37 Bei den Orientierungsvorgängen unterscheidet man: * Richtungsorientierung; * Kompaßorientierung (Sonnen-, Sternen-, Magnetkompaß): Wenn es um die Einstellung zu einer raumfesten Bezugsrichtung (z.B. die einer Biene zur Sonne) geht, spricht man davon (Bienen-Sonnenkompaß), gemäß dem vergleichbaren Vorgang der Einstellung einer Kompaßnadel im Erdmagnetfeld; * Kursorientierung: Die Richtungskontrolle der Fortbewegung: * Vektororientierung: Wenn bei einer Ortsveränderung Richtung und Entfernung beachtet werden; * Navigation: Eine Vektororientierung die voraussetzt, daß das Tier seinen gegenwärtigen Ort und seinen Zielort (an den Ortskoordinaten) kennt (z.B. Brieftaube). (vgl. SCHÖNE, H.: Formen und Mechanismen der Raumorientierung, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 153-173, hier S. 154 ff.).
155 nicht bestätigt werden. 38 Versuche mit Gartengrasmücken (Sylvia borin) haben ergeben, daß sie gezielt in die richtige Richtung fliegen und auch die korrekte Entfernung abschätzen können. Ihr circannuales Programm gibt ihnen die jeweils richtige Anzahl an Flugstunden vor, so daß die Vögel ihr Überwinterungsquartier erreichen. "Dieses Vektornavigations-Konzept könnte erklären wie Jungtiere, die auf ihrem ersten Herbstzug nicht mit ihren Eltern zusammenfliegen, ihre Winterquartiere erreichen." 39 In der Regel finden Zugvögel sicher ihre Zielbereiche: im Herbst die Überwinterungsgebiete und im Frühjahr ihre Brutbezirke, wobei sie häufig dieselben Nistplätze aufsuchen. Dabei spielt vermutlich Ortskenntenis eine Rolle; die Vögel finden sich an vertrauten Merkmalen der näheren Umgebung zurecht. 40 Der biologische Sinn von Tierwanderungen ist, soweit ersichtlich, vielfältig. Neben Vogelzug und Laichwanderungen vieler Fische, existieren noch weitere eindrucksvolle Beispiele dieser Art, die dann besonders auffällig sind, wenn sie zu einem Massenphänomen werden. Als häufigste Ursachen gelten: Nahrungsund Raummangel, ungünstiges Klima, Nachwuchsüberschuß, Fortpflanzungstrieb und Brutaufzucht. 41 Alle genannten Erscheinungen beinhalten zwar einen Ortswechsel und insofern steht der territoriale Aspekt im Mittelpunkt, es handelt sich jedoch in jedem Fall um biologische Mechanismen, die als "automatische" Reaktion auf Veränderungen der Lebensbedingungen ablaufen, die zum Überleben erforderlich sind oder der unmittelbaren Instinktbefriedigung dienen. Lediglich die prägungsartigen Fixierungen auf einen bestimmten Heimatort, durch einen Geruch oder durch Merkmale einer geographischen Region bedingt, geben Anlaß zu der Spekulation, daß an diesen Punkten eine Verbindung zum menschlichen "Heimat-Verhalten" zu suchen sei, denn menschliches "Heimatge-
38
vgl. GEISSLER, E./LIBBERT, E./NITSCHMANN, J./THOMAS-PETERSEIN, G. (Hrsg.): Kleine Enzyklopädie Biologie, Frankfurt am Main 1979, S. 842; vgl. SCHMIDT-KÖNIG, K.: Vogelzug und Vogelorientierung, in: IMMELMANN, K. (Hrsg.) 1974, S. 182-189, hier S. 184 und 188. 39
Me FARLAND 1989, S. 271 f.
40
Zum Vogelzug vgl.: * CURRY-LINDAHL, K. Das große Buch vom Vogelzug, Berlin und Hamburg 1982; * SCHMIDT-KÖNIG, K.: Das Rätsel des Vogelzugs, Hamburg 1980; * BLOTZHEIM, U.N.G.von (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas, 14 Bde., Wiesbaden 2. Aufl. 1980-1992. 41
Wanderungen sind u.a. bekannt von: * Vögeln, Fischen, Walen (Wanderung aus trop.-subtropischem Bereich in antarktische Gewässer); * Insekten (z.B. Wanderheuschrecke, Wanderfalter); * Lemminge (wandern unter dem Zwang einer zu hohen Populationsdichte); * Gnus, Antilopen, Gazellen u.a. Halbwüsten und Wüstentiere sowie Rentiere und Hirsche (wandern um ungünstigen ökologischen Bedingungen, die sich im Wohn- und Weidegebiet einstellen, auszuweichen.). (vgl. GEISSLER et al. 1979, S. 790; KLINGEL, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 511 f.; HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 8, 1987, S. 215).
156 fühl" läßt sich durch geruchliche Auslöser hervorrufen und entsteht oftmals in Abhängigkeit von geographischen Regionen - Landschaft/Ort - (auch äußern beispielsweise häufig alte Menschen den Wunsch wieder "heim" zu wollen, um ihren Lebensabend dort verbringen zu können, wo sie aufgewachsen sind). Insofern könnte man auch beim Menschen von einem prägungsartigen Vorgang bezüglich der Heimat-Bindung 42 sprechen.
5.4. Sozial organisierte Gemeinschaften Bei sozial organisierten Gemeinschaften im Tierreich denkt man zunächst an staatenbildende Insekten. Darunter sind soziale Insekten zu verstehen, die sich zum Zwecke der Brutfürsorge zusammentuen, deren Nachkommen Verbände (Staaten) bilden und weiterhin für die Nachkommenaufzucht zusammenbleiben. Die bekanntesten Beispiele von sozial lebenden Insekten bilden entweder einjährige "Sommerstaaten" (verschiedene Wespen und Hummeln) oder "Dauerstaaten" (Ameisen, Bienen, tropische Wespen, Hummeln, Termiten). Der wesentliche Vorteil einer Staatenorgsanisation besteht in der Arbeitsteilung. Sämtliche Hautflüglerstaaten bilden streng geschlossene Einheiten, deren Mitglieder einander meist am Volksduft erkennen und die gegenüber Fremden aggressiv reagieren. Beispielsweise unterscheiden die Angehörigen eines Bienenvolkes aufgrund eines gemeinsamen Stockgeruchs zwischen Mitgliedern und Fremden. Tiere ohne den typischen Stockgeruch werden ausgestoßen. Von Bienenvölkern über Ameisenstaaten bis hin zu Säugetiergruppen dienen Duftsignale als Kennzeichen für Gruppenmitgliedschaft. 43 Neben dem Geruch besteht auch durch den gemeinsamen Aufenthaltsort selbst, den alle Gruppenmitglieder aufgrund bestimmter Merkmale erkennen, ein Bindungsmechanismus. Beispielsweise erkennen Feldwespen Nestangehörige an der Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der sie den Nestort gezielt anzufliegen vermögen. Ähnliches ist auch bei Bienen festzustellen, die nach ihren Sammelreisen immer wieder zum selben Fleck Erde zurückkehren. Diese Verhaltensweisen sind Ausdruck einer Ortstreue. Bei vielen solitären Bienen äußert sich die Ortstreue in der Gewohnheit ihr Nest unmittelbar in der Nähe des Mutternestes anzulegen. - Man ist versucht eine Parallele zu menschlichen Verhaltensweisen zu ziehen, wenn man das "Nestbauen" junger Paare in unmittelbarer Nähe des Elternhauses beobachtet. - Bei den hochorganisierten sozialen Gruppen der Insekten beruht die Verständigung vorwiegend auf Ortstreue und Duftsignalen. Beim Zusammenleben taugt jedes beliebige Tier unterschiedslos für jede Funk-
42 43
Zur Entwicklung der Bindungsfähigkeit bei Tier und Mensch s.o.
vgl. HERDER Lexikon der Biologie, Bd. 8, 1987, S. 23 f.; vgl. BERTELSMANN Lexikon der Biologie. Daten und Fakten zum Nachschlagen, Gütersloh 1979, S. 186; vgl. LAMPRECHT, J.: Aufgaben, Einteilung und Methoden der Verhaltensforschung, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 16-35, hier S. 33; vgl. MARKL, H.: Die Evolution des Soziallebens der Tiere, in: IMMELM AN Ν (Hrsg.) 1974, S. 461-486, hier S. 475.
157 tion, vorausgesetzt, es gehört der richtigen "Kaste" an oder befindet sich in der richtigen Phase seines Lebenszyklus. 44 In Insektenstaaten sind Individuen im Sinne von bekannten Persönlichkeiten unwichtig. Darin besteht der wesentliche Unterschied zu einer Gemeinschaft von Wirbeltieren. Zwar verständigen sich auch hochentwickelte Säugetiergruppen (und Vögel) durch geruchliche, optische, akustische u.a. Merkmale; all dem überlagert ist jedoch ein individuelles, gegenseitiges Erkennen der Gruppenmitglieder. Alle organisierten Wirbeltiergemeinschaften bauen ihre innere Struktur und Funktion von den Einzelwesen her auf, die sich gegenseitig persönlich kennen. Dabei spielt das sehr gute Ortsgedächtnis der meisten Wirbeltiere eine entscheidende Rolle. Durch ortsgebundene Erinnerung scheint sich der "Individualisierungsprozeß", d.h. das individuelle Kennen der einzelnen Mitglieder der sozialen Gruppe, problemlos zu vollziehen. Ortstreuen Tieren fallt es leichter, andere Artgenossen persönlich wiederzuerkennen, weil die Nachbarn einander immer wieder an den gleichen Orten begegnen. Artgenossen welche sie öfter an einem bestimmten Ort getroffen haben sind sozusagen "lokal abgestempelt". Das Einzeltier erlangt unverwechselbare Persönlichkeit und es hat einen Platz, ein Reservat, in dem es allen anderen Mitgliedern der Gemeinschaft überlegen ist. Als Besitzer eines Reviers gilt es als Gleiches unter Gleichen. 45 Die unverwechselbare Persönlichkeit des Einzelwesens ist der entscheidende Faktor um "Heimat" in seinem vollen Begriffsumfang anwenden zu können. Das Bewußtsein der Einzigartigkeit ist erforderlich um von "Heimatgefühl" und "Heimatbindung" sprechen zu können. Daher ist den erwähnten staatenbildenden Insekten keine "Heimatfähigkeit" zuzuerkennen. Bezüglich der organisierten Gemeinschaften von Insekten kann der Ausdruck "Heimat" lediglich im Sinne eines eng umgrenzten Territoriums (Ortstreue) oder im Sinne einer Zweckgemeinschaft, die der Arterhaltung dient (Staatenbildung) benutzt werden.
5.5. Abschließende Bemerkungen zum Heimat-Begriff der Biologie Im naturwissenschaftlichen Bereich der Biologie reduziert sich der HeimatBegriff in der Regel auf seine territorialen, räumlichen Bedeutungselemente 46 . Abgesehen von populärwissenschaftlichen Texten, die keinen Anspruch auf terminologische Exaktheit erheben können (z.B. Vitus B. Dröscher, der u.a. die Formulierung "mystisches Heimatgefühl" 47 benutzt.), wird Heimat als Lebensraumbezeichnung verwendet und in der modernen wissenschaftlichen Litera-
44 vgl. MARKL, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 468 u. S. 472; vgl. LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 166. 45
vgl. MARKL, in: IMMELMANN (Hrsg.) 1974, S. 468; vgl. LEYHAUSEN, in: LORENZ/LEYHAUSEN, 4. Aufl. 1973, S. 126, S. 144, S. 166. 46
Dies gilt nicht für den Teilbereich der Humanethologie, s.o.
47
DRÖSCHER 1968, S. 121.
158 tur häufig ersetzt durch die präzisen Fachbegriffe Biotop, Revier, Territorium oder Areal, wobei die räumliche Ausdehnung variieren kann und jeweils genauer Definitionen bedarf (beispielsweise beinhaltet das "Revier" der Dreizehenmöwe lediglich ihr Nest48). Bei den erwähnten "Heimkehrleistungen" spielen die verschiedenen Orientierungsmechanismen eine entscheidende Rolle, welche in machen Fällen prägungsartig fixiert sind (Geruchsprägung/Ortsprägung). Diesbezügliche Parallelitäten in den Verhaltensweisen von Mensch und Tier sind zwar offensichtlich, verbleiben aber auf dem Gebiet der Spekulationen. Der gegenwärtige Stand der Forschung läßt hier nur hypothetische Schlußfolgerungen zu. Von einem Heimat-Begriff, der die räumliche, soziale und emotionale Kategorie umfaßt, kann im Zusammenhang mit Flora und Fauna nur bedingt die Rede sein. Da der vollständige Bedeutungsgehalt von "Heimat" das Bewußtsein von Einzigartigkeit und Individualität erfordert, kann der Heimatbegriff erst ab der Evolutionsstufe sinnvoll eingesetzt werden, auf der Individualisierungsprozesse in organisierten Wirbeltiergemeinschaften nachgewiesen werden können.
48
WICKLER 1972, S. 101.
6. Der Heimat-Begriff im Bezugsbereich der Religion
6.1. Merkmale der Sprache des religiösen Bereiches Der Bezugsbereich der religiösen Kommunikation 1 unterscheidet sich erheblich von anderen Funktionsbereichen, wie z.B. der Literatur und den Wissenschaftssprachen. Er steht in Konkurrenz mit säkularen, sinnsetzenden und weltinterpretierenden kommunikativen Bereichen. Kennzeichen der religiösen Sprache ist vor allem ihre historische Tiefe, bedingt durch den Basistext Bibel (das Neue Testament enthält Texte, die annähernd zweitausend Jahre alt sind, und das Alte Testament ist noch wesentlich älter.) und ihre "Fremdheit, die sich auf der Ebene der geschichtlichen Realität, aus der sprachlichen Darstellung antiker Lebens- und Kulturverhältnisse in einer 'aufgeklärten' Welt ergibt". Die Semantiken des Glaubensbereichs sind unterschiedlich konstituiert und organisiert. Sie arbeiten in ganz eigener Weise mit Polysemie und Plastizität und müssen für die sprachliche Darstellung des Übernatürlichen geeignet sein. Religiöse Semantiken nehmen auf eine transzendentale Wirklichkeit Bezug, die nicht der Wirklichkeit von Alltag, Wissenschaft oder Literatur entspricht. Dadurch wirkt "religiöse Sprache auf den, dem christlichen Glauben Fernstehenden" unverständlich und hermetisch. Semantik und Pragmatik der religiösen Sprache werden in anderen Kommunikationsbereichen nicht verwendet, "dadurch ist auch der tanszendente Bereich nicht ohne weiteres anderswo kommunizierbar", d.h. Semantik und Pragmatik der religiösen Sprache haben einen "eingeschränkten" Eigenbereich.
6.2. Zur religiösen Grundbedeutung von Heimat Der Begriff "Heimat" schlägt früh im Religiösen Wurzeln, als "vatterland der ewigen Seligkeit", im Sinne einer Verlagerung ins Jenseits, als "himmlische Heimat" wird er in der Kirchensprache gebraucht. "So wird das himmlische Jerusalem ahd. 'o du fridesamiu heimote' genannt. Diese Ausdrucksweise hält sich das Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit: 'Mein Heimath ist dort oben, da aller Engel Schaar den großen Herrscher loben'; 'Wo sind die Seele die Heimat, die Ruh? [...] Die Heimat der Seele ist droben im Licht'." 2 Das Bibelzitat: "der got des himels, der mich von meines vaters hause genomen hat, und von meiner
1
Die Merkmale der Kommunikation des religiösen Bereichs wurden zusammengestellt aus: STEGER 1984 b, S. 104 ff., S. 120, S. 126, S. 129; ders. 1988 b, S. 301. 2
TRÜBNERs Deutsches Wörterbuch Bd. 3, 1939, S. 388 s.v. "Heimat".
160 heimat (1 Mos. 24, 7)" 3 , findet sich neben dem Deutschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm beispielsweise auch in den Deutschen Wörterbüchern von Adelung (1796), Campe (1808), Heyne (1906) und Sanders (1860). "Dem christen ist der himmel die heimat, im gegensatz zur erde, auf der er als gast oder fremdling weilt", heißt es bei Grimm. 4 Der unstete und flüchtige Mensch, der Pilger, der "hier keine bleibende Statt hat", der auf Erden "Heimatlose", diese alte christliche Lehre transponiert den Raum Heimat in den Himmel. Das Pauluswort (Phil. 3,20): "Unser Wandel aber ist im Himmel", wie es Luther noch überträgt, wird in späteren Bibelübersetzungen mit "unsere Heimat aber ist im Himmel", wiedergegeben. Hierin deutet sich auch jene Übersetzungsproblematik an, die der religiösen Sprache eigen ist. Es stellt sich die Frage, ob die spätere Übertragung partiell falsch ist oder gleichbedeutend der Lutherübersetzung. Zieht man die theologische Ausrichtung auf "himmlische Heimat" in Betracht, kann man feststellen, daß die Bedeutung der gemeinen Sache nicht verlorengegangen ist, sondern gleichbedeutend wiedergegeben wurde. Im Bereich einer solchen theologischen Auslegung erlangt auch beispielsweise das "Heimweh" die Bedeutung von "Heimweh nach Himmelsheimat". Dem theologischen und philosophischen Gedanken, daß der Mensch nur auf dem Weg zur Heimat ist, steht die im Sprachgebrauch trotz aller semantischen Erweiterungen gegebene Bedeutung von Heimat als einem für jeden Menschen existenten oder einmal existent gewesenen Gefüge gegenüber. Die theologischen und philosophischen Ansprüche auf den Heimat-Begriff finden in dem Dualismus von "Heimat" und "Heimatlosigkeit" ihre Ausgangsposition. 5 Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, daß in Kirchenliedern häufig auf die "himmlische Heimat" verwiesen wurde, da es für "jedermann hinieden Herberge nicht gab". 6 In einem Lied von Paul Gerhard aus dem Jahre 1666 heißt es "Mein Heimat ist dort droben" 7 und schon aus der Zeit der Kreuzzugsbewegung sind Lieder überliefert, in denen der Himmel als eigentliche Heimat gepriesen wird. So beispielsweise in einem Kreuzfahrerlied des Ezzo von Bamberg, das um 1064 entstanden ist: "Der Glaube ist das Segel/der Heilige Geist der Wind/[...] Das Himmelreich ist die Heimat/da sollen wir landen." 8 Die himmlische Heimat ist das Ziel das Lebens, dessentwegen man die irdischen Mühen und Leiden auf sich nimmt. "Ich wölt, daß ich doheime wär/und aller weite trost enbär", heißt es in einem religiösen Lied des 15. Jh. Und deutlicher in dem Kirchenlied des Bernhard Waither Marperger von 1713. "[...] Und sehnet sich erlöst zu werden/von
3
zit. nach GRIMM, Bd. 10, 1984, S. 865 s.v. "Heimat".
4
GRIMM, Bd. 10, 1984, S. 866 s.v. "Heimat".
5
vgl. GREVERUS 1972, S. 31 f.
6
W. JENS, zit. nach POTT 1986, S. 12.
7
zit. nach BAUSINGER, in: HEIMAT HEUTE 1983, S. 211.
8
zit. nach LANGE, R.: Theologie der Heimat. Ein Beitrag zur Theologie der irdischen Wirklichkeit, Freilassing/Salzburg 1965, S. 212.
161 dieser rauhen Pilgerbahn [...] Dies Heimweh gottverlobter Herzen f...]". 9 Bis in die Gegenwart sind Kirchenlieder diesen Inhalts gebräuchlich, die beispielsweise bei einem Todesfall Trost spenden sollen: "Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh' mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu." 10
6 . 3 . D e r Heimat-Begriff im Alten Testament Bei "Heimat" handelt es sich um ein urbiblisches Thema 11 : Nachdem Gott den Menschen geschaffen hatte, "brachte er ihn in den Garten Eden" und gab ihm den Auftrag, denselben zu bebauen und zu pflegen (Gen 2, 15). Der Mensch erhält ein Territorium, einen bestimmten Ort, wo er zu Hause ist, eine dauernde Bleibe, in diesem räumlichen Sinne also eine Heimat. Die paradiesische Heimat erscheint neben dem räumlichen Aspekt einer örtlichen Gegebenheit, die dem Menschen als Lebensraum und zur Pflege übergeben ist, auch als ein Sozial- und Lebensgefüge. Heimat ist Gabe und Aufgabe. So gehört die Heimat zu den Gütern der Schöpfungsordnung Gottes. Die Besonderheit dieser paradiesischen Heimat besteht darin, daß hier In-Gott-Geborgensein und räumliche Heimat eine Einheit bilden. Mit der Sünde verliert der Mensch die paradiesische Heimat, in die es kein Zurück mehr gibt (Gen 3, 23 f.). Der aus der paradiesischen Heimat vertriebene Mensch erhält aus Gottes Hand eine neue Heimat. Diese ist als Folge der Erbsünde nicht mehr der Ort selbstverständlicher und erfüllter Geborgenheit. "Die Heimat ist Geschenk des schöpferischen Erhaltungswillens Gottes an den gefallenen Menschen." 12 Das alttestamentliche Weltverständnis ist gekennzeichnet durch ein Ineinander von Religion und Leben; so sind für das alttestamentliche Gottesvolk alle natürlichen Güter Gaben Jahwes. Insbesondere wird auch die irdische Heimat als ein religiöses Gut verstanden, sie ist - objektiv - Gabe Gottes, heiliges Land, und sie steht - subjektiv - unter dem verpflichtenden Heilswillen Gottes. Zur Heimat gehört nicht nur ein bestimmter Raum, ein Ort, ein Stück Erde und Natur, sondern es gehören vor allem Menschen dazu, mit denen man sich verbunden weiß, die Familie, die Sippe und der Stamm. Für das spezifische israelische Heimatbewußtsein ist das Sich-eingefügt-Wissen in das Ganze des Bundesvolkes wesentlich; erst von daher erhält auch die Sippenzugehörigkeit ihre theonome Heimatbestimmtheit. 13 Die Zusammengehörigkeit von Territorium und Familie/Sippe dokumentieren u.a. folgende Textstellen aus dem Buch Genesis: Jakob empfängt Jahwes Weisung: "Kehre heim in das Land deiner
9
zit. nach GREVERUS 1972, S. 35.
10
Text von Georg Thurmair 1935, zit. nach GOTTESLOB. Katholisches Gebets- und Gesangbuch für das Bistum Limburg, Frankfurt am Main 1975, S. 608. 11
Die kommentierten Bibelstellen werden zitiert nach: LANGE 1965.
12
LANGE 1965, S. 135.
13
Unter dem Gesichtspunkt eines ausgeprägten Familien- und Sippenbewußtseins sind auch die Geschlechtsregister des AT zu sehen.
162 Väter und zu deiner Verwandtschaft" (Gen 31, 3). "Mach dich jetzt auf! Zieh fort aus diesem Lande und kehre in dein Heimatland zurück!" (Gen 31, 13). Abraham erhält von Jahwe den Befehl: "Zieh fort aus deinem Lande und von deiner Verwandtschaft" (Gen 12, 1). Und selbst wenn Gott dem Menschen wie Abraham die Heimat nimmt, verspricht er ihm und seinen Nachkommen eine neue Heimat. 14 Den Israeliten verbindet eine erdhafte und zugleich heilige Liebe mit seiner irdischen Heimat. Sie ist ihm "das Land das von Milch und Honig überfließt" (Ex 3 , 8 ; Num 13, 28). Das Land mit eigenen Augen gesehen zu haben und sei es auch nur von ferne, bedeutet schon Seligkeit (Deut 34, 4). 15 Zum freiwilligen Verlassen der Heimat kann der Israel it lediglich veranlaßt werden durch: die Weisung Jahwes, existenzielle Not oder Angst vor Blutrache. 16 So verläßt Isaak seine Heimat, weil im Lande eine große Hungersnot ausgebrochen war (Gen 26, 1). Jakob und seine Söhne ziehen nach Ägypten, um sich dort eine Zeitlang aufzuhalten, weil sie für ihre Schafe keine Weide mehr finden und die Hungersnot schwer auf Kanaan lastet (Gen 46, 4). Moses flieht nach Madian aus Furcht vor Rache für seine Mordtat an einem Ägypter (Ex 2, 15); und Absalom flieht, nachdem er "alle königlichen Prinzen ermordet" hatte (2 Sam 13, 30 ff.). Der Aufenthalt in der Fremde ist jedoch stets beherrscht von dem Wunsch nach Heimkehr. 17 Beispielsweise heißt es im Buch der Könige von dem Edomiter Adad: "Als Adad in Ägypten erfuhr, daß David zu seinen Vätern entschlafen war und der Feldhauptmann Joab tot sei, bat Adad den Pharao: 'Laß mich gehen, daß ich in meine Heimat ziehe!' Der Pharao fragte ihn: 'Fehlt dir denn etwas bei mir, daß du in deine Heimat ziehen willst?' Er antwortete: 'Nichts! Doch laß mich ziehen!'" (3 Kön 11, 21 f.). Und von Jakob wird im AT überliefert: Jakob, der seinem Onkel Laban in Haran zwanzig Jahre lang dient, dort seine beiden Frauen Lea und Rachel heiratet und zu Wohlstand kommt, bittet schließlich Laban: "Entlaß mich! Ich möchte in meinen Ort und mein Heimatland zurückkehren!" (Gen 30, 25). Hat der Israelit seine Heimat verlassen müssen, so will er wenigstens im Alter zurückkehren, um dort begraben zu werden (Gen 47, 30; 50, 5). Und wenn ein Grab in der Fremde liegt, so versucht man es wenigstens wie Abraham, durch Kauf in das Erbeigentum der Familie zu bringen (Gen 23). 18 Das Volk Israel weiß, daß es sein Land verloren hat, weil es von Jahwe fortgegangen und abgefallen ist. Israel muß in die Fremde: "Ich will dich unter die Völker zerstreuen und dich in die Länder versprengen [...], damit du erkennst, daß ich der Herr bin" (Ez 22, 15 f.). "Ich will dich zerstreuen wie die Spreu, die im Wüstensande dahinfliegt [...], das ist dein Los, dein Teil, den ich dir zu-
14
vgl. LANGE 1965, S. 137.
15
vgl. LANGE 1965, S. 150.
16
vgl. LANGE 1965, S. 149.
17
vgl. LANGE 1965, S. 149.
18
vgl. LANGE 1965, S. 149.
163 gemessen, weil du meiner vergessen und dich auf Lügen verlassen hast" (Jer 13, 24; vgl. auch: Ps 44, 10; Is 5, 13 ff.; Jer 4, 29 ff.). In Ägypten erfährt sich das Volk Israel in der Fremde. Es hat Sehnsucht nach dem Land der Väter. Gerade in der Fremde und Verlassenheit erwächst die starke Hoffnung, daß Gott sein Volk heimführen werde von überall her, daß er den Zion neu erbauen und den Bund erneuern werde. Als das Volk in der Fremde wieder zu Gott heimfindet, darf es auch in die Heimat zurückkehren (Jer 29, 13 f.; 31, 10; Is 40, 1 f.). 19 "Heimat" gründet für Israel im Heilswillen Gottes: nur als Ort erfüllten Heils ist sie zugleich auch Ort irdischer Geborgenheit. Irdische Heimat ist für den Israeliten nur das Heilige Land. Besonders mit der Zeit der ägyptischen Knechtschaft und dem Bundesschluß am Sinai sowie mit der Zeit, da Gott den Abraham berief, verbindet sich im Bewußtsein Israels die genuin alttestamentliche Heimatvorstellung. Als Auserwählte verstanden sich Abraham (Gen 23, 4) und die alttestamentlichen Patriarchen zugleich als "Fremdlinge und Pilger auf Erden" (Hebr 11, 13). Als Fremdlingen ist Israel die irdische Heimat nur als Lehen gegeben. Von daher bestimmt sich das eindeutige Rechtsverhältnis zu Grund und Boden: "Mir (Jahwe) gehört das Land; ihr seid ja nur Fremdlinge und Beisassen bei mir" (Lev 25, 23). Dieses kultisch-rechtliche Verhältnis kommt besonders eindringlich in einem Gebet Davids zum Ausdruck: "Dein ist alles im Himmel und auf Erden [...] von dir kommt alles und aus deiner Hand spenden wir dir. Wie sind doch nur Fremdlinge und Beisassen vor dir wie alle unsere Väter: Wie ein Schatten sind unsere Lebenstage auf Erden und ohne Hoffnung. Herr, unser Gott, all unser Reichtum, den wir beschaffet haben, um dir ein Haus für deinen heiligen Namen zu erbauen, aus deiner Hand kommt er. Und dein ist dies alles" (1 Chr 29, 11; 14 ff). Jahwe wird als Herr des Landes akzeptiert, Israel ist sein Eigentum. Nach dem Verständnis des AT ist es ein heiliges Land, das Jahwe den Israeliten zur irdischen Heimat gegeben hat und als solches darf es nicht durch Freveltaten "verunreinigt" werden; denn sonst "wird das Land euch ausspeien, weil ihr es verunreinigt habt" (Lev 18, 24 ff). So wußte jeder, daß von seinem religiös-sittlichen Verhalten nicht nur sein eigenes Heimathaben, sondern auch das seiner Volksgenossen sowie ihr gemeinsames heilsgeschichtliches Schicksal abhing. 20 Während der Zeit der babylonischen Gefangenschaft bestand die Not letztlich darin, daß man sich fern von Jahwes Heiligtum fühlte, und daß der fremde Boden der Weihe entbehrte. In der Gefangenschaft Babylons erwacht das Bewußtsein des Heimatverlustes, denn Israel hat nicht nur seine geographische Heimat verloren, es hat vor allem seine Heimat im Sinne von Geborgenheit bei Jahwe verloren. In den Klageliedern des Volkes findet die Sehnsucht nach der Heimat ihren Ausdruck: "Wir saßen an Babels Wassern und weinten, Sions
19 vgl. GRABNER-HAIDER, Α.: Praktisches Bibellexikon, 1969, S. 485; vgl. LANGE 1965, S. 139. 20
vgl. LANGE 1965, S. 137 ff.
Freiburg/Basel/Wien
164 gedenkend" (Ps 136, l). 21 Nach dem Lebens- und Glaubensverständnis des Alten Testaments ist der Israelit nur dort wirklich beheimatet, wo er sich Jahwes Heiligtum nahe weiß. Nur dort fühlt man sich geborgen. Auf diese Weise sind Glaube und Heimat aufs engste miteinander verflochten. Der Terminus "irdische Heimat" des Alten Testaments beinhaltet das emotionale Element "Geborgenheit in Gott", das Territorium Israel und die Gemeinschaft mit Familie, Sippe, Stamm innerhalb des Bundesvolkes Israel.
6.4. Der Heimat-Begriff im Neuen Testament Dem Neuen Testament zufolge hat der Christ zwei Heimaten, eine irdische und eine himmlische, wobei der himmlischen die größere und eigentlich christliche Bedeutung zugeschrieben wird. Im Heilsverständnis des Neuen Tesatemtes ist die irdische Heimat von mittelbarer und relativer Wertigkeit. Aber sie hat für das übernatürliche Ziel des Menschen ihren Eigenwert. Die irdische Heimat steht für den Christen unter der Verantwortung für sein eschatologisches Heil (Mt 25, 14 ff). So weiß er sich seiner Heimat um so mehr verpflichtet. Das gilt insbesondere für das Sozialgefüge seines heimatlichen Lebensraumes.22 Christliches Leben nach dem NT negiert eine Weltflucht und mahnt zu sozialer Mitmenschlichkeit und Verantwortung: "Wer aber für seine Verwandten, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger" (1 Tim 5, 8). Insbesondere Paulus predigt immer wieder ein einträchtiges, vom Geiste der Liebe getragenes Gemeindeleben. Die Kinder sollen gut erzogen, es soll Gastfreundschaft geübt und den Bedrängten Hilfe geleistet werden. Im Galaterbrief schriebt Paulus: "Lasset uns Gutes tun und darin nicht ermüden" (Gal 5 und 6) und im Philipperbrief (2, 14 f.): "Tut alles ohne Murren und Bedenken. " Dabei geht es Paulus nicht nur um eine individuelle Vervollkommnung, auch eine soziale Vollkommnung wird gefordert (Phil 2, 3 ff.). Die Mahnung 1 Thess 4, 10 ff. fordert "gottesfürchtige Brüderlichkeit": "Setzt eure Ehre darein, ein ruhiges Leben zu führen, eure Obliegenheiten zu erfüllen und eurer Hände Arbeit zu tun, wie wir euch angewiesen haben. Dann wandelt ihr in Ehren vor dem Außenstehenden und braucht niemand in Anspruch zu nehmen." Das Heilsverständnis des NT ist zugleich weltzugewandt und eschatologisch bestimmt.23 Des Christen wirkliche, ihm wesensmäßige Heimat ist der Himmel. Um dorthin zu gelangen, muß er sich den Forderungen seines Lebens stellen. Im Sinne des Schöpfungsauftrages gilt für den Christen: "Macht euch die Erde Untertan. " Jesus hebt an keiner Stelle diesen Schöpfungsauftrag auf oder nimmt
21
Ähnliche Zeugnisse des Heimwehs sind im AT noch mehrfach überliefert, besonders im Buch Ezechiel; vgl. GRABNER-HAIDER 1969, S. 486; vgl. LANGE 1965, S. 144. 22
vgl. LANGE 1965, S. 167.
23
vgl. LANGE 1965, S. 161 ff.
165 ihn zurück. Der Christ bleibt an die Welt gewiesen (1 Kor 5, 10). Jesus geht es darum, daß die Seinen, "die nicht von dieser Welt sind", sich nicht vom Geiste dieser Welt gefangennehmen lassen. Das heißt: "Der Mensch wird einerseits bewahrt vor manichäischer Weltverneigung [...] und andererseits vor der Gefahr behütet, die Welt zu wichtig zu nehmen und seiner Weltarbeit jene Ehre zu geben, die allein dem lebendigen Gott gebührt.n24 So sind nicht die Schöpfung und ihre Ordnung das letzte Ziel des menschlichen Lebens und Wirkens, sondern die himmlischen Heimat. Sie wird bezeichnet als: * "Stadt" (Hebr 11, 16; 12, 22; Apok 3, 12; 21, 2); * "himmlisches Jerusalem" (Hebr 12, 22); * "Wohnung im Hause des Vaters" (Luk 16, 9); * "Mitbürgerschaft und Hausgemeinschaft mit Gott und seinen Heiligen" (Eph 2, 19); * "Tischgemeinschaft mit Abraham, Isaak und Jakob" (Mt 8, 11). Von Jesus ist keine direkte Stellungnahme zur Heimat überliefert. Er greift das Thema nur indirekt in seiner Verknüpfung vom "Reich Gottes" ( = himmlische Heimat) auf und durch seine Beziehung zu dieser Welt. Das neutestamentliche Verhältnis zur Welt und zum irdischen Leben ist ambivalent. Einerseits steht die Welt unter der Herrschaft der Sünde, des Teufels, er ist der "Fürst dieser Welt" (Joh 12, 31; 14, 30; 2 Kor 44), andererseits gilt dieser Welt die Liebe Gottes, der ihr seinen eigeborenen Sohn sendet, auf daß er ihre Sünde auf sich nehme und sie so rette (Joh 1, 19; 3, 16; 4, 42). Jesus liebt die irdische Welt "bis zum Tode am Kreuz" (Rom 8, 22). Er hilft den Menschen, heilt die Kranken und von Freunden läßt er sich immer wieder gastlich bewirten (Mt 2, 15 ff.; 14, 3 ff.; Luk 7, 36 ff.; 10, 38 ff.; 14, 1 ff.; 19, 5 ff.). Aber Jesus fühlt sich der Welt und den Menschen nicht zugehörig: "Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" (Luk. 2, 49); "Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder?" (Mk 3, 33). "Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel des Himmels ihre Nester. Der Menschensohn hat aber keine Stätte, wohin er sein Haupt legen kann" (Mt 8, 20; Luk 9, 58). Jesus lebt auf Erden wie ein Fremder, wie in einem Zelt (Joh 1, 14), wie ein Wanderer (Luk 13, 33) und er stirbt als Ausgestoßener dieser Welt am Kreuze (Gal 3, 13). Die "Fremdlingschaft" Jesu findet ihren klassischen Ausdruck in dem Hebräerwort, daß "er außerhalb des Tores" gelitten und sein Blut für die Heiligung des Volkes hingegeben hat: "Laß uns also zu ihm außerhalb des Lagers hinausgehen und seine Schmach mit ihm teilen - wir haben ja hier keine bleibende Heimat, sondern sehnen uns nach einer zukünftigen" (Hebr 13, 12-14). Als Bürger der himmlischen Gottesstadt sind die Christen dieser Welt gegenüber zu Fremdligen und Pilgern geworden (1 Petr 1, 1; 2, 11). So ist die Grundhaltung des Christen die des wachen und harrenden Knechts (Mk 13, 33 ff.; Luk 12, 35 ff.): "Dein Reich komme!"; "[...] wenn unsere irdische Zeltwohnung abgebrochen wird, erhalten wir einen festen Bau von Gott, ein ewiges Haus im Himmel, das nicht von Menschenhand erbaut ist" (2 Kor 5, 1). Diese zukünftige
24
STRUNZ, H.: Der Christ in der Ordnung der Welt, in: Die Hegge, Heft 4/5, Paderborn 1949/50, S. 45 f.
166 ewige Heimat im Himmel wird immer wieder umschrieben: Als "neue Schöpfung" (2 Kor 5, 17; Gal 6, 15), als "Reich Gottes", das weder an einen begrenzten Raum noch an einen bestimmten Stamm gebunden ist. Selbst die Jünger Jesu waren in einer alttestamentlichen Vorstellungswelt befangen und konnten sich dieses Reich Gottes nur in bestimmten räumlichen Dimensionen, als ein neues Israel vorstellen. 25 Demgegenüber stellt Jesus mit aller Deutlichkeit heraus: "Man kann nicht sagen: Hier ist es oder dort" (Luk 17, 21). In seinen Abschiedsreden sagt Jesus: "Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Wenn ich dann hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und nehme euch mit zu mir, damit auch ihr seid, wo ich bin" (Joh. 14, 2 f)· Dadurch lädt Jesus die Menschen ein, bei Gott Heimat zu finden. Er bereitet dem Menschen bei Gott Heimat und Wohnung (Joh. 14, 3). Er geht als erster den Weg zu Gott, damit alle folgen können. Jesu Auferstehung hat allen in gleicher Weise die Möglichkeit aufgetan, bei Gott Heimat zu finden. 26 Für Christen, die sich als "Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes" (Eph 2, 19) und "heimgekehrte verlorene Söhne" (Luk. 15, 11 ff.) verstehen, soll die "himmlische Heimat" "die neue Erde" sein, nicht mehr ein irdisches Jerusalem, sondern "das neue Jerusalem" (Apok 21, 1 f.), dessen "Baumeister und Schöpfer Gott" (Hebr 11, 10) und dessen "Eckstein Christus Jesus selber ist; in ihm ist der ganze Bau fest zusammengefügt und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn empor" (Eph 2, 20 f.) Hier gilt nicht mehr "Jude oder Heide, Sklave oder Freier - Christus ist alles und in allen" (1 Kor 12, 13; Gal 3, 26 ff.; Kol 3, II). 2 7 Durch diese Metaphorik sollten die Menschen vor zweitausend Jahren dazu angeregt werden, sich ein positives "Idealbild" vom Leben nach dem Tode zu machen, damit sie es als anzustrebendes Ziel verinnerlichen und ihr irdisches Leben christlich gestalten. Nach christlichem Verständnis ist der Mensch unterwegs zur endgültigen Heimat und dementsprechend gilt sein Engagement der Zukunft, seiner "Heimat im Himmel" (Phil 3, 20). Zwar steht das Moment der religiösen Transzendierung beim Begriff der "himmlischen Heimat" im Vordergrund, um sie jedoch der menschlichen Vorstellungswelt von vor zweitausend Jahren zugänglich zu machen, wird auf räumliche (Bau, kleiner Tempel, Stadt, Jerusalem) und sozial determinierte (Mitbürger, Hausgenossen, Söhne) Umschreibungen zurückgegriffen, mit denen die Christen auch jenseitige Geborgenheit beim "Vater" im Himmel, der Gerechtigkeit walten läßt, assoziieren. Aus dem skizzierten neutestamentlichen Heimatverständnis bestimmt sich auch die theologische Position des 20. Jahrhunderts. Für Alfred de Quervain ist die Heimat "ein Stück Geborgenheit, in der nicht der Mensch an sich, aufgrund eines Naturrechts, sondern Gottes Kind leben darf, bis Christus die Seinen aus
25
vgl. LANGE 1965, S. 156 f.
26
GRABNER-HAIDER (Hrsg.) 1969, S. 486.
27
vgl. LANGE 1969, S. 155 f.
167 der Fremde dieser Welt heimführt". 28 Und nach der Auffassung von Karl Barth fühlt sich der Mensch "seiner irdischen Heimat in einer entsprechenden Liebesund Treuepflicht verbunden". 29
6.5. Zur Verknüpfung von Heimatverbundenheit und religiösem Leben in der theologischen Praxis Die religiös verankerte Heimatverbundenheit geht auf die Durchdringung von christlichem und germanischem Brauchtum im Mittelalter zurück. Heimatbewußtsein und Heimatgefühl sind über lange Zeit untrennbar mit der Religion verknüpft, ebenso wie der gesamte Alltagsbereich. Bereits bei den Germanen ist die Religion in ihrem Sippen und Stammesbewußtsein verwurzelt. "Der germanische Stammesverband" fügt "die Kirche dem völkischen Leben ein und drückt ihr einen nationalen Stempel auf". 30 Diese Heimatbezogenheit machte sich früh in der Gestaltung der Liturgie bemerkbar. Viele bis heute erhaltene kirchliche Bräuche sind offensichtlich germanischen Ursprungs und in Zusammenhang mit der germanischen Naturverbundenheit zu sehen. 31 Lange spricht von einem "heimatgeprägten Christentum des deutschen Mittelalters" und begründet dies mit dem sich entwickelnden heimatbezogenen Brauchtum, welches eng mit den jeweiligen "lokalen Heiligen" verbunden sei. 32 Jedes Volk und jede Landschaft, ja jede Stadt will ihren eigenen Apostel und Patron haben. Die zahlreichen Schutzheiligen einer Landschaft oder eines Dorfes sowie die vielen Wallfahrtsorte lassen ein heimatliches Verbundenheitsgefühl
28
de QUERVAIN, Α.: Kirche, Volk, Staat (Ethik II, 1), Zollikon-Ziirich 1945, S.
29
BARTH, K.: Kirchliche Dogmatik, Bd. III, 4, Zollikon-Zürich 1951, S. 328 ff.
376.
30
BAETKE, W.: Die Aufnahme des Christentums durch die Germanen, Darmstadt 1959, S. 19; vgl. dazu auch: AUBIN, H.: Stufen und Formen der christlichkirchlichen Durchdringung des Staates im Frühmittelalter, in: Festschrift für Gerhard Ritter zum 60. Geburtstag, Tübingen 1950, S. 72. 31
Z.B. die Kräuterweihe an Mariä Himmelfahrt, die dreimalige Kreuzverehrung durch Niederwerfung und die Improperien am Karfreitag, die feierliche Weihe des Feuers am Karsamstag bzw. in der Osternacht, das Credo in der Liturgie der Messe. Die germanische Naturverbundenheit zeigt sich beispielsweise in der Gestaltung der deutschen Fronleichnamsprozession. Während der römische Fronleichnamszug rein eucharistisches Gepräge mit einmaligem Schlußsegen trägt, hat die deutsche Fronleichnamsprozession von den Flurumgängen die Wettergebete, die vier Evangelienaníange an den vier Altären übernommen. Zum Einfluß des Germanentums auf die Liturgie der katholischen Kirche vgl. BAUMSTARK, Anton: Vom geschichtlichen Werden der Liturgie (Ecclesia orans. Bd. 10), Freiburg 1923; DAUSEND, Hugo: Germanische Frömmigkeit in der kirchlichen Liturgie (Lex aeterna. Religiöse Bausteine. Bd. 3), Wiesbaden 1936. 32
LANGE 1965, S. 203.
168 entstehen, das sich nicht nur von der Sippe oder der Heimatgemeinde, sondern von Gott und seinen Heiligen in nachbarlicher, eben heimatlicher erreichbarer Nähe getragen weiß. So ist das ganze Bauernjahr, von der Geburt bis zum Sterben, von der Aussaat bis zur Ernte von heiligen Bräuchen begleitet. "Der ganze Kosmos des heimatlichen Lebensraumes war in die segensmächtige Gegenwart Gottes hineingenommen und der fürsprechenden Kraft seiner Heiligen anvertraut." 33 Eine auf diese Weise im Religiösen verankerte Heimatverbundenheit ist vor allem in ihren sozialen Auswirkungen bedeutsam, weil sie zugleich das Leben in der Familie, im Beruf und das Zusammenleben in Nachbarschaft, Dorf und Stadt bestimmt. Diese religiös determinierten Lebensstrukturen haben über Jahrhunderte hinweg Bestand und werden erst mit dem Anbruch des Industriezeitalters immer mehr auf das ländlich-bäuerliche Lebensgefüge des Dorfes zurückgedrängt. Der alltägliche Rhythmus des Tages sowie des Jahresablaufs sind religiös bestimmt. Kirchliche Traditionen, Bräuche und Feste gliederten den Lebenslauf. (Weigelt spricht von der "Liturgie des Lebensvollzugs" 34 .) Erfahrungen von Kontinuität und Tradition einerseits und Wandel und Innovation andererseits werden in kirchliche Feste miteinbezogen und prägen den Menschen von Kindheit an. Der enge Bezug dieser Festlichkeiten (z.B. Weihnachten, Ostern, Kommunion, Pfingsten, Fronleichnam, Kirchweih, Erntedank, St. Martin, Allerheiligen) zum Wechsel der Jahreszeiten und den Veränderungen in der Natur verstärken das Gefühl von Zuverlässigkeit und Vertrautheit, womit die Voraussetzungen zum Entstehen von Heimatverbundenheit gegeben sind. Die Ordnung und das Gleichmaß der Dinge eines religiösen Lebens vermitteln den Menschen Zufriedenheit, Geborgenheit, Gelassenheit und das Gefühl großer Sicherheit. (Die tiefere Ursache für Gelassenheit und Sicherheit sind wohl im Glauben an Gott und im christlichen Vertrauen auf die "himmlische Heimat" zu suchen.) Das folgende Zitat aus dem Jahre 1927 unterstreicht die Verknüpfung von Heimat und Religion und dokumentiert die Selbstverständlichkeit einer religiös geprägten Lebensgestaltung bis ins 20. Jh. hinein: "Der Wein der Religion wird im Kelch der Heimat gereicht. Das Gotteshaus, der Friedhof, die Kapelle, der Herrgottswinkel, das Jahr der Feste und Bräuche - all das sind doch Gefäße, in denen die Lehren des Glaubens dargereicht werden. [ . . . ] Was in der Jugend Erlebnis und Ereignis wurde, was einen schönen Teil der Erinnerung bildet und innig verknüpft ist mit allem, was das eindrucksame Kind liebt, das wird immer Besitz oder doch Heimweh bleiben." 35 Die Religion hat in der Vergangenheit große Bedeutung für die tägliche Lebensbewältigung.36
33
LANGE 1965, S. 207.
34
WEIGELT, in: ders. (Hrsg.) 1984, S. 20.
DÖRFLER, P. : Der Pfarrer und der Heimatgedanke, in: Heimatarbeit und Heimatforschung, München 1927, S. 51. 35
3 6 Die Verflechtung von Religion, alltäglichem Leben und Heimatbindung dokumentiert auch die Bedeutung der Kirchenglocken, welche nicht nur die Funktion hatten, an den täglichen Gottesdienstbesuch zu erinnern, sondern beispielsweise auch die Bauern vom Feld "heim" riefen. Paul Sartori (SARTORI, P.: Sitte und Brauch, Leipzig 1910 =
169 Papst Pius XII äußert Mitte des 20. Jh.: "Eines der Elemente, das der menschlichen Gesellschaft ihre feste Grundlage gibt, ihre Sicherheit, Ausgewogenheit, Gleichheit, normale Entwicklung in Raum und Zeit verschafft ist die feste Verankerung der Menschen in ihrem Boden und in ihren Sitten. " 3 ? Der Kirche ist daran gelegen, "Menschen heranzubilden, die [...] eng mit ihrer Heimat und ihrer Tradition verbunden sind". 38 In der Pflege heimatlichen Brauchtums sieht Papst Pius XII kein Überbleibsel vergangener Zeiten, "für das das Leben von heute kein großes Interesse besitze. [...] eine derartige Auffassung [...] kennzeichnet nur eine der bedauerlichsten Folgeerscheinungen der Zivilisation unseres Jahrhunderts". 39 [Die Kirche] legt Wert darauf, das religiöse Leben auf jede Weise mit dem Brauchtum der Heimat zu verbinden [...] Bodenständigkeit und Verwurzelung in den ererbten Überlieferungen gehören zu den grundlegenden Bestandteilen der menschlichen Gesellschaft." 40 Unter dem Eindruck der mit dem Ende des 2. Weltkrieges einsetzenden Massenvertreibung verbindet der Papst im "Heimat-Begriff" die Elemente Tradition, Brauchtum und Sitte mit dem territorialen Aspekt der "Bodenständigkeit". Das räumliche Element des Heimat-Beriffs spielt auch im Bereich der Seelsorge eine wichtige Rolle. Heimat meint ein konkretes Territorium, den Wohnort des Menschen innerhalb der Pfarrei. Unter Berufung auf Soziologen und Anthropologen betonen Theologen die Bedeutung des territorial gebundenen Pfarrlebens in der modernen Gesellschaft. Gerade das raumgebundene Pfarrleben vermag einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Stabilisierung der Menschen zu leisten. Es stellt einen entscheidenden Faktor für die allgemeine soziale Integra-
Handbücher zur Volkskunde Bd. V.) umschreibt mit poetischen Worten die Verbindung von Mensch, Glocke und Heimat am Beispiel eines in seine "Heimat" zurückkehrenden Menschen: "Der Ton der Glocken von den heimatlichen Türmen" rührt ihn "mächtig ans Herz, stärker und mächtiger vielleicht als einst, wo sie seinem Ohr tägliche Gewohnheit waren. [...] Bei ihrem Klang schleicht sich ihm in Geist und Herz mit zwingender Gewalt die Erinnerung [...] Denn alles hat der eherne Mund der Glocke begonnen und beendet, begleitet, geweiht und verschönt." Es bestand eine enge Verbindung zwischen der Kirchenglocke und den Lebensstationen des Menschen bis hin zum "letzten Gang" auf den heimatlichen Friedhof. (In den Begriffen "Heimgang" und "Heimrufiing" drückt sich die christliche Überzeugung von einer himmlischen Heimat, von einem Leben nach dem Tode aus.) - Der Symbolcharakter und der Klang (akustischer Auslöser) der Glocken, stellen die Verbindung zu Heimatgefiihl und Heimat-Begriff her. 37 Papst Pius XII. in einer Ansprache an neue Kardinäle am 20. Februar 1946, in: UTZ, A.F./GRONER, J . F . : Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. 3 Bde. Freiburg (Schweiz) 1954 ff., Nr. 4101 f. 38 Pius XII. in seiner Ansprache an die Vertreter des 10. Internationalen Historikerkongresses am 7. September 1955. In: GRENTRUP, Th.: Heimat als Wort, sprachgeschichtlich betrachtet, in: Christ unterwegs, 9. Jg. (1955), Heft 10, S. 1 ff. Vgl. auch GRENTRUP, Th.: Die Apostolische Konstitution "Exsul Familia" zur Auswanderer- und Flüchtlingsfrage, München 1955/56.
Pius XII. in einer Ansprache an folkloristische Gruppen aus verschiedenen Ländern am 19. Juli 1953, in: UTZ/GRONER 1954 ff. Nr. 488. 39
40
UTZ/GRONER 1954 ff., Nr. 4101 f.
170 tion im Sinne der sozialen Beheimatung dar. So betont René König, daß es in der heutigen Gesellschaft mit ihrer Mobilität und ihrem Pluralismus an Wertvorstellungen wichtig ist, daß die Institution der Kirche gemeindeorientiert sei.41 Auch der moderne Mensch wird sich in dem ihm vorgegebenen Lebens- und Wirkraum um so heimatlicher fühlen und sich ihm um so mehr verbunden wissen, je mehr seine individuellen Sozialbeziehungen zugleich auch nachbarschaftliche sind. Denn der Mensch bedarf um so mehr "nachbarschaftlicher", raumgebundener Sozialbeziehungen, je aufgespaltener das soziale Leben ist.42 Karl Rahner stellt die Frage, "auf welche Weise das Ziel der Seelsorge, der christliche Mensch, am besten erreicht wird" und diskutiert bezüglich dieser Frage das Pfarrprinzip. Im Pfarrprinzip geht die Seelsorge den Menschen von der Seite seiner territorialen Beheimatung an. "Aber der Mensch ist nun einmal ein plurales Wesen: Das 'Heimathaben' (die Ortsgebundenheit) ist nun einmal nicht das einzige Existential seines Lebens [...] Er ist als geistiges Wesen fähig und berechtigt, freie Gemeinschaften zu bilden".43 Karl Rahner verwendet "Heimathaben" und "Ortsgebundenheit" synonym. Interessant in diesem Zusammenhang ist der theologische Gebrauch der Begriffe "Pfarrei" und "Gemeinde". Während "Pfarrei" als eine "territorial umgrenzte Verwaltungseinheit der Universalkirche unter Leitung der Hierarchie"44 definiert wir, wobei statisch-rechtliche Bedeutungsmerkmale im Vordergrund stehen, umfaßt "Gemeinde" das "Ereignis des Sich-Versammelns, Offenheit [...] und Mitverantwortung aller Christen"45, wobei der Schwerpunkt auf dynamisch-personalen Bedeutungsmerkmalen liegt. Erst nach dem II. Vatikanischen Konzil hat sich der Begriff "Gemeinde" in der katholischen Theologie durchgesetzt und den Begriff "Pfarrei" weithin abgelöst. Beide Begriffe werden mit "Heimat" im Sinne einer irdischen Heimat in Verbindung gebracht. Der im Bereich der Religion verwendete Heimat-Begriff, der die "irdische Heimat" bezeichenen soll (gebräuchlich neben dem Heimat-Begriff, der die "himmlische Heimat" meint), vereint in sich räumliche, soziale und emotionale (und irrationale) Bedeutungselemente. Alfred Delp hat "Heimat" einmal bezeichnet als "menschliche Zuständigkeit, die sich ergibt in einer dauerhaften Begegnung und Verbindung mit Menschen, Landschaft, Dingen und Gebräuchen".46 Und für Franz Manthey gehören zur Heimat "nicht nur vertrauter Erdboden und
41
KÖNIG, R.: Grundformen der Gesellschaft. Die Gemeinde, 1958, S. 85 und S.
42
vgl. ROTHACKER, E.: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 157 ff.
129.
43
RAHNER, K.: Schriften zur Theologie, 10 Bde., Zürich/Einsiedeln/Köln, 8. Aufl. 1968, Bd. 2, S. 312 f. 44
Staatslexikon, hrsg. v. d. GÖRRES-GESELLSCHAFT, 7. Aufl. Bd. 2, 1986, S.
45
Staatslexikon, hrsg. v. d. GÖRRES-GESELLSCHAFT, 7. Aufl. Bd. 2, 1986, S.
815. 815. 46 DELP, Α.: Heimat, in: Stimmen der Zeit. Kath. Monatszeitschrift für das Geistesleben der Gegenwart Bd. 137, 1940, S. 278.
171 heimische Landschaft, sondern auch Gemeinschaft mit Menschen dieses Bodens und zu ständigem Besitz gewordener geistiger Raum mitsamt eines ganz besonderen Gotterlebens". 47 Aus der Innerlichkeit und Besinnlichkeit der Frömmigkeit sollen Sitte und Brauch erwachsen, "die zur Gemeinschaft erziehen, vor der Vereinsamung und Vermassung [gleichermaßen] bewahren, Geborgenheit und Heimatgefühl geben und dadurch die Lebensangst bannen". 48 Die Seelsorge sieht heute eine besondere Aufgabe darin, altes Brauchtum zu bewahren und neue zeitgemäße Sitten zu wecken. Denn "Bräuche reichen über das Individuelle hinaus ins Verbindliche als Verstrebungen im Gefüge des Miteinanders, insbesondere bei Fest und Feier. Sie unterliegen der sozialen Normgebung von Konventionen und damit auch deren Veränderungen im Kulturwandel mit seinen Modifizierungs- und Ablösungsprozessen" 49 im Gefolge des sich wandelnden Zeitgeistes. "Der seit Jahrzehnten in Gang befindliche Wandlungsprozeß auf dem Lande hat vor allem für die bäuerliche Bevölkerung, aber auch für viele andere Berufsstände tiefgreifende Veränderungen mit sich gebracht. Eine Fülle von wirtschaftlichen, sozialen und menschlichen Problemen hat zu einer permanenten Unruhe und Unsicherheit geführt", der es entgegenzuwirken gilt. "Das Dorf alter Prägung mit seiner Geschlossenheit existiert nicht mehr. Das Miteinander von politischer und kirchlicher Gemeinde ist zerbrochen." 50 Heute existiert ein pluralistisches Nebeneinander von sozialen Teilbereichen. Es handelt sich nicht mehr um ein raumgebundenes soziales Ganzes, eine geschlossene, stabile Lebenseinheit, in der sich eine Gruppe von Menschen wie selbstverständlich eingebunden weiß - wie beispielsweise bei mittelalterlichen Kirchen, bzw. Pfarreien, Markgenossenschaften oder Grundherrschaft und Gerichtssprengel, die weitgehend zusammenfielen, wo sich das wirtschaftliche Geschehen, die gesellschaftliche Hierarchie, die kulturellen Traditionen und das religiöse Leben in der gleichen Raumeinheit vollzogen 51 . Angesichts der Veränderungen der modernen Gesellschaft ist die Kirche nicht mehr Lebensmittelpunkt. Sie muß "neue Wege beschreiten um ihrem Auftrag einer auf die Lebenssituation bezogenen biblischen Verkündigung gerecht zu werden". 52 Das Gemeinschaftselement in der Liturgie soll betont werden. 53 Der Gottesdienst bleibt Mittelpunkt volkskirchlicher Ge-
47
MANTHEY, F.: Heimat und Heilsgeschichte, Hildesheim 1963, S. 14.
48
BORNEMANN, E./MANN-TIECHLER, G.v. (Hrsg.): Handbuch der Sozialwissenschaften in drei Bänden, Bd. 2, Freiburg 1964, S. 305. 49
KUNST/GRUNDMANN et al. (Hrsg.) 3. Aufl. 1987, Bd. 2, S. 3143.
50
KARRENBERG, F. (Begr.), SCHOBER, Th./HONECKER, M./DAHLHAUS, H.: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart/Berlin 7. Aufl. 1980, S. 259. 51
vgl. LANGE 1965, S. 297.
52
KARRENBERG/SCHOBER 1980, S. 259.
53
Die Liturgie stellt den "gesamten öffentlichen Kult (Gottesdienst) des geheimnisvollen Leibes Christi dar" (Pius XII.), von der kirchlichen Autorität geregelt, von hierzu bestimmten Amtsträgern vollzogen, zur Verherrlichung Gottes und zur Heiligung der Menschen. Sie hat öffentlichen Charakter und vollzieht sich in sinnfälligen Zeichen. (BORNEMANN/MANN-TIECHLER Bd. 2, 1964, S. 303).
172 meinden und die Volksfrömmigkeit soll eng mit Sitte und Brauch verknüpft bleiben bzw. werden, damit dem modernen Menschen durch ein Leben in kirchlicher Gemeinschaft ein Rückhalt in der Gesellschaft gegeben wird, der Sicherheit, Geborgenheit und "Heimatgefühl" vermitteln kann.54
6.6. Zusammenfassung zum Heimat-Begriff im Bereich der Religion Durch den Gebrauch der religiösen Metapher "himmlische Heimat" wächst dem Heimat-Begriff schon früh eine Überhöhung zu. In der religiösen Transzendierung beinhaltet der Heimat-Begriff vor allem das Bedeutungselement der "jenseitigen Geborgenheit", welches mittels der Umschreibung durch eine biblische Metaphorik erfaßt werden soll. "Heimat" ist ein urbiblisches Thema. Schon das Paradies kann als Heimat definiert werden: Das Territorium Garten Eden dient als Lebensraum für die Gemeinschaft zweier Menschen, die sich in Gott geborgen wissen. Nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies schenkt Gott den Menschen die "irdische Heimat". Diese beinhaltet nach alttestamentlichem Lebens- und Glaubensverständnis * die Gemeinschaft mit Familie, Sippe, Stamm als Teil des Bundesvolkes Jahwes, * das Land Israel als Eigentums Jahwes, * das Geborgenheitsgefühl durch die Nähe von Jahwes Heiligtum. Der neutestamentliche Mensch weiß um seine Heimat im Himmel. Sein Leben ist auf dieses Ziel ausgerichtet. Dem Christen ist, gemäß des Schöpfungsauftrages die Welt und insbesondere das Territorium auf dem er "zu Hause" ist, zur Aufgabe gegeben, und er muß den sozialen Verpflichtungen seines heimatgemeindlichen Lebens nachkommen. Der Heimat-Begriff des Neuen Testaments wird folglich auf zweifache Weise verwendet: Einmal als "irdische Heimat", die einen bestimmten Raum und eine menschliche Gemeinschaft umfaßt und zudem den christlich mitmenschlichen Umgang miteinander fordert, wodurch das Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit entstehen kann. Zum anderen als "himmlische Heimat", die entweder metaphorisch bezeichnet wird als * Raum ("Wohnung im Hause des Vaters", "ewige Wohnung", "himmlisches Jerusalem") oder als * soziales Miteinander ("Hausgemeinschaft", "Tischgemeinschaft"), wobei die * Geborgenheit in Gott als selbstverständlich in der Ewigkeit des himmlischen Friedens vorausgesetzt wird. In der kirchlichen Praxis versucht man bis in die Gegenwart, Religion und Heimat zum Zwecke einer christlichen Lebensgestaltung zu verbinden. Zwischen der Entstehung von Heimatgefühl bzw. der Festigung von Heimatverbundenheit und einer religiös geprägten Lebensgestaltung besteht bis ins 20. Jh. hinein ein
54
vgl. KARRENBERG/SCHOBER, 7. Aufl. 1980, S. 259.
173 selbstverständlicher Zusammenhang, getragen und unterstützt durch traditionelles Brauchtum der Kirche, welches das Gemeinschaftselement betont. Ein auf diese Weise im Religiösen verankerter Heimat-Begriff bezeichnet eine "irdische Heimat" , die aus einer * territorial umgrenzten Verwaltungseinheit "Pfarrei", einer * sozialen Gemeinschaft der "Kirchengemeinde" und * emotionalen Faktoren, wie Geborgenheit, Zugehörigkeit und Sicherheit, bestärkt durch die Pflege traditionellen Brauchtums, besteht. Das Vertrauen auf eine "ewige Heimat", welches den Kern eines christlichen Lebens ausmacht, findet u.a. Ausdruck in Kirchenliedern und in der neutestamentlichen Grundaussage "Unsere Heimat ist im Himmel" (Phil 3, 20).
7. Der Heimat-Begriff im Bedeutungsbereich der Literatur
7.1. Erläuterungen zum Terminus "Literatursprache" und zur Textaus wähl In diesem Kapitel werden solche Ausschnitte aus der Literaturgeschichte gewählt, in denen entscheidende inhaltliche Aspekte des Heimat-Begriffs thematisiert werden. Der Ausdruck "Heimat" ist im Bereich der Literatur für alle Epochen durchgängig zu belegen, eine semantische Analyse verspricht jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt interessante Einblicke. Da sich das Bedeutungspotential eines Begriffs in Relation zum Geschichts- und Kulturraum entfaltet, muß der zeitgeschichtliche Hintergrund so strukturiert sein, daß "Heimat" ein zentrales Anliegen der ausgewählten Epoche ist. Zur Festlegung des zeitlichen Einstiegs und für die Definition von "Literatursprache" erweist sich ein Blick in die Geschichte des Literatur- und Dichtungsbegriffs als hilfreich. Als wesentliche Orientierung bei dieser Begriffsbestimmung gilt das 18. Jh. Vor dieser Zeit gab es keine klaren Merkmale für eine inhaltlich-funktionale Auftrennung der heute getrennten Funktionsbereiche.
7 . 1 . 1 . Z u m Dichtungsbegriff der Neuzeit Gottsched formuliert 1751 in seinem "Versuch einer Critischen Dichtkunst": "Ich sage also erstlich: ein Poet sey ein geschickter Nachahmer aller natürlichen Dinge." 1 Er nimmt eine "strenge Identifikation von Vernunft und Natur vor". Der von Gottsched exponierte Gedanke einer "Vernunftnatur", die es nachzuahmen gilt, enthält Implikationen in denen "ein genuin neuzeitlicher Wirklichkeitsbegriff poetologisch und literarisch wirksam wird". 2 Eine Schwächung seiner dichtungstheoretischen Position erfährt Gottsched durch die Züricher Literaturtheoretiker J. J. Bodmer (1698-1783) und J. J. Breitinger (1701-1776). Die bei Gottsched formulierten poetologischen Prämissen werden in der Dichtungstheorie von Bodmer und Breitinger wiederaufgegriffen. Sie nutzen die Voraussetzungen, die dem Naturbegriff bei Gottsched zugrunde liegen, zu einer wesentlich konsequenteren Ausarbeitung dessen, was in der Dichtung möglich und erlaubt ist. 3 Von Renaissance-Denkern wie Cristoforo Landino, Tasso und Scaliger übernehmen sie Anregungen eines neuen Poetik-Konzepts, die sie mit Leibniz' Lehre von den
1
GOTTSCHED, J. Ch.: Versuch einer Critischen Dichtkunst, Darmstadt 1962 (Nachdruck der 4. Aufl., Leipzig 1751), S. 98. 2 BRENNER, P. J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung ( = Studien zur deutschen Literatur, Bd. 69), Tübingen 1981, S. 37 ff. 3
vgl. BRENNER 1981, S. 43.
175
möglichen Welten verbinden.4 "Der Dichter - Bodmer belegt es am Beispiel Miltons - kann nicht nur das mögliche Wunderbare vorstellen, sondern er zieht es sogar noch dem Wirklichen [...] vor, weil gerade dies den Unterschied des Poeten zum Geschichtsschreiber und Naturkundigen ausmache."5 Die Welt der dichterichen Phantasie sei eine mögliche Welt meint Breitinger und erläutert diesen Begriff in Abgrenzung zur wirklichen Welt: "Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit."6 "Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter allein der Name [...] eines Schöpfers zu, weil er [...] auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet [...]. "7
Die Ablösung des poeta-imitator Gedankens der älteren Poetik durch den poetacreator Gedanken ist als das neuzeitliche Dichtungskonzept anzusehen. Erst dieses Konzept ermöglicht "eine prinzipielle theoretische, von der Sprachform unabhängige Unterscheidung von Dichtung und Nichtdichtung".8 Johann Georg Hamann hat "das Problem der methodischen Trennung der Funktionsbereiche Dichtung, Philosophie und Wissenschaft am frühesten erkannt. [...] Bei der Bestimmung von Dichtung zielt er auf die Operation des sythetisierenden Entwerfens von fiktionaler Welt aus Sprache. [...] Seitdem ist [...] eine Aufgliederung [...] der kulturellen Kommunikation [...] zur Diskussion gestellt".9 Die neuzeitliche Auffassung des poeta creator weist dem Dichter die Aufgabe zu, poetische Kontrastwelten zu entwerfen. Literarische Fiktionen in Gestalt von neuen Weltentwürfen, Deutungen der Wirklichkeit, Gegenentwürfen, Utopien, dienen dazu, die empirische Welt kritisch zu beleuchten. So können Werte für die Gesellschaft erschlossen werden, aus denen sich Verhaltensnormen ableiten lassen.10 Im Sinne des neuzeitlichen Dichtungskonzepts wird der Terminus "Literatursprache" in der vorliegenden Schrift ausschließlich verwendet für fiktive, künstlerische, "schöne" Sprachwerke. Sein Verhältnis zu den Termini "Schriftsprache", "Hochsprache", "Standardsprache", "Einheitssprache" wird nicht behandelt. Literatursprache ist ausschließlich literarisch verwendete Sprache, sie muß poetischen Zwecken und Zielen dienen und das unterscheidet sie von der Sprache anderer Kommunikationsbereiche. Literatursprache integriert die Sprache verschiedener funktionaler und sozialer Dimensionen im Dienste des jeweiligen
4
vgl. STEGER 1982 b, S. 17 f.
5
vgl. BODMER, J. J.: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, Stuttgart 1966, S. 32. 6
BREITINGER, J. J.: Critische Dichtkunst, 2 Bde. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, Stuttgart 1966, hier Bd. 1, S. 56 f. 7
BREITINGER 1740, S. 60 f.
8
STEGER 1982 b, S. 18.
9
STEGER 1982 b, S. 18 f.
10
vgl. STEGER 1982 b, S. 33; ders.: 1982 a, S. 9 ff; ders.: 1984 b, S. 99.
176 dichterischen Kunstwerks. 11 Sprache und zu Literatur verdichtete Sprache erhellen die menschlichen Wertorientierungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen. 12 In diesem Sinne trägt die Untersuchung des Heimat-Begriffs im Literatursprachen-Bereich auch dazu bei, bewußtseinsmäßige Strukturen offenzulegen, die hinter individuellen subjektiven Heimatvorstellungen der alltäglichen Lebenspraxis stehen. Kulturelle und soziale Entwicklungen sowie die daraus resultierenden Wertvorstellungen spiegeln sich in der Literatur. Im Laufe der sozialen Evolution entwickelt sich eine Dialektik von Stadt und Land. Hinter "Stadt" stehen Begriffe wie: "Zivilisation", "Modernität", "Komplexität". Mit "Land" werden Begriffe wie: "Natur", "Idylle", "Agrarcharakter", "Traditionalität", "Abseitigkeit", "Einfachheit" assoziiert und all diese "Land"Begriffe sind bis ins 20. Jh. hinein als Bedeutungsfaktoren im Heimat-Begriff enthalten. Die genannten Antagonismen des soziologischen Bereichs werden poetisch reflektiert. Das Lob des Landlebens ist als literarischer Topos schon in der Antike vorhanden, gewinnt in der Moderne an Bedeutung und findet bis ins 20. Jh. hinein Verwendung. Der Entwurzelung, Einsamkeit, Entfremdung, der "Heimatlosigkeit" des Menschen in der modernen Gesellschaft wird ein poetisches Konzept entgegengestellt, in welchem seine ursprüngliche Harmonie mit der Welt wiederhergestellt wird. Durch den Zivilisationsprozeß wird die Sehnsucht nach Heimat zum Grundbestand des modernen Gefühlsinventars. 13 Diese Sehnsucht schlägt sich in der Gestaltung poetischer Gegenwelten nieder, teils mit nostalgischem, teils mit utopischem Hintergrund. Heimat ist entweder der idyllische Fluchtraum mit rückwärtsgewandten, der Vergangenheit verhafteten Vorstellungen oder Heimat wird, aus einem vorwärtsgewandten, politisch und sozial motivierten Geist als "eine noch zu schaffende" bezeichnet. Eng mit dieser utopischen Bedeutung verknüpft ist der Aspekt des Entronnenseins (Adorno), der im Heimat-Begriff der Exilierten eine zentrale Rolle spielt. Heimat wird literarisch dargestellt als der Ort, wohin man "entronnen" ist und der nun aktiv gestaltet werden muß. 1 4 Aus der subjektiven Erfahrung des Literaten erwächst seine poetische Gestaltungskraft. Sein Bedürfnis, mittels Sprache fiktive Welten zu schaffen ist um so stärker und unabdingbarer, je tiefer seine Persönlichkeit erschüttert worden ist. Die literarischen Heimatentwürfe der poetischen Gegenwelten sind vom subjektiven Heimatbild des Dichters geprägt und werden seit dem 18. Jh. in Verstärkern Maße mit elementaren menschlichen Bedürfnissen verknüpft.
11
vgl. STEGER 1982 b, S. 13; ders.: 1982 a, S. 9.
12
GREVERUS 1972, S. 382; ders. 1979, S. 35.
13
vgl. MECKLENBURG, N.: Die grüne Insel. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes, München 1987, S. 62 und S. 82. 14
vgl. MOOSMANN (Hrsg.) 1980, S. 213 f.
177
7.2. Der Heimat-Begriff in der "Idylle" Das 18. Jh. bietet sich als Ansatzpunkt für eine Untersuchung des HeimatBegriffs in der Literatur an. Definiert man Heimat inhaltlich als einen Raum, der Identifikation und Sicherheit gewährt, könnte man als Beginn der literarischen Heimatdarstellungen die Idyllen des 18. Jh. ansehen, denn "die Idylle ist jener Raum, aus dem alles Widrige und Fremde entfernt ist". 15 Zudem wird dort erstmals im deutschsprachigen Bereich eine wesentliche Kontrafunktion des Heimat-Begriffs entwickelt und zwar "die Schaffung einer Gegenwelt zum Zwecke der Kritik am Städtischen, Zivilisatorischen oder aber als Flucht vor der unbewältigten Auseinandersetzung mit ihm". Dies bezeichnet Wegener als das "Grundmotiv aller Heimatliteratur". 16 Der Weg, den "Idylle" und "Heimat" verbindet, läßt sich zurückverfolgen. 17 Der Genrebereich der Idyllen entspricht dem klassischen locus amoenus, den bereits die römische Bukolik ausgestaltet hat. Die Tradition des Rückzugs zum Landleben geht auf Vergil zurück, der dem großstädtischen Luxusleben Roms in den Geórgica die einfache, naturnahe Lebensweise seiner ländlichen Heimat gegenüberstellte. Auch bei der Kontrafunktion der Bukolik für die höfische Gesellschaft ist es "nicht auf Abbilder der realen Gesellschaft, sondern auf Gegenbilder" angekommen, auf "Idealbilder mit den verschiedenen Zielsetzungen politischer und weltanschaulicher Art". 18 "Der Stadt oder dem Hof als Stätte der Degeneration, des Sittenverfalls, der Verkünstelung, der Korruption und der Intrigen wird das Land als Hort des unverfälschten Lebens, der reinen Empfindungen und der guten Sitten, [...] gegenübergestellt." 19 Salomon Geßner schreibt im Vorwort zu seinen Idyllen: "Oft reiß ich mich aus der Stadt los und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüt allem dem Ekel und allen den widrigen Eindrücken, die mich aus der Stadt verfolgt haben. ',2°
15
GLASER, Η. Α.: Heimat unterm bösen Blick, in: WEIGELT (Hrsg.) 1986, S. 93110, hier S. 96. 16
WEGENER, M.: Die Heimat und die Dichtkunst, in: SCHMIDT-HENKEL, G. et al. (Hrsg.): Trivialliteratur. Aufsätze, Berlin 1964, S. 53-62, hier S. 53. 17 vgl. ROSSBACHER, K.: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende ( = Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie, Bd. 13), Stuttgart 1975, S. 131. 18 SENGLE, F.: Wunschbild Land und Schreckbüd Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur, in: Studium generale, Jg. 16 (1963), H. 10, S. 619-631, hier, S. 621. 19
HINCK, W.: Heimaüiteratur und Weltbürgertum. Die Abkehr vom Ressentiment im neuen Heimatroman, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 42-57, hier S. 46. 20
GEßNER, Salomon: An den Leser (Vorwort zu den Idyllen, erster Teil), in: GEßNERs Werke. Auswahl, hrsg. von Adolf FREY, Berlin und Stuttgart o. J., S. 63.
178 In Gessners Idylle "Die Nacht" heißt es: "Stille Nacht! Wie lieblich überfällst du mich hier! hier am bemoosten Stein. Ich sah noch den Phöbus, wie er hinter den Stufen jener Berge sich verlor." [...] O! wie schön ist alles in der sanften Schönheit! Wie still schlummert die Gegend um mich! Welch Entzücken! Welch sanfter Taumel fließt durch mein wallendes Herz! [...] Ihr Freunde!"21
Das Naturerlebnis wird hier zur Idealsituation ohne Einschränkung durch jedwede Widrigkeit.22 Im Verlauf ihrer Tradition wird die Idylle immer stärker materialisiert und verliert dabei ihre Funktion, Gegenbild zur Zivilisation zu sein.23 Im Begriff "Heimat" hingegen verstärkt sich gerade diese Gegenbildfunktion, vor allem durch seine Ideologisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das bereits im 18. Jahrhundert voll ausgebildete Gegensatzschema Zivilisation/Stadt contra Natur/Land verstärkt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Landleben wird mit "Heimat" gleichgesetzt und ausschließlich positiv besetzt. Ein weiterer wichtiger Gegenbegriff zu "Heimat", die "Fremde", wird im 18. Jahrhundert literarisch im Reisemotiv thematisiert.
7.3. Der Heimat-Begriff in der "Robinsonade" In den Texten, die als Robinsonade zu bezeichnen sind, werden unterschiedliche Themen aufgegriffen. 24 Die vorliegende Studie greift den Aspekt eines literarischen Gegenentwurfs heraus. Zentraler Antagonismus sind die Ausdrücke "Heimat" und "Fremde", deren Inhalte sich jedoch umkehren. Es wird deutlich, daß in der Fremde die positiven Heimatelemente zu finden sind, während das "Vaterland" keine sozial gesicherte Heimat bieten kann. Die literarische Gestaltung von Robinsonaden vollzieht sich im Rahmen einer fiktiven Autobiographie, deren Medium die Reise ist. Ein Subjekt berichtet von merkwürdigen, teilweise wunderbaren Abenteuern seiner Auswanderung. Die Reisen der Robinsonaden sind nicht nur Flucht vor der europäischen Gesellschaft, sondern auch eine Akkumulationsbewegung. Die Situation im zurückgelassenen "Heimatland" wird meist realistisch eingeschätzt:
21 GEßNER, S.: Die Nacht, in: GEßNERs Werke. Auswahl, hrsg. von Adolf FREY, Berlin und Stuttgart o. J., S. 3. 22
vgl. ROSSBACHER 1975, S. 128.
23
vgl. ROSSBACHER 1975, S. 131.
24
Eine diesbezügliche Analyse bietet FOHRMANN, J.: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 59 ff.
179 "Allein ich gab ihn zu verstehen, wie die wenigen Güter lange nicht zureichend wären, Standesmäßig davon zu leben, eine reiche Heirath wäre etwas ungewisses, und zudem wäre ich auch noch alzujung mich zu verheyrathen; sondern ich bliebe vielmehr gesonnen, mich in fremde Länder zu begeben, vielleicht könte ich daselbst mein Glück machen. " 25 "[...] auf eine Heyrath mit einem reichen alten Weibe es ankommen zu lassen, lief auch wider seine Inclination [...] und er beklagte sich über seinen verworrenen Zustand bey einem Freunde in Hamburg, der in Ost- und Westindien gewest. [...] Mein Herr, sagte dieser [...] Es ist ein Fehler von ihm, daß er durch blosse Meriten sich emporbringen, und so lange als volontaire sein Glück tentiren [...] Jedoch will ich selbsten noch einen Vorschlag thun. Weil es ihm in Europa allzu widerwärtig gehet, so versuche er sein Glücke in Ost- oder West-Indien." 26 Gerade dadurch zeichnen sich die Robinsone des 18. Jh. also aus: Sie ziehen das Programm der primären Akkumulation dem Verbleib in Stand und Deklassierung vor. Darin besteht das eigentlich Abenteuerliche in ihren Lebensgeschichten. 27 Die alte Heimat wird verlassen, um sich auf einer fernen Insel eine neue kleine Heimat einzurichten: "Und so leben wir itzt in einem kleinen Zirkel vergnügt, aber abgesondert von der großen Welt [...] auf unserer Insel. Ich und mein lieber Schwager Karl, meine Schwester und Netti sind unzertrennlich, und beinahe unsere einzige Gesellschaft." 28 Die neue Heimat umfaßt einen kleinen Lebensraum und eine Gruppe von Menschen, die in enger Beziehung zueinander stehen. Man strebt das Ideal einer "Heimat" an, die sich durch die Tugend der kleinfamilialen bürgerlichen Privatheit verwirklichen läßt. Ziel ist ein ruhiges zufriedenes Leben. Johann Gottfried Schnabel verbindet in seiner "Wunderlichen Fata einiger Seefahrer" (Kurztitel: "Die Insel Felsenburg") 29 die Elemente der Robinsonade mit denen der Utopie. Schnabels Werk wird zu einem der populärsten Bücher seiner Zeit und nirgends sonst "erfahrt der Leser so viel über das Leben des 18. Jh.". 30 "Heimat" ist bei der "Wunderlichen Fata" in vielfaltiger Weise auszumachen und häufig mit sozialkritischen Aspekten versehen. Für den Protagonisten der Erzählung war Heimat zunächst das alte Europa, sein "Vaterland". Neue Heimat wird ein Idealstaat utopischen Glücks, die Insel Felsenburg in Ostindien:
25
zit. nach FOHRMANN 1981, S. 84.
26
STIEFF: Schlesischer Robinson, zit. nach FOHRMANN, S. 84.
27
vgl. FOHRMANN 1981, S. 85.
28
zit. nach FOHRMANN 1981, S. 88.
29
SCHNABEL, Johann Gottfried: Die Insel Felsenburg (Wunderliche Fata einiger Seefahrer), 3 Bde., veröffentlicht 1731, 1732 und 1736, unveränderter Nachdruck, Darmstadt 1964. 30
HOLLMER, H./LUBKOLL, Ch. et al.: Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. Von Gottsched bis Goethe, München 1988, S. 228.
180 "Mein Vaterland, oder nur einen eintzigen Ort von Europa wieder zu sehen, ist niemals mein Wunsch gewesen, derowegen habe mein weniges zurück gelassenes Vermögen, so wohl als Schimmer, gern im Stich gelassen und frembden Leuten gegönnet, bin auch entschlossen, biß an mein Ende dem Himmel unaufhörlichen Danck abzustatten, daß er mich an einen solchen Ort gefiihret, allwo die Tugenden in ihrer angebohrnen Schönheit anzutreffen, hergegen die Laster fast gäntzlich verbannet und verwiesen sind.' 31 Die Fremde entwickelt sich zur eigentlichen Heimat, die persönliche Entfaltung und Wohlergehen gewährleistet.
7.4. Zum Heimat-Begriff in der literarischen Epoche der Romantik Die deutsche Romantik als Gegenbewegung gegen Aufklärung, Vernunft, Kosmopolitismus, rationalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftsdenken, bringt das Thema Heimat in seiner gängigsten literarischen Bedeutung hervor: Heimat als emotional aufgeladener Begriff, der mit Natur und ländlichem Leben zusammenhängt und Stimmungen wie Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Abgesichertheit assoziieren läßt. 32 Identität, ein zentraler Bedeutungskern von Heimat, erscheint in der romantischen Dialektik in vielerlei Gestalt. Beispielsweise lebt Eichendorffs Werk von der Dialektik zwischen Identitätshoffnung und -verlust. Zu Beginn seiner Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" 33 fordert der Müller seinen arbeitsscheuen Sohn auf: "Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir dein Brot." 34 Dem von Fernweh erfüllten Jungen kommt dieses Anliegen sehr entgegen und er erwidert: "[...] wenn ich ein Taugenichts bin, so ist's gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen". 3 5 Man spürt den Drang zu Wandlung und Erneuerung. Im Rahmen der Erlebnisse in der Fremde, wird dem inneren Bedürfnis nach Heimat literarisch Ausdruck verliehen. Eichendorffs Held wird während seiner Wanderung mit dem Altvertrauten konfrontiert; "er begegnet erschauernd dem Wohlbekannten". 3 6 Das Fernweh führt den Taugenichts bis nach Italien, von wo ihn jedoch die Sehnsucht nach der Heimat und nach seiner geliebten Aurelie wieder fortlocken. Trotz der eindringlichen Gestaltung des Identitätsproblems gilt Eichendorff in erster Linie als romantischer Dichter der "jugendlichen Unbeschwertheit, der
31
SCHNABEL, J. G.: Wunderliche Fata I, S. 366.
32
vgl. MOOSMANN (Hrsg.) 1980, S. 46.
33
EICHENDORFF, J.v.: Aus dem Leben eines Taugenichts, Stuttgart 1974.
34
EICHENDORFF: Taugenichts, S. 3.
35
EICHENDORFF: Taugenichts, S. 3.
36
vgl. NÄGELE, R.: Simili Modo: Zeiträume der Heimat. Zu Peter Handkes "Langsame Heimkehr", in:POTT (Hrsg.) 1986, S. 113-131, hier S. 114.
181 schweifenden Sehnsucht, der jungen Natur.37 Naturgefühl ist ein wichtiges Element romantischen Dichtens. Der Heimat-Aspekt Landschaft/Natur ist dominant in Novalis Gedanken und wird als intensives individuelles Erleben gestaltet, das einzig dem Dichter vergönnt sei: "Nur [die] Dichter haben es gefühlt, was die Natur den Menschen sein kann [...] Alles finden sie in der Natur. Ihnen allein bleibt die Seele derselben nicht fremd [...] Alles weiß sie zu verschönern, zu beleben, zu bestätigen [...] Drückt nicht die ganze Natur [...] den Zustand eines jeden der höheren, wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen?"38 Auch Hölderlin erlebt die Harmonie mit der Natur als Heimat. "Längst rief ich, o Natur! ist unser Leben Eins mit dir."39 Häufig preist er sein schwäbisches Herkunftsland als heimatliche Landschaft: "Holde Landschaft! wo die Strasse/Mitten durch sehr eben geht/Wo der Mond aufsteigt, der blasse/Wenn der Abendwind entsteht/Wo die Natur sehr einfältig/Wo die Berg' erhaben stehn/Geh'ich heim zuletzt, haushältig,/Dort nach goldenem Wein zu sehn."40 Der zentrale romantische Motivkomplex des Wanderns birgt Fernweh und Heimweh in sich. In Hölderlins "Wanderer" wird zunächst ein Gegenbild zum Landschaftsbild seiner Heimat entworfen. Über die Extreme von sengender Wüste und Eismeer findet der Wanderer die Heimat: "Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren Ebenen hinaus/[...] Auch den Eispol hab' ich besucht/[...] Alt bin ich geworden indess, mich blaichte der Eispol/Und im Feuer des Süds fielen die Locken mir aus/Doch, wie Aurora den Titon, umfängst du in lächelnder Blüthe/Warm und fröhlich, wie einst, Vaterlandserde, den Sohn/Seeliges Land!"41 In Lenaus Lyrik ist das Motiv des ewig Einsamen, ewig Wandernden, des vergeblichen Heimwehs dominant: "Muß von hier auch weiter wandern/Nirgends auch nur Lampenschein!" (Der Unbeständige)
37
Zu Eichendorffs Heimatbegriff vgl. GREVERUS 1972, S. 361 u. S. 368.
38
NOVALIS: Werke, Briefe, Dokumente, hrsg. von E. WASMUTH, 4 Bde. Heidelberg 1953-1957, hier Werke I. 1953, S. 261-263. 39
HÖLDERLIN Sämdiche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch N. v. HELLINGRATH, fortgeführt durch F. SEEBASS und L. v. PIGENOT, 2. Aufl. Berlin 1923, hier Bd. 2, S. 213. 40
HÖLDERLIN, 2. Aufl. Bd. 4, 1923, S. 38.
41
HÖLDERLIN: Der Wanderer (1796), in Werke Bd. 2, S. 26 ff.
182 "Du wanderst fort [...]/Hier ist der Pfad, so schlangenkrumm und kalt [...]/Und fortfuhrt in die Fremde, ins Vergessen! " (Scheiden) "Durch die öden Haine weht/Heimweh; - alles flieht und scheidet." (Herbstentschluß)42 Heimat wird häufig aus der Erfahrung des Verlustes heraus thematisiert. Das Gefühl von Einsamkeit wird Heimweh genannt, so z.B. in Chamissos Gedicht "Heimweh": "Was sprecht ihr mir zu? Vergebens!/Mein Herz versteht euch nicht./Bin fremd in eurem Land;/Hier schmerzt mich das Tageslicht. - Hier dehnt sich das flache Gefilde/So unabsehbar und leer,/Darüber legt sich der Himmel/So freud- und farblos und schwer. - Es sieht mein müdes Auge,/Umflort von bittrem Thau,/Nur blasse Nebelgestalten,/Verschwindende Grau in Grau. - Es rauschen fremde Klänge/Vorüber an meinem Ohr,/Es zählet die innere Stimme/Nur Schmerzen und Schmerzen mir vor. "43 Neben dem Verlust einer vertraut gewordenen Landschaft wird vor allem das verlorenen Paradies einer Kindheits-Heimat mit "Heimweh" umschrieben. In Chamissos "Das Schloß Boncourt" beschließt der neue Aufbruch aus der Rückschau in die Kindheits-Heimat das Gedicht: "[...] Die Weiten der Erde durchschweifen/Und singen von Land zu Land."44 In Lenaus "Einst und jetzt" zeigt die "Wiederkehr ins traute Tal" nur das Verlorene: "Blumen fort und Nachtigallen,/Und das gute Mädchen auch!/Meine Jugend fort mit ihnen;/Alles wie ein Frühlingshauch."45 Bei Hölderlin heißt es: "Da der Jugend goldne Träume starben,/Starb für mich die freundliche Natur;/Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen,/Daß so fern dir die Heimat liegt,/Armes Herz, du wirst sie nie erfragen,/Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt. "46 Die Erkenntnis des endgültigen Verlustes des Vergangenen führt zur Vergoldung von Vergangenheit und "Heimat":
42 LENAU, N.: Sämtliche Werke, Briefe, hrsg. v. H. ENGELHARD, Darmstadt 1959, S. 113, S. 46, S. 222. 43
CHAMISSOS Werke, hrsg. v. H. TARDEL. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, 3 Bde., Leipzig/Wien o. J., hier Werke I, S. 59. 44
CHAMISSO: Werke, Bd. I, S. 67.
45
LENAU: Werke, 1959, S. 29.
46
HÖLDERLIN, 2. Aufl. 1923, Bd. 2, S. 8 f.
183 "Wohin ich komme, fühle ich einen Mangel, der das Herz drückt;/etwas Besseres als das Augenblickliche ist es, was ich haben will;/ja, etwas Besseres, das Beste, aber wo und was ist es?/Im Grunde weiß ich wohl, was ich haben will, ich will zu einem/glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!" (Andersen)47 "Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom/Von fernen Inseln, wo er geerntet hat;/Wohl möcht auch ich zur Heimat wieder;/Aber was hab ich, wie Leid, geerntet?-/ Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt,/Stillt ihr der Liebe Leiden? ach! gebt ihr mir,/ Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich/Komme, die Ruhe noch Einmal wieder?" (Hölderlin)48
Die gewählten Zitate haben aufgezeigt, daß in der Romantik der Erfahrungszusammenhang "Heimat" exemplarisch gestaltet worden ist. Mittels der Dialektik der romantischen Epoche lassen sich zentrale Elemente des Heimat-Begriffs verdeutlichen. Der Antagonismus Heimat und Fremde versinnbildlicht bergendes vertrautes Inneres gegenüber drohendem Draußen; Identitätssuche gegenüber Identitätsverlust. Die Verlusterfahrung ist Auslöser von all den Gefühlen, die dichterischen Ausdruck im "Heimweh" gefunden haben.49
7.5. Zum Heimat-Begriff des poetischen Realismus Das Scheitern der Revolution von 1848 gilt allgemein als Beginn der literarischen Epoche des poetischen Realismus. Die Dichter dieser Epoche, die zum überwiegenden Teil dem Bürgertum angehörten, versuchen ihren realen politischen Lebensweltverlust durch eine erdichtete Heimat zu kompensieren. Entscheidendes Stichwort des poetischen Realismus ist die "Kleine Heimat". Sie ist Synonym für Familie, Dorf, Kleinstadt als "äußere" Heimat-Faktoren. "Kleine Heimat" meint Innerlichkeit, ist Ersatzwert und Gegenpol zur drohenden Einsamkeit. "Kleine Heimat" bedeutet Rückzug, teilweise Resignation, Beharren auf bewahrenswertem Alten. Dichterisch vermittelt wird das Heimatliche durch lächelnden Humor und Verweilen bei Details (besonders bei Gottfried Keller); dadurch wird das kleine Glück einer engen Lebenswelt hervorgehoben und ein Gegenpol zum Fremden in der realen Welt geschaffen. In den altersnostalgischen Spätwerken wird durch Rückblicke und ein Leben in der Erinnerung Heimweh nach Kinder- und Jugendzeit gestaltet (besonders im Spätwerk Wilhelm Raabes). Adalbert Stifters (1805-1868) Anliegen ist es, den Widersprüchen seiner Zeit zu begegnen, indem er das Kleine und Alltägliche als das wahre Große und
47
Hans Christian ANDERSEN: "Die Galoschen des Glücks", zit. nach MOOSMANN (Hrsg.) 1980, S. 169. 48 HÖLDERLIN, zit. nach der sechsbändigen Ausgabe von F. BEISSNER 1944-1965 Bd. 1, 1944, S. 251. 49
vgl. NÄGELE, in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 114.
184 Erhabene deutet. Dieses zentrale Thema wird in erster Linie im "Nachsommer"50 durch den Rückzug in eine überschaubare kleine Heimat gestaltet. Die Bindung an Familie und Haus stehen symbolisch für "Heimat"; sie bedeuten Vertrautheit und Ordnung; alles und jeder Fremde wirkt störend: "Mich wollte man wahrscheinlich aus dem Spiele lassen, weil ich nie, wenn fremde Menschen in den Asperhof gekommen waren, gefragt hatte, wer sie seien. Gustav benahm sich hier auch beinahe wie ein Fremder."51 [...]"Im Garten war es so, wie es bei einer größeren Anzahl von Gästen in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt. Man bewegte sich langsam vorwärts, man blieb bald hier, bald da stehen, [...] besprach sich [...] Ich achtete auf alles, was gesprochen wurde, gar nicht."52 Zum Fremden wird kein innerer Bezug hergestellt; es dient als Kontrast zur Heimat. Das zeigt die Beschreibung der Europareise Heinrichs, wo durch additive Reihung von Ortsnamen ein Land dem anderen gleicht und ein inneres Unbefriedigtsein und Fremdfühlen verdeutlicht wird: "Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toleda, Madrid und vielen anderen minderen Städten. Von Spanien ging ich nach Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. "53 Im "Witiko" stellt Stifter den als verhängnisvoll eingeschätzten Folgen der Revolution von 1848 sein Ideal eines christlichen Staates mittelalterlicher Prägung gegenüber. Die Schaffung und Erhaltung von "Heimat" wird als Lebenssinn begriffen. An einer Stelle begrüßt Witiko seine Landsleute mit den Worten: "Seid mir von Herzen gegrüßt, alle ihr Männer, deren Heimath von Fichtenzweigen umweht ist oder von den Zweigen der Tannen und Föhren oder umrauscht von denen der Buchen und Ahornen, welche zu den Millionen der Bäume gehören, die da wachsen, wo die junge Moldau von Abend gegen Morgen geht. " M Hier wird offensichtlich, daß der Böhmerwald prägende Umwelt für Stifters literarisches Schaffen ist. Stifters Heimat-Begriff wird in engem Zusammenhang mit "Landschaft" gesehen. "Auf Stifter berufen sich alle, die ihre Kunst aus der Verbundenheit mit einer bestimmten Landschaft herleiten. Er hat die Heimat als
50
STIFTER, Α.: Der Nachsommer, in: Adalbert Stifter Gesammelte Werke, Bd. 4, Wiesbaden 1959. 51
STIFTER: Nachsommer, S. 519.
52
STIFTER: Nachsommer, S. 520.
53
STIFTER: Nachsommer, S. 832.
54
STIFTER: Witiko, zit. nach REMPEL, H.: Aufstieg der deutschen Landschaft. Das Heimaterlebnis von Jean Paul bis Adalbert Stifter, Gießen (Lahn) 1964, S. 174.
185 höchsten Inhalt menschlichen Wirkens dichterisch lebendig werden lassen und damit eine Landschaft zum erstenmal in der ganzen Breite und Tiefe ihrer Existenz poetisch verwirklicht." 55 W o die Verbundenheit von Mensch und Natur, die Aussöhnung von Mensch und Mitmensch gelingt, entsteht Heimat. Insofern bedeutet Heimat für Stifter auch Ordnug und Harmonie; Mensch und Umwelt müssen in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen und die Landschaft ist die Metapher dieser Ordnung. 56 Das Motiv der Landschaft verknüpft Stifter häufig mit weiteren HeimatAspekten wie Haus/Besitz und Stadt-Land-Opposition. "[...] und wie war sie [Corona] jetzt, da sie auf dem Platz stand ergriffen, fast erschüttert, da sie wußte, wie schwer der Erwerb [eines Stück Heimatlandes] sei, wie der ihrige nur das zufällige Ergebnis des glücklichen Talentes ihres Mannes sei, und wie langsam es gedeihe, bis man zu einer Stelle dieser Erde sagen könne: diese ist mein Freund und diese ist meine Heimat."57 In dem zitierten Textausschnitt aus "Der Waldgänger" wird ein Stück Erde als "Freund" und "Heimat" bezeichnet. Im folgenden Zitat geht es ebenfalls um Heimat als Verbundenheit mit Erde, Besitz und Tradition: "Darum hat der Großstädter, der stets erneuert, keine Heimath, und der Bauernsohn, selbst wenn er Großstädter geworden ist, hegt die heimliche, sanft schmerzende Rückliebe an ein altes, schlechtes Haus, wo die Bretter, Pfähle und Truhen seiner Voreltern standen und stehen. "58 Auch die Tatsache, daß Stifters düstere Erzählung "Turmalin" in der Stadt angesiedelt ist, ist bezeichnend für Stifters antagonistische Gestaltung der StadtLand ( = Heimat) Thematik. 5 9 Theodor Storm (1817-1888) hat einen sehr engen Bezug zu seiner Heimatstadt Husum. Als er sie aus politischen Gründen für einige Jahre verlassen muß, prägt Heimweh sein literarisches Werk. "Liegt eine Zeit zurück in meinem Leben-/Wie die verlaßne Heimat schaut sie ausWohin im Heimweh die Gedanken streben;/Du kennst sie wohl; auch du warst dort zu Haus.'""
55
REMPEL 1964, S. 139 f.
56
vgl. REMPEL 1964, S. 179.
57 s TI FTER: Der Waldgänger, zit. nach REMPEL 1964, S. 158. ss STIFTER: Erzählungen, zit. nach REMPEL 1964, S. 158 f. 59 60
vgl. ROSSBACHER 1975, S. 29.
STORM, Th.: Liegt eine Zeit zurück, in: Theodor Storm. Gedichte, hrsg. von K. E. Laage u.a., Husum 1975, S. 70.
186 Für Storm entsteht "Heimat" durch vertraute Umgebung und ebenso durch vertraute Menschen; sie vermitteln Sicherheit und ermöglichen persönliche Entfaltung. Er schreibt in einer frühen Schaffensphase an seinen Vater: "Wäre ich in der Heimat geblieben, so würde mir mein Talent eine Quelle, nicht allein innerlichen, sondern auch äußerlichen Wohlseins geworden sein. Wäre ich in meinem Garten in Eurer Nähe, zwischen Menschen geblieben, zwischen denen ich aufgewachsen, in der Atmosphäre, in der die Erinnerungen unserer Familie leben, ich würde Manches geschrieben haben. Unter diesen Verhältnissen, wo mir sogar die einfachste Behaglichkeit des Lebens abgeht, wird der kleine Strom bald versiegen. "61 Gottfried Keller (1819-1890) gestaltet in den Leuten von Seldwyla ein kritisches Modell von Heimat als Provinz und Gemeinde, deren patriarchalische Verhältnisse ironisiert werden. Durch Humor verfremdet wird ein partikularer Bereich für die gesellschaftliche Wirklichkeit im ganzen genommen. 62 In "Romeo und Julia auf dem Dorfe" 63 thematisiert Keller den Vorgang und die Ursachen von Entheimatung. 64 Entrechtete Menschen wie der "schwarze Geiger" werden einer "Gesellschaft der Heimatlosen"65 zugerechnet, der jede Möglichkeit, sich eine Heimat in Form von Besitz zu verschaffen, vorenthalten wird. So berichtet der "schwarze Geiger", wie er um sein Erbe betrogen worden ist: "Da haben sie vor Jahren ausgeschrieben, dass ein Stück Geld für den Erben dieses Ackers bereit liege; ich habe mich zwanzigmal gemeldet, aber ich habe keinen Taufschein und keinen Heimatschein und meine Freunde, die Heimatlosen, die meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugnis, und so [...] bin [ich] um den blutigen Pfennig gekommen, mit dem ich hätte auswandern können!"66 Romeo (Sali) und Julia (Vrenchen), die sich auf einem aussichtslosen Weg befinden, der sie immer weiter von der bürgerlichen Welt entfernt, wirken der drohenden äußeren Heimatlosigkeit durch den inneren Wert ihrer Liebe entgegen. Als Sali sich von den "schwarzen Häusern" der Stadt aufmacht um sein Vaterhaus und das geliebte Vrenchen aufzusuchen heißt es:
61 Theodor Storms Brief an seinen Vater vom 24. Jan. 1856, in: STORM, Th.: Werke. Gesamtausgabe in drei Bänden, hrsg. und eingeleitet von Hermann ENGELHARD, Bd. 3.: Novellen, Schriften, Briefe, Stuttgart o. J., S. 655. 62
vgl. MECKLENBURG 1987, S. 55 f.
63 KELLER, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe, in: Gottfried Keller Gesamtausgabe in sechs Bänden, Zürich o. J. Bd 3: Die Leute von Seldwyla, S. 56-122. 64
vgl. ROSSBACHER 1975, S. 189.
65
KELLER: Die Leute von Seldwyla, S. 116.
66
KELLER: Die Leute von Seldwyla, S. 85 f.
187 "Sali strich aus dem Tore und seiner alten Heimat zu, welche ihm jetzt erst ein himmlisches Jerusalem zu sein schien mit zwölf glänzenden Pforten, und die sein Herz klopfen machte, als er sich ihr näherte."67 Eine Heimat wird den beiden Liebenden jedoch von der Gesellschaft vorenthalten; sie ist erst durch ihren gemeinsamen Tod zu erahnen: "Als [das Schiff] sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden [...] herunter in die kalten Fluten."68 In Wilhelm Raabes (1831-1910) "Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge" alterniert Heimat, gleichbedeutend mit "deutscher Provinz" und "Philistertum", mit der Fremde des "Tumurkielandes". An einer Stelle heißt es über den Heimkehrer Leonhard Hagenbucher, remigiriert aus Afrika: "Die süße Heimat fing an, einen seltsamen indianischen Kriegstanz um den armen Leonhard aufzuführen." 69 Im gleichen Werk schreibt Raabe: "Das germanische Spießbürgertum fühlte sich dieser fabelhaften, zerfahrenen, aus Rand und Band gekommenen, dieser entgleisten, entwurzelten, quer über den Weg geworfenen Existenz gegenüber in seiner ganzen Staats- und Kommunalsteuer zahlenden, Kirchenstuhl gemietet habenden, von der Polizei bewachten und von sämtlichen fürstlichen Behörden überwachten gloriosen Sicherheit."70 Hier ist noch viel Urbanität, Republikanertum und Achtundvierzigergeist zu spüren. Von Wilhelm Raabe sind auch die Worte überliefert: "Heimat leitet die deutsche Sprache von dem alten Wort Heime (Heimat) ab; und des Menschen Heimat ist im Glück. "71 Dieses Glück liegt jedoch nicht etwa im Hoffen auf eine einstige himmlische Heimat, sondern er sucht sein Glück in der Verwurzelung, im gegenwärtigen Sonnenschein einer überschaubaren Lebenswelt. Raabes späteren Rückzug in die Illusionswelt der eigenen Vergangenheit verdeutlicht seine letzte Erzählung, die er "Altershausen. Eine Lebens-Heimweh-Fahrt" betitelt. Sie ist ein Indiz dafür, daß Raabes persönlicher Heimat-Begriff sich gewandelt hat vom politisch gesell-
67
KELLER: Die Leute von Seldwyla, S. 80 f.
68
KELLER: Die Leute von Seldwyla, S. 121.
69
RAABE, Wilhelm: Abu Telfan, in: Gesammelte Werke, hrsg. von H. J. MEINERTS, Bd. I, Gütersloh, o. J., S. 500. 70 71
RAABE: Abu Telfan, S. 500.
RAABE, W.: Halb Mähr, halb mehr 1859, zit. nach MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 64.
188
schaftlichen Auftrag zu einer individuellen gefühlsmäßigen Kategorie, in der deutlich Wehmut mitschwingt. Theodor Fontane (1819-1898), der schon dank seiner Anglophilie unter den deutschen Schriftstellern vor 1900 der "großstädtischste" ist und eben deshalb den Geist der Provinz, mit seinem Nebeneinander von Identität und Lächerlichkeit wie kein zweiter auf den Begriff bringen kann, weiß den Sinn des Heimwehs positiv einzuschätzen. Er ist sich darüber bewußt, daß Heimat nicht zu haben ist ohne Sich-Umtun in der Fremde und ohne das daraus resultierende Heimweh: "Die Fremde [...] lehrt uns nicht bloß sehen, sie lehrt uns auch richtig sehen. Sie gibt uns [...] das Maß für die Dinge."72
Diese Auffassung bestätigt auch der Beginn von Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg": "Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen. "
In seinem Roman "Der Stechlin" hat Fontane das treffendste Äquivalent für die Dialektik von Nähe und Ferne, Heimat und Welt aufgespürt, das es in der deutschen Literatur gibt; den stillen See Stechlin, der sich plötzlich zu regen beginnt, wenn sich irgendwo in der Welt etwas ereignet. "Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht darüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei's auf Island, sei's auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich's auch hier, und der Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe."73
Nähe aus der Ferne verfremdet; Ferne aus der Nähe eröffnet: So konstituiert sich jenseits von Provinzialität und poetisch belanglosem Kosmopolitismus eine Literatur, die, was Heimat bedeutet, auf den Begriff bringt - Literatur, aus der verbindlich zu ersehen ist, wie wenig dieser Begriff für die poetischen Realisten mit Idylle und Romantik zu tun hat74, aber doch mit Geborgenheit, Nähe, Vertrautheit und Stille. In ihren literarischen Gegenwelten gestalten die poetischen Realisten all das, was sie in der Zerrissenheit ihrer Welt entbehren und zwar nicht als mikrokosmisch heile Welt stilisiert, sondern als realer Weltausschnitt der mit dem Ausruck "kleine Heimat" zu fassen ist.
72
zit. nach JENS in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 18.
73
FONTANE, Th.: Der Stechlin, in: Theodor Fontane. Romane, München 1985, S.
74
vgl. JENS, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 24.
573.
189
7.6. Der Heimat-Begriff in der sogenannten "Heimatliteratur". Von der Dorfgeschichte über die Heimatkunstbewegung zur Blut-und-Boden-Dichtung Der Name "Heimatliteratur" beinhaltet den Anspruch die literarische Gestaltung von "Heimat" schlechthin vorzunehmen. Die "Heimat" der "Heimatliteratur" deckt jedoch nicht die gesamte Breite des inhaltlichen Begriffsspektrums ab. Die vorhandenen semantischen Teilaspekte lassen sich auf kontrastive Verwendung reduzieren und sind als abgrenzbare Kategorien zu beschreiben. Im folgenden Kapitel wird der Terminus "Heimatliteratur" übergreifend für das Genre "Dorfgeschichte" sowie für literarische Erscheinungen der "Heimatkunst-Bewegung" bis hin zur "Blut-und-Boden-Dichtung" benutzt. Das ästhetische Grundprinzip der "Heimatliteratur" wurzelt im poetischen Realismus. Im Mikrokosmos der Dichtung soll sich symbolisch die ganze Welt spiegeln. Dieses realistische Konzept sinkt jedoch bald ins Triviale ab. Die Heimatliteratur setzt sich in dem Moment der Trivialliteratur aus, wo sie von der zivilisatorisch-technischen Entwicklung und von der damit verbundenen Umformung der Wertsysteme in die Reaktion gedrängt wird. In der Heimatliteratur wird durch Verklärung des ländlichen Lebens das Teilwertsystem Heimat über andere Wertbegriffe gestellt.75 Diese Verklärungstendenz die bereits bei den poetischen Realisten ansatzweise vorhanden war, steigert sich in der sogenannten Heimatliteratur, die aber weder Detailschärfe noch Humor des Realismus übernimmt. Deshalb werden diejenigen literarischen Werke, die man gemeinhin der Heimatdichtung zurechnet, vom Standpunkt der Literaturkritik weitgehend als minderwertig eingestuft und "mit den Verdikten sentimental bis Kitsch versehen" ,76 Der restaurativ orientierte Protest des 19. Jh., der als Gegenbewegung zu Strömungen des 18. Jh. zu bewerten ist und eine permanent oppositionelle Einstellung gegen die Industriegesellschaft mit sich bringt77, schlägt sich auch im Heimat-Begriff nieder. Er wird vor allem in Reaktion auf den Verstädterungsprozeß entwickelt. Zwischen dem Heimat-Begriff der poetischen Realisten und der Heimatliteratur muß differenziert werden, weil zunächst eine Begriffs-Verengung und später eine Ideologisierung des Begriffs zu konstatieren ist. Aus dem breiten inhaltlichen Spektrum möglicher dichterischer Gegenwelten wird nur auf die Bedeutungskomponente "heile ländliche Welt" abgestellt. Der Heimat-Begriff erfährt eine Reduzierung auf agrarisch-idyllisierende Elemente. Er wird mit dem Positivbegriff "Land" gleichgesetzt und dem Negativbegriff "Großstadt" gegenübergestellt. "Heimat" verengt sich zum Schlagwort gegen das "Großstadtwesen", gegen die "Hölleder Großstadt", gegen das "Zementgebirge", gegen die "Asphaltwüste" (Steger verweist auf Formulierungen wie "Dickicht, Dschungel
75
vgl. HEIN, J.: Dorfgeschichte, Stuttgart 1976 ( = Sammlung Metzler 145), S. 35.
76
GREVERUS 1979, S. 40.
77
vgl. GREVERUS 1972, S. 284 f.
190 der Städte" 78 ). Heimat-Sehnsucht bedeutet Suche nach "Verwurzelung", nach "einfachem Leben", nach "Idylle und Dörflichkeit", nach "Beschaulichem und Naturgemäßem", um "zivilisatorischer Substanzlosigkeit" entgegenzuwirken. 7 '
7.6.1. Der Heimat-Begriff im Genre Dorfgeschichte Die Thematik der Dorfgeschichte entwickelt sich aus einem seit der Romantik erwachten Interesse für Volk und Volkstum, der Entdeckung des Dorfes als vom Untergang bedrohten Lebensraum insbesondere des Bauerntums und aus einer zivilisationskritischen, kulturpessimistischen Haltung heraus. Dorfgeschichten liefern Modelle eines kleinen überschaubaren schützenden Bereichs, der mit "Heimat" bezeichnet wird. "In der Konfrontation mit der tatsächlich geographischen Landschaft erweist sich Heimat oft als mythischer Bereich der als Evasionsmilieu dienen kann." 80 Der Heimat-Begriff der Dorfgeschichte unterliegt also häufig der Mythisierung und Verfälschung. Heimat erscheint als subjektiver Bewußtseinsinhalt des Rezipienten. Das erzeugte Heimatgefühl beinhaltet die Bindung an ein räumlich-landschaftliches Milieu mit gemeinschaftlichen Gewohnheiten, dessen Wertmaßstäbe durch feste Normen (Sitten und Bräuche) fixiert werden. "Das Dorf wird zum Refugium der Verwirklichung in Tugend." 8 1 Es wird als Heimat in Kontrafunktion zur Fremde ( = Zivilisation/Stadt) dichterisch gestaltet. 82 Jeremias Gotthelf (1797-1854), Verfasser der ersten europäischen Bauernromane, konzentriert seine schriftstellerische und pädagogische Tätigkeit auf den Bauerstand, dessen psychologische, soziale und politische Problematik er aufdeckt. Er beschränkt sich nicht auf eine relativ realistische Abbildung ländlicher Milieus (Detailrealismus), sondern schreibt dem Dorf bzw. den Verhältnissen auf dem Dorf und dem Verhalten seiner Bewohner die Funktion eines Vorbildes für die Gesamtgesellschaft zu. Gotthelfs Intention ist religiös motiviert. In konservativem, zivilisationskritischen SendungsbewuBtsein sieht er in der Hinwendung zur Religion eine Zuflucht vor der zerstörerischen Kraft des Zeitgeistes. Populär wird das ländliche Milieu in der Belletristik durch Berthold Auerbach (1812-1882). Seine "Schwarzwälder Dorfgeschichten" und die "Barfüßle" Erzäh-
78
STEGER, H.: "Verwirrung" als Ergebnis zeit- und kulturkritischer Analyse Zukunftsphantasien in "Ganzheitsmythen" - Erwachen im "Totalitarismus", in: Verfolgung und Widerstand. Acta Ising 1988 ( = Dialog. Schule - Wissenschaft. Deutsch u. Geschichte). Hrsg. v. H. Kreutzer/D. Zerlin, München 1989 ( = 1989^), S. 81-101, hier S. 86. 79
vgl. SCHULTZE, J.: Heimat im Teufelsmoor, in: Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie um 1900, Katalog der Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, Juni-Aug. 1980, S. 21. 80
HEIN 1976, S. 34.
81
GREVERUS 1972, S. 301.
82
zu den wichtigsten Autoren von Dorfgeschichten vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 52 ff; vgl. HEIN 1976, S. 74.
191 lungen lösen eine Mode der Heimaterzählungen aus. "Nur durch seine Erfolge stellte sich das lesende Publikum auf Dorfromane ein, nur durch ihn wurden die kernigen Romane Gotthelfs überhaupt bekannt und zahlreiche andere deutsche Dichter angeregt, ebenfalls Dorfgeschichten und Heimatromane zu schreiben." 83 Dieses Zitat aus einer Dissertation, die in nationalsozialistischer Zeit entstand, zeigt deutlich die Gleichsetzung von "Heimat" und "Dorf", die zu einem wesentlichen Element der Heimatidelologie wird. Peter Rosegger (1843-1918) "kultiviert" das ländliche Milieu "in noch stärkerem Maße zum idealen Gegenbild der 'Eiterbeule' Stadt". Gerade im Hinblick auf ein klischeehaftes Natur- und (Land-)Menschenerlebnis - 'blühenden Matten', 'wogende Felder', 'lachende Schnitter' usw. - bereitet er Ganghofer vor". 84 Ludwig Ganghofer (1855-1920) 85 gilt nicht nur als der eigentliche Schöpfer des deutschen Heimatromans, sondern ist zugleich der erfolgreichste Autor des Genres. Bis heute ist der typische Heimat- oder Bergroman dem von Ganghofer geprägten Modell nachgebildet. Ganghofers Heimat-Begriff erschließt sich eindrucksvoll bei einem Blick in seine Autobiographie. Er spricht dort vom "Heimaterlebnis", daß sich während der Reise in sein "Heimatdorf" einstellt. Durch das Erlebnis von "Heimat" und "natürlichem Menschentum" sei er - nach schwerer Krankheit - psychisch gesundet und auch als Schriftsteller auf den rechten Weg gewiesen worden. 86 In seiner Autobiographie beschreibt Ganghofer das "freundliche Dörflein" mit seinen "braunen Ziegeldächern und grünlichen Strohfirsten", die "kleine baufällige Kirche, vom winzigen Friedhof umgeben". 87 Besonders hebt Ganghofer seine Besuche beim Pfarrer im Pfarrhaus hervor: "[...] dieses stille, friedliche, weiße Pfarrhaus in seiner spiegelnden Reinlichkeit, mit den träumerischen Altväterstuben, mit seinen Heiligenbildern, Weihwasserkesselchen und Kruzifixen, mit den blumenbestellten Fenstergesimsen und dem blankgescheuerten Holzgerät, mit diesem feinen Sandgeruch an allen festen Dingen und mit dem schneeweiß gedeckten Tisch, auf dem die winzigen weißglasierten Steingutschüsselchen [stehen ...] Gleich bei der ersten Mahlzeit setzte mir der Pfarrer unter feinem Erröten auseinander, daß es bei ihm 'sehr einfach' zuginge." 88
Dieses Zitat enthält alle wesentlichen Elemente des Ganghofer'schen HeimatBegriffs. Gerade die Einfachheit, verbunden mit neu entdeckten ästhetischen Rei-
83 SCHÜTTERLE, P. E.: Der Heimatroman in der deutschen Presse der Nachkriegszeit, Diss. Heidelberg 1935, Würzburg 1936, S. 6 f. 84
vgl. WEGENER, in: SCHMIDT-HENKEL et al. (Hrsg.) 1964, S. 55 f.
85
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 57 f; vgl. HEIN 1976, S. 105.
86
vgl. GANGHOFER, L.: Lebenslauf eines Optimisten (Autobiographie 1909-1911), Neuaufl. Stuttgart 1925; vgl. SCHWERTE, H.: Ganghofers Gesundung. Ein Versuch über sendungsbewußte Trivialliteratur, in: BURGER, H. O. (Hrsg.): Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt am Main 1968, S. 154-208. 87
GANGHOFERS Autobiographie 1925, S. 522 f.
88
GANGHOFERS Autobiographie 1925, S. 522 f.
192 zen fasziniert Ganghofer; er fühlt sich geborgen. Die Umgebung von Pfarrer und Pfarrhaus erinnern ihn an Rituale, die seit seiner Jugendzeit in ihm verwurzelt sind und die nun durch Symbole ("Heiligenbilder", "Kruzifix", "Weihwasserkesselchen") versinnbildlicht werden. Durch die Adjektive "spiegelnd", "blankgescheuert", "schneeweiß", wird der Eindruck von Sauberkeit und Ordnung vermittelt. Der Gebrauch des Diminutiv "chen" ("Kesselchen", "Schüsselchen"), in Verbindung mit den Adjektiven "fein", "winzig", "still", "friedlich", "träumerisch", vollenden das idyllische Bild. Nimmt man noch den angesprochenen "feinen Sandgeruch" dazu (Geruch als Heimatgefühle auslösender Faktor), sind alle Faktoren vereint, die den Begriff "Heimat" mit den Inhalten "Sicherheit", "Geborgenheit" und "heile Welt" assoziieren läßt. Ganghofer bringt "als geschickter Kompilator Auerbachs Bildungsfracht, Anzengrubers Heroik, Roseggers Dämonie und Außenseiterproblematik unterhaltsam, d.h. unaufdringlich unters Volk" und nimmt "gleichzeitig schon die Ideologie der Heimatkunstbewegung in wichtigen Teilen und mit leichter Hand vorweg". 89 In seiner Autobiographie zeigt sich jedoch, daß die Konsequenzen faschistischen Denkens noch durch das Prinzip der christlichen Nächstenliebe überdeckt sind. In Ganghofers Festhalten an christlichen Grundsätzen und Traditionen ist die entscheidende Differenz zwischen ihm und der Heimatkunstbewegung auszumachen, deren Theoretiker auf eine Nationalisierung der Religion zielten und ihr Programm mit antikatholischen Akzenten versahen (Bartels und Langbehn). 90
7.6.2. Der Heimat-Begriff in der Heimatkunstbewegung und in der Blut-und-Boden-Dichtung Die sogenannte Heimatkunstbewegung ist als folgenreiche kulturgeschichtliche Strömung anzusehen und erhält "ihre Konturen durch das Radikalwerden des Konservatismus nach 1890". Die Zeit der Heimatkunst als einer kulturellen Bewegung erstreckt sich über die beiden Jahrzehnte vor und nach der Jahrhundertwende. In teilweise radikaler Wendung gegen Intellektuelle, Naturwissenschaft und Technik verbreitet sie Kulturpessimismus, Großstadtfeindlichkeit, Agrarromantik, Biologismus, Nationalismus, Antimodernismus. Ihre ausgesprochene Absicht ist es, die gesamte Kultur auf eine landschaftsbedingte und stammesorientierte Grundlage zu stellen. 91 Ende des 19. Jh. nehmen auch Wörter wie "Heimatschutz" und "Heimatroman" ihren Ausgang, da die Wissenschaft von deutscher Sprache, von deutscher Literatur, deutschem Altertum und deutscher Volksüberlieferung in der wilhelminischen Ära zur vaterländischen Aufgabe erhoben werden. Gemüt und Innerlichkeit werden zum "Schutz" von Vaterland und Nation mobilisiert. Heimat wird zum Synonym für Landschaft, Volkstum und Vergangenheit. Als litera-
89
METTENLEITER, P.: Destruktion der Heimatdichtung. Typologische Untersuchung zu Gotthelf - Auerbach - Ganghofer, Tübingen 1974, S. 332. 90
vgl. ROSSBACHER 1975, S. 62.
91
ROSSBACHER 1975, S. 13.
193 rische Bewegung stellt Heimatkunst eine Opposition gegen die Wirklichkeitsdarstellung des Naturalismus dar. Zur Volkskunst erklärt, beansprucht sie in Konkurrenz zum Naturalismus die Führungsposition in der Literaturszene um 1900. Maßgebliche Programmatiker sind Julius Langbehn, Ernst Wachler, Adolf Bartels, Friedrich Lienhard, Heinrich Sohnrey. Julius Langbehns 92 Einfluß ist kaum zu überschätzen. Er bündelt die Ideologie einer arischen Erneuerung, die zu einem wesentlichen Fundament der Heimatkunst-Programmatik wird. An einem kurzen Zitat aus Langbehns kulturchauvinistischem Werk "Rembrandt als Erzieher" läßt sich einer der wichtigsten Faktoren des Heimatkunst-Programms ablesen. Heimat = Eigentum an Grund und Boden: "Eine wahre Heimath hat der Mensch erst, wenn er Grundbesitz und insbesondere Landbesitz hat." 93 Das Element des Bodens, der Topos "Scholle" spielt auch in die zweite entscheidende Konstellation des Heimatkunst-Programms hinein: Heimat = Liebe zu Landschaft, Volkstum, Stamm: "Der Rauch, der aus der Scholle steigt, ist die Seele des Landes." 94 Zu dieser Thematik eine weitere Textstelle, die der Zeitschrift "Heimat" entnommen ist: "Traulichkeit, die wurzelhafte Festigkeit, die ehrliche Wahrheit und Natürlichkeit eines Menschentums und eines Deutschtums, das erst vom festen Boden der Heimat aus wachsen will und wachsen kann. "9S
Immer wieder geht es darum, die heimatliche Landschaft/Erde/Boden als Humus von Kunst und menschlicher Entwicklungsfähigkeit darzustellen. "Aus der Heimaterde gen Himmel wachsend, in Sturm und Sonnenfreude! " % . Die Zeitschrift "Heimat" wird ab 1900 von Friedrich Lienhard (bis 1904 gemeinsam mit Adolf Bartels) herausgegeben. Die folgenden Worte stammen aus Lienhards Programm: "Heimat ist ein fester Boden mit Wurzeln und Knollen, mit Pflanzen und Leben, mit Organismen; und ein Versenken in ihre gesunde Wahrheit und Wärme ist Rettung vor Mechanismus und konstruierten Problemen, falls es mit rechter Reife geschieht. Sollte nicht der Weg zu Leben und Beseelung jeder Art weit eher über frisches Land gehen als durch die Zimmer der Theorie?"97
92
ROSSBACHER 1975, S. 17.
93
LANGBEHN, J.: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig/Hirschfeld 1890, S. 136. 94
LANGBEHN 1890, S. 138.
95
Umschlagworte der Zeitschrift "Heimat", 4. Heft (Aprü 1900), zit. nach GREVERUS 1972, S. 330. 96 LIENHARD, F.: Vom Reichtum deutscher Landschaft, in: "Heimat" 1 (1900), S. 133-141, hier S. 140. 97
LIENHARD, F.: Heimatkunst, in: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze hrsg. v. G. H. MEYER, Berlin/Leipzig 1901, S. 197.
194 Gegenüber dem Idealisten Lienhard arbeitet Adolf Bartels das nationalistische Anliegen stärker heraus. "An dies deutsche Urgefühl [Heimat] schließt sich unsere Heimatkunst an, aber sie will doch das ganze Deutschland [... ] Da ist nur ein Teil jener großen nationalen Heimatbewegung, die als 'Rückschlag auf die verflachenden und schabionisierenden Wirkungen der Anschauungen der liberalen Bourgeoisie und der leeren Reichssimpelei, wie auch des Internationalismus der Sozialdemokratie' eintrat, die das Nationalgefühl auf ein starkes Heimatgefiihl gründen, also dem modernen Menschen die Heimat erhalten oder sie ihm wiedergeben will."' 8 Bartels sieht im einfachen Landleben auch eine Art Gesundungsprogramm. Von ihm wird der Antagonismus "gesund"-"krank", wobei "gesund" in Verbindung zu Land/Volk/Heimat steht, in besonders radikaler Weise betont. "Was gehen denn ein großes Volk die Nervenzuckungen und unnatürlichen Gelüste seiner kranken Individuen an? [...] wir glauben eben, daß unser Volk noch gesund ist oder es doch sehr rasch wieder werden kann, und sprechen den kranken Leuten einfach ihre nationale Existenzberechtigung ab [...] Das deutsche Volk soll die Kunst haben, die die Wurzeln seiner Existenz befruchtet und stärkt [...]."" Adolf Bartels, der als wichtigster Theoretiker der Bewegung gelten darf, prägt auch den Begriff "Heimatkunst". Ebenfalls wichtiger Protagonist der Heimatkunst ist Heinrich Sohnrey. Er gründet 1894 die Zeitschrift "Das Land" und 1896 den "Ausschuß für Wohlfahrtspflege auf dem Lande", der 1903 in "Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege" umbenannt wird. 100 Auch ihm geht es um die Aufwertung des ländlichen Lebensraums durch imaginative nostalgische Rückkehr zu vorindustriellen, agrarischen Zuständen und die Abwertung von Zivilisation, Bildung, technischer Innovation. "Nicht in der Großstadt, nein, draußen auf dem Lande [...] muß dem Lande das neue Geschlecht der Dichter und Künstler erwachsen und das dichterische und künstlerische Ringen gegen die Großstadt beginnen."101 Sohnrey vergegenwärtigt sich diesen Vorgang auch biologisch-naturgesetzhaft; er spricht vom "immergrünen Baum, von dem der Tau kommt, der in die Thäler fallt" und der nichts anderes sei als "das Volkstum in der Natur". Der "Gegensatz zur Großstadt ist das Land"102 konstatiert Sohnrey.
98
BARTELS, Α.: Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung, in: Grüne Blätter für Kunst und Volkstum, München/Leipzig, H. 8 (1904), S. 19. 99 100
BARTELS: Heimatkunst, 1904, S. 17 f. vgl. BAUER, in KELTER (Hrsg.) 1986, S. 125.
101
SOHNREY, Heinrich: Der Kampf gegen die Großstadt (für das Volkstum) auf litterarischem und künstlerischem Gebiete, in: Heimat 2 (1900), S. 212-221, hier S. 216. 102
SOHNREY, in: Heimat 2 (1900), S. 32.
195 Die programmatischen Elemente der Heimatkunsttheoretiker finden sich in ihrer wichtigsten literarischen Gattung, dem Heimatroman wieder. Am Anfang der Heimatkunst-Romane steht Wilhelm von Polenz "Der Büttnerbauer" (1895). 103 Als Gustav, der Sohn des Büttnerbauern, nach längerem Militärdienst in der Stadt auf den elterlichen Hof zurückkehrt, "[...trat ihm das Dorf] allmählich aus dem Herbstnebel entgegen [...] Ein wunderliches, ihm selbst unbekanntes, wehmütiges Behagen überkam den jungen Menschen. Fünf Jahre hatte er in der Kaserne gelebt, hatte ein Heim nicht mehr gekannt. Freilich, mit der Stadt ließ sich das hier ja nicht vergleichen! aber diese Strohdächer, diese Lehmwände, die bretterverschlagenen Giebel hatten doch etwas an sich, das keine Pracht städtischer Häuserfronten zu ersetzen vermochte: es war die Heimat!"104 Heimatgefühl wird hier durch Einheit und Geschlossenheit des Dorfbildes suggeriert; es vermittelt Geborgenheit und Behagen. Im folgenden Zitat dient die Stadt nicht nur als bildlicher Kontrast, sondern die städtische Sphäre besiegt in Gestalt der modernen Kapitalgesellschaft das ältere Wirtschaftsmodell: "Während in der Stadt sein Gut versteigert wurde, pflügte der Büttnerbauer seinen Acker (...) Er pflügte noch, wie ein Jüngling, mit starker Hand und scharfem Augenmaß."105 Daß Heimat nur durch eigenen Grund und Boden gewährleistet ist, belegt die Gleichsetztung von Eigentumsverlust mit Heimatlosigkeit: "Das Land war ihre Wiege gewesen [...] Losgerissenen Blättern glichen sie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmerstücke der modernen Gesellschaft! [...] Entwurzelt, ausgerodet aus dem Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu treiben [...] Allen war das eine gemeinsam: die Heimatlosigkeit. Von der Scholle waren sie getrennt, deren mütterlich nährende Kraft nichts ersetzen kann."106 Landschaftsliebe, Volksverherrlichung, Stadt-Opposition und Biologisierung des Menschenbildes werden in den Romanen der Heimatkunstbewegung in mancherlei Variationen betrieben, so auch vom "Heidedichter" Hermann Löns. Dessen historischer Roman "Der Wehrwolf" (1910) markiert zeitlich das Ende der Heimatkunst, er wird wichtiges Vorbild der Blut-und-Boden-Literatur und von den Nationalsozialisten zu politischen Zwecken benutzt. Löns "Wehrwolf" wird im Dritten Reich so hoch bewertet, weil sich ein arischer Bauer "in harten Auseinandersetzungen gegen Fremde - in diesem Fall: die Soldateska des 30jäh-
103
Ausführliche Interpretation bei SCHWEIZER, G.: Bauernroman und Faschismus. Zur Ideologiekritik einer literarischen Gattung, Tübingen 1976. 104
POLENZ, W.V.: Der Büttnerbauer (1859), Berlin 1902, S. 135.
105
POLENZ: Büttnerbauer (1859) 1902, S. 270 f.
106
POLENZ: Büttnerbauer (1859) 1902, S. 362 f.
196 rigen Krieges" - behauptet. 107 Löns steht beispielhaft für den fließenden Übergang von der "Heimatkunst" zur "Blut-und-Boden-Dichtung", als dessen Vorbereiter er sich auch erweist, indem er einen wichtigen Wandlungsprozeß des Heimat-Begriffs (den Prozeß der Ausweitung) betont: "Die Kunst, die nur Heimatkunst ist, ist kleiner Art; hohe deutsche Kunst ist alldeutsch." 108 Heimat soll, was den territorialen Aspekt betrifft, auf den ganzen Staat ausgedehnt werden. Manchen Nationalisten ist die Basis "Heimat" in der provinziellen Ausformung der "Heimatkunst" zu schmal; die liebevoll gepflegten lokalen und regionalen Besonderheiten passen nicht in ihr straff durchorganisiertes zentralistisches System. 109 Von der Forschung wird die Heimtkunstbewegung beurteilt als "deutschtümelnde Sammelbewegung, in der die Austreibung der angeblich westlichen, der angeblich undeutschen, der angeblich jüdischen, der angeblich großstädtischen und intellektuell zersetzenden Vernunft [...] betrieben wurde, vor allem indem man, literarisch und ideologisch, in einem hochindustrialisierten und technisierten Staat mit allen seinen ungelösten sozialen und geistigen Problemen das 'idealische' Gegenbild des bäuerlichen, stammhaften 'einfachen' Landmenschen, als des urbildhaften Menschen schlechthin [...] durch Jahrzehnte vorbreitete". 110 Mythisierung und Emotionalisierung führt zu einer Verstärkung der konservativen Haltung, die ohne Übergang in die völkische und nationalistische Idee einmündet. Die Ideologieierung von "Heimat", die in der Weimarer Republik im Vergleich zur Vorkriegszeit etwas zurückgetreten war, erreicht in der Blut-und-Boden Bewegung ihren Höhepunkt. Ideologisierung des HeimatBegriffs meint hier, daß die subjektive, dichterische Empfindung "Heimat" ihrer Einmaligkeit beraubt wird, indem man sie zum objektiven allgemein verbindlichen Wert erhebt. 111 "Heimat" wird zum zentralen Programm eines zur herrschenden Kunstdoktrin ernannten Blut-und-Boden Mystizismus. Mit dem HeimatBegriff in enger Verbindung stehen eine Reihe von Ideologismen die fast unverändert von der Heimatkunst-Bewegung übernommen worden sind, so z.B. die Idealisierung des Bauerntums und die Abwertung der städtischen Unkultur. Bezeichnend hierfür ist der Negativbegriff "seelische Verstädterung" 112 Die städtische Lebensform wird von den "Blut-und-Boden" Ideologen zwar nicht völlig abgelehnt, aber doch mit sehr vielen negativen Vorzeichen versehen: Oberflächlichkeit, Verarmung des Gemüts, Nivellierung, Unruhe, Naturferne u.s.w. 1 1 3 Nimmt man die Gegenbegriffe zu den gerade genannten, so gelangt
107
BREDOW/FOLTIN 1981, S. 61.
108
LÖNS, zit. nach ROSSBACHER 1975, S. 126.
109
vgl. BREDOW/FOLTIN, S. 60.
110
SCHWERTE, H.: Zum Begriff der sogenannten Heimatkunst in Deutschland, in: Auklärung heute - Probleme der deutschen Gesellschaft, hrsg. v. H. GLASER, Freiburg 1967, S. 117-189, hier S. 188. 111
vgl. GREVERUS 1972, S. 46; dies. 1979, S. 65.
112
vgl. WERDER, P.v. : Literatur im Banne der Verstädterung. Eine kulturpolitische Untersuchung, Leipzig 1943, bes. S. 32 ff. 113
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 61.
197 man zu einer Aufzählung von Heimat-Elementen, die alle mit positiven Vorzeichen versehen sind. Heimat ist mit Konnotationen des agrarisch-biologisierenden Menschentyps belegt. Bei Arno Mulot, einem der führenden Literaturhistoriker des Dritten Reiches, heißt es: "Der Bauer ist der eigentliche Träger der nordisch-germanischen Art." 114 Viele Merkmale der Blut-und-Boden Literatur lassen sich im Roman "Das heidnische Dorf" (1933) von Konrad Beste ausmachen. 115 Die klischeehafte Handlung könnte, wie Wegener bemerkt, durchaus einem Ganghofer Roman entstammen. Ein Unterschied besteht jedoch in der Mythisierung der Figuren und der Natur: Lina, die weibliche Hauptfigur, bezieht ihre Stärke aus geheimnisvollen Kräften, die ihr gewissermaßen aus der heimatlichen Erde zuwachsen. "Die Menschen dieser dörflichen Welt [...] sind alle tief im Irrationalen verhaftet, die Kräfte ihres Seins wurzeln in chthonischem Dunkel." 116 Der Roman Bestes gehört zu den vereinzelten Blut-und-Boden Werken, die auch nach 1945 noch Verbreitung finden. Sie sind Indiz dafür, daß diese Literaturströmung mit dem Kriegsende nicht völlig abbricht. 117
7.7. Literarische Gestaltung des Heimat-Begriffs aus einer Verlust-Erfahrung heraus. Heimatverlust durch Exil, Zerstörung, Vertreibung In Anlehnung an drei unterschiedliche Faktoren, die eine Verlusterfahrung bewirken und allesamt als Folge des Zweiten Weltkrieges zu werten sind, wird dieses Kapitel untergliedert: * Heimat-Verlust durch Emigration; * Heimatverlust durch die Zerstörungen des Krieges; * Heimatverlust durch Verlassen des besetzten Gebiete. Das Thema Heimat wird aus der Verlusterfahrung heraus zum Anliegen des Dichters und im Wechselspiel von Kenntnis und Distanzierung, Authenzität und Verfremdung gestaltet: "Es gibt eine Kraft der Erinnerung, die das Erlebte, das Vergangene gegenwärtiger macht, als es jemals gewesen war. [...] Wahrscheinlich muß man den Verlust tatsächlich spüren, darunter leiden, um ihn in der Beschwörung der Wörter vergessen zu machen." 118 Die großen epischen Werke von Boll, Lenz, Johnson und Grass sind aus landschaftsspezifischem Boden
114
MULOT, Α.: Das Bauerntum in der deutschen Dichtung unserer Zeit, Stuttgart 1937, S. 51. 115
Analyse dieses Werkes bei SCHWEIZER 1976; vgl. auch WEGENER 1964, S.
116
WEGENER 1964, S. 60.
60 f. 117
vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 62. 118 BIENEK, H.: Besuch im Heimatmuseum: Siegfried Lenz und sein neuer Roman aus einem verlorenen Land, in: "DIE ZEIT" vom 20. Oktober 1978.
198 heraus erwachsen und ohne rheinische, masurische und kaschubische Anklänge und Elemente nicht denkbar. Die auffälligste Veränderung des Heimat-Begriffs gegenüber dem vorangegangenen Kapitel ist darin zu sehen, daß Heimat nicht mehr vorwiegend mit Dorfund Landleben assoziiert wird. Durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund bedingt, verliert der Stadt-Land-Gegensatz an Konturen; das Land hat nicht mehr die Funktion positive Gegenwelt zur Stadt zu repräsentieren, wodurch auch der Heimat-Begriff nicht mehr eindeutig dem Land zuzuordnen ist. Im 19. Jh. beinhaltete der Antagonismus Stadt-Land alle brisanten Antagonismen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Spätestens seit den beiden Weltkriegen wird dieses Kulturmuster durch die gesellschaftliche Relevanz von Verlust-Erfahrungen überlagert und verdrängt.
7.7.1. Die Bedeutung von "Heimat" für die Literaten im Exil In der Emigration wird Heimat aus der Verlusterfahrung heraus thematisiert. Heimat als Staat, Nation, Vaterland wird einerseits aus der Entfernung des Exils heraus objektiver und kritischer, in nüchterner Distanziertheit gesehen. Andererseits fördert das Leben in der Fremde durch verklärende Erinnerung Heimweh. Aus diesen beiden Elementen entwickelt sich ein poetisch-realistischer HeimatBegriff des Exils, als Gegenbild zu einem territorial und politisch expansiven Heimat-Begriff in Deutschland. Heimat wird für die Literatur des deutschsprachigen Exils zur geistigen Lebensform, die sie poetisch ausdrücken durch Erfahrungen wie Fremdheit, Hoffnung, politischer Oppositionsgeist, Trauer, Heimweh. Jean Améry spricht sogar von einer "völlig neuartigen und durch keinerlei literarisch fixierte Gefühlskonventionen bestimmten Qualität des Heimwehs. [...] mein, unser Heimweh war Selbstentfremdung. Die Vergangenheit war urplötzlich verschüttet, und man wußte nicht mehr, wer man war".119 Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz" entsteht als ein Archetypus exakter Heimwehdichtung während der Emigration in Frankreich. In ihrem Werk "Transit" beschreibt Seghers eindrucksvoll die Misere und den Alltagsjammer des Exil-Lebens.120 Flucht und Vertreibung werden zum Stigma des Dichtertums gemacht: Von Ernst Tollers 1933 erschienener Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" bis zu Brechts Drama "Leben des Galilei", von Max HerrmannNeisses Heimatliedern bis zu Klaus Manns Lebensbericht "Der Wendepunkt" (abgeschlossen 1949).121 Die Aussage Ernst Tollers: "Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland" (die Grabinschrift des Vergil
119
AMERY 1977, S. 87 und S. 77.
120
vgl. FRÜHWALD, W.: Deutschland, bleiche Mutter. Die Auseinandersetzung um Wort und Begriff der Heimat Deutschland zwischen dem Nationalsozialismus und der Literatur des Exils, in: BIENEK (Hrsg.) 1985; vgl. KUNERT (Hrsg.) 1988, S. 27-42, hier S. 9. 121
vgl. FRÜHWALD, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 39.
199 "Mantua me genuit" zitierend) steht über einer Phase der Exilliteratur, in der sich allmählich jenes Gefühl verlorener Gegenwart herstellte, das Brecht exemplarisch beschrieben hat:122 "Nur was sie zu ihrem Unterhalt brauchen/Nehmen sie von der fremden Umgebung. Sparsam/Geben sie die Erinnerungen aus./[...]/Mit ihren Vorfahren/Haben sie mehr Verbindung als mit ihren Zeitgenossen/Und am gierigsten blicken sie/Die ohne Gegenwart scheinen/Auf ihre Nachkommen. " Die in die Verbannung Getriebenen wissen, daß sie ein Heimat-Bild in sich tragen, welches sie in der Realität nie mehr wiederfinden können. "Ich weiß, ich werde alles wiedersehn./Und es wird alles ganz verwandelt sein,/Ich werde durch erloschne Städte gehn,/Darin kein Stein mehr auf dem andern Stein -/Und selbst wo noch die alten Steine stehen,/Sind nicht mehr die altvertrauten Gassen -/Ich weiß, ich werde alles wiedersehen/Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen." Diese Zeilen schreibt Carl Zuckmayer in seiner "Elegie von Abschied und Wiederkehr"123 schon im Jahre 1939, in den ersten Monaten des amerikanischen Exils. Und auf der ersten Seite seiner Autobiographie heißt es: "Ich weiß nur: wir lebten einmal im Paradies, und es macht keinen Unterschied, ob es zwölfeinhalb Jahre dauert oder so lange wie man braucht, um die Augen zu schließen und wieder aufzuschlagen."124 Thomas Mann formuliert am Ende seines Doktor Faustus: "Aber ach, ich fürchte, in dieser wilden Dekade ist ein Geschlecht herangewachsen, das meine Sprache sowenig versteht wie ich die seine, ich furchte, die Jugend meines Landes ist mir zu fremd geworden, als daß ich ihr Lehrer noch sein könnte, - und mehr: Deutschland selbst, das unselige, ist mir fremd, wildfremd geworden, eben dadurch, daß ich mich, eines grausigen Endes gewiß, von seinen Sünden zurückhielt, mich davor in Einsamkeit barg."125 Mit "Lotte in Weimar" hat Thomas Mann Goethe und seine Sprach weit als geistige Heimat thematisiert. Besonders im siebten Kapitel - dem großen inneren Monolog Goethes, nur von kurzen Alltags-Dialogen im Weimarer Haus des Dichters unterbrochen - gestaltet Thomas Mann sein Verhältnis zu einer Heimat in deutscher Kultur.126 Der hier anklingende Zusammenhang von Kultur, Spra-
122
zit. nach FRÜHWALD, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 30.
123
zit. nach FRÜHWALD, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 30 f.
124
ZUCKMAYER, Carl: Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft, Frankfurt am Main 1969, S. 9. 125
MANN, Thomas: Doktor Faustus (1947), Frankfurt am Main 1986, S. 669.
126
vgl. FRÜHWALD, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 38 f.
200 che und Heimat verweist auf die große Bedeutung der Sprache die von manchen Emigranten als Synonym für Heimat gebraucht wird und zu einem Ankergrund in geradezu existentiellem Sinne werden kann. Der Exilierte nimmt das geistig und kulturell Erworbene und somit seine Sprache mit. Sprache bedeutet Identifikation und für die Literaten in besonderem Maße "Heimat" und "Zuhausesein". Schalom Ben-Chorin überschreibt einen Aufsatz, in dem Sprache zum Kriterium der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Menschen und des Menschlichen gemacht wurde, mit den folgenden Worten Alfred Kerrs: 127 "Was ist Heimat?/Kindheit. Wiegenklang/Sprachgewöhnung und/Erinnerungszwang [...]." Ernst Bloch betont in einem 1939 in New York gehaltenen Vortrag "Zerstörte Sprache, zerstörte Kultur", die Wichtigkeit der Sprache: "Wir sprechen nun einmal deutsch. Diese Sprache haben wir mitgenommen, mit ihr arbeiten wir. Sogleich aber erhebt sich die Frage: wie können wir als deutsche Schriftsteller in einem anderssprachigen Land das Unsere tun, uns lebendig erhalten?" 128 Leonhard Frank betont die Bedeutung der Sprache, indem er in "Links, wo das Herz ist" einen Exilierten beschreibt, der "auf einer Geige aus Stein, auf einem Klavier ohne Saiten" spielt. 129 Sprache kann dem Exilierten zur eigentlichen Heimat werden. Der 1945 aus dem Exil heimkehrende Stephan Hermlin äußert: "Letzten Endes bin ich aber beheimatet in der deutschen Dichtung [...], in der bin ich zu Hause." 130 Auch für die aus dem Exil zurückgekehrte Hilde Domin besteht ein enger Bezug von Heimat und Sprache: "In den anderen Sprachen, die ich spreche, bin ich zu Gast.[...] Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, daß wir die Identität mit uns selbst bewahren konnten. Der Sprache wegen bin ich auch zurückgekommen." 1 3 1 Améry äußert in seinem Essay "Wieviel Heimat braucht der Mensch?": "Dem Verhältnis zur Heimat verwandt war in den Jahren des Exils die Beziehung zur Muttersprache. In einem ganz bestimmten Sinn haben wir auch sie verloren [...]" Er spricht von einer "Schrumpfung der Muttersprache" und fahrt fort: "Wir bewegten uns nämlich nicht nur in der fremden Sprache, sondern auch, wenn wir uns des Deutschen bedienten, im enge zusammenrückenden Raum eines sich ständig wiederholenden Vokabulars." 132 Die Emigranten drohten neben ihrer Geschichte, ihrer nationalen und individuellen Identität und Kontinuität auch ihre Sprache zu verlieren, was gleichbedeutend mit endgültigem Heimatverlust war. Sprache ist seither, von Thomas Mann bis Elias Canetti, Christa Wolf und anderen Gegenwartsautoren, zum Inbegriff von Heimat geworden, im Sinne der Heideggerschen Formel: "Sprache als Hei-
127
zit. nach FRÜHWALD, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 40.
128
zit. nach HINCK, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 43.
129
zit. nach HINCK, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 43.
130
HERMLIN, S.: Aufsätze, Reportagen, Reden, Interviews, hrsg. von U. HAHN, München 1980, S. 145. 131
DOMIN, H.: Heimat, in: Aber die Hoffnung. Autobiographisches. Aus und über Deutschland, München/Zürich 1982, S. 11 ff. 132
AMERY 1977, S. 88 ff.
201 mat". 133 Dieser Satz Heideggers greift auf das Phänomen eines Identitätsverlustes durch das Fehlen der sprachlichen Kommunikation zurück. 134
7.7.2. Heimatverlust durch die Zerstörungen des Krieges Die Menschen, die nach dem Krieg in ihre zerbombten Heimatstädte zurückgekehrt sind, haben die Zerstörung ihrer Häuser, Straßen und Viertel, die Zerstörung ihrer gewohnten Umwelt als Heimatverlust empfunden. Die zeitgenössischen Literaten thematisierten diese größtenteils zerstörte "Heimat" in ihren poetischen Werken. Im Brecht-Gedicht "Rückkehr" wird eine Heimkehr literarisch gestaltet: "Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?/Folgend den Bombenschwärmen/Komm ich nach Haus./Wo denn liegt sie? Wo die ungeheuren/Gebirge von Rauch stehen./Das in den Feuern dort/Ist sie./Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl?/Vor mir kommen die Bomber, tödliche Schwärme/Melden Euch meine Rückkehr. Feuersbrünste/Gehen dem Sohn voraus."135 Brecht verwendet "Vaterstadt" nicht im Sinne politischer Anonymität, sondern als Synonym für Heimat, für eine Heimat, die durch den Krieg bedroht, gefährdet, wahrscheinlich zerstört ist. Daß es sich um die Rückkehr in eine subjektiv als "Heimat" empfundene Stadt handelt wird auch durch "Komm ich nach Haus" ausgedrückt. Heinrich Boll hat "Heimat" zu einem Schlüsselwort seiner Poetik erklärt. Boll kehrt 1945 aus der Gefangenschaft in das durch den Luftkrieg größtenteils zerstörte Köln zurück. Zum Ausmaß der Zerstörung und den Konsequenzen für seine Person äußert er sich in den siebziger Jahren: "[Köln] ist eine Stadt, die zu 85 Prozent zerstört war. Wenn ich spazierengehe durch bestimmte Stadtviertel, wo ich geboren bin und zur Schule ging - ich kenne in Köln kaum noch zehn Häuser aus der Zeit meiner Kindheit [..,]"136 Die materielle Zerstörung beinhaltet vielfach auch eine ideelle. Im "Bekenntnis zur Trümmerliteratur" (1952) schreibt Boll:
133
HEIDEGGER, M.: Sprache ist Heimat, in: Hebbel Jahrbuch 1960, Heide/Holstein, S. 27-50. 134
vgl. GREVERUS 1979, S. 71.
135
zit. nach JENS, iir.BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 21.
136
MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 20.
202 "Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, [...] daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen."137 Nach seinen Gedanken und Gefühlen zum Thema Heimat befragt antwortet Boll: "Ich denke an Köln, an die Stadt, in der ich geboren bin und immer noch lebe. Aber wenn Sie mich nach Heimat fragen, denke ich an das Köln vor 33, das Köln meiner Kindheit und meiner lugend. Ein zweites Köln war schon das Köln zwischen 1933 und 1939, also ein von Nazi-Gauleitern und SA-Truppen bestimmtes. Das dritte Köln war das zerstörte Köln, ein viertes ist das wiederaufgebaute. Aber Heimat, wenn Sie mich nach dem Gefühlswert Heimat fragen, ist das Köln vor 33 [...] die Heimat meiner Erinnerungen."138 In der autobiographischen Schrift "Was soll aus dem Jungen bloß werden? Oder: Irgendwas mit Büchern", die im Jahre 1981 entsteht, beschreibt Boll seine Kindheit und Jugend in Köln. Das heimatliche Köln, das ihn manchmal die Schule schwänzen ließ, waren die "Straßen zwischen Waidmarkt und Dom, die Nebenstraßen des Neu- und Heumarktes, alles, was rechts und links in Richtung Dom von der Hohen Straße abging". Heimat waren dem Herumtreiber die "Straßenhändler, Trödler, Märkte, Kirchen, auch Museen (ja ich liebe die Museen, ich war bildungshungrig, wenn auch nicht bildungsbeflissen), Huren (an denen in Köln kaum ein Weg vorbeiführte) - Hunde und Katzen, Nonnen und Priester, Mönche - und der Rhein, dieser große und graue Rhein, belebt und lebhaft".139 Aus diesen Äußerungen Bolls läßt sich eine räumliche (sein Stadtviertel) und eine zeitliche (seine Kindheit und Jugend bis zum Jahre 1933) Begrenzung seines Heimat-Begriffs ableiten. Neben diesen beiden Komponenten enthält der poetische Heimat-Begriff Bolls noch weitere Faktoren, die aber ebenfalls mit der rheinischen Metropole in Zusammenhang stehen. Im folgenden werden einige Textpassagen aus "Stadt der alten Gesichter" (1985) zitiert140: "Köln ist für mich die Stadt der alten Gesichter, Gesichter von Menschen, die mir nie vorgestellt wurden und deren Namen ich auf dem Grabstein nicht wiedererkennen würde. [...] Die Heftigkeit meiner Erinnerung ist abhängig von ihrer Anonymität. Meine Verwandten und Bekannten sind für mich nicht so sehr Köln wie diese alten Gesichter, die keine Namen haben. Verwandte, Freunde und Bekannte haben Namen, man weiß, wohin sie in Urlaub fahren, womit sie ihr Geld verdienen, welche Bücher
137 zit. nach TROMMLER, F.: Die zeitgenössische Prosa I: Aspekte des Realismus, in: KOEBNER, Th. (Hrsg.): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart 1984, S. 178-215, hier S. 178 f. 138
MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 13.
139
zit. nach HINCK, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 51.
140
BOLL, H.: Stadt der alten Gesichter, in: BIENEK (Hrsg.) 1985, S. 95-99.
203 sie lesen, kennt ihre politische Meinung, und doch machen nicht sie das 'zu Hause' aus [...] Man kann wegziehen und seine Familie mitnehmen, die Freunde würden einen besuchen [...] - aber 'zu Hause', da sind die Namenlosen, die man oft jahrzehntelang nicht sieht und doch immer wiedererkennt. An ihren Gesichtern lese ich den Ablauf der Zeit deutlicher ab als vom Kalender [...] Per Distanz hütet man die Erinnerungen der anderen besser, als wenn man zuließe, daß sie ins Vokabularium der Sentimentalität gehoben und getötet würden. [...] Alles wäre ausgelöscht, würde man sich auf das 'Wissen Sie noch' einlassen; man muß die Erinnerungen der Städte und Stätten hüten; Fehltritte solcher Art machen die Treffen von Schulkameraden, die Saufabende jeglicher 'Schicksalsgemeinschaft' zu so traurigen Veranstaltungen. Die Erinnerung an eine Handbewegung, an einen Laut, einen Geruch enthält mehr als das stundenlange Bramarbasieren. [...] Köln liegt für mich am Perlengraben und auf dem Platz vor Sankt Severin, es ist die Stadt der Unbekannten, die ich kenne." Wesentlich für das Aufkommen von "Heimatgefühl" ist die Erinnerung, die ausgelöst werden kann durch "Bewegung", "Laut", "Geruch". Für Boll ist Heimat nicht gleichbedeutend mit den Häusern der Stadt Köln, sondern mit ihren Menschen und zwar nicht als anonyme Massen, sondern als individuelle "Typen". Auch bei Boll geht es, wie oftmals bei der Gestaltung der Heimatthematik, darum, das Vertraute aus Abstand wahrender Sicht als bemerkenswert und besonders zu deklarieren und dem scheinbar Selbstverständlichen durch nüchterne Distanzierung Objektivität zu verleihen. In seinen Romanen und Erzählungen gestaltet Boll ein Köln, das dank der dichterischen Atmosphäre, die er um die Figuren herum schafft, Heimatcharakter in hohem Grade besitzt. Köln wird zum poetisch fragmentarischen Universum. Bolls Epik drückt aus, daß sich Heimatlichkeit für ihn ausschließlich im subjektiven Erfahrungsbereich erfüllt.
7.7.3. Heimatverlust durch das Verlassen der besetzten Ostgebiete Eine Gruppe von Literaten, die den Osten des ehemaligen Deutschen Reiches verlassen mußten, konnten ihr Denken nicht auf Rückkehr konzentrieren. Die Prosa-Werke von Autoren wie Lenz, Johnson und Grass sind von der Intention geleitet, ihre erinnerten Heimat-Regionen literarisch zu gestalten. Siegfried Lenz wurde am Ende des Krieges aus Ostpreußen vertrieben. 1926 wurde er in Lyck, nahe der polnischen Grenze, geboren. Lenz hat in Masuren Heimat erfahren als Kinder- und Jugendzeit, Gemeinschaftsbewußtsein, ländlichkleinräumliche Umgebung, Überschaubarkeit, intensives Naturerleben. Die Nationalsozialistische Ära und das anschließende Vertriebensein verstärken den politischen Aspekt seines Heimat-Begriffs. Durch die Verlusterfahrung inspiriert und motiviert wird Heimat mehrfach zu seinem literarischen Thema. 1955 publiziert Lenz zwanzig Erzählungen, deren Heimatbezug in seiner Erinnerung an Masuren begründet ist. Schon im Titel "So zärtlich war Suleyken" schwingt Nostalgie mit; er verweist auf die Absicht des Autors, zu rühren, zu erheitern, den "Charakter" seiner Heimat nicht über den Verstand, sondern emotional zu vermitteln. Die Physiognomie der masurischen Landschaft und ihrer Bewohner wird festgehalten, ohne falsche Heimeligkeit und ohne Rührseligkeit, auch wenn das Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit einen Hauch von Melancholie über
204 das Ganze legt. Lenz meint eine Heimat, die verlorengegangen ist und nicht wiederkehren wird. Hieraus erklären sich die fabelhaften Züge der kleinen Erzählungen. Die exotisch-urigen Typen der masurischen Geschichten bewegen sich in einer weitgehend heilen Welt. Gegen Fremde hält man zusammen; aller Fortschritt stört die Idylle, Suleyken bleibt eine unzerstörte Insel: In der ersten Kurzgeschichte verjagt "Der Leseteufel"141 Hamilkar Schaß den heranrückenden berüchtigten Räuber Wawrila dadurch, daß er trotz handfester Todesdrohungen - ("Ich werde dich jetzt, du alte Eidechse, halbieren. [...] Ich werde dich, du stinkende Dotterblume, mit gehacktem Blei wegpusten. ") - seine Lektüre nicht unterbricht - ("Gleich. Nur noch anderthalb Seiten.[...] Nur noch zehn Zeilen, dann wird alles geregelt werden, wie es sein soll.") - . "Da packte, wie jeder Kundige verstehen wird, Wawrila und seine Bagage ein solch unheimliches Entsetzen, daß sie, ihre Flinten zurücklassend, dahin flohen, woher sie gekommen waren [...]." "Eine Kleinbahn namens Popp"142 muß nach kurzer Zeit mangels Zuspruch den Betrieb einstellen. Die Suleyker Gesellschaft bedarf solcher störender Innovationen nicht. "Ist's hier nicht schön?" Der Beifall als Antwort auf diese Frage dokumentiert die Einstellung zur Fremde und zum Fortschritt. Beides wird als unerwünschter Einbruch in die Heimat gewertet und daher abgelehnt. Im Nachwort143 unterstreicht Lenz seine Absicht, hier keinen politisch-ideologischen Heimat-Begriff zu reflektieren, sondern einen subjektiv geprägten: "Die hier vorliegenden Geschichten und Skizzen sind gleichsam kleine Erkundungen der masurischen Seele.[...] diese Geschichten sind zwinkernde Liebeserklärungen an mein Land, eine aufgeräumte Huldigung an die Leute von Masuren. Selbstverständlich enthalten sie kein verbindliches Urteil - es ist mein Masuren, mein Dorf Suleyken, das ich hier beschrieben habe." Eine weitere Sammlung von Kurzgeschichten, die Lenz 1975 unter dem Titel "Der Geist der Mirabelle. Geschichten aus Bollerup" veröffentlicht, wird von der Kritik weit weniger geschätzt. Von "Pseudorealismus"144 ist die Rede. Die "Hauptzüge der Sammlung widersprechen der erklärten Absicht des Autors, Geschichten vom Lande als auf gegenwärtige Wirklichkeit bezogene Geschichten zu erzählen, Regionalismus und Realismus zu verbinden. Bollerup ist kein Mikrokosmos, [...] der Anspruch überregionaler Bedeutsamkeit ist ebenso illegitim wie der regionaler Besonderheit".145 In der Geschichte "Die Bauerndichterin" geht es um Heimatdichtung und deren Rezeption. Diese Abrechnung des Autors Lenz mit einer Erscheinungsform von Heimatideologie wird als
141
LENZ, S.: Der Leseteufel, in: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten, Frankfurt am Main 1974 (Fischer Taschenbuch, Nr.312), S. 7-12, hier S. 11 f. 142 LENZ, S.: Eine Kleinbahn namens Popp, in: ders.: So zärtlich war Suleyken 1974, S. 68-74. 143
LENZ, S.: Diskrete Auskunft über Masuren, Nachwort in ders.: So zärtlich war Suleyken 1974, S. 117 f. 144
MECKLENBURG 1987, S. 187.
145
MECKLENBURG 1987, S. 191.
205 "mißlungen" kritisiert. Lenz gelingt es trotz des gewählten Rahmens seiner dänischen Zweitheimat nicht, "heimatspezifische" Charaktere zu gestalten und seinem in "Suleyken" nachvollziehbaren Heimat-Begriff erneut Ausdruck zu verleihen.146 Der in den Masurischen Geschichten beinahe idyllisch angelegte HeimatBegriff wandelt sich im Roman "Deutschstunde"147. Durch den Versuch, Leben und Denken in dem kleinen norddeutschen Ort "Rugbüll" während des Dritten Reiches zu gestalten, weitet Lenz seinen Heimat-Begriff aus und fügt politischideologische Elemente hinzu. Rugbüll erhält die Funktion eines symbolischen Identifikationsraumes; Norddeutsche Provinz wird zum Weltsymbol stilisiert. Die Darstellung dieser begrenzten Sphäre soll zugleich auf übergreifende Beziehungen verweisen, auf Strukturen eines ganzen Zeitalters. Der subjektive Wert Heimat wird objektiviert und mißbraucht: Heimat wird dargestellt als Verpflichtung, als innere Bindung an Deutschland, als Plädoyer für das Bodenständige, Dauerhafte, "Seßhafte". Heimat meint Ausgrenzung des Fremden, Bindungslosen, Unbeständigen: "Amerikaner. Alles ist für sie ein Job, sagte mein Großvater, auch der Krieg. - Sie kennen keine Bindung, sagte Asmus Asmussen, ein innerer Auftrag ist ihnen unbekannt, sie fühlen sich überall zu Hause. - [...] Weil sie überall zu Hause sind, sagte Asmus Asmussen, deshalb sind sie nirgends zu Hause. [...] Amerikanisches Leben: das heißt: auf Widerruf leben, ohne dauerhafte Verpflichtung, vorläufig. [...] Die großen Stürme überstehen nur die Seßhaften. [...] Die größte Beschränktheit, zu der Heimatsinn verleitet, liegt doch wohl darin, daß man sich für zuständig hält, auf alle Fragen zu antworten: Hochmut der Enge [,..]." 148
Zu dem ideologischen Heimat-Begriff kontrastiv angelegt ist die subjektive Heimatliebe des Malers Max Ludwig Nansen. Der positive Held des Romans erklärt, wie Heimat das Bewußtsein verändern kann: "Sehen ist so ein Tausch auf Gegenseitigkeit. Was dabei herausspringt, ist gegenseitige Veränderung. Nimm den Priel, nimm den Horizont, den Wassergraben, den Rittersporn: sobald du sie erfaßt hast, erfassen sie auch dich. Ihr erkennt euch gegenseitig."149
Nansen, alias Emil Nolde, empfindet Heimat als "dies Stück Land mit seinen Leuten".150 Er stellt den großen Städten die innere Metropole, das Herz, entgegen und meint auf seinem Fleckchen Erde alles zu finden, was in der Welt
146 vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 80 ff.; auch zu den Romanen von Siegfried Lenz vgl. BREDOW/FOLTIN 1981, S. 76-88; vgl. POTT, H.-G.: Der "neue Heimatroman"? Zum Konzept "Heimat" in der neueren Literatur, in: ders. 1986, S. 7-23. 147
LENZ, S.: Deutschstunde, München 1973.
148
LENZ: Deutschstunde, S. 118-121.
149
LENZ: Deutschstunde, S. 298.
150
LENZ: Deutschstunde, S. 333.
206 vorkommt. 151 Mit dem Entwurf einer Landschaft und seiner Bewohner als Mikrokosmos steht Lenz in der Nachfolge der poetischen Realisten des 19. Jh. In seinem Roman "Heimatmuseum" 152 aus dem Jahre 1978 bleibt der Bezug von Heimat und Welt bestehen. Das Provinzielle oder "Beschränkte" enthält ausreichend Typisches, so daß es das Allgemeine zu repräsentieren vermag. Die fiktive masurische Stadt Lucknow in "Heimatmuseum" soll, ähnlich wie das Rugbüll der "Deutschstunde", Allgegenwärtigkeit schaffen. 153 "[...] ich bin der Ansicht, daß alles, was wir im heimatlichen Bezirk ordnen, unmittelbar dem Ganzen zugute kommt;" 154 "[...] daß Weltkunde mit Heimatkunde beginnt oder mit ihr endet" 155 , diese Erkenntnis wird dem jungen Zygmunt Rogalla, der um 1905 in dem masurischen Städtchen Lucknow geboren wird, von seinem Onkel Adam, einem "freiberuflichen Heimatforscher" und Einrichter des privaten Museums, vermittelt. Die Geschichte des Zygmunt Rogalla vergegenwärtigt den Weg dreier Generationen, vom Kaiserreich über die Republik bis zur Gegenwart, wodurch der Roman ein historisch-politisches Profil erhält. Der Heimatbegriff, der bereits im Titel geführt wird, meint keine Identität von Staat und Heimat, sondern ermöglicht Ideologiekritik. "Heimat, ja [...] Wie bitte? Ein schlimmes Wort? Ein belastetes Wort? [...] Das sagte auch [...] mein Sohn [...], er konnte nichts anfangen mit diesem Wort, es bedeutete ihm nichts, nichts für ihn selbst, doch wo andere es sagten, da hörte er nur Unheil aus ihm heraus [...] Damit sie mich nicht mißverstehen [...], ich gebe zu, daß dies Wort in Verruf gekommen ist, daß es mißbraucht wurde, so schwerwiegend mißbraucht, daß man es heute kaum ohne Risiko aussprechen kann. [...] was spricht denn gegen den Versuch, dieses Wort von seinen Belastungen zu befreien? Ihm seine Unbescholtenheit zurückzugeben. "156
Heimat wird nicht nur durch die Ansammlung greifbarer Kunstgegenstände im Museum symbolisiert, sondern findet verbal Ausdruck und wird gleichzeitig mit positiven und negativen Vorzeichen versehen: Heimat ist für Lenz nicht "der Ort, wo sich der Blick von selbst näßt, wo das Gemüt zu brüten beginnt, wo Sprache durch ungenaues Gefühl ersetzt werden darf [...]" 157 ; nicht "geheiligte Enge, in der man sich unvermeidlich seine Erwähltheit bestätigen muß, mit
151
vgl. MECKLENBURG 1987, S. 58.
152
LENZ, S.: Heimatmuseum, Hamburg 1978; zit. nach der 3. Aufl., Hamburg
1978. 153
vgl. FRIES, M. S.: Der implizierte Gesprächspartner und die narrative Überlieferung der Vergangenheit. Über Siegfried Lenz' Heimatmuseum, in: SELIGER, H. (Hrsg.): Der Begriff "Heimat" in der deutschen Gegenwartsliteratur ( = The concept of "Heimat" in contemporary German literature), München 1987, S. 51-71, hier S. 53 f. 154
LENZ: Heimatmuseum, S. 348.
155
LENZ: Heimatmuseum, S. 15.
156
LENZ: Heimatmuseum, S. 119 f.
157
LENZ: Heimatmuseum, S. 120.
207 einem gehobelten Brett vor dem Kopf"158; nicht "die Freistätte ungebrochener Überheblichkeit und beschränkter Selbstfeier".159 "Heimat, das ist für mich nicht allein der Ort, an dem die Toten liegen; es ist der Winkel vielfältiger Geborgenheit, es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja, selbst im Schweigen aufgehoben, und es ist der Flecken, an dem man wiedererkannt wird; und das möchte doch wohl jeder eines Tages: wiedererkannt, und das heißt: aufgenommen werden [,..]" 160
"Winkel vielfaltiger Geborgenheit", "aufgehoben sein" und "wiedererkennen" verdeutlichen, um was es Rogalla bzw. Lenz geht. Heimat soll ein Raum der Überschaubarkeit und Verlässlichkeit sein, im Gegenzug zu Fremdheit und Bedrohung. Heimat bildet den Gegenpol zur Vergänglichkeit: Heimat "ist weit eher eine Erfindung der Melancholie. Herausgefordert durch Vergänglichkeit, versuchen wir, den Zeugnissen unseres Vorhandenseins überschaubare Dauer zu verschaffen, und das kann nur an begrenzten Orten geschehen, in der 'Heimat'[...]" 161 "[...] im Heimatgefühl liegt auch der Anspruch, unverwechselbar zu bleiben."162 Der Begriff Heimat umfaßt auch die masurische Landschaft, die eindrucksvoll beschrieben wird: "Wer nicht diese Stille erlebt hat, in Masuren, im Winter, der kann gar nicht mitreden, wenn über Stille gesprochen wird."163 Und Heimat ist die Erinnerung an das Leben im masurischen Ort Lucknow: "Wir werden nicht mehr erwartet dort in Lucknow; die anderen, die uns hätten erwarten können - es gibt sie nicht mehr. Kein Laut, der dich erinnert, kein Gesicht, das aufglänzt bei deinem Anblick, keine Hand, die unentrinnbare Beziehungen erneuert, weil die andern fort sind, verschollen und versunken, darum wird es den Augenblick nicht geben, auf den du hoffst." 164
Heimat ist die räumliche Dimension des Romans, die nicht ausgelöscht oder vergessen werden kann, da sie dem einzelnen untrennbar verbunden ist.165 Der schon im Titel hergestellte Bezug von Heimat und Vergangenheit nimmt während des Romanverlaufs vielfältige poetische Gestalt an. Uwe Johnsons Werk wird als Wende zu einem neuen Realismus in der deutschen Literatur bezeichnet und neben dem Kennzeichen "Realismus" mit den
158
LENZ: Heimatmuseum, S. 120.
159
LENZ: Heimatmuseum, S. 479 f.
160
LENZ: Heimatmuseum, S. 120.
161
LENZ: Heimatmuseum, S. 143.
162
LENZ: Heimatmuseum, S. 348.
163
LENZ: Heimatmuseum, S. 58 f.
164
LENZ: Heimatmuseum, S. 649.
165
vgl. FRIES, in: SELIGER (Hrsg.) 1987, S. 53.
208 Stichwörtern "Kleinbürgertum" und "Provinz" charakterisiert. 166 Eine zentrale Rolle in seinem Gesamtwerk spielt das Thema Heimat. Die Komplexität von Johnsons Heimat-Begriff erklärt sich aus seiner Autobiographie. Da seine Kindheit in die Zeit des Nationalsozialismus fallt, ist es einsichtig, daß Heimat für Johnson nicht primär Raum der Kindheit ist, sondern dort, wo man seinen Bedürfnissen gemäß und in guten Beziehungen zu anderen leben kann167, d.h. Heimat ist herzustellen als Raum persönlicher und gesellschaftlicher Lebenspraxis. Diese Einstellung ist erwachsen aus seiner Flucht im Jahre 1945. Johnson definiert Heimat nicht nur als Raum des Herkommens, sondern vor allem als Raum des Ankommens, der zur Heimat gestaltet werden muß. 168 Neben diesem Heimat-Begriff existiert für Johnson noch ein territorial determinierter HeimatBegriff. In einer Stellungnahme seiner territorialen Zugehörigkeit betreffend hat er ein Bekenntnis zu Mecklenburg abgelegt: "Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elbe und der Havel." 169 In Uwe Johnsons 1983 abgeschlossener Tetralogie "Jahrestage" 170 steht der Heimat-Begriff in unlösbarer Verbindung zu "Erinnerung". Das Heimatbewußtsein der Figuren wird durch Erzählen offenbar. Die Protagonistin und Erzählerin Gesine Cressphal, die mit ihrer Tochter Marie seit Jahren in New York lebt, erinnert sich an das väterliche Anwesen, die mecklenburgische Kleinstadt Jerichow, an Land und Landschaft Mecklenburgs: "Da steht, links hinter einem verunkrauteten Grasplatz, ein niedriges Bauernhaus unter angeschwärztem Walmdach. Jetzt bin ich zu Hause. [...] Hinter dem Haus stand ein schwarzer Baum voller Amseln. Nach Süden, Westen, Norden hin war es leer um den Hof. Nur der Wind sprach. Im Norden war ein Loch zwischen Erde und Himmel, ein Streifen Ostsee."171
Zu dieser verlorenen Heimat besteht eine intensive Gefühlsbindung. "[...] die Unentbehrlichkeit der Landschaft, in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen". 172 Die Erinnerung umspannt den Raum einstiger gesellschaftlicher und territorialer Zugehörigkeit in dem entscheidende kindlich-jugendliche Orien-
166
vgl. BAUMGART, R.: Deutsche Gesellschaft im deutschen Romanan, in: ders.: Literatur für Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1966, S. 37-58; vgl. KOEBNER 1984, S. XIII. 167
vgl. MECKLENBURG, N.: Zeitroman oder Heimattoman? Uwe Johnsons "Ingrid Babendererde", in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 39-61, hier, S. 58. 168
vgl. MECKLENBURG, in POTT (Hrsg.) 1986, S. 59.
169
JOHNSON, U.: Ich über mich, in: Uwe Johnson, hrsg. v. Gerlach, R. und Richter, F., Frankfurt am Main, 1984, S. 20. 170
JOHNSON, U.: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cressphal, 4 Bde., Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1970-1983. 171
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 1, 1970, S. 274.
172
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1822.
209 tierung und Erfahrungen stattfanden; einen Bereich prägender Heimaterlebnisse. Heimat ist ständiger Bezugpunkt von Gesines Erinnerung. Erinnertes durchsetzt das Bewußtsein des Gegenwärtigen; das Vergangenheitsgeschehen in Mecklenburg durchdringt die Gegenwartshandlung in New York. Beide antagonistischen Räume besitzen nur mangelhafte "Heimat-Qualitäten". Die provinzielle Herkunftswelt der Gesine Cressphal soll nicht sentimental als "Heimat" beschworen, sondern in bewußter mühsamer Erinnerungsarbeit begriffen werden: als dialektisches Moment eines individual - wie gesellschaftlichen Zusammenhangs. Kleinstadt und Weltmetropole werden episch konfrontiert. Die Spannung zwischen den beiden Polen Provinz und Weltstadt wird auf sehr komplexe Weise entfaltet als Spannung von Herkunftsregion und Wahlheimat, Alltagswelt und Imaginationsraum, Erinnerungs- und Wunschlandschaft. 173 Die Erinnerung ist sprunghaft und wird häufig während des Erzählens in Frage gestellt: "Ja. Nein. Wenn ich daran vorbeidenke, sehe ich sie [...] Wenn ich die Erinnerung will, kann ich sie nicht sehen." 174 "Entschuldigen Sie. Es war ein Tagtraum,
[-Γ75 "[Das ...] Wetter zum Morgen vor vierzehn Jahren, erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung."176
Das Thema Heimat wird durch eine permanent vorhandene Heimatlosigkeit in verstärktem Maße deutlich. Neben den zwei zentralen Heimat-Funktionen für die Protagonistin Gesine - Heimat als Herkunft und Heimat als Zuflucht - wird Heimatbewußtsein der "Entfremdung" entgegengesetzt. 177 Im Laufe von knapp fünfzehn Jahren vollzieht sich ein Prozeß der Entheimatung, der von einer Freundin klar ausgesprochen wird: "[...] kein Mensch würde dich kennen in Jerichow." 178 Gesine selbst verdeutlicht sich diesen Prozeß des Zurücklassens von Heimatbereichen immer wieder. Über sich als Studentin berichtet sie: "Nun fing ich an, wegzugehen." 179 Die Auflösung des Landes Mecklenburg 1952 bedeutet für sie, daß "ein Stück Herkunft unkenntlich gemacht worden" ist.180
173 vgl. BRUDE-FIRNAU, G.: Zur Funktion des Heimatbegriffs in Uwe Johnsons Tetralogie "Jahrestage", in: SELIGER (Hrsg.) 1987, S. 29-39, hier S. 29 und S. 35; vgl. POTT, in ders. (Hrsg.) 1986, S. 18; vgl. MECKLENBURG, in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 40; vgl. MECKLENBURG 1987, S. 59 und S. 117. 174
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 2, 1971, S. 617.
175
JOHNSON: Jahrestage, Bd.l, 1970, S. 64.
176
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 1, 1970, S. 125.
177
vgl. MECKLENBURG 1987, S. 137.
178
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1774.
179
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1844.
180
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1837.
210 "Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr." 181 Resümierend heißt es: "Dahin will ich nicht zurück." 182 Aber dieses Wollen wird vom Heimweh relativiert und abgewandelt in: "Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier." 183 Es gibt viele Indizien für die Größe des Heimwehs: Gesines Träumen von einer Reise nach Mecklenburg; ihr Wunsch, in Jerichow beerdigt zu werden: "[...] ich möcht da beerdigt werden. Wenn du die Gemeinde dazu kriegst, den alten Friedhof noch einmal zu öffnen. Es braucht kein eigenes Grab zu sein; Jakobs genügt mir.- Weil die Erde unvergänglich ist. [...] aus Aberglauben."184
Die Aufzählung ihrer Gegengründe gegen ein Heimweh nach Jerichow (z.B. "Heimweh. Ich versteh immer Bahnhof [...] Nach dem [einem DDR-Spitzel] sollt ich Heimweh haben?" 185 ) werden von ihrer Tochter Marie widerlegt: "Und doch bist du gefahren, um Jerichow zu sehen." Bei dieser von Westdeutschland aus unternommenen Fahrt räumt Gesine ein, sei es ihr Wunsch gewesen, "nur das nördlichste Stück der mecklenburgischen Küste" wiederzusehen. 186 Gesine bestreitet ihr Heimweh, indem sie sich auf ihre Fähigkeit beruft, Heimat erlernen zu können. Das Haus von Verwandten bleibt ihr vertraut, "weil sie hier mit Paepckes Kindern eine Heimat gelernt hatte". 187 "Wir haben es nachgelesen, so sind wir hier zu Hause", 188 heißt es über den Riverside Drive, ihren engeren Lebensbereich in New York. Auf diese Weise soll sich auch Tochter Marie eine Heimat erwerben, widerstrebend "erlernt" die Vierjährige ihre Heimat und büßt dabei sogar die "mitgebrachte Sprache" ein, "um bequemer anwachsen zu können in der Straße, der Schule, der Stadt". 189 Was für die Tochter zunächst zu gelingen scheint - "diese Stadt (New York) hat das Kind inzwischen erworben als Heimat". 190 Naiv-kindlich betrachtet sie New York als "ihren Grundbesitz auf Erden" und äußert: "Nie ginge ich weg für immer von wo ich zu Hause bin." 191 - erweist sich für Gesine als Unmöglichkeit. Ihr zäher Kampf, in New York "eine Heimat zu lernen", ist aussichtslos: Auf der Fähre zwischen Manhatten und Staten Island sinniert sie: "Wenn ich die
181
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 1, 1070, S. 386.
182
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 2, 1971, S. 1008.
183
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 2, 1971, S. 490.
184
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1828.
185
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1861.
186
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1861.
187
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1489.
188
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 3, 1973, S. 1189.
189
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 2, 1971, S. 500.
190
JOHNSON, U.: Einführung in die Jahrestage, in: Jahrestage, hrsg. von M. Bengel, Frankfurt am Main 1985, S. 15-27, hier 24. 191
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1827.
211 Augen schließe ist die Erinnerung genau. Das ähnliche das fremde Gedröhn", worauf Marie den für beide geltenden Schlußpunkt setzt: "Denn Heimweh ist eine schlimme Tugend, Gesine."192 Für den Heimat-Begriff, den Johnson in den Jahrestagen gestaltet und der als Leitmotiv die gesamte Tetralogie durchzieht, läßt sich resümieren: Heimat ist ein Ort des Privaten, ein subjektiver Raum, in der jeweiligen Gesellschaft, im jeweiligen Staat. Der Staat selbst, der als Heimat anzuerkennen wäre, müßte utopische Qualitäten territorialer, sozialer und politischer Art aufweisen. In diesem Sinne ist Heimat überall herzustellen. Es gibt keine Gesellschaft, die nicht Heimat sein könnte.193 Auch den "Mutmaßungen über Jakob"194 liegt Johnsons Heimatkonzept zugrunde, daß nur ein privater Bereich und nicht ein komplexes gesellschaftliches System "Heimat" heißen könne: "[...] das sind Personen, das ist eine Landschaft, dazu kann man sich bekennen."195 Er gab zeitweilig der Hoffnung Ausdruck, auch bei einer Distanzierung von Geburts- und Herkunftsregion und bei fortbestehender politischer Heimatlosigkeit eine "persönliche Heimat" zu finden.196 Zu den Konstanten in Johnsons literarischem Schaffen gehören landschaftlich-geographisch konkretisierbare Weltausschnitte. In "Mutmaßungen über Jakob" wird die Jerichow-Gegend erstmals öffentlich dargeboten. Es handelt sich hierbei um Johnsons "Geburts- und Herkunftsregion" in Mecklenburg. Zeitgeschichtlicher Hintergrund der "Mutmaßungen über Jakob" ist das Mecklenburg der Ost-Zone in den Jahren 1945-1956. Die materiellen Lebensbedingungen werden negativ umschrieben, trotzdem ist es möglich Heimat zu schaffen. Im alltäglichen Leben wollen die Menschen arbeiten, "um zu leben und dort leben [...], wo sie zuhause sind".197 "Da ist er am Ende lieber zurückgegangen in das Elend der Heimat, weil es die Heimat war [...] bloß die Heimat, und überhaupt war die wie hast du gesagt: Unvernunft wie hast du gesagt sehr stark ansässig in der Heimat."198
Das Elend bewirkt den Entwurf einer sozialistischen Heimat-Utopie. Auch Natur und Landschaft werden durchsetzt von Ideologie dargestellt. So gestaltet der Roman "Elend der Heimat" und sozialistische Heimat-Utopien in einem.199
192
JOHNSON: Jahrestage, Bd. 4, 1983, S. 1862; vgl. BRUDE-FIRNAU, in: SELIGER (Hrsg.) 1987, S. 29. 193
vgl. BRUDE-FIRNAU, in: SELIGER 1987, S. 34 f.
194
JOHNSON, U.: Mutmaßungen über Jakob, Frankfurt am Main und Hamburg
1962. 195
SCHWARZ, W. J.: Der Erzähler Uwe Johnson, Bern 1970, S. 87.
196
MECKLENBURG 1987, S. 113.
197
JOHNSON: Mutmaßungen über Jakob, S. 29.
198
JOHNSON: Mutmaßungen über Jakob, S. 30.
199
vgl. MECKLENBURG 1987, S. 113.
212 "Wer diese anmutig schwingende Landschaft durchstreift [...] zum Spaß und zur Erholung sozusagen (nicht im Dienst und nicht auf der Heimkehr von der Arbeit und nicht zum Nutzen der Allgemeinheit in einem irgend erfindlichen Sinn, sondern nur auf der Suche nach einem Land, das ferne leuchtet wie man hört) sollte sich klarmachen in jedem Falle, daß wir nicht fragen werden nach dem eiszeitlichen Oberflächenaufbau der Landschaft und nicht nach einer Heimat der Erinnerung, sondern etwa ob einer sich das vielleicht anders denkt mit den erkennbaren Verbesserungen des menschlichen Befindens. Soll der Kapitalismus zurückkehren in die Landwirtschaft? [...] Wer nicht für uns ist ist gegen uns und ungerecht im Sinne des Fortschritts. Es wird gefragt werden wer ist für uns und nicht wie gefällt dir die Nacht mit den dunklen Dörfern zwischen den Falten des Bodens unter dem mächtig bewölkten Himmel."200 Johnsons erster Roman "Ingrid Babendererde" handelt von norddeutscher Kleinstadtidyllik, von jugendlichen Freizeitfreuden im Schatten des Stalinismus in der ehemaligen DDR. Die Geschichte spielt an vier Sonnentagen im Mai 1953, an deren Ende Trennung von den Freunden und Flucht in den ungeliebten Westen stehen. Norbert Mecklenburg 201 nennt "Ingrid Babendererde" einen Heimatroman in komplexem Sinne, der von Johnsons epischem Regionalismus zeuge: "Als Ineinander von Mimesis und Wunschproduktion. Und als Heimat zeigt sich in ihm, was aus einer Region wird, wenn man sie auf eine besondere Weise sieht: poetisch." 202 Der Roman preist die Landschaft und die Schönheit der Natur. Die Kleinstadt und ihre Umgebung werden mit poetischer Intensität beschworen. Die Region wird nicht objektiv dargestellt als Kultur- Geschichtsund Sozialraum (wie in "Jahrestage"), sondern subjektiv als persönliche Umgebung der Figuren. Johnson entwirft einen von stark regionalistischen Zügen geprägten epischen Mikrokosmos. Mit der Darstellung einer kleinen abgeschlossenen Welt steht Johnson, ebenso wie es schon von Lenz' "Deutschstunde" und "Heimatmuseum" konstatiert wurde, in der Tradition des poetischen Realismus. Die beschriebene Kleinstadt offenbart viele Merkmale, die Heimat ausmachen: Typische Kleinstadtrituale, persönliche Bekanntschaften untereinander, Gemeinschaftsmentalität, mit der sich die Einheimischen gegen die Auswärtigen abgrenzen. Hier verhindert staatliche Machtpräsenz und politische Uniformität das Aufkommen von Heimatgefühlen. Eine Gegenwelt zur Gesellschaft, die den Jugendlichen Freiheit und Lebensfreude vorenthält, stellt die sinnlich wahrgenommene "freundlich weitgeschwungene Landschaft" 203 in ihrer Verbindung mit der Natur (Wasser, Sonne, Wind) dar. Diese Idylle vermittelt Heimatgefühle, doch Landschaft und Natur allein können für die Protagonisten keine Heimat sicherstellen, da sie sich staatlichen Repressionen ausgesetzt wissen. Die Schluß-
200
JOHNSON: Mutmaßungen über Jakob, S. 122 f.
201
Im folgenden wird auf die Interpretetion von "Ingrid Babendererde" Norbert Mecklenburgs zurückgegriffen: MECKLENBURG, in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 39-61 und ders. 1987, S. 112-145. 202 203
MECKLENBURG, in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 59.
JOHNSON, U.: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, m.e. Nachwort hrsg. v. S. Unseld, Frankfurt am Main 1985, S. 11.
213 abschnitte des Romans zeigen, daß sich die idyllischen Heimatelemente vielleicht nicht einmal in der Erinnerung festhalten lassen. Eine "vorweggenommene Erinnerungs-Trauer" stellt sich ein. Die Flucht führt zum Verlust von persönlichen Heimaterfahrungen. Die im Roman angelegten Heimatbestimmungen: Heimat = Landschaft und Natur - Heimat = Freunde, Lebensfreude, Unbeschwertheit - Heimat = Kindheit und Jugendzeit, erweisen sich als wesentliche Heimat-Determinanten. Dieser Eindruck verstärkt sich aus der Verlust-Erfahrung heraus. Der Heimat-Begriff von Günter Grass steht in enger Verbindung mit seiner persönlichen Beziehung zu dem Ort Danzig, wie er selbst oft geäußert hat: "Geboren dort, wo eigentlich auch die Quelle meiner Literatur begraben und vergraben liegt: in Danzig 1927, in Verhältnissen, die ich später zu beschreiben versucht habe."204 Verlusterfahrung und Erinnerung an Danzig bestimmen sein Heimatgefühl. "Und eigentlich zuallererst die Sprache, der Dialekt und all das, was damit zusammenhängt: Die Art und Weise zu sprechen, Dinge zu benennen, ruft bei mir Heimat und Heimaterinnerung wach. Und gleichzeitig natürlich auch mit dem Verlust dieser Sprache und dieses Dialektes den Verlust von Heimat. Wie einem ja Heimat nur dann bewußt wird, wenn man sie verliert. Vorher ist sie etwas Selbstverständliches, das da ist, auf das man zurückgreifen kann [...] Heimat [ist] nun etwas Festgefrorenes, [...] Stehengebliebenes, nur noch in der Erinnerung Vorhandenes. Ich habe das sehr deutlich bemerkt, als ich 1958 zum erstenmal nach Danzig zurückkam. "205 Für die Danziger Trilogie 206 , bestehend aus den Romanen "Die Blechtrommel" (1959), "Hundejahre" (1963) und der Novelle "Katz und Maus" (1961), ist der Heimat-Begriff relevant. Ebenso wie bei Lenz und Johnson ist auch bei Grass eine vom poetischen Realismus übernommene Kategorie zu finden: Ein dargestellter Mikrokosmos, der auf makrokosmische Bezüge verweist. Hierzu zwei Zitate aus dem Roman "Hundejahre" und der Novelle "Katz und Maus": "Langfuhr war so groß und so klein, daß alles, was sich auf dieser Welt ereignet oder ereignen könnte sich auch in Langfuhr ereignete oder hätte ereignen können."207
204
Günter Grass in: RUDOLPH, E.: Protokolle zur Person. Autoren über sich und ihr Werk, München 1971, S. 60. 205
MITSCHERLICH/KALOW 1971, S. 14 f.
206
GRASS, G.: Die Blechtrommel. Roman (1959), Frankfurt am Main 1964; ders.: Katz und Maus. Eine Novelle (1961), Reinbek 1968; ders.: Hundejahre. Roman (1963), Reinbek 1968. Zur Interpretation der Danziger Trilogie vgl. CEPL-KAUFMANN, G.: Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff Heimat in Günter Grass'- Danziger Trilogie, in: POTT (Hrsg.) 1986, S. 61-85. 207
GRASS: Hundejahre, S. 278.
214 "[...] man sollte glauben, die Siedling riecht frisch reinlich sandig und der Jahreszeit entsprechend - es roch aber in der Osterzeile, in der Westerzeile, im Bärenweg, nein, überall in Langfuhr, Westpreußen; besser noch, in ganz Deutschland roch es in jenen Kriegsjahren nach Zwiebeln."208 Definiert man Heimat als territoriale und zeitlich zu umgrenzende Einheit, so ist Heimat bei allen drei Prosatexten als geographisch-geschichtliche Landschaft Danzigs im Zeitraum 1899 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges mit Schwerpunkt ab 1927 festzumachen. Die Romane spielen schwerpunktmäßig im Danziger Raum, und die gesamte Novelle ist dort angesiedelt. Grass behält das Danzig-Motiv als erzählten Raum bei, es ist jedoch eine zunehmende Annäherung von Autor und Ich-Erzähler festzustellen, was als eine verstärkte Hinwendung und persönliche Raumanbindung des Autors interpretiert werden kann. Ein Zitat aus dem Roman "Hundejahre" belegt den Zusammenhang von Region, Landschaft, Erinnerung und Heimatgefühl: "Die Weichsel ist ein breiter, in der Erinnerung immer breiter werdender Strom. "209 Neben dem Faktor Raum ist vor allem die Verlust-Erfahrung bezeichnend für den Heimat-Begriff der Trilogie. Das Verlust-Motiv wird in den frühen Kritiken an der Danziger Trilogie immer wieder erwähnt. Es geht aber um qualitativ differenziertere Verluste als um den eines Territoriums/Orts-Verlustes. In "Katz und Maus" leidet Pilenz unter dem Verlust von bürgerlichem Selbstverständnis und Tradition. Er ist unfähig seine Identität und ein Lebensziel zu finden. Pilenz ist heimatlos. Verlorene Heimat wird auch im Roman "Hundejahre" thematisiert. Die Erzähler Harry Liebenau und Walter Matern haben einen unterschiedlichen Heimatbezug. Der Untergang Danzigs berührt Liebenau nicht in seiner Existenz. 210 Matern streift ruhelos und heimatlos durch das Nachkriegsdeutschland. Beide trifft weniger das reale, als vielmehr ein anderes HeimatverlustErlebnis, denn ihre "potentielle Heimat ist die Erkenntnisfahigkeit und der Glaube an die erkenntnisfördernde Kraft der Kunst". 211 Keine der beschriebenen Figuren empfindet die Ausbürgerung als Heimatverlust im Sinne von Identitätsverlust. Sie arrangieren sich mit den Lebensmöglichkeiten im Westen, sie "richten sich ein". 212 Auch der Heimatverlust Oscars in der Blechtrommel ist tiefgründig und differenziert zu betrachten. In der folgenden Textpassage steckt mehr als nur sentimentale, emotionale und politische Heimatbindung:
208
GRASS: Katz und Maus, S. 94.
209
GRASS: Hundejahre, S. 10.
210
vgl. GRASS: Hundejahre, S. 303.
211
CEPL-KAUFMANN 1986, S. 80 f.
212
GRASS: Hundejahre, S. 375.
215 "Und ich suche das Land der Polen, das verloren ist, das noch nicht verloren ist. Andere sagen: bald verloren, schon verloren, wieder verloren. Hierzulande sucht man das Land der Polen neuerdings mit Krediten [...] und Delegierten [...] und Trachten einmottenden Landsmannschaften. Während man hierzulande das Land der Polen mit der Seele sucht - halb mit Chopin, halb mit Revanche im Herzen - [ . . . ] suche ich Polen auf meiner Trommel und trommle: Verloren, noch nicht verloren, schon wieder verloren, an wen verloren, bald verloren, bereits verloren, Polen verloren, alles verloren, noch ist Polen nicht verloren. "213
Das Schicksal Polens - nicht Danzigs - dient als Chiffre für die Verlusterfahrung Oscars. Heimat als Territorium ist nur als Ersatz denkbar. Auch der Verlust Danzigs ist für Oskar von geringer Bedeutung. Er fühlt sich auf dem Friedhof geborgen, dort empfindet er Heimatgefühl. Der Verlust Danzigs wird durch die Kontinuität der Friedhofsgeborgenheit aufgehoben: "Schließlich hatte es mich zuvor in Danzig gegeben und nun gab es mich in Düsseldorf, und immer noch hieß ich Oskar [... und] ich fühlte mich auf dem Südfriedhof wie zu Hause." 214
Oscars Todessehnsucht und Liebessehnsucht, die leitmotivisch den gesamten Roman durchziehen, sind Ausdrucksformen seiner Suche nach ursprünglicher Ganzheit, nach Heimat im Sinne von paradiesischer Heimkehr, als Eingehen in den vorgeburtlichen Zustand. "Dreißig mußte ich werden, um meinen dritten Geburtstag abermals feiern zu können. Sie werden es erraten haben: Oscars Ziel ist die Rückkehr zur Nabelschnur." 215
Die Heimatsehnsucht Oscars äußert sich in der Sehnsucht nach den Röcken seiner Großmutter, die ihm als Fluchtpunkt dienen. "Was sucht Oscar unter den Röcken seiner Großmutter? [...] Sucht er Vergessen, Heimat, das endliche Nirwana?"216 Er findet dort einen Raum körperlicher, sinnlicher und emotionaler Geborgenheit. "[...] unter den Röcken meiner Großmutter war immer Sommer, auch wenn der Weihnachtsbaum brannte, auch wenn ich Ostereier suchte oder Allerheiligen feierte. Nirgendwo konnte ich ruhiger nach dem Kalender leben als unter den Röcken meiner Großmutter." 217
Auch Oscars Heimweh hat Bezug zu den großmütterlichen Röcken. Beim Anblick des Eiffelturms hat er das Bedürfnis, sich allein unter "[...] jenes zwar
213
GRASS: Blechtrommel, S. 86.
214
GRASS: Blechtrommel, S. 368 f.
215
GRASS: Blechtrommel, S. 145.
216
GRASS: Blechtrommel, S. 101.
217
GRASS: Blechtrommel, S. 101.
216 Durchblick gewährende, dennoch geschlossene Gewölbe" zu hocken, denn "wenn ich unter dem Eiffelturm saß, saß ich auch unter ihren vier Röcken, das Marsfeld wurde mir zum kaschubischen Kartoffelacker, ein Pariser Oktoberregen fiel schräg und unermüdlich zwischen Bissau und Ramkau". 218 Der Verlust von sinnlicher, ideeller und realer Heimat wird von Grass in allen drei Prosawerken der Danziger Trilogoie literarisch gestaltet.
7.8. Abschließende Bemerkungen zu den literarischen Heimat-Bedeutungen der behandelten Epochenausschnitte Die Gestaltung von Heimat als ländliche Gegenwelt zum Zwecke der Kritik am Städtischen ist schon im Genrebereich der Idylle des 18. Jh. angelegt. Diese komplementär, kontrastive Benutzung von "Heimat" verdichtet sich vor dem Hintergrund der historischen Situation im 19. Jh. und erfährt durch den poetischen Realismus seine theoretisch-programmatische Grundlage. Der Terminus "kleine Heimat" war gleichbedeutend mit dem Glück einer engen Lebenswelt. Der Heimat-Begriff barg die Möglichkeit der Identifikation mit dieser heilen Welt. Veräußerlichende Zivilisationserscheinungen führten zu einer Verinnerlichung von Wertorientierungen. Vor allem das verunsicherte Kleinbügertum identifizierte sich mit dem objektiven Wert "Heimat". Durch Objektivierung des Heimat-Begriffs, durch die allgemein gültige Normerwartung und Verhaltensforderung Heimatliebe wurde der auf diese Weise mit Ideologie überfrachtete Heimat-Begriff Mittelpunkt der sogenannten "Heimatdichtung". Die biologisierende, agrarisierende Komponente wurde verstärkt; Liebe zu Landschaft, Volkstum und Stamm waren zentrale Elemente des in der Blut-und-Boden Dichtung territorial ausgeweiteten Heimat-Beriffs. Allen positiv dargestellten Werten war Heimat inhärent. Heimat wurde geradezu zum Symbol für das Gute, Reine, Richtige. Die poetologische Basis der Traditionslinie - Antagonismus Stadt/Land besteht darin, daß anhand eines literarischen Mikrokosmos, ein realer Weltausschnitt analysiert wird. Im Partikularen soll die Totalität dargestellt werden, denn auf einem begrenzten literarisch gestalteten Schauplatz können allgemein menschliche Belange intensiver herausgearbeitet werden. 219 Diese Konzeption ist auch noch in der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart bei Boll, Lenz, Johnson und Grass relevant. Wenngleich ihre literarischen Regionen oftmals nicht auf Universalität abzielen, sondern ein "fragmentarisches Universum" 220 darstellen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß die literarische Gestaltung einer kleinen Heimat nun nicht mehr auf den ländlichen Bereich beschränkt ist. Zwar wird selten eine Großstadt insgesamt als Heimat
218
GRASS: Blechtrommel, S. 273.
219
vgl. MECKLENBURG 1987, S. 78 ff.
220
Terminus von Erwin Theodor Rosenthal, in: ROSENTHAL, E. Th.: Das fragmentarische Universum. München 1970.
217 aufgefaßt. Der Großstädter findet Heimat in einem Ausschnitt der Stadt, in seinem Viertel, seiner Straße (z.B. Bolls Köln, Döblins Berlin Alexanderplatz). Durch Krieg und Nachkriegserfahrungen eröffnet sich ein weiter Themenbereich, an dem sich zentrale Bedeutungen des Heimat-Begriffs zeigen lassen. Exil, Zerstörung und Vertreibung führen zu konkreten Verlusterfahrungen. Heimat wird nun aus verklärender Erinnerung als nostalgischer Illusionsraum oder aus kritischer Distanz als politisch-gesellschaftliche Aufgabe literarisch gestaltet. Verlust und Fluchtempfindung spielen eine große Rolle bei der periodischen Wiederkehr von Heimatbewußtsein. So z.B. auch bei den beiden Auswanderungswellen des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Robinsonaden des 18. Jh. thematisieren "Heimat" zum einen als den angestammten europäischen Lebensbereich, den die "Robinsone" verlassen haben, zum anderen als die Fremde, die zu einer idealen Heimat gestaltet werden soll. Neben diesen realen Verlust und Fremdheitserlebnissen nimmt die Romantik den Heimat-Begriff zur Darstellung innerlicher, subjektiver Verlust- und Fremdheitserfahrungen auf. In der Dialektik von Identitätsverlust und Identitätshoffnung sind Heimat und Heimweh zentrale Begriffe, die mit den Inhalten der romantischen Epoche zu füllen sind (z.B. Verlust von Kindheit, Vergangenheit = Heimatverlust). Immer dann, wenn die gesellschaftlich-politischen Konstellationen in besonderem Maße zu Verunsicherung und Bedrückung Anlaß geben, sind die positiven Begriffsinhalte von Heimat gefragt. Für das Kapitel "Der Heimat-Begriff im Bedeutungsbereich der Literatur" sind solche krisenhaften Zeitumstände ausschnitthaft berücksichtigt worden, die literarische Reflexionen über Heimat nahelegen. Die poetische Funktion des Entwurfs von Kontrastwelten hat zur Auswahl von historischen Kontexten geführt, in denen der Heimat-Begriff zur antagonistischen literarischen Motiv-Verbindung avanciert ist; zur substituierenden Metapher für * Land, Nähe, Vertrautheit, Geborgenheit, Stille; * Identität, Gemeinschaftsbindung; * verwurzeltes Bauerntum, Tradition, Patriotismus, Vaterland; * Verlorenes, Erinnerung, Bewahrenswertes; * einen nur individuell erfahrbaren Bereich werden konnte.
8. Zusammenfassung
Die Semantik des Heimat-Begriffs ist in den verschiedenen funktional-zweckhaften Bereichen der Kommunikation, in denen er auftritt, gesondert untersucht worden, wobei der Schwerpunkt auf eine diachrone Betrachtung des Begriffswandels innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche und auf die Gegenüberstellung der Bereiche Alltag und Theorie gelegt wurde. Die angenommene Sonderstellung des Alltagsbereichs sowie die Eigenständigkeit der einzelnen Funktionsbereiche konnten bestätigt werden, womit eine getrennte Betrachtung der Kommunikationsbereiche im nachhinein als gerechtfertigt erscheint und der Forderung an die Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte nicht in linearer Form, sondern als ein "Nebeneinander" unter Einbeziehung einer funktionalen Betrachtungsweise zu gestalten, Nachdruck verliehen werden konnte. Um sich dem Begriffsbezirk Heimat inhaltlich zu nähern wurde zunächst die Frage "Was bedeutet Heimat?" mit Beispielen individuell geäußerter "naiver" Vorstellungsverknüpfungen beantwortet. Aus den subjektiven Begriffsbestimmungen zeichnete sich eine Möglichkeit ab, den Gesamtkomplex Heimat aufzugliedern und auf zentrale Bedeutungskategorien zu reduzieren. Die für den HeimatBegriff konstitutiv erscheinenden Faktoren "Territorium" und "Gemeinschaft" wurden per Definition zu Oberbegriffen einer "räumlichen" und einer "sozialen" Bedeutungskategorie bestimmt, unter welche die auftretenden Begriffe des Begriffsfeldes Heimat subsumiert werden konnten. Zur Ergänzung wurde eine emotionale Kategorie hinzugezogen, um das Phänomen von "Heimatgefühl" in angemessener Weise miteinbeziehen zu können. Im Rahmen des Alltagskapitels wurden konstitutive räumliche, soziale und emotionale Elementen des aktuellen Begriffsbezirks "Heimat" benannt. In einem zweiten Schritt konnte die "primäre" Funktion der meisten benannten Elemente * bezüglich ihrer Bedeutung im menschlichen Verhaltensinventar, * bezüglich des Sozialisationsprozesses, * bezüglich ihrer Position in der stammesgeschichtlichen Entwicklung dokumentiert werden, wobei einige Elemente sich als anthropologische Konstanten erwiesen haben. Die Hypothese vom Ursprung zentraler Elemente des Heimat-Begriffs im Alltagsbereich konnte verifiziert werden, da in einem dritten Schritt der Bereich des Alltags als "primärer" Bereich bestimmt wurde. Als Ergebnis des Nachweises kann zusammengefaßt werden: Primäre konstitutive Elemente des Heimat-Begriffs (* bestimmte Faktoren der räumlichen und sozialen Kategorie sind als konstitutive Elementen des Heimatbegriffs zu bezeichnen; diese konstitutiven Elemente des Heimatbegriffs - z.B. Territorium und Gemeinschaft - erweisen sich als primär und z.T. als anthropologische Konstanten.) wurzeln im primären Bereich des Alltags (* entwicklungsgeschichtlich primärer Bereich: Der Mensch lebt darin seit Beginn seiner Gattungsgeschichte;
219 * bezüglich der Individual-Entwicklung primärer Bereich: Er wird vom einzelnen biographisch als erster Lebensbereich erfahren; * Bereich der primären Lebensbewältigung: Befriedigung alltäglicher lebenspraktischer Grundbedürfnisse.). Eine weitere Gruppe von Bedeutungselementen, die nicht auf den ersten Blick der räumlichen, sozialen oder emotionalen Kategorie zuzurechnen sind, aber gleichfalls im Heimat-Begriff des Alltags nachgewiesen wurden, konnten dem Theoriebereich - größtenteils dem institutionell geprägten Bereich des Rechts und der Politik - zugeordnet werden. Bei einer näheren Betrachtung gehen jedoch auch die Wurzeln dieser Elemente auf räumliche und soziale Bedeutungskategorien zurück. Beispielsweise wird "Heimat" im juristischen Bereich - historisch gesehen - definiert als: Recht auf einen Wohnsitz oder Besitz eines Hofes bzw. Landbesitz. Die Bedeutungskomponente Besitz steht zwar im Vordergrund, aber beide Definitionen haben mit räumlichen Gegebenheiten zu tun, die verbunden sind mit dem Faktum sozialer Absicherung. Ein zweites Beispiel aus dem Bereich der Politik: Dort wird "Heimat" synonym verwendet mit "Vaterland" oder "Staat". Die nationale Bedeutungskomponente steht zwar im Vordergrund, aber beides sind Begriffe, die inhaltlich mit Territorium und Gemeinschaft in Verbindung stehen. Auf diese Weise können die Begriffe aller Funktionsbereiche mit Teilbedeutungen der räumlichen oder sozialen Kategorie, die im Alltagsbereich wurzeln, in Beziehung gesetzt werden. Durch die Analyse des Heimat-Begriffs konnte ebenfalls bewiesen werden, daß im Theoriebereich kulturell überformte Begriffe auf den Alltagsbereich zurückwirken, wodurch der Theoriebereich fortwährend Einfluß auf die Gedankenwelt und Sprache des Alltags ausübt. 1 Die Dokumentation der wechselseitigen Einflußnahme von Alltag und Theorie läßt den Schluß zu, daß Gedanken- und Sprachsysteme des Alltags notwendigerweise in allen anderen Funktionsbereichen vorhanden sind. Diese "universale" Präsenz unterstützt die Annahme einer "primären" Position des Alltagsbereichs. In der Literatur spiegelt sich, seiner Funktion gemäß, der Alltagsbereich in poetischen Mikrokosmen. Die Literatur entwirft Gegenbilder, Gegenwelten zum Alltag, dadurch ist sie prädestiniert mit Antagonismen zu arbeiten. Erinnert sei hier noch einmal an die Dominanz der literarischen Verknüpfung von Heimat mit Landleben. In diesem Zusammenhang ist auch der Antagonismus Heimat-Fremde hervorzuheben, der eine zentrale Stellung im Bedeutungsbezirk des HeimatBegriffs einnimmt und im Bereich der Literatur in besonderem Maße herausgearbeitet wird. Die durch die Literatur vermittelten Inhalte einer "heilen Welt", die sich in einer spezifisch landschaftlichen Geprägtheit von Heimat in Verbindung mit Einfachheit und Überschaubarkeit darstellt, prägen bis heute den idyllischen Charakter von alltäglichen individuellen Heimatvorstellungen. Im Bedeutungsbereich der Religion steht das neutestamentliche "Unsere Heimat ist im Himmel" (Phil 3, 20) beispielhaft für die Semantik des HeimatBegriffs. Die religiöse Metapher "himmlische Heimat" beinhaltet in ihrer Tran-
1
Zu dieser These vgl. STEGER 1985, S. 37.
220 szendenz vor allem das Bedeutungselement von "Geborgenheit im Jenseits" und wird mittels biblischer Metaphorik durch * räumliche (Wohnung, Haus, Tempel, Stadt, Jerusalem) und * soziale (Hausgemeinschaft, Tischgemeinschaft, Mitbürger, Söhne) Umschreibungen dargestellt. Auch die religiösen Bedeutungen von "irdischer Heimat" vereinigen in sich * räumliche (ein bestimmtes Territorium - Welt - , das gemäß des Schöpfungsauftrages zu gestalten ist; oder der territoriale Zuständigkeitsbereich einer Pfarrei), * soziale (ein mitmenschliches, von christlicher Nächstenliebe geprägtes Leben, das innerhalb einer Gemeinschaft/Gemeinde zu führen ist) und * emotionale (Gefühl der Zugehörigkeit, Geborgenheit, Sicherheit; gefestigt und bestärkt durch traditionelle kirchliche Bräuche) Aspekte. Im funktional-zweckhaften Bereich der Naturwissenschaft - hier auf das Gebiet der Biologie beschränkt - liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der räumlich/ territorialen Bedeutungskomponente des Heimat-Begriffs. Heimat bezeichnet den Herkunftsort bzw. die Herkunftsregion von Pflanzen und Tieren. "Heimat" als Lebensraumbezeichnung wird zunehmend durch wissenschaftliche Termini wie "Biotop", "Areal", "Revier" ersetzt. Konstante Erscheinung im Funktionsbereich der Politik ist die Benutzung des Heimat-Begriffs, um emotionale Bindungen zum jeweiligen Herrschaftssystem herzustellen. Die Integrationsfahigkeit des Heimat-Begriffs wird bis heute von allen Machthabern genutzt um zur Identifikation des Bürgers mit dem Staat beizutragen. Im 19. Jh. und verstärkt nach der Reichsgründung 1871 kommt die Bedeutungsverknüpfung von Heimat mit Vaterland/Nation zum Tragen und erweitert sich zur Zeit des Nationalsozialismus auf "Reich". Im Heimat-Begriff des politischen Bedeutungsbereichs verbinden sich emotionale, räumliche und soziale Bedeutungselemente - Gemeinschaftssinn, Territorium, Volk - wie beispielsweise im Heimat-Synonym "Vaterland". Bis heute haften dem alltäglichen HeimatBegriff politische Bedeutungskomponenten an; wird "Heimat" im Alltag assoziiert mit "Staat" und "Deutschland". Im gegenwärtigen institutionellen Funktionsbereich des Rechts ist der HeimatBegriff aufgrund seiner Bedeutungsvielfalt nicht geeignet, um als juristischer Terminus verwendet zu werden. Er muß entweder durch Zusätze konkretisiert werden (z.B. "Heimatstaat"), oder sein Inhalt muß auf die zwei zentralen Bedeutungselemente Territorium und Gemeinschaft reduziert werden, die sich gleichzeitig als konstitutiv für den Staatsbegriff erweisen ("Staatsgebiet" und "Staatsvolk"), womit das Heimatsynonym im rechtlichen Bereich der Gegenwart benannt wäre. In historischem Rückblick sind vor allem die Heimat-Synonyma "Haus", "Hof", "Besitz" (väterliches Erbe) erwähnenswert, die bis heute als Bedeutungskomponenten im alltäglichen Heimat-Begriff nachzuweisen sind. Eine Zusammenfassung der Einzelheiten des Begriffswandels in der historischen Tiefendimension sowie funktionsbereichsspezifische Ergebnisse beschließen die Kapitel zum jeweiligen Funktionsbereich. Durch die gesonderte Analyse des Heimat-Begriffs in den unterschiedlichen Funktionsbereichen konnten weitere Argumente für die Existenz funktionsbe-
221 reichsspezifischer Semantiken und sprachlicher Mittel bereitgestellt werden. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, daß die theoretischen Funktionsbereiche immer differenzierter und fachspezifischer ausgestaltet werden und klar gegeneinander abgegrenzte Funktionen aufweisen. Trotz der festgestellten separaten Entwicklung der Funktionsbereiche kann daraus jedoch nicht auf die Existenz völlig getrennter Heimat-Begriffe geschlossen werden, denn das Vorhandensein konstanter inhaltlicher Begriffselemente der räumlichen und sozialen Kategorie, die in allen Bereichen anzutreffen sind, spricht eher für die Existenz eines Heimat-Begriffs. Die Analyse legt folgendes Ergebnis nahe: Es ist von der Existenz eines Heimat-Begriffs auszugehen, dessen inhaltliches Spektrum sehr breit gefachert ist und dessen Begriffsfeld nur schwer konkret einzugrenzen ist. Der jeweilige Begriffsinhalt konstituiert sich in Abhängigkeit vom Funktionsbereich, vom Verwendungszusammenhang, von den Assoziationen und Intentionen des jeweiligen Benutzers. Die Abwahl aus den vorhandenen Bedeutungselementen des Heimat-Begriffs erfolgt individuell, kommunikationsbereichsspezifisch, kontextorientiert, situationsspezifisch und durch subjektive Erfahrungen determiniert. Es gibt keine allgemeingültige "eigentliche" Bedeutung von "Heimat", aber innerhalb eines abgegrenzten funktional-zweckhaften Kommunikationsbereichs und innerhalb eines festgelegten Zeitabschnitts, läßt sich der Heimat-Begriff durch die Auswahl bestimmter Bedeutungselemente ausreichend fixieren. Durch eine begriffsgeschichtliche Orientierung der vorliegenden Studie konnte die kulturgeschichtliche Perspektive des zu neuer Aktualität gelangten HeimatBegriffs herausgearbeitet werden, denn bei einer konkreten Bestimmung der Semantiken von "Heimat" ging es neben der Dokumentation der funktionalen Bedeutungsvielfalt auch darum, Bezüge zur geschichtlichen Bedingtheit des HeimatBegriffs herzustellen und kritisch zu erläutern.
Literatur
Adelung, J.C. (17%): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. Aufl. - Leipzig. Aebli, H. (1988): Begriffliches Denken. - In: H. Spada/H. Mandl (Hgg.): Wissenspsychologie. - München/Weinheim. 227-247. Amery, J. (1977): Wieviel Heimat braucht der Mensch. - In: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. - Stuttgart. 74-102. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hgg.) (1978): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. - Reinbek. Ardrey, R. (1972): Adam und sein Revier. Der Mensch im Zwang des Territoriums. München. Aubin, H. (1950): Stufen und Formen der christlichkirchlichen Durchdringung des Staates im Frühmittelalter. - In: Festschrift für Gerhard Ritter zum 60. Geburtstag. Tübingen. Austin, J.L. (1961): Philosophical Papers. - London. Baader, O. (1979): Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. - Bonn. Bach, A. (9. Aufl. 1970): Geschichte der deutschen Sprache. - Heidelberg. Baden, H.J. (1970): Kein Grass ohne Danzig. - In: Rheinischer Merkur vom 23.10.1970. Baetke, W. (1959): Die Aufnahme des Christentums durch die Germanen. - Darmstadt. Baldinger, K. (1961): Sprache und Kultur. - In: Ruperto-Carola 29. Balzer, W. (1982): Empirische Theorien: Modelle, Strukturen, Beispiele. Die Grundzüge der modernen Wissenschaftstheorie. - Braunschweig/Wiesbaden. Bartels, A. (1904): Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung. - In: Grüne Blätter für Kunst und Volkstum. H. 8. - München/Leipzig. Barth, K. (1957): Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III/4. - 2. Aufl. Zollikon-Zürich. Bauer, R. (Hg.) (1986): Über das falsche Versprechen von Heimat. - In: Kelter, J. (Hg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Weingarten. 116-132. Baumgart, R. (1966): Deutsche Gesellschaft in deutschen Romanen. - In: ders.: Literatur für Zeitgenossen. - Frankfurt am Main. 37-58. Bausinger, H. (1961): Volkskultur in der technischen Welt. - Stuttgart. Bausinger, H. (1982): Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde. - In: Zeitschrift Zwischen Grün und Braun. Volkstumsideologie und Heimatpflege nach dem Ersten Weltkrieg. - In: H. Cancik (Hg.) (1982): Religionsund Geistesgeschichte der Weimarer Republik. - Düsseldorf. 215-229. Bausinger, H. (1983): Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. - In: Heimat heute. Der Bürger im Staat. 33. Jg. Heft 4. Nov. 1983. Hg.: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. 211-217. Bausinger, H./Braun, M./Schwedt, H. (1959): Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen. - Stuttgart. Bausinger, H. (1980): Heimat und Identität. - In: Köstlin, K./Bausinger, H. (Hgg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. - Neumünster. Bausinger, H. (1986): Heimat in einer offenen Gesellschaft. - In: Kelter, J. (Hg.): a.a.O. 89-116. Beiti, R./Erich, O.A. (Begründer) (1974): Wörterbuch der deutschen Volkskunde. 3. Aufl. - Stuttgart. Bellebaum, A. (1980): Soziologie der modernen Gesellschaft. 3. Aufl. - Hamburg.
223 Berber, F. (1975): Lehrbuch des Völkerrechts. Bd 1. Allgemeines Friedensrecht. München. Berger, P.L./Luckmann, Th. (1971): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 2. Aufl. - Frankfurt am Main. Bergmann, K. (1970): Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. - Meisenheim am Glan. Bergmann, W. (1981): Lebenswelt. Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? Ein grundbegriffliches Problem alltagstheoretischer Ansätze. - In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 1. 33.Jg. 50-72. Bergsdorf, W. (1983): Herrschaft und Sprache. Studien zur politischen Terminologie der BR Deutschland. - Pfullingen. Bernsdorf, W. (Hg.) (1972): Wörterbuch der Soziologie. 3 Bde. - Frankfurt am Main. Bertelsmann (1979): Lexikon der Biologie. Daten und Fakten zum Nachschlagen. Gütersloh. Besch, W./Reichmann, O./Sonderegger, S. (Hgg.) (1984): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. - Berlin/New York. Beyme, K.v./Czempiel, E.O./Kielmansegg, P./Schmook, P. (1987): Politikwissenschaft. Eine Grundlegung. Bd. 2: Der demokratische Verfassungsstaat. Stuttgart/Köln/Berlin/Mainz. Bickes, H. (1984): Theorie der kognitiven Semantik und Pragmatik. - Ffm./Bern/New York/Nancy. Bienek, H. (1978): Besuch im Heimatmuseum: Siegfried Lenz und sein neuer Roman aus einem verlorenen Land. - In: "Die Zeit" vom 20. Oktober 1978. Bienek, H. (Hg.) (1985): Heimat - Neue Erkundung eines alten Themas. - München/ Wien. Binswanger, L. (1955): Das Raumproblem in der Psychopathologie. - In: ders. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. 2. Bern. Bistum Limburg (1975): Gotteslob. Katholisches Gebets- und Gesangbuch für das Bistum Limburg. - Frankfurt am Main. Blaschke, J. (1980): Regionalismus, ein neues Phänomen an den Peripherien Europas. In: Themenheft der Zeitschrift "Vorgänge" 47/48. 104-111. Bloch, E. (1959): Prinzip Hoffnung. [Zit. nach Bloch Gesamtausgabe v. 1977], - Frankfurt am Main. Blumenberg, H. (1960): Paradigmen zu einer Metaphorologie. - In: Archiv für Begriffsgeschichte 6. 9 ff. Bluntschli, J.C./Brater, K. (1860): Deutsches Staats-Wörterbuch. Bd. 5 . - Stuttgart/ Leipzig. Bodmer, J.J. (1740): Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. [Faksimiledruck 1966.) - Stuttgart. Boehm, M.H. (1932): Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaft. - Göttingen. Böhme, W./Dominik, S. et al. (Hgg. Autorenkollektiv) (1983): Kleines politisches Wörterbuch. 4. Auflage. - Berlin (Ost). Boll, H. (1985): Stadt der alten Gesichter. - In: Bienek (Hg.) a.a.O. 95-99. Bollnow, O.F. (1980): Mensch und Raum. 4. Aufl. - Stuttgart. Bollnow, O.F. (1983): Der Mensch braucht heimatliche Geborgenheit. - In: Heimat Heute. a.a.O. 217-218. Bolten, J. (1986): Heimat im Aufwind. Anmerkungen zur Sozialgeschichte eines Bedeutungswandels. - In: Pott, H.-G. (Hg.): Literatur und Provinz. Das Konzept "Heimat" in der neueren Literatur. - Paderborn/München/Wien/Zürich. 23-38. Bornemann, E./Mann-Tiechler, G.v. (Hgg.) (1964): Handbuch der Sozialwissenschaften in drei Bänden. Bd. 2. - Freiburg.
224 Bosch, M. (1980): Nicht zu Kreuz kriechen. - In: Klicker, J.R. (Hg.): Heimat. Almanach für Literatur und Theologie 14. - Wuppertal. 68-77. Bosch, M. (1980): Heimat und Identität. - In: Themenheft der Zeitschrift "Vorgänge" 47/48. 116-129. Bräker, U. (1789): Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Zürich. [Zit. nach der Ausg. v. S. Voellmy mit e. Vorw. v. H. Mayer.(1978) Basel], Brandstetter, A. (Hg.) (1973): Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten. - Salzburg. Bredow, W.v./Foltin, H.-F. (1981): Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefiihls. - Berlin/Bonn. Breitinger, J . J . (1966) (Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740): Critische Dichtkunst. 2 Bde. - Stuttgart. Brenner, P.J. (1981): Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung ( = Studien zur deutschen Literatur. Bd. 69) - Tübingen. Brepohl, W. (1953): Die Heimat als Beziehungsfeld. Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat. - In: Soziale Welt. Jg. 4 (1952/53). 12-22. Brockhaus (1989). Enzyklopädie. 19. Aufl. Bd. 9. - Mannheim. Brockhaus (1964-65). Der neue. Allbuch in fünf Bänden und einem Atlas. 3. Aufl. Wiesbaden. Brockhaus/Wahrig (1981). Band 3. Wiesbaden. Brude-Firnau, G. (1987): Zur Funktion des Heimatbegriffs in Uwe Johnsons Tetralogie "Jahrestage". - In: Seliger, H. (Hg.): Der Begriff "Heimat" in der deutschen Gegenwartsliteratur. - München. 29-39. Brunner, O./Conze, W./Koselleck, R. (1972 ff): Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland". 6 Bde. Stuttgart. Buchwald, K. (1983): Heimat heute. Wege aus der Entfremdung. - In: Heimat heute. Der Bürger im Staat. 33. Jg. Heft 4. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. - Stuttgart. 219-227. Bühl, W.L. (1982): Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens. - Tübingen. Bülow, F. (1969): Heimat. - In: Wörterbuch der Soziologie. - Stuttgart. Bungarten, T. (1981): Wissenschaftssprache. - München. Bungarten, T. (Hg.) (1986): Wissenschaftssprache und Gesellschaft. Aspekte der wissenschaftlichen Kommunikation und des Wissenschaftstransfers in der heutigen Zeit. Hamburg. Busse, D. (1986): Überlegungen zum Bedeutungswandel. - In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 17/2. 51-67. Busse, D. (1987): Historische Semantik. Analyse eines Programms. (Diss.) - Stuttgart. Cairns, R.B. (1966): "Attachment Behavior of Mammals". - In: Psychological Review 73. 409-426. Campe, J.H. (1808): Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 2. - Braunschweig. Cassirer, E. (1975): Philosophie der symbolischen Formen. Bd. III. 6. Aufl. - Darmstadt. Chamisso A.v. (1831): Chamissos Werke. Hg. v. H. Tardel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. 3 Bde. o.J. - Leipzig/Wien. Cepl-Kaufmann, G. (1986): Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff Heimat in Günter Grass'- Danziger Trilogie. - In: Pott H.-G. (Hg.) a.a.O. 61-85. Ciaessens, D. (1967): Familie und Wertsystem. Eine Studie zur zweiten sozio-kulturellen Geburt des Menschen und der Balastbarkeit der Kernfamilie. - Berlin. Dahm, G. (1958): Völkerrecht. Bd. 1. - Stuttgart.
225 Darling, F.F. (1952): Social Behavior and Survival. - In: Archiv Univ. Karlovi, 69. 183-191. Delp, A. (1940): Heimat. - In: Stimmen der Zeit. Kath. Monatszeitschrift für das Geistesleben der Gegenwart Bd. 137. Deutsches Rechtswörterbuch (1914 ff.). Wörterbuch der ältesten deutschen Rechtssprache. Bd. I ff. - Weimar. Dieckmann, W. (1964): Wortschatz und Wortgebrauch der politischen Werbung. Ein Beitrag zur Wortforschung am Beispiel der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert. (Diss.) - Marburg. Dieckmann, W. (1975): Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2. Aufl. - Heidelberg. Dieckmann, W. (1981): Politische Sprache, politische Kommunikation. Vorträge - Aufsätze - Entwürfe. - Heidelberg. Diehl, W. (1930): Brief eines nach Amerika ausgewanderten Ehepaars aus Birkenau (1831). - In: Hessische Chronik. Monatsschrift für Familien- und Ortsgeschichte in Hessen und Hessen-Nassau. Nr. 17. 83-86. Dietsch, A. (1978): Die großartige Auswanderung des Andreas Dietsch und seiner Gesellschaft nach Amerika. - Zürich. Dittmann, J. (1980 f.): Sprachtheorie der inhaltbezogenen Sprachwissenschaft. - In: ders. Sprachtheorie in der Bundesrepublik Deutschland. - Berlin. Dörfler, P. (1927): Der Pfarrer und der Heimatgedanke. - In: Heimatarbeit und Heimatforschung. - München. Domin, H. (1982): Heimat. - In: Aber die Hoffnung. Autobiographisches. Aus und über Deutschland. - München/Zürich. Drewe, B./Ferchhoff, W. (1984): Alltag. - In: Kerber, H./Schmieder, A. (Hg.): Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen. - Reinbek. 16-24. Dröscher, V.B. (1968): Magie der Sinne im Tierreich. Neue Fortschungen. - München. Drozd, L./Seibicke, W. (1973): Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache. - Wiesbaden. Duden (1963). Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. - Mannheim. Duden (1977). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 3. - Mannheim/Wien/ Zürich. Dürkheim, E. (1972): Erziehung und Soziologie. - Düsseldorf. Edney, J.J. (1975): "Territoriality and Control. A Field Experiment". - In: Journal of Personality and Social Psychology 38. 1108-1115. Eggers, H. (1963 ff.): Deutsche Sprachgeschichte. 4 Bde. - Reinbek. Eibl-Eibesfeldt, I. (1976 a): Menschenforschung auf neuen Wegen. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen. - Wien/München/Zürich. Eibl-Eibesfeldt, I. et al. (1976 b): Conditio humana. Vorträge und Materialien zur Biologie des Menschen. - Göttingen. Eibl-Eibesfeldt, I. (1983): Gruppenverhalten und Sexualität des Menschen aus ethologischer Sicht. - In: Wendt/Loacker (Hgg.). a.a.O. Bd. V. 97-149. Eibl-Eibesfeldt, I. (1984): Die Biologie des menschlichen Verhaltens. - München. Eibl-Eibesfeldt, I. (1985): Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. - Kiel. Eibl-Eibesfeldt, I. (1988): Der Mensch - das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft. - München. Eibl-Eibesfeldt, I./Schiefenhövel, W./Heeschen, V. (1989): Kommunikation bei den Eipo. Eine humanbiologische Bestandsaufnahme. - Berlin. Eichendorff, J.v. (1826): Aus dem Leben eines Taugenichts, [zit. nach Reclam Ausgabe (1974)] - Stuttgart.
226 Eickelpasch, R. (1974): Ist die Kernfamilie universal? Zur Kritik eines ethnozentrischen Familienbegriffs. - In: Zeitschrift für Soziologie 3. 323-338. Eisler, R. (1927-1930): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 3 Bde. 1. Aufl. 1897. - Berlin. Elias, N. (1978): Zum Begriff des Alltags. - In: Hammerich, K./Klein, M.: Materialien zur Soziologie des Alltags. Sonderband Nr. 20 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. - Opladen. 22-30. Elster, L./Weber, A./Wieser, F. (Hgg.) (1923): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 5. 4.Aufl. Ember, C.R. (1974): Myths about hunter-gatherers. - In: Ethnology 17. 439-448. Emmerich, W. (Hg.) (1974): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Bd. 1: Anfänge bis 1914.- Reinbek. Endruweit, G./Trommsdorff, G. (Hgg.) (1989): Wörterbuch der Soziologie. 3 Bde. Stuttgart. Erdmann, K.O. (1925): Die Bedeutung des Wortes. Aufsätze aus dem Grenzgebiet der Sprachpsychologie und Logik. 4. Aufl. Leipzig. Fanselow, G./Staudacher, P. (1991): Wortsemantik (Word Semantics). - In: v. Stechow, A./Wunderlich, D. (Hgg.): Semantik: ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 6. hg. v. H. Steger/H.E. Wiegand). - Berlin/New York. 53-71. Mc.Farland, D. (1989): Biologie des Verhaltens. Evolution, Physiologie, Psychobiologie, dt. Ausg. hg. v. A. Stahnke und K. Volger, ins Dt. übertragen von W. Dreßen/ V. Laske/B. Nixdorf. - Weinheim. Felder, F.M. (1974): Aus meinem Leben (geschr. um 1868/1869). Bregenz. Fenske,H./Mertens, D./Reinhard, W./Rosen, K. (1987): Geschichte der politischen Ideen von Homer bis in die Gegenwart. - Frankfurt am Main. Fischer, H. (1911): Schwäbisches Wörterbuch. Bd. 3. - Tübingen. Fischer, R. (1986): Fachlexikon sozialer Arbeit, hg. v. Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. 6. Aufl. - Frankfurt am Main. Fishbein, H.D. (1976): Evolution, Development and Childrens Learning, Pacific Palisades. - Cal. Fluck, H.-R. (1991): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. 4. Aufl. - Tübingen. Fohrmann, J. (1981): Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. - Stuttgart. Foltin, H.-F. (1980): "Heimat" aus der Sicht des Marxismus. Der Heimat-Begriff in der DDR. - In: Bredow, W.v./Becker, J. (Hgg.): Andere Aspekte der politischen Kultur. Freundesgabe für Charlotte Oberfeld. - Frankfurt am Main. Fontane, Th. (1899): Der Stechlin. [Zit. nach: Theodor Fontane. Romane (Winkler Weltliteratur. Dünndruck Ausgabe m. Kommentaren u. Erläuterungen von F. Martini u. H. Platschek (1985) - München.] Frege, G. (1975): Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. und eingeleitet von G. Patzig. 4. Aufl. - Göttingen. Fries, M.S. (1987): Der implizierte Gesprächspartner und die narrative Überlieferung der Vergangenheit. Über Siegfried Lenz' Heimatmuseum. - In: Seliger, H. (Hg.) a.a.O. 51-71. Frings, Th. (1957): Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache. 3. Aufl. Halle / S. Frühwald, W. (1985): Deutschland, bleiche Mutter. Die Auseinandersetzung um Wort und Begriff der Heimat Deutschland zwischen dem Nationalsozialismus und der Literatur des Exils. - In: Bienek (Hg.) a.a.O. 27-42.
227 Gablentz, O.H.von der (1965): Einführung in die Politische Wissenschaft. - Köln/Opladen. Gadamer, H.-G. (1970): Begriffsgeschichte und Philosophie. - In: Archiv f. Begriffsgeschichte 14. 137-151. Gadamer, H.-G./Vogler, P. (Hgg.) (1972): Neue Anthropologie. Bd. 3. Sozialanthropologie. - Stuttgart. Gadamer, H.-G./Vogler, P. (Hgg.) (1973): Neue Anthropologie. Bd. 4. Kulturanthropologie. - Stuttgart. Ganghofer, L. (1925): Lebenslauf eines Optimisten (Autobiographie 1909-1911). Neuaufl. - Stuttgart. Ganter, B./Wille, R./Wolff, K.E. (Hgg.) (1987): Beiträge zur Begriffsanalyse. - Mannheim/Wien/Zürich. Gauger, J.-D. (1984): Nation, Nationalbewußtsein und Nationwerdung. - In: Weigelt (Hg.) a.a.O. 26-45. Gauger, J.-D. (1986): Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein. Bemerkungen zu einem vermuteten Zusammenhang. - In: Weigelt a.a.O. 9-44. Gehlen, A. (1956): Urmensch und Spätkultur. - Bonn. Gehlen, A. (1966): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. (1. Aufl. 1940) - Frankfurt am Main/Bonn. Gehlen, A. (1973): Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 3. Aufl. - Frankfurt am Main/Bonn. Geiger, R. (1985): Grundgesetz und Völkerrecht - Die Bezüge des Staatsrechts zum Völkerrecht und Europarecht. - München. Geipel, R. (1984): Regionale Fremdbestimmtheit als Auslöser territorialer Bewußtseinsprozesse. Berichte zur dt. Landeskunde 58. 37^t6. Geissler, E./Libbert, E./Nitschmann, J./Thomas-Petersein, G. (Hgg.) (1979): Kleine Enzyklopädie Biologie. - Frankfurt am Main. Geßner, S. (o.J.): Geßners Werke. Auswahl, hg. von Adolf Frey. - Berlin und Stuttgart. Gipper, H. (1984): Die Sprache als Voraussetzung und Medium der kulturellen Entwicklung. - In: Besch et al. a.a.O. Bd. 1. 8-19. Glaser, H.A. (1986): Heimat unterm bösen Blick. - In: Weigelt (Hg.) a.a.O. 93-110. Godelier, M. (1979): Territory and property in primitive society. - In: Cranach, M.v./ Foppa, K./Lepenies, W./Ploog, D. (Hgg.): Human ethology. Claims and limits of a new discipline. - Cambridge. Göb, R. (1968): Ein Wort ohne Plüschgefühle. - In: Christ und Welt. 17.5.1968. Görlitz, A./Prätorius, R. (Hgg.) (1987): Handbuch Politikwissenschaft. Grundlagen Forschungsstand - Perspektiven. - Reinbek. Gotthelf, J. (1837): Erlebnisse eines Schuldnerbauerns. [Zit. nach e. Nachdruck (1954) Berlin.] Gottsched, J.Ch. (1730): Versuch einer Critischen Dichtkunst. - Leipzig. [Zit. nach Nachdruck der 4. Aufl. Leipzig 1751. (1962). - Darmstadt.] Grabner-Haider, A. (Hgg.) (1969): Praktisches Bibellexikon. - Freiburg/Basel/Wien. Grammer, K. (1988): Biologische Grundlagen des Sozialverhaltens. Verhaltensforschung in Kindergruppen. ( = Dimensionen moderner Biologie Bd. 5). - Darmstadt Grass, G. (1959): Die Blechtrommel. Roman. - Frankfurt a Main. Grass, G. (1961): Katz und Maus. Eine Novelle. - Reinbek. Grass, G. (1968): Hundejahre. Roman. - Reinbek. Grathoff, R. (1978): Alltag und Lebenswelt als Gegenstand der phänomenologischen Sozialtheorie. - In: Hammerich/Klein (Hgg.) a.a.O. 67-86. Grentrup, Th. (1955): Heimat als Wort, sprachgeschichtlich betrachtet. - In: Christ unterwegs. 9. Jg. Heft 10. 1 ff.
228 Grentrup, Th. (1955/56): Die Apostolische Konstitution "Exsul Familia" zur Auswanderer- und Flüchtlingsfrage. - München. Greverus, I.M. (1972): Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. - Frankfurt am Main. Greverus, I.M. (1979): Auf der Suche nach Heimat. - München. Grieswelle, D (1986): Tradition und kleinräumliche Identität. - In: Weigelt (Hg.) a.a.O. 175-196. Grimm, J. u. W. (1984): Deutsches Wörterbuch. Bd. 10. - München. Grosse, S./Grimberg, M./Hölscher, Th./Karweick, J. (1989): "Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung". Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. - Bonn. Grünert, H. (1984): Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung. - In: Besch et al. (Hgg.) Erster Halbband a.a.O. 29-38. Grünert, H. (1983): Politische Geschichte und Sprachgeschichte. Überlegungen zum Zusammenhang von Politik und Sprachgebrauch in Geschichte und Gegenwart. - In: Sprache und Literatur in Wiss. und Unterricht 14. 2. 43-58. Günther, H. (1979): Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historisch-politischen Welt. - Frankfurt am Main. Gutjahr-Löser, P./Hornung, K. (1985): Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch. 2. Aufl. - Regensburg. Haase, R./Keller, R. (1983): Grundlagen und Grundformen des Rechts. 6. Aufl.Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz. Haberkern, E./Wallach, J.F. (1964): Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit. 2. Aufl. - Berlin. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. - Frankfurt am Main. Hall, E.T. (1976): Die Sprache des Raumes. (The hidden dimension. 1966). - Düsseldorf. Hammerich, K./Klein, M. (1978): Materialien zur Soziologie des Alltags. Sonderband Nr. 20 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. - Opladen. Handwörterbuch der Staatswissenschaften (1898-1901). 2. gänzl. umgearb. Aufl. - Jena Hannsmann, M. (1986): Heimatweh oder: Der andere Zustand. - In: Kelter, J. (Hg.) a.a.O. 31-38. Hartfiel, G. (1976): Wörterbuch der Soziologie. 2. Aufl. - Stuttgart. Hasler, A.D. (1962): Wegweiser für Zugfische. - In: Naturwissenschaftl. Rundschau 15. 302-310. Hasler, A.D./Scholz, A.T./Horvall, R.M. (1978): Olfactory imprinting and homing in salmon. - In: American Scientist 66. 347-355. Hediger, H. (1974): Tiergartenbiologie und Verhaltensforschung. - In: Immelmann, Κ. (Hg.): Sonderband "Verhaltensforschung". Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs. - Zürich. 594-603. Hegel, G.W.F. (1807): Phänomenologie des Geistes. [Zit. nach 6. Aufl. hg. v. J. Hoffmeister (1952) - Hamburg.] Heidegger, M. (1926): Sein und Zeit. [Zit. nach 16. Aufl. (1986) - Tübingen.] Heidegger, M. (I960): Sprache ist Heimat. - In: Hebbel Jahrbuch 1960. - Heide/Holstein. 27-50. Hein, J. (1976): Dorfgeschichte. - Stuttgart. ( = Sammlung Metzler 145). Hempel, C.G. (1977): Aspekte wissenschaftlicher Erklärungen. - Berlin/New York. Hentschel, E. (1986): Zoologisches Wörterbuch. 3. Aufl. - Stuttgart. Herder Lexikon der Biologie in acht Bänden (1983-1987). Allgemeine Biologie - Pflanzen - Tiere. - Freiburg/Basel/Wien.
229 Hermlin, S. (1980): Aufsätze, Reportagen, Reden, Interviews. Hg. v. U. Hahn. - München. Herzog, R./Kunst, H./Schiaich, K./Schneemelcher, W. (1987): Evangelisches Staatslexikon. 3. Aufl. in 2 Bänden. Begr. v. H. Kunst und S. Grundmann. - Stuttgart. Hess, E.H. (1975): Prägung. Die frühkindliche Entwicklung von Verhaltensmustern bei Tier und Mensch. - München. Heuss, Α. (1973): Zum Problem einer geschichtlichen Anthropologie. - In: Gadamer/ Vogler (Hgg.). Neue Anthropologie Bd. 4: Kulturanthropologie. - Stuttgart. 150- 195. Heyne, M. (1906): Deutsches Wörterbuch. 2. Aufl. Bd. 2. - Leipzig. Hinck, W. (1985): Heimatliteratur und Weltbürgertum. Die Abkehr vom Ressentiment im neuen Heimatroman. - In: Bienek (Hg.) a.a.O. 42-57. Hölderlin, F. (1923): Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch N.v. Hellingrath, fortgeführt durch F. Seebaß und L.v. Pigenot. 2. Aufl. Berlin 1923. Hoffmann, F. (1981): Heimatdichtung ohne Heimattümelei am Beispiel von vier Landschaften und vier Autoren. - In ders.: Zwischenland. Hildesheim. 143-166. Hollmer, H./Lubkoll, Ch. et al. (1988): Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. Von Gottsched bis Goethe. - München. Humboldt, W.v. (1830-1835): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. - In: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. v.d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. 17.Bde. - Berlin 1903-1936 (Reprint 1968). Hund, F. (1978): Geschichte der physikalischen Begriffe. 2 Bde. 2. Aufl. - Mannheim. Hurrelmann, K./Ulich, D.(Hgg.) (1980): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim. Husserl, E. (1954): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag. Immelmann, K. (Hg.) (1974): Sonderband "Verhaltensforschung". Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs. - Zürich. Immelmann, K./Meves, Ch. (1974): Prägung als frühkindliches Lernen. - In: Immelmann, K. (Hg.) a.a.O. 337-354. Immelmann, K. (1975): Ecological significance of imprinting and early learning. - In: Annual Review of Ecology and Systematics 6. 15-37. Immelmann, Κ./Keller, Η. (1988): Die frühe Entwicklung. - In: Immelmann, K. et al. a.a.O. 133-180. Immmelmann, K./Scherer, K.R./Vogel, Ch./Schmook, P. (1988): Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens. - Stuttgart/New York/Weinheim/München. Ischreyt, H. (1971): Gibt es eine politische Fachsprache? - In: Deutsche Studien 9. 249260. Jacobi, J. (1870): Das Ziel der Arbeiterbewegung. - Berlin. Jacobsen, H.-A. (Hrsg.) (1970): Mißtrauische Nachbarn. Deutsche Ostpolitik 19191970. Dokumente und Analysen. - Bonn. Jäger, L. (1977): Erkenntnistheoretische Grundfragen der Sprachgeschichtsschreibung. Thesen. - In: IdS 41. 332-342. Jantke, O./Hilger, D. (Hgg.) (1965): Die Eigentumslosen. - Freiburg/München. Jeggle, U. (1980): Wandervorschläge in Richtung Heimat. - In: Heimat und Identität. Themenheft der Zeitschrift "Vorgänge" 47/48. S. 55-63. Jens, W. (1985): Nachdenken über Heimat. - In: Bienek, H. (Hg.) a.a.O. 14-27. Johnson, U. (1962): Mutmaßungen über Jakob. - Frankfurt am Main und Hamburg.
230 Johnson, U. (1970-1983): Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cressphal, 4 Bde. Frankfurt am Main. Johnson, U. (1984): Ich über mich. - In: Uwe Johnson, hg. v. Gerlach, R./Richter, F. Frankfurt am Main. Johnson, U. (1985): Einführung in die Jahrestage. - In: Jahrestage, hg. von M. Bengel. Frankfurt am Main. 15-27. Johnson, U. (1985): Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, m.e. Nachwort hg. v. S. Unseld. - Frankfurt am Main. Kamberger, K. (1981): Mit dem Hintern am Boden und dem Kopf in den Wolken. Entdeckungsfahrten in Richtung Heimat. - Frankfurt am Main. Karrenberg, F. (Begr.), Schober, Th./Honecker, M./Dahlhaus, H. (1980): Evangelisches Soziallexikon. 7. Aufl. - Stuttgart/Berlin. Kaschuba, W. (1979): Arbeiterbewegung - Heimat - Identität. - In: Tübinger Korrespondenzblatt, hg. im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., Nr. 20/Juni 1979. 11-15. Keller, G. (1856): Romeo und Julia auf dem Dorfe. [Zit. nach: Gottfried Keller Gesamtausgabe in sechs Bänden. - Bd. 3: Die Leute von Seldwyla. (o.J.) - Zürich. 56-122.] Kelter, J. (Hg.) (1986): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. - Weingarten. Kerber, H./Schmieder, A. (Hgg.) (1984): Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen. - Reinbek. Kimminich, O. (1985): Heimat. - In: Seidl-Hohenveldern, I. (Hg.): Lexikon des Rechts. Völkerrecht. - Neuwied/Darmstadt. Klappenbach, R./Steinitz, W. (Hgg.) (1969): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. - Berlin (Ost). Kleiner, H. (1983): Zivilisation und Utopie. - In: Wendt, H./Loacker, N. (Hgg.) a.a.O. Bd. V. 728-762. Klicker, J.R. (Hg.) (1980): Heimat. Almanach für Literatur und Theologie 14. - Wuppertal. Klingel, H. (1974): Gruppenbildung bei Huftieren. - In: Immelmann, K. (Hg.) a.a.O. 506-519. Kluge, F. (1920): Deutsche Sprachgeschichte. - Leipzig. Kluge, F. (1963): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 19. Aufl. bearbeitet von W. Mitzka. - Berlin. Köbler, G. (1984): Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte. - In: Besch, W. et al. (Hgg.) a.a.O. Erster Halbband. 56-70. Koebner, Th. (Hg.) (1984): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur. - Stuttgart. Köhler, O. (1959): Heimat. - In: Staatslexikon. Bd. 4. Freiburg. König, R. (1958): Grundformen der Gesellschaft. Die Gemeinde. - Hamburg. König, R. (1959): Der Begriff der Heimat in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften. - In: Jahrbuch des deutschen Heimatbundes. 22-26. König, R. (1969): Soziologie der Familie. - In: ders. (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 7: Familie und Alter. 1. Aufl. Stuttgart. König, R. (1972): Soziologie (Fischer Lexikon). - Frankfurt am Main. König, R. (1973): Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze. - Köln. König, W. (1981): dtv-Atlas zur deutschen Sprache. 4. Aufl. - München. Koenne, W. (1974): Statischer und dynamischer Aufbau der Begriffe. Untersuchung zu den Grundlagen des begrifflichen Denkens. - Wien. Koselleck, R. (1967): Richtlinien für das "Lexikon politisch-sozialer Begriffe" der Neuzeit. - In: Archiv für Begriffsgeschichte 11/1.
231 Koselleck, R. (1972): Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. - In: Kölner Zeitschr. f. Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderh. 16. 116-131. Koselleck, R. (1979): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. - Stuttgart. Krainer, J./Manti, W. et al. (Hgg.) (1985): Nachdenken über Politik. Jenseits des Alltags und diesseits der Utopie. - Graz/Wien/Köln. Kramer, D. (1973): Die politische und ökonomische Funktionalisierung von "Heimat" im deutschen Imperialismus und Faschismus. - In: Diskurs 6-7. 3-22. Kramer, D. (1981): Die Provokation Heimat. - In: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft 13. 3 2 ^ 0 . Krockow, Ch. Graf ν. (1984): Heimat. Ein Begriff löst Wehmut aus. - In: Die Zeit Nr. 41 vom 5. Okt. 1984. 73. Krockow, Ch. Graf v. (1985): Der Begriff des Politischen. Überlegungen zur Fundamentalpolitisierung und zur politischen Kultur. - In: Krainer, J./Manti, W. et al. (Hgg.) a.a.O. 15-27. Kruse, L. (1974): Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie. - Berlin/New York. Kulturpolitisches Wörterbuch (1970). 2. Aufl. 1978. - Berlin (Ost). Kundler, H. (1980): Von Heimat sprich behutsam. - In: Klicker, J.R. (Hg.) a.a.O. 6268. Kunert, G. (Hg.) (1988): Aus fremder Heimat. Zur Exil-Situation heutiger Literatur. München/Wien. Kutschera, F.v. (1975): Sprachphilosophie. 2. Aufl. - München. Kutschera, F.v. (1976): Einführung in die intensionale Semantik. - Berlin/New York. Lamprecht, J. (1974): Aufgaben, Einteilung und Methoden der Verhaltensforschung. In: Immelmann, K. (Hg.) a.a.O. 16-35. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.) (1983): "Heimat heute". Der Bürger im Staat. 33. Jg. Heft 4. - Stuttgart. Langbehn, J. (1890): Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. - Leipzig. Lange, G. (1971): Das Wesen der Heimat aus der Sicht des Marxismus-Leninismus. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität. Gesellschafits- und sprachwissenschaftliche Reihe. Jg. 20. 11-22. Lange, G. (1973): Heimat - Realität und Aufgabe. Zur marxistischen Auffassung des Heimatbegriffs. - Berlin. Laun, R. (1959): Das Recht auf die Heimat. - In: Rabl, K. (Hg.): Das Recht auf die Heimat. Zweite Fachtagung. Bd. 2 - München. 95-118. Lenau, N. (1833-1842): Gedichte. [Zit. nach: Sämtliche Werke, Briefe. Hg. ν. H. Engelhard. (1959). - Darmstadt.] Lenz, S. (1955): Der Leseteufel. - In ders.: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. [Zit. nach: Fischer Taschenbuch. Nr. 312 (1974) - Frankfurt am Main. 7-12.] Lenz, S. (1955): Eine Kleinbahn namens Popp. - In ders.: So zärtlich war Suleyken. [Zit. nach a.a.O. (1974). 68-74. Lenz, S.: Diskrete Auskunft über Masuren. Nachwort. - In ders.: So zärtlich war Suleyken. [Zit. nach a.a.O. (1974). 117 f. Lenz, S. (1968): Deutschstunde. - München. Lenz. S. (1978): Heimatmuseum. - München. Lewandowski, Th. (1984): Linguistisches Wörterbuch. 4. Aufl. - Heidelberg. Leyhausen, P. (1983): Sozialverhalten, Kulturentwicklung und Bevölkerungsdichte. - In: Wendt, H./Loacker, N. (Hgg.): Der Mensch. Bd. V. 223-243. Liebing, J. (Hg.) (1982): Heimat deine Heimat. - Darmstadt/Neuwied. Lienhard, F. (1900): Vom Reichtum deutscher Landschaft. - In: "Heimat" 1. 133-141.
232 Lienhard, F. (1901): Heimatkunst. - In: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. G.H. Meyer. - Berlin/Leipzig. Linsenmair, K.E./Tyrell, H./Schulze, H.-J./Müller, K.E. (1988): Familie und Kleingruppe. - In: Immelmami, Κ. et al. (Hgg.). 709-757. Löning (Hg.) (1871): Bluntschli's Staatswörterbuch in drei Bänden. Bd. 2. - Zürich. Lorenz, K./Leyhausen, P. (1973): Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen. 4. Aufl. - München. Lorenz, K. (1988): Die Rückseite des Spiegels. Der Abbau des Menschlichen. - München/Zürich. Luckmann, T. (1972): Zwänge und Freiheit im Wandel der Gesellschaft. - In: Gadamer, H.-G./Vogler, P. (Hgg.). Bd. 3 (Sozialanthropologie) a.a.O. 168-199. Luckmann, T./Müller, K.E. (1984): Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen. - In: Immelmann, K. et al. (Hgg.) a.a.O. 758-796. Lübbe, H. (1975 a): Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. - Freiburg/München. Lübbe, H. (1975 b): Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19. 8-15. Lüschen, G. (1989): Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft. In: Nave-Herz, R./ Markefka, M.: Handbuch der Familien und Jugendforschung. Bd. 1 (Familienforschung). - Neuwied/Frankfurt. 435-453. Luhmann, N. (1973): Vertrauen - ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. - Stuttgart. Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. - Frankfurt am Main. Lyons, J. (1991): Bedeutungstheorien (Theories of Meaning). - In: Stechow Α .ν./ Wunderlich, D. (Hgg.): a.a.O. 1-24. Mann, Th. (1947): Doktor Faustus. - Frankfurt am Main. Manthey, F. (1963): Heimat und Heilsgeschichte. - Hildesheim. Manti, W. (1985): Sprache und Politik. Politische Kommunikation und Kampf um Wörter. - In: Krainer, J./Manti, W. et al. (Hgg.) a.a.O. 299-315. Markl, H. (1974): Die Evolution des Soziallebens der Tiere. - In: Immelmann, K.(Hg.) a.a.O. 461-486. Maurer, F./Rupp, H. (1974-1978): Deutsche Wortgeschichte. 3. Aufl. - Berlin/New York. Mecklenburg, N. (1986): Zeitroman oder Heimatroman? Uwe Johnsons "Ingrid Babendererde". - In: Pott, H.-G. (Hg.) a.a.O. 39-61. Mecklenburg, N. (1987): Die grüne Insel. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. - München. Meier, H.G. (1971): Begriffsgeschichte. - In: Ritter, J. (Hg.) a.a.O. Bd. 1. Mettenleiter, P. (1974): Destruktion der Heimatdichtung. Typologische Untersuchung zu Gotthelf - Auerbach - Ganghofer. - Tübingen. Meyers Neues Lexikon (1973): 2. Aufl. - Leipzig. Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1974): Bd. 11. - Mannheim/Wien/Zürich. Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1979 -1980): Ergänzungsbände 30 und 31. - Mannheim/Wien/Zürich. Mitscherlich, A./Kalow, G. (Hgg.) (1971): Hauptworte - Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat - Nation. - München. Mittelstrass, J. (Hg.) (1980 ff.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, M annheim/Wien/Zürich. Model, O./Creifelds, C. (1978): Staatsbürger-Taschenbuch. 17. Aufl. - München.
233 Moebus, G. (1954): Heimat und Heimatbewußtsein als psychologische Begriffe und Wirklichkeiten. - In: Rabl, K. (Hg.): Das Recht auf die Heimat. Zweite Fachtagung. Bd. 2. - München. 40-50. Moosmann, E. (Hg.) (1980): Heimat - Sehnsucht nach Identität. - Berlin. Morath, M. (1983): Der biologische Anteil im Verhaltensprogramm des Menschen. - In: Wendt, H./Loacker, N. (Hgg.) a.a.O. Bd. V. 35-60. Moser, H. (1960): Umgangssprache. Überlegungen zu ihren Formen und ihrer Stellung im Sprachganzen. - In: Zeitschr. f. dt. Mundartforschung. 215-232. Moser, H. (1969): Deutsche Sprachgeschichte. 6. Aufl. - Tübingen. Mühlmann, W.E. (1952): Das Problem der Umwelt beim Menschen. - In: Zeitschr. f. Morphologia und Anthropologia XLIV. 153-181. Müller, J.B. (1983): Soziale Sicherheit aus anthropologischer Sicht. - In: Wendt, H./ Loacker, N. (Hgg.) a.a.O. Bd. V. 312-332. Mulot, Α. (1937): Das Bauerntum in der deutschen Dichtung unserer Zeit. - Stuttgart. Nägele, R. (1986): Simili Modo: Zeiträume der Heimat. Zu Peter Handkes "Langsame Heimkehr". - In: Pott (Hg.) a.a.O. 113-131. Narr, K.J. (1973): Beiträge der Urgeschichte zur Kenntnis der Menschennatur. - In: Gadamer, H.-G./Vogler, P. (Hgg.) Bd. 4 (Kulturanthropologie). a.a.O. 3-63. Noack, P./Stammen, Th. (Hgg.) (1976): Grundbegriffe der politikwissenschaftlichen Fachsprache. - München. Nohlen, D./Schultze, R.O. (Hgg.) (1989): Politikwissenschaft. Theorien - Methoden Begriffe (Pipers Wörterbuch zur Politik in sechs Bänden, Bd. 1). 3. Aufl. - München/Zürich. Novalis (1953-1957): Werke, Briefe, Dokumente, hg. von E. Wasmuth. 4 Bde. Heidelberg. Oestreich, G. (1969): Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. - Berlin. Pareto, V. (1968): Traité de Sociologie Générale. - Genf. Parnass, P. (1986): Wo es schön war. - In: Kelter, J. (Hg.). 61-73. Parsons, T. (1981): Sozialstruktur und Persönlichkeit. - Frankfurt am Main. Paul, H. (1880): Prinzipien der Sprachgeschichte. 1. Aufl. (2. Aufl. 1886. 5. Aufl. 1920). - Halle. Paus, A. (Hg.) (1981): Kultur als christlicher Auftrag heute. - Kevelaer/Graz. Pawlowski, T. (1980): Begriffsbildung und Definition. - Berlin/New York. Pazarkaya, Y. (1986): Die Heimat ist in mir. - In: Kelter, J. (Hg.) a.a.O. 21-27. Plessner, H. (1959): Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes. - Stuttgart. Plessner, H. (1960 - 1964): Conditio Humana. - In: Mann, G./Heuß, A. (Hgg.): Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte. Bd. 1 [Zit. nach dem Neudruck von 1991], - Frankfurt am Main/Berlin. 33-87. Polenz, P.v. (1978): Geschichte der deutschen Sprache. 9. Aufl. - Berlin/New York. Polenz, P.v. (1984): Die Geschichtlichkeit der Sprache und der Geschichtsbegriff der Sprachwissenschaft. - In: Besch, W. et al. (Hgg.) a.a.O. Bd. 1. 1-8. Polenz, W.v. (1902): Der Büttnerbauer (1859). - Berlin. Porzig, W. (1971): Das Wunder der Sprache. 5. Aufl. - München. Pott, H.-G. (Hg.) (1986): Literatur und Provinz. Das Konzept "Heimat" in der neueren Literatur. - Paderborn/München/Wien/Zürich. Quervain, A. de (1945): Kirche, Volk, Staat (Ethik II, 1). - Zollikon/Zürich. Raabe, W. (o.J.): Abu Telfan. - In: Gesammelte Werke, hg. von Meinerts, H.J. Bd. I. Gütersloh. Rabl, K. (Hg.) (1959): Das Recht auf die Heimat. Zweite Fachtagung. Bd. 2. München.
234 Rahner, Κ. (1968): Schriften zur Theologie. 8. Aufl. 10 Bde. Bd. 2. - Zürich/Einsiedeln/Köln. Reding, M. (1972): Politische Ethik. - Freiburg i. Br. Rempel, H. (1964): Aufstieg der deutschen Landschaft. Das Heimaterlebnis von Jean Paul bis Adalbert Stifter. - Gießen (Lahn). Reyscher, A.L. (Hg.) (1847): Sammlung der württembergischen Gesetze. 15. Band. 2. Abteilung. - Tübingen. Riehl, W.H. (1859): Volkskunde als Wissenschaft. - In: Culturstudien aus drei Jahrhunderten. - Stuttgart. 205-229. Riehl, W.H. (1889): Die Familie. 10. Aufl.(l. Aufl. 1855) - Stuttgart. Riehl, W.H. (1897): Die bürgerliche Gesellschaft. 9. Aufl. - Stuttgart. Riescher, G. (1988): Gemeinde als Heimat. Die politisch-anthropologische Dimension lokaler Politik. Diss. Augsburg 1987 ( = tuduv-Studie/Reihe Politikwissenschaft. Bd. 21). - München. Ritter, J. (1967): Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. - In: Archiv für Begriffsgeschichte 11. 75-80. Ritter, J. (Hg.) (1971): Historisches Wöterbuch der Philosophie. - Basel/Stuttgart. Röhrig, H. (1959): Der Heimatgedanke in unserer Zeit. - In: Jahrbuch Deutscher Heimatbund. 27-37. Rogge, H. (1959): Vertreibung und Eingliederung im Spiegel des Rechts. - In: Lemberg, E./Edding, F. (Hgg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. 3 Bde. Kiel. Roscher, W. (1856): Kolonien. Kolonialpolitik und Auswanderung. 2. Aufl. - Leipzig/ Heidelberg. Rosenthal, E.Th. (1970): Das fragmentarische Universum. - München. Rossbacher, K. (1975): Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende ( = Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie. Bd. 13). - Stuttgart. Roth, E. (1986): Heimatkunde als Grundlage von Geschichtsbewußtsein. - In: Weigelt, K. (Hg.) a.a.O. 134-159. Rothacker, E. (1948): Probleme der Kulturanthropologie. - Bonn. Rothacker, E. (1955): Geleitwort. - In: Archiv für Begriffsgeschichte 1. 5-9. Rotteck, K.v./Welcker, K. (Hgg.) (1862): Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Staende. Bd. 7. 3. Aufl. - Leipzig. Rudolph, E. (1971): Protokolle zur Person. Autoren über sich und ihr Werk. - München. Russell, B./Whitehead, A.N. (1986): Principia Mathematica (Ausz. dt.). Lizenzausg. Vorw. und Einleit. übers, von Mokre, H. - Frankfurt am Main. Sagan, C. (1978): Die Drachen von Eden. Das Wunder der menschlichen Intelligenz. München. Sammet, G. (1980): Heimat. Im Zentrum der Zumutungen. - In: Heimat und Identität. Themenheft der Zeitschrift "Vorgänge" 47/48. a.a.O. 90-99. Sartori, P. (1910): Sitte und Brauch. ( = Handbücher zur Volkskunde Bd. V). - Leipzig. Schäfers, B. (Hg.) (1986): Grundbegriffe der Soziologie. - Opladen. Schippan, Th. (1968): Die Rolle der politischen und phil. Terminologie im Sprachgebrauch beider deutscher Staaten und ihre Beziehungen zum allgemeinen Wortschatz. In: Wiss. Zeitsch. d. Karl Marx Universität Leipzig, Ges. Sprachw. Reihe 17. 177183. - Leipzig. Schirmer, A./Mitzka, W. (1969): Deutsche Wortkunde. Kulturgeschichte des deutschen Wortschatzes. 6. Aufl. - Berlin.
235 Schleidt, M./Neumann, P. (demn.): Vorstellung und Bewertung von Gerüchen. Eine empirische Studie mit der Methode der kritischen Ereignisse. Schmeller, J.A. (1872): Bayerisches Wörterbuch. Bd. 1. - München. [Zit. nach dem Neudruck der Ausgabe von 1872. (1966)] - Aalen. Schmidt-Hidding, W. (1963): Zur Methode wortvergleichender und wortgeschichtlicher Studien. - In : Moser, H. et al. (Hg.): Europäische Schlüsselwörter. Bd. 1. - München. 18-33. Schmidt-König, K. (1974): Vogelzug und Vogelorientierung. - In: Immelmann, K. a.a.O. 182-189. Schnabel, J.G. (1964): Die Insel Felsenburg (Wunderliche Fata einiger Seefahrer). 3 Bde. Veröffentlicht 1731, 1732 und 1736. Unveränderter Nachdruck. - Darmstadt. Schneider, H. (1986): Heimat. Wohnort - Gemeinde - Landkreis. Einige empirische Befunde. - In: Weigelt, K. (Hg.) a.a.O. 57-78. Schöne, H. (1974): Formen und Mechanismen der Raumorientierung. - In: Immelmami, Κ.(Hg.) a.a.O. 153-173. Schütterle, P.E. (1935 u. 1936): Der Heimatroman in der deutschen Presse der Nachkriegszeit. Diss. - Heidelberg. - Würzburg. Schütz, A./Luckmann, Th. (1979 u. 1984): Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. - Frankfurt am Main. Schultz, H. (1973): Einige methodische Fragen der Begriffsgeschichte. - In: Archiv f. Begriffsgeschichte 17. 221-231. Schultz, H. (1979): Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. - In: Koselleck, R.: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. - Stuttgart. 43-75. Schultze, J. (Juni-Aug. 1980): Heimat im Teufelsmoor. - In: Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie um 1900. Katalog der Ausstellung in der Kunsthalle Bremen. Schwab-Felisch, H. (1962): Das Flüchtlingsproblem. In: Richter, H.-W. (Hg.): Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz. - München/Basel. Schwartz, R.L. (1983): Der Begriff des Begriffs in der philosophischen Lexikographie. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte. - München. Schwarz, E. (1982): Kurze deutsche Wortgeschichte. 2. Aufl. - Darmstadt. Schwarz, S. (1956): Die Liebe zur Heimat, ein wesentliches Ziel unserer patriotischen Erziehung. Diss. - (Ost)-Berlin. Schwarz, W.J. (1970): Der Erzähler Uwe Johnson. - Bern. Schweitzer, M. (1986): Staatsrecht III. Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht. - Heidelberg. Schweizer, G. (1976): Bauernroman und Faschismus. Zur Ideologiekritik einer literarischen Gattung. - Tübingen. Schwerte, H. (1967): Zum Begriff der sogenannten Heimatkunst in Deutschland. - In: Glaser, H. (Hg.): Aufklärung heute - Probleme der deutschen Gesellschaft. - Freiburg. 117-189. Schwerte, H. (1968): Ganghofers Gesundung. Ein Versuch über sendungsbewußte Trivialliteratur. - In: Burger, Η.O. (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. - Frankfurt am Main. 154-208. Seeliger-Würtz, S. (Demn.): Die literarische Darstellung der Alltagswelt in modernen Prosatexten. Diss. - Freiburg. Seidel, E. / Seidel-Slotty (1961): Sprachwandel im Dritten Reich. Eine kritische Untersuchung faschistischer Einflüsse. - Halle. Seidl-Hohenveldern, I. (Hg.) (1985): Lexikon des Rechts. Völkerrecht. - Neuwied/ Darmstadt. Seidl-Hohenveldern, I. (1987): Völkerrecht. 6. Aufl. - Köln/Berlin/Bonn/München.
236 Seliger, H. (Hg.) (1987): Der Begriff "Heimat" in der deutschen Gegenwartsliteratur ( = The concept of "Heimat" in contemporary German literature). - München. Sengle, F, (1963): Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. - In: Studium generale. Jg. 16. H. 10. 619-631. Simmel, G. (1958): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (2. Aufl. München/Leipzig 1922.). - Berlin. Sohnrey, H. (1900): Der Kampf gegen die Großstadt (für das Volkstum) auf litterarischem und künstlerischem Gebiete. - In: Heimat 2. 212-221. Sombart, W. (1956): Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie. 2. Aufl. - Berlin. Sommer, M. (1972): Kritische Anmerkungen zu Theorie und Praxis begriffsgeschichtlicher Forschung. - In: Archiv f. Begriffsgeschichte 16. 227-224. Sonderegger, S. (1979): Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Bd. 1. - Berlin/New York. Spohn, M. (1986): Albdruck der Heimat. - In: Kelter, J. (Hg.). Spranger, E. (1952): Der Bildungswert der Heimatkunde. 3. Aufl. 1952. 7. Aufl. 1967. - Stuttgart. Staatslexikon (1985-1989): Recht-Wirtschaft-Gesellschaft in fünf Bänden, hg. v. der Görres-Gesellschaft. 7. Aufl. - Freiburg/Basel/Wien. Stammen, Th. (1986): Geborgenheit als anthropologisches Bedürfnis - Die politischen und kulturellen "Kosten" der Kommunal- und Gebietsreform. - In: Weigelt, K. (Hg.) a.a.O. 78-92. Stavenhagen, K. (1948): Heimat als Lebenssinn. 2. Aufl. - Göttingen. Stechow, A.v./Wunderlich, D. (Hgg.) (1991): Semantik: ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 6. hg. v. H. Steger/H.E. Wiegand). - Berlin/New York. Steger, H. (1982 a): Über die Würde der alltäglichen Sprache und die Notwendigkeit von Kultursprachen. Rede anläßl. der Überreichung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim am 10.3.1982 (Duden-Beiträge 46). - Mannheim/Wien/Zürich. 39 Seiten. Steger, H. (1982 b): Was ist eigentlich Literatursprache? - In: Freiburger Universitätsblätter. Heft 76. Steger, H. (1984 a): Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten/Texttypen und ihrer kommunikativen Bezugsbereiche. - In: Besch et al. (Hgg.) a.a.O. Bd. 1. 186205. Steger, H. (1984 b): Probleme der religiösen Sprache und des religiösen Sprechens. In: Sprechend nach Worten suchen. Probleme der philosophischen, dichterischen und religiösen Sprache der Gegenwart. Hg. v. K. König. - München/Zürich. 96-133. Steger H. (1985): Über das Ganze und die Teile. Zur Situation der deutschen Sprache am Ende des 20. Jahrhunderts. - In: Kolloquium zur Sprache und Sprachpflege der deutschen Bevölkerungsgruppen im Ausland. - Flensburg. 19-48. Steger, H. (1986): Zur Frage einer Neukonzeption der Wortgeschichte der Neuzeit. - In: Sprachnormen: lösbare und unlösbare Probleme/Kontroversen um die neuere deutsche Sprachgeschichte/Dialektologie und Soziolinguistik: Die Kontroverse um die Mundartforschung. Hg. v. P. v. Polenz, J. Erben u. J. Goossens. ( = Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Intern. Germanisten-Kongresses. - Göttingen 1985. Bd.4). - Tübingen. 203-209. Steger, H. (1988 a): Revolution des Denkens im Fokus von Begriffen und Wörtern. Wandlungen der Theoriesprache im 17. Jahrhundert. - In: Festschrift f. Ingo Reiffenstein ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik 478). - Göppingen. 83-125.
237 Steger, H. (1988 b): Erscheinungsformen der deutschen Sprache. "Alltagssprache" "Fachsprache" - "Standardsprache" - "Dialekt" und andere Gliederungstermini. - In: Deutsche Sprache 16. Heft 4. 289-319. Steger, H. (1989 a): "Verwirrung " als Ergebnis zeit- und kulturkritischer Analyse Zukunftsphantasien in "Ganzheitsmythen" - Erwachen im "Totalitarismus". - In: Verfolgung und Widerstand. Acta Ising 1988 ( = Dialog. Schule - Wissenschaft. Deutsch und Geschichte). Hg. v. H. Kreutzer/D. Zerlin. - München. 81-101. Steger, H. (1989 b): Sprache II: Institutionensprachen - In: Staatslexikon. Bd. 5. - 7. Aufl. - Freiburg/Basel/Wien. Sp. 125-128. Stegmüller, W. (1985): Theorie und Erfahrung. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie. 2 Bde. 2. Aufl. - Berlin/Heidelberg/ New York. Stein, Freiherr vom (1965): Über die unterste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft. - In: Jantke, O./Hilger, D. (Hgg.): Die Eigentumslosen. - Freiburg/München. Steinthal, H. (1972): Abriß der Sprachwissenschaft. 2 Bde. 1881-1893. - Berlin. Nachdruck. - Hildesheim. Stepun, F. (1950/51): Heimat und Fremde. Allgemeinsoziologisch. ( = Verhdlg. des X. dt. Soziologentages). - In: Kölner Zeitschrift für Soziologie 3.Jg. 146-159. Stifter, A. (1857): Der Nachsommer. [Zit. nach: Adalbert Stifter Gesammelte Werke. Bd. 4. (1959). - Wiesbaden]. Stöhr, H.-J. (1980): Begriff, Sprache, Zeichen in Philosophie, Naturwissenschaft und Technikwissenschaften. - Rostock. Storm, Th. (1975): Gedichte, hg. von K.E. Laage. - Husum. Storm, Th. (o.J.): Werke. Gesamtausgabe in drei Bänden, hg. und eingeleitet von Engelhard, H. Bd. 3.: Novellen, Schriften, Briefe. - Stuttgart. Ströker, E. (1965): Philosophische Untersuchungen zum Raum. - Frankfurt a. Main. Ströker, E. (1989): Einführung in die Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. - München 1977; ders.: Wissenschaftsphilosophische Studien. - Frankfurt am Main. Strunz, H. (1949/50): Der Christ in der Ordnung der Welt. - In: Die Hegge. Heft 4/5. Paderborn. 45 f. Sudhaus, F. (1940): Deutschland und die Auswanderung nach Brasilien im 19. Jahrhundert. Diss. - Hamburg. Szczepanski, J. (1978): Reflexionen über das Alltägliche. - In: Hammerich, K./Klein, M.(Hgg.) a.a.O. 314-325. Tönnies, F. (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887). Neuausgabe. - Darmstadt. Treinen, H. (1974): Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimat-Problem. - In: Atteslander, P./Hamm, B.: Materialien zur Siedlungssoziologie. - Köln. 234-259. Trier, J.(1966): Alltagssprache. - In: Die deutsche Sprache des 20. Jahrhunderts. Göttingen. 110-132. Trommler, F. (1984): Die zeitgenössische Prosa I: Aspekte des Realismus. - In: Koebner, Th. (Hg.): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur. - Stuttgart. 178-215. Trübners Deutsches Wörterbuch (1939-1957): hg. v. A. Götze, Bd. 3. - Berlin. Tschirch, F. (1983): Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. 3. Aufl. - Berlin. Uexküll, J.v./Kriszat, G. (1956): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann. - Hamburg. Utz, A.F./Groner, J.F. (1954 ff.): Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. 3 Bde. - Freiburg (Schweiz). Verdross, A. (1964): Völkerrecht. 5. Aufl. - Wien.
238 Verdross, A./Simma, Β. (1984): Universelles Völkerrecht. 3. Aufl. - Berlin. Vogel, Ch./Eckensberger, L. (1988): Arten und Kulturen - Der vergleichende Ansatz. In: Immelmami, Κ. et al. a.a.O. 563-608. Vogel, Ch./Voland, E. (1988): Evolution und Kultur. - In: Immelmami, Κ. et al. a.a.O. 101-132. Wagner, F. (1972): Mensch und Umwelt - Ein Kulturvergleich. - In: Gadamer, H.-G./ Vogler, P. (Hgg.): Neue Anthropologie Bd. 3: Sozialanthropologie a.a.O. 3-33. Walser, M. (1986): Heimatkunde. - In: Kelter (Hg.) a.a.O. 147-158. Walser, M./Kelter, J. (1986): Deutschländer oder Brauchen wir eine Nation. Ein Gespräch über Staaten, Nationen, Heimat und Literatur. - In: Allmende. Heft 15. 7789. Waschkuhn, A. (1987): Politische Systemtheorie. Entwicklung-Modelle-Kritik. - Opladen. Wegener, M. (1964): Die Heimat und die Dichtkunst. - In: Schmidt-Henkel, G. et al. (Hgg.): Trivialliteratur. Aufsätze. - Berlin. 53-62. Weigand, F.L.K. (1881): Deutsches Wörterbuch. - Gießen. Weigelt, K. (Hg.) (1984): Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen ( = Studien zur politischen Bildung, Bd. 7). - Mainz. Weigelt, K. (1984): Heimat - der Ort personaler Identitätsfindung und sozio-politischer Orientierung. - In: ders. (Hg.) a.a.O. 15-26. Weigelt, K. (Hg.) (1986): Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein. ( = Studien zur politischen Bildung Bd. 11). - Mainz. Weisgerber, L. (1955): Das Worten der Welt als sprachliche Aufgabe der Menschheit. In: Sprachforum I. 10 ff. Weisgerber, L. (1963): Hauptgesichtspunkte inhaltbezogener Wortforschung. - In: Moser et al. (Hgg.). Bd. 1. - München. 23-17. Weiß, R. (1951): Heimat und Humanität. - In: Heimat und Humanität. Festschrift für Karl Meuli zum 60. Geburtstag. - Basel. 1-10. Wendt.H./Loacker,Ν. (Hgg.) (1983): Kindlers Enzyklopädie "Der Mensch". Bd. V.: Soziales und geschichtliches Verhalten der Menschen. - Zürich. Wenig, Ch. (1870): Handwörterbuch der deutschen Sprache. 5. Aufl. - Köln. Werder, P.v. (1943): Literatur im Banne der Verstädterung. Eine kulturpolitische Untersuchung. - Leipzig. Wesenberg-Lund, C. (1939): Biologie der Süßwassertiere. Wirbellose Tiere. [Zit. nach der dt. Ausgabe von O. Storch. (1982) - Braunschweig/Königstein (Reprint der Ausgabe von 1939).] Wickler, W. (1972): Verhalten und Umwelt. - Hamburg. Wickler, W./Seibt, U. (1977): Das Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens. - Hamburg. Wittgenstein, L. (1958 / 1977): Philosophische Untersuchungen (dt. und engl.). 2. Aufl. - Oxford/Frankfurt am Main. Wunderlich, D. (1991): Bedeutung und Gebrauch (Meaning and Use). - In: Stechow, A.v./Wunderlich, D. (Hgg.): a.a.O. 32-53. Zuckmayer, C. (1969): Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft. - Frankfurt am Main.