Der ›Frauenkrimi‹ in Ost und West: Diskursive Verhandlungen einer Subgattung [1 ed.]
 9783737015905, 9783847115908

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 17

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt (Hg.)

Der ›Frauenkrimi‹ in Ost und West Diskursive Verhandlungen einer Subgattung

Mit 2 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zielona Góra und der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Mamert Janion Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1590-5

Inhalt

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt »[Is] there […] no such thing as ›women’s crime fiction‹«? Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹ . . . . . . . . .

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Theoretische Überlegungen und methodologische Zugänge Wolfgang Brylla (Zielona Góra) ›Frauenkrimi‹. Gattungstrickserei und/oder Gattungssubversion? . . . . .

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Tadeusz Cegielski (Warszawa) Verfügt der Krimi über ein Geschlecht? Und werden Frauenfiguren von Autorinnen und Autoren unterschiedlich entworfen? Ein Beispiel aus Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mareike Brandtner (Kiel) Kriminalromane als ›Bausteine für eine feministische Kultur‹. Zur Ariadne-Reihe und den Debatten im »Ariadne Forum« in den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Małgorzata Łuczyk (Zielona Góra) Zum Interpretationsrahmen »Killerin/Mörderin« im Kriminalroman Mit verdeckten Karten von Alexandra Marinina. Eine lexikalische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Wegbereiter des ›Frauenkrimis‹ Nikolas Buck (Kiel) Mit Verstand und Herz. Die Darstellung weiblicher Sherlock-Holmes-Figuren in Heftromanserien der Kaiserzeit

. . . . . . . 101

6

Inhalt

Robert Dudzin´ski (Wrocław) Zur Rezeption der Kriminalprosa von Agatha Christie in der polnischen Presse der 1950er und 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Der ›Frauenkrimi‹ in feministischer Tradition Sonja Hartl (Berlin) Der Fall Kawaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Maike Schmidt (Kiel) »Ich merke, daß mich Männerleichen allmählich langweilen …« Sabine Deitmers Beate-Stein-Krimis (1993–2007) . . . . . . . . . . . . . . 161 Kirsten Reimers (Magdeburg) Simone Buchholz als Autorin aktueller feministischer Kriminalromane? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Genrehybride(n) Lukas Müller (Marburg) Polizei und Weiblichkeit. Erkundungen eines Paradigmas am Beispiel der Elfriede-Schuhmann-Krimis von Lydia Tews . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Melanie Foik (Münster) Ein weißer Mercedes, Agatha Christie und ein bisschen Rechtsgeschichte. Die Kriminalromane der Juristin und Schriftstellerin Zofia Kaczorowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Michael Düring (Kiel) Der Krimi als Soziogramm. Zur Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge in den Romanen um Anna Hwierut . . . . . . . . . . . 229 Adam Mazurkiewicz (Łódz´) Zu Dimensionen des Spiels mit dem Feminismus in der sog. Krakauer Krimireihe von Maryla Szymiczkowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Melanie Wigbers (Heidelberg) / Bettina Wild (Mainz) »Neugierig wie eine Katze war sie«. Deutschsprachige historische Kriminalromane mit Frauen als Ermittlerfiguren . . . . . . . . . . . . . . 269

Inhalt

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Gender-Diskurse Sandra Beck (Mannheim) Feminismus, Serienmord, Paranoia. Konfigurationen sexueller Gewalt und die Frage nach dem ›Frauen-Krimi‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Laura Schütz (München) Der Dildo als Waffe. Maskerade und Lustmord in Thea Dorns frühen Krimis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Arletta Szmorhun (Zielona Góra) Frauen als (gescheiterte) Mörderinnen in Nullzeit von Juli Zeh und Es ist nichts geschehen von Selma Mahlknecht . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Fiona Wachberger (Tübingen) Mörderinnen: Motiv und Geschlechtervorstellungen in der Kriminalliteratur. Ein deutsch-polnischer Vergleich am Beispiel von Olga Tokarczuks Der Gesang der Fledermäuse (2009) und Stephan Ludwigs Zahltag (2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Paweł Zimniak (Zielona Góra) ›Frauenkrimis‹ in der Regie krimineller Systeme Herta Müllers . . . . . . 363

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

»[Is] there […] no such thing as ›women’s crime fiction‹«? Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹

Anfang der 2000er Jahre machte die Stadt Wiesbaden (ungewollt) Schlagzeilen.1 Mit dem Frauenkrimipreis hatte sie zum Jahrtausendwechsel einen Award etabliert, der der Frauenförderung in dem männlich dominierten Krimi-Genre dienen sollte. Doch der Preis geriet bei Leser:innen und Literaturkritiker:innen aus unterschiedlichen Gründen rasch in Misskredit, nimmt er doch ein Subgenre in den Blick, das laut Gaby Pailer gar nicht existieren sollte: »there is no such thing as ›women’s crime fiction‹«.2 Insgesamt wurden bis 2005 acht Krimiautorinnen mit der »Agatha«-Trophäe ausgezeichnet, darunter befanden sich unter anderem Petra Hammesfahr mit Die Mutter (Preisträgerin des Jahres 2000), Sabine Deitmer mit Scharfe Stiche (2005) oder das Schriftstellerinnenduo Martina Borger und Maria Elisabeth Straub mit Kleine Schwester (2002), das in der crime fiction-Szene zum Zeitpunkt der ›Preiskrönung‹ bereits angekommen war und nicht nur beim Lesepublikum, sondern auch bei den Gattungskennern (den ›Profis‹) großes Ansehen genoss. Auch Tobias Gohlis sah sich 2002 in der Pflicht, in »Die Zeit« über den Sinn und die Zweckmäßigkeit der Frauenkrimipreisvergabe nachzudenken3, da mit solchem limitierten, nur auf ein spezielles Subgenre ausgerichteten Literaturpreis weder dem Kriminalroman auf seinem Weg zur ästhetischen Rehabilitierung noch dem weiblichen Geschlecht bei seinem emanzipatorischen Gesellschaftskampf um Anerkennung gedient sei. Das Wiesbadener Literaturevent nahm Gohlis zum Anlass, sich mit seinen Kritikerfreund:innen bzw. Krimiautor:innen in Verbindung zu setzen und nach Meinungen zur besagten Veranstaltung sowie der Untergattung ›Frauenkrimi‹ zu fragen, die in Deutschland vor 1 URL: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/wiesbaden-streit-um-frauen krimipreis-1163603.html vom 9. April 2003 / letzter Zugriff am 28. Mai 2023. 2 Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122, hier S. 107. 3 Gohlis, Tobias: Wozu ein »Frauenkrimipreis«? In: »Die Zeit« vom 28. November 2002. URL: https://www.zeit.de/2002/49/frauenkrimi/komplettansicht / letzter Zugriff am 28. Mai 2023.

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allem in den 1980er und 90er Jahren die Krimilandschaft aufwirbelte. Thomas Wörtche beispielsweise spricht im Rahmen dieser Umfrage mit Blick auf den ›Frauenkrimi‹ von einer »tertiäre[n], nicht literarisch/ästhetische[n]«, vielmehr von einer »werbliche[n] Kategorie«, die nur für »Menschen, die ausschließende Gruppen zur eigenen Definition brauchen«, von Nutzen sein kann, denn »Ghettoisierung ist nie sinnvoll«.4 Einen ganz ähnlichen Ton schlug Reinhard Jahn an: Frauenkrimis werden von Frauen in sog. Frauen-Zimmern gelesen, und gehören zur subtilen Ausgrenzungsstrategie, mit der das männlich-chauvinistische Establishment Frauen zwingt, nur auf Frauen-Parkplätzen zu parken, nur auf Frauen-Toiletten zu gehen und ihre umfassenden kulturellen Bedürfnisse nur in Frauen-Zeitschriften zu befriedigen.5

Jahn kehrte also das Argument der Frauenförderung, das hinter der Idee des Preises stand, als diskriminierend um und verwies auf eine gewisse Vermarktungspolitik, deren Hauptanliegen nur in einem bestand, nämlich in der Profitmaximierung und den hohen Absatzzahlen. Noch angriffslustiger in ihrem Wording war Pieke Biermann, die die Gattungsbezeichnung mit der Begründung ablehnte, sie spiele nur eine Rolle für »dumme, (denk-)faule und insgesamt desinteressierte BuchhändlerInnen, FeuilletontrottelInnen und MitarbeiterInnen auf der Vertriebs-, Verkaufs-, Werbe- und Presse›schiene‹ von Verlagen«.6 Es werden in der Umfrage von Gohlis aber auch Stimmen laut, die solche gattungstechnische und -konzeptionelle Ausdifferenzierung gutheißen und sogar befürworten. So weist Thomas Przybilka z. B. darauf hin, dass dieses »Schlagwort« als Abgrenzungskriterium »sehr hilfreich« sein kann, und Robert Schekulin unterstreicht aus Buchhändlersicht, dass der ›Frauenkrimi‹ sich »als nützlicher Begriff zur Sortierung der Verkaufsware im Laden, zum Handling der Ware« erweist.7 Indem er marktwirtschaftliche Faktoren ins Spiel bringt, markiert er aber auch einmal mehr die werbeträchtige (Verkaufs-)Orientierung des ›Frauenkrimis‹. Gabriele Dietze, die sich in ihrer aufschlussreichen Studie zum ›weiblichen‹ hardboiled-Krimi mit der Problematik ›Frauenkrimi‹ auseinandersetzte8, vertritt die Position, die Gattungsetikettierung sage in Wirklichkeit weder etwas Negatives noch Positives über das Endprodukt aus, dasselbe Be- bzw. Entwertungsprinzip gelte auch für die Frauenkrimipreisträgerinnen:

4 5 6 7 8

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Dietze, Gabriele: Hardboiled Woman. Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997.

Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹

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Ich finde Diskussionen über ›Ghettoisierung‹ (abgesehen von der politischen Konnotation) Unsinn: Niemand beklagt die Geschlechts-Ghettoisierung von Vorstandsetagen und Stammtischen, so what? Ebenso dämlich finde ich die Vorannahme, man sollte vielleicht keinen Frauenkrimipreis annehmen, weil das schlechtere Literatur ist. Wer sagt das denn?9

Trotz Dietzes berechtigter Einwände konnte man schon in den Nullerjahren den Eindruck gewinnen, dass der ›Frauenkrimi‹ als diskursbestimmender Begriff auf dem deutschen Büchermarkt wie in der Krimipublizistik ausgedient hatte. Die in und über die Krimis der 1980er und 90er Jahre geführten Diskurse um Frauenemanzipation und Gleichberechtigung verebbten, in thematischer Hinsicht hätten die Autor:innen nichts mehr zur Gesamtdiskussion beisteuern können, deswegen sollte man auf den ›Frauenkrimi‹ als Genrebezeichnung verzichten, denn ansonsten verkäme er zu einer inhaltsleeren und trivialen, obsoleten Plattitüde. Das Hauptproblem der im Feuilleton geführten Debatte liegt darin, dass der ›Frauenkrimi‹ als Gattungslabel fast ausschließlich aus deutscher Perspektive in den Blick genommen wurde und die – mal schleppend, mal rasant verlaufenden – Genreentwicklungen außerhalb der Landesgrenzen meist unberücksichtigt blieben. Vernachlässigt wird somit der Umstand, dass z. B. in der US-Literaturforschung solche Schlüssel- oder Teilbegriffe wie female crime novel, women’s crime fiction oder feminist crime fiction seit längerer Zeit im Umlauf sind (»regendering the genre«10), ohne dass sie die geführte Diskussion über die Ästhetik der Kriminalliteratur je ins Stocken gebracht hätten.11 In Anknüpfung an diese Begriffsverwendung soll ›Frauenkrimi‹ hier in erster Linie als Subgenrebezeichnung verstanden werden, die nicht nur dem Zweck einer möglichen Typologisierung oder strukturellen Neubildung der Gattungskomplexität und ihrem Facettenreichtum dient, sondern auch ermöglicht, sie zu sezieren und zu dekonstruieren; der ›Frauenkrimi‹ ist vor allen Dingen eine Behelfskategorie, deren

9 Gohlis, Tobias: Wozu ein »Frauenkrimipreis«? 10 Horsley, Lee: Twentieth-Century Crime Fiction. Oxford: Oxford University Press 2005, S. 242. 11 Siehe dazu u. a. Plain, Gill: Twentieth-Century Crime Fiction: Gender, Sexuality and the Body. Edinburgh: Edinburgh University Press 2001; Reddy, Maureen T.: Women detectives. In: Priestman, Martin (ed.): The Cambridge Companion to Crime Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 191–207; Plain, Gill: Gender and sexuality. In: Allan, Janice/Gulddal, Jesper/King, Stewart/Pepper, Andrew (eds.): The Routledge Companion to Crime Fiction. London/New York: Routledge 2020, S. 102–110; Gray, Frances: Women, Crime and Language. New York: Palgrave Macmillan 2003; Johnsen, Rosemary Erickson: Contemporary Feminist Historical Crime Fiction. New York: Palgrave Macmillan 2006; Knight, Stephen: Crime Fiction since 1800. Detection, Death, Diversity. New York: Palgrave Macmillan 2004, S. 164–185; Mizejewski, Linda: Hardboiled & High Heeled. The Woman Detective in Popular Culture. London/New York: Routledge 2004; Munt, Sally R.: Murder by the Book? Feminism and the crime novel. London/New York: Routledge 1994.

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historische Entstehungsbedingungen stets mitgedacht werden müssen und der erst im Evaluierungsprozess Bedeutung(en) zugeschrieben werden können. Ebenso wie es im Feuilleton und in der Verlagsbranche, aber auch von Seiten der Autor:innen und Leser:innen unterschiedliche Motive gibt, an dem Label ›Frauenkrimi‹ festzuhalten, es zu banalisieren oder für feministisch-programmatische Zwecke zu nutzen, hat sich auch die deutschsprachige Literaturwissenschaft an dem Begriff abgearbeitet, ohne zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis zu kommen.12 Für den hier vorliegenden Sammelband erweist sich eine Festschreibung dessen, was unter ›Frauenkrimi‹ verstanden werden soll, aber auch nicht als notwendig. Vielmehr reflektieren die einzelnen Beiträge mit ihren facettenreichen Analysen die Schwierigkeiten stets mit, die mit der Begriffsverwendung einhergehen. Während inzwischen in Deutschland der ›Frauenkrimi‹ als Subgenre an Relevanz verloren hat, gelangt er in Polen zu einer ungeheuerlichen – aus dem deutschen Blickwinkel kaum nachvollziehbaren – Blüte.13 Mit »kryminał kobiecy« (Frauenkrimi) erfreuen sich seit ungefähr zehn Jahren, spätestens seit dem Leseerfolg von Katarzyna Bonda, 1) Kriminalromane mit Frauen als Hauptfiguren (Ermittler, Täter, Opfer etc.), 2) Kriminalromane mit feministischen Untertönen oder sogar antifeministisch-konservativen Zügen und 3) Kriminalromane dieses Genres, die aber nicht zwingend auf weibliche Autoren angewiesen sind, großer Beliebtheit. Wie dieser Gattungshype zustande kam, darauf lässt sich keine einfache und eindeutige Antwort geben. Ohne eine genaue Beleuchtung und Bestandsaufnahme des Analysegegenstandes ist die Antwortsuche ohnehin zum Scheitern verurteilt. 12 Zu nennen sind hier beispielsweise folgende einschlägige Texte, die den ›Frauenkrimi‹ zu definieren versuchen: Fischer, Susanne: Der deutsche Frauenkrimi. Paderborn: Univ. Diss. 1997; Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95.1 (1999), S. 87–112; Keitel, Evelyne: Vom Golden Age zum New Golden Age: Kriminalromane von Frauen für Frauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 19–37; Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie. Eine Projektskizze. In: Neuendorff, Dagmar/Nikula, Henrik/Möller, Verena (Hg.): Alles wird gut. Beiträge des Finnischen Germanistentreffens 2001 in Turku/Abo, Finnland. Frankfurt (Main)/Berlin/Bern: P. Lang 2005, S. 173–183; Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007; Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009; Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014. 13 Vgl. Darska, Bernadetta: Czy kryminał feministyczny jest kryminałem kobiecym? Rozwaz˙ania o gatunku i płci. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 1: S´ledztwo w sprawie gatunków. Kraków: EMG 2014, S. 177–190; Darska, Bernadetta: S´ledztwo i płec´. O bohaterkach powies´ci kryminalnych. Gdan´sk: Oficynka 2013.

Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹

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Da über den polnischen Kriminalroman, geschweige denn den ›Frauenkrimi‹, in Deutschland von einigen Ausnahmen abgesehen14 wenig bis gar nichts bekannt ist, liegt dem vorliegenden Sammelband der (naive) Wunsch zugrunde, mehr über crime fiction made in Poland (oder generell in Osteuropa) in Erfahrung zu bringen und diese Ergebnisse in Korrelation mit der deutschen Kriminalliteratur zu bringen, d. h. nach Anschlusspunkten, Schnittmengen oder gar gegensätzlichen Ausprägungen zu fragen. Der ›Frauenkrimi‹ als Genresonderform ist für eine bilateral literaturwissenschaftliche, komparatistische Zusammenführung bestens geeignet, denn in Bezug auf solche Paradigmenfelder wie Weiblichkeit, Feminismus oder Gender prallen – so der Anschein – zwei unterschiedliche Weltanschauungen und Konstruktionen von Weiblichkeit aufeinander: das moderne westliche Modell der emanzipierten Frau (quasi der Neuen Frau 2.015) und das östliche Modell der »Matka Polka« (dt. »Mutter Polin«), des klischeebeladenen Mythos der Hausfrau, die das konservative (katholische) Wertesystem mit Familie, Kindern und Gehorsamkeit gegenüber dem Ehemann gepaart mit Vaterlandsliebe verkörpert.16 Im Grunde aber sind beide implementierten Weiblichkeitsbilder stark stereotypisiert und bedürften schon längst einer weitgehenden Revisionsarbeit und Relativierung, zu der der Kriminalroman als die populärste Gattungsliteratur schlechthin mit seinem Hang zur Hybridisierung, zum Konventionsbruch oder zur Verhandlung der Gegenwart einen

14 Einen kleinen Einblick in die polnische Kriminalliteratur gewährt Brylla, Wolfgang: Ein Hauch polnischer Exotik. In: »CrimeMag« vom März 2020. URL: http://culturmag.de/crime mag/ein-hauch-polnischer-exotik-wolfgang-brylla/123962 / letzter Zugriff am 28. Mai 2023 oder – aus historisch-diachronischer Sicht – Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalromane bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113. In dem erwähnten Sammelband von Frieß/Huber erschienen darüber hinaus Aufsätze von: Jekutsch, Ulrike: »Polnische Leichen« – Marcin S´wietlicki und der polnische Kriminalroman (S. 161–182), Wehrhahn, Olena: Kollektives Identitätskonstrukt und eigene Familiengeschichte – Marek Krajewskis Lemberger Retrokrimis (S. 183–198) und Düring, Michael: Warschauer Topographie – Zur Stadt als Ort des Verbrechens im zeitgenössischen polnischen Kriminalroman (S. 199–216). Siehe auch die Beiträge von Smora˛g-Goldberg, Małgorzata: Die Kriminalromane von Marek Krajewskis: von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert (S. 175–191), Kretzschmar, Dirk: ›Retrokryminał‹ – Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski (S. 193–218) und Brylla, Wolfgang: Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard-Mock-Roman »Festung Breslau« (S. 219–230) im Sammelband von Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2012. 15 Zum (neusachlichen) Begriff der Neuen Frau siehe Barndt, Kerstin: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003, S. 1–12. 16 Vgl. Keinz, Anika: Polens Andere. Verhandlungen von Geschlecht und Sexualität in Polen nach 1989. Bielefeld: transcript 2008, S. 97–99.

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Beitrag leisten kann – sowohl im deutsch- als auch polnischsprachigen KrimiRaum. Die hier in fünf Sektionen präsentierten Ergebnisse zeigen unter komparatistischer Perspektive verschiedene Konstruktionen, Entwicklungen und Ausdifferenzierungen von ›Frauenkrimis‹ auf. Die einzelnen Beiträge ordnen die Werkanalysen in einen genregeschichtlichen Kontext ein und reflektieren die dem Begriff inhärenten Definitionsprobleme als (historisches) Subgenre. Gleichzeitig öffnet der vorliegende Band die Perspektive auf Genrehybride und GenderDiskurse, die u. a. im ›Frauenkrimi‹ ihren Ursprung finden. Die Beiträge der ersten Sektion beschäftigen sich zum einen mit methodischen Überlegungen zur Interpretationspraxis (Małgorzata Łuczyk) und zum anderen mit theoretischen Zugängen zum Subgenre ›Frauenkrimi‹, indem sie die Terminologie und Genregeschichte beleuchten (Wolfgang Brylla, Tadeusz Cegielski) sowie die Funktion dieser Krimis für die Ausbildung einer feministischen Kultur reflektieren (Mareike Brandtner). Die beiden Beiträge der zweiten Sektion skizzieren über die Analyse der Darstellung weiblicher Sherlock-Holmes Figuren in Heftroman-Serien der Kaiserzeit (Nikolas Buck) genregeschichtliche Wegbereiter des ›Frauenkrimis‹ und über die Untersuchung der Rezeption der Krimis von Agatha Christie in der polnischen Presse der 1950er und 60er Jahre (Robert Dudzin´ski) gesellschaftliche Prozesse, die die Entstehung von ›Frauenkrimis‹ in Polen ermöglichten. Die dritte Sektion nimmt ›Frauenkrimis‹ in feministischer Tradition in den Blick, die wie die Krimis von Corinna Kawaters (Sonja Hartl) im deutschsprachigen Raum in den 1980er und 90er Jahren ihre Hochphase erlebten, bevor der ›feministische Frauenkrimi‹ zum Jahrtausendwechsel erneut Variationen und Modifikationen unterliegt, wie die Analysen der Krimis von Sabine Deitmer (Maike Schmidt) und Simone Buchholz (Kirsten Reimers) demonstrieren. Die vierte Sektion fokussiert das Thema der Genrehybridität: Wie es sich grundsätzlich für die Kriminalliteratur als charakteristisch erweist, zeichnet sich auch der ›Frauenkrimi‹ durch eine Offenheit zur Hybridisierung aus – sei es in Bezug auf die weiblichen Polizeikrimis von Lydia Tews (Lukas Müller), die ›Frauen-Milizromane‹ Zofia Kaczorowskas (Melanie Foik), die gesellschaftskritischen ›Frauen-Thriller‹ von Izabela Szolc (Michael Düring), die feministischen Regionalkrimis Maryla Szymiczkowas (Adam Mazurkiewicz) oder historische Kriminalromane mit weiblichen Ermittlerfiguren (Melanie Wigbers/Bettina Wild). Die Beiträge der fünften Sektion zeigen, wie ›Frauenkrimis‹ und ihre Nachfolger mit Gender-Modellen experimentieren und Rollenbilder des (Frauen-)Krimis variieren, subvertieren oder ironisieren. Die Beiträge von Sandra Beck, Laura Schütz, Arletta Szmorhun und Fiona Wachberger stellen dabei die weiblichen Täterinnen in den Vordergrund der Analysen und kontextualisieren die Tatmotive, -ausführungen und -werkzeuge der Mörderinnen unter den Aspekten der Genregeschichte und der Genderkonstruktionen. Paweł Zimniak

Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹

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analysiert in seinem Beitrag die verschiedenen Handlungsmuster, die die Frauenfiguren in den Werken Herta Müllers einnehmen, um auf Krisensituationen unter dem Einfluss krimineller Systeme zu reagieren. Für die wissenschaftlichen Impulse und den fachlichen Dialog zwischen deutschsprachigen und polnischen Literaturwissenschaftler:innen sei allen Teilnehmer:innen der Tagung »Deutsche und polnische Frauenkrimis im Vergleich / Niemieckie i polskie kryminały kobiece – porównanie«, die vom 19. bis 21. Mai 2022 mit freundlicher Unterstützung der Interkulturellen Germanistik der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Collegium Polonicum im polnischen Słubice stattgefunden hat, sowie den Beiträger:innen des vorliegenden Sammelbandes gedankt. Der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS), dem Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra sowie dem Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der CAU zu Kiel danken wir für die finanzielle Unterstützung bei der Ausrichtung der Tagung und der Drucklegung des vorliegenden Bandes. Wolfgang Brylla und Maike Schmidt Zielona Góra und Kiel im Juni 2023

Literatur Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007. Barndt, Kerstin: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003. Brylla, Wolfgang: Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis EberhardMock-Roman »Festung Breslau«. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2012, S. 219–230. Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalromane bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113. Darska, Bernadetta: S´ledztwo i płec´. O bohaterkach powies´ci kryminalnych. Gdan´sk: Oficynka 2013. Darska, Bernadetta: Czy kryminał feministyczny jest kryminałem kobiecym? Rozwaz˙ania o gatunku i płci. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 1: S´ledztwo w sprawie gatunków. Kraków: EMG 2014, S. 177–190. Dietze, Gabriele: Hardboiled Woman. Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997. Düring, Michael: Warschauer Topographie – Zur Stadt als Ort des Verbrechens im zeitgenössischen polnischen Kriminalroman. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investiga-

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Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

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Einleitende Überlegungen zum Phänomen ›Frauenkrimi‹

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Theoretische Überlegungen und methodologische Zugänge

Wolfgang Brylla (Zielona Góra)

›Frauenkrimi‹. Gattungstrickserei und/oder Gattungssubversion?

Deutschland vs. Polen Es begann mit einer digital verpassten Backpfeife: Im Briefwechsel zwischen dem Verfasser dieser wenigen Zeilen und Thomas Wörtche, dem das Feuilleton vor einiger Zeit den ruhmreichen Ehrentitel »Krimi-Papst« verlieh1, kam es zu einer gattungstheoretischen und -genealogischen Meinungsverschiedenheit. In seiner ›Gardinenpredigt‹ vertrat Wörtche die Position, dass heutzutage, im postpostmodernen Zeitalter, der kanonisierte Begriff ›Frauenkriminalroman‹ in Wirklichkeit angestaubt und fehl am Platze sei. Zu tun hätte man es ausschließlich mit einer nicht mehr in der Kriminalliteraturwissenschaft auftauchenden Genreklassifizierung, die sogar von den Verlagshäusern kaum mehr benutzt wird, die ja doch auf die Verkaufszahlen schielen müssen und deshalb zu einer generösen reißerischen Vereinfachung neigen. Wörtches Schlussfolgerung lautete sinngemäß: das ist doch alles Schnee von gestern und der ›Frauenkrimi‹ ein Etikettenschwindel. Sein Gegenüber versuchte vor allem mit Blick auf die polnische crime fictionLandschaft zu argumentieren, dass die Diagnose zwar auf Deutschland zutreffen möge, aber in Polen oder anderen ehemaligen Ostblockstaaten, die aus literarwie politisch-geschichtlichen Gründen2 mehr oder weniger der weltweiten Gattungsentwicklung immer noch hinterherhinken3, die Sonderform des ›Frauenkrimis‹ sich auch anno 2023 großer Popularität nicht nur aufseiten der Schrift1 URL: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article197212527/Der-Krimi-Papst-Thomas -Woertche-ueber-Gewalt-gegen-Frauen-und-die-Zukunft-der-Thrillers.html / letzter Zugriff am 1. Mai 2022. 2 Vgl. Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalroman bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113, hier S. 95–96. 3 Siehe Grin, Irek: Słowo wste˛pne. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd.1: S´ledztwo w sprawie gatunku. Kraków: EMG 2014, S. 7–8.

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steller:innen (als legitimes Darstellungsmittel, mit dem man eine verklausulierte Gesellschaftskritik üben kann), sondern auch aufseiten der Leser:innen (als Unterhaltungsstoff) erfreut. Man könnte es sogar mit der ungeheuer ausufernden Taktzahl von Krimi-Autor:innenlesungen sowie den an den Mann resp. die Frau gebrachten Büchern belegen, dass z. B. in Polen der ›Frauenkrimi‹ erst im 21. Jahrhundert so richtig Fahrt aufnahm und scheinbar – zumindest bis heute – nicht zu bremsen ist.4 In der westlichen Literaturbranche hingegen verabschiedet man sich mehr oder minder von der folgereichen Abstempelung der Kriminalromane, die einen gewissen Hang zu feministisch angehauchten oder ›ganz besonderen‹ Frauenthemen, zur Weiblichkeit oder zur Umkodierung des Wahrnehmungsblickwinkels von maskulin auf feminin, queer oder gender trouble vorweisen, denn solche simplifizierende ›Schubladisierung‹ führt zu einem anderen überstülpten Regelkorsett, statt auf die Offenheit dieser Variante der crime fiction-Erzählrhetorik, ihrer Themenbeleuchtung sowie der Art und Weise der narrativen Plotkonstruktion einzugehen. In diesem Raster soll sie sich nur in einem bestimmten Aktionsrahmen bewegen und jedes Über-den-eigenen-Tellerrand-Gucken wird fast schon als Mehrwert der ›Frauenkrimi‹-Gattung angesehen und als vager Regelbruch in Betracht gezogen. Wie allerdings das Regelsystem des ›Frauenkrimis‹ terminologisch sowie gattungsorientiert zu fassen sei, daran scheiden sich bis heute die Geister. Wörtche, um ihn noch einmal zu zitieren, diesmal jedoch in einem seriöseren Zusammenhang, versteht die Kriminalliteratur nicht als »die ›eine Form‹«5, weil sie sich eben durch eine Formenvielfalt und somit auch indirekt durch eine grenzenlose thematische Bandbreite charakterisiert. Die Bemühungen, den Kriminalroman und somit auch den ›Frauenkrimi‹ auf wenige Erzählcluster und -attribute oder Sujetmotive method(olog)isch zu beschränken, sie ihrer Ambiguität und Ambivalenz zu berauben, würde bedeuten, dass man die Kriminalliteratur als solche missdeutet und sie nicht als Literatur erkennt, sondern als literarischen Bastard, der den ›wahren‹ literarischen Sprachkünstlern nicht das Wasser reichen kann. Die Diskreditierung des ganzen crime-Genres, die zwar im deutschsprachigen Sprachraum seit einiger Zeit heruntergefahren wird6, allerdings immer noch ausreichend präsent erscheint – in einer Folge des »Literarischen Quartetts« wurde Wolf Haas’ Müll von einem Gast als »nur ein Krimi« abgewertet –, setzt sich im polnischen Literaturdiskurs, trotz etwaiger Versuche der Richtigstellung des ästhetischen Stellenrangs des Kriminalromans und seiner 4 Siehe Darska, Bernadetta: S´ledztwo i płec´. O bohaterkach powies´ci kryminalnych. Gdan´sk: Oficynka 2013, S. 27–30. 5 Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben. Lengwil: Libelle 2008, S. 8. 6 Vgl. das Unterkapitel »Die Literaturwissenschaft hat ein Problem mit dem Krimi« in Vogt, Jochen: Schema und Variation. 13 Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn 2020, S. 19–20.

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gesellschaftlichen Funktion im »Feld«7 (Bourdieu), immer noch fort.8 Krimis seien Schund, mit Krimis solle man sich nicht beschäftigen, Krimis gehören auf die Deponie des abgewrackten Populärerzählens. Solche Von-vornherein-Verballhornung wird insoweit problematisch, als dass man eine ganze Literatursparte infrage stellt, ohne sie meistens gelesen oder zur offenen Diskussion gestellt zu haben. Auch der ›Frauenkrimi‹ kämpft gegen solche Verachtungspraxis an, dabei bedient er sich unterschiedlicher narrativer Tricks, diverser Stoffmodellierungsformen und verschiedener Themenkalibrierung. Um jedoch ernstgenommen zu werden, darf der ›Frauenkrimi‹, hier ist der Hund begraben, nicht als ›Frauenkrimi‹ apostrophiert werden, sondern als (variantenreiche, enttrivialisierte etc.) Kriminalliteratur; auf diesen Umwegen erhofft er sich die nötige Akzeptanz und den nötigen Respekt zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund ließe sich der ›Frauenkrimi‹ durchaus als subversiver Gattungstrickser erwägen, hinter dem mehr (literarisches) Sein als (schablonenhafter) Schein steckt.

(Nur) Frauen in der Primetime Zufälligerweise fällt die schon erwähnte Mailkorrespondenz mit Thomas Wörtche in ein Zeitfenster, in dem sich das ZDF entschied, eine ganz neue Krimireihe in der Primetime unterzubringen. In der ersten Folge, »Das böse Kind«, lernten die Zuschauer:innen das Ermittlerinnenteam Irene Gaup (Caroline Peters) und Julia Jungklausen (Natalia Belitski) kennen. Jungklausen, jung, modern, dunkelhaarig, zielstrebig, gutaussehend, mit Vorliebe für Energy Drinks wird von Leipzig nach Berlin versetzt, um mit Gaup, alter Schlag, erfahren, blondiert, am Polizeirevier beliebt, zusammenzuarbeiten. Pech im Unglück, dass Jungklausen ein kleines Techtelmechtel mit dem Ex-Ehemann von Gaup hat, dem Staatsanwalt Hans (Götz Schubert), der sich gerne auf einer Massagebank verwöhnen lässt. Am Filmset dominiert das weibliche Geschlecht: Frauen spielen die Hauptrollen, Frauen haben an der Polizeistelle das Sagen und folgerichtig geraten auch Frauen in Verdacht (aufgerollt wird ein alter Kindesentführungsfall, die Spur führt auf einen Öko-Selbstversorger-Bauernhof im Berliner Speckgürtel), Frauen stehen auch hinter der Kamera. Und selbstverständlich knistert es am Anfang zwischen den beiden Hauptprotagonistinnen, die vom Profil, vom Visuellen und der Attitüde her widersprüchlicher nicht hätten angelegt sein können. Stereotypisch wie in einem Westernduell treffen zwei Ermittlerinnen7 Bourdieu, Pierre: Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld. In: Bourdieu, Pierre: Der Tote packt den Lebenden. Hamburg: VSA-Verlag 1997, S. 59–78. 8 Vgl. Wróblewska, Violetta: Kryminał – mie˛dzy sztuka˛(słowa) a kiczem. In: Dalasin´ski, Tomasz/ Markiewka, Tomasz Szymon (red.): Kryminał – gatunek powaz˙(a)ny? Bd. 1: Kryminał a medium (literatura – teatr – film – serial – komiks). Torun´: ProLog: 2015, S. 25–38.

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typen aufeinander, es kommt zu Reibungen, das Duo hat Anlaufschwierigkeiten, und als Jungklausen mit der Wahrheit, mit ihrer Liebesaffäre, herausrückt, ist die Arbeitsstimmung so richtig im Keller. Obwohl das Storyboard absichtlich und gewollt Frauenklischeebilder (Frauen älterer Generation kochen – Frauen jüngerer Generation lassen sich bekochen) durchdekliniert, die Figuren auf Konfrontationskurs lotst, um im großen Finale eine scheinheilig intakte Frauenwelt zu signalisieren, in der Gaup und Jungklausen sich nicht mehr als Feindinnen gegenüberstehen (Frauenpower), sondern als Frauen, die einiges durchgemacht haben und die sich in dieser hierarchisierten, von Männern gesteuerten und regierten Gesellschaft zusammenraufen müssen, um zu bestehen, kann die TVSerie »Die Kolleginnen« überzeugen9: Nicht mit einem überheblich spannungsgeladenen Drehbuch, nicht mit einem brisanten Kriminalfall, nicht mit einer Weltmeister-Leistung im schauspielerischen Bereich, sondern mit ihrem Faible für Reduktionismus. In »Die Kolleginnen« werden die Kommissarinnen keineswegs auf Gedeih und Verderb maskulinisiert wie man es bspw. im »Tatort« aus Hannover/Göttingen oder Ludwigshafen beobachten kann, die Polizistinnen müssen sich vor dem männlichen Publikum nicht bewähren, sie müssen sich auch nicht mit persönlichen Problemen herumschlagen. Die Privatsphäre wird zwar angedeutet, aber nicht storygemäß für Zwecke der Zuschauerbindung ausgeschlachtet. Jungklausen und Gaup erledigen ihren Job, lösen den Fall, nicht weil sie wie männliche Spürnasen vorgehen und nicht weil sie sich vom Fraueninstinkt haben leiten lassen; Jungklausen und Gaup stellen die Gerechtigkeit wieder her, weil sie als Fahnderinnen punkten können. Abgedankt wird sowohl dem von Vorurteilen befangenen Männlichkeits- wie dem Weiblichkeitsprinzip. »Die Kolleginnen« lassen sich, trotz einiger Hänger narrativ-technischer Couleur, als ein gewisses back to the roots, ein back zur crime fiction begreifen, wo das Verbrechen selbst im Zentrum stand, das mithilfe derselben Haupthelden und ihrer Ermittlerkompetenz aufgedeckt werden muss. Das wenig zu Buche schlagende Drumherumreden mit angeblich frauenkonformen Themenstellungen im Stile der »Neuen Post« kann man als Rest- und Rückbestände eines klassischen Krimi-Frauennarrativs einstufen.

9 URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/serien/die-neue-zdf-krimireihe-kollegin nen-17761454.html / letzter Zugriff am 1. Mai 2022; URL: https://www.sueddeutsche.de/medi en/kolleginnen-zdf-caroline-peters-natalia-belitski-1.5517241 / letzter Zugriff am 1. Mai 2022.

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Maskulinität der Gattung Die Abwesenheit von Männern bzw. die geringe Rolle, die sie in »Die Kolleginnen« zu spielen vermögen, ist für die Kriminalgattung insoweit untypisch, als dass die crime fiction lange Zeit als echtes ›Männerding‹ verstanden wurde. Patriarchale Ordnungssysteme und Machtverhältnisse mauserten sich zu wichtigen kompositorischen Bausteinen der Kriminalliteratur. Sogar Ende des 19. Jahrhunderts, als die Detektivprosa zu florieren anfing10, in derselben Zeitspanne also, in der die ersten englischen Suffragetten, versammelt um Josephine Butler, für Frauenrechte einstanden11, blieb das Grundkonzept der Blutliteratur maskulin. Krimis zeichnen sich durch eine »männliche Struktur« (pl. »me˛ska struktura«)12 aus, die meistens mit Härte, Gewaltausübung und einem gewissen Heroismus in Verbindung steht. In solcher verbrecherischen, von Testosteron tröpfelnden Männerwelt konnte den Frauenfiguren nur eine ganz bestimmte, limitierte Funktion zugeschrieben werden – die Opferrolle. Gesetzeswidrigkeiten wurden von Männern begangen, Ermittlungen wurden von Männern geleitet, die in der Polizeiinstitution eingestellt oder als Amateur- resp. Privatdetektive angeheuert wurden. Frauen erfuhren nur Gewalt und Missbrauch und endeten als Leiche und Unschuldslamm auf dem Scheiterhaufen der (Erzähl-)Geschichte. Der Perspektivenwandel von Frauenopfer zu Frauenheld im Genre des Kriminalromans ging eher zögernd vonstatten, obwohl Frauen als Schriftsteller die Gattungsschule Anfang des 20. Jahrhunderts massiv prägten und ihren männlichen Widersachern die Stirn boten. Zwei Namen werden immer wieder im Kontext des femininen Paradigmenwechsels aufgezählt: Dorothy L. Sayers und Agatha Christie. Beide haben zwar die crime fiction nicht revolutioniert oder einen Beitrag zur literarischen Frauenemanzipation im männlich konnotierten Gerne geleistet, aber durch den Einsatz von Frauen als Zufallsermittlerinnen (Harriet Vane, Miss Marple) legten sie einmal mehr Zeugnis von der Variabilität des Detektiv- bzw. Kriminalromans ab und machten die weiblichen Protagonisten salonfähig in einer von Manneskraft beherrschten gentry community. Trotz Stolpersteinen, die Marple und Vane in den Weg gelegt, trotz den missbilligenden Blicken, denen sie ausgesetzt werden, 10 Siehe dazu u. a.: Kayman, Martin A.: The short story from Poe to Chesterton. In: Priestman, Martin (ed.): The Cambridge Companion to Crime Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 41–58. Vgl. auch die Studie zur dargestellten Maskulinität in den englischen Criminal-Texten des 19. Jahrhunderts von Godfrey, Emelyne: Masculinity, Crime and SelfDefence in Victorian Literature. New York: Palgrave Macmilian 2011. 11 Meiners, Antonia (Hg.): Die Suffragetten. Sie wollten wählen – und wurden ausgelacht. München: Sandmann Verlag 2016. 12 Regiewicz, Adam: Pomie˛dzy zbrodniami. Komparatystyka na tropach kryminału. Gdan´sk: Katedra 2017, S. 10.

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wissen sie ihre Rätselfälle mithilfe von logischem Denken oder Rationalität zu lösen und die Täter zu überführen. Mit anderen Worten: mit demselben detektorischen Sensorium und Instrumentarium, auf die auch ihre männlichen Konterparts zurückgriffen. Durch diesen Rollenswitch und die Aneignung maskuliner Verfahrensweisen sind Miss Marple und Harriet Vane imstande, sich im patriarchalischen Machtgefüge zu behaupten, ohne dass sie dasselbe Machtgefüge jemals in Zweifel ziehen würden. Das Frauenbild, das von Christie und Sayers verbreitet wird, ist eher von konservativer Gesinnung und klarer Frau-Mann-Rollenzuordnung getragen nach dem Motto: sich durchsetzen ja, reformieren nein. Dabei erzählt die Kriminalliteratur in Wirklichkeit, worauf schon vor geraumer Zeit Teresa L. Ebert zu sprechen kam, vom Zusammenbruch des Patriarchats.13 Dank der Befolgung von schematischen Musterschreibregeln hielt die crime fiction – vor allem in der britischen Häkeltradition – eine Weltanschauung aufrecht, die sich schon längst im Sturzflug befand. Der Kriminalroman war in der ›Gründerzeit‹ und bis zum historischen Schlüsselmoment 1945 darauf abonniert, die maskuline Deutungshoheit mit nicht-modern anmutenden Erzählmitteln zu bewahren. Bezeichnend ist, dass die einzig ernsthaften Veränderungsvorschläge und Konventionsspiele mit dem Genre eine weibliche Handschrift tragen – ausgenommen Dashiell Hammetts und Raymond Chandlers hardboiled, der jedoch, trotz einiger innovativer Erzählverfahren im Hinblick auf die Figurenporträtierung und Handlungsführung, weiterhin an dem Maskulinitätspostulat der Gattung festhält;14 erwähnt seien nur das Ende von Christies Alibi (1926), Und dann gabs keines mehr (1939) oder Patricia Highsmiths RipleyReihe (1955–1991).15 Die Kriminalliteratur wurde und wird von Frauen im positiven Sinne unterwandert. Niemand würde allerdings sowohl Christie, Sayers als auch Highsmith der Rubrik ›Frauenkrimi‹ zurechnen, weil der Begriff ›Frauenkrimi‹ selbst schwammig und auf keinen Nenner zu bringen zu sein scheint. 13 Ebert, Teresa L.: Ermittlung des Phallus. Autorität, Ideologie und die Produktion patriarchaler Agenten im Kriminalroman [1992]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 461–485, hier S. 461. 14 Vgl. Marling, William: The American Roman Noir. Hammett, Cain, and Chandler. Athen/ London: The University of Georgia Press 1995. 15 Beide Autorinnen weiß u. a. Sabine Deitmer, selbst eine der bekanntesten deutschen ›Frauenkrimi‹-Schriftsteller:innen, zu schätzen (Deitmer, Sabine: Die Lust an der Leiche. Bekenntnisse einer Triebtäterin. In: Schindler, Nina (Hg.): Das Mordsbuch. Alles über Krimis. Frankfurt (Main)/Wien: Büchergilde Gutenberg 1997, S. 294–300, hier S. 296–298). Siehe auch: Sussex, Lucy: Women Writers and Detectives in Nineteenth-Century Crime Fiction. The Mothers of the Mystery Genre. New York: Palgrave Macmillan 2010; Rowland, Susan: From Agatha Christie to Ruth Rendell. British Women Writers in Detective and Crime Fiction. New York: Palgrave Macmillan 2001.

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›Frauenkrimi‹ – ein problematischer Nicht-Begriff Ob der ›Frauenkrimi‹ ein deutsches Phänomen darstellt, ist zu bezweifeln, wenn man bedenkt, dass ähnliche Diskussionen um dieses Subgenre, das keins ist, auch u. a. im englischsprachigen Raum geführt wurden.16 Als Gattungslabel taucht der ›Frauenkrimi‹ ebenfalls in der polnischen Literaturforschung auf. Robert Ostaszewski, ein bekannter Literaturkritiker und Autor, der sich dezidiert den polnischen Gegenwartskrimis zuwendet, kommt zum Schluss, dass ein Großteil davon sog. Frauenthemen ins Visier nimmt. Wie soll man diese Kriminalromane bezeichnen, fragt sich Ostaszewski.17 Als ›Frauenkrimi‹ oder feministischer Krimi? Auch Bernadetta Darska widmete sich diesem gattungstheoretischen Benennungs-Dilemma: ist ein ›Frauenkrimi‹ per se ein feministischer Krimi?18 Oder sollte man vielmehr von einer gewissen ›Neuverhandlung der Gattungsgrenzen‹ (pl. »granice mie˛dzy gatunkami literackimi […] bardzo sie˛ rozmywaja˛«) sprechen?19 Im Endeffekt unterscheidet Darska zwischen dem ›Frauenkrimi‹ und dem feministischen Kriminalroman und bricht eine Lanze für letzteren, der eine neue Qualität in die polnische Kriminalliteratur brachte, dem soziales Engagement zugrunde liege und der häufig auch gutes Entertainment anbiete;20 über solche Ausdifferenzierungen und Taxonomien kann die westliche Kriminalliteraturwissenschaft nur schmunzeln, da die Erkenntnisse Darskas oder Ostaszewskis schon längst Eingang in den Forschungsstand gefunden haben und nicht als aufschlussreicher game changer dienen können. Für die polnische crime fiction machen sie allerdings einen Zusatznutzen aus, weil sie, als Folge der wie Pilze aus dem Boden schießenden Kriminalromane mit weiblichen Protagonisten, darum bestrebt sind, solchen Texten definitiorisch-klassifikatorisch Herr zu werden. So konstatiert zuletzt auch Darska, dass es den einen Typus oder die zwei Typen von weiblicher Kriminalliteratur nicht gebe, wenn sie außerdem solche Formen wie die Kriminalkomödie, den Sittenkrimi, die Krimi16 Zumeist allerdings in ähnlichen Zusammenhängen – vor allem aber mit den weiblichen Detektivfiguren: Kestner, Joseph A.: Sherlock’s Sisters. The British Female Detective, 1864– 1913. Burlington: Ashgate 2003; Gray, Frances: Women, Crime and Language. New York: Palgrave Macmillan 2003; Mizejewski, Linda: Hardboiled & High Heeled. The Woman Detective in Popular Culture. London: Routledge 2004; Hoffman, Megan: Gender and Representation in British ›Golden Age‹ Crime Fiction. New York: Palgrave Macmillan 2016; Klein, Kathleen Gregory: The Woman Detective: Gender and Genre. Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1988. 17 Ostaszewski, Robert: Zbrodnicze siostrzyczki atakuja˛! Polski kryminał kobiecy po 2000 roku. In: »Pogranicza« 2 (2012), S. 55–60, hier S. 55. 18 Darska, Bernadetta: Czy kryminał feministyczny jest kryminałem kobiecym? Rozwaz˙ania o gatunku i płci. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 1: S´ledztwo w sprawie gatunków. Kraków: EMG 2014, S. 177–190, hier. S. 183. 19 Ebd. 20 Ebd.

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nalromance oder den feminisierenden Kriminalroman ins Feld führt.21 Ob bei allen oben aufgelisteten Krimivarianten immer die Frage nach weiblicher Identität im Mittelpunkt steht, so die These Julia Pos´wiatowskas vom sog. femikrimi22, sei dahingestellt. Auf die Trennung zwischen ›Frauenkrimi‹ und feministischem Krimi wiesen schon vor Darska u. a. Anja Kemmerzell23 und Kirsimarja Tielinen hin.24 In der deutschen Literaturdebatte geht diese auf den »Frauenkrimiboom«25 der 1980er Jahre zurück26, obwohl schon erste Ansätze in den 1970er Jahren zu finden sind.27 Damals wie heute ist die Definitionsfrage nicht geklärt: Handelt es sich im Falle der weiblichen Kriminalromane um Texte, die von Frauen für Frauen und über Frauen geschrieben wurden?28 Oder sollten andere Schlüsselkategorien und Bestimmungskriterien zu Rate gezogen werden und ins Gewicht fallen? Nach Thomas Kniesche trug der ›Frauenkrimi‹ zur Gattungsentwicklung enorm bei29, Evelyn Keitel weist auf die Veränderungen hin, die die Gesamtgattung »unterm weiblichen Blick« erfuhr30, mit denen in den 1980er Jahren ein »Neues Goldenes Zeitalter« ausbrach31, das auf eine völlig nicht-männliche Themenfokussierung setzte und sich Schritt für Schritt auch von den klischeehaften Erzählnuancen des ›Frauenkrimis‹ distanzierte, indem man eine »abgegrenzte Gegentradition« in die Wege leitete.32 Mit dem feministischen Kriminalroman war man in der Lage, 21 Ebd., S. 183. 22 Pos´wiatowska, Julia: Kobiety na tropie. Kategoria »kobiecos´ci« w kryminałach współczesnych polskich pisarek. In: Ruszczyn´ska, Marta/Kulczycka, Dorota/Brylla, Wolfgang/Gazdecka, Elz˙bieta (red.): Kryminał. Mie˛dzy tradycja˛ a nowatorstwem. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2016, S. 269–278, hier S. 269, 271. 23 Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 5–6, hier S. 6. 24 Tielinen: Kirsimarja: Ein Blick von außen: Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre. Berlin: Weidler 2004, S. 41–46. ˇ uhová, Paulína Sˇedíková: Krimis und Feminisms (sic!). Am Beispiel von Christine Lehmann 25 C (sic!) »Die zweite Welt«. In: Jambor, Ján/Soucˇek, Jakub/Zázrivcová, Monika (Hg.): Aktuelle gesellschaftliche Probleme im Kriminalroman der Gegenwart am Beispiel von deutsch-, französisch- und slowakischsprachigen Texten. Presˇov: Presˇovská univerzita v Presˇove 2021, S. 69–87, hier S. 72. 26 Vgl. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi. Women’s Crime Writing in German. In: Hall, Katharina (ed.): Crime Fiction in German. Der Krimi. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 102–114, hier S. 104. 27 Vgl. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015, S. 89. ˇ uhová, Paulína Sˇedíková: Krimis und Feminisms, S. 68–69. 28 Siehe C 29 Vgl. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman, S. 94. 30 Keitel, Evelyn: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika. Darmstadt: WBG 1998, S. 4. 31 Ebd., S. 7. 32 Reddy, Maureen T.: Die feministische Gegentradition im Kriminalroman. Über Cross, Grafton, Paretsky und Wilson [1990]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 444–460, hier S. 444.

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nicht nur programmatisch sowie poetologisch eine andere Figurenzentrierung in den Einzelkrimitexten zutage zu fördern, sondern auch eine neue ›Story-Verplotung‹ aufzutischen und auf diesem Wege das Krimigenre zu hinterfragen. Dieser Neuansatz33 in der Kriminalliteratur bewirkte, dass man gleichzeitig auch das patriarchale Herrschaftskonstrukt infrage stellte34 und eine weibliche Antwort auf »maskuline literarische Traditionen« der Gattung kredenzte.35 Spätestens in den 1980er Jahren, u. a. mit Doris Gercke im deutschliterarischen Konnex36, gehört die Frage, die sich noch Sally R. Munt stellte, »an unsuitable genre for woman«37, der Vergangenheit an. Analog dazu ist jedoch die marketinggerechte Verlagspolitik zu nennen, die Signatur ›Frauenkrimi‹ gewinnbringend zu veräußern. Im Laufe der Jahre wurde jedoch aus dem Schriftzug ›Frauenkrimi‹ eine leere, inhaltslose Begriffshülle, die man mit anderen Wünsch-dir-wasHilfsbegriffen ausfüllen möchte. ›Frauenkrimi‹ als Gattungsbrandname wurde zu solch einer ›Selbstverständlichkeit‹, argumentiert Brigitte Frizzoni, dass er längst überholt sei38, nicht mehr bedeutungstragend und diskussionsbestimmend. Im Grunde ist der immer wieder in Anschlag gebrachte feministische Krimi eine Art Substitut und Fortschreibung des in Verruf geratenen ›Frauenkrimis‹, mit ähnlichen Inszenierungstechniken, aber mit anderen Endergebnissen. Gewalt an Frauen wurde zu Frauengewalt, darüber hinaus bezog man gesellschafskritische Komponenten stärker ins Kriminarrativ mit ein. Ob man allerdings deswegen neue Typologien aus der Taufe heben und mit Begrifflichkeiten herumjonglieren muss, ist offen. Vielleicht sollte man sich auf einen allumfassenden Begriff einigen: weder ›Frauenkrimi‹ noch feministischer Kriminalroman oder feminisierende Kriminalgeschichte, sondern einfach flexible, facettenreiche Kriminalliteratur, die kraft ihres narrativen Potentials imstande ist, sowohl im Hinblick auf die discourse- als auch die story-Ebene, die erstarrten Gattungsgrenzen zu überqueren, das Genre zu karikieren, Weichen für ein lite-

33 Siehe Falk, Claudia: Starke Frauen: Val McDermid. In: Nünning, Vera (Hg.): Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Trier: WVT 2008, S. 151–164, hier S. 151. 34 Ebd., S. 152. 35 Plummer, Patricia: Ironie, Parodie, Zitat. Subversionen des Kriminalromans in Werken britischer Autorinnen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabrina (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 197–218, hier S. 199. 36 Vgl. Wenke, Gabriela: Sisters in Crime in deutschen Krimis. In: Schindler, Nina (Hg.): Das Mordsbuch. Alles über Krimis. Frankfurt (Main)/Wien: Büchergilde Gutenberg 1997, S. 283– 293. 37 Munt, Sally R.: Murder by the Book. Feminism and the crime novel. London/New York: Routledge 1994, S. 191. 38 Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: Chronos 2011, S. 102.

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rarisches hypermodernes cross over-Hybrid (»generische Hybridität«39) zu stellen und Themen neu zu perspektivieren.

Crimen in Polen Der polnische Kriminalroman nimmt im Frauenkrimidiskurs einen besonderen Platz ein, wegen fehlender Übersetzungen ins Englische oder Deutsche wird aber von solcher Ausnahmestellung im Ausland wenig bis gar keine Notiz genommen.40 Bis auf Katarzyna Bonda, deren zwei Romane, Das Mädchen aus dem Norden und Der Rat der Gerechten, bei Heyne erschienen, sind dem deutschen Mainstream-Lesepublikum solche Namen wie Gaja Grzegorzewska, Marta Zaborowska oder auch Maryla Szymiczkowa, hinter diesem Pseudonym versteckt sich das aus Krakau stammende männliche Autorenduo Jacek Dehnel und Piotr Tarczyn´ski, unbekannt. Dieser Zustand mag einerseits dem generellen Desinteresse an osteuropäischer Kriminalliteratur geschuldet sein, andererseits mit der Minus-Erfahrung der polnischen Literatur mit kriminellen und verbrecherischen Erzählstoffen; nach 1989 musste sich die Kriminalliteratur östlich der Oder nicht nur neu erfinden, sondern überhaupt erfinden. Schon Ende des 19. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit, in der Polen unter Józef Piłsudski seine Unabhängigkeit wiedererlangte, wurden zwar Detektivromane aufgelegt, die jedoch mehrheitlich den britischen Deduktionsspielchen verhaftet blieben.41 Es handelte sich um mal bessere mal schlechtere literarische Niedriglohnsektor-Kopien. Die Romanhandlungen spielten oft nicht im Inland, stattdessen in exotischen Ländern. Mit solcher topographisch-geographischen Plotversetzung wollte man die Leserschaft in fremde Lebenssituationen verfrachten und somit von den Problemlagen und der Ungewissheit der Gegenwart ablenken. Nach 1945 versuchte man an die Vorkriegstradition anzuknüpfen wie z. B. Stanisław Lem oder Joe Alex (Maciej Słomczyn´ski), der im myst’ry-Stil seine IchErzähler-Geschichten in England verortet. Zu nennen ist außerdem Zły (dt. »Der Böse« bzw. »Das Böse«) von Leopold Tyrmand, der als Beinahe-Krimi42 fungieren kann, weil er weniger die Ermittlung, als vielmehr das gesellschaftlich bedingte Verbrechen fokussiert. Tyrmands Zły ist eigentlich als Sozialstudium der Warschauer Gesellschaft der Nachkriegszeit mit kriminellem Touch zu 39 Vogt, Jochen: Schema und Variation, S. 328. 40 Vgl. Brylla, Wolfgang: Ein Hauch polnischer Exotik. In: »CrimeMag« vom März 2020. URL: http://culturmag.de/crimemag/ein-hauch-polnischer-exotik-wolfgang-brylla/123962 / letzter Zugriff am 1. Mai 2022. 41 Siehe Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus, S. 96–98. 42 Thielking, Sigrid: ›Beinahekrimis‹ – Beinahe Krimis!? In: Thielking, Sigrid/Vogt, Jochen (Hg.): ›Beinahekrimis‹ – Beinahe Krimis!? Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 7–18, hier S. 15.

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werten. Sonst aber wurde vom Kultur- und Verteidigungsministerium eine ganz andere Kriminalgattung gefördert und gefordert, dessen Hauptziel im Aufpolieren des Volkspolizei-Images bestand. Mit dem Milizkrimi inaugurierte man in den 1960er Jahren eine ganze Reihe von Kriminaltexten im Taschenbuchformat, die man an den Zeitungskiosken erwerben konnte, die bis zur Wendezeit die polnische Kriminalliteraturproduktion beeinflusste.43 Nachdem in den 1990er und 2000er Jahren die Milizkrimis als Schrott und eine Art kommunistisches Propagandamittel verabscheut wurden, sind in den letzten Jahren deren Rehabilitierungstendenzen sichtbar44, indem man sich mit den politischen Inhalten kritisch auseinandersetzt, die Milizkrimis allerdings selbst durch eine soziologische Brille liest. Es zeigt sich, dass er durchaus in der Lage war, unterschwellig und zwischen den Zeilen Seitenhiebe in Richtung der regierenden Sozialistischen Partei zu setzen. Darüber hinaus wird er als ›historische Schatztruhe‹ in Erwägung gezogen, mit deren Hilfe man ein exaktes Gesellschaftsbild der polnischen Volksrepublik nachzeichnen kann. Dies ist wiederum die Folge der realistischen Schreibprämisse des Milizkrimis, der die Wirklichkeit beschreiben, aber die polizeiliche Arbeit und die Polizistenfiguren meistens verklären sollte bzw. wollte. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die polnische Kriminalliteratur aufs Neue konzipiert werden, andere Wege der literarischen Krimi-Ästhetisierung suchen musste und jetzt auch den Blick ins Ausland wagen konnte. Vom Aufholen, von der polnischen »nachholenden Modernisierung«45, kann in der kurzen Zeitspanne von zwanzig resp. dreißig Jahren nicht die Rede sein, aber die polnischen Schriftsteller:innen legten sich ins Zeug und a) übernahmen und kupferten erfolgreiche crime-Projekte ab, was nicht verwerflich ist, b) setzten anfangs unter den Milizkrimi einen Schlussstrich und c) entschieden sich rasch für Hybridformen, mit denen sie imstande waren, klassische Erzählmodelle, die man aus den Übersetzungen von Chandler oder Christie kannte, mit neuen Erzählspektren zu vermengen; die Hybride brauchte die polnische Kri43 Siehe Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus, S. 101–107; Baran´czak, Stanisław: Polska powies´c´ milicyjna. Dominacja funkcji perswazyjnej a problemy gatunkowe. In: Ste˛pien´, Marian (red.): W kre˛gu literatury Polski Ludowej. Kraków: Wyd. Literackie 1975, S. 270–316. 44 Vgl. u. a. Cegielski, Tadeusz: Pod lupa˛s´ledczego. Krytyka i pseudokrytyka społeczna w powies´ci kryminalnej doby PRL. In: Brylla, Wolfgang/Ruszczyn´ska, Marta (red.): Kryminalne ´swiaty przeszłos´ci. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2021, S. 165–200; Dudzin´ski, Robert: Tajemnice PRL-u. Wczesna powies´c´ milicyjna wobec tradycji literatury kryminalnej. In: Brylla, Wolfgang/Ruszczyn´ska, Marta (red.): Kryminalne ´swiaty przeszłos´ci. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2021, S. 201–220. 45 Vogt, Jochen: Der deutsche Schäferhund und sein Innerer Monolog. Einige Bemerkungen zur nachholenden Modernisierung des Erzählens im neueren Kriminalroman. In: Ernst, Thomas/ Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. München: W. Fink 2016, S. 511–520.

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minalszene als Übergangslösung, um die 1990er Jahre gattungstheoretisch zu verarbeiten und das große Entwicklungsvakuum zu überbrücken. Als Antwort servierte man den Geschichtskrimi, der im Grunde genommen dem polnischen Kriminalroman das Leben rettete und auf diesem Wege auch ein Fundament für dessen weitere Existenz lieferte.46 Ohne Marek Krajewskis oder Marcin Wron´skis historische Kriminalromane und ihre Leserpopularität und (zumindest am Anfang) erfreuliche Kritikerstimmen wäre es für Bonda und Co. schwer, sich mit ihren Kriminalgeschichten und ihren Frauenfiguren durchzuboxen.

›Frauenkrimi‹ nach polnischer Art Bonda, die polnische Queen of Crime47, die dazu noch sehr häufig aufgrund der Namensähnlichkeit mit James Bond verglichen wird, hat 2014 mit Pochłaniacz ihren ersten Roman aus der sog. Sasza Załuska-Serie herausgebracht. Załuska, Ex-Polizistin und derzeit Profilerin und Alkoholikerin, ist alleinerziehende Mutter, die ihr Privatleben und Beruf schwer unter einen Hut bringen kann; sie wird diskriminiert und gemobbt, allerdings hält sie der Männerdomäne stand, indem sie sich auf der einen Seite eine verweiblichte Maskulinität aneignet, auf der anderen Seite jedoch bei kniffligen Fragen ihre Weiblichkeit walten lässt. Die bei Bonda zum Einsatz kommenden Bezüge auf Frauenfragenkomplexe lassen sich als Replik auf den westlichen feministischen Frauenkrimi verstehen, ohne die aber das Krimidispositiv auch funktionieren würde, weil Bonda über die Fähigkeit verfügt, spannend zu erzählen; ihre Mysteries, Rätsel und Verbrechen bräuchten diesen Frauenwink nicht, der das Gesamtkonzept aber auch nicht schädigt. Bei Marta Zaborowska stößt man ebenfalls auf eine Polizistin, die sich gerne betrinkt und in biographischer Hinsicht nicht so einfach gestrickt ist wie Załuska. Julia Krawiec steht immer wieder unter Zugzwang und muss ihre Berufskompetenzen unter Beweis stellen – nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie ausufernde Alkoholprobleme hat. Anders als es bei Załuska der Fall war, lässt Zaborowska ihre Hauptheldin sich nicht männlich assimilieren. Als weibliche Polizeibeamtin setzt sich Krawiec nicht gegen Homophobie oder Frauenfeindlichkeit ein, vielmehr gegen ein einbetoniertes, fast schon konstitutives Verständnismodell, in dem Frauen einzig und allein die Funktion von Mutterschaft und Muttersein zugebilligt wird; Zaborowska ergründet das »katholische« 46 Vgl. Brylla, Wolfgang: Polski kryminał retro. Mie˛dzy innowacja˛, nas´ladownictwem a literackim kiczem. In: Ruszczyn´ska, Marta/Kulczycka, Dorota/Brylla, Wolfgang/Gazdecka, Elz˙bieta (red.): Kryminał. Mie˛dzy tradycja˛ a nowatorstwem. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2016, S. 223–236, hier S. 223–224. 47 URL: https://wyborcza.pl/ksiazki/7,154165,23558096,katarzyna-bonda-czy-krolowa-polskieg o-kryminalu-nie-jest.html / letzter Zugriff am 1. Mai 2022.

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Frauenmartyrium und den »konservativen Topos« der »polnischen Mutter«.48 Gaja Grzegorzewska hingegen hat mit ihrer Figur Julia Dobrowolska – für polnische Verhältnisse – einen Drahtseilakt riskiert: Denn Dobrowolska ist sexuell nicht normativ; sie säuft, hat Geschlechtsverkehr mit zufälligen Partner:innen, übt Gewalt ohne größeren Grund aus. Dobrowolskas Emporwement basiert nicht auf ihrer scheinbaren Maskulinisierung, sondern auf ihrer Weiblichkeit, die sie neu, von ihrer Warte aus auslotet; sie oszilliert zwischen der Online-Digitalwelt und der hartgesottenen Realität, weist Charakterzüge einer Hardliner-Feministin und, wenn man so will, eines »Fräulein Wunder« bzw. Chic-Mädchens auf. Dobrowolskas Emanzipationsbewegung beschränkt sich auf die Korrektur der oberflächlichen Frauenwahrnehmung, ohne allerdings sich in diese Problematik zu vertiefen. Bonda, Zaborowska und Grzegorzewska schufen also ermittelnde Frauenfiguren, die sich unterschiedlich durch weibliche Stärken auszeichnen, die entweder maskuline oder emanzipatorische Merkmale tragen. Szymiczkowas Zofia Szczupaczyn´ska hebt sich von diesen und ähnlichen Heldinnen der polnischen Kriminalliteratur ab, weil sie auf ihrer Weiblichkeit insistiert, die sie geschickt auszunutzen weiß. Auf der zeitlichen Handlungsachse lokalisiert Szymiczkowa ihre Trilogie im galizischen Krakau an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, in einer der größten k. u. k.-Metropolen, die allerdings in Wien oder Prag als Provinzstadt verteufelt wurde. In diesem Krakau agiert Szczupaczyn´ska, die in Christie-Manier Geheimnisse aufdecken möchte, die das städtische Bürgertum in Atem hält. Szczupaczyn´ska weiß meisterhaft von ihren gesellschaftlichen Privilegien (als Frau eines Universitätsarztes) wie geschlechterorientierten Privilegien (als Frau) Gebrauch zu machen. Einerseits befürwortet sie als Verfechterin des Kaiserreichs und als Demokratie-Gegnerin das herrschende männliche Gesellschaftssystem, andererseits schaufelt sie sich aus diesen Zwängen frei, die sie nicht als Fesseln begreift, sondern als von Gott gegebene Weltordnung, indem sie sich von ihrem Ehemann im Rahmen der Möglichkeiten unabhängig macht und das in Stein gemeißelte Frau-Mann-Gebilde zwar nicht ins Wanken bringt, aber in ihm ihre Position behauptet bzw. stärkt. Ihre konservative Denkweise überwindet sie mit ihrem autonomen Handeln, nicht mit einem aufgeschlossenen ideologischen Offenbarungseid. Szymiczkowa hat mit ihren Krakauer Kriminalromanen einen durchaus interessanten Spagat zwischen diversen gattungstypischen und gattungshistorischen kriminalnarrativen Darstellungsformen geschafft, denn erstens: sie bedient sich beim englischen Detektivroman, zweitens: sie geht mit dem Genre des Geschichtskrimis auf die Wiederentdeckung des Krimis in Polen Ende der 1990er Jahre zurück, drittens: sie spannt ein hybrides Erzählmodell von

48 Pos´wiatowska, Julia: Kobiety na tropie, S. 274.

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Genre-Erzählen, Geschichts-Erzählen und Frauen-Erzählen mit ein, wodurch die dreiteilige Romanreihe mehr oder weniger auch persifliert wird.

Parodie und Subversion: David Safiers Miss Merkel In Deutschland werden keine ›Frauenkrimis‹ mehr geschrieben, zumindest nicht solche, die dem altherkömmlichen Verständnis von DEM ›Frauenkrimi‹ entsprechen. Es gibt allerdings Kriminalromane, die gekonnt mit den Erwartungen, die an den Typus ›Frauenkrimi‹ gestellt werden, umgehen und ein spezifisch literarisches Handling mit Weiblichkeit oder auch Anti-Weiblichkeit entwickeln. Zu dieser Krimitextgruppe gehört der im Folgenden zu analysierende »sehr mäßige[] Krimi«, wie es Sabine Bongenberg auf krimi-couch.de49 über den 2021 bei Rowohlt veröffentlichten Roman von David Safier mit dem schönen, auch in intertextueller Hinsicht viel aussagenden Titel Miss Merkel. Mord in der Uckermark urteilt. Der in Bremen lebende Safier goutierte bis dato als unterhaltsamer Erzähler, der ohne größere Mühe die ganze Klaviatur von Sprachwitz und Ironie bespielt. In den letzten Jahren erreichte Safier fast schon einen Kultstatus im Bereich des literarischen Entertainments. Als das Gerücht die Runde machte, er wolle sich diesmal dem Kriminal- bzw. Detektivroman zuwenden und habe zu seiner Protagonistin die Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel erkoren, war sich die Literaturkritik sehr schnell im Klaren, dass die Leserschaft sich auf einen ›saukomischen‹ Text freuen kann. Mit Miss Merkel legte Safier letztendlich sozusagen den Prequel zu einer wahrscheinlich ganzen Reihe von Merkel-Krimis vor – 2022 folgte die Fortsetzung Miss Merkel. Mord auf dem Friedhof –, in dem die Leser:innen zu einer Reise in die mecklenburgische Provinz eingeladen werden, wo sich Merkel mit ihrem Ehemann niedergelassen hat. Im »gefälligen Dialogstil«, so Ruprecht Frieling50, werden Miss Merkels Abenteuer im Nest Klein-Freudenstadt geschildert (»An so einem idyllischen Flecken Erde kann doch gar kein Mord stattfinden«51), das mehr Schmerz als Freude bereitet. Safiers Erzählstärke, die in der Ausbreitung »witziger, unkonventioneller Romanideen« liege52, komme auch in seinem Krimi-Debüt zur Geltung. Die Geschichte ist schnell erzählt: Merkel, Puffeline, zieht in die ostdeutsche Pampa mit Achim 49 URL: https://www.krimi-couch.de/titel/21530-miss-merkel-mord-in-der-uckermark / letzter Zugriff am 1. Mai 2022. 50 URL: https://literaturzeitschrift.de/book-review/miss-merkel-mord-in-der-uckermark / letzter Zugriff am 1. Mai 2022. 51 Safier, David: Miss Merkel. Mord in der Uckermark. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2021, S. 91. 52 URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/kultur/buchkritik-miss-merkel-von-david-safier -doc7fboydynsg8a04uooqh / letzter Zugriff am 1. Mai 2022.

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Sauer, ihrem Puffel, in eine renovierte Dorfvilla, wo die beiden ihren Lebensabend abseits der weltweiten politischen tektonischen Verschiebungen genießen wollen. Mit von der Partie sind auch ihr Hund, der knuddelige und übergewichtige Mops Putin, den Safier, so zumindest die letzten Pressemeldungen, infolge des kriegsverbrecherischen und völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine bald umtaufen wird53, sowie ihr ebenfalls knuddeliger und übergewichtiger Bodyguard. Die ländliche Idylle wird jedoch gestört, als Merkel, die aus ihrer kühlen, akademischen Haut herausgehen und vielleicht sogar Bekanntschaften mit den Ansässigen schließen möchte (»Angela hat in ihrem Leben noch nie eine beste Freundin gehabt. Selbst nicht in der Grundschule, wo sie von den anderen Mädchen oft gehänselt wurde. Sie haben sogar gesungen: Igitt, igitt, Angela hat einen Topfschnitt. […] Sicher würde sich Angela schneller einleben, wenn sie hier eine Freundin finden würde, mit der sie backen könnte. Eine Freundin«54), auf einer Abendparty des hiesigen Schlossherren auftaucht, sich im Smalltalk übt und den angebotenen Punsch austrinkt. Allerdings wird der Gastgeber, der sich gerne in einer Rittermontur eines seiner Vorfahren zeigt, tot aufgefunden; der lokale Polizeidepp möchte den Fall so schnell wie möglich abhaken und als Selbstmord ad acta legen, Merkel jedoch (»Kein Mensch mag Klugscheißer«55) wittert Mord, den sie mit ihrer ›erdenden Raute‹56 zu klären beabsichtigt. Die Mutti der Nation, die stets in den sechzehn Jahren ihrer Berliner Regentschaft nur vom Kanzleramt aus reagiert, mutiert zu einer aktionsfreudigen, agierenden Dorfbewohnerin, die alles daran setzt, den Schuldigen zu überführen und sich auch nicht zu schade ist, ein Auge zuzudrücken und gegen das Gesetz zu handeln. Es lässt sich der Eindruck gewinnen, dass der ländliche Raum, die dörfliche frische Luft der Uckermark die besonnene und emotionslose Merkel verändert habe, die sogar ihrem Leibwächter… Dating-Tipps gibt: »Reden Sie über Ihre Hobbys.« »Stricken von wollenen Schalldämpferhüllen?« »Okay, reden Sie nicht über ihre Hobbys.« »Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass das besser ist.« »Sie könnten ihr Komplimente machen.« »Dass sie ein wunderschönes, breites Kreuz hat?« »Andere.« »Dass ihr leichtes Schielen süß ist?« »Ganz andere.«

53 URL: https://www.zeit.de/news/2022-03/04/bestsellerautor-david-safier-neuer-name-fuermops-putin?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F / letzter Zugriff am 1. Mai 2022. 54 Safier, David: Miss Merkel. Mord in der Uckermark, S. 28. 55 Ebd., S. 27. 56 Ebd., S. 71.

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»Dass ihre blauen Augen mich an das Wasser des Dumpfsees erinnern?« »Schon besser. Nur würde ich auf den Namen ›Dumpf‹ verzichten.« […]57

Die Ent-Robotosierung gepaart mit der Vermenschlichung, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung Merkels, verläuft im Roman zugunsten ihrer Tätigkeit als Amateur-Detektivin (»Sie war nun mal genauso wenig eine echte Detektivin, wie sie noch keine typische Rentnerin war«58), die sich in die Ermittlungsmaterie erst hineinarbeiten muss. Die von Safier zwischen den Zeilen zum Ausdruck gebrachte Metamorphose Merkels ist eng verknüpft mit der Umkrempelung und Revision des allgemein gültigen bzw. immer noch als gültig empfundenen Krimi-Verständnisses. Denn Safier macht sich nicht nur lustig über Merkel (Merkel mit einem Hundekotbeutel in der Hand, Merkel räsonierend über den Blazer, den sie anziehen möchte59), die man dadurch lieb gewinnt, sondern auch über das Genre des ›Frauenkrimis‹ selbst. Miss Merkel ließe sich als ein Stichelei-Narrativ erstens gegen den ›Frauenkrimi‹ und zweitens gegen die Gesamtgattung begreifen, die, stets um ihr Außenbild und Ruf besorgt, auf höchste Komplexität und Themenbrisanz setzt und mit aktueller Ernsthaftigkeit angibt. Safier schlägt ein Gegenmodell vor, in dem die Plotkonstruktion den elementaren Handlungsmustern folgt, das gleichzeitig aber eine Parallelkonstruktion aufbaut, die nadelstichähnlich dem Krimi-Genre den ein oder anderen narrativen Schlag versetzt. Deshalb könnte man Miss Merkel zum einen als eine Art Krimikomödie, zum anderen als ›Frauenkrimi‹-Parodie ins Gespräch bringen. Zum Sprachspiel Safiers gesellt sich darüber hinaus auch die absurde Situationskomik, die nicht weit von der hollywood-slapstick-Rhetorik ist. Hauptsächlich allerdings werden die lustigen Elemente in die Erzählerpassagen und die Figurendialoge integriert: »Wenn du willst, können wir für deinen Account ein Selfie zusammen machen.« »Nö.« »Nö?«, Angela war so eine Antwort nicht gewohnt. Wenn sie ein Selfie anbot, stand normalerweise gleich eine ganze Traube an Menschen um sie herum. Nahm etwa ihre Popularität als Rentnerin von Woche zu Woche ab? Und wenn dem so war, würde ihr das gefallen? Sie dachte von sich selbst gerne, sie wäre uneitel, war aber klug genug zu wissen, dass dem nicht so war. »Für meine Follower sind Sie zu alt.« »Verstanden.« »Und auch nicht stylish genug.« »Verstanden.«

57 Ebd., S. 124–125. 58 Ebd., S. 61. 59 Vgl. ebd., S. 16.

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»Mit so einem Foto würde ich bestimmt ein paar hundert Follower verlieren.« »Ich habe gesagt, ich habe verstanden.«60

Safiers liebevoller Umgang mit der narrativen Merkel-Figur erreicht seinen ultimativen Kulminationspunkt, als er Merkel – bzw. als sich Merkel selbst – mit Miss Marple von Agatha Christie vergleicht, Mord in Orient Express anführt61, auf Sherlock Holmes rekurriert und Achim Sauer zu ihrem Mister Stringer/Mister Puffel erklärt.62 Den intertextuellen Verweis benötigt Safier, um erstens auf die Traditionslinie des geheimnisvollen Rätselkrimis hinzudeuten, zweitens die gattungstheoretischen Grundlagen für seine ästhetisierenden Auseinandersetzungen zu schaffen und drittens die Detektivin Angela Merkel durch den Kakao zu ziehen. Auf allen drei Spielebenen wird das Komische, das Subversive in Miss Merkel freigelegt und mit einigen lustigen Handlungsmomenten dekoriert. Dabei macht Safier keinen kurzen Prozess mit dem klassischen Detektivroman einer Christie, sondern er weiß ihn häppchenweise für seine persönlichen Erzählzwecke fachmännisch auszuweiden. Auf der einen Seite dokumentiert er mit dem Tatort und Fundort der Leiche (konventionell: Schlosskeller), mit irgendwelchen längst vergessenen geheimen Schlupfkorridoren, die stete Wiederholbarkeit des Genres in räumlich-motivischer Hinsicht, auf der anderen Seite, indem er auf eben demselben sich repetierenden Aktionsregister beharrt, zieht er den Handlungsschematismus ins Lächerliche. Die Zeugen- oder Verdächtigenbefragungen weisen ebenfalls strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem englischen Detektivroman auf, aber sie sind weniger von Sachlichkeit geprägt. Safiers Helden sind immer auf ein Bonmot oder einen witzigen, schelmischen Kommentar aus, diesen werden mehr oder minder auch die Gespräche untergeordnet. Dies hat zur Folge, dass nicht das aus dem Gesagten Erfahrene von großer Bedeutung für die Fallklärung ist, stattdessen das Nicht-Gesagte bzw. das Selbst-Erfahrene; Merkel muss sich selbst ein Bild von den Vorkommnissen in Klein-Freudenstadt machen, bevor sie im Grand Finale die Mordtat gattungsstilgemäß rekonstruiert und die Täterin aus dem Verkehr zieht. Safiers kompositorischer Erzählunterbau ist der des Detektivromans, den er auf den Kopf zu stellen vermag, um, so scheint es, auch dem ›Frauenkrimi‹ eins auszwischen. In Safiers fiktivem vorpommerschen Miss Merkel-Erzähluniversum werden den Frauenfiguren besondere Aufgaben zugewiesen. In Wirklichkeit dienen die männlichen Protagonisten nur als Statisten; der Schlossherr ist tot, Achim Sauer schlüpft ohne jeglichen Widerstand in die Rolle von Dr. Watson, dessen Schlussfolgerungen meistens kaum richtig sind, der Dorfpolizist ist halt der typische Dorfpolizist und Merkels Leibwächter sorgt sich eher um seinen vollen 60 Ebd., S. 135. 61 Ebd., S. 198–199. 62 Ebd., S. 281.

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Bauch als um die Ex-Kanzlerin, wobei er seinen Beschützerpflichten nachkommt. Es sind die Frauen, die als Ermittlerinnen, Täterinnen, Verdächtige oder Opfer das Heft des Handelns in der Hand halten. Die Dekonstruktion der Untergattung ›Frauenkrimi‹ bzw. feministischer Kriminalroman verläuft bei Safier durch Parodisierung und mithilfe von narrativen Mechanismen im Hinblick sowohl auf die Figurenzeichnung als auch Handlungsskizzierung. Als Gattungskorrektiv ist der Merkel-Krimi deshalb für die Diskussion, was kann, was darf (und generell weshalb, wieso, warum) die weiblich konnotierte Kriminalliteratur leisten, von besonderem Interesse.

Frauenthemen Auf frauentypische Themenfelder kommt der heterodiegetische Erzähler Safiers, der eine gewisse gemütliche Nähe zu den Hauptfiguren sucht, gar nicht zu sprechen. Merkel als Amateurdetektivin wider Willen in einem kleinen ostdeutschen Kaff gilt nicht als ideale Bezugsperson, um solchen Problemen wie Verbindung von Familie und Beruf, sexuelle Gewalt, Mobbing am Arbeitsplatz oder Diskriminierung näherzukommen. Obwohl Safier die reale Figur Angela Merkel zur Vorlage nimmt, sind seine Ausweichmöglichkeiten in puncto Vorstellungskraft keineswegs limitiert. Und dies scheint gewollt zu sein. Merkel ist die Verkörperung eines politischen Tausendsasas, dem es als Frau gelungen ist, sich in einem männlichen Umfeld durchzusetzen. Bundeskanzlerin Merkel war nicht für Emotionalität bekannt, stattdessen für Rationalität und weitgehende Empathielosigkeit. An diesem medialen Gesamtbild Merkels will Safier nicht rütteln; durch die Referenz auf die zur Schau gestellte Härte der Kanzlerin Merkel ist er vielmehr imstande, sie zu literarisieren und das Menschlich-Lustige an ihr zu demonstrieren. Als neben dem Glockenturm der leblose Körper von Alexa von Baugenwitz aufschlägt, springt Mike, der Leibwächter, auf Merkel: In Angelas Kopf überschlugen sich ihre Gedanken: ›Oh Gott, oh Gott, Sie hat mich umgebracht‹, ›Oh Gott, oh Gott, beinahe wäre sie auf Achim gefallen und er gestorben‹, ›Ich fast auch‹, ›Besser ich sterbe als Achim‹, ›Puh, Mike ist ganz schön schwer‹, ›Vielleicht sollte er doch weniger Kuchen essen‹, ›Oder wenigstens keine Sahne mehr‹ und ›Merkwürdig, woran man denkt, wenn einem das Adrenalin durch den Körper schießt.‹63

Merkel wird von Safier als lebensfrohe, obstkuchenbackende MöchtegernHausfrau inszeniert. Solche narrative Gegen-den-Strich-Plakatierung löst einen Wandel im Außenbild Merkels aus. Salopp ausgedrückt: sie erscheint als eine 63 Ebd., S. 176.

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ziemlich nette Person, für die Humor und Witz keine Duden-Fremdwörter sind. Die Vermenschlichung Merkels geht in Safiers Kriminalroman zum einen auf Kosten des Verzichts auf die Beleuchtung von frauensignifikanten Themenkomplexen, die man in einem Halbwegs-›Frauenkrimi‹ erwarten würde, zum anderen auf Kosten der Ausgeklügeltheit der Kriminalhandlung, die man als Wiederkehr des Immergleichen bezeichnen kann.

Schema und Sprachwitz Unter dem Rückgriff auf altbewährte Erzählaspekte reiht Safier einerseits seinen Merkel-Krimi in den Detektivromankosmos ein, andererseits wird durch den Christie-Verweis auf eine Zeitspanne rekurriert, in der man mit der festeingefahrenen Erzählstruktur der Kriminalliteratur herumzuexperimentieren wagte. Indem Safier auf den klassischen Detektivroman hindeutet, wird dies zur Grundlage seines ›Krimi-Vorhabens‹, der Gattung keinesfalls neues Leben einzuhauchen, sondern sie zu dekalibrieren und zu ironisieren.64 Miss Merkel folgt weitgehend dem konventionellen Erzählcredo von Tat – Ermittlung – Rekonstruktion, die Hobby-Detektivin Merkel kann mit ihren analytischen Fähigkeiten glänzen, setzt ihr Leben aufs Spiel. Merkel verwandelt sich in Miss Marple – auch mit Blick auf die Tollpatschigkeit im Gebaren, die Margaret Rutherford in den Schwarz-Weiß-Filmen aus den 1960er Jahren zum Ausdruck brachte, und die Schwierigkeiten, wildfremden Menschen auf Tuchfüllung zu gehen. Auch in Klein-Freudenstadt bleibt Merkel reserviert und distanziert, diese Mini-Gesellschaftsbubble muss sie jedoch verlassen, möchte die Bundeskanzlerin in Rente den Fall lösen. An die Enträtselung des Geheimnisses geht sie mit denselben Macherin-Mitteln heran wie als Regierungschefin bis 2021: durch Fakten sammeln und Schlüsse ziehen: Eins hatte Angela in der Politik gelernt: Wenn man bei einem Problem nicht weiterkam, musste man es von einer anderen Seite beleuchten. Zum Beispiel: Was will der russische Präsident wirklich, wenn er bei den Syrien-Friedensverhandlungen erscheint, denn um Frieden geht es ihm ja wohl kaum? Oder: Wenn G7-Gipfel immer schlecht enden, kann man dann nicht einfach auf sie verzichten? Oder: Wenn das Essen in der Kanzleramtskantine trotz aller Beschwerden nicht besser wird, kennt vielleicht einer der Praktikanten einen guten Lieferservice? Wenn einem also die Frage ›Wer war die 64 »Aber ich habe noch nie einen Krimi geschrieben, und es hat mir eine unglaubliche Freude gemacht, diese Komödie nach all den Regeln zu schreiben, die große AutorInnen wie Agatha Christie oder Dorothy Sayers einst im Detection Club für das Detektiv-Genre aufgestellt haben. Der Roman funktioniert daher, trotz aller Komik, wie ein klassischer Krimi. Die Leserinnen und Leser können mitraten!« (URL: https://www.rowohlt.de/magazin/im-gespraech/interview-da vid-safier-miss-merkel / letzter Zugriff am 1. Mai 2022).

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Mörderin?‹ Nicht weiterbringt, wie wäre es mit der Frage nach dem ›Wie hat sie es getan?‹65

Dieser eher scheinbar langweilige Merkel-Habitus als beherrschte Frau wird bei Safier allerdings durch Sprachwitz relativiert. Flotte Sprüche hat Merkel ebenso gut drauf wie Achim. »Wir ziehen die Samthandschuhe aus«, verkündete Angela. »Oje«, meinte Achim. »Wie meinst du das?« Achim zögerte. »Ich habe dich was gefragt.« »Immer, wenn du so aufgewühlt handelst, hast du nur in 23,8 Prozent der Fälle Erfolg.« »Und was passiert dann?«, fragte Mike. »Ich sage nur Energiewende«, antwortete Achim. »Verstehe.«66

Mehr noch: In diesem halbironischen, halbernsten Metier finden sich die beiden zurecht. Das alltägliche familiäre KKK-Backritual wird bei Safier zum running gag; das Kuchenbacken wird ent- und resemantisiert nicht im Sinne der Festigung von uralten klischeehaften Frauenbildern, sondern im Sinne der Befreiung. Merkel backt, weil sie backen mag und in den letzten zwanzig Jahren kaum die Gelegenheit dazu hatte. Merkel backt, weil sie es als Zeichen ihrer Wir-schaffendas-Emanzipation sieht. Frauen tun, worauf Frauen eben Lust haben. Die CDUMerkel von Safier wird natürlicherweise dadurch keinesfalls zur Ikone des (kämpfenden) Feminismus, sondern sie verdeutlicht einmal mehr den Grundzug des Safier-Erzählens, und zwar die gängigen und zementierten weltanschaulichen Überzeugungen zu karikieren, um auf diesem Wege für krimiäquivalente Aha-Effekte zu sorgen.

»Seitenweise Quatsch« In einer Buchbesprechung hat Jörg Steinleitner Safiers Miss Merkel zwar nicht über den grünen Klee gelobt, trotzdem fand er dessen Krimi-Premiere geglückt. »Seitenweise Quatsch«, so Steinleitner, wird in der Merkel-Uckermack-MopsGeschichte verbreitet.67 Es handelt sich allerdings um Quatsch nicht des Quatsches wegen, sondern um Quatsch mit einem doppelten Boden. Denn mit Miss Merkel wird der Gattung ›Frauenkrimi‹ im Bereich der Literatur sowie der Filmund Fernsehlandschaft getrotzt. Nicht das ganze figurative Brimborium, nicht 65 Safier, David: Miss Merkel. Mord in der Uckermark, S. 200. 66 Ebd., S. 187–188. 67 URL: https://buchszene.de/miss-merkel-bestseller-check / letzter Zugriff am 1. Mai 2022.

›Frauenkrimi‹. Gattungstrickserei und/oder Gattungssubversion?

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der Handlungshintergrund, in dem man das Privatleben exponiert, ist von Belang; auch das Verbrechen scheint weniger gesellschaftskritische bzw. frauenrelevante Fragen anzuschneiden. Safier geht es nicht um die Krimi-Verpackung, nicht um die problembezogenen Zusätze, sondern um das Genre selbst, mit dem er auf einer kompositorischen Ebene spielt oder es zu transformieren vermag. In Wirklichkeit saniert Safier den (Frauen-)Krimi und legt dessen Variabilität im sprachlichen Bereich offen. So entsteht eine Kriminalkomödie – auch im Gusto von Christies Die Mausefalle –, die heutzutage recht selten den kommerziellen Durchbruch schafft. Gleichzeitig wird anhand der Merkel-Krimikomödie der bitterernste Frauenkrimi ad absurdum geführt und ausgetrickst. Vielleicht braucht die zeitgenössische Literatur den fightenden (feministischen) ›Frauenkrimi‹ nicht mehr, was nicht bedeutet, dass man auf die Wichtigkeit der immer noch vorhandenen Frauendiskriminierung als Thema verzichten soll. Vielleicht braucht die Gegenwart eben einen Kriminalroman, der das All-zu-gut-Bekannte beargwöhnt, anders aber als bspw. die überragende Merle Kröger sich auf das Sprachwitz- oder Slapstick-Signum beruft.

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Wolfgang Brylla

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Wolfgang Brylla

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Tadeusz Cegielski (Warszawa)

Verfügt der Krimi über ein Geschlecht? Und werden Frauenfiguren von Autorinnen und Autoren unterschiedlich entworfen? Ein Beispiel aus Polen

Die im Beitragstitel auftauchenden Fragen mögen bei vielen Kopfschütteln verursachen, aber so leicht und einfach sie auf den ersten Blick auch klingen mögen, so komplex stellen sich die entsprechenden Antworten heraus. Ohne den Gattungs- und Geschlechterdiskurs sowie den Bereich der Begriffsklärung abzustecken, ist es kaum machbar, überhaupt irgendwelche Antwortvorschläge – vor allem im Hinblick auf die Kriminalliteratur im Allgemeinen und die polnische Kriminalliteratur im Besonderen – zu präsentieren. Der Begriff ›Frauenkrimi‹, der im deutsch- wie im polnischsprachigen Raum als ›kryminał kobiecy‹ eine wissenschaftliche Evidenz vorweisen kann, suggeriert theoretisch eine ganz andere (neue?) Qualität der Literatur – eine Qualität, die in engem Zusammenhang mit Weiblichkeit (von Autorinnen oder Leserinnen etc.) gedacht werden müsste. Schaut man dahingegen bspw. auf den ›Frauenkrimi‹-Eintrag auf der deutschen Pluspedia-Seite, trotz mangelnden Wissenschaftlichkeitsanspruchs von dieser und ähnlichen WWW-Quellen, zeigt sich ein differierender Ansatz, der sich in erster Linie auf die Weiblichkeit der Romanfiguren, der Romanrezipienten und als Romanthema bezieht: »Frauenkrimis«, heißt es, »sind dadurch gekennzeichnet, dass die Hauptpersonen weiblichen Geschlechts sind und/oder sich die Geschichte um ein sogenanntes ›Frauenthema‹ dreht und/oder sich die Geschichte an ein weibliches Zielpublikum wendet«.1 Weiter findet man auch den Verweis auf die ›Frauenliteratur‹, der in diesem Kontext nicht zufällig fällt. Der ›Frauenkrimi‹ ist zweifellos eine Ableitung vom Begriff ›Frauenliteratur‹, über den seit längerer Zeit in der polnischen Kulturdebatte diskutiert wird. Karolina Sulej, Journalistin der Mediengruppe »Agora« (sie schreibt für die Wochenschrift »Wysokie Obcasy«, dt. »Stöckelschuhe«), die für ihr liberales Profil bekannt ist, stellt in ihrem Essay Literatura kobieca. Inwektywa, komplement czy bezuz˙yteczna szufladka? (dt. Frauenliteratur. Beschimpfung, Kompliment oder nur nutzlose Abstempelung?) fest, dass das Gesamtkonzept im Grunde ambivalent sei bzw. gewesen sei: 1 URL: http://de.pluspedia.org/wiki/Frauenkrimi / letzter Zugriff am 15. April 2022.

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Tadeusz Cegielski

Przez niektórych przyznanie takiej etykiety jest równoznaczne z uznaniem tekstu za kiepski, przez innych za w szczególny sposób wartos´ciowy, a jeszcze inni uwaz˙aja˛, z˙e takie płciowe etykietowanie literatury kompletnie nie ma sensu. Do worka z literatura˛ kobieca˛ wrzucane sa˛ zarówno autorki z półki literatury pie˛knej, jak i literatury popularnej. W gruncie rzecz biora˛c kaz˙da kobieta, która zaczyna pisac´ dostaje dla swojego dzieła nie tyle carte blanche, co matryce˛, z która˛ musi walczyc´. Nikt nie pisze o literaturze me˛skiej, chociaz˙ zapewne jest taki sam urodzaj ksia˛z˙ek o tematyce stereotypowo me˛skiej, co o tematyce stereotypowo kobiecej.2

Sulej bemerkt des Weiteren: »Literatura, która˛ tworza˛ me˛z˙czyz´ni jest gatunkowo przezroczysta, nad literatura˛ kobieca˛ prowadzone sa˛ nieustanne debaty, wcia˛z˙ wypatruje sie˛ z niej fal, mód, wpływów i podgatunków« und konstatiert abschließend: Byc´ moz˙e tak duz˙e zainteresowanie literatura˛kobieca˛, jej transformacjami, miejscem na rynku i grupami docelowymi wynika takz˙e z faktu, z˙e to najcze˛s´ciej kobiety sa˛ czytelniczkami i ich uznanie w duz˙ej mierze warunkuje sukces wydawniczy.3

›Frauenkrimi‹ als Ableitung des de facto abwertenden Begriffs ›Frauenliteratur‹ wäre ähnlich wie Jugend- und Kinderliteratur ein Gegenpol zur ›Niveau-Literatur‹ oder ›Literatur par excellence‹. Die Kategorie Weiblichkeit spielte im polnischen Diskurs keine größere Rolle – weder bei den Autor:innen noch bei den Kritiker:innen. Ein ähnlicher binärer Gegensatz Weiblichkeit – Männlichkeit würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn man auch die Männlichkeit als solche definiert hätte. Die Literaturwissenschaft und -kritik verwendeten dabei viel Energie darauf, die Verschiedenheit der ›Frauenliteratur‹ anhand von sprachlichen und strukturellen Elementen nachzuweisen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Ergebnisse solcher Herangehensweisen dürftig bis umstritten. Zu den interessantesten gehören die Überle2 Sulej, Karolina: Literatura kobieca. Inwektywa, komplement czy bezuz˙yteczna szufladka? URL: https://natemat.pl/30989,literatura-kobieca-inwektywa-komplement-czy-bezuzyteczna-szu fladka / letzter Zugriff am 15. April 2022. Dt.: »Für die einen ist eine solche Etikettierung gleichbedeutend damit, den Text als schlecht zu bewerten, für andere ist er stattdessen besonders wertvoll, und wieder andere halten eine solche geschlechtsspezifische Kennzeichnung von Literatur überhaupt für wenig sinnvoll. Frauenliteratur wird sowohl in einen Topf mit der Belletristik als auch der Populärliteratur geworfen. Tatsächlich erhält jede mit dem Schreiben beginnende Frau weniger einen Freibrief für ihre Arbeit als vielmehr ein Raster serviert, gegen das sie ankämpfen muss. Niemand macht sich Gedanken über die männliche Literatur, obwohl es wahrscheinlich ebenso viele stereotypisierte männliche wie weibliche Bücher gibt«. Hervorhebung im Original. 3 Ebd. Dt.: »Literatur von Männern ist genretransparent, über die Frauenliteratur wird dahingegen ständig diskutiert, man versucht unterschiedliche Wellen, Moden, Einflüsse und Subgenres ausfindig zu machen. […] Vielleicht ergibt sich ein so großes Interesse an Frauenliteratur, an ihren Wandlungen, ihrer Marktposition und ihren Zielgruppen auch daraus, dass zu deren Lesern überwiegend Frauen gehören, die mit ihren Leseentscheidungen maßgeblich zum Verlagserfolg beitragen.«

Verfügt der Krimi über ein Geschlecht?

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gungen von Ewa Kraskowska zur Weiblichkeit als literarische Konvention, die Virginia Woolfs Konzept des »weiblichen Satzes«, die französische Idee der écriture féminine, untersuchte und über die weibliche Identität und deren literarische Reflexion – ein Ansatz, der in der feministischen US-Kritik weit verbreitet ist – einige aufschlussreiche Worte verlor. Kraskowska schlägt vor, die Weiblichkeits-Kategorie weder per se abzulehnen noch zu verfremden, sondern sie als ›literarische Konvention‹ in Betracht zu ziehen: [Tym samym] sprawa˛ umowy mie˛dzy uczestnikami komunikacji literackiej, a wie˛c repertuarem chwytów, z którego czerpac´ moga˛ pisarze płci obojga. Z˙e takie postrzeganie kobiecos´ci jest z˙ywo obecne w ´swiadomos´ci literackiej naszych czasów, niech o tym s´wiadczy wypowiedz´ jednego z krytyków towarzysza˛cych młodej prozie polskiej, Piotra S´liwin´skiego, który w programie radiowym pos´wie˛conym Manueli Gretkowskiej, stwierdził, iz˙ autorka ta »do tego stopnia stylizuje sie˛ na kobiecos´c´, z˙e az˙ jej płec´ biologiczna wydaje sie˛ podejrzana«. Skoro wie˛c moz˙na kobiecos´c´ imitowac´, parodiowac´ czy pastiszowac´ – jej konwencjonalnos´c´ staje sie˛ oczywista.4

Ähnliche Schlussfolgerungen hätten mit Sicherheit ihre Berechtigungen bei der Analyse ausgewählter polnischer Texte – auch aus der Ecke des ›Frauenkrimis‹ (kryminał kobiecy), z. B. im Falle der populären und preisgekrönten Kriminalromane von Marta Guzowska (geb. 1967), in denen sowohl die WeiblichkeitsKategorie (vertreten durch die Archäologin Pola Mor) als auch die Männlichkeits-Kategorie (vertreten durch den Anthropologen Mario Ybl) geradezu in kontrastiv-parodistischer Hinsicht gegeneinander ausgespielt werden. Bei Guzowska kann man Übertreibungen von Geschlechterstereotypen beobachten. Den Schlüssel zum ›Geheimnis‹ des ›Frauenkrimis‹ bietet die feministische Perspektive. Auf diese kam schon Mariusz Czubaj, Kulturanthropologe und selbst Autor erfolgreicher hard-guy-noir-Krimis, in seiner Studie Etnolog w Mies´cie Grzechu. Powies´c´ kryminalna jako ´swiadectwo antropologiczne (dt. Ein Ethnologe in Sin City. Der Krimi als anthropologisches Zeugnis) zu sprechen: W przypadku kryminału feministycznego wskazac´ nalez˙y dwa nieustannie przeplataja˛ce sie˛ wa˛tki: pierwszy z nich ma charakter teoretyczny i zwia˛zany jest z zakwestionowaniem me˛skiego punktu widzenia dominuja˛cego w interesuja˛cym nas 4 Kraskowska, Ewa: O tak zwanej »kobiecos´ci« jako konwencji literackiej. In: Borkowska, Graz˙yna/Sikorska, Juliana (red.): Krytyka feministyczna – siostra teorii i historii literatury. Warszawa: Wydawnictwo IBL 2000, S. 200–211, hier S. 204. Dt.: »[So] handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen den Teilnehmern der literarischen Kommunikation und damit um ein Repertoire an Tricks, aus dem Schriftstellerinnen und Schriftsteller schöpfen können. Dass eine solche Wahrnehmung von Weiblichkeit im literarischen Bewusstsein unserer Zeit lebendig ist, beweist die Aussage eines der Kritiker der jungen polnischen Prosa, Piotr S´liwin´ski, der in einer Manuela Gretkowska gewidmeten Radiosendung feststellte, dass ›die Autorin sich selbst stilisiert bis hin zur Weiblichkeit, bis ihr biologisches Geschlecht verdächtig erscheint‹. Wenn also Weiblichkeit imitiert oder parodiert werden kann, wird ihre Konventionalität offensichtlich.« Hervorhebungen im Original.

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gatunku, drugi – oznacza wprowadzenie w obre˛b literatury kryminalnej nowego typu bohaterek.5

Die bei Czubai zur Anwendung kommende Kategorie der feministischen Kriminalliteratur ist von Anne Cranny-Francis entlehnt.6 Die Infragestellung der männlichen Sichtweise, die sich besonders in der in den 1930er Jahren entstandenen Tradition des »schwarzen Kriminalromans« manifestierte, bedeutete nicht nur ein Umdenken und eine Umkrempelung der literarischen Formel »harter Detektiv vs. femme fatale«. Es ist ein sich wiederholendes Schema, das sich durch Raymond Chandlers Romane wie ein roter Faden zieht, in denen Philipp Marlowe weniger mit fleischgewordenen femme fatales zu kämpfen hat als mit kulturellen Mustern, die ihn dazu bringen, Frauen als Gefahrenquelle wahrzunehmen. Czubaj kommt zum Schluss, dass die Negation der gesamten Gesellschaftsordnung und damit die Negation der »von Männern dominierten Rechtsinstitutionen« aus feministischer Sicht noch wichtiger ist als der Bruch mit einem bestimmten Heldentypus, wodurch auch das bestehende wirtschaftliche und gesetzliche System angezweifelt wird: »Patrza˛c z feministycznego punktu widzenia tradycyjny kryminał jest gatunkiem, który moz˙na okres´lic´ mianem narracji mieszczan´skiego indywidualizmu«.7 Im Gegensatz zu der einsamen Verteidigerin des Rechts – fügt Czubaj hinzu – die mit einer ausgeprägten, kohärenten Identität ausgestattet ist, schlägt die feministische Strömung eine »Zerstreuung des Subjekts in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen Positionen« an (pl. »rozproszenie podmiotu uzalez˙nione od róz˙nych pozycji społecznych«).8 Mit Blick auf die feministische Perspektive muss festgehalten werden, dass sie selbst eine Art Durchbruch, ja eine Revolution war bzw. ist, die auf die frühen 1980er Jahre zurückgeht, als ungefähr vierzig Autorinnen weltweit damit begannen, eine feministische (oder feminisierende) Krimi-Subgattung zu begründen. Bis Mitte der 1990er Jahre hatte sich die Anzahl der Schriftstellerinnen verzehnfacht.9 Vom Wandel war auch das Verlagswesen betroffen: Das ›Frauen‹Genre erschien zuerst in Nischenverlagen, Anfang der 1990er verändert sich 5 Czubaj, Mariusz: Etnolog w Mies´cie Grzechu. Powies´c´ kryminalna jako ´swiadectwo antropologiczne. Gdan´sk: Oficynka 2010, S. 106. Dt.: »Im Fall der feministischen Kriminalliteratur sind zwei Stränge ständig miteinander verwoben: Der erste ist theoretisch und bezieht sich auf die Hinterfragung der männlichen Sichtweise, die in dem Genre, das uns interessiert, dominiert, und der zweite führt eine neue Art der Heldin in die Kriminalliteratur ein.« 6 Cranny-Francis, Anne: Feminist Fiction: Feminist Uses of Generic Fiction. Cambridge: Blackwell 1990, S. 176. 7 Czubaj, Mariusz: Etnolog w Mies´cie Grzechu, S. 106. Dt.: »Aus feministischer Sicht ist der traditionelle Krimi ein Genre, das man als Erzählung des bürgerlichen Individualismus bezeichnen kann.« Hervorhebungen im Original. 8 Ebd., S. 105. 9 Ebd., S. 107.

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jedoch die Lage. Die Wendezeit in Polen brachte viele Neuerungen: Kriminalliteratur wird nicht mehr von polnischen Staatsverlagshäusern gedruckt, die bis dahin große Auflagen von hundert- oder sogar zweihunderttausend Exemplaren garantierten, und, das ist die Kehrseite, der Leserschaft einen bestimmten (polizeilichen) Heldentypus aufzwangen. Auch wenn der literarische polnische Durchschnitts-Milizist (Volkspolizist) kein Superheld war wie Oberleutnant Sławomir Borewicz aus der bekannten TV-Serie »07 zgłos´ sie˛!« (dt. »07, melde dich!«), repräsentierte er weiterhin die traditionelle (sozialistische) Gesellschaftsordnung. Aus einem historisch-literarischen Blickwinkel ist eine feministische Perspektive für den Kriminalroman nichts Neues. Zugespitzt könnte man sagen, dass sie so alt ist wie das Genre selbst. Feministische Kriminaltexte wurden allerdings nicht nur von Frauen verfasst, sondern auch von Männern wie Wilkie Collins (1824–1889), in dessen Romanen No Name (1862) und The Law and the Lady (1875) Frauenfiguren mit dem englischen Rechtssystem kämpfen, das den Frauen – auf ihre Objekt-Rolle reduziert – jedes Recht, als Rechtsperson zu handeln, abspricht.10 In diesem Zusammenhang sei allerdings an eine Autorin erinnert, die die feministische Schreibweise in der Kriminalliteratur mit initiierte und heute in Vergessenheit geraten ist. 1841, als Edgar Allan Poes (1809–1849) berühmte Orang-Utan-Detektivgeschichte erscheint, veröffentlicht Catherine Ann Crowe (geb. Stevens, 1802–1876) in Edinburgh ihren ersten reinen Kriminalroman. Erst vor kurzem wurde die Forschung im Zuge intensiver gender studies auf Crowe aufmerksam. Sowohl Poe als auch Crowe konzipierten suggestive Amateurdetektiv-Figuren, die sich jedoch voneinander in Bezug auf ihre soziale (An-)Bindung unterscheiden. Bei Poe tritt ein französischer geldloser Aristokrat auf, der viel Freizeit genießt und außerdem mit großem Intellekt ausgestattet ist. Bei Crowe schlüpft eine einfache Hausdienerin in die Rolle der Detektivin, die Ermittlungen anstellt, um ihren Arbeitgeber vom Vorwurf des Mordes zu entlasten. Auch sie verfügt neben angeborener Intelligenz über eine präzise Beobachtungsgabe, ein gutes Gedächtnis und ein hervorragendes (regional beschränktes) Wissen. Wie die Crowe-Biografin Lucy Sussex feststellt, zeichne sich ihr Debütroman Adventures of Susan Hopley11 durch eine »streng organisierte Erzählstruktur, ähnlich einem modernen Kriminalroman« aus (pl. »rygorystycznie zorganizowana struktura narracyjna, bliska nowoczesnej powies´ci kryminalnej«).12 Crowes Erstling gefiel dem Lesepublikum und auch den Theaterbesu10 Vgl. Cegielski, Tadeusz: Detektyw w krainie cudów. Powies´c´ kryminalna i narodziny nowoczesnos´ci, 1841–1941. Warszawa: WAB 2015, S. 148–174. 11 Crowe, Catherine: Adventures of Susan Hopley; or Circumstantial Evidence. 3 Bde. London: Saunders & Otley 1841. 12 Cegielski, Tadeusz: Detektyw w krainie cudów, S. 255.

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chern – das Bühnenstück unter dem vielsagenden Titel Susan Hopley or, The Vicissitudes of a Servant Girl wurde in London aufgeführt. 1842 veröffentlichte Mrs. Crowe den Fortsetzungsroman Men and Women or, Manorial Rights13 und zwei weitere sehr gut aufgenommene Krimis, in denen Frauen das Zepter in der Hand halten und den Fall lösen: The Story of Lily Dawson (1847)14 sowie The Adventures of a Beauty (1852)15. Den meisten ist sie allerdings als Autorin von ›spirituellen‹ Büchern über die ›übersinnliche Welt‹ in Erinnerung geblieben.16 Nicht nur wegen ihres Entschlusses für den Einsatz von Frauen-Detektiven lässt sich Crowes Kriminalroman unter einem feministischen Gesichtspunkt deuten; auch der weibliche Blick auf die Zustände und das Sittenbild der viktorianischen Mittelschicht trägt feministische Züge. Nimmt man die polnischen Kriminalromane des kommunistischen Polens (aus dem Zeitraum 1955–1988) in den Augenschein, lässt sich die im Beitragstitel gestellte Frage nach dem ›Geschlecht‹ des Genres in Wahrheit leicht beantworten. Der Krimi der Volksrepublik Polen stand unter einem männlichen Stern. Romane und auch Drehbücher, die von Frauen geschrieben wurden, waren nicht unbedingt Frauen gewidmet, wie es die Beispiele von Barbara Seidler (geb. Seidler-Hollender, 1930–1991), Anna Kłodzin´ska (1915–2008) oder Joanna Chmielewska (geb. Irena Kuhn, 1932–2013) offenkundig zeigen. Gerade Chmielewska, die von den Leser:innen immer noch als ›Königin des polnischen Kriminalromans‹ gefeiert wird, entwarf einen Erzählerin-Typus, der als ihr eigenes Alter ego bezeichnet werden kann.17 Allerdings waren die Haupthelden ihrer Rätselromane stets Männer: Freunde, Menschen, mit denen sie sich in enger oder auch oberflächlicher Beziehung befand, Arbeitskollegen aus dem Architektenumfeld, aus dem Chmielewska selbst stammte. Es waren dieselben Männer, die die Alltagsrealität des sozialistischen Polens mitbestimmt haben. Chmielewskas Perspektive war zweifellos feminin, sozusagen »praktisch-feminin«, aber auf keinen Fall feministisch. Elz˙bieta Gazdecka bemerkt, dass das Hauptanliegen Chmielewskas nicht in der Hervorhebung der Unterschiede zwischen Mann und Frau bestand, sondern: 13 Crowe, Catherine: Men and Women or, Manorial Rights. 3 Bde. London: Saunders and Otley 1843. 14 Crowe, Catherine: The Story of Lilly Dawson. 3 Bde. London: Henry Colburn 1847. 15 Crowe, Catherine: The Adventures of a Beauty. 3 Bde. London: Colburn and Co. 1852. 16 Crowe, Catherine: The Night Side of Nature, or, Ghosts and Ghost-seers [1848]. 2 Bde. London: Routledge 1882. 17 Zu Chmielewska vgl. das Autorenheft »Joanna Chmielewska« (hrsg. v. Tadeusz Lewandowski), das aus Anlass des polnischen Schwerpunktprogramms © POLAND auf der 52. Internationalen Frankfurter Buchmesse und des Programms »Polen erlesen – Literatur, Kunst, Kultur – NRW 2000/2001 erschien (hrsg. v. der Arbeitsgruppe Literatur Polska 2000). URL: http://www.culture.pl/web/english/resources-literature-full-page/-/eo_event_asset_publisher /eAN5/content/joanna-chmielewska / letzter Zugriff am 15. April 2022.

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Celem pisarstwa Chmielewskiej nigdy nie było podkres´lanie róz˙nic mie˛dzy kobieta˛ i me˛z˙czyzna˛. Z˙en´ska bohaterka wpisywała sie˛ w rzeczywistos´c´ s´ledztwa w sposób naturalny. Odmiennos´c´ wynikaja˛ca z róz˙nicy płci traktowana była przez autorke˛ drugorze˛dnie i co najwyz˙ej jej pojawianie sie˛ miało dodac´ smaczku i wykorzystac´ innos´c´ dla urozmaicenia powies´ci. Chmielewska˛, wbrew jej z˙ywym protestom, nazywano »polska˛ Agata˛ Christie«. To niefortunne porównanie jest wynikiem ogólnikowego zaliczenia twórczos´ci obu pisarek do kategorii klasycznej powies´ci detektywistycznej zwanej mystery (według trójkowego podziału C. Malmgrena).18

Daran schließt die Frage nach der möglichen Kategorisierung und Klassifizierung der Romane Chmielewskas an. Auf der einen Seite gibt es Całe zdanie nieboszczyka (dt. Der ganze Satz des Toten, 1972), Przekle˛ta bariera (dt. Verfluchte Barriere, 2000), Zabic´ mnie (dt. Töte mich, 2005), auf der anderen Seite Lesio (dt. Lesio, 1973), Upiorny legat (dt. Der gespenstische Legat, 1977) oder (Nie)boszczyk ma˛z˙, (dt. Der (un-)tote Ehemann, 2002).19 In den letzten drei Jahrzehnten gab es in Polen eine veritable Explosion von Genreliteratur, insbesondere von Kriminalliteratur, die man heute schwer zu katalogisieren in der Lage ist. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2013 veröffentlichte Chmielewska weiterhin (Zbrodnia w efekcie; dt. Verbrechen als Folge). Einige der Autor:innen, die ihr nachfolgten, wurden im und vom Mainstream anerkannt, von anderen hört man nach zwei oder drei erschienenen Romanen nichts mehr. Viele sind nur ›Lokalmatadoren‹ und der größeren Leserschaft nicht bekannt. Auch in Polen überschwemmen die Kriminalromane den Buchmarkt. Sich einen Überblick zu verschaffen, erweist sich als eine schwere Aufgabe. Hilfreich dabei könnte bspw. die Rekonstruktion der Gewinner:innen des Literaturpreises »Wielki Kaliber« (dt. »Großes Kaliber«) sein, der seit 2004 verliehen wird. Verantwortlich dafür zeichnen die Vereinigung von Kriminal- und Spannungsroman-Liebhabern »Trup w szafie« (dt. »Leiche im Kleiderschrank«) und das 18 Gazdecka, Elzbieta: Czy Joanna Chmielewska pisała kryminały. In: Ruszczyn´ska, Marta/ Kulczycka, Dorota/Brylla, Wolfgang/Gazdecka, Elz˙bieta (red.): Kryminał. Mie˛dzy tradycja˛ a nowatorstwem. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2016, S. 279–286. Sie bezieht sich außerdem auf Malmgren, Carl D.: Anatomy of Murder. Mystery, Detection and Crime Fiction University Press of Wisconsin 2017. Dt.: »Das Ziel von Chmielewskas war es nie, die Unterschiede zwischen Frau und Mann hervorzuheben. Die weibliche Figur fügte sich auf natürliche Weise in die Realität der Ermittlungen ein. Der Unterschied, der sich aus der Geschlechtsdifferenz ergibt, wurde von der Autorin als zweitrangig betrachtet, er sollte der Ganzheit eine gewisse Würze verleihen und den Roman mithilfe der Andersartigkeit aufpeppen. Chmielewska wurde trotz ihrer eigenen heftigen Proteste ›die polnische Agata Christie‹ genannt. Dieser unglückliche Vergleich ist das Ergebnis der allgemeinen Aufnahme der Werke beider Autorinnen in die Kategorie des klassischen Kriminalromans als Mystery verstanden (nach C[arl]. D. Malmgrens ternärer Einteilung)«. 19 Nur zwei von Chmielewskas Romanen wurden ins Deutsche übersetzt: Pech (2002, dt. MordsStimmung. Übers. von A. Grzybkowska. München: Blanvalet 2005) und Tajemnica (1993, dt. Mord ist Trumpf. Übers. von A. Junuszewska. München: Blanvalet 2007).

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Warschauer Instytut Ksia˛z˙ki (dt. Bücherinstitut).20 Ausgezeichnet werden nicht nur einheimische Krimis und Thriller, sondern auch Übersetzungen nicht-polnischer Literatur (mit dem Ehrenpreis). Gesponsert wird der »Große Kaliber«Preis seit 2009 von Wrocławs Bürgermeisteramt, erster Preisträger war der Breslauer Autor Marek Krajewski, Gründungsvater des polnischen Retro-Krimis, der 2003 mit Koniec ´swiata w Breslau (dt. Der Kalenderblattmörder) die Konkurrenz schlagen konnte.21 Bis heute wurden achtzehn Preisverleihungen durchgeführt, im wichtigsten Hauptwettbewerb hatten nur vier Autorinnen die Nase vorn, davon eine in der Kategorie »Readers Choice«: Joanna Jodelka (geb. 1973) gewann 2010 mit Polichromia (dt. Polichrome), Gaja Grzegorzewska (geb. 1980) 2011 mit Topielica (dt. Die Ertrunkene; die topielica-Figur entspringt der slawischen Mythologie) und Marta Guzowska (geb. 1967) 2013 mit Ofiara Polikseny (dt. Polyxenes Opfer). Die Erfolgsserie der ›Frauenkrimis‹ endet 2015 mit dem Leserpreis für Katarzyna Bonda (Pochłaniacz, dt. Das Mädchen aus dem Norden). Nach längerer Durststrecke tauchte auf der Siegerliste 2021 wieder eine Frau auf: Anna Kan´toch (Pseudonym »Anneke«, geb. 1976) wurde für ihren Roman Wiosna zaginionych (dt. Der Frühling der Vermissten) neben zwei anderen Schriftstellerinnen für den »Wielki Kaliber« nominiert.22 Einen Namen machte sich jedoch Kan´toch schon früher – seit 2005 gehört sie zu den führenden polnischen Fantasy-Autor:innen. Für ihr Fantasy-Werk wurde sie mit den höchsten Auszeichnungen geehrt, sowohl in Polen (mit dem Jerzy-Z˙uławskiPreis) als auch im Ausland (von der European Science Fiction Association). Auf einen charakteristischen Nenner lassen sich weder Kan´toch noch Grzegorzewska & Konsorten bringen. Keine von ihnen scheint an der emanzipationsorientierten Strömung der Weltliteratur zu partizipieren. Auf dieses Problem weist Katarzyna Kowalewska, Autorin und Übersetzerin, in einem kurzen Rückblick auf die Leistungen polnischer Krimiautorinnen anno 2021 hin: »Najcze˛´sciej powies´ci polskich autorek kryminałów nie maja˛ silnego wydz´wie˛ku emancypacyjnego – w naszym kraju nie wykształcił sie˛ jeszcze nurt analogiczny

20 Die Gründungsmitglieder waren Marcin Baran, Witold Beres´, Piotr Bratkowski, Artur Górski, Ireneusz Grin und Marcin S´wietlicki. Der Preis wird in vier Kategorien verliehen. Seit 2017 gibt es einen nach Janina Paradowska benannten Sonderpreis. URL: https://de.wikipedia.org/ wiki/Wielki_Kaliber / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. 21 Vgl. Werner, Hendrik: Latein und Bordelle: Die Vorlieben des Kriminalrats Mock. In: »Die Welt« vom 21. Dezember 2006. URL: https://www.welt.de/print-welt/article703947/Latein-u nd-Bordelle-Die-Vorlieben-des-Kriminalrats-Mock.html / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. Sehr kritisch gegenüber der Breslau-Tetralogie: [o. A.]: Marek Krajewski »Tod in Breslau«. Vorsicht: Etikettenschwindel. In: Kulturtransfer Deutsch-Polnisch. URL: http://www.kul turtransfer.eu/index.php/de/buecher/23-marek-krajewski-tod-in-breslau / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. 22 Anna Kan´toch wurde 2018 mit dem Janina Paradowska-Sonderpreis geehrt.

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do skandynawskiego femi-krimi.«23 Kowalewska wäre durchaus bereit, in diese Kategorie Grzegorzewskas sechsbändige Romanreihe (2006–2016) über Julia Dobrowolska aufzunehmen, eine zynische Privatdetektivin, die nicht selten mit den Heldinnen der vor allem in Skandinavien beliebten feministischen Kriminalliteratur verglichen wird und sich gegen patriarchale Gesellschaftsmodelle wehrt. Allerdings sollte man Grzegorzewskas Dobrowolska-Figur eher als eine Art Superheldin auffassen, die von der Realität losgelöst agiert. Auf Umwegen fand Grzegorzewska ihren Weg zur Literatur: nach Abschluss des Gymnasiums und Filmstudiums in Krakau. An einem Sommer-Workshop zum Kreativen Schreiben (Kriminalliteratur) an der Krakauer Jagiellonen-Universität nahm überraschenderweise die ein Jahr jüngere Betreiberin eines Schönheitssalons aus Łódz´, Agnieszka Płoszaj, teil.24 Geleitet wurde der Crashkurs von Filip Modrzejewski, dem Herausgeber von »Mroczna Seria« (dt. »Düstere Reihe«) beim Verlag WAB (heute Foksal-Verlagsgruppe). Die Reihe hat stark zur Popularisierung hochwertiger Kriminalliteratur in Polen beigetragen. Unter den geförderten polnischen Autor:innen befanden sich mehrere Frauen, darunter Guzowska. Modrzejewski ermunterte Płoszaj dazu, einen Kriminaltext zu schreiben. 2017 erschien Czarodziejka (dt. Die Zauberin), später Ogrodnik (dt. Der Gärtner, 2018) und Bigamista (dt. Der Bigamist, 2020) mit Julia Bronicka in der Hauptrolle, die als Besitzerin eines Cafés in Łódz´ an Płoszaj angelehnt zu sein scheint. Płoszaj vertritt unter den neuesten polnischen Krimiproduktionen die weibliche Sicht schlechthin. Bronicka ist jung, unternehmerisch begabt, aber nicht ehrgeizig. Klug, allerdings naiv – und auf jeden Fall 100 % feminin. Zweifellos verfügen Płoszajs Kriminalromane, insbesondere die ersten beiden, über ein Geschlecht, und das, obwohl sie von einigen bezichtigt wird, Chmielewska zu kopieren.25 23 Kowalewska, Katarzyna: Zbrodnia kobiecym piórem. Polskie autorki kryminałów. In: »Empik Pasje. Czytam« vom 25. August 2021. URL: https://www.empik.com/empikultura/zbrodnia -kobiecym-piorem-polskie-autorki-kryminalow,120608,a / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. Dt.: »Meistens haben die Romane polnischer Krimiautorinnen keinen starken emanzipatorischen Unterton – ein Trend analog zum skandinavischen femi-Krimi hat sich in unserem Land noch nicht durchgesetzt.« 24 Płoszaj fördert das Lesen bei den Jüngsten durch zahlreiche Treffen und Lesungen von Büchern in Schulen, Kindergärten und Bibliotheken. Sie ist Aufsichtsratsmitglied der Stiftung »Lorem«, die Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum unterstützt. URL: https://lubi myczytac.pl/autor/138733/agnieszka-ploszaj / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. 25 Beispiel-Buchbesprechung eines Laienkritikers: »Agnieszka Płoszaj in Ogrodnik erinnert mich ein bisschen an die Krimis von Joanna Chmielewska […] Hier und da sind die Protagonisten zwei Freunde, die ein Händchen für Ärger haben, hier und da ist einer von ihnen in einen Vertreter der Polizei verliebt. Natürlich ist bei Chmielewska alles augenzwinkernder, sogar die Verbrecher, aber der moralische und romantische Faden ist hier und da sehr präsent. Gut durchdacht und geschrieben, aber nichts für mich.« URL: https://lubimyczyta c.pl/ksiazka/4821644/ogrodnik / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022.

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Die feministische Perspektive kommt im polnischen Kriminalroman sehr selten vor, anders als bestimmte populärkulturelle Phänomene, auf die im Folgenden verwiesen werden muss. In den letzten Jahren ist in der Fernsehbranche eine interessante Entwicklung zu beobachten, an deren Ende sich die Erschaffung einer neuen Frauenfigur befindet: der Superheldin. Darunter sind polnische Ableger der US-female superheroes oder superheroines zu verstehen, die Ende der 1960er Jahre aufblühten und gegen die Schurken dieser Welt ankämpften.26 Nach über 50 Jahren ist das female superhero-Phänomen auch in der polnischen Popkultur angekommen. An der Schnittstelle von populärer Literatur und Massenmedien werden von mehrköpfigen weiblichen wie männlichen Produktionsteams immer außergewöhnlichere Projekte von Frauenfiguren entwickelt, die sich gleichzeitig immer mehr von der Lebenswirklichkeit abheben. Es wimmelt von Privatdetektivinnen, Polizistinnen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen, Psychologinnen und Profilerinnen – allesamt Berufe und Tätigkeiten, die etwas mit der Verbrechensbekämpfung und dem Bösen zu tun haben. Solche zusammengewürfelten Kreativteams zielen in den meisten Fällen auf das Filmgenre bzw. eine TV-Serie ab, der literarische Text dient nur als Drehbuchvorlage oder Inspiration für die jeweiligen Produktionen. Dabei muss das filmische Endergebnis in qualitativ-ästhetischer Hinsicht nicht immer schlechter sein als das literarische Original. Deutlich wird dies am Beispiel der Fernsehadaptionen von zwei polnischen »Superhelden«-Serien, und zwar von Katarzyna Bondas Romanserie Cztery z˙ywioły Saszy Załuskiej (dt. Die vier Elemente von Sasza Załuska) mit der Polizeiprofilerin Sasza Załuska (seit 2014)27 und von Remigiusz Mróz’ (geb. 1987) sog. Chyłka-Fällen (seit 2015) mit der Anwältin Joanna Chyłka.28 Sowohl Bonda als auch Mróz zählen zu den beliebtesten und am meisten geschätzten Autor:innen von ›weiblichen‹ Krimis. ›Feminin‹ beschränkt sich in diesem Kontext nicht nur auf das Geschlecht der handelnden Hauptfiguren oder auf den Umstand, dass ihre beruflichen (Miss-)Erfolge auf ihr Geschlecht zurückzuführen 26 Vgl. Ro, Ronin: Tales to Astonish. Jack Kirby, Stan Lee and the American Comic Book Revolution. New York: Bloomsbury 2004. Vgl. URL: https://portal.dnb.de/opac.htm?method=si mpleSearch&query=130467928 / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. 27 Die polnische TV-Kriminalserie »The Elements of Sasha – Fire« wurde vom 17. November bis 29. Dezember 2020 auf der VOD Player-Plattform zur Verfügung gestellt und vom 6. April bis 18. Mai 2021 beim TV-Sender TVN ausgestrahlt. Die Serie basierte auf dem Roman Lampiony (dt. Laternen), Regisseur war Kristoffer Rus. Die erste Staffel (sieben Folgen) hat gute Kritiken erhalten, aber die Einschaltquote war weniger berauschend: mit durchschnittlich 800.000 bis 900.000 Zuschauern lag man unter den Erwartungen. 28 Die TV-Kriminalserie »Chyłka« konnte man vom 26. Dezember 2018 bis zum 4. Januar 2022 ebenfalls auf der VOD Player-Plattform streamen. Vom 30. März 2019 bis 11. Oktober 2021 wurde sie auf TVN ausgestrahlt. Regisseure waren Łukasz Palkowski und Marek Wróbel. Insgesamt 17 Millionen Zuschauer haben sich die fünf Staffeln angesehen.

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sind. Wolfgang Brylla räsoniert über Bondas Popularität in Polen und versucht die Autorin dem feministischen oder auch feminisierenden Trend zuzuordnen. Er stellt fest: Der Feminismus-Doktrin bleibt auch Katarzyna Bonda – mein Name ist Bonda, Katarzyna Bonda – verhaftet. […] Die Boulevardpresse reißt sich um Interviews mit der »Königin des Kriminalromans« (so der Epitext auf den Buchumschlägen), bei den Autorenlesungen sind die Bibliothekssäle meistens überfüllt. Im Publikum sitzen nicht nur Frauen, es finden sich viele Männer darunter. Aus ihren feministischen Anschauungen macht sie keinen Hehl, in den Romanen selbst erleben sie eine Reinkarnation in der Figur der Profilerin Sasza Załuska, einer tough women. Den Männern ist sie um Nasenlängen voraus, stürzt sich in die Arbeit, geht volles Risiko. Andernteils revidiert sie als alleinerziehende Mutter das in Polen fest eingebürgerte altbackene Frauenbild und plädiert somit für ein neues soziales Familienmodell.29

Auf das neue »neue[] soziale[] Familienmodell« erhebt Bonda keinen Exklusivitätsanspruch. Dargestellt wird, wie auch in dutzend anderen Gegenwartsromanen mit moralisierendem Kern, der Mutteralltag einer – im beruflichen und familiären Sinne – doppelt engagierten Frau, die zwischen Arbeit und ihren elterlichen Pflichten hin- und hergerissen ist und Hilfe bei Mutter und Partner sucht, die in die Bresche springen und für das Kind sorgen. Sind deswegen Bondas Kriminalabenteuer ›weiblicher‹ als die von Mróz? Welche Kriterien müsste man zu Rate ziehen, um die ›Weiblichkeit‹ einer Gattung zu bestimmen? Ist es die Art und Weise der Figurengestaltung? Die Glaubwürdigkeit beim Analysieren des weiblichen Psychogramms? Oder ist ›weiblich‹ eine Bezeichnung bzw. eine Gegen-Bezeichnung der Lektüre aus einer männlichen Perspektive? Und wäre dies letztendlich die vom Autorinnen-Geschlecht unabhängige heraufbeschworene ›feministische Perspektive‹? Ist die Faszination der Erzählerin für forensische Techniken ›weiblich‹, die in Pochłaniacz (dt. Das Mädchen aus dem Norden, 2014) detailliert beschrieben werden (inkl. Ausbildung von Polizeihunden, Geruchstest etc.)? Recherche spielt für Bonda eine relevante Rolle, deshalb bereitet sie sich akribisch vor. Forensisches Wissen lernte Bonda zuerst im Polizeihauptquartier in Katowice 2005, später an der berühmten Polizeiakademie in Szczytno. In Katowice unterrichtete sie Bogdan Lach, einer der Vorreiter auf dem Gebiet der Forensik in Polen. Bonda hat Lach durch ihre Zeitungsinterviews selbst zum Medienstar gemacht: Jestem terrorystka˛ i zmusiłam go, aby wysta˛pił w moim artykule, tłumacza˛c mu, z˙e lepiej be˛dzie, jes´li wyjdzie z ukrycia, z˙e warto mówic´ o tym, co robi, aby i policjanci wiedzieli, z czym sie˛ je profilowanie, i nie traktowali go na równi z jasnowidzem z 29 Brylla, Wolfgang: Ein Hauch polnischer Exotik. In: »CrimeMag«, März 2020. URL: http://cul turmag.de/crimemag/ein-hauch-polnischer-exotik-wolfgang-brylla/123962 / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022.

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Człuchowa. Bo takie wtedy były relacje. Nawet ws´ród policjantów zdarzali sie˛ tacy, którzy s´miali sie˛ w kułak, słysza˛c o profilowaniu.30

Angegriffen wurde Bonda auch von ihren Schriftstellerkolleg:innen und Leser:innen, nachdem sie ihren ersten Roman mit dem Kommissar und Profiler Hubert Meyer veröffentlicht hatte, dem allem Anschein nach Lach Pate stand: »Wys´miewali sie˛ ze mnie, a dzisiaj to odszczekuja˛. Nawet wydawca, który nie znał słowa profiler, chciał, abym zmieniła nazwe˛ na inna˛. Nie da sie˛ jednak znalez´c´ lepszego polskiego odpowiednika na te˛ profesje˛« – gibt heute Bonda zu.31 Und Sasza Załuska ist ebenfalls Profilerin, die erste in der Geschichte der polnischen Kriminalliteratur. Bonda gebührt zweifellos der Dank, dass es ihr als Autorin von Kriminalromanen gelang, einen großen Resonanzboden für Forensik zu schaffen. Bei allen inhaltlichen und schriftstellerischen Unterschieden erinnern Bondas ProfilerRomane an Jürgen Thorwalds Das Jahrhundert der Chirurgen (1956, dt. Ausgabe 1972) und Das Jahrhundert der Detektive (1966, dt. Ausgabe 1965–1972), die von den Schwierigkeiten bei der Geburt der Kriminalistik als Wissenschaftszweig berichteten. In Cztery z˙ywioły, und vor allem im abschließenden Krimi Czerwony Paja˛k (dt. Die rote Spinne), wird der hauptsächliche Erzählrahmen von einer ›weiblichen Schreibweise‹ gebildet. Sasza Załuska ist voll und ganz eine Frau, die um ihre Vorteile weiß, ihre Vorzüge genießt und sich über die Schwächen im Klaren ist (Männer-Beziehungen, moderne Mutterschaft, erotische Rivalität mit Polizistenkollegen etc.). Ebenso selten wie der Forensik-Bezug im polnischen ›Frauenkrimi‹ ist auch ein ganz besonderer Geschichtsbezug Bondas, der auf die Situation des polnischweißrussischen Grenzgebiets hinweist, das kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Schauplatz von Blutvergießen wurde (1946 hat eine Division der polnischen »verfemten Soldaten« ein ganzes Dorf vernichtet, in dem Mitglieder der Orthodoxen Kirche wohnten). Bonda stammt aus einer orthodoxen Minderheit, die in einem an Weißrussland grenzenden Ort Ostpolens lebt. Ihr Roman Okularnik (dt. Der Rat der Gerechten, 2019) stieß in Deutschland auf mäßige 30 Czupryn, Anita: Polscy profilerzy – o tym, kto ich odkrył i na czym polega ich praca. In: »Polska Times« vom 23. März 2014. URL: https://polskatimes.pl/polscy-profilerzy-o-tym-kto-ich-od kryl-i-na-czym-polega-ich-praca/ar/3375589 / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. Dt.: »Ich bin ein Terrorist und habe ihn [Lach] gezwungen, in meinem Artikel zu erscheinen, und ihm erklärt, dass es besser wäre, wenn er aus seinem Versteck käme, dass es sich lohnt, über das zu sprechen, was er tut, damit die Polizisten wissen, worum es beim Profiling geht und ihn nicht mehr als einen Hellseher aus Człuchów behandeln. Denn so waren damals die Verhältnisse. Auch bei der Polizei gab es einige, die sich ins Fäustchen lachten, wenn sie nur den Begriff Profiling hörten.« 31 Ebd. Dt.: »Sie haben sich über mich lustig gemacht, und heute streiten sie es ab. Sogar der Verleger, der das Wort Profiler nicht kannte, wollte, dass ich dafür ein anderes Wort finde und benutze. Ein sprachlich besseres polnisches Äquivalent gibt es für diesen Beruf aber nicht.«

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Resonanz32, aber in Polen erweckte er großes Interesse und löste noch größere Emotionen aus. Auf diesen historischen Aspekt bei Bonda macht auch Brylla aufmerksam: Auch mit Blick auf den historischen Diskurs war Bonda imstande, Akzente zu setzen: an der polnisch-weißrussischen Grenze geboren, mit dem dortigen Geschichtsverständnis aufgewachsen, sich in diesem orthodox-katholischen, bikulturellen Schmelztiegel auskennend, greift sie […] die Problematik der z˙ołnierze wykle˛ci (der verfemten Soldaten) [auf], die den Geschichtsschulbüchern im besten Fall nur eine Randnotiz wert ist, und offenbart die Grauen des Weltkrieges und dessen Folgen, für die nicht nur die Anderen, sondern auch die Einheimischen – sprich: Polen, die viel auf dem Kerbholz haben – die Verantwortung tragen. Im PiS-Land ein Wagnis. Bonda warf man sogar vor, ein »antipolnisches Buch« geschrieben zu haben.33

Vor diesem Hintergrund sieht die Hauptprotagonistin von Mróz, die Rechtsanwältin Joanna Chyłka von der mächtigen Anwaltskanzlei Z˙elazny & McVay im »Warschauer Manhattan«, überhaupt nicht blass aus.34 Die 40-Jährige behandelt ihre Handelspartner brutal, flucht wie ein Kesselflicker, rast in ihrem BMW durch die Hauptstadtstraßen, verstößt fast gegen jeden einzelnen Punkt der StVO und auch gegen alle Vernunftregeln, unterhält spontane und lockere Beziehungen zu Männern (mit mehreren parallel) und stürzt als Alkoholikerin und Drogenabhängige ab. Trotz des menschlichen Untergangs bleibt sie ein juristischer Hardliner, der alle Aufgaben mit Bravour und Raffinesse meistert. Chyłka ist eine verrückte Hybride, eine wilde Kombination aus einem weiblichen Hooligan und einem begnadeten Strafrechtler. Chyłka ist allerdings nicht die Hauptfigur der Romanserie, im Zentrum befindet sich stattdessen die kriminelle Intrige, der Rechtsfall – eine Seltenheit im polnischen Kriminalroman. Auf diese thematische Exposition deuten schon die Romantitel hin, in denen solche Gerichtsverfahrensbegriffe wie Kassation, Verschwinden, Revision, Immunität, Aufsicht (invigilation), Anklage, Testament, Gegentyp, Erlösung, Urteil, Auslieferung und Präzedenzfall zur Geltung kommen. Zwischen den Zeilen werden auf diese Weise die Feinheiten der polnischen 32 »Leider enttäuschend«, »ein ungewöhnlicher Roman, der mich aber nicht packen konnte«, »weiter empfehlen werde ich den Roman nicht«, aber auch »eine umfangreiche Geschichte voller Namen, Orte und viel historischem Hintergrund«. Vgl. URL: https://www.lovelybook s.de/autor/Katarzyna-Bonda/Der-Rat-der-Gerechten-1812099566-w / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. Das Mädchen aus dem Norden stieß in Deutschland auf mehr Interesse und wurde besser aufgenommen. URL: https://www.lovelybooks.de/autor/Katarzyna-Bonda/ Das-Mädchen-aus-dem-Norden-1412776003-w / letzter Zugriff am 1. Dezember 2022. 33 Brylla, Wolfgang: Ein Hauch polnischer Exotik. 34 Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Rowohlt auch für andere Mróz-Romane, nämlich für den zweibändigen Psychothriller Nieodnaleziona (2018) und Nieodgadniona (2019) interessierte (Mróz, Remigiusz: Die kalten Sekunden/Bis zum Ende. Übers. von M. Breuer und J. Waloszczyk. Bd. 1–2. Reinbek: Rowohlt 2019–2020).

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Rechtsordnung erklärt. In der Chyłka-TV-Serie – in der Hauptrolle Małgorzata Cielecka – wird die ›Binarität‹ der Figur als Rowdy und Anwältin aufgelöst. Cielecka verkörpert Chyłka als tragische, ja fast heroische Frau/Figur, die man trotz ihrer Fehltritte mag. Vom Heroisierungsprozess der Heldin kann man auch im Falle von Bondas Załuska sprechen. Auf diesem Wege greift der polnische ›Frauenkrimi‹, mehr oder minder, die Emanzipationsproblematik ignorierend, die romantische Tradition auf, in der die Frau (Ehefrau, Mutter) als Bekämpferin des Bösen auf den Sockel gestellt wurde. Das Klischeebild von »Matka Polka« (dt. »der polnischen Mutter«) erfährt hier gewollt oder ungewollt seine Wiederauferstehung.35 Bei der »polnischen Mutter« handelt es sich um eine junge Frau aus der Großgrundbesitzerschicht im Kongresspolen, die nach der Niederschlagung des Januaraufstands 1863/64 vor die Wahl gestellt wurde: entweder ihrem Mann nach Sibirien zu folgen oder zu Hause zu bleiben und die Familie sowie das Eigentum vor der russischen Bürokratie zu verteidigen. »Matka Polka« muss so typisch männliche Rollen übernehmen – mit einer Ausnahme: als sie sich keine Bestechungsgelder mehr leisten kann, bezahlt sie, wie es Wiktoria S´liwowska betont, mit ihrem eigenen Körper. Der Zweck heiligte zweifellos die Mittel. S´liwowska macht nebenbei auch auf den Einfluss des russischen Kriegsgesetzes aufmerksam: »Na ziemiach polskich zrównanie w prawach kobiet i me˛z˙czyzn dokonało sie˛ najpierw na polu wspólnie prowadzonej walki o odzyskanie niepodległos´ci: zrównanie to przypiecze˛towane zostało ukazem cesarskim zaprowadzaja˛cym w marcu 1963 [sic!] roku jednakowe sa˛dy wojskowe dla przeste˛pców obojga płci.«36 Diese Vermännlichung weiblicher Rollen – ein Funktionswandel, der auch aus anderen Ländern in Kriegs- oder Krisensituationen bekannt ist – hat laut Joanna Szwajcowska in Polen eine stark patriotische und sogar religiöse Note.37

35 Szwajcowska, Joanna: The Myth of Polish Mother. In: Mazierka, Ewa/Ostrowska, Elz˙bieta (eds.): Women in Polish Cinema. New York/Oxford: Berghahn Books 2006, S. 15–36. 36 S´liwowska, Wiktoria: Polskie drogi do emancypacji (O udziale kobiet w ruchu niepodległos´ciowym w okresie mie˛dzypowstaniowym 1833−1856). In: Grochulska, Barbara/Skowronek, Jerzy (red.): Losy Polaków w XIX−XX w. Warszawa: PWN 1987, S. 210−247. Zit. nach: Durys, Elz˙bieta: »Joanna i Róz˙a« − subwersywny wymiar macierzyn´stwa a filmy pamie˛ci narodowej. In: Chudzicka-Dudzik, Patrycja/Durys, Elz˙ebieta (red.): Konteksty feministyczne. Gender w z˙yciu społecznym i kulturze. Łódz´: Wyd. Uniwersytetu Łódzkiego 2014, S. 235–252, hier S. 237. Dt.: »Die Gleichberechtigung von Frau und Mann fand in Polen zunächst auf dem Gebiet des gemeinsam geführten Kampfes um die Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit statt: diese Gleichberechtigung wurde durch einen Zaren-Beschluss [ukaz] von März 1963 [sic!, in Wirklichkeit 1863] bestätigt, der dieselbe militärische Strafverfolgung für Männer und Frauen vorsah.« 37 Szwajcowska, Joanna: The Myth of Polish Mother, S. 11. Weitere Überlegungen zu Transformationen des Mythos der »polnischen Mutter« in der zeitgenössischen Kultur findet man

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Tadeusz Cegielski

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Mareike Brandtner (Kiel)

Kriminalromane als ›Bausteine für eine feministische Kultur‹. Zur Ariadne-Reihe und den Debatten im »Ariadne Forum« in den 1990er Jahren

Einleitung: Die Ariadne-Reihe Die erste deutschsprachige Frauenkrimi-Reihe wurde im Jahr 1988 mit der Intention gegründet, politische Ansprüche mit dem Bereich der sogenannten Unterhaltungsliteratur zu verbinden und damit die hegemoniale Kultur in Frage zu stellen.1 Als feministisches Kulturprojekt wollte die Ariadne-Reihe Kriminalliteratur von Frauen verlegen, die traditionelle Geschlechterrollen aufbricht und Alternativen aufzeigt. Durch die gesellschaftspolitische Relevanz der Themen, den innovativen Umgang mit Genretraditionen und die im Kontext der Publikationen geführten Diskussionen sollten die Ariadne-Krimis ›Bausteine für eine feministische Kultur‹2 darstellen. Die Sichtbarkeit für Schriftstellerinnen im Bereich der Kriminalliteratur, die im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen bis dahin in der öffentlichen Wahrnehmung unterrepräsentiert waren, sollte durch den Ansatz der AriadneReihe erhöht werden. Zwar wurde das Krimigenre schon lange auch von Schriftstellerinnen wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und Patricia Highsmith mitgeprägt, eine breitere Basis an Kriminalliteratur von Frauen, die sich in Abgrenzung zur traditionell männlich geprägten Kriminalliteratur definierten, um gleichzeitig »den Faden [der Klassikerinnen] weiterzuspinnen«3, entwickelte sich im deutschsprachigen Raum jedoch erst in den 1990er Jahren.4 Wurden in 1 Vgl. Haug, Frigga: Am Anfang störte es den Takt… In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 4. 2 Siehe den Untertitel des »Ariadne Forums«: »Ariadne Forum. Bausteine für eine feministische Kultur« 1. Hamburg: Argument 1992/93. 3 Arendt, Gabriele: Konzept mit Altflöten. Ein Plädoyer für die klassische Ariadne-Seite. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 4. 4 Zwar stellen »[d]ie starken Frauenfiguren […] Kontinuitäten her zwischen Christies Texten und den Kriminalromanen der achtziger und neunziger Jahre. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Gruppierungen, der geographischen Regionen und der Formen von Alltagsbewältigung hingegen markiert einen radikalen Bruch mit den literarischen Konventionen, die für das Golden Age bestimmend sind« (Keitel, Evelyne: Vom Golden Age zum New Golden Age: Kriminalromane von Frauen für Frauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sa-

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der Ariadne-Reihe zunächst hauptsächlich Übersetzungen englischsprachiger Autorinnen herausgegeben, da die feministische Kriminalliteratur vor allem in den USA eine längere Tradition hatte, so kamen ab den 1990er Jahren sukzessive Werke deutschsprachiger Autorinnen hinzu. Neben der Krimi-Reihe gab die Ariadne-Redaktion auch die Romanreihe edition ariadne sowie verschiedene Texte zu feministischer Theorie und das Jahrbuch »Ariadne Forum« heraus. Dieses Forum sollte die Demokratisierung des Kulturprojekts verstärken und zu einer »Inbesitznahme des kulturellen Feldes«5 durch die Leserinnen führen.6 Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, wie Frauenkrimis im Kontext feministischer Kulturpolitik diskutiert wurden und zwar anhand der Beiträge im »Ariadne Forum«, das von 1993 bis 1998 – in den ersten beiden Ausgaben mit dem Untertitel Bausteine für eine feministische Kultur, ab 1996 als Der Frauenkrimi-Almanach – erschien. Die Debatten um die Definition, die Intention und um rezeptionsästhetische Aspekte von Frauenkrimis werden dort auf unterschiedlichen Ebenen geführt und schließen die Perspektiven von Autorinnen, Verlegerinnen, Lektorinnen und Leserinnen sowie vereinzelt (literatur-)wissenschaftliche Betrachtungen ein. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung mit dem Genre werde ich wesentliche Merkmale feministischer Krimis exemplarisch an den frühen Ariadne-Krimis darstellen, die bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden haben. Relevant sind in diesem Zusammenhang v. a. die Studien von Brigitte Frizzoni, die die Strukturen der AriadneKrimis untersucht hat, sich dabei jedoch nur auf Übersetzungen aus dem englischsprachigen Raum bezieht.7 Im Anschluss an Frizzoni werde ich mich auf die bina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 19–37, hier S. 36). 5 Laudan, Else: Unsere Krimiheldinnen – reiten sie für die Wirklichkeit? Ariadnekrimis und die »Politik des Kulturellen«. In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 40–61, hier S. 60. 6 In diesem Beitrag verwende ich die weibliche Form, da dies der Konzeption der Reihe entspricht, und verweise auf die Antwort der Redaktion auf die Beschwerde eines männlichen Lesers im »Ariadne Forum«: »Die Ariadne-Redaktion möchte die frauenkrimilesenden Männer wissen lassen, daß sie sich mitgemeint fühlen können, wenn wir uns an die Leserinnen wenden. Wir wollen aber ausdrücklich die kulturelle Landgewinnung von Frauen vorantreiben, und wir haben nicht den Eindruck, daß es Männern als Geschlecht an Verortungsmöglichkeiten in der Kultur mangelt. Dennoch sind wir natürlich dafür, daß die Krimi-Inhalte möglichst viele Menschen erreichen. Daher hoffen wir, daß es nicht zu Identitätsverlusten kommt, wenn in Ariadne-Kontexten die männliche Form nicht genannt wird, sondern die weibliche Verwendung findet – warum nicht auch als Menschenanrede« (Laudan, Else: Antwort auf den Leserbrief von Wolfgang Schraik: ›Nicht der einzige Mann‹. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 10). 7 Siehe Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95.1 (1999), S. 87–112. Sowie Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im ›Frauenkrimi‹. Zürich: Chronos Verlag 2009.

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deutschsprachigen Kriminalromane konzentrieren, die in den 1990er Jahren in der Ariadne-Reihe erschienen sind. Insbesondere anhand der Charakterisierung der Ermittlerinnen und der Integration marginalisierter Lebensbereiche sowie in Abweichungen von traditionellen Krimi-Schemata möchte ich zeigen, wie der Transfer feministischer Forderungen in die Literatur auf sehr unterschiedliche und z. T. ironisch-selbstreflexive Weise umgesetzt wurde.

Realismus, Utopie, Subversion – Debatten um die Definition des Frauenkrimis im »Ariadne Forum« Die Definition von Frauenkrimis ist im »Ariadne Forum« keineswegs einheitlich. Beiträge, in denen explizit die Gattungsfrage thematisiert wird, grenzen häufig den ›Mainstream-Frauenkrimi‹, in dem lediglich männliche durch weibliche Figuren ersetzt werden, während die Genre-Traditionen ansonsten keine großen Veränderungen erfahren, vom feministischen Krimi ab.8 Einige Beiträge plädieren daher dafür, nicht den Frauenkrimi als eigene Gattung zu bezeichnen, wohl aber den feministischen Krimi, »da hier dem traditionellen Krimi-Genre durchaus neue und kennzeichnende Elemente hinzugefügt werden.«9 Im Mittelpunkt stünden geschlechtsspezifische Erfahrungen, wie die »sozialen, rechtlichen und psychologischen Einschränkungen, die innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft auf Frauen einwirken.«10 Auch die Lektorin und spätere Verlegerin der Reihe, Else Laudan, definiert den Frauenkrimi als Oberbegriff, der durch eine weibliche Hauptfigur, die Thematisierung von ›Frauenalltag‹ und geschlechtsspezifischen Problemen sowie eine weibliche Perspektive geprägt sei. Der feministische Krimi sei in der Darstellung der Verhältnisse offensiver und beinhalte zugleich die Kritik an den Machtstrukturen, so dass auch potentielle Alternativen aufgezeigt würden.11 Wesentliche Bereiche, in denen sich die Differenzen zu 8 Die Definition, dass der Krimi von einer Autorin geschrieben wurde und eine Protagonistin hat, findet sich nur vereinzelt in den Forums-Beiträgen von Leserinnen. Andererseits wird bei den Buchbesprechungen festgestellt, dass Peter Høegs Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1994), obschon von einem Mann verfasst, alle Kriterien feministischer Krimikultur erfülle. Vgl. Strömer-Orrù, Marie-Luise: Peter Híeg [sic!]: Fräulein Smillas Gespür für Schnee [Rezension]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 180–181, hier S. 181. 9 Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 5–6, hier S. 6. 10 Ebd. 11 Vgl. Laudan, Else: »Frauen haben schon immer Krimis anders gelesen«. Interview mit Marion Foster. In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 18–20, hier S. 19. Ähnlich beschreibt es auch Andrea Bartl im Handbuch Kriminalliteratur: »Eine Spezialform dieser populären KrimiSpielart [Frauenkrimi] ist der feministische Krimi, der in ähnlichen Mustern angelegt ist, aber die gezeigten Verbrechen noch stärker als Folge patriarchaler Machtstrukturen darstellt und insbesondere Gewalt von Männern gegen Frauen in den Fokus nimmt« (Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Ha-

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idealtypischen Kriminalromanen zeigen, sind demnach die Transformation der Opferrolle und des männlich geprägten Heldentums in ein widersprüchlicheres und differenziertes »Ringen um Handlungsfähigkeit«12, das zur Identifikation dienen kann, da die Protagonistinnen »in denkbar vielfältigen Alltagen kulturelle Selbstverständlichkeiten beispielhaft bezweifeln oder durchbrechen und alternative Denk- und Verhaltensansätze vorführen.«13 Neben der »Entmystifizierung von Bedrohung«14 insbesondere des weiblichen Körpers ist für den feministischen Krimi zudem die veränderte Bewertung und Darstellung von Frauenbeziehungen kennzeichnend, da diese solidarischen Netzwerke oftmals entscheidend die Handlungsfähigkeit fördern.15 Die Gründerin der Ariadne-Reihe, Frigga Haug, stellt in ihrem Beitrag Bücher gegen den Zeitgeist aus Verlegerinnensicht die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer ›eigenen‹ Kultur dar, bei der die politischen Vorstellungen mit dem ›Zeitgeist‹ und der Verkaufbarkeit von Büchern vereint werden müssen. Unter Bezug auf Antonio Gramscis Hegemoniebegriff stellt sie fest, dass es nicht sinnvoll ist, »gegen den Zeitgeist zu arbeiten, sondern ihn [aufzunehmen und] zu verändern.«16 »Im Niedergang […] der Frauenbewegung«17 sei es wichtig, unterhaltsame Bücher zu verlegen, die an die Lebensrealität und die Bedürfnisse der Leserinnen anknüpfen und zugleich zu mehr Handlungsfähigkeit führen. Prinzipiell sollte es sich um Krimis von Autorinnen handeln, deren weibliche Figuren als »aufrechte, mutige, kompetente und […] nicht unterworfene Opferwesen« dargestellt sind und die in ihrer Handlung die »soziale Wirklichkeit möglichst breit und kritisch einbeziehen, um die Veränderbarkeit der Verhältnisse zu zeigen […] und nicht selbst wertend [zu] urteilen«.18 Diese geforderte realistische Darstellung von Lebensumständen weiblicher Figuren führt aber auch zu Kontroversen: Einerseits gibt es die in Leserinnenbriefen oder unter der Rubrik »Krimileserin im Verhör« immer wieder formulierte Erwartung, dass die Protagonistinnen durch Alltagsnähe und die Thematisierung spezifisch weiblicher Erfahrungen innerhalb patriarchaler Strukturen

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mann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349, hier S. 341). Laudan, Else: Unsere Krimiheldinnen, S. 54. Ebd., S. 59. Ebd., S. 56. Frizzoni stellt dazu fest, dass genau »[d]ieses Frauenbewusstsein […] die Frauenkrimidetektivinnen sowohl von männlichen Detektiven wie von weiblichen Detektivinnen in älteren Texten unterscheidet« (Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen, S. 57). Haug, Frigga: Kontrapunkt: Bücher gegen den Zeitgeist? Erfahrungen beim Machen von Ariadne Krimis. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 7–9, hier S. 9. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 7. Ebd. Hervorhebung im Original.

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ein hohes Identifikationspotenzial bieten sollen, andererseits zeigen gerade die starken ›Super-Heldinnen‹ eine zwar weniger lebensnahe, aber umso reizvollere Alternative zur Realität auf, zumindest solange sie nicht als »klischeehafte[s] Abziehbild einer ›hardboiled‹ Über-Frau«19 empfunden werden. So wird mehrfach von den Leserinnen eine Feminismus-Definition eingefordert und angemerkt, dass beispielsweise die Protagonistin in Dagmar Scharsichs Die gefrorene Charlotte (1993) zu naiv und unselbstständig sei, um den feministischen Anspruch der Reihe zu erfüllen.20 Dagegen steht die Antwort der Redaktion, dieser Krimi zeichne sich gerade durch die subjektive weibliche Perspektive auf ein Zeitgeschehen verbunden mit einer ganz eigenen Schreibweise aus und die Protagonistin sei »– leider – weitaus repräsentativer für eine sehr große Anzahl ›ganz normaler‹ Frauen […] [als die] starken Berufsdetektivinnen«.21 Das Verhältnis von realistischer Alltagsdarstellung und utopischem Vorbild prägt auch die Diskussionen um spezifische Ausprägungen des feministischen Krimis im Lesbenkrimi, der häufig noch radikaler mit Geschlechterrollen bricht. Eine Besonderheit der Ariadne-Krimis war es, dass die Bücher seit 1989 paarweise als ›Lesben- und Hetera-Krimis‹ erschienen22, denn obwohl heterosexuelle Figuren in ihrem Alltag für eine Mehrheit der Leserinnen stärkere Identifikationsmöglichkeiten bieten könnten – z. B. spielt in diesen Krimis die Auseinandersetzung mit Mutterschaft bzw. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf häufiger eine Rolle –, scheinen Lesbenkrimis, Frigga Haug zufolge, eher geeignet, um neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen: »Die Freisetzung von gewöhnlichem Frauenalltag ermöglicht die Eroberung anderer Räume«23 sowohl in Bezug auf das räumliche Verhalten der Protagonistinnen, z. B. durch Ortsungebundenheit, als auch in der Aneignung eines ›männlichen‹ konnotierten Blickes und der damit verbundenen Umdeutungen von Blickweisen auf Frauen. Einerseits können lesbische Ermittlerinnen als Identifikationsfiguren fungieren, im heteronormativen Alltag ermutigend wirken und durch die selbstverständliche Integration in der fiktiven Welt – ein Aspekt, der in den 1980er und 1990er Jahren 19 Förster, Sabine: Fehlgriff [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 84. 20 Vgl. Willhardt, Sabine: Feminismus mal definieren! [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 85. 21 Laudan, Else: Anmerkung der Redaktion zum Leserinnenbrief von Brigitte [N.N.]: Charlotte zu naiv. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 13. 22 »›Straighte‹ (hetera) Krimis haben gerade Nummern, Lesbenkrimis ungerade« (Laudan, Else: Unsere Krimiheldinnen, S. 60). Faye Stewart weist darauf hin, dass bei Ariadne einige der ersten deutschsprachigen Lesbenkrimis erschienen und insgesamt eine »increased representation of sexual and other minorities in the crime genre« in den 1990er Jahren zu beobachten sei (Stewart, Faye: Der Frauenkrimi. Women’s crime writing in German. In: Hall, Katharina (Hg.): Crime fiction in German. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100–114, hier S. 109). 23 Haug, Frigga: Lesbe oder Hetera? Heldinnen für unsere Befreiung. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 96–101, hier S. 99.

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noch nicht in den Mainstream-Medien verbreitet war – gesellschaftliche Veränderungen anregen. Andererseits reproduzierten einige dieser Krimis auch konservative Einstellungen, hegemoniale Körperbilder und eine Mystifizierung von Sexualität.24 Daher werden die literarischen Darstellungen von lesbischem Sex im vierten »Ariadne Forum« als Schwerpunkt diskutiert. Sexszenen als Bestandteil der Handlung von Lesbenkrimis werden von vielen Leserinnen eingefordert, zugleich aber kritisiert, wenn Schönheitsideale nicht hinterfragt werden oder idealisierter Sex dargestellt wird, der in ekstatische Zustände führt, die sich scheinbar dem sprachlichen Zugriff entziehen und so die in der Tabuisierung von Sexualität begründete Sprachlosigkeit fortschreiben.25 Die Positionen zur feministischen Ausrichtung der Krimis bewegen sich im »Ariadne Forum« zwischen ideologisch begründeter Kritik, die den politischen Gehalt der Krimis in den Vordergrund stellt, und dem literarischen Anspruch, in erster Linie gute Unterhaltung auf hohem Niveau zu erwarten, dem eine feministische Haltung zugrunde liegt, ohne »ins Doktrinäre abzugleiten«.26 An den Diskussionen zeichnen sich die mit politischen Richtlinien für literarische Werke verbundenen Probleme ab, auf die auch von den Verlegerinnen und Lektorinnen immer wieder hingewiesen wird. Die transparente Darstellung der politischen Ansprüche der Reihe führte dazu, dass die Bücher auch an einem politischen Programm gemessen werden konnten und so Kritik auf verschiedenen Ebenen herausforderten. Die Paratexte, die den Krimis voran- oder nachgestellt sind, machen eine Besonderheit der Ariadne-Reihe aus und erhöhen die diskursive Einbindung der Krimis, indem sie die Intention der Reihe darstellen oder Diskussionsanstöße zu dem jeweiligen Krimi liefern. Zum Teil stehen am Ende der Romane Fragen an die Leserinnen, die dann im »Ariadne Forum« veröffentlicht und teilweise wiederum von der Redaktion oder auch den Autorinnen kommentiert wurden, so dass ein dynamischer Austausch zwischen Produktionsund Rezeptionsseite stattfinden konnte.27 Ab 1989 wurden die Vorwörter durch Nachwörter ersetzt, »um Leserinnen erst das Lesevergnügen […] zuteil werden zu lassen, bevor sie auf einer abstrakteren Ebene zum Mitdenken und Mithandeln aufgefordert werden.«28 24 Vgl. Brzakala, Maike: Mordlust. Let’s read about Sex. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 44–49, hier S. 47. 25 Vgl. ebd. 26 Brigitte [N.N.]: 1 x Fruchtwasser + 56 Treffer! [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/ 95), S. 10–11, hier S. 10. 27 Kontrovers wurde beispielsweise die Darstellung lesbischer Figuren und sexueller Szenen in J.M. Redmanns Mississippi (1994) diskutiert, bei dem die einander z. T. widersprechenden Voten der Redaktion im Krimi mit der Aufforderung an die Leserinnen abgedruckt wurden, sich an der Diskussion zu beteiligen. Vgl. [N.N.]: Mississippi. Die Ballade vom KV ohne Gnade? In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 16–22. 28 Laudan, Else: Unsere Krimiheldinnen, S. 48. Hervorhebung im Original.

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Die geforderte Aktivität der Leserinnen führte zu einer starken Identifikation mit dem ›Kulturprojekt‹, so dass sich durch die Einbindung der Leserinnen in den Beiträgen eine große Bandbreite feministischer Strömungen der 1990er Jahre mit den einander teilweise widersprechenden Ansätzen widerspiegelt. Hinzu kommen Unterschiede im Literaturverständnis und differierende Perspektiven aus der schriftstellerischen Produktion über die Auswahl und den Vertrieb sowie die Rezeption der Bücher. Nicht wenige der Autorinnen – so lässt es sich zumindest aus den verschiedenen Interview-Formaten im »Ariadne Forum« schließen – wenden sich gegen ein politisches Programm ihrer Krimis und suchen eher das subversive Spiel mit Normen und Erwartungen, wodurch häufig eine selbstbezügliche und z. T. ironische Auseinandersetzung mit genretypischen und feministischen Anforderungen in den Texten stattfindet. Die Kritik, es sei überhöht, an Kriminalromane den Anspruch zu stellen, sie sollten als ›Bausteine für eine feministische Kultur‹ fungieren29, ebenso wie die Kritik, der Feminismus-Begriff der Krimi-Reihe sei nicht klar genug definiert, steht der Einschätzung gegenüber, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit Geschlechterdifferenzen aus wissenschaftlichen und theoretischen Kontexten in den »Krimis mit Leben gefüllt [werden]«30, wozu gerade die Diversität der Frauenfiguren und der unterschiedliche literarische Umgang mit feministischen Forderungen beiträgt. In den folgenden Überlegungen werden daher die unterschiedlichen Darstellungen von Ermittlerinnen sowie gemeinsame Merkmale und Variationen wesentlicher Themen der feministischen Krimis im Kontext der Debatten im »Ariadne Forum« beleuchtet, wobei die »knallharte Superdetektivin […] ebenso vertreten [ist] wie die unbeholfene Antiheldin.«31

Feministische Idealfigur, naive Antiheldin oder »Macho-Plagiat« – Ermittlerinnen zwischen Care-Arbeit und Gender-Performance Die Ermittlerinnen sind ein besonders umstrittenes Thema in den Forumsbeiträgen von Leserinnen. Entscheidend für die Beurteilung der Figuren ist häufig das von ihnen gebotene Identifikationspotential. Wie lebensnah die Figuren dafür gezeichnet sein sollen, ob sich dafür vor allem starke und unabhängige Feministinnen eignen, ist jedoch eine äußerst kontrovers diskutierte Frage. Die Protagonistinnen in den deutschsprachigen Ariadne-Krimis, die den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt wurden, reichen von der naiven Amateur-Ermittlerin, die einen männlichen Beschützer sucht, über die lesbische Kriminal29 Schmitt, Beatrice: Hochs und Tiefs [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 101. 30 Braun, Susanne: Gelb-schwarzer Block [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 87. 31 Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi?, S. 6.

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kommissarin mit Macho-Allüren bis zum kindlichen Opfer sexualisierter Gewalt, das seine kriminellen Fähigkeiten anhand medial vermittelter Kriminalfälle entwickelt. Der Umgang mit weiblichen Rollenmustern ist in den Krimis mehr oder weniger explizit immer ein Thema.32 Dabei geht es um geschlechtsspezifisch konnotierte Eigenschaften, um Selbst- und Fremdwahrnehmung, um die Aneignung neuer Räume und traditionell männlich dominierter Lebensbereiche. Insgesamt wird der Alltag berufstätiger Mütter vermehrt in die Krimihandlung einbezogen. Auch wenn Mutterschaft in den hier betrachteten frühen deutschsprachigen Krimis kein großes Thema ist, wird häufig die Betreuung von Kindern thematisiert bzw. – in der Charakterisierung einzelner Figuren – werden die mit Mütterlichkeit assoziierten Eigenschaften verhandelt und dekonstruiert. So erscheint beispielsweise die Kriminalkommissarin Bettina Boll in Monika Geiers Wie könnt ihr schlafen (1999) zunächst in der Rolle einer überforderten »Mami«33 mitten im Alltag mit Kleinkindern, die sich ihre Zigarettenkippen in den Mund stopfen. Auch als sich kurz darauf herausstellt, dass es die Kinder ihrer kranken Schwester sind, die sie gezwungenermaßen betreut, prägt die Verantwortung für die Kinder ihren Einstieg in den Kriminalfall und die Auseinandersetzung mit ihrem Vorgesetzen, der kein Verständnis für die Betreuungsfrage aufbringt.34 Wenn Mutterschaft und private Kinderbetreuung keine Rolle spielen, wird dies jedoch auch thematisiert, wie in dem Krimi Die letzte Stunde (1995) von Lisa Pei, deren Protagonistin verdeckt in einer Grundschule ermittelt. Nach einer ersten Berufsphase als Grundschullehrerin macht sie die Ausbildung bei der Polizei und wird Kriminalhauptkommissarin, weil sie in ihrem Berufsalltag und in der Konfrontation mit Kindesmisshandlung feststellt, dass sie nicht ihr »Leben

32 Dabei ergibt sich Gabriele Dietze zufolge das Problem, dass »alternative Genderkonstruktionen nicht ex nihilo kreiert werden [können]« und daher »[alte] Genderarrangements als Codes, an denen es sich abzuarbeiten gilt«, die Texte weiterhin prägen (Dietze, Gabriele: Genre und Gender. ›Mainstreaming feminism‹ im weiblichen ›hard-boiled‹ Code. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 39– 73, hier S. 56–57. Hervorhebung im Original). 33 Geier, Monika: Wie könnt ihr schlafen. Hamburg: Argument 1999, S. 16. Im Folgenden abgekürzt als WKI. 34 In den Folge-Krimis mit dieser Kommissarin übernimmt sie noch stärker die Mutterrolle, da ihre Schwester verstorben ist, so dass sie Polizeiarbeit und Kinderbetreuung vereinen muss. Diese Thematik der ›Doppelbelastung‹ wird immer wieder aufgegriffen, so z. B. auch in dem in der ›Zweiten Reihe‹ bei Ariadne erschienenen Kriminalroman Jedem nach seiner Leistung von Frigga Haug, in dem eine alleinerziehende Mutter zur Amateurermittlerin wird und zwischen Kindergarten und Uni hin- und her hetzt, um alles unter einen Hut zu bekommen. Siehe Haug, Frigga: Jedem nach seiner Leistung. Hamburg: Argument 1995.

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lang hilflos vor den Opfern stehen [will, sondern] […] die Täter jagen.«35 Sie wechselt also von einem typischen ›Frauenberuf‹ in ein männlich dominiertes Arbeitsfeld und eignet sich männlich konnotiertes Auftreten an. Gleich zu Beginn des Romans wird festgestellt, dass ihre jahrelange Beurlaubung nicht mit »Kinderaufzucht« (DLS, 12) zusammenhing. Ähnlich wie bei Geier wird die Protagonistin gerade durch das Fehlen typisch ›mütterlicher‹ Attribute charakterisiert. In Ann Camones’ Krimi Verbrechen lohnt sich doch! (1995) findet sich eine andere Ausprägung des Themas, da die kindliche Protagonistin Erzi auf der Suche nach Ersatzeltern ist. Ihre alkoholabhängige Mutter, die ihr Kind als »parasitäre[n] Bastard«36 empfindet, und ihr seit Jahren im Koma liegender vermeintlicher Vater sind nicht in der Lage, sie zu versorgen und lassen in jeglicher Hinsicht elterliche Fürsorge vermissen. Neben der lesbischen Tante, die eigentlich keine Kinder möchte, übernimmt vor allem der naive aber sympathisch gezeichnete Großvater die Care-Arbeit und versucht, ihr »Vater und Mutter [zu] ersetzen« (VLS, 35). Die Umkehrung von Geschlechterrollenzuschreibungen, die viele der Protagonistinnen kennzeichnet, zeigt sich bei Camones auch an dieser männlichen Figur, die fürsorglich und emotional, schüchtern und oft hilflos ist.37 Zugleich wird der Großvater auch als liebenswert und engagiert gezeichnet, so dass sich hier durchaus ein neues Männerbild erkennen lässt38, das zugleich ironisch in den Kontext klassischer Film-Noir-Helden gestellt wird: Es schien ihm zu gefallen, für diesen Filmtypen gehalten zu werden, der Robert Bitchum hieß oder so ähnlich. Seitdem war Erzi noch begeisterter von ihrem Opa, der im wirklichen Leben herumwandelte, als wäre dieser Filmsheriff auf die Erde herniedergestiegen, um sich pädagogisch zu betätigen. (VLS, 43)

35 Pei, Lisa: Die letzte Stunde. Hamburg: Argument 1995, S. 267. Im Folgenden abgekürzt als DLS. 36 Camones, Ann: Verbrechen lohnt sich doch! Hamburg: Argument 1995, S. 156. Im Folgenden abgekürzt als VLS. 37 Zur Frage, inwiefern die Geschlechterrollen in Frauenkrimis ausgetauscht werden bzw. ob männliche Figuren überflüssig werden, ob sie nur als Bösewichte auftauchen oder ob ein neues Männerbild entworfen wird, siehe auch den Essay von Martin Grundmann: Der Abschied vom männlichen Helden. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 90–114, hier S. 90. 38 Frizzoni stellt allerdings heraus, dass in den Krimis überwiegend »bezüglich der Geschlechter eine Tendenz zur Schwarzweissmalerei besteht. Männer werden im Frauenkrimi negativer als Frauen gezeichnet und manchmal als Inbegriff des gewalttätigen Sexualverbrechers porträtiert« (Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen, S. 102). Auch die Ariadne-Macherinnen sehen diese z. T. problematische Tendenz. Ihnen ist es wichtig, dass die Gewalt innerhalb gesellschaftlicher Strukturen dargestellt wird und nicht auf einen psychopathischen Täter projiziert wird. Vgl. Fath, Cora: Kommentar zum Thema »Frauen und Rache«. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 72.

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Die hier angedeutete Einbettung der Krimifiguren in das ›wirkliche Leben‹ verweist auf die Tendenz, Bereiche wie Care-Arbeit und Alltagsanforderungen, die häufig ausgeklammert werden, in den Krimiplot zu integrieren.39 Insbesondere die Integration von Kindern ist in den Anfängen des feministischen Krimis sehr präsent und bildet daher einen Themenschwerpunkt im fünften »Ariadne Forum«.40 Der Kommentar von Gabriele Geliens Protagonistin in Eine Lesbe macht noch keinen Sommer (1993) zu diesem Thema lässt sich auf traditionelle Krimis bezogen lesen und markiert zugleich ironisch die kontinuierlich wiederholte Distanzierung von vermeintlich politisch korrekten ›Frauenkrimis‹ und vom Krimigenre allgemein: »Ich kann mich nicht erinnern, je von einer Detektivin gehört zu haben, die Kinder hatte oder betreuen mußte, das kann allerdings auch an meiner Unbelesenheit liegen.«41 Die mit Mutterschaft und Weiblichkeit assoziierten Eigenschaften stehen in mehrerer Hinsicht im Widerspruch zu unabhängigen Einzelgängern als Krimihelden42 und diese Diskrepanz wird häufig auch durch intertextuelle und intermediale Bezüge thematisiert – wie in dem oben zitierten Verweis auf den Philip Marlowe-Darsteller Robert Mitchum. Insgesamt zeichnet sich die »Parodie als […] Verfahren ab […], mit dessen Hilfe sich der Frauenkrimi aus seinem generischen, maskulin konnotierten Rahmen löst.«43 Es finden sich einerseits Ariadne-Krimis, die einen Gegenentwurf zu männlich geprägten Heldenkonzepten aufzeigen, indem sie die emotionale Unterstützung und die soziale Einbindung der Figuren in den Fokus rücken und

39 In Sonja Lasserres Krimi Gestern, heute und kein Morgen werden plötzliche Todesfälle im Altersheim untersucht und dabei der Pflegealltag sowohl aus der Sicht der Amateurermittlerinnen – einer Ärztin und einer Reinigungskraft – als auch aus der Sicht der Pflegekräfte einbezogen; der ermittelnde Kommissar wird dagegen nur am Rande erwähnt, so dass eine Verschiebung hin zur Fokussierung auf marginalisierte Perspektiven vorgenommen wird. Siehe Lasserre, Sonja: Gestern, heute und kein Morgen. Hamburg: Argument 1991. 40 Iris Konopik weist in ihrem Beitrag zu diesem Themenschwerpunkt darauf hin, dass zwar mit der Einbindung von ›Frauenalltag‹ für viele Leserinnen realistische Situationen aufgegriffen werden, dass aber »ein Großteil des Identifikationspotentials im ›Utopischen‹ dieser Detektivinnen-Mütter [liegt]«, die trotz aller Alltagsherausforderungen und der Doppelbelastung erfolgreich sind (Konopik, Iris: Kids im Krimi 2. Kinder im Detektivinnenalltag. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 25–31, hier S. 31). 41 Gelien, Gabriele: Eine Lesbe macht noch keinen Sommer. Hamburg: Argument 1993, S. 139. Im Folgenden abgekürzt als ELM. 42 Vgl. Konopik, Iris: Kids im Krimi 2, S. 28. 43 Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie. Eine Projektskizze. In: Neuendorff, Dagmar (Hg.): Alles wird gut. Beiträge des Finnischen Germanistentreffens 2001 in Turku/Abo, Finnland. Frankfurt (Main)/Berlin/Bern: P. Lang 2005, S. 173–183, hier S. 173. Tielinen stellt zudem fest, dass bei der »Geschlechtsumwandlung […] das ursprüngliche Modell teilweise auf den Kopf gestellt [wird], denn der Hardboiled-Detektiv personifiziert in der Regel radikal männliche Eigenschaften wie Gewalttätigkeit und Chauvinismus« (ebd., S. 178).

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andererseits gibt es Ermittlerinnen, die das hardboiled-Konzept aufgreifen und zugleich unterlaufen. Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Krimi Die letzte Stunde von Lisa Pei, deren hartgesottene Kommissarin die Sorge- und Erziehungsarbeit der Grundschullehrerinnen mit klischeehaft weiblichen Verhaltensweisen verknüpft und scharf angreift: Ihnen fehle die nötige Skrupellosigkeit, um wirklich etwas zu verändern, ihre Solidarität beschränke sich auf gemeinsame Gefühlsausbrüche und das »ewige Harmoniebestreben von Frauen« verhindere echte Solidarität (vgl. DLS, 94–96). Die Ermittlerin beherrscht dagegen die Regeln im »Pokerspiel der Gewalt« (LS, 207), was jedoch durch den tragischen Ausgang der Geschichte nicht affirmativ als Lösung dargestellt wird und insofern im Sinne der AriadneReihe keine Selbstjustiz propagiert. Durch die in zwei Handlungssträngen auf verschiedenen Zeitebenen von einer heterodiegetischen Erzählinstanz vermittelte Geschichte der Protagonistin, die zunächst nicht als dieselbe Person identifizierbar ist, bildet die narrative Struktur die Abspaltung der traumatischen Vergangenheit ab. Die Erinnerung an die als Kind erlebte sexualisierte Gewalt wird erst am Ende des Romans durch die Erwähnung des titelgebenden Motivs der ›letzten Stunde‹ ausgelöst, das im Zusammenhang mit den traumatisierenden Erfahrungen steht. Die Protagonistin deutet das Motiv allerdings um, indem sie es auf die ihm immanente Todesanspielung bezieht und erst den Täter, dann sich selbst tötet (vgl. LS, 284–287). Diese Aneignung und Umdeutung von Sprache greift die Aneignung potentiell gewalttätiger Eigenschaften auf, die die Ermittlerin als »Macho-Plagiat« (LS, 134) erscheinen lassen. Das männlich konnotierte Verhalten prägt die sexuellen Begegnungen mit ihrer Geliebten, die sie dafür kritisiert, es ermöglicht ihr zugleich aber auch die nötige Härte für das Überleben der sexualisierten Gewalt, so dass es zu einer Transformation der Opferrolle kommt, bei der sie die Passivität durchbricht. Durch die Spaltung der Person und den daraus resultierenden Verlust an Emotionalität und Empathie wird der Umgang mit Geschlechterrollen innerhalb patriarchaler Machtverhältnisse reflektiert. Einen Gegenentwurf zu der anfänglich rein emotionalen Solidarität auf der einen Seite und dem gewaltvollen Racheakt auf der anderen Seite stellt die Solidarität gegen den autoritären Führungsstil des Schulleiters dar, die sich unter den Lehrerinnen entwickelt und zu wirklicher Veränderung führt.44 44 Die Solidarität unter Frauen ist, wie eingangs erwähnt, ein wesentliches Merkmal feministischer Krimis. Ein Ariadne-Krimi, in dem Frauensolidarität auf allen Ebenen vorgeführt wird, ist Kim Engels’ Zur falschen Zeit am falschen Ort, in dem vier Frauen auf der Flucht vor männlichen Verbrechern, überall in Europa Unterstützung durch Frauen erfahren und auch die gegenseitige emotionale Unterstützung durchgehend thematisiert wird. Eine Verbrechensaufklärung findet dagegen nicht statt, so dass die Leserinnen ebenso unwissend über Motive und Umstände des Verbrechens sind wie die Figuren. Siehe Engels, Kim: Zur falschen Zeit am falschen Ort. Hamburg: Argument 1991. Die Neigung feministischer Krimis zum

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Auch Monika Geier greift mit ihrer Kommissarin Bettina Boll Charakterzüge des traditionell männlichen Ermittlers als Einzelgänger und Außenseiter auf; sie ernährt sich schlecht, schläft zu wenig und achtet kaum auf ihr Äußeres. Bei ihr ist die Übernahme männlich konnotierter Verhaltensweisen allerdings Teil eines bewussten Spiels mit den Geschlechterrollen, die sie geschickt für ihre Ermittlungen nutzt: »Sie zwinkerte ebenso aufdringlich, wie er es vor nicht fünf Minuten getan hatte, und es befriedigte sie, dass der Mann im Krankenhausbett rot wurde.« (WKI, 218) Nachdem sie den Verdächtigen in die Enge getrieben hat, blickt er »die Kommissarin an, als habe sie sich in eine völlig neue Person verwandelt. Ganz süßes Mädchen, hatte er gedacht […]. Und nun hatte sich herausgestellt, dass sie noch schlimmer war als eine dieser unerträglichen Emanzen.« (WKI, 219) Auch eine spießbürgerliche Hausfrau provoziert sie zu belastenden Äußerungen, die einen Blick hinter die schöne Fassade eröffnen, indem sie Verständnis für Fragen der Haushaltsführung, die Farbauswahl bei Tupperdosen und Mitgefühl für den Ärger mit der Reinigungskraft suggeriert (vgl. WKI, 206). In beiden Fällen bedient sie sich eines geschlechtsspezifischen Verhaltenscodex und nimmt die für die jeweilige Situation erfolgsversprechende Rolle ein; sie irritiert ihr Gegenüber durch Nachahmung und anschließende Brüche in ihrem Verhalten.45 Brigitte Frizzoni beschreibt diese häufig zu beobachtende Strategie wie folgt: Mitunter schlüpfen die Detektivinnen für ihre Ermittlungen […] ganz bewusst in die Rolle der Klischee-Frau und ›verkleiden‹ sich förmlich. Sie inszenieren Weiblichkeit als Rollenspiel und setzen praktisch um, was feministische Theoretikerinnen wie Luce Irigaray ›playing with mimesis‹ nennen.46

Während sich an manchen Ermittlerinnen eine solche bewusste Gender-Performance zeigt und sie sich souverän der Geschlechterklischees bedienen, erfüllt die Amateur-Ermittlerin in Dagmar Scharsichs Die gefrorene Charlotte diese Klischees zunächst unbewusst. Wiederholt weisen Ariadne-Leserinnen auf ihren Unmut angesichts der Hauptfigur Cora Ost hin, die »dumm, naiv, unselbstständig« und »[a]us feministischer Sicht […] eine Katastrophe«47 sei. An einem offenen Ende und zu vielen Leerstellen unterläuft »eine der hartnäckigsten Erwartungen der Krimileser, indem sie ihnen das Vergnügen am gelösten Fall vorenthalten und die gattungsinternen ›Regeln‹ parodieren« (Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie, S. 182). 45 »Die konstruktivistische Perspektive auf sozial verhandeltes Geschlecht und damit die Aufnahme zentraler Debatten der poststrukturalistischen Gendertheorie in die Kriminarration ist ein Merkmal vieler ›Frauenkrimis‹« (Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 127). 46 Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen, S. 92. 47 Walter, Heidrun: Undenkbar dumm [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 105.

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leitmotivisch wiederkehrenden Motiv des Romans zeigt sich allerdings, wie sich das Bewusstsein der Ich-Erzählerin verändert und sie strategisches Handeln und selbstständiges Denken erlernt: Der offenstehende Mund symbolisiert zu Beginn die Ahnungslosigkeit und Naivität der Figur, wird jedoch am Ende bewusst von ihr eingesetzt, um die männlichen Figuren über ihre Nachforschungen zu StasiVerwicklungen und damit verbundene Erkenntnisse zu täuschen: »[Ich] klappte meinen Mund auf und ließ ihn offenstehen. […] Es funktionierte ganz gut. Er glaubte, was er sah.«48 So kopiert Cora das Bild der eigenen Infantilisierung und wendet es gegen die Bevormundung durch ihre vermeintlichen Beschützer, die ihr sozial, intellektuell oder körperlich überlegen sind und ihr Handlungsanweisungen geben. Die Infantilisierung und der offenstehende Mund korrelieren mit der wertvollen Puppensammlung, die sie von ihrer Tante geerbt hat, denn Cora teilt auch das Merkmal des offenstehenden Mundes mit der in ihrer Bewegung erstarrten Puppe: »Die kleine Charlotte auf meiner Handfläche streckte die Arme aus und sperrte den Mund auf.« (DGC, 347) Eigentlich will Cora sich »in diese Puppenwelt [fallenlassen] und einfach gar nichts […] machen« (DGC, 97). Doch sie schafft es letztlich, sich aus dieser Erstarrung zu lösen. Die Entwicklung von statischer Passivität zu dynamischer Aktivität wird über das Puppenmotiv von der individuellen auf die gesellschaftliche Ebene projiziert. Nachdem die Stasi-Machenschaften im Zusammenhang mit dem Erbe aufgeklärt sind, nimmt Cora an politischen Protesten teil, so dass der Roman mit Diskussionen in ihrem neuen Freundeskreis nach der »größte[n] Demonstration in der Geschichte der DDR« (DGC, 438) und mit dem Ausblick auf die bevorstehende Öffnung der Grenzen endet. Wenn auch die Voraussetzungen der Protagonistinnen sehr unterschiedlich sind, so lässt sich die Entwicklung der Handlungsfähigkeit als gemeinsames Merkmal abstrahieren.49 Insbesondere wenn es um sexualisierte Gewalt gegen Kinder geht, wie in den Krimis von Lisa Pei und Ann Camones, wird diese Handlungsfähigkeit der Ohnmacht entgegengesetzt, die durch das Kind als Inbegriff des wehrlosen Opfers besonders deutlich hervortritt. In Camones’ Krimi Verbrechen lohnt sich doch! ist diese Diskrepanz noch verschärft, da die achtjährige Protagonistin selbst einen klug durchdachten Plan entwirft, der den Tod 48 Scharsich, Dagmar: Die gefrorene Charlotte. Hamburg: Argument 1993, S. 363. Im Folgenden abgekürzt als DGC. 49 Auch wenn die Ariadne-Redaktion sich prinzipiell gegen eine Bejahung von Selbstjustiz und die Ästhetisierung von Gewalt in den Krimis ausspricht, gibt es doch häufig Protagonistinnen, die zu Täterinnen werden und manchmal auch Rache nehmen. Else Laudan weist in ihrem Beitrag zu Täterinnen in Frauenkrimis darauf hin, dass diese Täterinnen »etwas kulturell Subversives [haben]: Sie setzen einen Kontrapunkt gegen das gängige Bild der weiblichen Nicht-Aggressivität« (Laudan, Else: Sie war einsam, aber schneller. Ein Streifzug durch Frauenkrimis auf der Suche nach Täterinnen. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 108–113, hier S. 113).

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des Täters durch eine fingierte Entführung vertuschen soll und letztlich die ihrem Gerechtigkeitssinn entsprechende Rache darstellt. Während die Erwachsenen mit der Extremsituation völlig überfordert sind, setzt Erzi alle kriminellen Fähigkeiten ein, die sie durch Medienkonsum und die Nachahmung kleinerer Kriminaldelikte erlernt hat und übernimmt das Kommando, damit alles so läuft »wie im Krimi.« (VLS, 274) »Die entführerische Erfahrung eines ganzen Lebens war in dieses Projekt eingeflossen, und sie hatten einen großen Coup gelandet, fast spielerisch und quasi nebenbei. So mußte Verbrechen sein, so machte es erst richtig Spaß.« (VLS, 321) Dieses spielerische Moment prägt Camones’ Krimi insgesamt und entspricht Regula Venskes Feststellung im fünften »Ariadne Forum«, dass »Kriminalromane, in denen Kinder selbst aktiv werden, häufig parodistisch mit dem Genre spielen und sich humoristischer oder ironischer Stilmittel bedienen.«50 Auch wenn die Darstellung von sexualisierter Gewalt in Leserinnenbriefen kritisiert und vor allem die psychische Verfassung des Kindes als unrealistisch beanstandet wird, ist es doch gerade diese überspitzt gezeichnete Selbstermächtigung, die dem Ohnmachtserleben utopisch entgegengesetzt wird. Über die Fokalisierung auf eine kindliche Perspektive schreibt sich die heterodiegetische Erzählinstanz implizit als »Schicksalsausgleichzentrale« in die kindliche Gerechtigkeitsvorstellung ein: Auch die SAZ, die Schicksalsausgleichzentrale, war etwas, was sie sich ausgedacht hatte – das war ihr immer bewußt gewesen. Doch ab heute erhob sie sie in den Rang einer Wirklichkeit. Ich danke euch, ihr ollen Beamten auf Ewigkeit, ihr habt mir immer gute Ideen geschickt. (VLS, 322)

Diese Neubewertung des Realitätsstatus einer Imagination ist eingebettet in Erzis Überlegungen zum Zusammenhang von Fiktion und Wirklichkeit, bei denen sie feststellt, dass auch ausgedachte Geschichten eine ebenso große Wirkung entfalten können wie reale Ereignisse. Der sozialkritische Realismus feministischer Krimis wird durch die selbstbezügliche Auseinandersetzung mit Fiktionalität, die im Folgenden näher betrachtet werden soll, spielerisch um ein utopisches Konzept der Selbstermächtigung erweitert.

50 Venske, Regula: Kindermörder – Mörderkinder. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 32–37, hier S. 34.

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»Wir sind hier nicht bei Tatort« – Genrebrüche und Selbstreflexion In den Themenbereichen ›Mutterschaft‹ bzw. Fürsorge für Kinder, dem spielerischen und subversiven Umgang mit Geschlechterrollen, bei dem auf bekannte Krimihelden Bezug genommen wird, und der Ermächtigung von Figuren, die aus der klassischen Opferrolle heraus den Machtverhältnissen eigene Handlungsstrategien entgegensetzen, haben sich bereits inhaltliche Abweichungen von Genretraditionen gezeigt. Einige dieser Aspekte werden im Folgenden hinsichtlich der Brüche mit Genretraditionen und insbesondere der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem Genre beleuchtet. Regula Venske äußert in einem Interview im »Ariadne Forum«, dass – auch wenn Alltagsroutinen seit James Joyces längst Teil der Literatur seien –, der Alltag von Hausfrauen und Müttern noch immer nicht literaturfähig sei.51 Aber nicht nur die Thematisierung von Sorgeaufgaben bricht mit der Tendenz des Genres, Alltagsverrichtungen und persönliche Bedürfnisse auszublenden.52 Gerade in der intertextuellen und größtenteils ironischen Bezugnahme auf männliche Ermittler in der Kriminalliteratur werden solche Unterschiede in den Krimis akzentuiert. Ein prägnantes Beispiel dafür zeigt sich bei der australischen Schriftstellerin Marele Day, deren Krimis in deutscher Übersetzung bei Ariadne erschienen sind. Ihre Protagonistin soll Day zufolge – nicht nur im Gegensatz zu männlichen Vorgängern, sondern auch im Gegensatz zu Miss Marple, die auf ihren scharfen Verstand reduziert ist – »ein ganzheitliches Leben [führen]«.53 In diesem Sinne greift Day die Tradition des hardboiled detective auf und transformiert sie zugleich: Die Protagonistin gibt ihrem Schlafbedürfnis nach und versteht nicht, »wie Philip Marlowe und Konsorten ein ganzes Buch hindurch auf Achse sein können, sich anschießen, zusammenschlagen und gelegentlich vernaschen lassen, ohne dabei je ins Bett zu gehen.«54 Frizzoni stellt in diesem Zusammenhang die Tendenz vieler Frauenkrimi-Autorinnen fest, »ironisch Bezug auf ihre männlichen Vorgänger [zu nehmen, und] […] deren SupermannAllüren [zu persiflieren].«55 So weist auch Bettina Boll ihren klagenden Kollegen zurecht, dass sie »nicht bei Tatort« seien und ihr »Beruf […] langweilig, ge51 Vgl. Rousseau-Reusch, Murielle: Auf keinen Fall den Regeln folgen. Interview mit Regula Venske. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 49–50, hier S. 49. 52 Zwar wird auch bei den Ermittlerinnen häufig die schlechte und unregelmäßige Ernährung, der hohe Kaffeekonsum und der fehlende Schlaf thematisiert, es finden sich aber immer wieder Hinweise auf Selbstfürsorge, wie bei Gelien, deren Protagonistin – anstatt zur Flasche zu greifen – »ein hochdosiertes Beruhigungsbad« nimmt und sich anschließend schlafen legt (ELM, 75). 53 Laudan, Else: »Auch eine imaginäre Person prägt eben…« Interview mit Marele Day. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 46–50, hier S. 50. 54 Ebd., S. 49. 55 Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen, S. 94.

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fährlich und schlecht bezahlt« sei (WKI, 277). Später hat er allerdings bei der Rettung seiner Chefin noch Gelegenheit, seine Pistole zu ziehen und »wie all seine Helden aus den Western und Krimis« (WKI, 311) zu reagieren. Im Gegensatz zu dieser ironischen Sicht auf den Kollegen ist die Darstellung männlicher Figuren bei Dagmar Scharsich durch den Blick der bereits erwähnten naiven Ich-Erzählerin gefiltert, die in fast allen Punkten im Kontrast zu »knallharte[n] Superdetektiv[en]« (DGC, 301) wie Philip Marlowe steht und die Stärke ihrer vermeintlichen Beschützer bewundert: »Jetzt stand er genauso da wie dieser superharte Detektiv aus den Chandler-Romanen. Mir fiel nur sein Name nicht ein. Auf jeden Fall sah dieser Bulle jetzt beinahe so aus wie Humphrey Bogart.« (DGC, 301)56 Unterlaufen wird diese Wahrnehmung aber durch den vergessenen Namen und die Tatsache, dass keine der männlichen Autoritätspersonen sie tatsächlich beschützen kann, so dass die Geschlechterrollen am Ende dekonstruiert werden. Die intertextuellen und intermedialen Verweise auf Krimihelden werden ergänzt durch Genrereflexionen, die die Regeln des Kriminalromans insgesamt betreffen. Die Reflexionen über Krimis finden sich als ironische Verweise auf ungewöhnliche Situationen, bei denen sich die Figuren ›wie in einem Krimi‹ fühlen57, als kindliches Nachspielen von Kriminalfällen, wobei die Regeln des Genres nebenbei abstrahiert und verinnerlicht werden58 und als metafiktionale Einschübe dienen, die das Schreiben von Kriminalliteratur fokussieren. Besonders ausgeprägt ist das Spiel mit den Realitätsebenen in Gabriele Geliens autofiktionalem Krimi Eine Lesbe macht noch keinen Sommer, in dem die Protagonistin nicht nur den Namen der Autorin trägt, sondern vehement – auch unter Verweis auf die Paratexte – die Identität von Autorin und Protagonistin betont.59 Im Widerspruch zu dem Hinweis der Ich-Erzählerin, es handle sich um einen faktualen Bericht (vgl. ELM, 9), den sie rückblickend im Gefängnis auf Speiseplänen verfasst habe (vgl. ELM, 5), stehen allerdings die kontinuierliche selbst-

56 Während der »Lederjackenbulle« (DGC, 229) mit Kriminalliteratur und -film assoziiert ist, steht Cora im literarischen Kontext von bedrohten weiblichen Märchenfiguren: sie fühlt sich »verlassen wie Rotkäppchen« (ebd., S. 130) oder »hilflos und alleine gelassen wie Blaubarts Braut vor der dreizehnten Zimmertür« (ebd., S. 225). 57 Auch das Lesen von Krimis wird häufig thematisiert: »Ich lese Krimis ganz gern, aber ich möchte sie eigentlich nicht erleben.« »[…] Übrigens fürchte ich, du steckst schon mitten drin in einem Krimi.« (DLS, 58). 58 Erzi stellt »Kriminalitätsregeln« für sich auf, die sie aus Medienberichten und Splatter-Videos ihres Bruders ableitet (vgl. VLS, 49). 59 Zu der hier relevanten Definition von Autofiktionalität im Sinne Gérard Genettes vgl. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Winko, Simone/Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2009, S. 285–314, hier S. 302–304.

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reflexive Auseinandersetzung mit dem Krimigenre60 und weitere Fiktionalitätssignale, wie das Eingeständnis, reale Gebäude aus Gründen der narrativen Plausibilität an andere Orte verlegt zu haben (vgl. ELM, 73). Auch im Kontext der Verortung innerhalb der feministischen Berliner Lesbenszene, deren ungeschriebene Regeln ironisch überspritzt gezeichnet werden, zeigt sich die autofiktionale Konstruktion: So wird ein fiktiver Verein zitiert, der den ›Lesbenstatus‹ der Erzählerin überprüft und bewertet. Bei den Prüfungsfragen wäre sie beinahe durchgefallen und in der Bewertung durch den Verein wird wiederum ihr Krimititel sowie ihr Sprachgebrauch zum Anlass der Kritik: Sprüche wie ›Eine Lesbe macht noch keinen Sommer‹ erhärten den Verdacht, daß Gabriele Gelien uns nicht hundertprozentig zugewandt ist. Auch ihre nur teilweise feministische Sprache zeugt von einer patriarchalen Infizierung, die Gabriele Gelien nicht geneigt ist zu kurieren. (ELM, 13)

Zudem wird das eigene (Krimi-)Schreiben und die feministische Verortung in Hinweisen an die Lektorin, deren Vorname ebenfalls mit der realen Lektorin Else Laudan übereinstimmt, reflektiert. Diese Ansprachen an die »extrem weitsichtig[e]« aber »maßlos überarbeitet[e] [Lektorin]« (ELM, 8) durchziehen in eingeschobenen Klammern den gesamten Text und fingieren eine Kritik der Lektorin an dem Bruch mit Genreansprüchen: »Else, nerv mir bloß nicht damit rum, daß das ein Krimi und keine Autobiographie werden soll.« (ELM, 24) Oder später: »Don’t worry Else, es wird noch spannender!« (ELM, 58) Durch die ständige Thematisierung des Schreibvorgangs, durch die Leserinnen-Ansprachen und die Reflexion der Abweichungen von Krimikonventionen sowie die Unzuverlässigkeit der neurotischen Ich-Erzählerin, deren »logisches Denkvermögen« ihrer eigenen Aussage zufolge »katastrophal« ist und sich »zu 79,5 % auf hypochondrische Wahnvorstellungen [beschränkt]« (ELM, 7), weist Geliens Krimi viele der bereits von Maureen T. Reddy konstatierten Merkmale des Frauenkrimis auf: »Verletzung des linearen Handlungsverlaufs, die weitestgehende Abwesenheit von konventionell definierter Autorität und die Verwendung einer dialogischen Form.«61 Allerdings geht das postmoderne Spiel weit über die meisten Frauenkrimis hinaus, indem es die Subkategorie ›Frauenkrimi‹ und feministische Debatten – wie sie im »Ariadne Forum« geführt werden –

60 Die Protagonistin errechnet »in der Knastbücherei […] die durchschnittliche Seiten- und Buchstabenzahl eines Krimis«, um es mit ihrem Fortschritt beim Schreiben zu vergleichen (ELM, 30). 61 Reddy, Maureen T.: Detektivinnen. Frauen im modernen Kriminalroman. Mühlheim: Guthmann-Peterson 1990, S. 8.

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selbst parodistisch reflektiert und, wie Frigga Haug in ihrem Nachwort hervorhebt, »unaufhörlich Normalität [dekonstruiert]«.62 Else Laudan betont in ihrem Beitrag zu Genre-Brüchen im Frauenkrimi, dass viele Krimi-Autorinnen – wie Dorothy L. Sayers in den 1930er Jahren – durch die Wahl der Themen und Figuren schon immer Genre-Breakerinnen waren.63 Daneben lässt sich als ein wesentlicher Aspekt feministischer Krimis die Verschiebung der traditionellen schematischen Anordnung – Ordnung, Störung, Ermittlung, Wiederherstellung der Ordnung – feststellen, bei der »Verbrechen […] oft Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung und nicht Verletzung derselben«64 darstellen. Anders als viele ihrer hardboiled-Kollegen, die zwar Rechtsbrüche begehen und Gewalt einsetzen, allerdings die bürgerliche Moral auf ihrer Seite haben, widersetzen sich die Ermittlerinnen auch der patriarchal geprägten Moral, wenn es beispielsweise um Gewalt in der Ehe, um Homosexualität oder Abtreibung geht: »Der Krimi gerät vom Moralorgan (das Recht wird siegen) zur Stimme der Moralkritik (das Recht ist Unrecht).«65 So richtet sich die Wut der Ermittlerin Betina Boll nicht nur gegen die Vergewaltiger, sondern auch gegen die »ganze Scheißdorfidylle« (WKI, 231), die von der schweigenden Menschenmasse in einer Kirche verkörpert wird (vgl. WKI, 311) und über den die Bibel zitierenden Titel Wie könnt ihr schlafen auf die Verantwortung der christlichpatriarchalen Gesellschaft verweist, deren Strukturen Gewalt gegen Frauen verursachen und zugleich verleugnen. Diese sozialkritische Tendenz des feministischen Romans steht im Kontext der Entwicklung des Krimigenres seit den 1960er Jahren, »die Unterhaltungsqualität der Gattung mit gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Anliegen, sofern sie sich auf den Bereich Verbrechen und Verbrechensaufklärung beziehen lassen, zu verbinden« und damit die »Erstarrung des Kriminalromans in den historisch entstandenen, mehr oder weniger fest ausgebildeten Mustern«66 zu variieren und zu durchbrechen. Allerdings beziehen feministische Krimis häufig auf allen Handlungsebenen gesellschaftliche Machtstrukturen ein, so dass 62 Haug, Frigga: Nachwort zu ›Eine Lesbe macht noch keinen Sommer‹. Hamburg: Argument 1993, S. 250. 63 Vgl. Laudan, Else: Die Ausbrecherinnen. Frauenkrimis als ›Genre-Breaker‹: Ausnahmen zermürben die Regel. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 66–73. 64 Ebd., S. 70. 65 Ebd., S. 73. 66 Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2009, S. 136. »Diese Suche nach dem Anderen spiegelt sich oft auch in dezidiert ›anderen‹ Erzählweisen: Eine zentral wertende, rational operierende Erzählinstanz wird ebenso aufgegeben wie eine logisch-lineare, chronologische Handlungsstruktur. Stattdessen bestimmen Perspektivwechsel, narrative Vielstimmigkeit und dialogische Elemente die Darstellung […], was auch formal eine ›patriarchale‹, absolute Machtinstanz aufbrechen möchte« (Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, S. 341).

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der Spannungsaufbau über die Verbrechensaufklärung hinausweist und die Grauzonen und Ungerechtigkeiten der herrschenden Moral in den Blick nimmt.

Schluss Die Ariadne-Reihe hat seit einigen Jahren den Begriff ›Frauenkrimi‹ abgelegt, da er sich Else Laudan zufolge vom feministischen Kampfbegriff zur Marketingschublade entwickelt hat.67 Große Verlage haben schnell die Marktlücke entdeckt, so dass es zu einer Vereinnahmung des Genres durch den Mainstream kam68 bzw. eine Entwicklung »von seinen Anfängen als genderspezifisch markiertem Subgenre bis hin zu seiner unmarkierten ›Reintegration‹ ins Gesamtkrimiangebot«69 stattgefunden hat. Das Ariadne-Projekt, das »als feministische Eroberung des einstigen Macho-Genres Krimi« begann, versteht sich laut Verlags-Homepage auch heute noch als »ein Gegengewicht zur noch immer patriarchal dominierten Erzählhoheit«,70 das sich durch ein »Literaturprogramm mit […] kritischen Impulsen [auszeichnet]: Kriminal- und Noir-Romane, packende politische Schmöker, kluge und kühne Spannungsliteratur von Frauen für alle«.71 Die Debatten der 1990er Jahre um den Begriff ›Frauenkrimi‹, die in den vorangegangenen Ausführungen anhand des »Ariadne Forums« und der spezifisch literarischen Ausprägungen in den Ariadne-Krimis dargestellt wurden, können als direktes Ergebnis der zweiten Frauenbewegung verstanden werden. In diesem Kontext hatten die Krimis neben der unterhaltenden Komponente eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz und für viele der Leserinnen eine ermutigende Wirkung, wovon die Äußerungen in den Beiträgen zum »Ariadne Forum« zeugen. Auch die Frage nach der Intention der Literatur – sowohl hinsichtlich der Produktion als auch der Rezeption – sowie der dafür gewählten sprachlichen Mittel schlägt sich in den Krimis nieder. In Peis Die letzte Stunde wird über die Relevanz von »zweit- und drittklassigen Gedichten« als Versuch, sich gegen patriarchale Machtstrukturen zu wehren, diskutiert. Der Auffassung, diese seien nur eine »Flucht vor der Tat«, steht die Perspektive gegenüber, Kunst als »eine Form von Überlebenstraining« zu verstehen, bei der es weniger darum gehe, eine 67 Ich danke an dieser Stelle Else Laudan für ihre Auskunftsbereitschaft und gebe hier eine Äußerung aus einem Gespräch mit ihr vom 14. April 2022 wieder. 68 Vgl. Haug, Frigga/Laudan, Else: Kriminalromane als politisches Projekt: Aufstieg der AriadneReihe und die Mühen der Ebene. In: »Das Argument« 50.5 (2008), S. 545–561, hier S. 552. Bereits Mitte der 1990er Jahre brachte beispielsweise Bastei-Lübbe eine Frauenkrimi-Reihe heraus. 69 Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 169. 70 URL: https://argument.de/verlag / letzter Zugriff am 24. Mai 2023. 71 Ebd.

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Sprache zu sprechen, die von den Tätern verstanden wird, als vielmehr darum, »in unserer Sprache« zu sprechen (DLS, 180). Solche Dialoge um die Suche nach eigenen Ausdrucksformen verweisen auf die Selbstreflexivität der Krimis, die das von der Ariadne-Reihe beanspruchte Moment der Subversivität deutlich macht, da traditionelle Zuschreibungen inhaltlich und strukturell unterlaufen werden.72 Feministische Schreibstrategien, die »das Ziel [verfolgen], die männlich dominierten literarischen Diskurse in Bewegung zu bringen, indem sie diese durchqueren, verwirren und spielerisch transzendieren«73, zeigen die gesellschaftliche Relevanz und Sprengkraft fiktiver Gegenentwürfe zu realen Machtkonstellationen auf. Und so wird auch der Zusammenhang von Fiktion und Wirklichkeit in einigen der Krimis zum Thema, wie in Camones’ Verbrechen lohnt sich doch!, in dem die kindliche Protagonistin darüber nachdenkt, dass Figuren aus Filmen, Märchen und Legenden, die nur ausgedacht sind, trotzdem eine reale Wirkung haben: »Auch [ihre eigenen] ausgedachten Entführungen hatten gewirkt, waren so wirklich wie das Geld, das sie eingebracht, und die Entwicklungen und Zukunftsperspektiven, die sie ermöglicht hatten.« (VLS, 322) In diesem Sinne haben die feministischen Krimis der 1990er Jahre ›Zukunftsperspektiven‹ für das Krimi-Genre aufgezeigt und einen Grundstein dafür gelegt, den Begriff ›Frauenkrimi‹ überflüssig werden zu lassen74, da viele der Themen und genreübergreifenden Schreibweisen, die in der Anfangszeit noch skandalös für die Kriminalliteratur waren, inzwischen selbstverständlich geworden sind.

Literatur [N.N.]: Mississippi. Die Ballade vom KV ohne Gnade? In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 16–22. »Ariadne Forum. Bausteine für eine feministische Kultur« 1. Hamburg: Argument 1992/93. »Ariadne Forum. Bausteine für eine feministische Kultur« 2. Hamburg: Argument 1993/94. »Ariadne Forum. Bausteine für eine feministische Kultur« 3. Hamburg: Argument 1994/95. »Ariadne Forum. Der Frauenkrimi Almanach« 4. Hamburg: Argument 1996. »Ariadne Forum. Der Frauenkrimi Almanach« 5. Hamburg: Argument 1997/98.

72 So fragt beispielsweise Kemmerzell, ob »speziell der feministische Krimi subversive Elemente enthält, die das traditionelle Krimi-Genre dekonstruieren« (Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi?, S. 6). 73 Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie, S. 175. 74 Neben den Krimis der Ariadne-Reihe haben auch viele andere feministische Krimis der 1990er Jahre – insbesondere die Krimis von Pieke Biermann, Sabine Deitmer und Doris Gercke – diese Entwicklung entscheidend mitgeprägt. Vgl. zu den Krimis von Sabine Deitmer den Beitrag von Maike Schmidt im vorliegenden Band.

Kriminalromane als ›Bausteine für eine feministische Kultur‹

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Arendt, Gabriele: Konzept mit Altflöten. Ein Plädoyer für die klassische Ariadne-Seite. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 4. Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349. Braun, Susanne: Gelb-schwarzer Block [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 87. Brigitte [ohne Nachname]: 1 x Fruchtwasser + 56 Treffer! [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 10–11. Brzakala, Maike: Mordlust. Let’s read about Sex. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 44–49. Camones, Ann: Verbrechen lohnt sich doch! Hamburg: Argument 1995. Dietze, Gabriele: Genre und Gender. ›Mainstreaming feminism‹ im weiblichen ›hard-boiled‹ Code. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 39–73. Fath, Cora: Kommentar zum Thema »Frauen und Rache«. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/ 94), S. 72. Förster, Sabine: Fehlgriff [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 84. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95.1 (1999), S. 87–112. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im ›Frauenkrimi‹. Zürich: Chronos Verlag 2009. Geier, Monika: Wie könnt ihr schlafen. Hamburg: Argument 1999. Gelien, Gabriele: Eine Lesbe macht noch keinen Sommer. Hamburg: Argument 1993. Grundmann, Martin: Der Abschied vom männlichen Helden. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/ 94), S. 90–114. Haug, Frigga/Laudan, Else: Kriminalromane als politisches Projekt: Aufstieg der AriadneReihe und die Mühen der Ebene. In: »Das Argument« 50.5 (2008), S. 545–561. Haug, Frigga: Am Anfang störte es den Takt… In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 4. Haug, Frigga: Kontrapunkt: Bücher gegen den Zeitgeist? Erfahrungen beim Machen von Ariadne Krimis. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 7–9. Haug, Frigga: Lesbe oder Hetera? Heldinnen für unsere Befreiung. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 96–101. Haug, Frigga: Nachwort zu ›Eine Lesbe macht noch keinen Sommer‹. Hamburg: Argument 1993, S. 250. Keitel, Evelyne: Vom Golden Age zum New Golden Age: Kriminalromane von Frauen für Frauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 19–37. Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 5–6. Konopik, Iris: Kids im Krimi 2. Kinder im Detektivinnenalltag. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 25–31. Laudan, Else: »Auch eine imaginäre Person prägt eben…« Interview mit Marele Day. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 46–50. Laudan, Else: »Frauen haben schon immer Krimis anders gelesen«. Interview mit Marion Foster. In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 18–20.

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Laudan, Else: Anmerkung der Redaktion zum Leserinnenbrief von Brigitte [ohne Nachnamen]: Charlotte zu naiv. In: »Ariadne Forum« 3 (1994/95), S. 13. Laudan, Else: Antwort auf den Leserbrief von Wolfgang Schraik: ›Nicht der einzige Mann‹. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 10. Laudan, Else: Die Ausbrecherinnen. Frauenkrimis als ›Genre-Breaker‹: Ausnahmen zermürben die Regel. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 66–73. Laudan, Else: Sie war einsam, aber schneller. Ein Streifzug durch Frauenkrimis auf der Suche nach Täterinnen. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 108–113. Laudan, Else: Unsere Krimiheldinnen – reiten sie für die Wirklichkeit? Ariadnekrimis und die »Politik des Kulturellen«. In: »Ariadne Forum« 1 (1992/93), S. 40–61. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2009. Pei, Lisa: Die letzte Stunde. Hamburg: Argument 1995. Reddy, Maureen T.: Detektivinnen. Frauen im modernen Kriminalroman. Mühlheim: Guthmann-Peterson 1990. Rousseau-Reusch, Murielle: Auf keinen Fall den Regeln folgen. Interview mit Regula Venske. In: »Ariadne Forum« 2 (1993/94), S. 49–50. Scharsich, Dagmar: Die gefrorene Charlotte. Hamburg: Argument 1993. Schmitt, Beatrice: Hochs und Tiefs [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 101. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi. Women’s crime writing in German. In: Hall, Katharina (Hg.): Crime fiction in German. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100–114. Strömer-Orrù, Marie-Luise: Peter Híeg [sic!]: Fräulein Smillas Gespür für Schnee [Rezension]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 180–181. Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie. Eine Projektskizze. In: Neuendorff, Dagmar/Nikula, Henrik/Möller, Verena (Hg.): Alles wird gut. Beiträge des Finnischen Germanistentreffens 2001 in Turku/Abo, Finnland. Frankfurt (Main)/Berlin/Bern: P. Lang 2005, S. 173–183. Venske, Regula: Kindermörder – Mörderkinder. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 32–37. Walter, Heidrun: Undenkbar dumm [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 5 (1997/98), S. 105. Willhardt, Sabine: Feminismus mal definieren! [Leserinnenbrief]. In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 85. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Winko, Simone/Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2009, S. 285–314.

Internetquelle URL: https://argument.de/verlag / letzter Zugriff am 24. Mai 2023.

Małgorzata Łuczyk (Zielona Góra)

Zum Interpretationsrahmen »Killerin/Mörderin« im Kriminalroman Mit verdeckten Karten von Alexandra Marinina. Eine lexikalische Analyse

I Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Roman Mit verdeckten Karten (russ. Schesterki umirajut pervymi, 1995; dt. 2000)1 von der russischen Autorin Alexandra Marinina, deren Krimis auch ins Deutsche übersetzt wurden und Anfang der 2000er Jahre durchaus auf positive Resonanz stießen. Bei der Textuntersuchung rückt der sog. Interpretationsrahmen »Killerin« bzw. »Mörderin« in den Fokus; bei dem Interpretationsrahmen handelt es sich um eine sprachwissenschaftliche Kategorie, die im Folgenden genauer definiert wird. Zu fragen wäre nach der Rolle des Interpretationsrahmens »Killerin/Mörderin« in Marininas drittem Band der Anastasija-Reihe, der quasi von dem Krimitext selbst erzeugt wird. Darüber hinaus scheint er aus verschiedenen ›Bauteilen‹ zusammengefügt zu sein, die in intratextueller Hinsicht auf die Response-Seite Bezug nehmen. Marininas Killerin-Krimi ist in erster Linie an russisches Leserpublikum oder Russland-Kenner adressiert, die sich in der russischen Kultur und der russischen Sprache auskennen – auch mit Blick auf die mordenden Frauen.

II Frauenkriminalität ist kein Phänomen der Postmoderne. Das Problem des ›weiblichen Verbrechens‹ wurde in der Forschung schon recht früh identifiziert. Damals wie heute bereitet allerdings die Frauenkriminalität enorme klassifikatorische Schwierigkeiten, da man sie nicht auf einen einzigen Nenner bringen kann. 1876 versuchte der italienische Psychiater und Kriminologe Cesare Lombroso sich der Frauenkriminalität aus einer anthropologisch-ätiologischen Perspektive zu nähern. In seiner mehrmals neuaufgelegten Fallstudie Der Ver1 Маринина, Александра: Шестерки умирают первыми. Москва: Издательство »Эксмо« 2021, S. 349.

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brecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung schaute er sich die Bereiche der Verbrechensmotivation und Verbrechenskonditionierung an. In den später veröffentlichten (und ergänzten) Neufassungen seines Buches kam er außerdem auf die sozial-ökonomischen Umstände der begangenen Verbrechen zu sprechen. Lombroso vertrat die Position, dass anormales Verhalten, das zu kriminellen Taten führt, von Generation zu Generation weitervererbt wird. Auf dieser Grundlage konnte Lombroso behaupten, dass man einen Verbrecher anhand einiger physiognomischer Anomalien erkennen kann.2 Sein verbrecherisches Potential sei ihm mehr oder weniger ins Gesicht geschrieben. Auch mit dem Problemfeld ›Frauen als Kriminelle‹ setzte sich Lombroso auseinander. In der zusammen mit Guglielmo Ferrero verfassten Schrift Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte (1893) gehen sie davon aus, dass das weibliche Geschlecht generell zum Verbrechen neige; ihm werde ein bestimmter Kriminalitätstrieb sozusagen in die Wiege gelegt. Die blutrünstige Frau zeichne sich laut Lombroso/Ferrero durch eine Vielfalt an typischen Eigenschaften aus wie Abneigung gegen die Mutterschaft, ein überdurchschnittlich sexuelles Begehren, Freizügigkeit und Nomadentum, Beteiligung an ›männlichen‹ Zerstreuungsformen und – außerdem – Rachesucht, Eifersucht, Gerissenheit, Brutalität und Verlogenheit. Verbrecherinnen seien des Weiteren körperlich stigmatisiert. Bei detailliertem Hinschauen ließen sich ein vergrößerter Kiefer, größere Wangen, ein maskuliner Körperbau, schmale Lippen, Gesichtsbehaarung und/oder graue Kopfhaare bemerken.3 Mit Lombrosos/Ferreros Diagnosen korrelieren die Untersuchungen von William Isaac Thomas (1907), der Frauenkriminalität auf sexuelle Unbefriedigtheit zurückführt, und von Otto Pollak (1950), für den kleine, kaum ins Gewicht schlagende Diebstähle und Giftmorde an anderen Familienmitgliedern für das weibliche Naturell charakteristisch sind.4 Ein anderer Forschungszweig konzentriert sich auf biochemische Aspekte und verbindet die Verbrechensaktivität von Frauen mit der weiblichen Periode, der Schwangerschaft, der postnatalen Phase sowie den Wechseljahren. 1934 kamen Aaron Joshua Rosanoff, Leva M. Handy und Isabel Avis Rosanoff zum Schluss, dass Gesetzesverstöße und Missetaten bei Frauen genetisch bedingt sein könnten.5

2 Hołyst, Brunon: Cesare Lombroso: jego czasy i dzieło. In: Lombroso, Cesare: Geniusz i obła˛kanie. Warszawa: PWN 1987, S. 7–34, hier S. 19. 3 Lombroso, Cesare: Zbrodniarka urodzona. Fragment dzieła C. Lombroso i G. Ferrero »Kobieta jako zbrodniarka i prostytutka«. Gdan´sk: Słowo/Obraz Terytoria 2016, S. 97–121. 4 Cabalski, Marian: Kobiety jako sprawczynie przeste˛pstw i aktów przemocy. In: »Probacja« 3 (2013), S. 27–85, hier S. 31–33. 5 Biel, Krzysztof: Przeste˛pczos´c´ dziewcza˛t – rodzaje i uwarunkowania. Kraków: Wydawnictwo WAM 2009, S. 102–103.

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In die Debatte wurde auch Siegmund Freud hineingezogen, der den Einfluss von Außenfaktoren auf das Subjekt (den Menschen), sein Verhalten oder seine Denkweise, als nicht vorhanden bzw. als sehr marginal einstufte. Der Mensch ist im Freud’schen Konzept ein Lebewesen, das von seinen angeborenen Trieben determiniert und geleitet werde; diese entscheiden wiederum über die menschliche Psyche und wirken sich im Falle von Frauen auf ihre möglichen kriminellen Taten aus.6 Dahingegen wird im Soziologie-Diskurs in erster Linie der gesellschaftlichen Dimension eine gewisse Relevanz zugeschrieben, indem u. a. in theoretischer Hinsicht die Sozialökonomie, die Diversität im Hinblick auf die Ausübung von sozialen Rollen und die Frauenemanzipation im Mittelpunkt stehen. Sozialökonomische Überlegungen gehen vom Ansatz aus, dass Frauen aufgrund der finanziellen misslichen Lage, in die sie (un-)verschuldet geraten sind, zu Verbrecherinnen werden; sie begehen Verbrechen um des Überlebens willen. Da sie unterschiedlichen geltenden Normen in verschiedenen Milieus der Subkultur, dem Frustrationsgefühl, das sich aus ihrer deprivilegierten Stellung im Gesellschaftssystem ergibt, sowie den psychischen Anomalien oder genetischen Prädispositionen ausgeliefert sind, geraten sie mit dem Gesetz ins Gehege und werden somit (un-)gewollt zu kriminellen Figuren. In Bezug auf die Diversität der sozialen Rollen erweist sich (immer noch) die Frage als zentral, ob man bei Frauen von einer kriminellen Neigung sprechen kann und ob sie weniger Delikte begehen als Männer. Nach Robert Morris (1965) ist die Kriminaltat bei den Männern als Konsequenz ihres gehinderten Handelns auf dem Weg zur gesellschaftlichen und finanziellen Macht und Sicherheit zu begreifen. Im Gegensatz dazu werden bei Frauen andere verbrecherische Beweggründe aufgelistet, z. B. Ehe- oder Partnerschaftsprobleme.7 Feministische Theorien rekurrieren auf die Arbeiten von Freda Adler (1975) und Rita James Simon (1975), die sich darum bemühen, den ›Kriminalitätswandel‹ bei Frauen vor dem Hintergrund der Emanzipationsbewegung zu erklären. Diese, so Adler, trug zum Anstieg der weiblichen Kriminalitätsrate – mit Blick auf Gewaltverbrechen – bei, weil die ›befreiten‹ Frauen anfingen, selbstbewusster und aggressiver zu agieren. Simon macht im Unterschied zu Adler auf die Koppelung von Frauenverbrechen und Frauen-Berufsleben aufmerksam; das Kriminalitätsbild werde von (ungeplanten und zufälligen) Gelegenheitsverbrechen dominiert.8

6 Korzeniowski, Lucjan: Przedmowa do II wydania w przekładzie polskim. In: Freud, Zygmunt: Wste˛p do psychoanalizy. Warszawa: PWN 1984, S. 26–49, hier S. 44. 7 Cabalski, Marian: Kobiety jako sprawczynie przeste˛pstw, S. 63–65. 8 Ebd., S. 65–70.

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Der weiblichen Kriminalitätsätiologie nahmen sich auch andere Wissenschaftsdisziplinen (Spannungstheorie, Anomietheorie usw.) an. Allerdings ist die Frauenkriminalität als Problemstellung zu komplex, als dass sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen wäre.9

III Charles J. Fillmore nimmt an, dass sprachliche Ausdrücke bzw. Formulierungen von den sprechenden Akteuren bzw. Sprachnutzern immer im Zusammenhang mit ihrem nicht-sprachlichen Wissen verstanden werden müssen, das sich durch Erfahrung, philosophische, ethische, kulturelle usw. Weltanschauungsmodelle konstituiert. Das nicht-sprachliche Wissen (oder: das non-linguage-Wissen) konstruiert einen Interpretationsrahmen, der den einzelnen sprachlichen Ausdruck oder einen Ausdruckssatz betrifft; dieser Rahmen setzt sich aus einem Netz von miteinander verknüpften Begriffen auf solche Art und Weise zusammen, dass das Sich-Bewusstwerden und das Verstehen nur des einen Begriffs das Verstehen der ganzen Begriffsstruktur bzw. des paradigmatischen Feldes bedeutet (bzw. in Aussicht stellt). Beim Interpretationsrahmen ermöglicht die Verwendung eines frame im Laufe eines Gespräches (oder in einem Text) aufseiten des frame-Empfängers den Zugriff auf andere Begriffe innerhalb des Begriffsnetzes (»konzeptuelle Basis«).10 Die Interpretationsrahmen-Theorie besagt, dass Text- oder Gesprächsausdrücke zusammenhängende Rahmen bilden, die vom interpretierenden Subjekt abgerufen werden, das den rezipierenden Textinhalt an die ihm (vorher) bekannten Muster anpasst.11 Der Mord an einem Menschen durch eine weibliche Hand lässt sich als solche »konzeptuelle Basis« signifizieren. Die folgende linguistische Analyse verbindet aufgrund der dualen, sprachlich-konzeptuellen Programmatik der Rahmensemantik die frame-Semantik mit Mechanismen zur Deutung von Textausdrücken.12 Jeder Ausdruck, jeder Begriff bezieht sich jeweils auf eine andere Weise auf die »konzeptuelle Basis«, was zur Hervorhebung von 1) Primärelementen, die 9 Błachut, Janina: Kobiety recydywistki w ´swietle badan´ kryminologicznych. Wrocław: Ossolineum 1981, S. 47–48. 10 Fillmore, Charles J.: Frame Semantics. In: The Linguistic Society of Korea (ed.): Linguististics in the Morning Calm. Seoul: Hanshin Publishing Company 1982, S. 111–137, hier S. 111. Zit. nach: Tokarski, Ryszard: Semantyka ram interpretacyjnych w leksykologii. In: »Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska. Sectio FF, Philologiae« XVIII (2000), S. 261–272, hier S. 265–266. 11 Szyman´ska, Izabela: Semantyka ram: rozwój koncepcji i kierunki zastosowan´. In: Stalmaszczyk, Piotr (red.): Metodologie je˛zykoznawstwa. Filozoficzne i empiryczne problemy w analizie je˛zyka. Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2010, S. 91–108, hier S. 96. 12 Ebd., S. 92.

Zum Interpretationsrahmen »Killerin/Mörderin« in Mit verdeckten Karten

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konkret bestimmten Frauenmord-Facetten entsprechen, sowie von 2) obligatorischen und fakultativen Sekundärelementen führt.

IV Zwei Lexeme aus der russischen Sprache, das Substantiv »Killerin/Mörderin« (убийца) und das Verb »töten« (убить), machen das frame-Grundgerüst des zu beleuchtenden Interpretationsrahmens aus. Die Lexikondefinition von »Killerin/ Mörderin« (убийца) lautet: »derjenige, der mordete« (тот, кто совершил убийство).13 Im Russischen hat убийца als Substantiv einen doppelten Genus und ist häufig emotional behaftet, meistens pejorativ konnotiert. Da убийца sowohl auf einen Mann als auch eine Frau hindeuten kann, müssen bei der Festlegung des Denotaten die Bereiche der Semantik, Flexion und Syntax mit berücksichtigt werden. Im Russischen können von »Weiblichkeit« auch semantische Modifikatoren in Form von »Frau« (женщина) oder »Mädchen/Fräulein« (девушка) zeugen, die in Verbindung mit »Killerin/Mörderin« (убийца) spezifische substantivierte Konstruktionen bilden;14 sie behalten jedoch ihre grammatischen Basiskomponenten wie Kasus, Deklination usw. bei. Der semantische Modifikator »Frau« (женщина) dient als Wortbildungsmorphem, als feminatives Präfix.15 Bei der Geschlechtererkennung, ob Mann oder Frau, müssen Zwei-Genus-Hyponyme, d. h. zusammengesetzte Wörter mit »Killerin/Mörderin« (убийца) in Betracht gezogen werden, bei denen die erste Komponente das Mordopfer bezeichnet. Zu solchen Hyponymen gehören u. a. »Brudermörderin« (братоубийца – женщина-братоубийца), »Kindermörderin« (женщина-детоубийца), »Muttermörderin« (женщина-матереубийца), »Vatermörderin« (женщина-отцеубийца), »Schwestermörderin« (женщина-сестроубийца), »Sohnmörderin« (женщина-сыноубийца), »Menschenmörderin« (женщина-человекоубийца) usw. Der semantische Modifikator »Frau« (женщина) ist bei zusammengesetzten Wörtern, die wie im Falle der »Gattenmörderin« (мужеубийца) den Mann als

13 [Artikel]: »Убийца«. In: Ожегов, Сергей: Словарь русского языка. Москва: Издательство »Русский язык« 1978, S. 753. 14 Murawska, Paulina: Substantywno-substantywne konstrukcje ła˛cznikowe o znaczeniu osobowym we współczesnym je˛zyku rosyjskim. Dissertation (2015) abgelegt an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität zu Posen. URL: https://repozytori um.amu.edu.pl/bitstream/10593/14302/1/Murawska_rozprawa_doktorska.pdf / letzter Zugriff am 8. Dezember 2022. 15 Ebd., S. 57, 66.

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Täter ausschließen, nicht unentbehrlich. In der russischen Lexikographie werden solche Lexeme unter Femininum subsumiert.16 Bei vielen Synonymen, mit deren Hilfe man den ›weiblichen Mörder‹ beschreibt, handelt es sich um männliche Derivate mit markierten Suffixen wie душегубка (von душегуб), киллерша (von киллер) oder мокрушница (von мокрушник).17 Als Synonyme des Lexems »Killerin/Mörderin« (убийца) werden in der Regel andere russische Ausdrücke/Wörter gebraucht, es treten allerdings auch Entleihungen aus dem Englischen (киллер) oder Japanischen (ниндзя) in Erscheinung. Im Hinblick auf die möglichen Verbindungsstrukturen von »Killerin/Mörderin« (убийца) beschränkt man sich im Russischen meistens auf zweiteilige Konstruktionen, bei denen das Bestimmungswort ein negativ gefärbtes und wertendes Adjektiv ist, z. B. eine »erbarmungslose Mörderin« (беспощадный убийца) oder eine »herzlose Mörderin« (бездушный убийца). Das Adjektiv kann darüber hinaus auf die Tötungsform verweisen, z. B. »Auftragsmörder« (наемный убийца), »Massenmörder« (массовый убийца) oder »Serienmörder« (серийный убийца).18 Das agentive Verbalderivat »Killerin/Mörderin« (убийца) kann auch durch eine grammatikalische Kasusänderung auf das Opfer hinweisen: убийца (кого? чего?), убить (кого? что?). Auch dem Verb »töten« (убить), das etymologisch auf das urslawische Wort »*biti« (у-+бить) zurückgeführt werden kann, dessen Wortkern eine Fortschreibung des indoeuropäischen Ausdrucks »*bheyә-« ist19, kommt im ›kriminellen‹ Interpretationsrahmen eine wichtige Funktion zu. Das Russischwörterbuch von Siergiej Oz˙egow20 führt vier mögliche Bedeutungen von »töten« (убить) an: 1. im direkten Sinne: wen (was) töten, z. B. »Je16 [Artikel]: »Мужеубийца«. In: Кузнецов, Сергей (ред.): Большой толковый словарь русского языка. Санкт-Петербург: Издательство »Норинт« 2000, S. 562. 17 »Душегуб« (»Убийца, разбойник, злодей« – »Räuber, Mörder«) ([Artikel]: »Душегуб«. In: ebd., S. 290; Mirowicz, Anatol/Dulewicz, Irena/Grek-Pabis, Iryda/Maryniak, Irena: Wielki słownik rosyjsko-polski »A-O«. Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Wiedza Powszechna 1980, S. 271); »Киллер« (» наемный убийца« – »Auftragsmörder«) ([Artikel]: »Киллер«. In: Кузнецов, Сергей (ред.): Большой толковый словарь русского языка, S. 427); »Мокрушник« (»преступник, совершающий убийства« – »ein Verbrecher, der Morde verübt«) (URL: https://ru.wiktionary.org/wiki/мокрушник / letzter Zugriff am 21. Dezember 2022). 18 [Artikel]: »Убийца«. In: Кузнецов, Сергей (ред.): Большой толковый словарь русского языка, S. 1363. 19 URL: https://ru.wiktionary.org/wiki/убить#Этимология / letzter Zugriff am 22. Dezember 2022. 20 [Artikel]: »Убить« […]: сов. 1. Кого (что). Лишить жизни. У. из винтовки. […]. 2. перен., кого (что). Привести в полное отчаяние, в состояние бездеятельности, безнадежности. У. кого-н. отказом. […]. 3. перен., что. Уничтожить, прекратить (книжн.). У. надежду.

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manden mit dem Schussgewehr töten«; 2. im übertragenen Sinne: wen (was) in Verzweiflung treiben, in den Zustand der Untätigkeit treiben, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit auslösen, z. B. »Jemanden mit seiner Absage töten« [ jemandem eine Absage erteilen]; 3. im übertragenen Sinne: etwas zerstören, mit etwas aufhören, z. B. »Die Hoffnung töten« [die Hoffnung vergeht]; 4. umgangssprachlich: verlieren, sinnlos ausgeben, z. B. »Zeit töten« [Zeit totschlagen]; 5. etwas töten, »Die Spielkarte des Mitspielers töten«, z. B. »Die As-Karte mit der Trumpf-Karte töten« [eine Karte schlagen]. Alle oben zitierten lexikalisch-semantischen Varianten deuten auf eine dekonstruktive Semantikebene des Verbes hin. Die Destruktionssemantik ist auch in anderen Wortgefügen von unterschiedlichem Verknüpfungsgrad zu finden wie in Phraseologismen, Sprichwörtern etc., z. B. убить время (»Zeit verlieren«), убить бобра (»die Rechnung ohne den Wirt machen«), хоть убей(те) (»unter gar keinem Vorwand«), Богом убитый/убитая (»Gott hat bei ihm/ihr am Verstand gespart«).21 Unter den Synonymwörtern sollte man auch solche herausstellen, deren Lexeme eine zusätzliche Information bezüglich der Tatwaffe bieten: застрелить (»erschießen«), зарезать (»abstechen«), зарубить (»totschlagen« z. B. mit einer Axt), удушить (»erwürgen«) oder повесить (»erhängen«). Bei einigen Synonymverben kann man außerdem eine Bedeutungsveränderung als Folge einer präfixalen Derivation konstatieren. Durch die Semantisierung des Präfixes wird die resultative Bedeutung um andere Bedeutungsebenen ergänzt: räumlich– взорвать (»in die Luft jagen«), перерезать горло (»den Hals aufschlitzen«); temporär – покончить (»mit jemandem Schluss machen«), добить (»jemandem den Rest geben«); intensivbezogen – вытравить (»ausmerzen«), изрубить (»mit einem Säbel totschlagen«). Durch das Hinzufügen des Präfixes zu einem Basisbegriff, der ursprünglich nichts mit »töten« zu tun hat, kann im Falle eines abgeleiteten Verbs eine Bedeutungserweiterung bzw. -umgestaltung verursacht werden z. B. брать (»mit den Händen greifen«) oder убрать (im übertragenen Sinne: »tötend entfernen, auslöschen«).22 Um den Interpretationsrahmen »Killerin/Mörderin« richtig zu deuten, muss der Sprechende auf sein nicht-sprachliches Wissen zurückgreifen. Im Beispielsatz »Кира убила внука Трофима« (»Kira tötete Trofims Neffen«) löst das Wort

4. перен., что. Потратить, израсходовать непроизводительно (разг.). […]. У. время. […]. 5. Покрыть карту партнера (разг.). У. туза козырем […]« (Ожегов, Сергей: Словарь русского языка, S. 753). 21 [Artikel]: »Убить«. In: Ожегов, Сергей: Словарь русского языка, S. 753; Кузнецов, Сергей (ред.): Большой толковый словарь русского языка, S. 1363. 22 Юкляева, Лилия: Лексико-семантическая группа глаголов со значением »Убить« в русском языке: структура и функционирование. In: »Вестник Томского государственного университета« 316 (2008), S. 28–31, hier S. 30.

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»убить« die Konnotationskette »Frau – Verbrechen« aus, die auf axiologischen und gesetzlichen Wissensnormen fußt. Die wortwörtliche Bedeutung des Wortes »убить« entscheidet nicht über den Radius des Interpretationsrahmens, der aus primären und sekundären Komponenten geordnet ist. Im Falle des Interpretationsrahmens »Killerin/Mörderin« zählen zu den primären (und obligatorischen) Komponenten die Wörter »Killerin« und »Opfer«, weil beide den Interpretationsrahmen im Allgemeinen abbilden und sich in der semantischen sowie syntaktischen Struktur des Hauptprädikats »убить« (кто-то убил кого-то; »jemand hat jemanden getötet«) niederschlagen. Zu den sekundären (und fakultativen) Komponenten des Interpretationsrahmens »Killerin/Mörderin« gehören solche Wörter wie »Motiv«, »Tatwaffe«, »Tatort«, »Tatzeit« oder »Strafe«. Die Komponente »Killerin/Mörderin« (женщина-убийца) erzeugt eine Form der Weiblichkeit, die mit Sensibilität, Zärtlichkeit, Subtilität, der Unfähigkeit, Verbrechen zu begehen, und den Gesellschaftsrollen als Mutter und Ehefrau einhergeht. Die Frauenemanzipation, die die Neujustierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Rollenbilder nach sich zog und die Erwartungshaltung gegenüber dem Femininen auf den Prüfstand stellte, führte dazu, dass Frauen nicht nur die ›klassischen‹ Frauenbereiche erfüllten, sondern auch ›klassische‹ Männerdomänen eroberten. Frauen waren nicht nur Opfer der Verbrechen, sie wurden nicht selten auch zu Täterinnen. Nicht unberücksichtigt gelassen werden können in diesem Kontext auch die Persönlichkeit oder der Charakter der Killerin. Faktoren wie Intelligenz, Emotionalität, Sozialisierung, Reaktion auf Stresssituationen sowie Alter, Familienstand oder Vorbestrafung(en) müssen mitgedacht werden. Die Komponente »Opfer« (жертва) betrifft eine Mordtat, die von einem Mann verübt wurde – häufig von dem Ehemann, Lebenspartner, Kindsvater oder einer anderen männlichen Person aus dem nahen Umfeld. Frauenmorde an einem maskulinen Protagonisten sind eng verknüpft mit der Problematik der häuslichen Gewalt, zu der es z. B. wegen Alkohol- und Sexualproblemen oder Arbeitslosigkeit kommt.23 Ein Auftragsmord von einer Frau findet in solchem Konnotationsfeld nicht statt. Die Komponente »Motiv« (мотив) tangiert die Beweggründe, die sowohl ökonomisch, sexuell, emotional (Rachesucht, Angst- oder Unrechtsgefühle, Gefährdung) angehaucht sein können oder auch Wahnvorstellungen gleichen.

23 Осипян, Наталья: Женское насилие в отношении мужчин: анализ зарубежных и отечественных исследований. In: »Северо-Кавказский психологический вестник« (2012), S. 42–46, hier S. 42, 45.

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Killerinnen/Mörderinnen töten in der Regel mehr als nur aus einem Grund.24 Diese Komponente beinhaltet auch das Element der »Absicht« im Sinne eines beabsichtigten Mordes und beabsichtigten Verhaltens.25 Mit der »Absicht« wird die intellektuelle mit der volitiven Sphäre kombiniert.26 Mit anderen Worten: Die Killerin möchte töten und sie strebt dieses Ziel an. Allerdings hegt nicht jede Mörderin Mordpläne. Tötungsfälle im Affekt sind keine Seltenheit;27 bei ihnen wird die Komponente »Motiv« mit den (sozialen) Umständen verquickt, die die Affekttat legitimieren. Unter der Komponente »Tatwaffe« (орудие) versteht man nicht nur die Art der Waffen, sondern auch die Art und Weise ihrer Benutzung. Dass Frauen liebend gern ihre Opfer vergiften, ist ein längst verifizierter Mythos. Häufiger kommt aber ein Küchenmesser zum Einsatz.28 Bei der Komponente »Tatort« (место) wird die Räumlichkeit des Verbrechens berührt. Der Tatort kann in Relation mit der Täterin oder dem Opfer stehen (wie z. B. Zuhause als Reaktion auf männliche Gewalt).29 Bei der Komponente »Tatzeit« (время) wird die Zeitlichkeit anvisiert. Für den Interpretationsrahmen hat sie allerdings eine sekundäre Bedeutung, denn Verbrechen sind an keine konkrete Zeit gebunden. Partnerschaftsmorde werden allerdings meistens an Werktagen begangen, weil die Mörderinnen meistens arbeitslos ohne festes Einkommen sind.30 Als Bestandteile des Modus operandi der Killerin spiegeln diese Komponenten die individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten der mordenden Frau wider.31

24 Кузнецова, Нинель: Избранные труды. Санкт-Петербург: Юридический центр Пресс 2003, S. 802. 25 Zur Rechtslage in der Russischen Föderation sowie in der UdSSR bei Mord als Tatbestand siehe: Okulski, Marcin: Kształtowanie sie˛ poje˛cia zabójstwa w polskim i rosyjskim prawie karnym. Wybrane aspekty. In: »Roczniki Wydziału Nauk Prawnych i Ekonomicznych KUL« 4/1 (2008), S. 117–138, hier S. 119. 26 Щербакова, Людмила/Белая, Ольга: Исследование мотивации криминального насилия женщин: традиции и современность. In: »Общество и право« 4/46 (2013), S. 126–132, hier S. 129. 27 Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 107. Убийство, совершенное в состоянии аффекта/ URL: https://fzrf.su/kodeks/uk/st-107.php / letzter Zugriff am 22. Dezember 2022; Осипян, Наталья: Женское насилие в отношении мужчин, S. 45. 28 Подолюк, Михаил: Состояние и динамика убийств, совершаемых женщинами. In: »Пробелы в российском законодательстве« 3 (2010), S. 176–179, hier S. 178. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Siehe Kulicki, Mariusz/Kwiatkowska-Wójcikiewicz, Violetta/Ste˛pka, Leszek: Kryminalistyka. Wybrane zagadnienia teorii i praktyki ´sledczo-sa˛dowej. Torun´: Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2009, S. 34. Zit. nach: Łosin´ska, Marta: Kobieta jako sprawczyni zabójstwa – analiza kryminologiczna i kryminalistyczna. In: »Przegla˛d Prawniczy, Ekonomiczny i Społeczny« 1 (2013), S. 42–59, hier S. 51.

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Hinter der Komponente »Strafe« (наказание) versteckt sich die Sanktionierung, die Bestrafung der überführten Mörderin. In Russland steht auf Mord die Todesstrafe oder ein längerer Freiheitsentzug.32 Der Interpretationsrahmen »Killerin/Mörderin« stellt eine Grundstruktur dar, in der die Anzahl und die Eigenart der einzelnen Komponenten abhängig vom Interpretationstext variieren können. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die im Text zur Anwendung kommenden Wörter/Ausdrücke Konventionsrahmen evozieren, die der Text-Empfänger, indem er dieselben Rahmen abruft, bei der Lektüre verifiziert und auf ihre Übereinstimmigkeit hin überprüft.

V In Alexandra Marininas Kriminalroman Mit verdeckten Karten ist die geschiedene 35-jährige Bibliothekarin Kira Lewtschenko, die in Moskau geboren wurde und dort immer noch lebt, die Mörderin. Sie wird als attraktive Frau geschildert, die sich ihrer Reize bewusst ist und keine Skrupel hat, von ihrer Schönheit im operativ-verbrecherischen Sinne zu profitieren: […] Kira verließ sich in der Tat sehr stark auf ihr Äußeres und war bereit, sich die Segnungen des Lebens über das Bett zu erkaufen. […] [S]ie wußte sehr gut, daß sie nicht gerade ein Ausbund an Lebenstüchtigkeit und Intelligenz war und kaum fähig, es aus eigener Kraft im Leben zu etwas zu bringen. (MVK, 260)33

Lewtschenko sieht aber nicht nur gut aus, sie kann auch durch ein sehr spezielles Talent punkten. Beim Schießen beweist sie immer wieder ein sicheres Händchen. Aus der Amateur-Schützin soll eine Profi-Scharfschützin werden. Lewtschenko möchte mit Schießen Geld verdienen, was im kriminellen Moskau mit der Arbeit im verbrecherischen Underground gleichbedeutend erscheint: Innerhalb von zwei Jahren gewann Kira Lewtschenko alle nur denkbaren Preise und Medaillen. Damals kam ihr zum ersten Mal der Gedanke in den Sinn, daß es möglich

32 Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 105. Убийство. URL: https://fzrf.su/kodeks/uk/st-105.php / letzter Zugriff am 29. Dezember 2022; Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 59. Смертная казнь. URL: https:// fzrf.su/kodeks/uk/st-59.php / letzter Zugriff am 29. Dezember 2022. 33 Alle Zitate im Fließtext unter der Sigle MVK mit Seitenangabe gehen zurück auf die FischerAuflage des Krimis von Alexandra Marinina: Mit verdeckten Karten. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2003. Die Originalzitate aus dem Russischen werden in den Fußnoten angegeben: Маринина А., Шестерки умирают первыми, Москва: Издательство »Эксмо« 2021. Russ.: »[…] Кира действительно очень рассчитывала на свою внешность и готова была добывать себе жизненные блага через постель […], ибо она хорошо понимала, что способностями бог ее не наделил и добиться в жизни чего-нибудь приличного она самостоятельно вряд ли сумеет« (S. 285).

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war, mit ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen. Sehr großes Geld. Sehr viel mehr als mit einem schönen Körper. (MVK, 262)34

In Russland Anfang der 1990er Jahre schießt die Kriminalitätsrate durch die Decke, in der Unterwelt wird Geldwäsche betrieben und mit Rubel um sich geworfen: Es war das Jahr 1991, die Kunde von der Mafia, von Auftragskillern, von völlig unkontrolliertem Waffengebrauch und ähnlich beängstigenden Dingen wurde allmählich zur Gewohnheit und versetzte niemanden mehr in Erstaunen. Der Gedanke an eine Verdienstmöglichkeit als Scharfschützin kam Kira immer öfter […] (MVK, 262)35

Deswegen fällt Lewtschenko den Entschluss, ihre Finanzen mit Mordaufträgen aufzustocken. Ihre mörderischen ›Dienstleistungen‹ bietet sie der russischen Mafia an, als Lehrgeld, und um ihre zukünftigen Bosse zu überzeugen, schlägt sie vor, wöchentlich einen Menschen nach dem Zufallsprinzip zu erschießen: »Ich bin ausgebildete Sportschützin. Und ich möchte sehr viel Geld haben. […]« (MVK, 265)36 »Ab sofort wird es an jedem Wochenende einen Toten im Umland von Moskau geben. Genickschuß aus fünfundzwanzig Metern Entfernung. Und ich garantiere dir, daß ich kein einziges Mal danebenschießen werde und daß man mich nicht fassen wird. Es wird so lange Tote geben, bis ihr, du und dein Chef, eingesehen haben werdet, daß ihr mit mir zusammenarbeiten müßt.« (MVK, 266–267)37

Wegen ihrer asozialen (gestörten) Persönlichkeit, ihrer Empathielosigkeit und der Aversion gegen gesellschaftliche sowie gesetzliche Normen hat sie keine Bedenken, in den darauffolgenden Wochen wahllos unschuldige russische Bürger zu erschießen. Nur vor dem ersten Mord zögert sie eine Weile und fragt sich, ob sie überhaupt imstande sei, einen anderen Menschen zu töten: Es hieß, wenn es darauf ankäme, auf einen Menschen zu schießen, würden viele versagen, nicht jeder sei dazu in der Lage. Aber ihr erster Schuß gelang ihr erstaunlich 34 Russ.: »Через два года Кира Левченко завоевала все мыслимые призы и медали. И тогда же в ее голову впервые пришла мысль о том, что этим тоже можно зарабатывать деньги. И очень большие. Такие большие, какие никакой красотой не заработаешь Мысль впервые появившись, тут же исчезла« (S. 287). 35 Russ.: »Шел 1991 год, разговоры о мафии, наемных убийцах, бесконтрольно гуляющем по рукам оружии и прочих устрашающих вещах велись повсеместно, становились привычными и никого уже не удивляли. Мысль о том, чтобы зарабатывать вожделенные суммы, используя свой талант снайпера, посещала Киру все чаще« (S. 288). 36 Russ.: »Я – чемпионка по стрельбе, мастер спорта. И очень хочу иметь много денег« (S. 291). 37 Russ.: »Начиная с этой недели каждые выходные в Московской области будет труп. Выстрел с двадцати пяти метров в затылок из револьвера. И я гарантирую […], что, вопервых, я не промахиваюсь, а, во-вторых, никто меня не найдет. Трупы будут появляться до тех пор, пока […] не поймете, что со мной можно иметь дело« (S. 293).

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leicht. Man mußte sich einfach auf ein Ziel konzentrieren und durfte nicht daran denken, daß es sich um ein Menschenleben handelte, um einen lebendigen Menschen, genau wie man selbst. Kira konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren und ließ sich von nichts ablenken. (MVK, 267)38

Die Mafiosi sind daraufhin von Lewtschenko und ihrem Killer-Instinkt beeindruckt: »Die Hand eines Scharfschützen darf kein einziges Mal zucken […]. Weder aus Mitleid mit dem Opfer noch aus Haß, noch aus irgendeinem anderen Grund. Die Hand zuckt leicht, wenn man etwas fühlt, nicht wahr? Der Scharfschütze darf weder Mitleid kennen, noch darf er Haß gegen den fühlen, den er umbringen will. […]« (MVK, 254)39

Vom organisierten Verbrechen bekommt Lewtschenko deshalb den Auftrag, zwei weitere Menschen zu erschießen: einen Oberst im Dienst des Innenministeriums und eine andere Person, in deren Wohnung sich dieser vor der Staatsmacht versteckt. Die ID der zweiten unbekannten Zielperson wird in der Auftragsstellung verschwiegen. Erst im Nachhinein zeigt sich, dass dem Offizier der Unterschlupf von Lewtschenko gewährt wurde. Die Killerin Lewtschenko sollte für die Mafiosi demnach sich selbst töten: Denn während sie auf der Bank auf dem menschenleeren Boulevard saß und sich die kalten Regentropfen von den Lippen leckte, begriff sie plötzlich, dass sie, den Abzugshahn des Revolvers ziehend, mit einer einzigen Fingerbewegung sechs Menschenleben ausgelöscht hatte, ähnlich wie bei einem Kartenspiel, bei dem die Spieler erst die wertlosen Karten ablegen, die Nieten. Man entledigt sich der Nieten, und erst dann beginnt das eigentliche Spiel. (MVK, 271)40

Die Zwickmühle, in der sich die Protagonistin befindet, stößt bei ihr einen Transformationsprozess an: aus Affektlosigkeit wird Reflexivität: Zum ersten Mal seit vielen Jahren stieg in ihr eine Welle des Mitgefühls und der Zärtlichkeit auf. Kira Lewtschenko hatte noch nie jemanden geliebt außer ihrem geschiedenen Mann, dafür war sie zu kalt und leidenschaftslos. […] Aber heute, nachdem sie begriffen hatte, daß sie Platonow [den Offizier] nicht ermorden konnte, wurde ihr plötzlich klar, daß er ihr nicht gleichgültig war, daß sie Zuneigung für ihn empfand. Sie hatte sich ein Spiel ausgedacht, sie hatte Dima [Platonow] benutzt, um sich an dem 38 Russ.: »[…] тот первый выстрел дался ей на удивление легко. Просто надо сосредоточиться на цели и не думать о том, что это чья-то жизнь, что это живой человек, такой же, как она сама. Кира умела отвлекаться от всего несущественного и не думать о постороннем« (S. 294). 39 Russ.: »[…], глядя в спокойные глаза снайпера, […] подумал, что о больной психике здесь и речи нет. »Это не человек […] – это машина для убийства, которая ничего не чувствует, которой неведомы ни сомнения, ни страх, ни жалость […]« (S. 280). 40 Russ.: »[…] oна вдруг поняла, что выбросила шесть человек из жизни легким движением пальца на спусковом крючке, как игроки, взяв в руки колоду карт, первым делом выбрасывают ненужные для игры шестерки« (S. 297).

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Gefühl der Gefahr zu berauschen, sich einen ungewöhnlichen Kick zu verschaffen, aber schließlich war sie zur Mutter geworden, die ihr Kind bewachte und beschützte, ihm dabei half, aus einer schwierigen und gefährlichen Situation herauszukommen. (MVK, 284–285)41

Bei den anderen Komponenten des Interpretationsrahmens »Killerin/Mörderin«, d. h. bei »Opfer« (жертва), »Tatwaffe« (орудие), »Tatzeit« (время), »Tatort« (место) und »Strafe« (наказание) handelt es sich um folgende textliche Umsetzungen: »Opfer« (жертва): »Sie beschloß, daß sie Frauen und alte Leute verschonen würde, sie wollte sich auf junge Männer konzentrieren, die alle etwa im gleichen Alter waren. Die Miliz sollte glauben, daß sie von einem schießwütigen Psychopathen umgebracht wurden« (MVK, 267).42 »Tatwaffe« (орудие): »Eine Neunmillimeter-Stetschkin, Schuß in den Hinterkopf aus einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Metern« (MVK, 176).43 »Tatzeit« (время): »genau einmal pro Woche« (MVK, 57).44 »Tatort« (место): »Alle vier Stellen waren unterschiedlich weit vom Moskauer Stadtzentrum entfernt, bei der nächstliegenden waren es vierzig Kilometer, bei der entferntesten einhundertzehn« (MVK, 72).45 »Strafe« (наказание): »Aber ich weiß es. Sie muß Sie umbringen. Sie hat einen Auftrag bekommen.« »Mich umbringen?« »Ja, Dima. Und sich selbst auch.« »Ich verstehe nicht…« »Sie hat als Scharfschützin den Auftrag erhalten, Dmitrij Platonow und seine Komplizin Kira Lewtschenko umzubringen. […]« (MVK, 312)46

41 Russ.: »Впервые за много лет ее захлестнула волна сочувствия и нежности. Кира Левченко никогда никого не любила, кроме своего бывшего мужа, она была для этого слишком холодна и невозмутима […] А сегодня, поняв, что не может убить Платонова, она внезапно поняла, что успела привязаться к нему, что он ей не безразличен, что она заигралась в придуманную ею же игру, сделав Дмитрия источником необычных острых ощущений, подпитывающих ее азарт, а в результате оказалась в роли матери, опекающей и оберегающей своего ребенка, помогающей ему выбраться из сложной и опасной ситуации« (S. 313–314). 42 Russ.: »Для себя она решила, что женщин и стариков трогать не будет, постарается выбирать молодых мужчин примерно одного и того же возраста. Пусть милиция думает, что их отстреливает сумасшедший маньяк« (S. 294). 43 Russ.: »Девятимиллиметровый револьвер Стечкина, выстрел в затылок примерно с двадцати пяти метров« (S. 192). 44 Russ.: »Их по выходным дням отстреливают […]?« (S. 74–75). 45 Russ.: »Все точки находились на разном расстоянии от центра Москвы, самая ближняя – в сорока километрах, самая дальняя – в ста десяти« (S. 77–78). 46 Russ.: »[…] Левченко получила заказ на собственное убийство« (S. 342).

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Am Romanende stirbt Lewtschenko im brennenden Auto – das Schicksal hat sie bestraft.

VI Die lexikalisch-semantische Textanalyse von Marininas Mit verdeckten Karten belegt, dass in ihrem Kriminalroman dem Interpretationsrahmen »Killerin/ Mörderin« durchaus eine Bedeutung beigemessen werden kann, zumal das Rahmenkonzept erlaubt, die ganze Palette an möglichen Sprachausdrücken abzustecken, die bei konkreten Fallsituationen verschiedene Aspekte der ihnen entsprechenden Begriffsstruktur »Killerin/Mörderin« zutage fördern (können).

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Internetquellen Murawska, Paulina: Substantywno-substantywne konstrukcja ła˛cznikowe o znaczeniu osobowym we współczesnym je˛zyku rosyjskim. Dissertation (2015) abgelegt an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität zu Posen. URL: https://repozytorium.amu.edu.pl/bitstream/10593/14302/1/Murawska_rozprawa_dokt orska.pdf / letzter Zugriff am 18. Dezember 2022. Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 59. Смертная казнь. URL: https://fzrf.su/kodeks/uk/st-59.php / letzter Zugriff am 18. Dezember 2022. Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 105. Убийство. URL: https://fzrf.su/kodeks/uk/st-105.php / letzter Zugriff am 18. Dezember 2022. Уголовный кодекс Российской Федерации от 13 июня 1996. Статья 107. Убийство, совершенное в состоянии аффекта. URL: https://fzrf.su/kodeks/uk/st-107.php / letzter Zugriff am 18. Dezember 2022.

Wegbereiter des ›Frauenkrimis‹

Nikolas Buck (Kiel)

Mit Verstand und Herz. Die Darstellung weiblicher Sherlock-Holmes-Figuren in Heftromanserien der Kaiserzeit

Einleitung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht sich die Öffentlichkeit des Deutschen Reichs mit einem Phänomen konfrontiert, das aus den USA stammend auf den deutschen Literaturmarkt drängt und rasch heftige Gegenreaktionen vonseiten des Staates, von Kulturorganisationen und Bildungseinrichtungen hervorruft. Gemeint sind die neuen, überaus erfolgreichen Heftromanserien. Als Negativbeispiele in dem erbittert geführten Kampf gegen die sogenannte ›Schundliteratur‹ und ihre vermeintlich »gemeingefährlich[en]«1 Wirkungen, insbesondere auf die Jugend der unteren Schichten, nehmen dabei zwei Serien eine durchaus prominente Stellung ein, deren erzählerisches Zentrum – ein deutsches Spezifikum in der Geschichte der dime novel – von weiblichen Detektivfiguren gebildet wird. Die ›Meister-Detektivinnen‹ Wanda von Brannburg und Ethel King, die in der Forschung zwar immer wieder Erwähnung gefunden haben2, bislang jedoch noch nicht eingehend untersucht worden sind, teilen mit dem prominentesten Vertreter ihres Fachs, Sherlock Holmes, nicht nur die vernunftmäßige Begabung, sondern zeigen sich auch in hohem Maße tatkräftig und autonom, womit ihre Darstellung auf signifikante Weise von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschenden dichotomen Attribuierung der Geschlechter abweicht. Um diese ›Besonderheit‹ des Wesens der Ermittlerinnen zu profilieren, bedienen sich die Texte verschiedener Formen der Charakterisierung, wobei eine der auffälligsten in der Kontrastierung mit anderen Frauenfiguren besteht, die in ihrer Funktion als Opfer, Angehörige und Täterinnen wiederum äußerst stereotypen Rollen1 Brunner, Karl: Unser Volk in Gefahr! Ein Kampfruf gegen die Schundliteratur. Pforzheim: Verlag der Volkstümlichen Bücherei 1909, S. 5. 2 Vgl. die Hinweise auf die beiden Heftromanserien in gängigen Handbüchern zur Kriminalliteratur: Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 108; Jaekel, Charlotte: Kriminalliteratur von 1900 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 297–302, hier S. 301.

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mustern folgen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die beiden Heftromanserien über verschiedene textinterne Strategien versuchen, diese potentiell normbrechenden Geschlechterdarstellungen selbst wieder einzuhegen, indem sie die Normabweichung auf verschiedene Weise lizenzieren und/oder relativieren. Nach einem kurzen Überblick über die Konzeption und den Publikationskontext der beiden Serien sowie den Kampf gegen die ›Schundliteratur‹ werden sich die folgenden Ausführungen insbesondere dieses äußerst spannungsreichen Spagats zwischen der kalkulierten sensationellen Normabweichung der weiblichen Detektivfiguren und den tendenziell dagegen laufenden Strategien der ›Normalisierung‹ annehmen, um die sich hieraus ergebenden gleitenden Übergänge bzw. Brüche in den Figurenkonzeptionen und ihre textinterne Bewertung offenzulegen und diese schließlich an die zeitgenössischen Geschlechterbilder rückzukoppeln. Eine kleine Einschränkung aber noch vorweg: Als ich im Sommer 2021 dieses Beitragsthema anbot, ahnte ich wohl, dass es nicht ganz einfach werden würde, auf herkömmlichem Wege an das Primärtextmaterial zu gelangen. Wie dürftig sich die Überlieferungslage am Ende herausstellte, hat mich dann aber doch überrascht. Über Bibliotheken, Archive und den antiquarischen Buchhandel konnte ich keine Hefte der von mir in den Blick genommenen Serien erhalten. Erst über die Kontaktaufnahme mit der Sammlerszene war es mir letztlich möglich, Kopien von insgesamt zwei Wanda-Heften und 15 Ethel-King-Heften zu beschaffen.3 Die folgenden Ausführungen stehen also unter dem gewissen Vorbehalt, dass nur ein kleiner Teil des ursprünglich erschienenen Textkorpus zur Analyse bereitstand.

Zur Geschichte des Heftromans und des Kampfes gegen die sogenannte ›Schundliteratur‹ »Das Groschenheft ist«, wie es Claudia Stockinger zuletzt formuliert hat, »der Inbegriff gelesener Literatur«.4 Es befindet sich zwar seit geraumer Zeit hinsichtlich des Absatzes auf dem absteigenden Ast; noch immer drucken die heutigen Marktführer Bastei-Lübbe, Kelter und Cora jedoch jährlich Dutzende

3 Mein großer Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung der Texte gilt an dieser Stelle Mirko Schädel, Werner Kocicka, Kaspar Maase, Heinz J. Galle, Peter Wanjek und Hartmut Muche. 4 Stockinger, Claudia: »Das All dort draußen zeigt uns, wer wir sind«. Die Leseuniversen der Groschenhefte. In: Martus, Steffen/Spoerhase, Carlos (Hg.): Gelesene Literatur. Populäre Lektüre im Medienwandel. München: edition text+kritik 2018, S. 83–95, hier S. 83.

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Millionen Hefte.5 Als »Golden Age« des deutschen Groschenhefts gelten indes die Jahre 1905 bis 1914. Nach dem erfolgreichen ›Import‹ der Serien Buffalo Bill und Nick Carter aus den USA, die sich von der älteren Tradition deutscher Kolportageliteratur vor allem durch ihre titelgebende Zentralfigur und die Veröffentlichung von kurzen, in sich abgeschlossenen Episoden unterschieden, kam es in diesem Zeitraum zur Etablierung unzähliger, vermehrt auch genuin deutscher Heftromanserien mit spannungsgeladener Abenteuer- oder Krimi-Handlung, die stetig steigende Auflagen-, Umsatz- und Leser:innenzahlen generierten.6 Dabei scheint es – im Gegensatz zu heute – zu einem bedeutenden Teil die Jugend gewesen zu sein, die dieses neue Literaturformat konsumierte. Denn schon bald rief der Erfolg der Groschenhefte – wie einleitend bereits erwähnt – ein wahres Heer von in der Mehrheit bürgerlich-konservativen, männlichen ›Sittenwächtern‹ auf den Plan7, die es, wie ein Flugblatt aus dem Jahr 1908 mit dem Titel Eltern, schützet Eure Kinder! herausstellt, als ihre »heilige Pflicht«8 ansahen, »mit den schärfsten Waffen gegen die scheußlichen Machwerke« und ihre vermeintlich jugendgefährdende Wirkung vorzugehen.9 Zu diesen Waffen 5 Vgl. ebd., S. 90–91 sowie Sürig, Dieter: Herzschmerz. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 19. März 2017. 6 Zur Frühzeit des deutschen Heftromans vgl. Fullerton, Ronald: Toward A Commercial Popular Culture in Germany: The Development of Pamphlet Fiction, 1871–1914. In: »Journal of Social History« 12 (1979), H. 4, S. 489–511; Schmidtke, Werner G.: Sherlock Holmes auf der Hintertreppe: Die Kriminalerzählung im deutschen Heftroman. In: Arnold, Armin (Hg.): Sherlock Holmes auf der Hintertreppe. Aufsätze zur Kriminalliteratur. Bonn: Bouvier 1981, S. 7–81, hier v. a. S. 17–24; Galle, Heinz J.: Groschenhefte. Die Geschichte der deutschen Trivialliteratur. Frankfurt (Main)/Berlin: Ullstein 1988, S. 14–27; Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane. Bd. 2: Vom Kaiserreich zum »Dritten Reich« – 40 Jahre populäre Lesestoffe. Lüneburg: Dieter von Reeken 2009, S. 15–18; Huck, Christian: American Dime Novels on the German Market: the Role of Gatekeepers. In: Huck, Christian/Bauernschmidt, Stefan (Hg.): Travelling Goods, Travelling Moods. Varieties of Cultural Appropriation (1815–1950). Frankfurt (Main)/New York: Campus 2012, S. 105–123. 7 Zu diesem ›Kampf gegen Schmutz und Schund‹ vgl. Maase, Kaspar: Die Kinder der Massenliteratur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt (Main)/New York: Campus 2012, hier v. a. S. 46–58, 67–74 u. 86–122; Jäger, Georg: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: »Archiv für Geschichte des Buchwesens« 31 (1988), S. 163–191; zur sozialen Zusammensetzung der Kampagne, an der zum Teil auch sozialdemokratisch gesinnte Akteure beteiligt waren, vgl. Storim, Mirjam: Literatur und Sittlichkeit. Zur Unterhaltungsliteraturdebatte um 1900. In: Lehmstedt, Mark/Herzog, Andreas (Hg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900. Wiesbaden: Harrassowitz 1999, S. 369–395, hier S. 378– 383. 8 Die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg: Eltern, schützet Eure Kinder! Flugblatt. Hamburg 1908. Zit. nach: Schultze, Ernst: Die Schundliteratur. Ihr Wesen – Ihre Folgen – Ihre Bekämpfung. Halle (Saale): Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1911, S. 157–158, hier S. 158. 9 Ebd., S. 157.

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gehörten zunächst das Konfiszieren von Heften in Bildungseinrichtungen, das öffentliche Bloßstellen derjenigen, die sich mit diesen erwischen ließen, eine rege Agitationstätigkeit in Form von Publikationen, Reden und Ausstellungen sowie der Versuch, über günstige Buchreihen mit ›schöner‹ Literatur, mit Volksbibliotheken- und -bildungsvereinen ein Gegengewicht zu schaffen. Es bleibt freilich nicht bei Rhetorik und vermeintlicher Aufklärung; unter Anwendung des im Ersten Weltkrieg geltenden »Gesetzes über den Belagerungszustand« kommt es schließlich im März 1916 zum vorläufigen Verbot aller bekannten Heftromanserien.10 Doch welche Argumente brachten die selbst ernannten Kämpfer gegen die ›Schundliteratur‹ konkret vor? Neben ökonomischen Auswirkungen – die die Produzent:innen von Heftromanen reich, deren Leser:innen vornehmlich aus unteren Schichten dagegen arm machen würden – sind es vor allem zwei miteinander zusammenhängende Kritikpunkte, die stets wiederkehren.11 Zum einen würde die Lektüre der »in Blut und Wollust getauchte[n] Literatur« durch anstößige Handlungselemente, ebenso wie durch die »grellfarbige[]« Umschlaggestaltung eine übermäßige Sinnesreizung hervorrufen12, die zu einer ›Abstumpfung‹ und ›Verwilderung‹ führen würde.13 Zum anderen würde die »Unmöglichkeit, die Unsinnigkeit, die Verrücktheit des Dargestellten«, da die jugendliche Leserschaft diese nicht erkennen würden, ihren »Sinn für Wirklichkeit und Wahrheit« zerstören.14 Die hieraus angeblich konkret erwachsenden Folgen, die in den Aufrufen gegen die ›Schundliteratur‹ mit allerlei Berichten aus der Tagespresse, von Pädagog:innen und verzweifelten Eltern untermalt werden, reichen von übertriebener Abenteuerlust, über Tobsucht, Wahnvorstellungen und suizidalem Verhalten, bis hin zur Entwicklung eigener krimineller Energie.15 Exemplarisch zitiert sei in diesem Zusammenhang eine Schrift mit dem Titel 10 Vgl. u. a. Jäger, Georg: Der Kampf gegen Schmutz und Schund, S. 178–188. 11 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Jäger, ebd., S. 173–178. 12 [Anonym]: Erfolgreiche Bekämpfung der Schundliteratur [Bericht über einen Vortrag Ernst Schultzes]. In: »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« Nr. 272 vom 24. November 1910, S. 1876–1877, hier S. 1876. 13 Vgl. die Wortwahl in Schultze, Ernst: Die Schundliteratur, S. 41 und Brunner, Karl: Unser Volk in Gefahr, S. 21. 14 Die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg: Eltern, schützet Eure Kinder!, S. 157–158. Noch im Jahr 1930 widmet sich Hans Epstein in einem Unterkapitel seiner Analyse der Detektivserie Frank Allan in kritischer Absicht »›dem phantastisch-abenteuerliche[n]‹ Element« der Texte. Siehe Epstein, Hans: Der Detektivroman der Unterschicht. Die Frank Allan-Serie. Frankfurt (Main): Neuer Frankfurter Verlag 1930, S. 11–12. 15 Vgl. die Kataloge angeblich nachgewiesener negativer Wirkungen der Lektüre von Heftromanen in Schultze, Ernst: Die Schundliteratur, S. 36–54; Brunner, Karl: Unser Volk in Gefahr, S. 18–24; Bach, Wilhelm Carl: Zum Kampfe gegen die Schundliteratur. Bielefeld: A. Helmichs Buchhandlung 1909, S. 10–12.

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Unser Volk in Gefahr aus dem Jahr 1909. Deren Autor Karl Brunner war zunächst Gymnasialprofessor und stieg später in der Weimarer Republik zum obersten Zensor auf – Spitzname: »Schmutzbrunner«16: Alle Verbrechen sind auf der großen Liste der nachweisbar auf die Schundliteratur zurückzuführenden Schandtaten vertreten: Beleidigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Betrug, Erpressung, Diebstahl, Einbruch, Straßenraub, Totschlag, Mord. Als Einzelfall mag die Tatsache genügen, daß bei den unlängst in Dresden verurteilten Kindsmörderinnen Frida Helm und Anna Barthe etwa 50 Hefte Räuberromane, 20 Nick Carter-Hefte und 20 Hefte Buffalo-Bill beschlagnahmt wurden.17

Eine der öffentlichkeitswirksamsten Maßnahmen der Heftroman-Gegner stellte indes die unter Schirmherrschaft der in Hamburg ansässigen Deutschen DichterGedächtnis-Stiftung organisierte Wanderausstellung gegen die ›Schundliteratur‹ dar, die auf großes öffentliches Interesse stieß und in den Jahren 1910 bis 1912 in insgesamt 61 Städten gezeigt wurde.18 Der Pädagoge Erich Rommel beschreibt seine Eindrücke vom Besuch dieser Ausstellung in Berlin in einem Aufsatz mit dem Titel Ein gefährlicher Feind unserer Jugend wie folgt: Im Reichstagsgebäude dienten den Zwecken der Aussteller einige größere Zimmer und Säle im dritten Stockwerk; zu ihnen stieg man über breite Treppen empor, deren Geländer und Stufen zu beiden Seiten die Produkte der aus Amerika zu uns herübergeflossenen Schlammflut der Nick-Carter-Bücher zierten. […] Im Vorraum war eine Zusammenstellung verschiedener Hefte zu sehen […]. Hier fand man lauter alte Bekannte: den Luftpiraten, Störtebecker, Ethel King, Nat Pinkerton, und neben vielen anderen eine mir neue Erscheinung, Detektivhefte, die die unglaublichen, ans Fabelhafte grenzenden Taten der »deutschen Meisterdetektivin Wanda von Brannburg« behandeln und glorifizieren. Eins ihrer beliebtesten Werke behandelt die mit »ungeheurem« Scharfsinn ausgeführte Aufdeckung der Machenschaften einer Wurstfabrik, deren Fabrikate – sie sollen reißenden Absatz gefunden haben – aus geschlachteten Mädchen hergestellt wurden. »Pfui Teufel« sagt der Leser, und ich habe wohl nichts in der Ausstellung öfter gehört als diesen derben Ausdruck tiefsten Abscheus.19

Nun lag dieses hier erwähnte Wanda-Heft für die Analyse nicht vor und die Inhaltsparaphrase hört sich in der Tat recht reißerisch an; doch scheint der 16 Vgl. zur Rolle Brunners im Kampf gegen die Schundliteratur Mildenberger, Florian G.: Der Paladin der Sittlichkeit. Leben, Werk und Wirkung von Karl Brunner (1872–1944). In: »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« 66 (2018), S. 203–223; vgl. – im Kontext des berühmten von Brunner mitinitiierten Prozesses um Schnitzlers Reigen – auch Arnold, Heinz Ludwig: Der falsch gewonnene Prozeß. Das Verfahren gegen Arthur Schnitzlers Reigen. In: »Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur« 138/139 (2019), S. 114–122, hier S. 117–121. 17 Brunner, Karl: Unser Volk in Gefahr, S. 23. 18 Vgl. die Dokumentation von Müller, Marcel: Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung. In: »Archiv für die Geschichte des Buchwesens« 26 (1986), S. 131–215, hier v. a. S. 148–150. 19 Rommel, Erich: Ein gefährlicher Feind unserer Jugend. In: »Pädagogisches Archiv« 53 (1911), H. 2, S. 65–75, hier S. 74.

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Hauptgrund für die harsche Ablehnung der Serie weniger in konkreten Inhalten als viel mehr in der erwähnten Abweichung vom ›Möglichen‹ und ›Sinnigen‹ zu liegen. Und diese sieht Rommel in der Figur der weiblichen Detektivfigur in besonderem Maße gegeben – die Formulierungen ›unglaubliche, ans Fabelhafte grenzende Taten‹ und ›ungeheurer Scharfsinn‹ deuten klar darauf hin. Heinz J. Galle stellt hierzu fest: Es ist eigentlich erstaunlich, daß die Leser dem Verlag einen weiblichen Detektiv [gemeint ist Ethel King – N.B.] abnahmen, der zudem mit der Waffe in der Hand umgehen konnte wie seine männlichen Kollegen. Dem im Kaiserreich verbreiteten Bild der Frau als zurückgezogen lebende Gattin und Mutter entsprach Ethel King jedenfalls nicht. Dabei stand Ethel King noch nicht einmal allein da, das eigentliche Schreckgespenst der Pädagogen vor dem Ersten Weltkrieg war vielmehr Wanda von Brannburg […].20

Auffällig ist denn auch, wie häufig Wanda von Brannburg und Ethel King im Verhältnis zur weitaus größeren Zahl ähnlicher Heftromanserien mit männlichen Helden in der ›Schundliteratur‹-Debatte namentlich erwähnt werden und – so die Bewertung von Dr. Ernst Schultze, dem lange Zeit bekanntesten Gesicht der Kampagne – als vermeintlich besonders »ekelhaft[e]« und »seelenverheerend[e]« Beispiele herhalten müssen.21 Die negativ bewertete Abweichung ergibt sich dabei – so die weiterleitende These – nicht zuletzt aus der von Galle angedeuteten zentralen und autonomen Stellung, die den in der Öffentlichkeit wirkenden Ermittlerinnen im Rahmen der Krimi-Handlung zukommt. Denn, wie Ute Planert in ihrer Monographie zum Antifeminismus im Kaiserreich herausarbeitet, war das beginnende 20. Jahrhundert weiterhin von der Vorstellung polar gegenüberstehender »Geschlechtscharaktere« geprägt – ein am Ende des 18. Jahrhunderts entstandenes Konzept22, das vermeintlich typische physiologische und psychologische Geschlechtsmerkmale als korrespondierend betrachtet: Der Begriff koppelte äußerliche Verschiedenheit an moralische Befunde, wies Frauen die Sphäre der Liebe zu, Männern dagegen das Reich des Rechts. Mit der Naturalisierung sozialer Rollenzuweisungen verwies die aufsteigende Bürgergesellschaft Frauen auf das Gebiet familialer Häuslichkeit, während sich die neuer-

20 Galle, Heinz J.: Groschenhefte, S. 32–33. 21 Schultze, Ernst: Die Schundliteratur, S. 25. Als ein weiteres Indiz für die Sonderstellung der bereits 1908 eingestellten Serie Wanda von Brannburg in der Debatte um die Schundliteratur ist der Umstand zu werten, dass sie noch bis ins Jahr 1918 hinein »symbolisch« auf den amtlichen Verbotslisten geführt wird. Vgl. den Hinweis bei Maase, Kaspar: Die Kinder der Massenliteratur, S. 217. 22 Vgl. hierzu den ›klassischen‹ Aufsatz von Hausen, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben [1976]. In: Hausen, Karin (Hg.): Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 19–49.

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oberte Öffentlichkeit als Raum von Männern für Männer etablierte, in dem Frauen nur als Ausnahme zugelassen waren.23

Die sich hieraus ergebenden dichotomen Wertzuschreibungen fasst Weertje Willms folgendermaßen zusammen: »Zum Männlichkeitskonzept gehören Werte wie Rationalität, Aktivität und Produktion, zum Weiblichkeitskonzept Emotionalität, Passivität und Reproduktion.«24 In welchem konkreten Verhältnis diese Attribuierung der Geschlechter zu den Darstellungen in den genannten Heftromanserien steht, soll im Folgenden untersucht werden.

Wanda von Brannburg – »De verdorbne Jung« Die Heftromanserie Wanda von Brannburg ist vermutlich in den Jahren 1907/08 im Dresdner Meteor Verlag in insgesamt 22 Folgen erschienen.25 Sie war also im Vergleich zu anderen Serien der Zeit eine vergleichsweise kurzlebige Erscheinung – was ihre wiederholte namentliche Erwähnung im Rahmen der Kampagne gegen die ›Schundliteratur‹ noch auffälliger erscheinen lässt. Als Autor der Hefte ist ein gewisser Emil Eggert aus Breslau angegeben, dessen wirkliche Existenz sich jedoch nicht nachweisen lässt.26 Die Serie dreht sich um die junge Baroness Wanda, die als Privatdetektivin mit engen Kontakten zur Berliner Polizei auf Verbrecherjagd geht. Schon durch den Untertitel »Deutschlands Meister Detectivin« wird eine enge Verbindung zur Figur des Sherlock Holmes hergestellt, die als »vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine« in gewisser Weise eine Übersteigerung der soeben erwähnten Männlichkeitskonzepte des 19. Jahrhunderts darstellt.27 Zugleich wird 23 Planert, Ute: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 21. 24 Willms, Weertje: Zwischen Überschwang und Repression. Zum Zusammenhang von Männlichkeit und Emotionen im bürgerlichen Trauerspiel und im sozialen Drama. In: Tholen, Toni/ Clare, Jennifer (Hg.): Literarische Männlichkeiten und Emotionen. Heidelberg: Winter 2013, S. 141–175, hier S. 161. 25 Vgl. die bibliographische Zusammenstellung in Wanjek, Peter: Der deutsche Heftroman. Ein Handbuch der zwischen 1900 und 1945 im Deutschen Reich erschienenen Romanhefte. Wilfersdorf: Hobby-Nostalgie-Druck K. Ganzbiller 1993, S. 500. 26 Zur gängigen Praxis der anonymen oder pseudonymen Veröffentlichung von Heftromanen vgl. Weiland, Gudrun: »Von einem sensationellen Erlebnis zum anderen getrieben…«. Kriminalheftromane und die Zeitgestalt ›Serialität‹ in den 1920er und 1930er Jahren. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2017, S. 93–106; vgl. auch den Hinweis bei Schmidtke, Werner G.: Sherlock Holmes auf der Hintertreppe, S. 47. 27 So der Ich-Erzähler Watson einleitend in Conan Doyles Ein Skandal in Böhmen; unmittelbar vorausgehend heißt es bereits: »Alle Gefühle […] waren seinem kalten, genauen, aber wundervoll ausgewogenen Geist zuwider« (Conan Doyle, Arthur: Ein Skandal in Böhmen. In: Conan Doyle, Arthur: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Zürich: Haffmans 1984, S. 7–36,

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in der Gestaltung der Paratexte eine enge Verknüpfung zur äußerst erfolgreichen und als Vorläufer der hardboiled school geltenden Nick-Carter-Serie28 hergestellt (siehe Abb. 1): Auf dem Titelblatt befindet sich am oberen linken Rand das Konterfei der Detektivin. Analog gestaltet ist auch die dreiteilige Betitelung mit dem Namen der Zentralfigur, einer lobpreisenden genaueren Bestimmung derselben und dem jeweiligen Titel des Einzelhefts. Den übrigen Platz nimmt eine bebilderte Szene samt zugehörigem Zitat aus dem Heft ein.29

Abb. 1: Titelblätter der Serien Nick Carter und Wanda von Brannburg

hier S. 7). Vgl. auch den Hinweis, dass »Kriminalliteratur […] lange als eine mit patriarchalen Strukturen assoziierte Gattung [galt]«, bei Müller-Adams, Elisa: Genderforschung. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 30–35, hier S. 30. Ulrike Landfester weist zugleich darauf hin, dass »die puristische intellektuelle Androgynie von Poes Dupin und Conan Doyles Holmes« schon früh auch gewisse »Spielräume« für die Auflösung von Geschlechtergrenzen eröffnet habe. Siehe Landfester, Ulrike: Das Geschlecht der Irene Adler, oder: Der geheimnisvolle Fall der schreibenden Frau in der deutschen Kriminalliteratur. In: »Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen« 28 (1996), S. 54–64, hier S. 56. 28 Zu Nick Carter, der ersten Kriminalheftromanserie in Deutschland, vgl. neben den bereits in Anm. 6 genannten Arbeiten zur Frühzeit des deutschen Heftromans auch Foltin, HansFriedrich: Vorwort. In: Foltin, Hans-Friedrich (Hg.): Nick Carter. Amerikas größter Detektiv. 25 Lieferungshefte in zwei Bänden. Bd. 1. Hildesheim/New York: Olms Presse 1971, S. V–VII. 29 Zur Umschlaggestaltung bzw. paratextuellen Rahmung von Heftromanserien in der Kaiserzeit und Weimarer Republik vgl. Weiland, Gudrun: Kriminalheftromane und die Zeitgestalt ›Serialität‹, S. 68–72.

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Bemerkenswert ist darüber hinaus die erste Textseite: Hier findet sich vor Beginn des Haupttextes noch eine seltsam widersprüchliche Kennzeichnung der Serie als »Sammlung hervorragender Kriminal-Novellen aller Länder genau nach den Tagebüchern der Baronesse von Brannburg«, das heißt eine Kennzeichnung der Texte als fiktional und authentisch zugleich.30 Auch in diesem Punkt lehnt sich die Konzeption der Serie eng an die Nick-Carter-Bände an, denn in einer mit »Autorisation!« überschriebenen Anzeige des Eichler-Verlags werden die »Erzählungen« in gleicher Weise auf vermeintliche Tagebuchaufzeichnungen des Detektivs – »eine getreue Wiedergabe persönlicher Erlebnisse« – zurückgeführt.31 Doch wie wird die Hauptfigur nun konkret charakterisiert? Da die erste Nummer im Wesentlichen die Vorgeschichte bzw. die Entwicklung zur Detektivin erzählt, gehe ich zunächst auf die Darstellung der Baroness im zweiten mir vorliegenden Band mit dem Titel Der Brautschmuck der schlesischen Herzogstochter ein. Der Text beginnt mit einer Schilderung des Mordes am Schmuckhändler Hartmann in einem Zug nach Breslau. Dieser befindet sich auf der Rückkehr aus der schlesischen Provinz – im Gepäck eine große Barschaft und den unbezahlbaren Brautschmuck der Tochter des Herzogs Montesberg –, als er von einer jungen Damenbekanntschaft und ihrem Komplizen zunächst betäubt und schließlich erschossen und beraubt wird. Auf dem Bahnhof in Breslau, wo der Tote entdeckt wird, tritt nun die »Baronesse« in Erscheinung, die in Ermittlerkreisen ihrer »geradezu sensationellen Erfolge wegen hochgeachtet« 30 Zwar hat die Genrebezeichnung ›Kriminalnovelle‹, wie Jörg Schönert festgestellt hat, im 19. Jahrhundert zunächst »keine ausschließliche Geltung für fiktive Kriminalgeschichten« (Schönert, Jörg: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive. In: »Geschichte und Gesellschaft« 9 (1983), H. 1, S. 49–68, hier S. 59). Doch habe sich bis zum Ende des Jahrhunderts die »Konkurrenz zwischen ›aktenmäßiger Behandlung‹ authentischer Fälle […] und ,Kriminalnovellen‹ im Sinne von freier literarischer Bearbeitung konkreter Fälle oder Fiktionen von Kriminalfällen und ihrer Strafverfolgung« (ebd.) verfestigt. Von daher ist die implizite Bezugnahme der eindeutig fiktionalen Wanda-Serie auf den von Hitzig und Häring herausgegebenen Neuen Pitaval (Untertitel: Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit) ein einigermaßen durchschaubares, fast ironisch anmutendes Manöver. Die dem ersten Band beigefügte Verlagsanzeige mit einem LeserPreisausschreiben setzt immerhin mit folgender Adressierung ein: »Für die Leser dieser spannenden und hochinteressanten Detektiv-Roman-Serie […]«. In der ›Tarnung‹ einer fiktiven Handlung als authentischen Fall stehen die hier behandelten Heftromanserien freilich in einer gewissen Tradition; schon Adolph Müllners Der Kaliber (1829), einer der ersten genuin literarischen Texte mit dominanter Ermittlungshandlung, trägt den Untertitel Aus den Papieren eines Criminalbeamten. 31 Siehe den Abdruck der Verlagsanzeige auf der vorletzten Seite des Faksimilebandes von Foltin, Hans-Friedrich (Hg.): Nick Carter. Amerikas größter Detektiv. Zu den Authentifizierungsstrategien der frühen Kriminalheftromanserien vgl. auch Weiland, Gudrun: Kriminalheftromane und die Zeitgestalt ›Serialität‹, S. 213–215; Schmidtke, Werner G.: Sherlock Holmes auf der Hintertreppe, S. 21.

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wird.32 »[E]ine hübsche, kecke Dame«,33 wie es heißt, die körperlich, wie das Portraitbild auf dem Titelblatt deutlich macht, durchaus dem tradierten Ideal zarter Weiblichkeit entspricht; auch ihre Stimme wird zwar als »energisch[]«, zugleich aber als »hell wie eine Glocke klingend[]«34 beschrieben. An dieser Stelle enden aber zunächst die Gemeinsamkeiten mit dem zeitgenössischen Frauenbild: Wanda, die sich zufällig wegen eines anderen Falls auf dem Bahnhof befindet, bekommt den Tumult mit und eilt schnurstracks zum Waggon mit der Leiche. Sogleich wird man als Leser:in Zeuge ihrer natürlichen Autorität, die auch vor Repräsentant:innen des Staates ihre Wirkung nicht verfehlt: [E]r [gemeint ist der Schaffner – N.B.] wollte den Toten […] gerade umdrehen, als eine befehlende Stimme erscholl: »Lassen Sie die Hand davon, Schaffner und kommen Sie heraus.« Der Beamte sah sich nach der Dame, welche diesen Befehl ausgesprochen, um, mußte aber wohl durch den bestimmten Ton derselben zu der Ueberzeugung gelangt sein, die Dame habe ein Recht, so zu sprechen [was sie als nicht-offizielle Ermittlerin de facto nicht hat – N.B.], und – gehorchte.35

Während der »Beamte bleichen Gesichts« mit der Situation sichtlich überfordert ist, ängstlich zu stottern beginnt und einen »konfus[en]« Eindruck macht36, geht Wanda von Brannburg sogleich routiniert und zielstrebig zur Ermittlungsarbeit über, nimmt Befragungen vor und untersucht den Tatort.37 Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die verbale und nonverbale Kommunikation der Baroness: Wie zu einem Kind sagt sie zum Bahnbeamten: »Nun treten Sie mal beiseite und lassen Sie uns in das Abteil […].«38 Ihre überlegene Position macht sie aber auch gegenüber dem anwesenden Inspektor deutlich, indem sie ihm mit »einladender Handbewegung« den Weg in den Waggon weist. Mit Blick auf die konkrete Ermittlungsarbeit ähnelt sie in vielerlei Hinsicht dem vorbildhaften Sherlock-Holmes-Modell.39 Insbesondere zeichnet sie sich

32 [Eggert, Emil]: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meister-Detectivin. Bd. 19: Der Brautschmuck der schlesischen Herzogstochter. Dresden: Meteor [1907/08], S. 8. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 27. 35 Ebd., S. 9. 36 Ebd. 37 Vgl. ebd., S. 8–15. 38 Ebd., S. 9. 39 Vgl. zu den Kennzeichen der Sherlock-Holmes-Figur u. a. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essays [sic!]. Frankfurt (Main): Athenaion 1975, S. 42–57; Suerbaum, Ulrich: Krimi. Analyse einer Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 54–58; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 38–43; in Abgrenzung zum hardboiled detective auch Heißenbüttel, Helmut: Spielregeln des Kriminalromans [1963/ 1966]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 111–120.

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durch einen ausgeprägten und vonseiten der Erzählinstanz und anderer Figuren immer wieder hervorgehobenen Scharfsinn aus, der sich noch einmal in eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit sowie eine hohe Kombinationsgabe differenzieren lässt.40 Geschickt nutzt sie moderne technische Hilfsmittel und ihre Verkleidungskünste.41 Gleichzeitig verfügt sie auch über eine erstaunlich große körperliche Energie: So springt sie schon einmal aus dem Fenster, um ein dringend benötigtes Auto aufzuhalten42 oder klettert zum Zwecke der Beweisführung auf Bahnwaggons, ohne – wie der Text ausdrücklich betont – auf den sich dort befindenden Schmutz zu achten.43 Am auffälligsten ist allerdings ihre sich bereits in der Anfangsszene offenbarende große Entschlusskraft und Führungsstärke, die einen Gesprächspartner dazu verleitet, sie als »moderne[n] Faust« zu bezeichnen: »›Sie sprechen einen Wunsch kaum aus, so wissen Sie auch schon demselben die Erfüllung zu verschaffen und sollte es durch einen Salto mortale geschehen müssen.«‹44 Erweitert man den Blick auf die übergreifende Figurenkonstellation, geraten zunächst die typischen Helferfiguren in den Blick. Denn ähnlich wie Holmes ist der Baroness eine treue Begleiterin mit dem Namen Marie Berger sowie ein Vertreter der offiziellen lokalen Polizei beigesellt. Dabei dient die Etablierung der Figuren Watson und Lestrade in Conan Doyles Sherlock-Holmes-Serie ja bekanntermaßen weniger der konkreten Unterstützung der Arbeit des Detektivs als der kontrastiven Profilierung der geistigen Fähigkeiten desselben45 – und tat-

40 Zur Beobachtungsgabe vgl. u. a. [Eggert, Emil]: Der Brautschmuck, S. 9: »ihre scharf umherschweifenden Augen schienen mit einem Blick alle Einzelheiten zugleich aufsaugen zu wollen«; zur Kombinationsgabe vgl. wiederum ebd., S. 22: »›Jetzt habe ich auch das letzte Bindeglied in der Beweiskette gefunden, und morgen mittag […] werde ich den Herren eine sehr interessante Demonstration vorführen können […].‹« In dieser Verknüpfung zweier stark ausgeprägter geistiger Fähigkeiten folgt die Darstellung der Ermittlungsmethoden Wandas einer Innovationsleistung Conan Doyles. Denn im Gegensatz zu Edgar Allan Poes Figur Dupin, in der noch acumen und attention mit der klaren Bevorzugung des ersteren gegeneinander ausgespielt werden, verknüpft Sherlock Holmes Beobachtung bzw. Empirie, d. h. attention, mit der Kraft der Ratio, d. h. acumen (vgl. hierzu Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans, S. 45–50). 41 Vgl. z. B. die Verwendung eines »elektrische[n] Leuchtstab[s]« zur Spurensicherung am Tatort ([Eggert, Emil]: Der Brautschmuck, S. 9) und den gelungenen Rollentausch mit ihrer Begleiterin (ebd., S. 19–24). 42 Vgl. ebd., S. 19. 43 Vgl. ebd., S. 12. 44 Ebd., S. 19. 45 Zur Funktion der Watson-Figur (sowie Lestrades) vgl. u. a. Kracauer, Siegfried: Detektiv [1922/1925]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 25–32, hier S. 31–32; Sˇklovskij, Viktor: Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle [1929]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 142–153, hier S. 143 u. 148; Suerbaum, Ulrich: Krimi, S. 52–54; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 43–44; Hanauska, Annika: Begleiter des De-

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sächlich ist dies auch bei Wanda von Brannburg feststellbar, wenn sie immer wieder voreilige Schlussfolgerungen des Inspektors korrigieren muss.46 Noch wichtiger als das Verhältnis der Ermittlerin zu ihren ›Untergebenen‹ sind für den hier verfolgten Fragehorizont jedoch die Kontrasteffekte, die im Zuge der Konfrontation Wandas mit zwei weiteren Frauenfiguren entstehen. Da wäre zunächst Isabella, die vor der Eheschließung stehende Tochter des Herzogs Montesberg, die im Laufe des Textes zur Zeugin des Mordes an ihrem Vater und anschließend Opfer einer Intrige des Täterpaars, ihres Cousins Heribert und dessen Geliebter, wird. Im Gegensatz zu Wanda ist in ihrem Verhalten ein erheblicher Mangel an Affektsteuerung und eine gering ausgeprägte Fähigkeit zu rationalem Denken abzulesen. Stets wird die Impulsivität des »Trotzkopf[s]«47 hervorgehoben; zugleich zeigt sie sich in ihrem Handeln wenig entschlussfreudig. Zwar verfügt sie – ihrem Stand als Herzogstochter gewissermaßen entsprechend – über eine »herrische[] Art«48; gleichzeitig ist sie jedoch sichtlich um den Zusammenhalt der Familie und das emotionale Gleichgewicht ihres Vaters bemüht.49 Während sich Isabella also zu großen Teilen in das in der Kaiserzeit immer noch vorherrschende Bild des weiblichen ›Geschlechtscharakters‹ fügt, ist eine weitere Frauenfigur vor allem durch Devianz geprägt. Gemeint ist die Schauspielerin und heimliche Ehefrau Heriberts Lucia Banclair. Diese zeigt sich bereits in der anfänglichen ersten Mordszene im Zugabteil als sowohl gut gekleidet und eloquent als auch mit einem verführerischen Lachen ausgestattet.50 Wie hier, aber auch im weiteren Verlauf des Textes deutlich wird, setzt sie ihre sinnlichen Reize skrupellos für ihre Zwecke ein und geht dabei wortwörtlich ›über Leichen‹. Damit widerspricht sie zwar signifikant der zeitgenössischen Vorstellung passiver Weiblichkeit, fügt sich aber gleichzeitig in ein weiteres misogynes Stereotyp ein, das – wie Carola Hilmes ausführlich herausgearbeitet hat – in der Zeit des Fin de Siècle in Kunst und Literatur äußerst präsent ist: das »Wunsch- und Angstbild« der Femme Fatale, das »Bild einer durch ihre Sinnlichkeit verderbenbringenden Frau«.51 Überdeutlich wird die damit zusammenhängende dämonisierende Tendenz der Charakterzeichnung in der obligatorischen Auflösung aller noch

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tektivs. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 221–223. Vgl. [Eggert, Emil]: Der Brautschmuck, S. 9–10 u. 14. Ebd., S. 28. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 17. Wie an dieser Stelle deutlich wird, hat sie ihrem Vater im Vorfeld des Mordes – um ihn seelisch zu schonen – nicht von dem schlechten Lebenswandel seines Neffen in Kenntnis gesetzt. Vgl. ebd., S. 6–8. Hilmes, Carola: Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler 1990, S. 5–6.

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offenen Rätsel des Falls am Ende der Erzählung. Denn der »scheußliche«52 Plan, der nicht nur den Raub der Juwelen und die Ermordung des Herzogs, sondern auch die vorige Beseitigung aller seiner Söhne beinhaltete, wurde allein auf ihre Initiative hin gefasst. Der Neffe des Herzogs Heribert war lediglich der »Sklave dieses verbrecherisch veranlagten Weibes«, ein »Verblendete[r] der verbrecherischen Sirene«.53 Auch wenn im Gegensatz zu diesem »weibliche[n] Satan«54 das von der dichotomen Norm ebenfalls abweichende Verhalten Wandas textintern vordergründig äußerst positiv bewertet wird, können gleichzeitig verschiedene Textstrategien identifiziert werden, die dazu tendieren, die ›männliche‹ Darstellung des Charakters wieder einzuhegen. Neben der adligen Herkunft der »Baronesse«, durch die sie per se mit einer gewissen Lizenz zur Autonomie und Extravaganz ausgestattet ist55, betrifft eine erste Strategie die kurzfristige Relativierung des mit der Sherlock-Holmes-Figur verbundenen Überlegenheitsmodells. Denn im Zuge des Versuchs, die Schuld Lucias zu beweisen, kommen bei Wanda überraschende Selbstzweifel auf. Als der in die Ermittlungen eingeweihte Bürgermeister der schlesischen Kleinstadt sie fragt, ob sie glaube, dass die Dame an dem Verbrechen beteiligt gewesen sei, muss Wanda stockend gestehen: »›Ich – weiß – es – nicht.‹«56 Auch gönnt sich die Protagonistin zumindest kleine Anflüge von Emotionen wie z. B. Erregung und Nervosität bei der Entdeckung von Spuren oder auch kurze Momente der Zufriedenheit im Erfolg.57 Eine zweite Strategie betrifft schließlich die konkrete Ermittlungsarbeit, in der sie nicht nur als kühl räsonierende Analytikerin auftritt, sondern zum Zwecke der Informationsbeschaffung auch emotionales Einfühlungsvermögen zeigt: »›Sie hatten mit Ihrer Annahme, es sei hier ein Mord geschehen, völlig Recht,‹ sprach die Detektivin den Beamten in dem ihr eigentümlichen, liebenswürdigen Tone, der ihr das Vertrauen des kleinen Mannes stets eintrug, an.«58 Die stärkste Form der Einhegung erfährt die potentiell normbrechende Figur der Baroness drittens jedoch dadurch, dass sie im ersten Heft der Serie eine 52 53 54 55

[Eggert, Emil]: Der Brautschmuck, S. 31. Ebd., S. 30–31. Ebd., S. 26. In diesem Zusammenhang ließen sich auch Querverbindungen zu den gleich mehrfachen Abweichungen herstellen, mit denen bereits die ›ungewöhnliche‹ Tätigkeit der ersten weiblichen Detektivfigur der deutschen Literaturgeschichte, des Fräuleins von Scuderi in E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung, in gewisser Weise legitimiert wird. Vgl. hierzu MüllerAdams, Elisa: Genderforschung, S. 33. 56 [Eggert, Emil]: Der Brautschmuck, S. 26. 57 Vgl. ebd., S. 12 u. 21. 58 Ebd., S. 11. Vgl. auch Wandas »sehr vorsichtiges Forschen« in der Befragung einer Wirtin an späterer Stelle, das letztlich jedoch zum Erfolg führt: »so erfuhr sie denn von der Wirtin alles« (ebd., S. 18).

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psychologisierende Vorgeschichte erhält, die ihr Auftreten und ihre spätere Tätigkeit als Privatdetektivin motiviert. Als Heranwachsende muss sie nämlich miterleben, wie in einer verhängnisvollen Nacht ihr Vater erschossen und das heimatliche Gut durch Brandstiftung zerstört wird. Obgleich sie in dieser Situation – auch hier kommt es wieder zum Einsatz von Kontrasteffekten – deutlich besonnener und tatkräftiger als ihre in Passivität erstarrten Schwestern reagiert59, wird gerade der Mord an ihrem Vater für sie zu einem traumatischen Erlebnis. Denn ebendieser Vater hatte ihr auffälliges Wesen, das ihr bei den Bediensteten den Spitznamen »De verdorbne Jung« eingebracht hat60, in besonderer Weise gefördert und damit eine Sozialisation jenseits der vorgezeichneten standes- und geschlechtsspezifischen ›Schicklichkeit‹ ermöglicht: Während sich die sechs Schwestern zu artigen, zierlichen Baroneßchen entwickelten, aus denen dann sechs junge Damen wurden, […] genau nach Vorschrift und allen den andern jungen Damen der Standesgenossen wie ein Ei dem andern gleichend, dafür aber auch ohne jede Eigenart, Schablonenmenschen, zur Genugtuung der Mutter die sechs »ersten« also vorzüglich einschlugen, zeigte der »Spätling« Wanda schon von den ersten Lebensjahren an, daß es ein ›Sonntagskind‹ sei, dem kein Zaun zu hoch um überklettert, kein Graben zu breit um übersprungen und kein dummer übermütiger Streich zu schwer war, um ausgeführt zu werden.61

Als man im Anschluss auch noch ihren Geliebten fälschlicherweise des Mordes an ihrem Vater bezichtigt, wird dies endgültig zur Initialzündung für ihre Ermittlungstätigkeit: »[…] diesen Bösewicht, der nicht nur den lieben Vater heimtückisch ermordet und uns zu Bettlern gemacht, sondern auch noch einen Unschuldigen für seine Untaten will leiden lassen, diesen Bösewicht will und werde ich finden.« Die Sprecherin ahnte nicht, daß sie mit diesem Worte […] ihrem ferneren Leben den Weg gewiesen und den Grundstein zu dem Bauwerke der kommenden dreizehn Lebensjahre gelegt, einem Bauwerke des Ruhms und der Ehre.62

Und tatsächlich gelingt es ihr bald, den wahren Schuldigen ausfindig zu machen; für ihren Geliebten kommt diese Nachricht indes zu spät. Er hat dem Druck des brutalen Untersuchungsrichters nicht mehr Stand halten können und sich in seiner Gefängniszelle erhängt, woraufhin die Baroness in Reaktion darauf – und in gewisser Weise zeitgenössisch-genderkonform – an einem »schweren Nervenfieber«63 erkrankt. Als Retter in der Not erweist sich schließlich eine Art 59 Vgl. [Eggert, Emil]: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meister-Detectivin. Bd. 1: Zur verbummfidelten Kunigunde oder Der Verbrecherkeller beim Alexanderplatz. Dresden: Meteor [1907/08], S. 4. 60 Ebd., S. 12. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 13–14. 63 Ebd., S. 23.

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Mentorfigur, ein alter Freund der Familie, der sie als Leiter der Berliner Kriminalpolizei unter seine Fittiche nimmt. Unter seiner Anleitung unternimmt sie ihre ersten Schritte als Detektivin – das hierdurch verdiente Geld sendet sie übrigens fürsorglich an ihre Mutter – und er ist es auch, der in ihr abschließend ein neues Ermittler:innen-Ideal erkennt, das zwischen den Sphären der Vernunft und des Gefühls zu vermitteln sucht: »›Ein goldiges, unverdorbenes Herz und dabei ein heller, klarer Verstand.‹«64

Ethel King – das »Teufelsweib« Die zweite kaiserzeitliche Heftromanserie mit weiblicher Hauptfigur stammt aus dem Dresdner Roman-Verlag. Die erste Nummer der Serie Ethel King, die den Untertitel »Ein weiblicher Sherlock Holmes« trägt, wurde wahrscheinlich zu einem ganz ähnlichen Zeitpunkt wie Wanda von Brannburg um das Jahr 1908 herum veröffentlicht. Sie war jedoch etwas langlebiger und vor allem verbreiteter. Die Bibliographie von Peter Wanjek verzeichnet insgesamt 200 Bände, die nach Recherchen Heinz J. Galles wahrscheinlich bis 1911/1912 erschienen und zum Teil sogar in Übersetzungen im europäischen Ausland vermarktet worden sind.65 Im Zentrum der Serie steht die in Philadelphia tätige Privatdetektivin Ethel King, eine Frau unbestimmten mittleren Alters, die ähnlich wie die Baroness für ihren außerordentlichen Scharfsinn gerühmt wird – und zumindest die Fähigkeit zur genauen Beobachtung kann man ihr auch nicht absprechen;66 im Fokus stehen jedoch eindeutig andere Eigenschaften, und zwar ihre Tatkraft, Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit. Analog dazu sind die Handlungsverläufe auch 64 Ebd., S. 32. 65 Vgl. Wanjek, Peter: Der deutsche Heftroman, S. 129–131; Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane, S. 82; zur Übersetzung deutscher Heftromane in andere europäische Sprachen vgl. die Hinweise bei Weiland, Gudrun: Kriminalheftromane und die Zeitgestalt ›Serialität‹, S. 63–64. Eine dritte frühe Ermittlerin mit dem Namen Harriet Bolton-Rheydt »versteckt« sich nach persönlicher Auskunft des Wiener Sammlers Werner Kocicka in der Heftromanreihe Rund um die Welt. Insgesamt 13 Titel aus der Reihe konnte mir Kocicka nennen: Bd. 13 (Harriet Bolton-Rheydt, der weibl. Detektiv), Bd. 17 (Der Millionenraub im Hause Vanderbilt), Bd. 21 (Das Geheimnis des Mormonen), Bd. 28 (Bis ins Grab verfolgt), Bd. 36 (King Fu, der Opiumkönig), Bd. 44 (Manrico, der schwarze Rächer), Bd. 47 (Die Geliebte des Defraudanten), Bd. 53 (Die Dollarprinzessin), Bd. 58 (Holmes, der Versicherungsmörder), Bd. 66 (Der Mann mit den drei Frauen), Bd. 79 (Die Totenhand), Bd. 94 (Der Affenmensch von New-Orleans), Bd. 112 (Der fliegende Tod). Erwähnung findet diese Detektivin auch in Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane, S. 57. 66 Vgl. die folgende Textpassage: »Sie [gemeint sind Blutflecken – N.B.] waren klein und befanden sich in weiten Abständen voneinander. Ein ungeübtes Auge hätte sie gar nicht beachtet, aber die Detektivin war gewohnt, auch den nebensächlichsten Merkmalen genaue Beachtung zu schenken« ([Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 27: Die gestohlenen Gemälde. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 16).

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stärker als in den von mir untersuchten Wanda-Heften von körperlichen Auseinandersetzungen und direkten Konfrontationen geprägt, in denen die Detektivin auch nicht vor Schusswaffengebrauch zurückschreckt. Die abschließende Überwältigung des Täters im Heft mit dem Titel Eine verhängnisvolle Neujahrsnacht (Nr. 28) wird beispielsweise folgendermaßen geschildert: »Ergeben Sie sich, Will Natick!« sagte sie kalt und hart. »Wagen Sie nur den geringsten Widerstand, so schieße ich!« […] Natick ergab sich nicht, er tobte wie ein Besessener und versuchte immer wieder, an den fünfjährigen Knaben Evelynes heranzukommen, um ihn zu töten. Die junge Frau stand mit ihrem Kinde bleich und starr wie eine Bildsäule in einer Ecke des Zimmers. Ethel King sah sich endlich genötigt, den Verbrecher, der infolge der Wunden, die ihm Pluto [der Bluthund der Detektivin – N.B.] zufügte, immer rasender wurde, durch einen Schuß in das Bein niederzuwerfen.67

Nicht so sehr im Fokus steht dagegen die raffinierte Auflösung rätselhafter Tatumstände. Vielmehr ist die Identität des Täters bzw. der Täterin in der Regel früh bekannt und nicht selten wechselt die Perspektive in längeren Erzählabschnitten zu den Bemühungen der Gegenspieler:innen, ihre begangenen Taten zu verschleiern oder neue Taten vorzubereiten. Kurzum: Die Serie Ethel King ist in der Typologie des Kriminalromans aufgrund ihres Akzents auf action-Elemente eher dem Thriller als der Detektiverzählung zuzuordnen.68 Dabei nutzt die Serie in ganz ähnlicher Form wie Wanda von Brannburg Kontrasteffekte zu anderen stereotypen Frauenfiguren, um die ›Besonderheiten‹ ihrer Protagonistin, allen voran ihre Souveränität bzw. Fähigkeit zur Affektregulierung und ihr aktives Eintreten für die öffentliche Sicherheit, hervortreten zu lassen. Und auch hier treffen wir wieder auf die bereits bekannten Gruppen: zum einen schwache weibliche Opferfiguren, zum anderen Femmes Fatales als Täterinnen. Zur ersten Gruppe zählt neben der jungen Mutter in dem soeben zitierten Heft etwa auch die »arme Mary« (Nr. 61), die am Traualtar erfahren muss, dass ihr fürsorglicher Bräutigam in Wahrheit ein brutaler Mörder und Heiratsschwindler ist: Mary Bonell, die junge Braut, stieß einen schwachen Schrei aus, dann wankte sie und brach bewusstlos zusammen. Der Schlag war zu entsetzlich gewesen und hatte ihr die Besinnung geraubt. Der Bräutigam aber stieß einen gellenden Fluch aus und riß ein Messer hervor. 67 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 28: Eine verhängnisvolle Neujahrsnacht. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 31. 68 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 22–65; Nusser bezieht sich in seiner dichotomen Gegenüberstellung von Detektiverzählung und Thriller u. a. auf Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman [1966]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 73–83.

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»Sie werden dieses arme, junge Mädchen nicht unglücklich machen, William Wilming!« sagte Ethel King mit heller, durchdringender Stimme. »Sie sind verhaftet und werden mir sofort nach dem Gefängnis folgen.«69

Eindeutig dem Femme-Fatale-Muster zuzuordnen ist dagegen Lilly Broons, die Gattenmörderin in dem gleichnamigen Heft mit der Nr. 59. Bei dieser Lilly Broons handelt es sich um »ein berückend schönes Weib […] von unvergleichlichem Reiz«70, die gewissenlos und aus reiner Habgier71 einen Mordanschlag auf ihren Ehemann verübt. Der Geschädigte kann Ethel Kings frühe Hypothese, dass es sich um eine Täterin handeln könnte, zunächst kaum glauben: »›[…] Welche Frau sollte das fertig bringen – sie wäre doch – eine Bestie!«72 Doch schon beim ersten Aufeinandertreffen zwischen der Detektivin und dem »schönen, dämonischen Weib[]«73 bestätigt sich der Verdacht: Während Ethel King das ganze Gespräch über die Ruhe bewahrt, kann Lilly ihre »verworfene Seele«74 und die damit zusammenhängenden zerstörerischen Affekte kaum verbergen: »Ihre Augen funkelten, ihre Finger spreizten sich wie Krallen.«75 Bereits in dem Band Jaconda, die Schlangenbändigerin (Nr. 11) kommt es zu einer direkten Gegenüberstellung dieser beiden klischeehaften Weiblichkeitskonzepte, als der junge Fred Ligety im Gespräch mit seiner Verlobten Ellen zwischen der Liebe zu ihr und der sinnlichen Anziehungskraft der mordenden indischstämmigen Witwe Jaconda abzuwägen versucht: »Denn im Herzen spüre ich’s ja, die Liebe zu Dir ist das Große, Heilige, für Jaconda aber lebt nur eine törichte, aufflackernde Leidenschaft in mir, die mir verhängnisvoll geworden ist! […] Du bist so sanft, so mild, so gut, jene aber kommt mir neben dir vor wie eine gleißende, schleichende Schlange!«76

Problematisch aus heutiger Sicht sind freilich nicht nur diese Klischees, sondern auch die Tatsache, dass es in der Darstellung der Hauptfigur Ethel King – anders als bei Wanda von Brannburg – in einigen Heften zu einer zeitweisen Annäherung an das Femme-Fatale-Muster kommt, und zwar in Hinblick auf die dämonischen Züge, die der Ermittlerin von männlichen Gegenspielern zuge69 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 61: Die Hochzeit der armen Mary. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 31–32. 70 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 59: Lilly Broons, die Gattenmörderin. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 18. 71 Vgl. ebd., S. 31. 72 Ebd., S. 13. 73 Ebd., S. 23. 74 Ebd., S. 32. 75 Ebd., S. 21. 76 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 11: Jaconda, die Schlangenbändigerin. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 26–27.

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schrieben werden. In den recht ausgiebigen Interaktionen mit diesen mischt sich nämlich in auffälliger Weise immer wieder Bewunderung mit Grauen. So entspinnt sich etwa in dem Heft Der Einbruch in die Nationalbank (Nr. 21), nachdem sich Ethel King wieder einmal aus einer ausweglosen Lage hat befreien können, folgendes Gespräch zwischen den Tätern: »›Es ist doch unmöglich, daß Tom Baker sie freigelassen hat.‹ ›Nein, das würde Baker nie getan haben! Im Gegenteil, ich war sicher, daß wir sie nicht mehr am Leben antreffen würden, wenn wir nach Hause kämen! Das Weib muß mit dem Teufel im Bunde sein!‹« Wenig später richtet einer der Täter das Wort direkt an die Ermittlerin: »›Sie sind ein Teufelsweib, Ethel King, und ich kann’s Ihnen ja gestehen, ich bewundere Ihre Kaltblütigkeit!‹«77 Diese Tendenz zur Entmenschlichung der Detektivin geht zuweilen – wie z. B. ein Gespräch zwischen den Täterfiguren im bereits zitierten Band Die Hochzeit der armen Mary offenbart – auch mit einer Animalisierung oder einer semantischen Umkehrung rechtmäßiger Ermittlungstätigkeit und krimineller Handlungen einher: »Ich bin dem Spürhund, der hinter dir herschlich, gefolgt! – Als du meine Wohnung verlassen, kam ich auf den Gedanken, Dir nachzuschauen! Ich dachte mir, Ethel King oder einer ihrer Spießgesellen könnte Dir vielleicht von Newark Bay aus gefolgt sein, falls jenes Weib, das Dich besuchte, die Spionin war! – Ich kenne ja die Art dieser Halunken! […]«78

Wie in der Wanda-Serie sind im Übrigen auch bei Ethel King die Paratexte höchst interessant (siehe Abb. 2). Nicht nur, dass der Ermittlerin ihrem ›handfesten‹ Auftreten gemäß auf dem Titelblatt härtere Gesichtszüge zugeeignet werden; auf der letzten Seite der meisten Ethel-King-Hefte befindet sich eine Verlagsanzeige, in der dem vonseiten der Heftroman-Kritiker hervorgebrachten Vorwurf des mangelnden ›Realismus‹ proaktiv begegnet wird: Ein Weib als Meisterdetektiv! Fast unmöglich will es scheinen, daß ein Weib imstande sein sollte, sich den furchtbaren Gefahren eines Berufes auszusetzen, der die größte Kaltblütigkeit, Verwegenheit und Entschlossenheit, verbunden mit scharfer Beobachtungsgabe, Schlauheit und List erfordert. Und doch lebt und wirkt noch heutigen Tags in den Vereinigten Staaten ein Weib, welches sich durch eine außergewöhnliche Befähi-

77 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 21: Der Einbruch in die Nationalbank. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 29–30. 78 [Anonym]: Die Hochzeit der armen Mary, S. 25. Besonders auffällig ist diesbezüglich auch der Band mit dem Titel Ein Bankdirektor als Verbrecher (vgl. [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 66: Ein Bankdirektor als Verbrecher. Dresden: Dresdner RomanVerlag [o. J.]), in dem Ethel King nicht nur mit zahlreichen abwertend gemeinten Tierbezeichnungen versehen wird – v. a. »weibliche[r] Spürhund« (ebd., S. 13) und »Katze« (ebd., S. 14) –, sondern der auch den folgenden erschreckten Ausruf des ertappten Komplizen beinhaltet: »›Du bist kein menschliches Wesen!‹ murmelte er. ›Du bist mit dem Satan im Bunde‹« (ebd., S. 22).

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Abb. 2: Umschlagseiten der Heftromanserie Ethel King

gung zum Berufe eines weiblichen Detektivs als solcher seit einer langen Reihe von Jahren betätigt und bereits eine hohe Zahl der großartigsten und überraschendsten Erfolge erzielt hat. […] sie ist keine Phantasiegestalt, sie lebt wirklich, und seit ihrem ersten Erfolge […] ist ihr Ruhm von Tag zu Tag gestiegen.79

Doch wie bei Wanda von Brannburg kann auch bei Ethel King gewissermaßen nicht sein, was nicht sein darf: Ihre ausgeprägte Kaltblütigkeit und Überlegenheit wird nämlich partiell dadurch gebrochen, dass die Detektivin, dessen Tätigkeitsraum zudem bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern im ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹ liegt, regelmäßig selbst körperlich überwältigt wird und dadurch in Lebensgefahr gerät. Dieses spannungsfördernde Handlungselement ist zwar bereits in der modellstehenden Nick-Carter-Serie ange-

79 So der in den meisten mir vorliegenden Bänden identische Wortlaut des Klappentextes auf der hinteren Umschlagseite (siehe auch Abb. 2). Eine innertextuelle selbstreferentielle Thematisierung des Phantastik-Problems bietet der in der vorigen Fußnote bereits erwähnte Fall um den Bankdirektor als Verbrecher, welcher Ethel King als »Person, von der man sich allerhand Märchen erzählt, die ebenso übertrieben wie erlogen sind« ([Anonym]: Ein Bankdirektor als Verbrecher, S. 7), begrüßt – der am Ende jedoch natürlich eines Besseren belehrt wird.

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legt;80 doch wird in diesem Zusammenhang bei Ethel King ausführlicher auf die Gefühlswelt der Protagonistin eingegangen, die im Zuge der Gefangennahme in einigen Heften durchaus auch Furcht und Schrecken empfindet – was sie nach Auskunft der Erzählinstanz freilich zu verbergen sucht: An der Wand war ein eiserner Ring befestigt, von welchem eine Kette herabhing, deren Ende mit einer Art Gurt versehen war. Dieser wurde nun von Tom der Detektivin wie ein Gürtel um die Taille gelegt, und er umspannte ihre Hüften mit schmerzhaftem Druck. Ethel King war es durchaus nicht behaglich zumute. Im Gegenteil, sie fühlte einen eisigen Schauer nach dem anderen über ihren Leib jagen, aber um keinen Preis der Welt hätte sie ihr Entsetzen äußerlich zeigen mögen.81

Im Heft Nr. 22, Der Marder im Pensionat, hat Ethel King infolge eines weiteren nur knapp vereitelten Tötungsversuchs sogar mit sichtbaren, länger andauernden Problemen zu kämpfen: Die fürchterlichen Anstrengungen, welche sie am Nachmittage stundenlang gemacht hatte, um sich von ihren Fesseln zu befreien, hatten ihre Kräfte geschwächt, die seelische Aufregung hatte auch dazu beigetragen, und obgleich sie mit aller Gewalt gegen die bleierne Müdigkeit ankämpfte, vermochte sie sich ihrer doch nicht zu erwehren.82

Die ostentative Gelassenheit wiederum, mit der sie in anderen Fällen auf ihre Gefangennahme reagiert, ist im Übrigen meist darauf zurückzuführen, dass sie um die baldige planmäßige Befreiung durch ihren jungen männlichen Gehilfen Charley Lux weiß. In diesen fast routinemäßigen Rettungsaktionen offenbart sich ein weiteres relativierendes Textelement, das die allgemeine Figurenkonstellation betrifft. Indem Charley nämlich nicht nur Stichwortgeber für die ›Meisterdetektivin‹ und staunender Kommentator ihrer Tätigkeit ist, sondern sich umgekehrt selbst als äußerst talentierter Ermittler erweist, der über ein gehöriges Maß an Eigeninitiative verfügt und auch bei der finalen Überführung und Überwältigung der Täter:innen in der Regel eine nicht unwichtige Rolle spielt, kommt es in der Ethel-King-Serie zu einer bemerkenswerten Aufwertung der Watson-Figur. Entsprechend wird Charley von der Erzählinstanz und anderen Figuren trotz des hierarchischen Verhältnisses zu Ethel King immer wieder auch selbst als »Detektiv« bezeichnet. Besonders offensichtlich wird die Aufwertung des Gefährten in dem Fall Die Verschwörung der »Messingjungen«, der von Charley fast im Alleingang gelöst wird. Während Ethel Kings eigene Ermittlungen gegen die jugendliche Einbrecherbande im Sande verlaufen, kann sich ihr Gehilfe erfolg80 Vgl. zu dieser »plot formula« die Hinweise bei Fullerton, Ronald: Toward a Commercial Popular Culture, S. 498–499. 81 [Anonym]: Der Einbruch in die Nationalbank, S. 11–12. 82 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 22: Ein Marder im Pensionat. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.]

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reich in die Gruppe einschleichen und auf diese Weise letztlich ihr Versteck ausfindig machen: Am Spätnachmittage verließ Ethel King das Bureau, um unverzüglich ihre Wohnung aufzusuchen. Dort traf sie Charley Lux bereits ihrer wartend an, und freudestrahlend berichtete er ihr, welchen Erfolg er bei der Beschattung des Messengerboys William Trenner gehabt hatte. Mit freudigem Erstaunen hörte sie zu. »Das ist ja großartig, Charley!« sagte sie. »Du hast Dich ja selber übertroffen! Nun werden wir in dieser Nacht die ganze Bande dingfest machen, und Inspektor Golding wird sich nicht schlecht wundern, wenn ich ihm mitteile, daß wir die Halunken bald im Netze haben!«83

Angesichts dieser engeren Zusammenarbeit zwischen Ethel King und ihrem Gefährten sowie anderen Helferfiguren wie dem Bluthund Pluto und Inspektor Golding stellt sich unweigerlich die Frage nach den sozialen Kompetenzen der ›Meisterdetektivin‹. Ein eindeutiges Bild lässt sich diesbezüglich jedoch nicht zeichnen: Während sie sich einerseits nach einem Anschlag auf Charleys Leben im Fall um Die gestohlenen Gemälde (Nr. 27) fast mütterlich um diesen kümmert84, sie sich in Nr. 28, Eine verhängnisvolle Neujahrsnacht, als einfühlsame Befragerin einer Zeugin erweist85, sie über freundschaftliche Kontakte zu verfügen scheint86 und zu Silvesterfeiern eingeladen wird87, spielt dieser Aspekt andererseits für ihre Ermittlungstätigkeit in vielen anderen Fällen kaum eine Rolle. Ganz im Gegenteil liegt der Akzent in emotionaler Hinsicht überwiegend auf ihrer ausgesprochenen Kaltblütigkeit. Nicht auszuschließen ist, dass diese partiellen Brüche in der Charakterzeichnung auch darauf zurückzuführen sind, dass die Texte für die Serie aus der Feder unterschiedlicher Autor:innen stammen.88

83 [Anonym]: Ethel King. Ein weiblicher Sherlock Holmes. Bd. 12: Die Verschwörung der »Messingjungen«. Dresden: Dresdner Roman-Verlag [o. J.], S. 23. 84 Vgl. [Anonym]: Die gestohlenen Gemälde, S. 19–21. 85 Vgl. [Anonym]: Eine verhängnisvolle Neujahrsnacht, S. 21–23. 86 Siehe den Fall der Gattenmörderin Lilly Broons, den Ethel King auch deswegen sofort übernimmt, weil sie mit dem geschädigten Arzt gut befreundet ist. Vgl. [Anonym]: Lilly Broons, die Gattenmörderin, S. 8–10. 87 Vgl. [Anonym]: Eine verhängnisvolle Neujahrsnacht, S. 6. 88 Vgl. zum Zusammenhang von multipler Autorschaft und erzählerischen Brüchen in frühen Heftromanserien auch den Hinweis bei Weiland, Gudrun: Kriminalheftromane und die Zeitgestalt ›Serialität‹, S. 230–231.

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Fazit Abschließend stellt sich die Frage, wie diese Darstellungen weiblicher SherlockHolmes-Figuren nun in der Gesamtschau zu bewerten sind. Zunächst sei noch einmal betont, dass Wanda von Brannburg und Ethel King in ihrer Charakterisierung als tatkräftige, in der Öffentlichkeit stehende Vernunftmenschen deutlich von der zeitgenössischen Geschlechternorm abweichen – und diese Abweichung textintern durch explizite Äußerungen der Erzählinstanz oder Figuren sowie durch die Existenz stereotyp gestalteter weiblicher Kontrastfiguren auch deutlich markiert wird. Gleichzeitig wird die ›Anomalie‹ der Ermittlerinnen durch ihre jeweilige Herkunft, die sie als genuin außerhalb der normalen kaiserzeitlichen Gesellschaft stehend kennzeichnet, lizenziert und durch diverse Strategien der Einhegung relativiert. Die sich aus diesen gegenläufigen Tendenzen ergebende Hybridität in der Figurenzeichnung dürfte wesentlich zu dem großen zeitgenössischen Interesse an den Serien beigetragen haben, verläuft aber, vor allem wenn Kaltblütigkeit und Emotionalität aufeinandertreffen, auch nicht gänzlich bruchlos. Bei allen Analogien in der Figurenzeichnung gibt es jedoch auch graduelle Unterschiede zwischen den Serien: So ist in den Wanda-von-Brannburg-Bänden stärker als bei Ethel King das Bemühen erkennbar, der Ermittlerin auch ›weibliche‹ Züge zu geben, wodurch sich eine positiv übersteigerte, aber durchaus facettenreiche Figurenzeichnung ergibt. Wanda ist in der Tat kein ›Schablonenmensch‹; vielmehr vereinigt sie gewissermaßen die besten Eigenschaften beider ›Geschlechtscharaktere‹: Vernunftbegabung und Affektregulierung auf der einen Seite, Einfühlungsvermögen und soziale Kompetenz auf der anderen Seite.89 Indem das normwidrige Verhalten Wandas allerdings zumindest zum Teil mit in der Vergangenheit liegenden traumatischen Erlebnissen bzw. einer besonderen Form der Sozialisation motiviert wird, bleibt die Figurenzeichnung den zeitgenössisch dominanten Frauen- und Männerbildern weiterhin verpflichtet. Ethel King dagegen kann – trotz einiger Anflüge von Furcht und Empathie – als Vorläuferin des ›hartgesottenen‹ Ermittlertypus gelten. Dabei wird ihr Auftreten textintern nicht nur positiv bewertet. Durch die Schilderungen der Wahrnehmung männlicher Täterfiguren, die in einigen Heften einen durchaus bedeutenden Raum einnehmen, werden ihr vielmehr auch dämonische Züge zuge89 Damit ist die Vermutung Cornelia Berens’, dass in den kaiserzeitlichen Heftromanserien mit weiblichen Detektivfiguren emanzipatorisch-subversive Strategien der Leser:innenlenkung kaum erwartet werden dürften und sich die Detektivin immer auch als gute Mutter bestätigen müsse, zumindest partiell zu korrigieren. Vgl. Berens, Cornelia: Verwischte Spuren. Die Detektivin als literarische Wunschfigur in Kriminalromanen von Frauen. In: Berger, Renate/ Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln/Wien: Böhlau 1987, S. 177– 197, hier S. 182–183.

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sprochen, wodurch sie sich partiell selbst in einer ungeahnten Nähe zum Konzept der Femme Fatale befindet und die in den Heftroman-Krimis eigentlich klar gezogene Grenze zwischen Gut und Böse brüchig wird. Damit ergeben sich freilich in Bezug auf beide Ermittlerinnen deutliche Abweichungen zur Ausgestaltung der ursprünglichen Sherlock-Holmes-Figur, die – im Unterschied zu Wanda von Brannburg – für eine gewisse Asozialität und – im Unterschied zu Ethel King – für eine Dominanz der Verstandeskräfte steht. Die etwas lapidare Aussage von Werner G. Schmidtke, einem Pionier der Heftroman-Forschung, dass die »Damen-Rechercheure […] genau so tüchtig wie ihre maskulinen Konkurrenten […] dem Verbrechen die Stirn boten«90, dass im Grunde also gar kein Unterschied in der Ausgestaltung der Figuren bestehen würde, hält einer genaueren Analyse also nicht stand. Sehr wohl achteten die Autor:innen in ihrer Figurenzeichnung neben den genannten Anknüpfungspunkten an bekannte männliche Ermittlertypen auch auf Differenzmarker, die die Abweichung der beiden Ermittlerinnen auf je unterschiedliche Weise und mit je unterschiedlichen Bewertungen herausstellen.

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Nikolas Buck

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Robert Dudzin´ski (Wrocław)

Zur Rezeption der Kriminalprosa von Agatha Christie in der polnischen Presse der 1950er und 1960er Jahre

Der Status der Kriminalliteratur im Nachkriegspolen veränderte sich äußerst dynamisch, die Veränderungen waren eng mit dem politischen Gesellschaftskurs verbunden. Die fortschreitende Stalinisierung des Landes Ende der 1940er Jahre bedeutete nämlich u. a. auch eine strenge(re) Kontrolle des Buchmarktes. Für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft sollten damals, so die offiziellen Propagandastellen, die einzelnen kommunistischen (Partei-)Behörden Sorge tragen, die alle als kitschig, unmoralisch und geschmacklos klassifizierten Bücher aus dem Literaturmarkt schlichtweg eliminierten. Dabei erwies sich der Kriminalroman als dankbares Angriffsziel – ohne größere Probleme konnte man die Gattung Kriminalroman als demoralisierende und primitive Unterhaltung darund bloßstellen, die auf den niedrigsten menschlichen Instinkten beruhen sollte. Infolgedessen wurde in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in Polen so gut wie gar keine Kriminalprosa veröffentlicht, und alle Werke dieser Art (einschließlich der Romane von Agatha Christie) wurden auch aus den Bibliotheken entfernt. In der Presse publizierte man dagegen regelmäßig Artikel und andere Beiträge, die die Kriminalliteratur diskreditierten. Mitte der 1950er Jahre begann sich die Lage zu ändern. Bereits 1954 erschienen erste Pressemeldungen bzw. Kritiken, die argumentierten, dass die Kriminalliteratur solch eine kategorische Verurteilung nicht verdiene. In diese Zeit fällt außerdem, nach einer mehrjährigen Pause, die Übersetzung des ersten ›Kriminalromans‹ in der Nachkriegszeit aus dem Englischen, und zwar Arthur Conan Doyles Der Hund von Baskerville (pl. Pies Baskerville’ów). Das Jahr 1956 brachte weitere Liberalisierungsmaßnahmen mit Blick auf die Verlagspolitik mit sich. Immer mehr neue Krimis – sowohl polnische als auch internationale – kamen auf den Markt. Darunter waren auch Texte von Agatha Christie zu finden, die schnell an Popularität gewannen.1

1 Siehe Dudzin´ski, Robert: Od »potwornej szmiry« do »własnego kiczu«. Proza popularna w polskiej kulturze literackiej lat 50. XX wieku. Kraków: Universitas 2021, S. 238–270.

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Die Romane der britischen Schriftstellerin waren zu dieser Zeit in Polen zweifellos echte Bestseller; sie wurden weitaus häufiger übersetzt als Verbrechenstexte anderer nicht-polnischer Krimi-Autor:innen. Die Auflage ihrer Romane belief sich auf etwa 50.000 Exemplare, mehr als das Dreifache der Durchschnittsauflage eines Nicht-Krimis zu dieser Zeit in Polen. Daneben wurden Christies Detektivtexte auch in den Tageszeitungen und Jugendmagazinen abgedruckt. Auch die polnischen Schaubühnen inszenierten regelmäßig Theaterstücke, die auf Christies Dramentexten basierten.2 Ihre Dominanz im Bereich der Krimis war unbestreitbar. Diese Popularität führte dazu, dass auch in der damaligen Presse zahlreiche Artikel über Christie und ihr (Roman-)Werk erschienen; sie können nicht nur als Zeugnisse der Christie-Rezeption der 1950er Jahre dienen, sondern auch als Paradebeispiele für die eingeleiteten Kulturprozesse und -phänomene in der Volksrepublik Polen (PRL). Die sogenannte Tauwetter-Periode (nach Stalins Tod) bedeutete eine weitreichende Öffnung gegenüber dem Westen, gegenüber neuen theoretischen Diskursen, Konzepten und Wertehierarchien. Sie bedeutete auch eine Art Zusammenbruch der Doktrin des sozialistischen Realismus, in der man noch vor kurzem die einzig richtige Kunst-Denkweise gesehen hatte. Allerdings waren die zuständigen Behörden immer noch nicht bereit, ihre politische Kontrolle über den Literaturbetrieb aufzugeben, und suchten nach einem Weg, sich die richtigen Einflussinstrumente zu sichern. All dies fand parallel zu unterschiedlichen Entwicklungsprozessen in der Massenkultur bzw. Massengesellschaft statt. Anhand einer Analyse von Pressetexten über Christie lässt sich die polnische ›Semiosphäre‹ der 1950er Jahre rekonstruieren bzw. ordnen, d. h. nach den Grenzen zwischen angemessenen und unangemessenen Modellen der Kulturteilhabe, legitimem und illegitimem Geschmack oder akzeptierter und verdammter Literatur fragen. Denn die Texte Christies wurden in einen dynamischen Aushandlungsprozess in Bezug auf Bedeutungszuschreibungen und Hierarchiebildung im Bereich literarischer Werte eingespannt. Ausgehend von dieser Beobachtung möchte ich zwei vorherrschende Diskurse in der Kritik der Krimis der britischen Autorin im Zeitraum 1955–1970 untersuchen. Bei dem ersten Diskurs waren professionelle Literaturkritiker am Werk, bei dem zweiten Publizisten, die sich generell mit der angeblich leichten Unterhaltungsliteratur befassten. Dank dieser Gegenüberstellung lässt sich die dynamische Relation zwischen den verschiedenen Wahrnehmungs- und Teilnahmemöglichkeiten an der polnischen Kultur genauer beschreiben.

2 Siehe ebd., S. 299–307.

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Christie und die Literaturkritik Texte zu bzw. über Christie, die von den professionellen Literaturkritikern verfasst wurden, veröffentlichte man in verschiedenen Literatur- und Kunstzeitschriften. Charakteristisch für diese Autorengruppe ist die Tatsache, dass sie immer noch an der obsoleten Tradition des 19. Jahrhunderts und der Überzeugung festhielten, ›wahre‹ Literatur solle intellektuell anspruchsvoll sein und bedeutsame kognitive, soziale sowie moralische Funktionen erfüllen. Die Rolle des Schriftstellers bestehe in diesem Sinne nämlich darin, den Leser:innen die Welt zu erklären und grundlegende Fragen zur menschlichen Natur zu stellen (oder zu beantworten). Die Kriminalliteratur wurde von ihnen, gelinde gesagt, mit Argwohn betrachtet; dies speiste sich weniger aus der dem Genre innewohnenden Unterhaltungsfunktion (Entertainment), sondern eher aus der Entwertung der Gattung, deren aufgegriffene Problematik und Thematik als ethisch und pädagogisch zweideutig abgestempelt wurde. Deswegen versuchten die kommunistischen Behörden bis Mitte der 1950er Jahre die Intellektuellen für sich zu gewinnen, u. a. mit einer angemessenen Kulturpolitik, die es sich zur Aufgabe machte, literarischen Schund und Ramsch zu bekämpfen. Doch in der Tauwetter-Periode veränderte sich die Haltung der professionellen Literaturkritiker vehement: immer wieder wurden Stimmen laut, die an der Krimiprosa nichts auszusetzen hatten und für die Präsenz des Genres auf dem polnischen Büchermarkt plädierten. Man fing an, bestimmte Formen des ›leichten‹ und ›populären‹ Schreibens zu akzeptieren und der Literatur auch eine unterhaltende Funktion beizumessen. Zwei Hauptgründe kann man für solchen Diskurswechsel nennen. Erstens hat die Erfahrung aus der stalinistischen Zeit gezeigt, dass selbst eine drastische Einschränkung der Verlagsfreiheit und die darauf folgende Verdrängung der Kriminalliteratur vom Markt die Leser:innen nicht automatisch dazu bringen, ihre Lesegewohnheiten aufzugeben. Trotz der Bestrebungen des Machtapparats, den Krimi-Konsum einzudämmen, wurde die Blutgattung weiter gelesen, auch dank des informellen Literaturbetriebs in Form des Vertriebs von gebrauchten Büchern. So ist deshalb die offizielle Kulturpolitik, die auf dem Verbot und der Verurteilung von Kriminalliteratur und der Einschränkung des Zugangs zu ihr beharrte, als gescheitert anzusehen. Zweitens führte der Gesellschaftswandel (aber nicht nur dieser) in der Tauwetter-Periode dazu, dass die sozialistisch-realistische Auffassung von Literatur (und Kunst im Allgemeinen) abgelehnt wurde. Infolge dieser Veränderungen hat sich auch der Stil und die Argumentationsweise der polnischen Literaturkritik geändert – dasselbe gilt für die offiziell geförderten Wertehierarchien und Modelle des Umgangs des Publikums mit Literatur. Die Literaturkritik betonte, dass sich ihre Einstellung zur Kriminalliteratur liberalisierte, dass sie nuancierter und vernünftiger wurde.

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Die Rehabilitierung des Genres erfolgte jedoch nur schritt- und teilweise. Die professionellen Literaturkritiker wiesen darauf hin, dass nur ein kleiner Prozentsatz aller Krimis tatsächlich ein anständiges literarisches Niveau erreiche und dem polnischen Lesepublikum zu empfehlen sei. In diesem Zusammenhang fiel immer wieder der Name Agatha Christie, die als Beispiel für solch eine niveauvolle Krimi-Literatur angeführt wurde, in der man weder Spuren von »Kitschigkeit« noch »Primitivität« oder »Schund« findet. Man bezeichnete ihre Romane als »nicht kompromittierender Kompromiss« zwischen Unterhaltungsbedürfnissen und literarischen Werten. Diese Herangehensweise ist bspw. in einer Rezension von Tadeusz Kudlin´ski aus dem Jahre 1961 zu sehen: Literatura kryminalna jest sprawa˛obłudna˛i przez to wstydliwa˛. Otwarcie psioczymy, z˙e to demoralizuja˛ce przedszkole wyste˛pku, a po cichu sie˛gamy po tom z czarnej serii, niby to dla wytchnienia, i niby to, z˙e nas, dorosłych nic nie zwiedzie z drogi cnoty. Faktem jest, z˙e i nakłady rodzimych powies´ci kryminalnych licza˛ sie˛ – mimo braku papieru – w dziesia˛tki tysie˛cy; podczas gdy regularna powies´c´ literacka nie osia˛ga skromnego dziesia˛tka tysie˛cy. Podobnie zagraniczne serie kryminalne ida˛ w setki pozycji katalogowych. Cóz˙ poradzic´, skoro tak jest? Moz˙na tylko krakowskim targiem szukac´ niekompromituja˛cych kompromisów. Ostatecznie sensacyjna zagadka kryminalna jest dynamicznym wa˛tkiem powies´ciowym, którym z˙aden pisarz tak bardzo znów nie gardzi. Rzecz w tym, aby sensacja nie była celem samym w sobie, ale stała sie˛ kanwa˛ do rozwinie˛cia s´rodków literackich, psychologii postaci i problematyki moralnej. Przykładem takiego literackiego »kryminału« moga˛ byc´ zabawne powiastki Chestertona o Ojcu Brownie czy choc´by twórczos´c´ G. Greena. […] Agata Christie jest autorka˛ zre˛cznych powies´ci kryminalnych o s´wiatowej popularnos´ci, a przyznac´ trzeba, z˙e jej pomysły sa˛ inteligentne i na ogół mało ponure. Owo dno ludzkiej ne˛dzy jakim jest zbrodnia staje sie˛ tylko punktem wyjs´cia do intelektualnego i dowcipnego rozwikłania zagadki.3

3 Kudlin´ski, Tadeusz: Pułapka i – Zemsta. In: »Dziennik Polski« 42 (1961), S. 3. Dt.: »Kriminalliteratur ist eine heuchlerische und daher beschämende Angelegenheit. Wir beklagen uns offen darüber, dass es sich um einen demoralisierenden Kindergarten des Verbrechens handelt, und greifen leise nach einem Band der schwarzen Serie, weil wir eine Atempause brauchen und weil uns Erwachsene angeblich nichts vom Pfad der Tugend abbringen könnte. Tatsache ist, dass auch die Auflagen der heimischen Kriminalromane – trotz Papiermangels – in die Zehntausende gingen, während der normale literarische Roman die bescheidenen Zehntausend Stück nicht erreicht. Auch die ausländischen Krimiserien gehen in die Hunderte von Katalogpositionen. Was kann man tun, wenn dies der Fall ist? Man kann nur feige nach nicht kompromittierenden Kompromissen suchen. Schließlich ist ein sensationelles kriminelles Rätsel ein dynamischer Romanplot, den kein Autor verachtet. Der Punkt ist, dass die Sensation kein Selbstzweck sein sollte, sondern eine Leinwand für die Entwicklung literarischer Mittel, der Psychologie der Charaktere und der moralischen Fragen werden sollte. Als Beispiel für diese Art von literarischem ›Krimi‹ gelten Chestertons unterhaltsame PaterBrown-Geschichten oder beispielsweise die Werke von G. Greene. […] Agatha Christie ist eine Autorin geschickter Kriminalromane von weltweiter Popularität, und man muss zugeben, dass ihre Ideen intelligent und im Allgemeinen nicht sehr düster sind. Dieser Boden des men-

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George Bidwell, ein englischer Kritiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg die polnische Staatsbürgerschaft annahm, wies ebenfalls darauf hin, dass sich Christies Krimi-Werk qualitativ von den restlichen Krimis abhebe, die den westlichen Buchmarkt überschwemmen.4 Die Literaturkritiker betonten, dass, obwohl Christie in ihren Romanen und Dramen von blutigen Taten erzählt, sie keinen inflationären Gebrauch von »primitiver Grausamkeit« mache. Stattdessen gleiche bei Christie das kriminelle Geheimnis einer rationalen Scharade, die mithilfe des logischen Denkens gelöst werde. Dieser intellektuelle und keinesfalls emotionale und affektive Lese-Typus sei die größte Stärke von Christie gewesen. Bei Kudlin´ski findet man außerdem ein weiteres Pro-Christie-Argument, das auch in vielen anderen Texten wiederkehrt. Einige Kriminalromane seien nicht nur reine Unterhaltungslektüre, denn ihre Autor:innen seien so geschickt, auch auf narrative »Tricks« zurückzugreifen, die für die ›hohe‹ und ›wahre‹ Literatur typisch sind. In den Christie-Rezensionen wird deswegen häufig auf ästhetische Kategorien eingegangen und betont, dass ihre Texte auch als realistisches Porträt eines bestimmten sozialen Milieus (und einer bestimmten Zeitperiode) gelesen werden können. Dazu Marek Zakrzewski im Jahre 1956: Ws´ród całej plejady autorów zalewaja˛cych rynek skandaliczna˛ szmira˛, w której konkuruje gwałt z okrucien´stwem, przelewem krwi i ohydna˛ wulgaryzacja˛, Agata Christie jest jedna˛ z niewielu autorów, którzy zachowali umiar w eksploatowaniu najgorszych instynktów i obok głównego celu – dostarczenia czytelnikowi emocjonalnej rozrywki – postawili sobie inne, niemniej waz˙ne zadania: Agata Christie z ironia˛, wnikliwie i obrazowo portretuje bogata˛ galerie˛ typów angielskiego drobnomieszczan´stwa, burz˙uazji i arystokracji. […] Typ ksia˛z˙ki kryminalnej spopularyzowanej przez Agate˛ Christie spełnia poz˙yteczna˛ role˛: zapoznaje ze ´srodowiskiem kraju, w którym toczy sie˛ akcja, zapewnia rozrywke˛ i pobudza do logicznego mys´lenia.5 schlichen Elends, nämlich der des Verbrechens, ist nur der Ausgangspunkt für die intellektuelle und geistreiche Enträtselung des Geheimnisses.« 4 Siehe Bidwell, George: O ksia˛z˙kach do zabijania czasu. Übers. von A. Bidwell In: »Z˙ycie Literackie« 34 (1956), S. 11–12, hier S. 11. 5 Zakrzewski, Marek: Królowa powies´ci kryminalnej. In: »Ksia˛z˙ka dla Ciebie« 18 (1956), S. 17. Dt.: »In der ganzen Fülle von Autoren, die den Markt mit skandalösem Schund überschwemmen, in dem Vergewaltigung mit Grausamkeit, Blutvergießen und abscheulicher Vulgarisierung konkurriert, ist Agatha Christie eine der wenigen Autorinnen, die bei der Ausbeutung der schlimmsten Instinkte Zurückhaltung geübt und sich neben dem Hauptziel – dem Leser emotionale Unterhaltung zu bieten – andere, nicht weniger wichtige Aufgaben gestellt haben: Agatha Christie porträtiert ironisch, einfühlsam und anschaulich eine reiche Galerie von Typen des englischen Kleinbürgertums, der Bourgeoisie und der Aristokratie. […] Der von Agatha Christie populär gemachte Typus des Kriminalromans erfüllt eine nützliche Funktion: Er führt in die Umwelt des Landes ein, in dem die Handlung stattfindet, bietet Unterhaltung und regt das logische Denken an.« Siehe hk [eigentlich Kolasin´ska, H.]: »N czy M?«. In: »Naprzód« 20 (1956), S. 2; Jaszcz [eigentlich Szczepan´ski, Jan Alfred]: Baba swoje, dziad swoje… In: »Trybuna Ludu« 107 (1957), S. 6; Kwiryn, Jerzy: Detektyw w spódnicy i pan z fajka˛. In: »Nowe Ksia˛z˙ki« 12 (1960), S. 744–745.

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Andere Kritiker lobten Christies Krimi-Texte für eine Art Psychologismus und machten darauf aufmerksam, dass die Autorin, indem sie interessante innere Schilderungen ihrer Figuren anreißt, bei der endgültigen Lösung des geheimnisvollen Rätsels außer den materiellen Spuren und Hinweisen, also der TatRekonstruktion, eine Figurencharakter-Rekonstruktion zurate zieht. Zu solchem Schluss kamen u. a. Bolesław Lubosz6 und Krzysztof Zarzecki: Nie ma powies´ci kryminalnej bez detektywa, który prowadzi cała˛ akcje˛. W wie˛kszos´ci ksia˛z˙ek Christie te˛ role˛ spełnia Hercule Poirot, mały, s´mieszny, podstarzały Belg. W »Samotnym domu« do pomocy dodany został mu przyjaciel, Anglik Hastings, który zreszta˛ opowiada cała˛ historie˛. Ci dwa dz˙entelmeni stanowia˛ dos´c´ przeciwstawne typy i autorka dba o to, z˙eby ich charaktery zarysowac´ dos´c´ wyraz´nie, choc´ oczywis´cie jak najbardziej skrótowymi s´rodkami. W podobny sposób traktuje wszystkie inne postacie. W konsekwencji jej bohaterowie sa˛ ludz´mi z mniej wie˛cej prawdziwego zdarzenia i nie poruszaja˛ sie˛ w społecznej próz˙ni. Ich ´swiat to ´srodowisko angielskich klas posiadaja˛cych, dos´c´ wiernie przez Agate˛ Christie sportretowane. To jedna z zalet jej powies´ci i raczej wynik niz˙ istota jej uje˛cia powies´ci detektywistycznej. Jez˙eli w »Samotnym domu« czujemy dbałos´c´ o psychiczne portrety bohaterów, to dlatego, z˙e całe prowadzone przez Poirota s´ledztwo oparte jest na analizie motywów, które kaz˙da˛ z osób dramatu mogły popchna˛c´ do zbrodni. Jes´li sie˛gniemy pamie˛cia˛ do ksia˛z˙ek Conan Doyle’a, przypomnianego ostatnio polskim czytelnikom klasyka powies´ci kryminalnej, stwierdzimy, z˙e tam dzieje sie˛ inaczej. Tam detektyw, nies´miertelny Sherlock Holmes, w swej akcji zmierzaja˛cej do zdemaskowania zbrodniarza opiera sie˛ na skrupulatnym poszukiwaniu i szczegółowej analizie materialnych s´ladów przeste˛pstwa. Inaczej Hercules Poirot – ten sporza˛dza liste˛ osób podejrzanych wraz z ich charakterystyka˛ i przypuszczalnymi motywami, które mogły ich popchna˛c´ do zbrodni. Zaprze˛gaja˛c do pracy szare komórki swego mózgu, buduje niejako na wyrost próbe˛ hipotetycznego odtwarzania wypadków, po czym dopiero stara sie˛ ja˛ skonfrontowac´ z faktami, stale zmieniaja˛c i ulepszaja˛c ja˛ w miare˛ rozwoju wypadków. Oto zasadnicza oryginalnos´c´ powies´ci Agaty Christie. Oto linia, po które poszła, osia˛gaja˛c uszlachetnienie gatunku.7 6 Lubosz, Bolesław: »Rozdroz˙e miłos´ci«. »Pułapka na myszy«. In: »Trybuna Robotnicza« 126 (1957), S. 4. 7 Zarzecki, Krzysztof: Conan Doyle w spódnicy. In: »Ksia˛z˙ka dla Ciebie« 5 (1956), S. 16. Dt.: »Es gibt keinen Kriminalroman ohne einen Detektiv, der die gesamte Handlung vorantreibt. In den meisten Büchern von Christie hat diese Rolle Hercule Poirot übernommen, ein kleiner, lustiger, älterer Belgier. In ›Das Haus an der Düne‹ wird ihm ein Freund zur Seite gestellt, der Engländer Hastings, der übrigens die ganze Geschichte erzählt. Diese beiden Herren sind recht gegensätzliche Typen, und die Autorin achtet darauf, ihre Charaktere recht deutlich zu skizzieren, wenn auch natürlich mit den denkbar geringsten Mitteln. Auf eine ähnliche Weise behandelt sie auch alle anderen Figuren. Folglich sind ihre Figuren mehr oder weniger echte Menschen und bewegen sich nicht in einem sozialen Vakuum. Ihre Welt ist das Milieu der englischen besitzenden Klassen, das von Agatha Christie sehr treffend dargestellt wurde. Dies ist eine der Stärken ihrer Romane und eher das Ergebnis als die Essenz ihrer Interpretation des Detektivromans. Wenn wir in ›Das Haus an der Düne‹ die Sorge für die psychologischen Darstellungen der Figuren spüren, dann deshalb, weil die gesamte Untersuchung von Poirot

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Es ist erwähnenswert, dass Józef Marian S´wie˛cicki bereits 1949, also kurz vor der Einführung des Stalinismus in Polen, in ähnlicher Weise über Agatha Christie schrieb: Die Romane der britischen Autorin stechen hervor, weil in ihnen Konzepte und Lösungen verwendet werden, die man eigentlich aus den psychologischen und moralischen Romanen kenne.8 Somit waren Ende der 1940er Jahre S´wie˛cickis Äußerungen ihrer Zeit voraus und ließen die Richtung erahnen, in die sich der Diskurs über Kriminalliteratur in der zweiten Hälfte der 1950er und den frühen 1960er Jahren entwickeln würde. Bei der Lektüre der Christie-Rezensionen fällt auf, dass einige Literaturkritiker sich auch, wie oben angedeutet, dem Problem der »Rezeptionspsychologie« von Kriminalromanen zuwandten und überlegten, warum sich die Texte der englischen Schriftstellerin bei den Leser:innen so großer Beliebtheit erfreuten. Zygmunt Lichniak beschäftigte sich mit diesem Thema in einem Feuilleton, in dem die Kriminalliteratur als Befriedigung uralter menschlicher Bedürfnisse, Fragen zu stellen und nach erschöpfenden Antworten zu suchen, beschrieben wird: Magia pytajników. Niby zaz˙enowany, a włas´ciwie ciekawy, s´ledziłem perypetie detektywistycznego małz˙en´stwa, poddaja˛c sie˛ urokowi szarad wymys´lonych przez pania˛ Agate˛, która troche˛ sie˛ tym bawi, troche˛ zarabia, a troche˛ podkpiwa sobie z młodych ofiarowuja˛c im w zamian za pyszałkowate lekcewaz˙enie wyrozumiała˛ pobłaz˙liwos´c´ dos´wiadczonej staros´ci. A oto filozofijka dopisana w czasie ulgowej lektury na wa˛skim marginesie lekkiego »kryminału«. Magia pytajników jest magia˛ szlachetna˛. Szlachetnie przebiegła˛. Jest to w swej istocie odwołanie sie˛ do najpie˛kniejszej, najbardziej ludzkiej – w ma˛drym tego słowa znaczeniu – pasji poznawczej. Człowiek chce wiedziec´. Pytajnik budzi w nim głód: jak to jest? jak to sie˛ skon´czy? Przeciez˙ dzie˛ki takiemu głodowi, dzie˛ki jego najwspanialszym nate˛z˙eniom człowiek wyszedł z jaskin´, napisał »Fedona«, »Polityke˛«, »Summe˛«, »Rozprawe˛ o metodzie«, »Krytyke˛ czystego rozumu«, »Kapitał«… Haczyki pytajników wcia˛gne˛ły go w gła˛b oceanu ludzkich moz˙liwos´ci. auf einer Analyse der Motive beruht, die jede Person in diesem Drama zu dem Verbrechen getrieben haben könnten. Wenn wir auf die Bücher von Conan Doyle, einem Klassiker des Kriminalromans, der vor kurzem den polnischen Lesern in Erinnerung gerufen wurde, zurückgreifen, werden wir feststellen, dass die Dinge dort anders liegen. Dort stützt sich der Detektiv, der unsterbliche Sherlock Holmes, bei seinem Plan, den Verbrecher zu entlarven, auf eine akribische Suche und detaillierte Analyse der materiellen Spuren des Verbrechens. Hercule Poirot hingegen erstellt eine Liste von Verdächtigen zusammen mit ihren Eigenschaften und den vermutlichen Motiven, die sie zu dem Verbrechen getrieben haben könnten. Er nutzt die grauen Zellen seines Gehirns und erstellt sozusagen übertrieben einen Versuch einer hypothetischen Rekonstruktion der Ereignisse, um ihn dann mit den Fakten zu konfrontieren und ihn im Laufe der Ereignisse ständig zu ändern und zu verbessern. Das ist die wesentliche Originalität des Romans von Agatha Christie. Das ist die Linie, für die sie sich entschieden hat und die eine Verfeinerung des Genres darstellt.« 8 Siehe S´wie˛cicki, Józef Marian: Od powies´ci kryminalnej do psychologicznej. In: »Tygodnik Powszechny« 45 (1949), S. 9.

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Pani Agata moz˙e nawet nie wie o tej funkcji pytajnika. W kaz˙dym razie na pewno nie taka˛ funkcje˛ ma pytajnik na okładce jej detektywistycznej szarady. Ale we wszystkich szaradach tego typu pytajnik ten jest dalekim krewnym Pytajnika Wielkiego. Moz˙e nawet bratem. Oczywis´cie bratem skarlałym.9

Seine Kritik ist also ein weiterer Versuch, Christie in der offiziellen Literaturhierarchie einen Stellenwert beizumessen; diese Prosa könne goutiert, akzeptiert und sogar vielleicht gelegentlich gelesen werden (wenn auch mit Verlegenheit). Aufgrund ihrer »Natur« bleibe sie eine »Literatur zweiten Ranges«, die die intellektuellen Leserbedürfnisse nur auf eine sehr einfache Weise zu befriedigen in der Lage ist. Im zitierten Rezensionsausschnitt Lichniaks wird außerdem ein weiterer Punkt deutlich, und zwar die Selbstinszenierung; Lichniak geht es um sein Image als kompetenter Literaturexperte, der sich aufgrund dessen vom Durchschnittsleser unterscheidet. Den Kriminalroman betrachtet er nicht nur aus der Perspektive der Unterhaltungspraxis, sondern vor allem aus einer literaturtheoretischen Perspektive; auf Distanz zum Analyseobjekt gehend möchte Lichniak die Popularität des Genres ergründen, die »Rezeptionspsychologie« von Kriminalromanen und die menschliche Leser-Natur erforschen. Charakteristisch ist auch die Tatsache, dass Lichniak seine Thesen als »philosophische Anmerkung(en)« auffasst, die am Seitenrand des Krimis geschrieben wurden. Letztendlich konstatiert er somit der Populärliteratur wenig ästhetische Qualität; ein ›wahrer‹ Intellektueller könne sich mit diesem Phänomen nur selten und von Fall zu Fall beschäftigen. Die Haltung der polnischen Literaturkritik gegenüber Agatha Christie war also symptomatisch für die allgemeine Wahrnehmung der Kriminalliteratur. In 9 Lichniak, Zygmunt: Z Agata˛ Christie na wczasach. In: Lichniak, Zygmunt: Raptularz literacki. Warszawa: Pax 1957, S. 37–41, hier S. 38–39. Dt.: »Die Magie der Fragezeichen. Scheinbar verlegen, aber tatsächlich neugierig, verfolgte ich die Abenteuer des Detektivpaares und erlag dem Charme der Scharaden von Frau Agatha, die sich selbst dabei ein wenig amüsiert, ein wenig verdient und die Jugend verspottet, indem sie ihr im Austausch für eine hochnäsige Missachtung die verständnisvolle Nachsicht des erfahrenen Alters anbietet. Und hier noch eine philosophische Anmerkung, die bei einer leichten Lektüre am schmalen Rand des leichten ›Krimis‹ hinzugefügt wurde. Die Magie der Fragezeichen ist eine edle Magie. Edel gerissen. Im Kern ist es eine Bezugnahme auf die schönste, menschlichste – im wahrsten Sinne des Wortes – Leidenschaft für das Wissen. Der Mensch will wissen. Das Fragezeichen weckt in ihm Hunger: wie ist es? Wie wird es enden? Schließlich hat der Mensch dank diesem Hunger, dank seiner wundervollen Intensität, die Höhle verlassen, hat ›Phaidon‹, ›Politik‹, ›Summa‹, ›Abhandlung über die Methode‹, ›Kritik der reinen Vernunft‹, ›Das Kapital‹ geschrieben… Die Haken des Fragezeichens haben ihn in die Tiefen des Ozeans der menschlichen Möglichkeiten gerissen. Vielleicht kennt Frau Agatha diese Funktion des Fragezeichens gar nicht. Auf jeden Fall ist dies nicht die Funktion des Fragezeichens auf dem Cover ihrer Detektivscharade. Aber bei allen Scharaden dieser Art ist das Fragezeichen ein entfernter Verwandter des Großen Fragezeichens. Vielleicht sogar ein Bruder. Ein Zwerg-Bruder, natürlich.« Siehe Dobosz, Andrzej: Humanistyczna idylla. In: »Nowa Kultura« 21 (1957), S. 6.

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der neuen kulturellen Ausgangslage, in der die Massenliteratur populärer wurde, versuchte man, die Literaturhierarchien so umzugestalten, dass die bis dahin herrschende Ordnung nicht gestört wurde. Im Rahmen dieser neu-alten Ordnung wurde nur ein Teil der Massenliteratur akzeptiert, und zwar nur dieser Teil, der sich wertetechnisch an Kategorien der ›schönen‹ Literatur orientierte. Der Unterhaltungsliteratur, die den entsprechenden Kriterien nicht gerecht wurde, hat man jegliche Legitimation verweigert.

Christie und die Generation »Przekrój« Interesse an Agatha Christie bekundeten auch Kolumnisten im Dienste bekannter, illustrierter Zeitschriften, zu denen die berühmten Wochenausgaben von »Przekrój« (dt. »Querschnitt«) gehörten. Aufgrund seines unterhaltenden und witzigen Profils richtete sich das »Przekrój«-Blatt an eine völlig andere Rezipientengruppe, stellte ein anderes Weltbild vor und setzte sich für andere Wertehierarchien ein. Die Zeitschrift wagte den Versuch, im sozialistischen Polen für liberale und bürgerliche Werte sowie Ideen in einer leichten und zugänglichen Form einzustehen.10 Da »Przekrój« schnell eine große Leserschaft für sich gewinnen konnte, begann man in den elitären Kreisen der 1950er und 60er Jahren, von der sogenannten Generation »Przekrój« zu sprechen. Die von der Zeitschrift propagierte soziale Weltanschauung wurde allerdings von den Intellektuellen, die allem Anschein nach Angst vor der einbrechenden Massenkultur hatten, scharfer Kritik unterzogen. Gewarnt wurde vor allen möglichen Transformationsprozessen, die auf die Banalisierung der Kultur, die Uniformität, den Konformismus und die Infragestellung traditioneller Wertesysteme aus waren.11 Laut Krzysztof Teodor Toeplitz sah der typische Leser von »Przekrój« folgendermaßen aus: Na łamach »Przekroju« wyłaniała sie˛ wie˛c raczej koncepcja formacji pogodnej, bagatelnej, figlarnej, uboz˙szej od pierwowzorów zachodnioeuropejskich, ale równoczes´nie staraja˛cej sie˛ wyrównywac´ niedobory w tej dziedzinie systemem łatwych i niekiedy bardzo przemys´lanych imitacji […]. Od czytelnika »Przekroju« wymagano powierzchownej wiedzy na temat tego, co w danej chwili uchodzi za modne i w dobrym stylu, zapoznawano go równiez˙ – co niewa˛tpliwie nalez˙y do zasług pisma – z biez˙a˛cymi wydarzeniami s´wiatowego z˙ycia artystycznego, głos´nymi postaciami z dziedziny nauki, sztuki, kultury, kre˛gów kształtuja˛cych opinie, wszystko to jednak odbywało sie˛ przy równoczesnym prawie doskonałym uodpornieniu na takie odczucia, jak na przykład

10 Siehe Jaworska, Justyna: Cywilizacja »Przekroju«. Misja cywilizacyjna w magazynie ilustrowanym. Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2008, S. 53–58. 11 Siehe ebd., S. 9–14.

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odczucie historycznego tragizmu i patosu, głe˛bsze przez˙ycie własnej toz˙samos´ci narodowej, bardziej refleksyjne odniesienie sie˛ do historii.12

Toeplitz’ Bemerkungen decken sich gut mit den Thesen von Edgar Morin, der in den 1960er Jahren von der »neuen Ethik der Muße« schrieb und darauf hinwies, dass die sozial-kulturellen und in Gang gesetzten Veränderungen zu Veränderungen im Bereich der von der Massenkultur gesteuerten Freizeitgestaltung führten: »Kultura masowa tylko wypełnia czas wolny (przez widowiska, mecze, telewizje˛, radio, lekture˛ dzienników i czasopism); kieruje poszukiwanie jednostkowego dobra w strone˛ czasu wolnego i, co wie˛cej, nasyca czas wolny tres´ciami kulturowymi, tak z˙e staje sie˛ on stylem z˙ycia.«13 Somit fand sich auch im Kulturprogramm von »Przekrój«, dem unterhaltenden Freizeitmagazin (heute würde man eher vom Lifestyle-Magazin reden) nach westlichem Gusto, auch genügend Platz für die Kriminalliteratur. Christie wurde somit zum Gesprächsstoff. Man deutete häufig auf den Umstand hin, dass es sich bei Christies Kriminalromanen um »interessante« Bücher14, »Urlaubs-«15 und »Erholungs-Bücher«16 handelte, mit denen »man sich leicht von den Mühen des Alltags ablenken und besser und angenehmer ausruhen kann«.17 Schon ein Blick auf die Gestaltungsform der einzelnen Christie-Rezensionen und -Buchbesprechungen zeugt von dem besonderen Kommunikationsmodell zwischen Zeitschrift und Leser:innen, das sich von den bis zu diesem Zeitpunkt gängigen, rein literarischen und kulturellen unterschied. Die kurz gehaltenen Notizen (oft nur wenige Sätze) waren eher als Werbeblock zu verstehen, in dem man weder die Einzelromane analysierte noch der Popularität der Autorin auf den Grund ging. 12 Toeplitz, Krzysztof Teodor: Mieszkan´cy masowej wyobraz´ni. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1970, S. 79–80. Dt.: »Auf den Seiten von ›Przekrój‹ konnten wir eher das Konzept einer fröhlichen, trivialen, spielerischen Formation sehen, die ärmer ist als die westeuropäischen Prototypen, aber gleichzeitig versucht, die Defizite in diesem Bereich mit einem System von einfachen und manchmal sehr cleveren Imitationen auszugleichen […]. Den Lesern von ›Przekrój‹ wurde ein oberflächliches Wissen darüber abverlangt, was gerade in Mode und im guten Stil war, sie wurden auch – was zweifellos eines der Verdienste der Zeitschrift war – mit aktuellen Ereignissen des künstlerischen Weltlebens, berühmten Persönlichkeiten aus der Welt der Wissenschaft, Kunst, Kultur und aus meinungsbildenden Kreisen vertraut gemacht, aber all dies geschah gleichzeitig mit einer fast perfekten Immunisierung gegen solche Gefühle wie zum Beispiel historische Tragik und Pathos, tiefere Erfahrung der eigenen nationalen Identität, reflektierter Bezug zur Geschichte.« 13 Morin, Edgar: Duch czasu. Übers. von A. Frybesowa. Warszawa: Społeczny Instytut Wydawniczy Znak 1965, S. 65. Dt.: »Die Massenkultur füllt lediglich die Freizeit aus (durch Shows, Spiele, Fernsehen, Radio, Tageszeitungen und Zeitschriften); sie lenkt die Suche nach individuellem Wohlbefinden auf die Freizeit und reichert die Freizeit weiterhin mit kulturellen Inhalten an, so dass sie zum Lebensstil wird.« 14 »Przekrój« 46 (1956), S. 15. 15 »Przekrój« 1216 (1968), S. 2. 16 »Przekrój« 1027 (1964), S. 3. 17 Kulmin´ska, Maria: »Zatrute pióro«. In: »Naprzód« 22 (1956), S. 2.

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»Przekrój« behandelte die Christie-Romane sozusagen funktional, der Romananfang wurde zusammengefasst und das literarische Talent der Schriftstellerin sowie ihre Fähigkeit, komplexe und überraschende Intrigen zu entwickeln, exponiert. Beispiel: Po wypiciu codziennej porcji herbaty w biurze, pan Fortescue zmarł nagle… Nie s´miercia˛ naturalna˛, jak sie˛ bystro domys´la czytelnik. Zawikłana˛ historie˛ zagadkowej s´mierci dyrektora duz˙ego przedsie˛biorstwa rozwikłuje przesympatyczna stara panna Marple, niezmordowanie przez cały czas szydełkuja˛c. S´wietne czytanie na urlop.18

Die Rezensent:innen (oder: literarische Werbetexter:innen) brachten oft Christie mit Kosmopolitismus und dem Westen in Verbindung, was immer der Westen sein mochte, und verwiesen auf die Bekanntheit der Autorin und ihre kommerziellen Erfolge in Literatur, Film oder Theater. In einer anderen Illustrierten, der Wochenzeitschrift »Stolica« (dt. »Die Hauptstadt«), wird so z. B. über die Premierenaufführung von Der Teufel im Pfarrhaus (pl. Morderstwo na plebanii) im Theater des Jungen Warschau 1957 berichtet. Das Stück könne, so der Rezensent, das Publikum wahrscheinlich ebenso beeindrucken wie die Inszenierung von Samuel Becketts Warten auf Godot (pl. Czekaja˛c na Godota).19 Die Gegenüberstellung von Christie und Beckett mag überraschen, aber nur ohne Berücksichtigung des kulturell-historischen Zeitkontextes. Auf das Jahr 1957 datiert man den Höhepunkt der poststalinistischen Tauwetter-Periode, in der das polnische Publikum endlich die Möglichkeit hatte, sich mit verschiedenen westlichen Kulturwerken, die bis dahin unzugänglich und/oder verboten waren, auseinanderzusetzen; Kultur aus dem Westen stand für Freiheit, Ungebundenheit und Modernität, und mit einem gewissen semantischen Überschuss im Gepäck wurde sie zum Symbol eines neuen Seins.20 Auf diese Weise wird die Christie-Rezeption (Literatur und Theater) zum Synonym eines begehrenswerten Lebensstils, denn die Krimiromane bieten nicht nur Unterhaltung, sondern sie sind gleichzeitig modisch und westlich sowie vom Nimbus intellektuell anspruchsvoller Werke umgeben, die sich von den durchschnittlichen, primitiven Krimis abheben. Auch deswegen passten sie ins Kon18 »Przekrój« (1216) 1968, S. 2. Dt.: »Nachdem er im Büro seine tägliche Dosis Tee getrunken hatte, starb Mr. Fortescue plötzlich… Kein natürlicher Tod, wie der Leser scharfsinnig vermutet. Die verworrene Geschichte um den mysteriösen Tod des Direktors eines großen Unternehmens wird von der hochmütigen und ständig häkelnden alten Miss Marple aufgedeckt. Tolle Urlaubslektüre.« 19 »Stolica« 10 (1957), S. 4. Christies Roman wurde ins Polnische als Morderstwo na plebanii übersetzt, das Bühnenstück jedoch erhielt den Titel Diabeł na plebanii. 20 Siehe Detka, Janusz: Miłe złego (?) pocza˛tki… Odwilz˙owe fascynacje popkultura˛ Zachodu. In: Miernik, Grzegorz (red.): Kultura wysoka, kultura popularna, kultura codziennos´ci w Polsce 1944–1989. Kielce: Wyd. Uniwersytetu Humanistyczno-Przyrodniczego Jana Kochanowskiego 2010, S. 87–96, hier S. 91–95.

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zept von »Przekrój«, das auf Individualität, Entertainment und (etwas) Anspruch setzte. In »Przekrój« wurden außerdem ausgewählte kurze Zitate aus bekannten Werken der Weltliteratur abgedruckt. In einer dieser Kolumnen erschien bereits in den frühen 1970er Jahren ein Satz aus Christies Das krumme Haus (pl. Dom zbrodni): »Stare grzechy maja˛ długie cienie.« Christies Zitat-›Nachbarschaft‹ kann sich sehen lassen, umgeben von u. a. Aristophanes oder Miguel Cervantes und einem serbischen Sprichwort.21 Die aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelösten Zitate fungierten in der Zeitschriftspalte als Aphorismen, als eine Art Sinnspruch, den man in Alltagsgesprächen verwenden kann. In einigen Beiträgen wurde auch ein anderes auf Christie bezogenes Thema aufgegriffen: ihre unter dem Pseudonym Mary Westmacott veröffentlichten Liebesromane. Diese wurden mit Skepsis betrachtet und als unwürdige »süßliche sentimentale Romane«22 oder »ziemlich kitschige« sentimentale Romanzen23 abgeurteilt, in literarischer Hinsicht seien sie viel schwächer als die Krimitexte. An diesem Punkt scheint eine Denkart in Geschlechterstereotypen durchzuklingen, in der ›Frauenliteratur‹ als äußerst trivial und kitschig galt. In den 1950er Jahren war dieses Klischee in Polen sehr weit verbreitet – solche Romanautorinnen wie Helena Mniszkówna oder Hedwiga Courths-Mahler listete man immer als Beispiele literarisch wertloser und sozial schädlicher Literatur auf.24 Der Vergleich zwischen Christies Kriminal- und Liebesromanen diente – auch geschlechtsspezifisch – als Unterscheidungsfaktor zwischen akzeptabler Populärliteratur und illegitimer Populärliteratur, zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Geschmack. Ein ›bürgerlicher‹ Zugang zur Literatur bedeutete auch einen neuen Umgang mit den Autor:innen selbst, die zu Helden der Massen wurden. Außer Kurzbiografien und fun facts aus ihrem Leben reproduzierten die Zeitschriften auch Fotos, mit denen man den Aufmerksamkeitsvektor vom Werk auf den Schriftsteller lenkte. Wie Kamila Rudzin´ska bemerkte: »Odbiegaja˛ca od normy, a przez to ciekawa dla masowego odbiorcy, osoba pisarza stanowi cze˛sto rodzaj reklamowego opakowania, w którym sprzedaje sie˛ ksia˛z˙ki«.25 Nach Morin wird das 21 Varcaby, Stella [eigentlich Błon´ska-Wolfarth, Wanda]: Mys´li. In: »Przekrój« 1383 (1971), S. 9. Dt.: »Alte Sünden werfen lange Schatten.« 22 Zwolin´ski, P.: Agata Christie. In: »Dookoła S´wiata« 12 (1957), S. 9. 23 Riess, Curt: Ksia˛z˙ki pani Agaty. In: »Przekrój« 948 (1963), S. 14–15. Siehe auch Bidwell, George: O ksia˛z˙kach, S. 11. 24 Siehe Dudzin´ski, Robert: Od »potwornej szmiry«, S. 44–55. 25 Rudzin´ska, Kamila: Pisarz i twórczos´c´ w komunikacji literackiej XX w. In: Rudzin´ska, Kamila: Mie˛dzy awangarda˛ a kultura˛ masowa˛. Wokół społecznej roli pisarza. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1978, S. 45–90, hier S. 74. Dt.: »Die von der Norm abweichende und damit für das Massenpublikum interessante Persönlichkeit des Schriftstellers ist oft eine Art Werbehülle, in der Bücher verkauft werden.«

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öffentliche Bild einer bekannten Persönlichkeit gleichzeitig durch die Mechanismen der Projektion und der Identifikation mit kreiert – der Promi soll sowohl nah als auch fern sein, er soll einem Ideal bzw. Vorbild entsprechen, das nicht nachgeahmt werden kann.26 Zurück zu Christie: Man berichtete von ihrem Privatleben, ihrer Scheidung, ihrem großen Vermögen, ihren Verkaufserfolgen sowie ihren archäologischen Expeditionen mit dem zweiten Ehemann. Gelegentlich wurde auch das mysteriöse Verschwinden der Engländerin 1926 erwähnt. Gehalten wurden solche Unnützes-Wissen-Artikel im vertrauten Plauderton, mit dem die qualitative Mittelmäßigkeit der britischen Schriftstellerin unterstrichen wurde. Beschrieben wurde Christie als »Tante Agatha«27 oder »Frau Agatha«, als »Bürgerin«, »vornehme Dame«28 oder »ältere, grauhaarige Dame von majestätischem Körperbau und tadellosen Manieren«.29 Sogar während ihrer archäologischen Exkursionen soll ihre Hauptaufgabe darin bestanden haben, ihren Gatten zu bekochen. Auf den Fotografien wird Christie als elegante, ältere Dame in guter Gesellschaft dargestellt, die Gelassenheit ausstrahlt. Diese ikonographische Komponente, mit der Bodenständigkeit und eine Art Gewöhnlichkeit markiert wird, steht im Gegensatz zum verbrecherischen Plot der Christie-Krimis: Jej tryb z˙ycia jest idealnie taki sam, jak wszystkich przecie˛tnych Angielek. Dlatego w spokojnej mieszczce, która pod koniec tygodnia idzie z duz˙ym koszykiem po niedzielne zakupy, nikt nie moz˙e poznac´ kobiety, która popełniła z premedytacja˛ najwie˛ksza˛ ilos´c´ zbrodni… na papierze.30

Diese Betonung von Christies bürgerlicher Durchschnittlichkeit diente zweifellos dazu, die immer noch lebendigen negativen Stereotypen gegenüber der Kriminalliteratur zu neutralisieren. Das Bild einer gutherzigen alten Dame passte nicht zur Vorstellung einer degenerierten, primitiven und grausamen Krimiprosa. Mit solchen und ähnlichen Mitteln bemühte man sich, die Präsenz der Kriminalromane auf dem polnischen Verlagsmarkt zu erklären und zu legitimieren. In einem Artikel aus dem Jahre 1955 wird solche Denk- und Vorgehensweise deutlich: 26 27 28 29 30

Siehe Morin, Edgar: Duch czasu, S. 101–105. Ciotka Agata. In: »Przekrój« 656 (1957), S. 2. [Z˙ywien´, H.]: Sławna–nieznana Agata Christie. In: »Sprawy i Ludzie« 9 (1957), S. 3. [o. A.]: Agata Christie i Ramon Novarro. In: »Przekrój« 556 (1955), S. 10. Zwolin´ski, P.: Agata Christie, S. 9. Dt.: »Ihr Lebensstil ist genauso wie der aller durchschnittlichen englischen Frauen. Daher kann niemand in der ruhigen Stadtbewohnerin, die am Ende der Woche mit einem großen Korb zum Sonntagseinkauf geht, die Frau erkennen, die die meisten Verbrechen geplant hat… auf dem Papier.« Siehe Michalski, J: Królowa zbrodni. In: »Dookoła S´wiata« 39 (1955), S. 9; [Z˙ywien´, H.]: Sławna – nieznana Agata Christie, S. 3; [o. A.]: Jak pracuje Agatha Christie. In: »Odgłosy« 14 (1966), S. 11.

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Jako osoba dobrze wychowana i spokojna, pochodza˛ca z solidnego s´rodowiska mieszczan´skiego, Agatha Christie nie znosi wulgarnos´ci, zbyt wylewnych czy gwałtownych wypowiedzi i w ogóle wszelkiej emocjonalnos´ci. Odbija sie˛ to takz˙e na jej powies´ciach. Sa˛to opowies´ci o zbrodniach, moz˙na powiedziec´, eleganckich. Nie ma tam wulgarnych czy drastycznych opisów, osoby sa˛ znakomicie ułoz˙one, a zbrodniarze zabijaja˛ swoje ofiary w sposób gładki i raczej zakulisowy.31

Kamila Rudzin´ska bemerkt, dass die Schriftsteller-Tätigkeit in einer durchrationalisierten und durchroutinierten Industriegesellschaft dem ›kleinen Mann‹ als überaus attraktiv erscheint, und zwar weniger als Lohnarbeit, sondern vielmehr als Hobby. Die Schriftsteller-Figur fungiert, so Rudzin´ska, in der Massenkultur als aufreizendes Persönlichkeitsmodell: w epoce rozrastania sie˛ czasu wolnego, pozostawionego do swobodnej dyspozycji jednostce, rola pisarza pozostaja˛c praca˛ zawodowa˛, stanowic´ by mogła jednak wzór wszelkiej spontanicznej aktywnos´ci, samospełnienia osobowos´ci.32

In der Tat wird in den Texten zu Christie über ihre Kreativität berichtet. Einzelne Artikel konzentrieren sich vor allem auf die leicht exzentrischen Gewohnheiten der Engländerin.33 Ihre Geschichten soll sie sich beim Baden ausgedacht haben, bei der Arbeit würde ihr das viele Apfelessen helfen (ein Kilo Obst für ein Kapitel). Christie wird damit als bürgerliche Individualistin präsentiert, die ihre Individualität innerhalb der normierten Grenzen unterstreicht, ohne sich in ein vorgefertigtes Muster zwängen zu lassen. Zugleich bleibt ihre Arbeit eine Art Freizeitbeschäftigung: leicht, angenehm, mühelos. Ein intellektuelles Abenteuer statt ein von Schwierigkeiten geprägter Kreativprozess. Agatha Christie verkörperte das liberal-bürgerliche Rollenmodell, fügte sich hervorragend in die konzeptuelle Ausrichtung von »Przekrój« ein und kontrastierte mit der kolportierten sozialistischen Werteideologie. Vor diesem Hintergrund könnten die spontanen Leserentscheidungen als Form des Widerstandes gegen die politisch oktroyierte Kultur begriffen werden, um sich einen eigenen Rückzugsort zu schaffen, der nicht dem Unterdrückungssystem untergeordnet ist. Die Tragweite dieser auf ästhetischen und konsumorientierten Entscheidungen beruhenden Rebellion 31 Michalski, J: Królowa zbrodni, S. 9. Dt.: »Als wohlerzogene und ruhige Person aus einem soliden bürgerlichen Umfeld verabscheut Agatha Christie Vulgarität, überschwängliche oder gewalttätige Ausdrücke und jegliche Emotionalität im Allgemeinen. Dies spiegelt sich auch in ihren Romanen wider. Es sind Geschichten von Verbrechen, die, könnte man sagen, elegant sind. Es gibt keine vulgären oder drastischen Beschreibungen, die Personen sind hervorragend arrangiert und die Verbrecher töten ihre Opfer auf eine sanfte und eher hinterhältige Weise.« 32 Rudzin´ska, Kamila, Pisarze i twórczos´c´, S. 75–76. Dt.: »Im Zeitalter der Vermehrung der Freizeit, die dem Individuum zur freien Verfügung steht, könnte die Rolle des Schriftstellers, auch wenn sie eine berufliche Tätigkeit bleibt, dennoch ein Modell für jede spontane Aktivität, für die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit sein.« 33 Zwolin´ski, P.: Agata Christie, S. 9; [o. A.]: Jak pracuje Agatha Christie, S. 11.

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war natürlicherweise begrenzt, aber in den 1950er und 1960er Jahren dennoch von Bedeutung. Mit der Entscheidung für die Populärkultur konnte das Publikum zumindest symbolisch seine Unabhängigkeit verdeutlichen.

Fazit Die Rezeption von Agatha Christies Texten (und von Kriminalromanen im Allgemeinen) war daher in jenen Jahren ein individueller Marker der sozialen Zugehörigkeit, der von Bestrebungen, Ambitionen und dem bevorzugten Lebensstil zeugte. Die ›intellektuellen‹ Leser:innen nahmen eine distanzierte und professionelle, aber dennoch etwas nachsichtige Haltung gegenüber Christie ein. Auf der einen Seite bekräftigten sie die traditionellen literarischen Hierarchien, auf der anderen Seite nahmen sie die psychologischen und moralischen Elemente in den Romanen Christies zur Kenntnis. Für ›bürgerliche‹ Leser:innen dagegen (und solche, die es werden wollten) stand Christie symbolisch für eine bestimmte von Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit geprägte Lebensart mit westlichen Tendenzen. Christie wurde als Star der Krimi-Bühne schlichtweg konsumiert und die Christie-Lektüre als Zeichen der Modernität und des Mode-Sinns gewertet. Das Beispiel Agatha Christie führt vor Augen, in wie viele verschiedene Kontexte die Kriminalliteratur im Nachkriegspolen verstrickt war, und beweist, dass die 1950er und 60er Jahre für die Entwicklung und Wahrnehmung der Populärliteratur in Polen ausschlaggebend waren. Wenn noch kurz davor Existenz und Sinn der populären Literatur im sozialistischen Polen angezweifelt worden waren, diskutierte man später nicht über den Sinn, sondern das Funktionieren der akzeptierten Gattungsliteratur unter gegebenen sozial-politischkulturellen Umständen.

Literatur [o. A.]: Agata Christie i Ramon Novarro. In: »Przekrój« 556 (1955), S. 10. [o. A.]: Ciotka Agata. In: »Przekrój« 656 (1957), S. 2. [o. A.]: Jak pracuje Agatha Christie. In: »Odgłosy« 14 (1966), S. 11. Bidwell, George: O ksia˛z˙kach do zabijania czasu. Übers. von A. Bidwell. In: »Z˙ycie Literackie« 34 (1956), S. 11–12. Detka, Janusz: Miłe złego (?) pocza˛tki… Odwilz˙owe fascynacje popkultura˛ Zachodu. In: Miernik, Grzegorz (red.): Kultura wysoka, kultura popularna, kultura codziennos´ci w Polsce 1944–1989. Kielce: Wyd. Uniwersytetu Humanistyczno-Przyrodniczego Jana Kochanowskiego 2010, S. 87–96. Dobosz, Andrzej: Humanistyczna idylla. In: »Nowa Kultura« 21 (1957), S. 6.

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Robert Dudzin´ski

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Der ›Frauenkrimi‹ in feministischer Tradition

Sonja Hartl (Berlin)

Der Fall Kawaters

»Die Erfinderin des einzig wirklich deutschen ›Frauenkrimis‹ heißt Corinna Kawaters«1, erklärt Krimi-Autorin Sabine Deitmer. Dennoch ist Corinna Kawaters als Autorin weitgehend vergessen. Ihre Bücher fehlen in Überblicksdarstellungen zur Kriminalliteratur und Untersuchungen zur feministischen Kriminalliteratur bzw. Kriminalliteratur von Frauen. In Nicola Barfoots Studie zum ›Frauenkrimi‹ wird Kawaters lediglich als Vorläuferin erwähnt.2 Die einzige längere Studie zu Kawaters findet sich in Faye Stewarts Queer Feminist Crime Fiction in Germany.3 Tatsächlich war Corinna Kawaters in den 1980er Jahren durchaus eine populäre Autorin. Autorinnen wie Lydia Tews oder Elke zur Nieden hatten mit ihren Romanen »bei weitem nicht den Erfolg, den Corinna Kawaters mit ihren beiden Zora-Zobel-Romanen erzielen konnte«.4 Als eine von drei Autorinnen nahm sie 1985 an der ersten internationalen Krimi-Konferenz in Hamburg teil.5 Vier Jahre später wurde sie in dem »Spiegel«-Artikel Marlowes Töchter als eine der Autorinnen erwähnt, die nun Kriminalromane mit Frauen als Hauptfiguren schrieben:

1 Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co.: Der Erfolg der deutschen Krimifrauen. In: Birkle, Carmen/ Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 239–253, hier S. 245. 2 Vgl. Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007. 3 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014, S. 21–56. Dort findet sich auch ein Überblick über den Forschungsstand zu Corinna Kawaters. 4 Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co., S. 247. 5 Unveröffentlichte Teilnehmer:innenliste der »Hamburger Tage des Kriminalromans« in Hamburg September/Oktober 1985 – bereitgestellt vom Veranstalter Frank Göhre und S.H. vorliegend. Vgl. außerdem Solbach, Hannes: Tatort Hamburg – Zwölf Tage Mord und Totschlag. In: »Szene Hamburg«, September 1985, S. 18–20; [o. A.]: Tateinheit – Tatort Hamburg. In: »taz hamburg« vom 18. September 1985, S. 14.

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Sonja Hartl

An manchen Frauen-Krimis und ihrer Detailgenauigkeit sind die Zeitläufe präzise abzulesen. So beißen, in einer schon vor einiger Zeit erschienenen Geschichte der Bochumer Autorin Corinna Kawaters, die Mitglieder einer Frauen-WG alle paar Seiten in biogesunde Vitaminbrötchen; zum Beleg, daß die Story im alternativen Milieu spielt, lassen die Damen immer wieder den Joint kreisen. In den Duschbädern schäumt reichlich ph-neutrale Sebamed-Seife, und wenn die Gesinnung so rundherum stimmt, ist die Beihilfe zum Mord an einem Mann auch verzeihlich, sofern sie von einer Lesbe geleistet wird.6

Auf ihrem zweiten Roman, Zora Zobel zieht um, steht sogar explizit »Frauenkrimi«. Wieso also werden Kawaters Romane nicht zum ›Frauenkrimi‹ gezählt?

Der Begriff ›Frauenkrimi‹ In Anlehnung an Brigitte Frizzoni wird ›Frauenkrimi‹ im Folgenden als ein (problematischer) Begriff gesehen, mit dem ein besonderes historisches Phänomen auf dem Buchmarkt der 1980er und 1990er Jahre bezeichnet wird.7 In dieser Zeit werden Kriminalromane von Autorinnen genderspezifisch vermarktet, darauf verweist die griffige und problematische Formulierung, es seien ›Krimis von Frauen, mit Frauen, für Frauen‹.8 Als populäre und kommerzielle Form sind »Kriminalromane als nicht-subventionierte Literatur […] unmittelbar an Marktmechanismen gekoppelt, die ggf. über Bezeichnungen entscheiden«9, dafür ist der ›Frauenkrimi‹ ein prägnantes Beispiel. Unter diesem Begriff wurden Autorinnen versammelt, welche die »Themen, die die neue deutsche Frauenbewegung im Zuge der Gesellschaftskritik der Studierendenbewegung aufgeworfen hat, also etwa die Frage der Beziehung von Sexualität, Macht und Gewalt«10, in Kriminalromanen verhandeln. Viele Verlage starteten in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ›Frauenkrimi‹-Reihen, in denen stilistisch, 6 [o. A.]: Marlowes Töchter. In: »Der Spiegel« 1 (1989). URL: https://www.spiegel.de/kultur/ma rlowes-toechter-a-aa6b622e-0002-0001-0000-000013493405 / letzter Zugriff am 28. Februar 2023. 7 Vgl. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009, S. 9. 8 Vgl. hierzu Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co., die nur deshalb Kawaters Zora Zobel zieht um als ›Frauenkrimi‹ gelten lässt, weil in diesem Kriminalroman nur Frauen vorkommen. Zu den Beschränkungen der Formel u. a. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 9. 9 Wörtche, Thomas: Kriminalroman. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II: H-O. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000, S. 342–345, hier S. 342. 10 Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen: Der Frauenkrimi als Verhandlungsort von Weiblichkeitsmythen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 255–272, hier S. 255.

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thematisch und hinsichtlich der frauenpolitischen Haltung sehr verschiedene Schriftstellerinnen erscheinen. Deshalb drückt der Begriff vor allem eine Gleichzeitigkeit aus, ist aber nicht als literarische oder gar ästhetische Kategorie zu verstehen. Gegen diese Auffassung wendet sich Thomas Kniesche, der den ›Frauenkrimi‹ als eine ›Untergattung‹ des Kriminalromans mit bestimmten Merkmalen sieht, obwohl dieser Begriff »kontrovers ist und man ihn als historisches Phänomen verstehen könnte«.11 Der bloße Hinweis auf das ›Kontroverse‹ des Begriffs ist indes zu kurz gegriffen: Verwendet man ihn außerhalb des spezifischen historischen Kontextes, unterstützt er die Vorstellung des Männlichen als Norm und die binäre Geschlechterordnung.12 Genau das sollte aber damals mit dem Begriff aufgebrochen werden. Er wurde explizit als Gegenbegriff zu dem Kriminalroman als einer männlich dominierten literarischen Tradition gesehen13, schon »Frauen« war ein »Kampfbegriff«14 in der damaligen Zeit. Kniesches Definition übersieht den historischen Kontext und die Genese des Begriffs, auch darüber hinaus überzeugt sie nicht: Das wichtigste Merkmal des Frauenkrimis ist die zentrale Stellung einer starken, selbstbewussten Protagonistin als Ermittlerfigur, die sich in einer von Männern und männlichen Denkweisen beherrschten Umwelt zu behaupten weiß. Was genau ›stark‹ bedeutet, kann dabei auf ganz verschiedene Weise realisiert werden.15

Nach Kniesche sind sowohl Miss Marple aufgrund ihrer Menschenkenntnis und Analogiefähigkeit als auch V.I. Warshawski aufgrund ihrer Härte und physischen Stärke ›starke‹ Protagonistinnen. Mit dieser breiten und vagen Definition ließe sich für jede Protagonistin ein Aspekt finden, der sie ›stark‹ macht. Demnach wären alle Kriminalromane mit einer Protagonistin ein ›Frauenkrimi‹.16 Diese

11 Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015, S. 89. 12 Vgl. zur Kritik an dem Begriff u. a. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 9– 11; Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum. Zur Interdependenz von Gender und Genre in deutschsprachigen Kriminalromanen von Autorinnen. In: »Weimarer Beiträge« 46.4 (2000), S. 564–581; Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar fémini, S. 27–28; Stewart, Faye: German Feminist Crime Fiction, S. 9. 13 Vgl. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi. Women’s Crime Writing in Germany. In: Hall, Katharina (ed.): Crime Fiction in Germany: Der Krimi. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100– 114. 14 Else Laudan in: Hartl, Sonja: Miss Marple, Chastity Riley und Co. Ermittlerinnen im Kriminalroman. In: »Deutschlandfunk Kultur«, Erstsendung vom 3. Juni 2022. URL: https:// www.deutschlandfunkkultur.de/ermittlerinnen-krimi-miss-marple-chastity-riley-100.html / letzter Zugriff am 6. März 2023. 15 Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman, S. 10. 16 Noch problematischer wird Kniesches Definition, wenn er den ›feministischen Kriminalroman‹ dem ›Frauenkrimi‹ unterordnet. Das würde z. B. bedeuten, dass feministische Kriminalromane per se eine weibliche Hauptfigur haben müssen – aber schon Anne Goldmanns

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Unschärfe ist einer der Gründe, dass der Begriff ›Frauenkrimi‹ seit seinem Auftreten in den späten 1980er Jahren umstritten ist.17 Darüber hinaus sind der Begriff und »die genderspezifische Markierung als ›Frauenkrimi‹ aus dem verlagsinternen wie auch dem öffentlichen Diskurs wieder verschwunden«.18 Sowohl in Verlagen als auch Buchhandlungen werden Kriminalromane von Frauen als Kriminalromane geführt – und nicht mehr als ›Sonderfall des Kriminalromans‹.19 Nun sollte nicht ausgerechnet die Wissenschaft diesen problematischen Begriff als Untergattung wieder einführen, stattdessen sollte er einzig als Kennzeichnung und Benennung eines historischen publizistischen Phänomens fungieren.

Corinna Kawaters und die Anfänge des Frauenkrimis Vor den Anfängen des ›Frauenkrimis‹ in Deutschland ab Mitte des 1980er Jahre haben in den 1970ern, verstärkt in den frühen 1980er Jahren, insbesondere USamerikanische und britische Autorinnen die männlich konnotierten Elemente des Kriminalromans hinterfragt; diese Bücher sind auch in deutschsprachigen Übersetzungen erschienen.20 Das Phänomen ›Frauenkrimi‹ hängt eng mit dem Erstarken des feministischen Kriminalromans zusammen: Autorinnen wie Sara Paratesky und Liza Cody griffen zentrale Aspekte der Frauenbewegung auf und zeichneten sich »durch einen sensibilisierten Blick für ›women’s issues‹«21 aus – das verbindet sie mit deutschsprachigen Autorinnen wie Pieke Biermann und Corinna Kawaters. Das bedeutet aber nicht, dass jeder als ›Frauenkrimi‹ vermarktete Roman feministisch ist.22

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Das Leben ist schmutzig (Hamburg: Argument Ariadne 2011) zeigt, dass das nicht notwendig ist. Beispielsweise lehnt ihn Gaby Pailer ab mit der Begründung, »there is no such thing as ›women’s crime fiction‹ in the sense that female authors do anything specifically different from males« (Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122, hier S. 107). Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 10. Vgl. Pailer, Gaby: Female Empowerment, S. 107–108. Dazu gehört u. a. James, P.D.: An unsuitable Job for a Woman. London: Faber and Faber 1972. Erstmals übersetzt von D. Bindheim: Kein Job für eine Dame. München: Heyne 1973. Auch: Ein reizender Job für eine Frau. Übers. von W. Müller. Tübingen: Wunderlich 1981. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 10. Vgl. hierzu u. a.: Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 5–6. Auch haben sich viele Autorinnen, die unter ›Frauenkrimi‹ geführt wurden, gegen diese Einordnung gewehrt. Exemplarisch dazu: Biermann, Pieke: Warum ich KEINE Frauenkrimis schreibe. In: »Tagesanzeiger Magazin« vom 8. Februar 1992.

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Corinna Kawaters erster Band Zora Zobel findet die Leiche23 erscheint 1984 und wird zu einem »Kultbuch der Szene«24, von dem über 20.000 Exemplare verkauft werden.25 Dieser Erfolg des »underground hit«26 hat dazu beigetragen, dass der Rotbuch-Verlag eine Krimireihe startete27, in der dann 1987 Pieke Biermanns Potsdamer Ableben sowie 1990 und 1993 zwei weitere Teile ihres BerlinQuartetts erscheinen.28 Ein Grund des Erfolgs von Kawaters’ Kriminalroman liegt in der genauen Schilderung des linken westdeutschen Milieus. Auf der ersten Seite des Kriminalromans erwacht Zora Zobel am Morgen nach einer Nachbarschaftsparty befreundeter Hausbesetzer in Bochum. Dort hat sie den Afrodeutschen Werner Kern kennengelernt und mit nach Hause genommen. Aber nach dieser »herrlich durchvögelten Nacht« (ZZFL, 5) hat sie herausgefunden, dass Werner Kern ein »miese[s] kleinkapitalistische[s] Schwein« (ZZFL, 5) ist. Ihm gehört das besetzte Haus, in dem die gestrige Party stattfand, und er hat davon kein Wort erwähnt. Wütend sucht sie ihn nach der Arbeit am Abend auf und entdeckt seine Leiche: »Ich wanke hinüber, lasse mich in einen Sessel fallen und wähle, ohne groß zu überlegen, die 110.« (ZZFL, 36) Als Aktivistin misstraut Zora Zobel der Polizei, sie ahnt, dass sie zur Hauptverdächtigen werden könnte. Also ruft sie ihre Freundin Rita an, die ihr einen Anwalt besorgen soll, und macht von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Daraufhin wird sie von der Polizei durchsucht – »Glücklicherweise habe ich kein Notizbuch dabei. Das Aufschreiben von Adressen und Telefonnummern versuche ich mir schon seit langem abzugewöhnen. Sie brauchen nicht zu wissen, wen ich kenne« (ZZFL, 41– 42) – und in eine Zelle gebracht. Eine Anwältin sorgt dafür, dass sie vorerst freikommt. Aber es ist klar, dass auch die Polizei herausfinden wird, dass Werner Kern der Besitzer des besetzen Hauses ist und damit nicht nur Zora Zobel, sondern ebenso die Hausbesetzer und andere linke Aktivist:innen verdächtig sind: Atomkraftgegner, Friedensbewegte, Punker, Feministinnen. Bei ihren Nachforschungen taucht Zora Zobel tief ein in die Geschichte einer westdeutschen Familie und bewegt sich in dem linksalternativen Milieu im Ruhrgebiet, das Corinna Kawaters als »taz«-Journalistin gut kannte.

23 Kawaters, Corinna: Zora Zobel findet die Leiche. Frankfurt (Main): Zweitausendeins 1984. Alle folgenden Zitate im Fließtext unter der Sigle ZZFL. 24 Huther, Christian: Ein Kriminaltango sondergleichen … In: »Main-Echo« vom 20. August 1987. Beilage: Das neue Buch. 25 Diese Verkaufszahl ist noch bemerkenswerter, wenn man den Vertriebsweg von Zweitausendeins berücksichtigt, der über Direktversand und eigene Läden erfolgte. 26 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 25. 27 Vgl. Huther, Christian: Ein Kriminaltango sondergleichen. 28 Biermann, Pieke: Violetta. Berlin: Rotbuch Verlag 1990; Biermann, Pieke: Herzrasen. Berlin: Rotbuch Verlag 1993. Der vierte Teil Vier, Fünf, Sechs erschien 1997 bei Goldmann in München.

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Ihren zweiten Auftritt hat Zora Zobel 1986 in Zora Zobel zieht um.29 Diesen Kriminalroman wollte Kawaters bisheriger Verlag Zweitausendeins trotz ihres Erfolgs nicht drucken. Der Grund: Er war ein literarisches Experiment. Abgesehen von der ersten Leiche kommen nur Frauen als handelnde und anwesende Figuren vor:30 Der Verlag Zweitausendeins lehnte das Manuskript ab, obwohl Corinna Kawaters mit ihrer Zora Zobel bei ihnen einen Knüller gelandet hatte. Diesen Roman, in dem Männer praktisch nicht vorkommen, wollten sie nicht drucken. Das Männerkollektiv im Gießener Focus Verlag zeigte sich toleranter: Dort erschien 1986 Zora Zobel zieht um – mit dem Untertitel ›Frauenkrimi‹ auf dem Cover.31

In diesem Roman stolpert Zora Zobel wieder über eine Leiche, dieses Mal ist es der Sohn ihrer Vermieterin, ein »schöner Jüngling« (ZZZU, 8), den sie tot auf der Straße liegend entdeckt: »Oh Horror, was soll das!? Schon wieder ’ne Leiche? Oh nein.« (ZZZU, 15) Sie ruft nicht die Polizei: »Keine Leichen für mich bitte, damit möchte ich nichts zu tun haben!« (ZZZU, 17), aber die Straße, auf der die Leiche liegt, ist die Straße, in der sie wohnt, und schon bald steht die ermittelnde Kriminalkommissarin Lederschuh vor ihrer Tür (ZZZU, 21). Aus Neugier beginnt Zora Zobel mit eigenen Nachforschungen, die sie in eine feministische Frauen-WG und zu einer Peepshow führen. Auch der zweite Roman war erfolgreich und ist einer der »transitional texts noteworthy for their portrayals of political activism on the cusp of the Frauenkrimi boom«.32 Im Jahr 2001 erscheint ein dritter Band mit Zora Zobel, nunmehr im dritten Verlag: dem Berliner Verlag Espresso.33 Zora Zobel auf Abwegen34 erhielt aber nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit wie die vorherigen beiden Teile.35 In diesem Band wird Zora Zobel in Drogengeschäfte verwickelt und flieht vor der Polizei. Sie ermittelt hier kaum, auch ist sehr deutlich, dass sich die Gesellschaft und Kawaters’ Lebensumstände mittlerweile verändert haben: Politischer Aktivismus ist kaum ein Thema, vielmehr geht es um das Leben im Untergrund.

29 Kawaters, Corinna: Zora Zobel zieht um. Gießen: Focus 1986. Alle folgenden Zitate im Fließtext unter der Sigle ZZZU. 30 Sogar das Telefon wird in der Wohnung von einer Technikerin angeschlossen, was von Zora Zobel kommentiert wird mit: »vielleicht ist sie von der Kampagne ›Mädchen in Männerberufen‹ übrig geblieben« (ZZZU, 20). 31 Deitmer, Sabine: Anna, Bella und Co., S. 245. 32 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 25. 33 Dieser dritte Teil scheint Nicola Barfoot gar nicht bekannt zu sein – mit Folgen: Eines ihrer Argumente, dass Corinna Kawaters nicht zum ›Frauenkrimi‹ zu zählen sei, ist, dass sie nur zwei Bücher geschrieben hat (Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin, S. 70). 34 Kawaters, Corinna: Zora Zobel auf Abwegen. Berlin: Espresso 2001. 35 Vgl. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 25.

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Dass Corinna Kawaters als Teil des historischen Phänomens ›Frauenkrimi‹ zu sehen ist, zeigt zum einen der zeitliche Kontext der ersten beiden Zora-ZobelRomane. Im Jahr 1986 erscheinen neben Zora Zobel zieht um die deutschen Übersetzungen der feministischen Titel von Sara Paretsky und Liza Cody sowie der erste Anna-Marx-Band von Christine Grän.36 Zum anderen verbindet die Autorinnen des deutschen ›Frauenkrimis‹, dass sie »not only offered female heroines who fought against sexism, but also celebrated left-leaning political strategies that aimed for social justice and espoused anti-establishment, antiracist and anti-imperialist perspective.«37 Das zeigt sich bei Corinna Kawaters zunächst an ihrer Hauptfigur. Zora Zobel erfüllt wichtige Eigenschaften einer gelungenen Detektivfigur: Sie ist die Ich-Erzählerin, sie ist unabhängig, Geld ist ihr egal, sie kann weitgehend machen, was sie möchte, und sie handelt aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit heraus.38 Aber ihr Handeln wird nicht von dem Streben nach Gerechtigkeit angetrieben, sondern von »verdammte[r], bodenlose[r], nagende[r] Neugier« (ZZZU, 48). Auch ist sie durch und durch Amateurin. Anfangs arbeitet sie als Fremdsprachenkorrespondentin in einem Büro, aber sie verliert diese Anstellung. Im ›Frauenkrimi‹ gibt es häufiger Amateurermittlerinnen, diese sind aber zumeist Journalistinnen.39 Sie wissen, wie sie recherchieren müssen, haben nützliche berufliche Kontakte. Zora Zobel muss findiger vorgehen und nutzt dafür kollektive Netzwerke, die durch ihre Verankerung in der linken Szene entstanden sind. Hilfreich ist vor allem ihre Freundin Rita, die viele Kontakte hat und als wiederkehrender Sidekick zudem stets die richtigen Fragen stellt. Anders als viele Amateurdetektivinnen sucht Zora Zobel nicht nach Validierung und behauptet keinerlei Autorität. Dass sie herausfindet, wer Werner Kern ermordet hat, hat keine Konsequenzen (ZZFL, 143), sie versucht sogar erfolglos, eine Täterin zu schützen (ZZZU, 141–143). Ihr Verhältnis zur Polizei ist äußerst ambivalent. Sie verkörpert für Zora Zobel die patriarchale Macht. Im ersten und dritten Teil lehnt sie sie ab, weigert sich, etwas preiszugeben, und steht in klarer Opposition zu ihr (ZZFL, 37–51). Im zweiten Teil bekommt sie es indes mit einer Kommissarin zu tun – und da schwankt ihre Haltung. Bei der ersten Befragung fühlt sie sich von den Routinefragen unter Druck gesetzt und würde gerne »losplatzen« (ZZZU, 52) damit, dass sie die Leiche gesehen hat. »Pure Autori36 Paretsky, Sara: Schadenersatz. Übers. von U. Münch. München/Zürich: Piper 1986; Cody, Liza: Video-Piraten. Übers. von R. Schmidt. Frankfurt (Main)/Berlin: Ullstein 1986; Grän, Christine: Weiße sterben selten in Samyana. Reinbek: rororo 1986. 37 Stewart, Faye: Der Frauenkrimi, S. 107. 38 Vgl. zu den Eigenschaften einer Detektivfigur Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin, S. 14. 39 Vgl. hierzu: Fischer, Susanne: Der deutsche Frauenkrimi. Paderborn: Univ. Diss. 1997, S. 169– 180.

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tätsfixierung, das bringt nur Ärger ein« (ZZZU, 24), ermahnt sie sich selbst. Später überlegt sie, ob sie ihr erzählen soll, dass die zweite Tote mit dem ersten Toten liiert war, und beschließt, dass sie zukünftig »cooler und ablehnender« (ZZZU, 72) ihr gegenüber sein muss, sonst erzähle sie ihr noch ihr ganzes Leben. Es gibt kurze Momente der Solidarität zwischen der Kommissarin und Zora Zobel, auch wird sich am Ende eine Täterin der Polizei stellen (ZZZU, 143). Dennoch gibt es keine Zusammenarbeit mit der Polizei oder dem Staatsapparat: »Versteht eine Richterin mehr von Gerechtigkeit, weil sie weiß, wie Paragraphen heißen?« (ZZZU, 141) Vielmehr endet der Text mit dem Bekenntnis, dass Zora nie wieder in einem Polizeiauto landen möchte (ZZZU, 143), und der dritte Teil der Reihe weist deutlich darauf hin, dass eine Zusammenarbeit nicht möglich ist. Des Weiteren nehmen Corinna Kawaters Romane eine ›feministische Revision‹40 des Kriminalromans vor und sind nicht nur Teil des ›Frauenkrimis‹, sondern auch feministische Kriminalromane.41 Bis in die 1980er Jahre hinein wurde gerade in Detektivromanen das Weibliche weniger mit der Lösung eines Verbrechens als mit dem Verbrechen an sich in Verbindung gebracht.42 Dagegen setzt Kawaters nicht nur eine Detektivin, sondern in den ersten beiden Teilen sind die ersten Opfer Männer, die Zora Zobel attraktiv fand – und eben keine der bis in die Gegenwart verbreiteten schönen toten Frauen. Diese »demise or dismissal of the male object of desire«43 steht in der Tradition der feministischen Kriminalliteratur und ist Teil der feministischen Umkehr der Genderstereotype: Bisher waren die Männer diejenigen, die Probleme lösten, Frauen hingegen Opfer oder Ablenkungen. Nun übernehmen die Frauen die Ermittlungen.44 Kawaters besetzt aber nicht nur Figuren um: Sie entlarvt den Sexismus in der linken Szene. Im ersten Teil erkennt Zora Zobel zunehmend, dass auch dort Männer dominieren, die glauben, eine Frau gehöre ihnen, und die patriarchalen Muster reproduzieren. Ihre Fixierung auf Klasse blendet die Diskriminierung von Frauen aus: Die männliche Autorität bleibt unhinterfragt. Das zeigt sich bspw. bei einer Plenumsversammlung, in der Zora angegangen wird, weil sie mit 40 »It is felt that a feminist revision of the genre should attempt to call into question the authority of the detective and the legitimacy of the investigation, the privileging of law and order over the rights of any potentially criminal individuals« (Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/ polar féminin, S. 15). 41 Auch der feministische Kriminalroman ist nicht klar definiert, zudem wird oft nicht zwischen ›Frauenkrimi‹ und feministischem Kriminalroman unterschieden. Da hier ›Frauenkrimi‹ als historisches publizistisches Phänomen verstanden wird, lässt sich der ›Frauenkrimi‹ vom feministischen Kriminalroman über andere Merkmale abgrenzen: er ist ein Kriminalroman, der patriarchale Machtstrukturen untersucht. 42 Vgl. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi, S. 101. 43 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 28. 44 Vgl. hierzu u. a. Dietze, Gabriele: Hardboiled Women: Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997.

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Werner Sex hatte. Hierbei offenbaren sich die kleinbürgerlichen Moralvorstellungen der Anwesenden (ZZFL, 30–32). Einer der Männer verhält sich besonders verbittert ihr gegenüber, weil sie mit ihm mal etwas hatte. Kapitalismus und Privateigentum lehnt er zwar ab, gegenüber Frauen aber hält er an »alten Besitzvorstellungen« (ZZFL, 55)45 fest. Diese ideologischen Ungereimtheiten und sexistischen Anmaßungen führen dazu, dass Zora Zobel »überhaupt keinen Bock auf Männer« (ZZZU, 9) hat und sich im zweiten Teil der Krimireihe stärker mit viel diskutierten und brisanten feministischen Themen wie Abtreibung, Mutterschaft und Sex-Arbeit auseinandersetzt. Ihr fällt ihre »Broschürensammlung zum § 218« (ZZZU, 26) herunter, ihre neue Wohnung findet sie durch ihre Bekannte Resy, die sie zu einer Abtreibung begleitet hat (ZZZU, 13). Zora Zobel erinnert sich an die Abtreibung: den Gang zu ProFamilia, die Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie Resy von der Sozialarbeiterin behandelt und mit Fragen drangsaliert wird, und der gut ausgestatteten Praxis der Frauenärztin (ZZZU, 27–30). Schon im ersten Teil hat Zora Zobel deutlich gemacht, wie sie zu Müttern steht: »Jede einzelne von ihnen hält sich für ein solches biologisches Wunder, daß es unbedingt fortgesetzt werden muß« (ZZFL, 77) – im zweiten Teil trifft sie eine alte Bekannte, die eine Karikatur einer New-Age-Mutter ist (ZZZU, 47). Die Verbindung aus Kapitalismuskritik und Feminismus zeigt sich insbesondere in Zora Zobels Kontakt mit den Frauen aus der Peepshow. Von einer älteren Nachbarin hat sie erfahren, dass der Tote eine Freundin hatte, die dort arbeitet, deshalb sucht sie den Laden auf. Es ist kein lustvoller Ort, die Frauen sind »geschäftsmäßig anwesend« (ZZZU, 51) mit ihren Körpern, mehr aber auch nicht. Sie sind nicht vollständig eigenständige Akteure – wie beispielsweise die Prostituierten in Pieke Biermanns Berlin-Quartett –, aber sie sind auch mehr als ihre Arbeit: eine alleinerziehende Mutter, eine hart arbeitende Studentin (ZZZU, 51–52). Während es in Pieke Biermanns Potsdamer Ableben sogar zur Bildung einer Gewerkschaft kommt, arbeiten die Frauen der Peepshow in Zora Zobel zieht um nur ansatzweise zusammen: Sie haben ausgemacht, dass sie die Zeit auf der Bühne »so lahm machen und so wenig stressig« (ZZZU, 58) wie möglich. Aber Ilona, die Freundin des Toten, ist die Hübscheste und hat »die Norm verändert, den Arbeitsdruck verschärft« (ZZZU, 58) mit der Show, die sie gelegentlich abziehe. Obwohl Kawaters und Biermann aus einer dezidiert feministischen Perspektive schreiben, betont Kawaters die Ausbeutung des weiblichen Körpers wesentlich schärfer als Biermann (ZZZU, 48–58). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die räumliche Verortung der Peepshow: Das 45 Im zweiten Teil hat der Tote versucht, seine Freundin aus einer Peepshow »herauszukaufen«. Auch er sieht Frauenkörper als Besitztümer an, aus vermeintlicher Liebe will er, dass Ilonas Körper nur ihm privat zur Verfügung steht.

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Haus befindet sich »[u]m die Ecke […] [des] Bochumer Frauenbuchladen[s]« (ZZZU, 48). Darin sieht Stewart eine Positionierung Kawaters innerhalb dessen, was »Karin Sieg characterizes as ›discourse (including feminist ones) that use prostitution as metaphor for the horror and immorality of exploitation‹.«46 Tatsächlich aber liegt hier noch eine andere Deutungsmöglichkeit vor, zumal Zora Zobel anmerkt, dass sie im »Vorbeifahren […] schon immer mal zur PeepShow rübergesehen« (ZZZU, 48) hat: zwischen der Theorie der Frauenbewegung und der praktischen Lebensrealitäten mancher Frauen liegen große Unterschiede, die oftmals innerhalb feministischer Bewegungen nicht gesehen werden. Unterstützt wird diese Deutung von der Rolle, die die Auseinandersetzung mit Klasse in beiden Kriminalromanen von Kawaters spielt: Zora Zobel denkt sie immer mit, sie denkt intersektional. So klingt beispielsweise der zweite Roman zunächst wie eine feministische Utopie: Frauen arbeiten und halten zusammen. Tatsächlich sieht es anders aus, nicht nur in der Peepshow, sondern auch in der feministischen Frauen-WG. Dort gibt es Streitigkeiten, teilweise aufgrund von Eifersucht (ZZZU, 89) und damit Besitzdenken, aber es gibt auch deutliche Klassenunterschiede. So greift die WG-Bewohnerin Sibylle die dort ebenfalls wohnende Taxifahrerin Anne mit den Worten an, sie solle nicht Taxi fahren »wenn sie’s nicht aushält! Berufsrisiko ist überall dabei …« (ZZZU, 102). Kommentiert wird das von Zora Zobel in Gedanken: »Sie hat gut reden … Von Hertha weiß ich, daß Sybille jeden Monat einen dicken Scheck von ihren Eltern kriegt und sich irgendwelchen Berufsrisiken gar nicht auszusetzen braucht.« (ZZZU, 102) Wie bei der Auseinandersetzung mit der Peepshow zeigt sich hier, dass es für manche Feministinnen einfacher ist, ihren Grundsätzen treu zu bleiben, als anderen: insbesondere für jene, die sich nicht der Realität einer Erwerbsarbeit stellen müssen.

Die Ausnahmeermittlerin Zora Zobel und der ›Frauenkrimi‹ Die Bücher von Corinna Kawaters erfüllen die Anforderungen sowohl an feministische Kriminalromane als auch an ›Frauenkrimis‹: Sie sind in den 1980er Jahren erschienen. Zora Zobel ist eine starke, politisch aktive Protagonistin, erzählt wird die Geschichte aus einer feministischen Sicht, in der Konstruktionen von Gender und Sexualität, Klasse und race untersucht werden – und das alles innerhalb einer Kriminalerzählung, die man auch als Detektivroman sehen kann. Zora Zobel klärt Mordfälle auf. Kriminalität ist hier ein gesellschaftliches Phänomen, das durch strukturelle Ungerechtigkeiten hervorgerufen wird. In den Romanen werden Machtverhältnisse, soziale Hierarchien und gesellschaftliche 46 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 38–39.

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Erwartungen kritisiert. Sprachlich bleibt Kawaters ganz in der Tradition anderer Amateurermittler:innen: Sie sucht nach Indizien, spricht von Ermittlungen und hat mit Rita einen Sidekick, der wesentlich schneller versteht, was vor sich geht. Bemerkenswert ist zudem die Rolle, die Sexualität in den Zora-Zobel-Texten spielt: »Ungewöhnlich aus heutiger Sicht muten die Bettszenen an: ausführlich, sexy und lebensecht«.47 Tatsächlich ist Sexualität in ›Frauenkrimis‹ oft zentral, die Protagonistinnen werden als aktive begehrende sexuelle Wesen dargestellt: Sie sind hier nicht mehr die Objekte, sondern Subjekte des Begehrens.48 Faye Stewart fasst in ihrer Studie Queer Feminist Crime Fiction Zora Zobel als queere Heldin, die die wachsende Kluft zwischen autonomer und radikaler feministischer Politik verkörpere.49 Tatsächlich ist Begehren und Sexualität bei Kawaters fließend, Zora Zobel begehrt Werner, sie begehrt Hertha – und sie lebt ihr Begehren aus. Corinna Kawaters schildert den Sex sowohl mit Werner Kern im ersten als auch mit Hertha im zweiten Teil ausführlich – im ersten Teil über vier Seiten, im zweiten über dreieinhalb Seiten, sogar Masturbation wird erwähnt (ZZFL, 18–21; ZZZU, 82–85). Die Tatsache, dass Zora Zobel auf einem Kondom besteht, wird kommentiert mit »Oh, die Feministin« (ZZFL, 19), ehe selbstverständlich ein Kondom benutzt wird. Mit der ausführlichen Schilderung aus weiblicher Perspektive schreibt Kawaters gegen die Konventionen des Kriminalromans an, in denen Sex zwar oft erwähnt, aber selten beschrieben wird. Zora Zobel ist eine sexuell aktive Frau, ohne dafür verurteilt oder bestraft zu werden.50 Auch überlagert ihr Begehren nicht das Bemühen um Aufklärung. Allerdings sind die Männer in Zora Zobels Leben – da ist auch der dritte Teil keine Ausnahme – nie sonderlich verlässlich: der erste stirbt, der zweite entpuppt sich als Mörder, der dritte als feiger Drogendealer und der vierte betrügt schlicht seine Ehefrau.

Fehlende Rezeption Obwohl Corinna Kawaters also zur selben Zeit wie viele Autorinnen des ›Frauenkrimis‹ geschrieben hat, obwohl in ihren Kriminalromanen eine Ermittlerin zum Einsatz kommt, die sich mit feministischen Themen auseinandersetzt, und obwohl sie – nach bisherigem Kenntnisstand – als erste Autorin den Begriff 47 48 49 50

Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co., S. 245. Vgl. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 12. Vgl. ebd., S. 14. Stewart sieht in der Betonung der Erotik eine weitere Verbindung der Kawaters-Romane zu queeren und lesbischen Kriminalromanen und begründet u. a. damit ihre Einordnung der Zora-Zobel-Romane als queere Kriminalromane. Vgl. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 12–15.

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›Frauenkrimi‹ auf dem Cover ihres Romans trägt, ist sie aus der Rezeption des ›Frauenkrimis‹, der feministischen Kriminalliteratur und der gesamten deutschsprachigen Kriminalliteratur herausgefallen. Ein Grund dafür könnte sein, dass ihre Kriminalromane als Szenebücher wahrgenommen werden, die in linken Verlagen erschienen sind.51 Näherliegend ist indes eine andere Begründung: Corinna Kawaters wurde 1998 wegen Mitgliedschaft in der »Roten Zora« zu anderthalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.52 Die »Rote Zora« ist eine militante feministische Gruppierung, gegen die das BKA in den 1980er Jahren wegen einer Reihe von Anschlägen ermittelt hat. Bei einer bundesweiten Razzia 1987 – der Aktion Zobel (!) – wurde auch Corinna Kawaters gesucht. Sie wurde gewarnt und konnte Deutschland verlassen. Acht Jahre hat sie im Untergrund gelebt, 1995 stellte sie sich freiwillig dem Gericht.53 Nun waren viele Autorinnen des ›Frauenkrimis‹ politisch engagiert: Doris Gercke engagierte sich in der DKP. Pieke Biermann in der Hurenbewegung und ich in der Frauenbewegung. Christine Grän ist noch heute für die Deutsche Welthungerhilfe aktiv. Alle vier haben wir mörderische Geschichten erzählt, um einer mörderischen Welt den Spiegel vorzuhalten.54

Für Autorinnen wie Biermann und Kawaters war »crime fiction […] a political tool«.55 Aber dieses Engagement beeinflusst die Rezeption. In ihrer Studie A Taste of Crime hat Nele Hoffman in dem Kapitel zu Pieke Biermann gezeigt, wie »maßgeblich die jeweilige Autor-Persona für die literarische Wertung ist.«56 Literaturwissenschaft und -kritik haben sich weit weniger mit der »Komposition und dichten intertextuellen Struktur ihrer Romane«57 befasst als mit der Glaubwürdigkeit und Authentizität des Geschilderten. Dabei merkt sie zudem an, dass im Gegensatz zu Henning Mankell – den sie mit Biermann behandelt – Biermanns politischem Anliegen, marginalisierten Minderheiten eine Stimme zu geben und die politische Dimension des erotischen Lebens zu zeigen, die politische Dringlichkeit abgesprochen werde.58 51 Vgl. ebd., S. 26. 52 Diese These unterstützt auch Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 26: »This omission may be deliberate, given the author’s involvement in leftist terrorism«. 53 Mehr dazu bei: Bornhöft, Petra: Als wenn es mich nicht gäbe. In: »Der Spiegel« vom 2. Juni 2001, S. 46–48. URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/19337146 / letzter Zugriff am 28. Februar 2023. 54 Deitmer, Sabine: Anna, Bella und Co., S. 242. Auch Stewart, Faye: Der Frauenkrimi, S. 110 betont, dass viele Autorinnen eine Geschichte von politischem Engagement und Aktivismus haben. 55 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 23. 56 Hoffman, Nele: A Taste of Crime. Zur Wertung von Kriminalliteratur in Literaturkritik und Wissenschaft. Salzhemmendorf: Blumenkamp 2012, S. 204. 57 Ebd., S. 207. 58 Vgl. ebd., S. 207.

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Das korrespondiert mit der Rezeption von Corinna Kawaters, in der vor allem die Szenekenntnisse der Autorin betont werden. Doch bei Kawaters geht es darüber hinaus nicht mehr nur um politisches Engagement, sondern um militanten Feminismus und den Verdacht, politische Straftaten unterstützt zu haben. Die Forschung zum militanten Feminismus in Deutschland steckt noch in ihren Anfängen, erst 2017 hat Katharina Karcher mit Sisters in Arms die erste umfangreiche Untersuchung dazu vorgelegt.59 Da verwundert es wenig, dass bisher die Beziehungen zwischen militantem Feminismus und Literatur im deutschsprachigen Raum kaum erforscht sind. Dazu lässt sich Kawaters inmitten des schwierigen Diskurses zu »Feminismus und Gewalt« verorten. Die »Rote Zora« hat die gängige Dichotomie herausgefordert, nach der es einen ›guten‹ friedlichen feministischen Protest auf der einen und ›böse‹ patriarchale Gewalt auf der anderen Seite gibt – und indem das OLG Stuttgart Corinna Kawaters für die Mitgliedschaft verurteilt hat, steht auch sie mit Gewalt in Verbindung. Das wird verstärkt durch die Rezeptionsbedingungen des ›Frauenkrimis‹, in dem es eine große Tendenz der Leserschaft gibt, Protagonistinnen als Wunsch-Ichs der Autorin zu lesen, das ihnen Identifikation anbietet.60 Zwischen Corinna Kawaters und Zora Zobel gibt es einige biographische Parallelen: Sie sind Feministinnen, politisch aktiv, engagieren sich gegen den Paragraphen 218. Des Weiteren geht bei Corinna Kawaters der fiktionale Pakt zwischen Autorin, Ermittlerin und Leserin weit über die Rezeption der Kriminalromane als fiktionale Literatur hinaus: In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft gegen Corinna Kawaters wird als Beweis für ihre Gesinnung und Vordenkerrolle in der »Roten Zora« ein »Zora-Zobel-Roman aus dem alternativen Milieu der frühen achtziger Jahre«61 angeführt. In einem Video62, in dem Corinna Kawaters aus der Anklageschrift vorliest, wird ausgeführt, dass Zora Zobel nicht nur Verstöße gegen gesellschaftliche und strafrechtliche Normen (Hausbesetzungen, räuberischen Diebstahl, Anschläge) billigt, sondern selbst Straftaten (Diebstahl, Betrug, Schwarzfahren, Drogenbesitz, Strafvereitlung)

59 Karcher, Katharina: Sisters in Arms. Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968. Übers. von G. Ahnert und A. Künzl-Snodgrass. Hamburg: Assoziation A 2018. 60 Vgl. hierzu Fischer, Susanne: Der deutsche Frauenkrimi, S. 183–187; sie führt aus, dass das Identifikationsangebot ein Grund für viele Leserinnen sei, Frauenkrimis zu lesen. 61 Bornhöft, Petra: Als wenn es mich nicht gäbe, S. 47. Demnach geht es vermutlich um den ersten Teil. Mehr über die Parallelen zwischen dem Roman und den Forderungen der »Roten Zora« findet sich bei Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 32, 41. 62 Siehe den Film von Oliver Ressler »Rote Zora. A Video«, 28 Minuten. AT 2000. URL: https:// www.ressler.at/rote_zora / letzter Zugriff am 28. Februar 2023.

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begeht.63 Hier wird Literatur als potentielles Beweismittel in einem realen Prozess angeführt. Der Fall Kawaters offenbart somit einige Blindstellen nicht nur in der Forschung zur Kriminalliteratur. Ihre Romane müssen bei der Erforschung des ›Frauenkrimis‹ und der feministischen Kriminalliteratur in Deutschland berücksichtigt werden, in deren Auseinandersetzung bislang die Kriminalromanproduktion linker autonomer Verlage zu wenig betrachtet wird. Sie könnten das Bild der deutschsprachigen Kriminalliteratur verändern.

Literaturverzeichnis [o. A.]: Tateinheit – Tatort Hamburg. In: »taz hamburg« vom 18. September 1985, S. 14. Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007. Deitmer, Sabine: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum. Zur Interdependenz von Gender und Genre in deutschsprachigen Kriminalromanen von Autorinnen. In: »Weimarer Beiträge« 46.4 (2000), S. 564–581. Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co.: Der Erfolg der deutschen Krimifrauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 239–254. Fischer, Susanne: Der deutsche Frauenkrimi. Paderborn: Univ. Diss. 1997. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009. Hoffman, Nele: A Taste of Crime. Zur Wertung von Kriminalliteratur in Literaturkritik und Wissenschaft. Salzhemmendorf: Blumenkamp 2012. Huther, Christian: Ein Kriminaltango sondergleichen … In: »Main-Echo« vom 20. August 1987. Karcher, Katharina: Sisters in Arms. Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968. Übers. von G. Ahnert und A. Künzl-Snodgrass. Hamburg: Assoziation A 2018. Kawaters, Corinna: Zora Zobel auf Abwegen. Berlin: Espresso 2001. Kawaters, Corinna: Zora Zobel findet die Leiche. Frankfurt (Main): Zweitausendeins 1984. Kawaters, Corinna: Zora Zobel zieht um. Gießen: Focus 1986. Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« 4 (1996), S. 5–6. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015. Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122.

63 Inwieweit diese Analyse bei dem Urteil eine Rolle gespielt hat, konnte bisher nicht untersucht werden, da die Beweiswürdigung in dem verschriftlichten Urteil mit Blick auf den Resozialisierungsgedanken und die Persönlichkeitsrechte nicht öffentlich ist.

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Stewart, Faye: Der Frauenkrimi: Women’s Crime Writing in Germany. In: Hall, Katharina (ed.): Crime Fiction in Germany. Der Krimi. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100–114. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014. Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen: Der Frauenkrimi als Verhandlungsort von Weiblichkeitsmythen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 255–272. Wörtche, Thomas: Kriminalroman. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II: H-O. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000, S. 342– 345.

Internetquellen [o. A.]: Marlowes Töchter. In: »Der Spiegel« 1 (1989). URL: https://www.spiegel.de/kultu r/marlowes-toechter-a-aa6b622e-0002-0001-0000-000013493405 / letzter Zugriff am 28. Februar 2023. »Rote Zora. A Video«, Film von Oliver Ressler, 28 Minuten. AT 2000. URL: https://www.ress ler.at/rote_zora / letzter Zugriff am 28. Februar 2023. Bornhöft, Petra: Als wenn es mich nicht gäbe. In: »Der Spiegel« vom 2. Juni 2001, S. 46–48. URL: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/19337146 / letzter Zugriff am 28. Februar 2023. Hartl, Sonja: Miss Marple, Chastity Riley und Co. Ermittlerinnen im Kriminalroman. In: »Deutschlandfunk Kultur«, Erstsendung vom 3. Juni 2022. URL: https://www.deutsch landfunkkultur.de/ermittlerinnen-krimi-miss-marple-chastity-riley-100.html / letzter Zugriff am 6. März 2023.

Maike Schmidt (Kiel)

»Ich merke, daß mich Männerleichen allmählich langweilen …« Sabine Deitmers Beate-Stein-Krimis (1993–2007)

Einleitung Kein wissenschaftlicher Beitrag über die Kriminalromane oder -erzählungen von Sabine Deitmer kommt ohne den Hinweis aus, dass die Autorin in Interviews stets die Genre-Bezeichnung ›Frauenkrimi‹ im Allgemeinen und in Bezug auf ihre eigenen Texte abgelehnt hat: »Außerdem finde ich die Einführung einer ›Unterabteilung Frauenkrimi‹ diskriminierend und völlig unsinnig, da die Gattung Kriminalroman insgesamt ganz wesentlich von Autorinnen geprägt wurde und wird.«1 Deitmer, die durchaus in der Frauenbewegung aktiv war, verweist hier zu Recht darauf, dass Frauen als Autorinnen von Kriminalromanen schon vor der Entstehung des Labels ›Frauenkrimi‹ entscheidenden Einfluss auf die Genreentwicklung genommen haben und die Zuschreibung vielmehr aus marktökonomischen Gründen verwendet werde.2 Verwiesen sei hier beispielsweise auf die »Queens of Crime«3, die Krimiautorinnen des Golden Age.4 Betrachtet man ›Frauenkrimi‹ jedoch wie im Umkreis der Begründerinnen der Ariadne-Reihe aus feministischer Perspektive5, dann dient der Begriff der Etablierung einer gendermarkierten Gegentradition zur männlich besetzten Krimidomäne.

1 Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co.: Der Erfolg der deutschen Krimifrauen. In: Birkle, Carmen/ Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 239–254, hier S. 244. 2 Vgl. ebd. 3 Keitel, Evelyn: Vom Golden Age zum New Golden Age: Kriminalromane von Frauen für Frauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, den USA und Großbritannien. Tübingen: Stauffenberg 2001, S. 19–37, hier S. 20. 4 Siehe dazu auch Hoffman, Megan: Gender and Representation in British ›Golden Age‹ Crime Fiction. New York: Palgrave Macmillan 2016. 5 Siehe den Beitrag von Mareike Brandtner im vorliegenden Band.

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Der vorliegende Beitrag versteht ›Frauenkrimi‹ in Anlehnung an Brigitte Frizzoni als historisches Subgenre6, das sich im englischsprachigen Raum bereits seit Anfang der 1970er Jahre, im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1980er Jahren etabliert und nach seiner Blütezeit in den 1980er und 90er Jahren schließlich an der Wende zum neuen Jahrtausend an Relevanz verliert, indem es (literarisch-ästhetischen wie gesellschaftlichen) Transformationsprozessen unterliegt.7 Merkmale dieses Subgenres sind bereits vielfach in der Forschungsliteratur diskutiert worden. Vereinfacht und verkürzend ist in der Diskussion um Genremerkmale zunächst festgehalten worden, dass ›Frauenkrimis‹ sich durch 1. eine Autorin, 2. eine Ermittlerin und 3. durch die Verhandlung von »frauenrelevanten Themen«8 auszeichnen. Mit Petra Perrier lässt sich festhalten, dass ›Frauenkrimis‹ »eine eindeutig sozialkritische Einstellung, das Aufzeigen von frauenspezifischen Problemen, eine Auseinandersetzung mit Machtstrukturen und Gewalt sowie die Verankerung der Romane in einen konkreten und realistischen Kontext« verlangen.9 Noch konkreter in Bezug auf die in den ›Frauenkrimis‹ geschilderten Verbrechen formuliert Sabine Wilke: Die Themen dieser Frauenkrimis umfassen unter anderem Frauen als Opfer von gentechnologischen Manipulationen während der Schwangerschaft, die Männlichkeit von Wissenschaft und Geschäftswelt, die Probleme von alleinerziehenden Müttern, die Frau als Opfer von alltäglicher Gewalt in der Familie, sexuellen Missbrauch von Töchtern,

6 Vgl. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009, S. 9. 7 Zur Geschichte des Frauenkrimis und zu unterschiedlichen Definitionsversuchen vgl. neben dem einschlägigen Werk von Brigitte Frizzoni: Keitel, Evelyne: Vom Golden Age zum New Golden Age; Dietze, Gabriele: Genre und Gender. ›Mainstreaming feminism‹ im weiblichen ›hard-boiled‹ Code. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 39–73; Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie. Eine Projektskizze. In: Neuendorff, Dagmar/Nikula, Henrik/Möller, Verena (Hg.): Alles wird gut. Beiträge des Finnischen Germanistentreffens 2001 in Turku/Abo, Finnland. Frankfurt (Main)/Berlin/Bern: P. Lang 2005, S. 173–183; Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007; Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung. Exemplarische Untersuchung zum deutschen Frauenkrimi. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 205–219; Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014. 8 Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen: Der Frauenkrimi als Verhandlungsort von Weiblichkeitsmythen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 255–271, hier S. 256. Zu den Definitionsproblemen vgl. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 48–52. 9 Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung, S. 205.

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Frauenfreundschaften und Frauenliebschaften, die Probleme von Prostituierten und die Frau als Opfer, aber auch als Täterin in sado-masochistischen Beziehungen.10

Als erzählerische Mittel haben sich, wie Kirsimarja Tielinen zeigt, im ›Frauenkrimi‹ eine »Neigung zur Polyphonie«, eine »zyklische Strukturierung« sowie eine »Neigung zum offenen Ende« etabliert, um »auf scheinbar unlösbare soziale Missstände [zu] verweisen.«11 Kurz zusammengefasst: In den ›Frauenkrimis‹ erhalten die Ermittlerinnen Zugang zu männlich besetzten Berufen, unterlaufen damit die männlich geprägte Arbeitswelt und etablieren im Prozess einer konflikthaften Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen weibliche Machtpositionen. Als Opfer unterliegen Frauen in den ›Frauenkrimis‹ der männlich konnotierten Gewalt, von der sie sich als Täterinnen zu befreien suchen. Herkömmliche Erzählverfahren erweitern die ›Frauenkrimis‹ durch polyphone, zyklische Verfahren, intertextuelle Verweise und eine Tendenz zum offenen Ende. Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist die Beobachtung, dass die BeateStein-Krimis von Sabine Deitmer sich einerseits in die Genretradition des ›Frauenkrimis‹ einschreiben12, diese sogar mitbegründen, dass aber insbesondere der letzte Band der Reihe Perfekte Pläne (2007)13 mit Genrekonventionen bricht, innovative Impulse setzt und sich selbstreflexiv mit den Genremerkmalen des ›Frauenkrimis‹ auseinandersetzt. Der Roman könnte damit exemplarisch den Transformationsprozess vor Augen führen, den der ›Frauenkrimi‹ in den 2000er Jahren erfährt – man denke etwa an die Diskussionen um den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden.14 Um diese These zu prüfen, sollen zunächst in aller Kürze die ersten Krimis der Beate-Stein-Reihe skizziert werden, bevor der Beitrag dann umfassender auf Abweichungen und Weiterentwicklungen des 10 Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen, S. 256. 11 Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie, S. 181–182. 12 Aus der Forschung über den ›Frauenkrimi‹ ist der Name Sabine Deitmer nicht wegzudenken. Arbeiten, die sich ausführlicher mit den Beate-Stein-Krimis beschäftigen sind dennoch nicht besonders zahlreich. Zu erwähnen sind hier neben den Dissertationen von Claudia Roos und Stephan Mawick die Aufsätze von Sabine Wilke und Christopher Jones, die überwiegend die ersten Krimis der Reihe exemplarisch heranziehen. Vgl. Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen; Roos, Claudia: Die deutsche Detektiverzählung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Analyse ihrer Entwicklung unter Berücksichtigung möglicher Veränderungen der genretypischen Merkmale. Eine Untersuchung an ausgewählten Beispielen. Gießen: Univ. Diss. 2002; Jones, Christopher: ›Bestialisch dahingeschlachtet‹. Extreme Violence in German Crime Fiction. In: Chambers, Helen (ed.): Violence, Culture and Identity. Essays on German and Austrian Literature, Politics and Society. Oxford: Lang 2006, S. 401–415; Mawick, Stephan: Ästhetische Kollisionen in Kriminalromanen deutscher Gegenwartsautorinnen. ›Kunstmorde‹ bei Sabine Deitmer, Astrid Paprotta und Ingrid Noll. Göttingen: Cuvillier 2014. 13 Deitmer, Sabine: Perfekte Pläne [2007]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle PP nachgewiesen. 14 Gohlis, Tobias: Wozu ein »Frauenkrimipreis«? In: »Die Zeit« vom 28. November 2002. URL: https://www.zeit.de/2002/49/frauenkrimi/komplettansicht / letzter Zugriff am 28. Mai 2023.

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Genremodells in Perfekte Pläne eingeht. Es soll gezeigt werden, dass die BeateStein-Krimi-Reihe außerliterarische, gesellschaftliche ebenso wie poetologische Diskurse aufgreift und zur Weiterentwicklung des Subgenres ›Frauenkrimi‹ beiträgt.

Überblick über die Beate-Stein-Krimis Sabine Deitmer setzt sich seit den späten 1980er Jahren kritisch mit der männlichen Domäne im Krimi auseinander. Davon zeugen nicht nur der Band Bye-bye, Bruno (1988)15, in dessen Krimierzählungen jeweils Männer zum Opfer von Täterinnen werden, sondern auch die zahlreichen Interviews, in denen sich Deitmer (teils auch poetologisch) über den ›Frauenkrimi‹ äußert. Insgesamt sind fünf Beate-Stein-Krimis im Fischer Verlag erschienen, die die 2020 verstorbene Autorin zwischen 1993 und 2007 veröffentlicht hat und die sich jeweils durch Alliterationen im Titel auszeichnen: Kalte Küsse erschien 1993 in der FischerReihe »Die Frau in der Gesellschaft« und wurde 1997 unter der Regie von Carl Schenkel von RTL verfilmt.16 Im Zentrum stehen die Themen Gewalt in der Familie und Kindesmissbrauch. Auch wenn das männliche Opfer in einem an Christie und ihren Ermittler Hercule Poirot erinnernden großen Finale von diesem Vorwurf freigesprochen werden kann und sich schließlich der Schwiegervater als Täter herausstellt, kreist der Text um die Macht- und Wehrlosigkeit von Töchtern als Opfer familiärer Gewalt, aber auch um die Mittäterschaft von Müttern. Auch der zweite Krimi der Reihe, Dominante Damen (1994)17, erschien in der Reihe »Die Frau in der Gesellschaft«. Im Mittelpunkt des Krimis, für den Deitmer 1995 mit dem zweiten Platz des Deutschen Krimi Preises ausgezeichnet wurde, steht das – für die zeitgenössische Frauenbewegung bedeutende – Thema der Entstigmatisierung von Prostituierten. Eine genreuntypisch als round character beschriebene Domina tötet den Freund und Zuhälter ihrer Freundin Tina. Zuvor hat dieser die Freundin für eine Gruppenvergewaltigung verkauft und die Domina erpresst. Beate Stein lässt – nachdem die Gerichtsmedizin von einem Tod durch Autoasphyxie ausgeht – die Mörderin aus moralischen Gründen laufen. Mit diesem die durch den Mord erschütterte Ordnung nicht wieder völlig herstellenden Ende verweist der Roman auf die Komplexität von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die das Rechtssystem nicht angemessen berücksichtigt, also 15 Deitmer, Sabine: Bye-bye, Bruno. Wie Frauen morden. Frankfurt (Main): S. Fischer 1988. 16 Deitmer, Sabine: Kalte Küsse [1993]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. 17 Deitmer, Sabine: Dominante Damen [1994]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle DD nachgewiesen.

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auf die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit. Stein bekommt im Gegenzug von der Täterin ein Foto geschenkt, dass ihren späteren Chef in einer verfänglichen Pose mit einer Domina zeigt. Dieses Foto wird in Perfekte Pläne wieder aufgegriffen und als Druckmittel aufgeführt, um dem Dienst bei der Mordermittlung entfliehen zu können: In diesem Moment dachte ich an ein Foto von Froböse, das mir von einer Frau, die im Milieu arbeitete, verehrt worden war. Es zeigte meinen Vorgesetzten, wie er nackt mit einer Schweinemaske vorm Maul über den Boden kroch. Ein kleines Dankeschön dafür, dass ich der Gerechtigkeit und nicht dem Gesetz zum Sieg verholfen hatte. Dass sie nicht im Gefängnis saß, obwohl sie einen Mord begangen hatte. (PP, 28)18

In Neon Nächte (1995)19, in der Reihe »Fischer Frauenkrimi« erschienen und im Jahr 2000 unter der Regie von Peter Ily Huemer von RTL verfilmt, klärt Beate Stein den Mord an mehreren Straßenbahnfahrerinnen auf, so dass erstmals innerhalb der Reihe Frauen die Mordopfer darstellen. Als Täter entpuppt sich schließlich der durch und durch unsympathische Chef der Toten, der zur Verdeckung der Straftat der Vergewaltigung die Morde begeht: bei dem ersten handelt es sich um eine Verwechselung, beim zweiten stellt das eigentlich weiblich konnotierte Motiv der Rache den Grund für den Mord dar, das dritte Opfer hat den Täter erpresst. Im Mittelpunkt dieses Krimis steht die von Männern ausgeübte Gewalt gegen Frauen, die sich im Finale des Romans auch gegen Beate Stein richtet: Sie wird vom Täter überwältigt und muss gerettet werden. Der vierte Beate-Stein-Krimi, Scharfe Stiche (2004)20, ist als erster dieser Reihe genderneutral als »Fischer Kriminalroman« erschienen und wurde 2005 mit dem (letzten verliehenen) Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden ausgezeichnet. Er kombiniert den ›Frauenkrimi‹ in hardboiled-Tradition mit Genremerkmalen solcher ›Frauenkrimis‹, »in de[nen] Rachefantasien und weibliche Mordlust im Mittelpunkt stehen«.21 Die Ehefrau eines plastischen Chirurgen erfährt im Zuge eines Faceliftings in doppeltem Sinne einen Gesichtsverlust: Ihr Mann verändert ihr Aussehen so, dass sie einer Klinikschwester ähnelt, die sich als Geliebte ihres Mannes entpuppt und als Vorbild für seine Schönheitseingriffe dient. Daraufhin schmiedet die namenlos bleibende Ehefrau einen Racheplan, den sie kaltblütig 18 Vgl. ebenso: »Ich dachte an die Frau, die mir das Foto geschickt hatte. Sie hatte gemordet, um eine junge Frau zu retten. Und ich hatte sie laufenlassen. Eine Tat, die ich bis heute nicht bereute. Das Schicksal hatte mich zur Vollstreckerin von Gerechtigkeit gemacht, und ich hatte mich gern dazu machen lassen« (PP, 204). 19 Deitmer, Sabine: Neon Nächte [1995]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. 20 Deitmer, Sabine: Scharfe Stiche [2004]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. 21 Zur Unterteilung des ›Frauenkrimis‹ in diese beiden Typen vgl. Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie, S. 175–176.

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umsetzt: sie schneidet ihrem Mann die Ohren ab und näht ihm Schweineohren an den Kopf. Der Mann stirbt bei dieser ›Operation‹ qualvoll. Nach dem Erscheinen von Perfekte Pläne als »Fischer Kriminalroman« erhielt Deitmer 2008 den Glauser-Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk. In dem letzten Band der Reihe erzählt das spätere Opfer in Briefen an seine verstorbene Ehefrau von der Enttäuschung darüber, dass sich seine Kinder nach seinem Schlaganfall nicht um ihn kümmern, von der Reue über seine Fehler als Vater und Ehemann sowie von dem Wunsch nach einem Neuanfang. Die zweite Erzählebene aus der Perspektive von Beate Stein berichtet von dem Fund einer männlichen Leiche in einer Kirche und den schleppend verlaufenden Ermittlungen. In einem großen Finale, bei dem alle Verdächtigen zusammenkommen, stellt sich der Täter, der von seinem Vater unterdrückte und seiner Schwester instrumentalisierte Sohn.

Kontextualisierung der Reihe im Subgenre ›Frauenkrimi‹ Als charakteristisch für die Beate-Stein-Krimis erweist sich die zweisträngige Erzählweise. Während die Ermittlungen Beate Steins homodiegetisch und intern fokalisiert erzählt sind, kennzeichnet alle Bände ein zweiter, mit dem ersten verwobener und durch Kursivierung markierter Erzählstrang, der entweder homo- oder heterodiegetisch intern auf die Täterin fokalisiert ist wie in Dominante Damen und Scharfe Stiche, mal auf das Opfer wie in Perfekte Pläne oder auf Verdächtige wie in Kalte Küsse und Neon Nächte. Der zweite Erzählstrang erläutert Zusammenhänge rund um die Tat, die der Polizei noch nicht bekannt sind, so dass die Leser:innen einen Informationsvorsprung gegenüber Beate Stein haben, den sie aber meist – z. B. aufgrund von red herrings – nicht zu nutzen in der Lage sind. Während in dem Erzählstrang von Beate Stein die Rätselspannung dominiert, ist es im zweiten Erzählstrang jeweils die Zukunftsspannung.22 In Scharfe Stiche stehen sich die beiden Erzählstränge dadurch gegenläufig gegenüber, dass auf der Ebene der Täterin vom Motiv bis zum Mord erzählt wird, während Beate Stein die Ereignisse von der Entdeckung der Leiche bis zur Aufklärung der Tat schildert.23 Im Prolog und Epilog kommt darüber hinaus jeweils ein null- oder intern fokalisierter Erzähler zum Einsatz, der Zusammenhänge oder Motivationen weiterer Figuren vermittelt; so klärt der Epilog in Perfekte Pläne über die interne Fokalisierung auf Franka über deren Intrige auf (vgl. PP, 355–366).

22 Vgl. Roos, Claudia: Die deutsche Detektiverzählung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, S. 84. 23 Vgl. Mawick, Stephan: Ästhetische Kollisionen in Kriminalromanen deutscher Gegenwartsautorinnen, S. 18.

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Diese polyphone Erzählweise konstruiert, indem die Umstände und Motive der Taten aus mindestens einer weiteren, oft persönlicheren Ebene in den Blick gelangen, eine größere Nähe zu den Opfern wie in Kalte Küsse oder Perfekte Pläne bzw. zu den Täterinnen, die sich letztlich auch als Opfer gesellschaftlicher Missstände herausstellen wie in Dominante Damen oder Scharfe Stiche.24 Frauen, die aus Systemen der sexuellen oder strukturellen Unterdrückung ausbrechen, bleibt nur die Flucht oder die Entladung der angestauten Aggression in einem brutalen Racheakt wie beispielsweise in Scharfe Stiche, so dass Akte der Gewalt und Aggressivität den beiden Geschlechtern, die die ›Frauenkrimis‹ in Opposition setzen, zugeordnet werden können.25 Hinter den Taten verbergen sich also sekundäre Geheimnisse, die vom Einzelfall abstrahieren und auf strukturelle oder systemische Ungerechtigkeiten verweisen. Auch wenn die Täter:innen ermittelt werden: ein happy ending kann sich schon deshalb nicht einstellen, weil die Fälle jeweils gesellschaftliche Problembereiche in den Blick nehmen, die mit der Überführung der Täter:innen nicht an Relevanz verlieren. Die Figur Beate Stein steht – in Abgrenzung von den im männlich dominierten Krimi vorgesehenen Frauenrollen als Verführerin, als femme fatale, oder als schwache Opferfigur – in der Tradition derjenigen Ermittlerinnen, die auf die »sowohl symbolische wie faktische ›Eroberung‹ männerdominierter Domänen«26 abzielen: »Mein Name ist Stein. Beate Stein« (DD, 9) heißt es bezeichnenderweise intertextuell auf die James-Bond-Romane anspielend und gleichzeitig auf die Festigkeit des Charakters der Protagonistin hinweisend zu Beginn von Dominante Damen. In der Konstruktion der Figur Beate Stein lassen sich zahlreiche Allusionen auf typisch männliche hardboiled-Ermittler feststellen: Stein fährt Motorrad, trinkt gerne Alkohol, macht vor körperlicher Gewalt keinen Halt, wenngleich sie sich überwiegend dem »Einsatz verbaler Schlagfertigkeit statt Körpergewalt«27 bedient. Stein sperrt sich gegen Verhaltensmuster, die von der Gesellschaft mit Weiblichkeit assoziiert werden, wie Emotionalität, Fürsorge und Mütterlichkeit. Nicht einmal für ein Kaninchen – und damit einen Ehemann und Kinder apostrophierend – möchte Stein die Verantwortung übernehmen: »Jemand, der zu Hause auf mich wartet, auf mich angewiesen ist. Das ist, als würde ich ersticken.« (DD, 9) Mit anderen Worten: Mit ihrer Arbeit bei der Polizei als traditionell männlich besetze Domäne, die in den Beate-Stein-Krimis als von Sexismus und patriarchalen Strukturen geprägt gezeichnet ist, geht die Verbindung von Eigenschaften einher, die sich bis dahin als Charakteristika eines 24 Dabei handelt es sich um ein typisches Merkmal von ›Frauenkrimis‹. Vgl. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95.1 (1999), S. 87–112, hier S. 103. 25 Vgl. Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen, S. 265. 26 Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 43. 27 Ebd., S. 74.

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hardboiled-Privatermittlers erwiesen haben wie »Stärke, Grösse, Fitness, Autonomie, Unabhängigkeit und einer befreienden normüberschreitenden ›license to misbehave‹«28. Die Schablonenhaftigkeit dieser Figurenkonstruktion wird allerdings dadurch abgemildert, dass Stein trotz einer Stoppelhaarfrisur wenigstens äußerlich weiblich markiert ist: sie trägt als Reaktion auf die viele Jahre getragene Polizeiuniform gern bunte Kleidung und schminkt sich, ohne dabei einem Schönheitsdiktat zu verfallen. Stein ist sich aber auch ihrer weiblichen Intuition bewusst und vertraut dieser. Nur deshalb führt sie in Dominante Damen die Ermittlungen trotz der vermeintlich eindeutigen Beweislage fort. Ihr Ermittlungsstil weist deutliche Referenzen auf Miss Marple auf – so wie auch zahlreiche Parallelen bzw. intertextuelle Anspielungen auf Sherlock Holmes zu finden sind: Beate Stein ermittelt scharfsinnig und intuitiv. Die homodiegetische Erzählweise mit interner Fokalisierung ermöglicht darüber hinaus, Steins nach außen nicht eingestandene Verletzlichkeit offenzulegen (»harte Schale, weicher Kern«29). Beate Stein möchte in ihrer Tätigkeit als Polizistin als gleichberechtigt anerkannt werden und nicht als Vorzeigefrau für »die Fotografen« (DD, 30) herhalten, als die sie ihre Vorgesetzten auserkoren haben. Die Beate-Stein-Krimis funktionalisieren die Situierung im Polizeiapparat, um »Kritik an korrupten, gewalttätigen und vorurteilsbeladenen Polizeibeamten« zu äußern, wie es sich als charakteristisch für die ›Frauenkrimis‹ der 1990er Jahre erweist.30 Die Geschichten rund um Beate Stein zählen den genretypologischen Überlegungen von Tielinen folgend damit zu den feministisch geprägten ›Frauenkrimis‹, die in der (männlichen) Tradition der hardboiled school stehend Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit adaptieren und kritisch reflektieren.31 Gleichzeitig lassen sich die Beate-Stein-Krimis durch ihren Fokus auf soziale Missstände, deren Ursache überwiegend, aber nicht ausschließlich in der gesellschaftlichen Dominanz von Männern angesiedelt ist, als sozialkritische Krimis lesen. Steins Kollege Kriminalkommissar Weber ist unter Gender-Gesichtspunkten als Gegenfigur angelegt: Als fürsorglicher Vater zweier Kinder kommt er seinen familiären Verpflichtungen nach. Bei der Arbeit ordnet er sich Stein unter, zeichnet sich durch Zurückhaltung und selbstkritisches Verhalten aus und

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Ebd., S. 69. Ebd., S. 75. Ebd., S. 93, 96. Vgl. Tielinen, Kirsimarja: Der deutschsprachige Frauenkriminalroman als Gattungsparodie; Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen, S. 99. Vgl. auch Tielinen, Kirsimarja: Ein Blick von außen. Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalroman. Berlin: Weidler 2004, S. 41–68.

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übernimmt somit eine Watson-Rolle.32 Er teilt allerdings auch männliche Einstellungen wie Vorbehalte gegen arbeitende Frauen und Vorlieben für weibliche Reize, was die Funktion erfüllt, Genderdifferenzen explizit zu machen und Konflikte innerhalb des Ermittlerteams zu schüren. Die Frauen nehmen in Deitmers Krimis insgesamt eine ambivalente Rolle ein: Sie treten als schwache und von gesellschaftlichen Strukturen benachteiligte Opfer auf, als gewaltbereite, sich aus der (patriarchalen) Unterdrückung befreiende Mörderinnen und als taffe, sich in einem männlich dominierten Polizeiapparat behauptende Ermittlerinnen – immer steht jedoch der Machtkampf zwischen den Geschlechtern im Fokus, wodurch auch hier »bezüglich der Geschlechter eine Tendenz zur Schwarzweissmalerei«33 zu beobachten ist, wie schon Frizzoni konstatiert: »Der ›Frauenkrimi‹ will traditionelle Genderdichotomien unterlaufen, indem er eine gendermarkierte Gegentradition etabliert; durch diese Etikettierung wiederholt sich aber genau die Separierung, die er eigentlich überwinden will.«34 Die sich im deutschsprachigen ›Frauenkrimi‹ der späten 1990er Jahre wiederholenden Figuren- und Fallzeichnungen bestätigen dieses Ergebnis. Der ›Frauenkrimi‹ reagiert nach dem Jahrtausendwechsel konzeptuell auf diese innerliterarische Entwicklung und auf die sich ändernden außerliterarischen (feministischen) Diskurse, wie im Folgenden am Beispiel von Perfekte Pläne gezeigt werden soll.

Genretransformation: Perfekte Pläne (2007) So wie Deitmer nach der Veröffentlichung ihrer männermordenden Krimierzählungen feststellt, »daß [sie] die Männerleichen« – und damit die Festschreibung auf weibliche Täterinnen und männliche Opfer – »allmählich langweilen«35, so findet im fünften und letzten Beate-Stein-Krimi ein Transformationsprozess in der Konzeption der Figurenanlage und der Handlungsmotivation statt, der die gendermarkierte Schwarzweißmalerei des ›Frauenkrimis‹ auflöst. Mit Blick auf diese Entwicklung konstatiert der Krimi selbstreflexiv, dass es an der Zeit sei, »die lästigen Mann-Frau-Kämpfe als ins Steinzeitalter gehörig ad acta zu legen« (PP, 191) – was im Kontext des Zitats aber nicht für die Arbeit bei der Polizei gilt,

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Vgl. Roos, Claudia: Die deutsche Detektiverzählung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, S. 93. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen, S. 102. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 51. Deitmer, Sabine: Die Lust an der Leiche. Bekenntnisse einer Triebtäterin. In: Dirks, Liane (Hg.): »… daß einfach sich diktierte Zeilen legen …«. Autoren schreiben über ihr GENRE. Köln-Düsseldorfer Poetikvorlesungen. Band I. Dülmen-Hiddingsel: tende 1995, S. 163–192, hier S. 190.

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die sich weiterhin durch frauendiskriminierende Strukturen und Beamte auszeichnet. Besonders deutlich lässt sich diese Entwicklung an der Figurenzeichnung erkennen, die weniger schablonenhaft und stereotyp ausfällt als in den früheren Bänden der Reihe: Zwar motiviert die patriarchale, auf Unterdrückung setzende Familienstruktur in der Familie Krieger, deren Oberhaupt zum Opfer seiner Kinder wird, den Handlungsprozess. Doch es ist die dem charakterlichen Vorbild ihres Vaters folgende Tochter Franka (»Durchsetzungsfähig. Erfolgsorientiert«; PP, 348), die ihre Machtposition unter den Geschwistern nutzt, um den homosexuellen, vom Vater zwar finanziell ausgehaltenen, aber verspotteten Sohn Johannes als Täter zu instrumentalisieren. Am Ende wird sie als Drahtzieherin des durch Habgier motivierten Plans gegen die Moral und die Gerechtigkeit nicht zur Rechenschaft gezogen. Als Opfer hinter dem Verbrechen erweist sich somit Johannes, wodurch der Krimi homophobe Familien- und Gesellschaftsstrukturen problematisiert. Das Vater-Tochter-Gespann zeigt darüber hinaus, dass die dargestellten Verhaltensmuster nicht auf ein Geschlecht festgeschrieben sind. Insgesamt richtet der Krimi sein emanzipatorisches Anliegen damit stärker auf Altersreflexionen und Generationenkonflikte. Zur Reflexion über stereotype Rollenzuschreibungen führen die Briefe von Werner Krieger, die ihn als ambivalente Figur etablieren: So ist er sich seiner früheren Fehler in der Ehe und der Kindererziehung bewusst: Ich bin anschließend auf den [Fußball-]Platz gelaufen und habe ihm [Johannes – M.S.] eine geschmiert. Es hat mir keinen Spaß gemacht, meinem Sohn eine Ohrfeige zu verpassen. Ich dachte, ich müsste das tun, damit er so etwas nie wieder macht. Damit er lernt. Das habe ich doch nur zu seinem Besten getan. / […] Ich wollte einen Mann aus ihm machen. […] Ich wollte ihn hart machen. (PP, 83; Hervorhebungen im Original)

Die Briefe geben den Leser:innen der Polizei bzw. Beate Stein gegenüber einen Wissensvorsprung und tragen zur Sympathielenkung bei, wenngleich die Härte, die Krieger seinen Kindern gegenüber bis unmittelbar vor seinem Tod zeigt, – er enterbt sie zugunsten seiner neuen, selbstgewählten Familie – eine Distanz erzeugt, die sich nicht auflöst: »Für die Kinder war er ein Tyrann, unter dem sie in ihrer Jugend gelitten hatten. Für seinen [Geschäfts-]Partner ein bewunderter Freund, ein erfolgreicher Macher. Für seine neue Familie war er der freundliche hilfsbereite Opa, ein Vaterersatz« (PP, 326).36 Hier lässt sich erkennen, dass die Figuren weniger schablonenhaft angelegt sind als in den früheren Krimis der Reihe, selbst wenn hin und wieder Genderklischees gepflegt werden: Frauen gehen gemeinsam »aufs Frauenklo« (PP, 269), »Männergespräche« finden »am 36 Vgl. auch: »›Die reinste Achterbahnfahrt. Du liest, was er an seine verstorbene Frau schreibt, aus Einsamkeit, weil er sonst niemanden hat, und im nächsten Halbsatz rutscht ihm was raus, wofür du ihn vors Schienbein treten könntest. […]‹« (PP, 334).

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Tresen« statt (PP, 281). Dass die Frauenemanzipation weiterhin ein aktuelles Thema bleibt, zeigt sich auch an der Sekretärin Petra, die sich über die Bände der Reihe hinweg mit Steins Unterstützung von der telefonierenden, Gerüchte streuenden, Stöckelschuhe tragenden, emotionalen Sekretärin zu einer Frau entwickelt, die ihre Talente einordnen kann und sich neuen beruflichen Herausforderungen zu stellen bereit ist (vgl. u. a. PP, 171–172, 175). Die Beobachtung von Claudia Roos, dass sich Beate Stein im Laufe der Reihe immer stärker zur Einzelkämpferin entwickelt37, setzt sich in Perfekte Pläne dadurch fort, dass Weber zunächst wegen Burnout ausfällt. Die Lösung des Falls gelingt aber erst, als er wieder im Dienst ist. Der Mordfall löst bei Stein Reflexionen zum einen über ihre berufliche Karriere und den damit verbunden Plänen aus und zum anderen über ihre eigene Kindheit und die Beziehung zu ihren geschiedenen Eltern (vgl. PP, 161). Webers instabile psychische Verfassung zwingt Stein, dessen überbesorgte Eltern zu beruhigen, wodurch Eltern-Kind-Beziehungen auf einer weiteren Ebene ins Spiel kommen. Der Krimi setzt darüber hinaus die Zukunftspläne, die Werner Krieger in den Briefen zum Ausdruck bringt, mit den Zukunftsplänen von Beate Stein parallel. Krieger möchte dem Pflegeheim entkommen, indem er sich eine Ersatzfamilie sucht: Aber die Idee, dass die Jungen und Alten sich gegenseitig unterstützen, gefällt mir sehr. Andauernd lese ich in der Zeitung, dass die Frauen keine Kinder mehr bekommen, weil es keine Kinderkrippen gibt, weil sie nicht wissen, wer auf die Kinder aufpassen kann. Es würde mir Spaß machen, so einer jungen Familie zu helfen. (PP, 126; Hervorhebungen im Original)

Stein beschließt, nach Lösung des Falls, ihren Beruf als Kriminalkommissarin aufzugeben: »Ich könnte mir vorstellen, in die Fortbildung zu gehen. Mit den Kollegen zu arbeiten. Mir ihre Probleme anzusehen und ihnen zu helfen, damit sie in unserm Scheißverein nicht untergehen. Das interessiert doch kein Schwein, wer in unserem Laden kaputt gemacht wird, weil er einen beschissenen Vorgesetzten hat oder die falschen Kollegen.« (PP, 314)

Wie Krieger schmiedet sie aus einer Krisensituation heraus – in Anspielung auf den Titel – ›perfekte Pläne‹, wie die Kinder von Krieger litt sie unter ihrem Vater, allerdings unter seiner Abwesenheit und nicht unter seinen überzogenen Ansprüchen (vgl. z. B. PP, 327). Der den Mord auslösende Konflikt zwischen dem Opfer und seinen Kindern trifft und betrifft die männlichen wie die weiblichen Figuren im Roman gleichermaßen. Dabei erweisen sich enttäuschte Erwartungen sowohl der Kinder als 37 Vgl. Roos, Claudia: Die deutsche Detektiverzählung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, S. 138.

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auch der Eltern als Konstante. Darüber hinaus bietet der Konflikt das Potential, über familiäre Rollenmuster zu reflektieren. Als auffällig erweist sich dabei, dass über die Familie Krieger das traditionelle Rollenmuster – der Mann arbeitet als Alleinverdiener, die Mutter ist für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig – ebenso negativ dargestellt wird wie das Leben als Alleinerziehende (am Beispiel von Beate Steins Mutter Lore, die ihrem Exmann den Kontakt zur Tochter verbot; PP, 167) oder das unabhängige, emanzipierte Single-Dasein der bindungsunfähigen Franka oder der sehnsüchtig auf eine Beziehung hoffenden Ruth. Als Positivbeispiel dient die Wahlfamilie des Opfers, Familie Sonntag, die sich durch gegenseitige Rücksichtnahme, Zusammenhalt und Fürsorglichkeit auszeichnet. Nicht Frauenemanzipation oder Gender-Differenzen – so zeigt auch dieses Beispiel – stehen in Perfekte Pläne im Vordergrund, sondern ein sozialkritischer Blick auf familiäre Gefüge. Wie ihre Krimi-Kollegin Bella Block beschließt Beate Stein am Ende des Krimis (und der Reihe) den regulären Polizeidienst zu verlassen: »›Ist es nicht oft so, dass wir nur die armen Seelen kriegen und die größten Arschlöcher sich mit guten Verteidigern aus der Schlinge ziehen?‹« (PP, 349) Sie möchte – ernüchtert von dem jahrelangen Kampf gegen die Täter, vom Aufwand, stetig von Neuem gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im patriarchalen Polizeiapparat bestehen zu müssen, und nach der Erkenntnis, dass Recht und Gerechtigkeit häufig auseinandergehen – stattdessen Fortbildungen für Polizist:innen anbieten, die Weber abwertend als »Kuschelkurse« (PP, 314) bezeichnet, um ihnen Selbstermächtigungsstrategien an die Hand zu geben. Steins Desillusionierung spiegelt die Krise des neuen Feminismus: Sie bleibt nicht länger »Heroine eines neuartigen Rollenmodells«38, sondern muss sich rückblickend auf ihre Fälle kritisch mit dem Erreichten auseinandersetzen: »›Verstehen. Verzeihen. Annehmen. Wie man ist. Wie andere sind. Reden, sich austauschen. Brücken schlagen.‹« (PP, 91) Diese Selbstreflexion erwartet Perfekte Pläne aber nicht nur von seinen Protagonist:innen, sondern auch, so hat die Analyse der Transformationsprozesse gezeigt, von dem Genre ›Frauenkrimi‹.

Fazit In den 1990er Jahren begründet Sabine Deitmer mit ihren Beate-Stein-Krimis eine Reihe, die eine Vorreiterrolle für feministisch geprägte ›Frauenkrimis‹ einnimmt und – wie die Krimis von Doris Gercke, Lydia Tews oder Pieke Biermann – wesentlich zur Ausprägung und Verbreitung des Subgenres beiträgt. In den ersten Bänden etabliert sich die Kriminalkommissarin Beate Stein als 38 Dietze, Gabriele: Genre und Gender, S. 51.

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hartgesottene Ermittlerin, die sich in ihrem patriarchal geprägten und frauenfeindlichen Umfeld zu behaupten weiß, das sowohl bei der Institution der Polizei als auch in den Milieus der Mordfälle zutage tritt. Selbstzweifel kommen nur in der Innenschau der Protagonistin zum Vorschein. Wie es sich als charakteristisch für die ›Frauenkrimis‹ dieser Zeit erweist, ist eine Gleichberechtigung von Frauen nur durch Übernahme männlicher Verhaltensweisen denkbar, was aber implizit das Vorhandensein von Geschlechterdichotomien und festen Rollenmustern bestätigt. Den Figurenzeichnungen von Täter:innen, Opfern und Ermittler:innen liegen Beschreibungsinventare zugrunde, die auf die binäre Gegenüberstellung von Männern und Frauen zurückgehen. Wenn Weber im Zuge der Ermittlungen in Perfekte Pläne konstatiert: »›Männer sind Schweine‹« (PP, 280), dann vervollständigt Beate Stein die Refrainzeile des gleichnamigen Songs der Band Die Ärzte aus dem Jahr 1998 reflexhaft mit »›[t]raue ihnen nicht, mein Kind‹« (PP, 280). Die allseits bekannten Männerstereotype bieten keine Reibungspunkte mehr für das Ermittlerteam, der sozialkritische Fokus verlagert sich auf innerfamiliäre Rollenmuster. Das Genre der ›Frauenkrimis‹ unterliegt in den 2000er Jahren Transformationsprozessen, wie schon Petra Perrier am Beispiel von Gabriele Keisers Apollofalter, Juliane Göttingers Der Puppenmörder und Sybille Schröters Das Engelstor zur Hölle festgestellt hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich um 2006/2007 »die Konstruktion und Funktion der neuen Ermittlerinnen […] eindeutig von ihren Vorgängerinngen wie Bella Block, Beate Stein oder Anna Marx […] abheben«, indem die Ermittlerinnen Familie und Beruf miteinander verbinden und eine neues Frauenbild vermitteln.39 Der vorliegende Beitrag konnte nachweisen, dass sich solche Transformationsprozesse auch innerhalb der Beate-Stein-Krimis manifestieren: Perfekte Pläne greift neue Rollenmodelle auf und mildert binäre Dichotomien ab, ohne deshalb an sozialkritischem Impetus zu verlieren. Versteht man Literatur als soziale Praxis einer Gesellschaft40, dann zeigt sich in Perfekte Pläne eine Komplexitätszunahme in der Reflexion von Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern und des Genres ›Frauenkrimi‹.

Literatur Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007. Deitmer, Sabine: Anna, Bella & Co.: Der Erfolg der deutschen Krimifrauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabine/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Krimi-

39 Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung, S. 218. 40 Vgl. Fluck, Winfried: Populäre Kultur, S. 60–61.

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nalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2001, S. 239–254. Deitmer, Sabine: Bye-bye, Bruno. Wie Frauen morden. Frankfurt (Main): S. Fischer 1988. Deitmer, Sabine: Die Lust an der Leiche. Bekenntnisse einer Triebtäterin. In: Dirks, Liane (Hg.): »… daß einfach sich diktierte Zeilen legen …«. Autoren schreiben über ihr GENRE. Köln-Düsseldorfer Poetikvorlesungen. Band I. Dülmen-Hiddingsel: tende 1995, S. 163–192. Deitmer, Sabine: Dominante Damen [1994]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Deitmer, Sabine: Kalte Küsse [1993]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Deitmer, Sabine: Neon Nächte [1995]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Deitmer, Sabine: Perfekte Pläne [2007]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Deitmer, Sabine: Scharfe Stiche [2004]. Unveränderter Reprint. Frankfurt (Main): S. Fischer 2014. Dietze, Gabriele: Genre und Gender. ›Mainstreaming feminism‹ im weiblichen ›hard-boiled‹ Code. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 39–73. Fluck, Winfried: Populäre Kultur. Ein Studienbuch zur Funktionsbestimmung und Interpretation populärer Kultur. Stuttgart: J.B. Metzler 1979. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen: Detektivinnen und Täterinnen im ›Frauenkrimi‹ der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95.1 (1999), S. 87–112. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009. Hoffman, Megan: Gender and Representation in British ›Golden Age‹ Crime Fiction. New York: Palgrave Macmillan 2016. Jones, Christopher: ›Bestialisch dahingeschlachtet‹. Extreme Violence in German Crime Fiction. In: Chambers, Helen (ed.): Violence, Culture and Identity. Essays on German and Austrian Literature, Politics and Society. Oxford: Lang 2006, S. 401–415. Keitel, Evelyne: Vom Golden Age zum New Golden Age: Kriminalromane von Frauen für Frauen. In: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 19–37. Mawick, Stephan: Ästhetische Kollisionen in Kriminalromanen deutscher Gegenwartsautorinnen. ›Kunstmorde‹ bei Sabine Deitmer, Astrid Paprotta und Ingrid Noll. Göttingen: Cuvillier 2014. Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung. Exemplarische Untersuchung zum deutschen Frauenkrimi. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 205–219. Roos, Claudia: Die deutsche Detektiverzählung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Analyse ihrer Entwicklung unter Berücksichtigung möglicher Veränderungen der genretypischen Merkmale. Eine Untersuchung an ausgewählten Beispielen. Gießen: Univ. Diss. 2002.

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Internetquelle Gohlis, Tobias: Wozu ein »Frauenkrimipreis«? In: »Die Zeit« vom 28. November 2002. URL: https://www.zeit.de/2002/49/frauenkrimi/komplettansicht / letzter Zugriff am 28. Mai 2023.

Kirsten Reimers (Magdeburg)

Simone Buchholz als Autorin aktueller feministischer Kriminalromane?

Im Feuilleton werden die Kriminalromane von Simone Buchholz ganz selbstverständlich als feministisch bezeichnet.1 Zieht man jedoch die Kriterien heran, die beispielsweise Thomas Kniesche in seiner Einführung in den Kriminalroman (2015) für feministische Kriminalliteratur zusammenträgt, ergibt sich eine gewisse Diskrepanz: Mit Verweis auf Maureen Reddy, Petra Perrier u. a. stehen laut Kniesche in solchen Kriminalromanen vor allem Verbrechen gegen Frauen und sexualisierte Gewalt im Mittelpunkt, zudem würden »frauenspezifische[] Probleme«2 verhandelt. Das ist in den Romanen von Simone Buchholz jedoch nicht der Fall. Dennoch handelt es sich bei ihren Krimis eindeutig um feministische Kriminalromane, die jedoch die Definition des feministischen Krimis modifizieren und aktualisieren.3 Dies soll im Folgenden gezeigt werden.

1 Vgl. z. B. Schumacher, Katrin: Feministischer Hamburg Noir. URL: https://www.deutschland funk.de/simone-buchholz-mexikoring-feministischer-hamburg-noir-100.html / letzter Zugriff am 6. Januar 2023. 2 Vgl. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015, S. 89–91, bes. S. 90. Vgl. auch Brigitte Frizzoni, die nach der diskursanalytischen Untersuchung von Kriminalromanen von Frauen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt (Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009, S. 173). 3 Zum Gattungsverständnis: In diesem Beitrag wird der Begriff Kriminalroman als Oberbegriff für die Gattung verwendet. Diesem sind der Ermittlerroman, der Thriller wie auch alle anderen Spielarten des Kriminalromans untergeordnet. ›Kriminalroman‹ und die Kurzform ›Krimi‹ werden synonym genutzt.

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Die Kriminalromane von Simone Buchholz Simone Buchholz hat zwischen 2008 und 2021 zehn Krimis veröffentlicht.4 In deren Mittelpunkt steht die Staatsanwältin Chastity Riley. Sie ist die Tochter einer deutschen Mutter und eines US-amerikanischen GI mit schottischen Wurzeln; dies erklärt den angloamerikanischen Namen.5 Die Romane spielen in Hamburg und sind in der Gegenwart angesiedelt. Die ersten fünf Bücher sind im Verlag Droemer Knaur, die nachfolgenden fünf ab 2016 im Suhrkamp Verlag erschienen. Der Verlagswechsel markiert einen deutlichen Einschnitt: Danach verändern sich die Themenschwerpunkte wie auch die Figurengestaltung. An den Romanen von Buchholz lässt sich auf diese Weise u. a. gut erkennen, welchen Einfluss Verlage auf Inhalte und Formen von Unterhaltungsliteratur haben können.6 Die frühen Krimis sind relativ konventionell gehalten: In Revolverherz (2008), dem ersten Band, geht es um einen Serienmörder, der Tänzerinnen aus dem 4 Es handelt sich um folgende Kriminalromane Simone Buchholz’: Revolverherz. Ein HamburgKrimi. München: Droemer Knaur 2008; Knastpralinen. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2010; Schwedenbitter. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2011; Eisnattern. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2012; Bullenpeitsche. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2013; Blaue Nacht. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2016; Beton Rouge. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2017; Mexikoring. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2018; Hotel Cartagena. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2019; River Clyde. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2021. Im Folgenden werden die Romane nur unter Nennung des Haupttitels zitiert. Zur Autorin vgl. auch Reimers, Kirsten: Simone Buchholz. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 262–265. 5 »Chastity« lässt sich übersetzen mit »Reinheit«, »Keuschheit«; der Name verweist auf Rileys Gerechtigkeitssinn wie auch auf ihr schwieriges Verhältnis zu (Liebes-)Beziehungen. Gleichzeitig steht er in einem ironischen Spannungsverhältnis zur selbstzerstörerischen Tendenz der Protagonistin. 6 Die Produktionsbedingungen von Unterhaltungs- und Genreliteratur werden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nur selten berücksichtigt. Eine systematische Beschäftigung damit sowie mit den Rückwirkungen auf Form und Inhalt von Genreromanen stellt ein Forschungsdesiderat dar. Genreliteratur wie beispielsweise Kriminalliteratur wird nur in geringem Maße mit Preisgeldern, Stipendien, Zuschüssen oder Ähnlichem gefördert, so dass sich ihre Veröffentlichung für Buchverlage allein über Verkaufszahlen rechnen muss. Um diese zu erhöhen, versuchen viele Verlage, (mitunter erheblichen) Einfluss auf Form, Inhalt, Figurenzeichnung, Plot, Länge und Ähnliches zu nehmen bzw. haben sehr spezifische Vorgaben hinsichtlich dieser Punkte für die Annahme von Genreromanmanuskripten. Nur selten wird dies von Autor:innen offen angesprochen. Auf den Tagungen »Krimis machen 3« (1.–3. 09. 2017 in Hamburg; Programm unter: URL: http://culturmag.de/crimemag/kongress-zur-krimi nalliteratur-krimis-machen-3/101134 / letzter Zugriff am 20. April 2023) und »Krimis machen 4« (27.–29. 09. 2019 in Köln; Programm unter: URL: http://www.krimis-machen.de/pp/starthe re.html / letzter Zugriff am 20. April 2023) kam das Thema neben anderen im Rahmen verschiedener Panels zur Sprache. In privaten Gesprächen äußern sich Autor:innen oftmals kritisch hinsichtlich der Einflussnahme.

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Rotlichtmilieu tötet und skalpiert. Die Ursachen für die Morde liegen – etwas küchenpsychologisch erklärt – in einer frühkindlichen Traumatisierung des Täters. Der zweite Roman, Knastpralinen (2010), passt noch am ehesten in die Kategorie, die in der Regel als ›Frauenkrimi‹ (s. u.) bezeichnet wird: Offenbar wahllos werden in Hamburg Männer ermordet, zerstückelt und – wie sich im Laufe des Romans herausstellt – in einem Restaurant zu Speisen verarbeitet. Täterin ist eine Frau, die sich gegen sexualisierte Gewalt wehrt. In diesem Roman bettet die Autorin erstmals die geschilderten Verbrechen in einen gewissen gesellschaftlichen Rahmen ein. Dies bleibt von nun an strukturbestimmend für alle nachfolgenden Krimis. Die gesellschaftspolitische Komponente gewinnt dabei fortschreitend an Gewicht. So rücken ab dem dritten Band (Schwedenbitter, 2011) organisierte Kriminalität und deren Verflechtungen mit Wirtschaft, Politik und Justiz in den Mittelpunkt; private, interpersonelle Mordmotive spielen von nun an nur noch am Rande eine Rolle.7 Gier ist der treibende Faktor hinter den Verbrechen, die Gier nach Macht und Geld; dies wird oftmals am Handel mit Drogen und Immobilien enggeführt, die Immobilienbranche ist der organisierten Kriminalität dabei durchaus gleichgestellt.8 Nur im ersten Roman sind die Opfer Frauen, weil sie Frauen sind; im zweiten Roman sind die Opfer Männer allein aus dem Grund, dass sie Männer sind. In den nachfolgenden Büchern handelt es sich bei den Toten oftmals eher um Zufallsopfer oder um Hinrichtungen im Milieu der organisierten Kriminalität, oder das Morden dient der Profitmaximierung skrupelloser Konzerne. Die Opfer sind dabei hauptsächlich Männer, eine persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer liegt nur selten vor. Protagonistin der Reihe ist die bereits erwähnte Staatsanwältin. Sie fungiert als autodiegetische Erzählinstanz und berichtet im Präsens. Eine eindeutige Erzählsituation ist nicht gegeben. Riley richtet sich zunächst gar nicht, in den späteren Büchern gelegentlich an ein nicht näher definiertes Publikum.9 Das Erzählen ist stark dialogisch ausgerichtet, unterbrochen von Kürzestmonologen

7 In Schwedenbitter geht es um Immobilienschachereien kombiniert mit privater Gier. In Eisnattern stehen Misshandlungen von Obdachlosen durch emotional vernachlässigte Jugendliche im Mittelpunkt. In Bullenpeitsche steht die organisierte Kriminalität im Zentrum, die aufgrund von Korruption bis in den Justizapparat hinein ungestraft agieren kann. Blaue Nacht nimmt Drogenhandel im großen Stil samt Strukturen der organisierten Kriminalität in den Blick. Beton Rouge konzentriert sich auf informelle, patriarchal geprägte Netzwerke. Mexikoring zeigt Parallelen zwischen Clan-Kriminalität und Strukturen der Versicherungsbranche auf. Hotel Cartagena stellt die Verbindungen zwischen Drogenhandel, organisierter Kriminalität und wirtschaftlichen Eliten in den Mittelpunkt. In River Clyde geht es um sog. ›heiße Sanierung‹ und verbrecherische Strukturen der Immobilienbranche. 8 Vgl. insbes. River Clyde, siehe aber auch Schwedenbitter. 9 Vgl. z. B. Beton Rouge, S. 201–202; Mexikoring, S. 104; River Clyde, S. 69.

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und knappen reflexiven Passagen.10 Dadurch verfügt die Erzählsituation über eine starke Unmittelbarkeit, die eine große Nähe zum Filmischen evoziert. Vom ersten Band an gibt es vereinzelt kurze Passagen aus der Perspektive anderer Figuren, zum Teil in Ich-Form, zum Teil durch eine nicht näher markierte heterodiegetische Erzählinstanz mit variabler interner Fokalisierung. Neben der Haupthandlung gibt es zunächst jedoch keine weiteren Stränge aus anderen Perspektiven. Erst ab dem achten Band (Mexikoring, 2018) ändert sich dies, es kommen eigenständige Handlungsstränge hinzu, auch diese getragen von einer heterodiegetischen Erzählinstanz mit variabler interner Fokalisierung. Ab dem fünften Band der Reihe, Bullenpeitsche (2013), lassen sich phantastische Elemente finden: zunächst nur vereinzelt – so nimmt Riley z. B. Regen mit in ihre Wohnung11, später kommentiert die Wohnung Rileys Verhalten12 –, im letzten Band, River Clyde (2021), nehmen diese einen deutlich größeren Raum ein: Neben einem sprechenden Hirsch13 treten u. a. Meerjungfrauen wie auch die Geister von Verstorbenen14 auf, auch hier meldet sich eine Immobilie zu Wort15, und der Fluss Clyde16 agiert als eigenständige Figur. Es handelt sich um phantastische Elemente im Sinne von Tzvetan Todorov: Es bleibt offen, ob die Erscheinungen selbstverständlicher Bestandteil der Diegese oder Phantasieprodukte der Figuren sind.17 In den ersten neun Bänden sind die phantastischen Elemente beiläufig eingestreut, im letzten sind sie deutlich präsenter, so dass sich dieser Roman an der Grenze zur Phantastik bewegt. Er endet mit einer Metafiktion.18 Die Sprache ist sehr an Mündlichkeit orientiert, oftmals flapsig, nahezu schnodderig und sehr lakonisch; in der Regel ist sie knapp und ökonomisch gehalten: »Na dann«, sage ich, »kann ich auch den Regenmantel haben?« »Klar.« Abgang. Auftritt.

10 Vgl. z. B. Blaue Nacht, S. 29–30: »›Hey, Chef.‹ / ›Moin, Chef.‹ / ›Tag, die Herren. Ich bin nicht mehr Ihr Chef. Schon vergessen?‹ / ›Ach, egal, Chef.‹ / ›Jo, schietegal.‹ / Ich habe die beiden so gern, ich könnte ihnen jedes Mal ein Eis kaufen, wenn ich sie sehe.« 11 Vgl. Bullenpeitsche, S. 176. 12 Vgl. Mexikoring, S. 93–94; vgl. auch ebd., S. 129: Dort kommt das Büro zu Wort. 13 Vgl. River Clyde, S. 28–30. 14 Vgl. z. B. ebd., S. 120, 122–125, 147–149, 190–196, 203–210. 15 Vgl. z. B. ebd., S. 170–175. 16 Vgl. z. B. ebd., S. 25, 35, 42, 68, 86, 99. 17 Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur [1970]. Berlin: Wagenbach 2018, S. 36. 18 Vgl. River Clyde, S. 227–228.

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Regenmantel. »Danke«, sage ich.19

Riley entspricht nur zum Teil dem typischen Bild einer weiblichen Hauptfigur in sogenannten Frauenkrimis oder in feministischen Krimis, wie Brigitte Frizzoni es anhand zahlreicher Kriminalromane destilliert hat:20 Dieser Prototyp ist laut Frizzoni unabhängig, alleinlebend, Single um die vierzig, Einzelkind, groß, schlank, verfügt über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, ist verbal durchsetzungsfähig mit androgynem Erscheinungsbild und legt wenig Wert aufs Aussehen. Dies alles trifft in gewissem Maße auch auf Riley zu.21 Daneben gibt es jedoch markante Unterschiede: Frizzoni hebt besonders die Vitalität und körperliche Durchsetzungsfähigkeit der weiblichen Ermittlerinnen hervor. Hierin unterscheidet sich Riley deutlich: Sie ist weder vital noch körperlich fit. Stattdessen hat sie einen Hang zur Selbstzerstörung: Sie trinkt zu viel Alkohol – allerdings nicht auf eine problematische bzw. problematisierte Weise –, raucht stark, schläft zu wenig, ernährt sich ungesund oder vergisst zu essen.22 Dies verbindet sie eher mit den männlichen Protagonisten von hardboiled-Krimis. Allerdings gerät sie nie wie diese in körperliche Auseinandersetzungen – physische Fitness ist für sie darum nicht notwendig. Anders als die prototypische Hauptfigur des sogenannten Frauenkrimis, wie Frizzoni sie beschreibt, ist Riley nicht Single aus Überzeugung, um ihren persönlichen Freiraum zu genießen: Im Gegenteil, Riley weicht tieferen Bindungen aus, da sie von starker Verlustangst geprägt ist. Darunter leidet sie, denn sie fühlt sich von allen Menschen abgeschnitten.23 Allerdings ist das nicht konsistent in den Romanen umgesetzt: Zwischen Selbstbeschreibung und Auftreten der Figur klafft eine gewisse Lücke, denn aller Beschwörung von Rileys Isolation zum Trotz kommt sie überraschend einfach mit Menschen ins Gespräch und baut schnell eine innige, wenn auch mitunter nur kurzlebige Verbindung auf.24 Ihre Liebesbeziehungen sind jedoch komplex. An Rileys Liebesleben ist der Verlagswechsel als Einschnitt gut zu erkennen: In den ersten fünf Bänden spielt 19 Ebd., S. 203–204. 20 Vgl. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen. Detektivinnen und Täterinnen im »Frauenkrimi« der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95 (1999), S. 87–112, hier S. 99. Vgl. auch Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Frizzoni unterscheidet nicht zwischen ›Frauenkrimis‹ und feministischen Krimis. 21 Vgl. u. a. Mexikoring, S. 135; Bullenpeitsche, S. 82. 22 Vgl. z. B. Revolverherz, S. 20–21, 43, 216; Knastpralinen, S. 146, 231–232; Schwedenbitter, S. 9, 15; Eisnattern, S. 85; River Clyde, S. 15, 62. 23 Vgl. z. B.: »Ich werde immer erst einsam, wenn jemand da ist« (Revolverherz, S. 17); vgl. auch u. a. ebd., S. 258; siehe ebenso Knastpralinen, S. 168–169; Eisnattern, S. 59, 140. Siehe auch River Clyde, S. 15: »Nähe ist eine Drohung. […] Nähe gehört abgeschafft.« 24 Vgl. z. B. Hotel Cartagena, S. 119–121; River Clyde, S. 59–63; River Clyde, S. 81–85, 97.

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das schwierige Liebesleben der Protagonistin eine deutlich größere Rolle als später. So hat sie zunächst eine unentschiedene On-off-Affäre mit ihrem 15 Jahre jüngeren Wohnungsnachbarn25, dann eine etwas entschiedenere Affäre mit einem Kollegen bei der Polizei, der sie aber heiraten und mit ihr eine Familie gründen will. An ihrer Verweigerung zerbricht die Beziehung, und sie kehrt zu ihrem Nachbarn zurück.26 Im ihrem zweiten Suhrkamp-Band – dem siebten Band der Reihe (Beton Rouge, 2017) –, kommt es zur endgültigen Trennung von diesem, danach bleibt Riley Single bis zum Ende des letzten Romans. Zwar gibt es mit Ivo Stepanovic27 vom LKA einen Mann, der sehr an ihr interessiert ist und dem sie ihrerseits nicht abgeneigt ist; das hält sie aber nicht davon ab, ohne Schuldgefühle Sex mit anderen zu haben.28 Von nun an spielt das Thema der Liebesbeziehungen bis zum Abschluss der Reihe eine deutlich untergeordnete Rolle. Ein weiterer Punkt, der mit dem Verlagswechsel zusammenhängt, ist die regionale Einbettung: Die ersten fünf Texte waren ausdrücklich als HamburgKrimis konzipiert.29 Die Stadt und besonders das Viertel Sankt Pauli – das Amüsier-, Rotlicht- und Szeneviertel rund um die Hamburger Reeperbahn30 – spielen eine sehr gewichtige Rolle. Mit dem Verlagswechsel weitet sich der Aktionskreis der Protagonistin über die Stadtgrenzen hinaus aus, und es entfällt die Romantisierung und Verklärung von Sankt Pauli, die vorher mitunter hart an Kitsch grenzte.31 Was Riley von den Protagonistinnen der sogenannten Frauenkrimis nach Frizzoni sowie von den männlichen Detektiven der hardboiled-Krimis eindeutig unterscheidet, ist ihr Beruf: Als Staatsanwältin steht sie auf Seiten der Staatsmacht und ist finanziell unabhängig. Zudem trägt sie nur in Ausnahmefällen eine 25 Vgl. Revolverherz, Knastpralinen, Eisnattern, Schwedenbitter, Bullenpeitsche, Blaue Nacht. 26 Vgl. Eisnattern, S. 206–207. 27 Fußball, insbesondere der Verein FC St. Pauli, spielt in mehreren der Romane eine Nebenrolle; mehrere Figuren sind nach Fußballern benannt wie z. B. Ivo Stepanovic (ab Blaue Nacht), Anne Stanislawski (ab Beton Rouge) oder der Einsatzleiter Magath (nur Hotel Cartagena, S. 144). 28 Vgl. z. B. Beton Rouge, S. 45–46; Mexikoring, S. 183; Hotel Cartagena, S. 17; River Clyde, S. 120. 29 Vgl. Fußnote 4: Die fünf Romane, die bei Droemer Knaur erschienen sind, tragen alle den Untertitel: Ein Hamburg-Krimi. 30 Die Reeperbahn war bis vor wenigen Jahren das Zentrum von Prostitution, Drogenhandel und Gangkriminalität in Hamburg; heute ist sie nur noch eine Touristenattraktion. 31 Vgl. z. B. Revolverherz, S. 53, angesichts des renovierungsbedürftigen Stadions am Millerntorplatz, Hamburg-St. Pauli: »Im Grunde ist es furchtbar, aber wir lieben es. Es ist so ehrlich.« Siehe auch ebd., S. 93: »[…] so sind die Leute in Sankt Pauli. Cool bis zum Anschlag und mit ganz viel Herz.« Vgl. ebd., S. 56–57; vgl. ebenso Knastpralinen, S. 26, 152–155; Schwedenbitter, S. 111–112, 147, 166–167. Die Romane, die bei Suhrkamp erscheinen, verzichten auf eine regionale Verortung, sie tragen lediglich den Untertitel Kriminalroman; auch die ersten Romane, die inzwischen (sprachlich überarbeitet) von Suhrkamp herausgegeben werden, sind nur als »Kriminalromane« betitelt.

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Waffe.32 In ihrer Position ist sie nicht unmittelbar in Polizeiarbeit und Ermittlungstätigkeit eingebunden; dennoch ist sie oftmals bei Vernehmungen dabei – aber nicht, weil das ihre Aufgabe ist, sondern weil die ermittelnden Kommissare sie gern dabei haben.33 Worin ihre Arbeit tatsächlich besteht, bleibt sehr vage.34 In Mexikoring, dem achten Band, erklärt sie lediglich, ihr Job sei es, den Ermittlern »juristisch die Straße freizuschießen«.35 Die Ermittlungen zu den Verbrechen bilden nicht den Schwerpunkt der Handlung. Spurenverfolgung, Aufnahme von Zeugenaussagen – das geschieht im Hintergrund. Im Grunde handelt es sich bei Buchholz’ Romanen nicht um Detektiv-, Polizei- oder Ermittlerkrimis, in denen die Lösung eines Falles das gesamte Geschehen bestimmt. Weitaus wichtiger als die Verfolgung von einzelnen Tätern ist die Erkundung der sozialen Räume und Milieus, in denen Verbrechen entstehen und die die Täter hervorbringen. Dabei handelt es sich z. B. um reine Jungeninternate, beschrieben als »empathiefreie Zone«36, die zur Brutstätte von Gewalt und karrierefördernden Seilschaften werden; oder es sind in sich hermetisch abgeschlossene kriminelle Clans, die einen Staat im Staate bilden;37 oder Versicherungs- und Immobiliengesellschaften, die für die Profitmaximierung wortwörtlich über Leichen gehen.38 Diese Milieus sind in der Regel reine Männerbünde.

Frauenkrimis? Feministische Krimis? In der Forschung wird nur selten eindeutig zwischen ›Frauenkrimis‹ und ›feministischen Krimis‹ unterschieden.39 Allerdings weist Anja Kemmerzell bereits 1996 darauf hin, dass nicht alle ›Frauenkrimis‹ einen feministischen Ansatz 32 Herzlichen Dank an Sonja Hartl für diesen Hinweis. 33 Vgl. z. B. Beton Rouge, S. 111–112; Mexikoring, S. 31. 34 Dass sie als Staatsanwältin bei Gerichtsprozessen fungiert, wird lediglich in Revolverherz und Knastpralinen erwähnt; es gibt jedoch keine größeren Szenen, die im Gericht spielen; von Prozessen berichtet die Protagonistin zusammenfassend und meist im Rückblick (vgl. Revolverherz, S. 74; Knastpralinen, S. 81, 145; siehe auch ebd., S. 201). In Blaue Nacht ist Riley Opferschutzbeauftragte im Dienste der Staatsanwaltschaft (vgl. Blaue Nacht, S. 15), agiert ab dem nächsten Band aber wieder als Staatsanwältin (vgl. Beton Rouge, S. 13–15). 35 Mexikoring, S. 129. 36 Beton Rouge, S. 137. 37 Vgl. Mexikoring. 38 Vgl. Schwedenbitter, River Clyde. 39 Vgl. z. B. Tielinen, Kirsimarja: Ein Blick von außen. Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalroman. Berlin: Weidler 2004, S. 41–68, hier S. 42. Siehe ebenso Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung. Exemplarische Untersuchung zum deutschen Frauenkrimi. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Ge-

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verfolgen40, ein Einwand, den Christine Lehmann in einem Beitrag 2010 untermauert und vertieft41, der jedoch nur selten in der Forschung aufgegriffen wird. Hinzu kommt, dass weder ›Frauenkrimi‹ noch ›feministischer Krimi‹ als Gattung(en) klar definiert sind.42 So stellt Faye Stewart zwar fest, dass ›Frauenkrimi‹ meist als »mystery fiction written by, for, and about women« kategorisiert wird43, schließt sich jedoch im Folgenden Nicola Barfoots Einwand an, dass es sich dabei um eine Definition handelt, »which is simple on the surface but in fact covers a complex of ideas about the significance of authorial gender, about content, and about audience and intention«.44 Etwas spezifischer wird es, wenn auf die feministischen Aspekte abgehoben wird. Maureen Reddy versteht Feminismus als »Weltanschauung […], die die Erfahrungen von Frauen in den Mittelpunkt stellt«;45 übertragen auf den Kriminalroman bedeutet dies, dass u. a. patriarchal geprägte Machtstrukturen und ihre Auswirkungen auf Frauen thematisiert werden.46 Insbesondere gehe es laut Stewart um »violence and injustices inflected by gender and sexuality, such as rape, domestic abuse, hate crimes and institutionalized sexism«.47

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sellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 205–219, bes. S. 205–206. Wie in Fußnote 20 bereits erwähnt, unterscheidet auch Frizzoni nicht zwischen ›Frauenkrimi‹ und feministischem Krimi; vgl. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 10–11, 29–32. Vgl. Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« Nr. 4 (1996), S. 5–6, hier S. 5. Vgl. Lehmann, Christine: Miss Marple ist schon lange tot. Ausstieg aus den Frauenformen. In: »Das Argument« Nr. 287 (2010), S. 325–339. Vgl. z. B. Klewe, Sabine: Gender und Genre. Geschlechtervariation und Gattungsinnovation in den Kriminalromanen von Val McDermid. Trier: WVT 2015, S. 54; vgl. auch Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007, S. 75. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014, S. 9. Vgl. Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin, S. 75. Vgl. auch Keitel, Evelyne: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika. Darmstadt: WBG 1998, S. 27–28. Reddy, Maureen: Detektivinnen. Frauen im modernen Kriminalroman. [Mühlheim]: Guthmann-Peterson 1990, S. 15. Vgl. Reddy, Maureen: Die feministische Gegentradition im Kriminalroman. Über Cross, Grafton, Paretsky und Wilson. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 444–460, hier bes. S. 449, 451. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi: Women’s Crime Writing in Germany. In: Hall, Katharina (ed.): Crime Fiction in Germany. Der Krimi. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100– 114, hier S. 107. Vgl. Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung, S. 205 (im feministischen Krimi gehe es um »das Aufzeigen frauenspezifischer Probleme« aus sozialkritischer Sicht). Vgl. auch Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum. Zur Interdependenz von Gender und Genre in deutschsprachigen Kriminalromanen von Auto-

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In den Kriminalromanen von Simone Buchholz steht jedoch Gewalt gegen Frauen nicht im Vordergrund. Stattdessen ist die Hinterfragung von patriarchalen Strukturen zentral. Wie oben dargelegt, geht es vor allem um die Erkundung von sozialen Räumen, die Gewalt und Verbrechen fördern. Damit nähern sich diese Kriminalromane der modifizierten Definition feministischer Kriminalromane, die Faye Stewart in ihrem Buch German Feminist Queer Crime Fiction vorgenommen hat: Stewart versteht unter dem feministischen Kriminalroman »a crime story that underscores and reflects on the femaleness of its writers, subjects, and audiences, but not to the exclusion of other gender identities«.48 Buchholz’ Protagonistin fungiert als autodiegetische Erzählerin als Beobachtungsinstanz, die männliches Verhalten in den Blick nimmt.49 Als verbrechens- und gewaltfördernde Strukturen werden dabei in erster Linie Männerbünde erkannt, die von Hypermaskulinität geprägt sind: Gnadenloser Konkurrenzdruck, skrupelloses Profitstreben, steile Hierarchien, in denen Macht mit brutaler Gewalt durchgesetzt wird, und eine kapitalistische Ausrichtung zeichnet sie aus.50 Buchholz thematisiert die Auswirkungen, die diese Strukturen haben. In den ersten Romanen steht dabei eher die Gesellschaft als Ganze im Mittelpunkt: emotional verwahrloste Jugendliche – Mädchen wie Jungen –, die bar jedes Mitgefühls sind51, Wirtschaftsunternehmen diesseits und jenseits der Legalität, die ohne Rücksicht ihre Ziele verfolgen52, eine korrupte Justiz, die in diese Machenschaften verwickelt ist.53 In den Suhrkamp-Romanen geht es stärker um die Auswirkungen toxischer Männlichkeit und patriarchaler Strukturen auf die Männer innerhalb dieser Geflechte. Natürlich werden auch die Auswirkungen auf Frauen dargelegt, die Misogynie dieser Männerbünde wird angesprochen und ins Bild gesetzt54 – aber sie bildet eher ein zusätzliches Thema, das gewissermaßen selbstverständlich mit diesen Strukturen einhergeht. Weitaus zentraler ist in den Romanen das, was

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rinnen. In: »Weimarer Beiträge« Nr. 46.4 (2000), S. 564–581, mit Blick auf die weibliche Körper- und Raumerfahrung. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 9. Allerdings unterscheidet auch Stewart nicht zwischen ›Frauenkrimi‹ und ›feministischem Krimi‹ (ebd., S. 6–7). Im Laufe der Buchreihe verändert sich der Blick. Vgl. insbes. Schwedenbitter, Beton Rouge, Mexikoring und River Clyde. Vgl. Eisnattern. Vgl. z. B. Schwedenbitter. Vgl. bes. Bullenpeitsche. Vgl. insbes. Mexikoring, S. 52–53, 56–57, 88, 111–112, 116, 123, 126. Siehe auch Bullenpeitsche, u. a. S. 189. In Knastpralinen steht Gewalt gegen Frauen im Mittelpunkt, doch ist diese eher pauschal als Folge patriarchaler Gesellschaftsstrukturen dargestellt und weniger durch bestimmte hypermaskuline Milieus bedingt.

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Hypermaskulinität mit Männern innerhalb von Männerbünden macht: Sie werden entweder Täter oder deren Opfer, moralisch verkommene Arschlöcher oder verzweifelte Verlierer.55 Diesen verbrecherischen Männerbünden steht die Polizei gegenüber, die in der Realität selbst ein Männerbund ist. Buchholz konzipiert sie in den Romanen ebenfalls als solchen: Polizistinnen gibt es nur sehr wenige in der festen Gruppe der Kripobeamten, mit denen die Romanprotagonistin zusammenarbeitet.56 Allen aktuellen Skandalen zum Trotz ist die Polizei in Buchholz’ Romanen äußerst positiv gezeichnet. Der Umgang der Polizist:innen untereinander und auch mit Riley ist von Warmherzigkeit, Respekt und Fürsorge geprägt.57 Es gibt keine Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Religion oder Geschlecht;58 es gibt kein Mansplaining, keine Übergriffe, keine Beleidigungen. Konkurrenz- und Hahnenkämpfe kommen zwar vor, können aber aufgelöst werden.59 Ein wichtiger Wert, der von der festen Ermittlergruppe der Romane hochgehalten wird, ist Gerechtigkeit, und wie häufiger in Kriminalromanen fallen Recht und Gerechtigkeit nicht immer zusammen. Den Polizisten und den wenigen Polizistinnen werden rebellische und in gewissem Maße antihierarchische Züge zugeschrieben60 – was nur bedingt in Einklang stehen kann mit der Polizei als rechtsstaatlicher Exekutive mit strikten Hierarchien. Vielleicht greift Buchholz deshalb wiederholt auf Elemente des Wildwestromans und des Westerns als Filmgenre zurück: Der Ermittlerkreis – in Hotel Cartagena (2019) bezeichnenderweise einmal »Revolverheldentruppe«61 genannt – gleicht einem verschworenen Trüppchen moralisch Aufrechter, das sich dem Verbrechen entgegenstemmt; Stiefel machen »Cowboygeräusche«62 auf Kopfsteinpflaster; in River Clyde trägt eine Figur einen »schweren Staubmantel mit ausladendem Revers«63. Auch im Titel des ersten Krimis, Revolverherz, klingt das Thema an.64 55 Vgl. insbes. Beton Rouge, Mexikoring, River Clyde. 56 Zwar gibt es bereits in Revolverherz eine Gerichtsmedizinerin, doch erst im sechsten Band, in Beton Rouge, wird eine Polizistin Mitglied der Ermittlergruppe im engeren Sinne. 57 Vgl. z. B. Revolverherz, S. 15–16; Eisnattern, S. 41; Blaue Nacht, S. 28–29; Mexikoring, S. 92, 187; Hotel Cartagena, S. 189; der ehemalige Chef der Ermittlergruppe wird als »Kümmerer in Chief« beschrieben, der sich um seine Mitarbeiter wie ein Freund oder Vater gekümmert habe (River Clyde, S. 87). 58 Vgl. bes. Beton Rouge, S. 37–39. Die feste Ermittlergruppe ist zudem mit Menschen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund besetzt, woraus keine Konflikte resultieren. 59 Vgl. z. B. Schwedenbitter, S. 144–151; Beton Rouge, S. 37–39; Hotel Cartagena, S. 129–131, 141, 157. 60 Vgl. u. a. Bullenpeitsche, S. 91–92, 192, 213–214; Schwedenbitter, S. 156; Blaue Nacht, S. 29; Beton Rouge, S. 226–227; Mexikoring, S. 148–149, 166; Hotel Cartagena, S. 159–160; River Clyde, S. 58, 77–78, 161–162. 61 Hotel Cartagena, S. 223. 62 Blaue Nacht, S. 101. 63 River Clyde, S. 84.

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Mit der Ermittlergruppe hat Buchholz so etwas wie einen geschützten Raum geschaffen, der utopische Elemente enthält – utopisch im Sinne des Konzeptes einer zukünftigen Gesellschaft ohne Diskriminierung. Dies ist besonders im letzten Roman der Reihe erkennbar, in River Clyde. In diesem Band tritt die Ermittlungsarbeit ganz in den Hintergrund, stattdessen ist die Verarbeitung emotionaler Traumata mittels körperlicher wie emotionaler Nähe und das Sprechen über Ängste zentral.65 Geschützte Räume sind zudem in den Romanen – zumindest für die Protagonistin – Kneipen: Dort erlebt Riley keinerlei Übergriffe, sondern nur Gespräche auf Augenhöhe.66 Außerdem fühlt sie sich nachts allein auf der Straße sicher.67 Auch dies ist eher utopisch im oben genannten Sinn. Die männlichen Mitglieder des festen Ermittlerkreises sind in Aussehen und Auftreten durchaus maskulin gezeichnet.68 Gleichzeitig wird in der Gestaltung der Figuren besonderes Gewicht auf ihre emotionale Verfasstheit gelegt. Dies geschieht u. a. durch Riley, die dadurch, dass sie die Ermittler begleitet, zur Beobachterin wird: Sie registriert die Gefühle, die unausgesprochen im Raum stehen. Durch ihren Blick auf Räume, Konstellationen und Begebenheiten wird der oftmals verschwiegene emotionale Gehalt von Situationen offenbar. Sie fungiert als Resonanzkörper, indem sie das Unausgesprochene registriert: Er atmet tief ein und wieder aus und kuckt aus dem Fenster. Aha. Gespräch beendet. Ich bilde mir ein, das halb versteinerte Herz in seiner Brust hören zu können. Wie es versucht, an die Wände zu klopfen, vielleicht ein Signal zu senden, es kommt aber nicht so richtig was raus. Er fängt wieder an zu tippen.69 Stepanovic legt ihm [einem trauernden Kollegen – K.R.] die Hand auf den Rücken. Es bringt nichts, die Traurigkeit quillt überall heraus.70

In Passagen, in denen eine heterodiegetische Erzählinstanz übernimmt, geschieht eine vergleichbare Emotionalisierung von narratorialer Seite. Der Himmel schimmert schon wieder in zärtlichem Grau, die Straßen sind nass […], alles ist aus Nebel gemacht. Die Leuchtreklamen der kleinen Shops versuchen, mit einer Art Märchenlicht dazwischenzugrätschen. Die Menschen umklammern ihre gerade 64 Vgl. zudem z. B. Knastpralinen, S. 16; Bullenpeitsche, S. 216; Hotel Cartagena, S. 16, 129, 199; River Clyde, S. 92. 65 Vgl. River Clyde, z. B. S. 54–57, 87–88, 144, 153–154, 161, 217–218; aber auch S. 13, 19, 147, 206, 207–210, 223. 66 Vgl. z. B. Blaue Nacht, S. 34–35, Beton Rouge, S. 45–46, River Clyde, S. 80–84, 93–98. 67 Vgl. Beton Rouge, S. 202. 68 Vgl. z. B. Bullenpeitsche, S. 82; Knastpralinen, S. 17; Blaue Nacht, S. 28, 223; Mexikoring, S. 97, 103, 108–110, 196–197, 201; Hotel Cartagena, S. 11–12; River Clyde, S. 100, 110, 132. 69 Blaue Nacht, S. 28. Vgl. auch Hotel Cartagena, S. 163. 70 Mexikoring, S. 90.

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geschlossenen Regenschirme, tragen sie wie Freunde, die man eben so mit durchschleppt, egal wie viele Breitseiten man selbst abgekriegt hat.71

Auf die gleiche Weise wird mit den Männerbünden auf der Verbrecherseite verfahren – die Aggressionen und die Verzweiflung, die dort herrschen, werden durch Rileys emotionalisierende Beobachtungen greifbar.72 Während der Blick auf die toxischen Männerbünde von Anfang an distanziert ist, verändert sich der Blick, den Riley auf die männlichen Polizisten wirft. Zunächst ist er eher warmherzig-unkritisch73, mit Fortschreiten der Reihe und besonders nach dem Verlagswechsel wird er distanziert-analysierender.74 Gleichzeitig verändert sich die Zeichnung der Hauptfigur. Anfangs war es Riley sehr wichtig, vehement alles von sich zu weisen, was als ›typisch weiblich‹ angesehen wird.75 Sie legt wenig Wert auf ihr Aussehen76, schminkt sich nicht77, und ist stolz, wenn sie von den Polizisten nicht als Frau, sondern als »Kollege«78 wahrgenommen wird. In Bezug auf ihre On-off-Beziehung sagt sie gar einmal, es sei »im Prinzip in Ordnung«79, wenn ihr junger Geliebter auch mit anderen Frauen Sex hätte, denn schließlich halte sie ihn emotional so kurz, dass er sich manches woanders holen müsse.80 Wenn sie hingegen mit anderen Männern ins Bett ginge, würde das die Beziehung infrage stellen.81 Erst nach und nach werden nicht nur auf der Handlungsebene patriarchal geprägte Gesellschaftsstrukturen in ihrer Toxizität gezeigt, sondern auch die 71 River Clyde, S. 47. Sogar Inneneinrichtungen können auf diese Weise emotional aufgeladen werden: »Da steht ein einigermaßen großer, stabiler Tresen, der an beiden Enden eine enge Kurve macht, als würden die Gäste, die daran sitzen, die Barleute, die dahinterstehen, umarmen« (River Clyde, S. 80). 72 Vgl. z. B. Schwedenbitter, S. 13; Beton Rouge, S. 190, 194; Mexikoring, S. 55, 197–199. 73 Vgl. z. B. »Jungs und ihre Maschinen« (Eisnattern, S. 116). Siehe auch ebd., S. 105; vgl. ebenso Schwedenbitter, S. 9; Bullenpeitsche, S. 160–161. 74 Vgl. z. B. »Er [ein Mitglied der Ermittlergruppe – K.R.] betet den Mercedes an, er kann kaum denken« (Mexikoring, S. 197); vgl. auch »Männer, die Vorträge halten« (Beton Rouge, S. 70). Siehe auch Bullenpeitsche, S. 190: »[…] kleine Spiele von großen Jungs. Sandkastenschwanzvergleiche. Größenwahn an der Carrerabahn.« Vgl. auch ebd., S. 193; siehe ebenso Blaue Nacht, S. 165, 175, 209; Beton Rouge, S. 38; Mexikoring, S. 75, 196, 201; Hotel Cartagena, S. 60–62. Ein wiederkehrendes Element ist der Seufzer »aah«, wenn ein Mann einen Schluck Bier getrunken hat; vgl. z. B. Blaue Nacht, S. 130; Beton Rouge, S. 146, 220; Mexikoring, S. 167. 75 Sie hat z. B. kein Interesse an Wohnlichkeit (vgl. z. B. Revolverherz, S. 34), ist Fußballfan (vgl. z. B. Revolverherz, S. 53–59, 283; Eisnattern, S. 48), interessiert sich fürs Angeln (Revolverherz, S. 113). An Heirat oder Kindern ist sie nicht interessiert; vgl. Schwedenbitter, S. 54, Eisnattern, S. 206; Beton Rouge, S. 98. Am Ende von Revolverherz stellt sie erstaunt fest, dass sie auch »Frauensachen« macht (S. 287). 76 Vgl. z. B. Revolverherz, S. 82, 286; Bullenpeitsche, S. 82; Mexikoring, S. 94, 135. 77 Vgl. z. B. Revolverherz, S. 108. 78 Vgl. Bullenpeitsche, S. 161. 79 Eisnattern, S. 105. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. ebd., S. 106.

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Hauptfigur aus solchen Denkmustern gelöst. Ein Beispiel dafür ist die oben bereits erwähnte freizügigere und beziehungsunabhängige Sexualität Rileys. Zudem wird Rileys Verweigerung hinsichtlich weiblich codierter Verhaltensweisen im Laufe der Romane weniger hervorgehoben.82 Spätestens im letzten Band der Reihe verfügt die Protagonistin über ein Selbstbild jenseits von konventionellen Rollenzuschreibungen.83 Diese Veränderung beruht nur im letzten Band auf einer Weiterentwicklung der Protagonistin als (fiktive) Person. In den Bänden zuvor hinterfragt diese kaum ihre Werte, ihre Haltung zu gesellschaftlichen Strukturen oder ihren Blick auf Männer (als Kollegen oder als Beziehungspartner). Ähnlich wie die klarer konturierte antikapitalistische Haltung, die sich im Laufe der Romane abzeichnet, profiliert sich der antipatriarchale Standpunkt auf der Ebene der impliziten Erzählinstanz: Die Erzählhaltung ändert sich, die der impliziten Erzählinstanz inhärenten Werte und Überzeugungen gewinnen an analytischer Schärfe.84 Dies wird im letzten Band der Krimireihe gut erkennbar. In den Bänden zuvor ist weiblich oder männlich codiertes Verhalten stärker kategorisiert: Es gibt bestimmte »Frauensachen«85, von denen sich Figuren durch Verweigerung bzw. durch Betonung nicht-weiblich codierten Verhaltens abgrenzen.86 Im letzten 82 Die Vehemenz und Frequenz, mit der Riley ihr ›unweibliches‹ Verhalten darlegt (vgl. z. B. die Belege in den Fußnoten 75–77; vgl. auch die Belege zur ungesunden Lebensweise in Fußnote 22), schwächt sich ab. 83 Anders als in den Romanen zuvor achtet die Protagonistin in River Clyde z. B. stärker auf ihre Gesundheit (z. B. S. 107–108, 73), sie registriert Bedürfnisse (S. 34, 52), beginnt, für sich selbst zu sorgen (z. B. S. 40); zudem hinterfragt sie erstmals das Verhalten ihrer männlichen Vorfahren, bes. das ihres Vaters (S. 209), und nimmt schließlich das Erbe ihrer Tante an (S. 214– 215), söhnt sich somit mit der weiblichen Linie ihrer Vorfahren aus, lässt sich davon jedoch nicht festlegen, sondern gibt es weiter (S. 225), bleibt also eigenständig. Als Konsequenz daraus lässt sie mehr Nähe zu und geht eine Liebesbeziehung ein (S. 223, 228). 84 Ein Grund dafür könnte unter anderem sein, dass Buchholz seit 2017 Teil des feministischen Netzwerks »Herland« ist. »Herland« (vgl. die Website des Netzwerkes: URL: https://herlandne ws.com / letzter Zugriff am 5. Februar 2023) – benannt nach dem gleichnamigen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman – ist ein Zusammenschluss deutschsprachiger feministischer Autorinnen, initiiert von Else Laudan, der Verlegerin des Argument Verlags und Herausgeberin der feministischen Ariadne-Krimis. Ziel des Netzwerkes ist es, mithilfe von Literatur einen Kulturwandel anzustoßen, der tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern möglich macht. Zum Netzwerk vgl. Reimers, Kirsten: Herland, a rede de autoras feministias de romance de detectives em língua alemã. In: Lurdes Sampaio, Maria des/Vilas-Boas, Gonçalo (ed.): Cherchez les Femmes: estudos de literatura policial. Porto: Instituto de Literatura Comparada Margarida Losa, Universität Porto 2020, S. 91–110. Siehe auch Reimers, Kirsten: Netzwerke von Autorinnen. Für Gleichberechtigung in der Krimibranche. URL: https://www.deutschlandfunk.de/netzwerke-von-autorin nen-fuer-gleichberechtigung-in-der-100.html / letzter Zugriff am 5. Februar 2023. 85 Revolverherz, S. 287. 86 Vgl. z. B. Blaue Nacht, S. 175: »Muschifrage«; siehe ebenso die forcierte ›Unweiblichkeit‹ der Protagonistin (vgl. die Textverweise in Fußnote 22 sowie in den Fußnoten 75–77).

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Roman der Reihe werden die Grenzen durchlässiger, und der Umgang mit Geschlechterrollen wird spielerischer: Klischees werden ganz selbstverständlich aufgebrochen87, historisch gewachsene Geschlechterkonventionen durch Perspektivwechsel bewusst gemacht.88

Feministische Krimis als politische Krimis Die dominante Erzählinstanz in den Romanen von Simone Buchholz ist somit zwar eine Frau, ›frauenspezifische Themen‹ stehen jedoch nicht im Mittelpunkt. Stattdessen geht es um Männer und Männerbünde. Buchholz’ Kriminalromane gehen damit über die Definition des feministischen Romans nach Stewart hinaus (s. o.): Sie rekurrieren gerade nicht »on the femaleness of its writers, subjects, and audiences«89, sondern nehmen die Auswirkungen patriarchaler Gesellschaftsstrukturen auf Männer wie Frauen in den Blick. Buchholz steht damit nicht allein: So konzentrieren sich zum Beispiel die Kriminalromane The long Drop von Denise Mina (2017) und The Inheritance of Solomon Farthing (2020) von Mary Paulson-Ellis ebenfalls auf die patriarchale Prägung männlicher Figuren. Das ist letztlich eine logische Weiterentwicklung einer feministischen Perspektive im Kriminalroman: die Erkundung patriarchaler Strukturen und ihrer Effekte auf alle Geschlechter; letztlich also eine genderanalytische Perspektive. Das klingt banal – und doch wird dies zumindest im deutschsprachigen Raum in der wissenschaftlichen Diskussion nur selten berücksichtigt.90 Es wäre somit angebracht, die wissenschaftliche Diskussion zu feministischen Krimis wieder zu entfachen, um neue, aktuelle Tendenzen zu erkunden und in die Auseinandersetzung aufzunehmen. Feminismus im Kriminalroman lässt sich nicht an bestimmten frauenspezifischen Themen oder speziellen Merkmalen festmachen; vielmehr ist es die antipatriarchale Haltung und wie diese sich im Roman niederschlägt, die einen Krimi zu einem feministischen Krimi macht. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu überlegen, ob der unscharfe Begriff des ›Frauenkrimis‹ tatsächlich hilfreich ist. Seit dem Auftreten des Begriffs in den

87 Vgl. River Clyde: Zwei männliche Ermittler trinken vollkommen unironisch Prosecco auf Eis und schwärmen gefühlvoll von ihrer Kollegin (S. 111–116); vgl. auch den weinenden Ermittler ebd., S. 223. 88 Vgl. ebd., S. 104–105. 89 Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 9. 90 So nehmen beispielsweise weder Frizzoni noch Lehmann, Pailer, Perrier oder Tielinen die Auswirkungen des Patriarchats auf Männerfiguren als Thema feministischer Kriminalromane in den Blick.

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späten 1980er Jahren ist er als unproduktiv bzw. diskriminierend umstritten.91 Beispielsweise lehnt Gaby Pailer ihn ab mit der Begründung, »there is no such thing as ›women’s crime fiction‹ in the sense that female authors do anything specifically different from males«.92 Nach der Jahrtausendwende beginnt der Begriff aus dem öffentlichen Diskurs zu verschwinden93, in Buchhandlungen werden Kriminalromane von Frauen längst einfach als ›Kriminalromane‹ geführt, nicht mehr als ›Sonderfall des Kriminalromans‹.94 Lediglich im Wissenschaftsdiskurs wird der Begriff weiterhin benutzt, wenn auch – wie oben angesprochen – ohne trennscharfe Definition. Im Vergleich dazu ist der feministische Kriminalroman in seiner antipatriarchalen Haltung klarer zu fassen. Da zudem die Frage zu stellen ist, ob antipatriarchale Kriminalromane zwingend nur von Autorinnen verfasst werden können, ist eine Ablösung der Gattung des feministischen Krimis von dem vagen Konzept eines ›Frauenkrimis‹ geboten.95 Der feministische Krimi ist somit mit seiner antipatriarchalen Ausrichtung eine Untergattung des politischen Kriminalromans.96

Literatur Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007. Buchholz, Simone: Revolverherz. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2008. Buchholz, Simone: Knastpralinen. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2010. Buchholz, Simone: Schwedenbitter. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2011. Buchholz, Simone: Eisnattern. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2012. Buchholz, Simone: Bullenpeitsche. Ein Hamburg-Krimi. München: Droemer Knaur 2013. Buchholz, Simone: Blaue Nacht. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2016. Buchholz, Simone: Beton Rouge. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2017. 91 Zu den unterschiedlichen Positionen in der Diskussion um den Begriff vgl. z. B. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 49–52; siehe auch Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/ polar féminin, S. 75; Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum, S. 564. 92 Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122, hier S. 107. 93 Vgl. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 52. 94 Vgl. auch Pailer, Gaby: Female Empowerment, S. 107–108. 95 Vgl. hingegen Kniesche, der den feministischen Krimi als Untergattung des Frauenkrimis versteht (Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman, S. 89). 96 Der politische Kriminalroman ist zu verstehen als inhaltlich bestimmte Untergattung, die als Teil der »politische[n] Literatur, die politische Ideen, Themen oder Ereignisse aufgreift und sich in kritischer oder affirmativer Intention als ein Feld für aktuelle politische Auseinandersetzungen versteht« (Huber, Martin: Politische Literatur. In: Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 597–598, hier S. 597).

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Buchholz, Simone: Mexikoring. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2018. Buchholz, Simone: Hotel Cartagena. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2019. Buchholz, Simone: River Clyde. Kriminalroman. Berlin: Suhrkamp 2021. Frizzoni, Brigitte: MordsFrauen. Detektivinnen und Täterinnen im »Frauenkrimi« der 80er und 90er Jahre. In: »Schweizerisches Archiv für Volkskunde« 95 (1999), S. 87–112. Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009. Huber, Martin: Politische Literatur. In: Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 597–598. Keitel, Evelyne: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika. Darmstadt: WBG 1998. Kemmerzell, Anja: Was ist ein Frauenkrimi? In: »Ariadne Forum« Nr. 4 (1996), S. 5–6. Klewe, Sabine: Gender und Genre. Geschlechtervariation und Gattungsinnovation in den Kriminalromanen von Val McDermid. Trier: WVT 2015. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015. Lehmann, Christine: Miss Marple ist schon lange tot. Ausstieg aus den Frauenformen. In: »Das Argument« Nr. 287 (2010), S. 325–339. Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122. Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum. Zur Interdependenz von Gender und Genre in deutschsprachigen Kriminalromanen von Autorinnen. In: »Weimarer Beiträge« Nr. 46.4 (2000), S. 564–581. Perrier, Petra: Verbrechen als Spiegel männlicher Bedrohung. Exemplarische Untersuchung zum deutschen Frauenkrimi. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 205–219. Reddy, Maureen: Detektivinnen. Frauen im modernen Kriminalroman. [Mühlheim]: Guthmann-Peterson 1990. Reddy, Maureen: Die feministische Gegentradition im Kriminalroman. Über Cross, Grafton, Paretsky und Wilson. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 444–460. Reimers, Kirsten: Herland, a rede de autoras feministias de romance de detectives em língua alemã. In: Lurdes Sampaio, Maria des/Vilas-Boas, Gonçalo (ed.): Cherchez les Femmes: estudos de literatura policial. Porto: Instituto de Literatura Comparada Margarida Losa, Universität Porto 2020, S. 91–110. Reimers, Kirsten: Simone Buchholz. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 262–265. Stewart, Faye: Der Frauenkrimi: Women’s Crime Writing in Germany. In: Hall, Katharina (ed.): Crime Fiction in Germany. Der Krimi. Cardiff: University of Wales Press 2016, S. 100–114. Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson, North Carolina: McFarland & Co. 2014. Tielinen, Kirsimarja: Ein Blick von außen. Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalroman. Berlin: Weidler 2004, S. 41–68. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur [1970]. Berlin: Wagenbach 2018.

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Internetquellen Reimers, Kirsten: Netzwerke von Autorinnen. Für Gleichberechtigung in der Krimibranche. URL: https://www.deutschlandfunk.de/netzwerke-von-autorinnen-fuer-gleichberechti gung-in-der-100.html / letzter Zugriff am 5. Februar 2023. Schumacher, Katrin: Feministischer Hamburg Noir. URL: https://www.deutschlandfunk.de /simone-buchholz-mexikoring-feministischer-hamburg-noir-100.html / letzter Zugriff am 6. Januar 2023. [Krimis machen 3]. URL: http://culturmag.de/crimemag/kongress-zur-kriminalliteraturkrimis-machen-3/101134 / letzter Zugriff am 20. April 2023. [Krimis machen 4]. URL: http://www.krimis-machen.de/pp/starthere.html / letzter Zugriff am 20. April 2023.

Genrehybride(n)

Lukas Müller (Marburg)

Polizei und Weiblichkeit. Erkundungen eines Paradigmas am Beispiel der Elfriede-Schuhmann-Krimis von Lydia Tews

Einführung Als Jochen Schmidt 2009 seine lang erwartete Neuauflage von Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans vorlegte, nahm sich das Lob, abgesehen von einigen Laienkritiken in euphorischer ›DER SCHMIDT ist wieder da!‹-Manier, eher verhalten aus. Bei allem Respekt für den immensen Lese- und Kompilationsaufwand des Autors – das Buch sei »Schnee von gestern«, »[ge]liftet und modelliert, dass es in eine neue Zeit passt, die seit seinem ursprünglichen Erscheinen [1989] angebrochen ist«, resümiert Ulrich Noller für das CULTurMAG.1 Gleichwohl bildet sich dieses ›Lifting‹ nicht allein im quantitativen Zuwachs von 700 auf 1100 Seiten ab. Legt man beispielsweise den ursprünglichen Abschnitt zum deutschsprachigen Krimi neben seine Überarbeitung, wird darin nicht wenigen Vertreter:innen des Neuen deutschen Kriminalromans der 1970er und 80er Jahre, darunter Pionierfiguren wie Thomas Andresen, Paul Henricks, Stefan Murr oder Helga Riedel, kein Ort mehr zugestanden. Auch eine Autorin von ›Frauenkrimis‹, die in den frühen 1980er Jahren eine der ersten weiblichen Polizeiermittlerinnen in den deutschen Krimi eingeführt hatte, fiel Schmidts nachgeholten Tilgungen aus dem Genre-Gedächtnis zum Opfer: Lydia Tews mit ihrer Kommissarin Elfriede Schuhmann. Wer heute nach (mehr oder minder) aktuellen Informationen über Tews und ihre Bücher sucht, erhält sie ausschließlich online vom Lexikon der deutschen Krimi-Autoren. Dessen knapp gehaltener Artikel (Stand 2010) würdigt ihre »menschlich sympathische und gesellschaftlich nicht unkritische Ermittlerin« als »eine wirkliche Bereicherung des deutschen Kriminalromans«.2 Obschon die hiesige Krimilandschaft jener Zeit mutmaßlich viele Aspekte aufwies, die zu 1 Noller, Ulrich: Schnee von gestern. URL: http://culturmag.de/rubriken/buecher/jochen-schmid t-gangster-opfer-detektive/1698 / letzter Zugriff am 18. November 2022. 2 Karr, H. P. [= Reinhard Jahn]: Tews, Lydia. URL: http://www.krimilexikon.de/tews.htm / letzter Zugriff am 16. November 2022.

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›bereichern‹ gewesen wären, stellt dieses Urteil wohl auf einen bestimmten Umgang mit gender innerhalb des Genres ab: Bis 1982 der erste SchuhmannBand in der Krimireihe von Droemer Knaur erschien, war die literarische Polizistin deutscher Provenienz eine ›One-Woman-Show‹, bestritten von Richard Heys Kommissarin Katharina Ledermacher.3 Dreimal, von 1973 bis 1980, ermittelte die »Ledermacherin«, wie ihre männlichen Kollegen sie von Beginn an rufen, zwischen Rockern und Rentnern, Baubetrug und Abtreibungsdeals, Berlin und Ligurien (und danach noch einmal in der Erzählung Kelsterbachs Lieblinge sowie dem posthum von Uwe Friesel vollendeten Roman Goldaugenmusik).4 Aufgrund ihrer wegbereitenden Leistung und ihrer literarischen Qualität gelten diese von einem Mann verfassten ›Frauenkrimis‹ inzwischen als kanonisiert, behaupten mithin ihren Platz in Monografien, Einführungsbänden und Überblicksartikeln.5 Die Schuhmann-Serie von Tews, in der immerhin zum ersten Mal – was den deutschen Polizeiroman anbelangt – auch das auktoriale Kriterium des Begriffs ›Frauenkrimi‹ erfüllt wird, blieb in der Forschung dagegen dem Bannkreis der Berliner Kollegin unterstellt und wurde entweder als inferiores Vergleichsobjekt6 oder als ›Füllmaterial‹7 genutzt. Überdies entsteht der 3 Mit dieser Setzung beschränke ich mich auf den (west-)deutschen Kriminalroman und vernachlässige damit die Zeit vor 1982: die Polizeikommissarin des BRD-Fernsehkrimis (z. B. Marianne Buchmüller im Tatort ab 1978) und als Nebenfigur im BRD-Kriminalroman (z. B. Kriminalassistentin Kreibich in Irene Rodrians Der Tod hat Hitzefrei, 1976) sowie die Polizeikommissarin des DDR-Kriminalromans (z. B. Carla Wall in Horst Bastians Die Brut der schönen Seele, 1976) und des DDR-Fernsehkrimis (z. B. Vera Arndt im Polizeiruf 110 ab 1971); ebenfalls unberücksichtigt bleiben müssen die Übersetzungen früher US-amerikanischer ›Frauenkrimis‹ mit weiblicher Polizeiermittlerin (z. B. Dorothy Uhnaks Christie Opara, erstmals in The bait, 1968; dt. Mädchenmord mit Voranmeldung, 1968, oder Lilian O’Donnells Nora Mulcahaney, erstmals in The phone calls, 1972; dt. Die lockende Stimme, 1974). 4 Zu nennen sind der Vollständigkeit halber auch die ab 2017 erscheinenden LedermacherKrimis von Bernd Teuber (»nach Motiven von Richard Hey«). 5 Vgl. Tantow-Jung, Karin: »Wachhund und Narr«. Gesellschaftskritik im Kriminalroman der Gegenwart am Beispiel der Werke Richard Heys. St. Ingbert: Röhrig 1997; Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2009, S. 139–140; Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Hillesheim: kbv 2009, S. 945–949; Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349, zu Hey S. 330–331; Kniesche, Thomas W.: The »Soziokrimi« or »Neuer Deutscher Kriminalroman«. In: Kniesche, Thomas W. (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 63–80, zu Hey S. 71–72. 6 Laut F. Michael Kümmel: Beruhigung und Irritation. Gedanken zur Ideologie und Ideologiekritik im neuen deutschen Kriminalroman. In: Ermert, Karl/Gast, Wolfgang (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 33–49 bleibt Elfriede Schuhmann, was die Darstellung des Privatlebens der Kommissarin betrifft, »zu konventionell, zu gattungsverhaftet« verglichen mit dem »radikalsten Versuch« von Richard Hey (S. 39), und Jochen Schmidt befindet im 1989 noch vorhandenen Abschnitt über Tews: »bis Hey jedenfalls

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Eindruck, dass für das Sekundärschrifttum Tews’ poetologische Selbstauskünfte der 1980er Jahre reizvoller erschienen als ihr Romanwerk.8 Mit der nachstehenden Relektüre von Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! (1982), Leichen brauchen kein Make-up (1983) und Wer nicht träumt, ist tot (1987) möchte ich, analytisch gestützt auf die Theoriearbeiten Moritz Baßlers, die drei Romane mit Hauptkommissarin Elfriede Schuhmann als frühe Verhandlungsorte des Kulturparadigmas ›Polizei und Weiblichkeit‹ exponieren. Erkundet wird dieses Paradigma zunächst entlang der genderbasierten Aggressionen und Autoritätsgefechte, denen die Ermittlerin im »männlich markierten Handlungsraum«9 der Polizei ausgesetzt ist, sodann entlang der Teamarbeit von Schuhmann und ihrem Partner Helmut Berger, bei der die »Funktionalisierung des weiblichen Körpers«10 mit offenkundigem Schwerpunkt auf das Sexualobjekt Frau fortgesetzt wird, und schließlich entlang der Befunde zur instabilen Fokalisierung der Romane, die, obwohl sie überwiegend intern fokalisiert, also auf Frau Schumanns Wahrnehmung ausgerichtet sind, besonders in Tews’ Krimidebüt mehrfach in ein männliches Bewusstsein hinübergleiten und Leser:innen dessen hegemonialen Blick auf die weibliche Kommissarin vermitteln.

›Polizei und Weiblichkeit‹ als kulturelles Paradigma Im Lichte einer kulturpoetisch-strukturalistisch orientierten Literaturwissenschaft besteht das Angebot, aus jedem Textelement »eine Äquivalenzstruktur im Archiv abzuleiten, d. h. im Korpus der Texte, die man auf vergleichbare Stellen hin durchsucht«.11 Ein Archiv umfasst in diesem Verständnis »die Summe aller Texte einer Kultur, die einer Untersuchung zur Verfügung stehen« und die

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ist ein weiter Weg (sic!)« (Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Frankfurt (Main): Ullstein 1989, S. 616). Vgl. Tantow-Jung, Karin: »Wachhund und Narr«, S. 50–51, 250–251. Vgl. Tews, Lydia: Was steckt hinter einem Verbrechen? In: Ermert, Karl/Gast, Wolfgang (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 101–102; Tews, Lydia: Frauen als Krimi-Autorinnen. In: »die horen« Nr. 144.4 (1986), S. 100–102, beides zitiert bei Tantow-Jung, Karin: »Wachhund und Narr« und Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive (Ausgabe 1989). Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum. Zur Interdependenz von Gender und Genre im deutschsprachigen Kriminalroman von Autorinnen. In: »Weimarer Beiträge« 46.4 (2000), S. 564–581, hier S. 568. Ebd. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion des Archivs. In: Dallinger, Petra-Maria/Hofer, Georg (Hg.): Logiken der Sammlung. Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 27–37, hier S. 34.

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»einander gleich- und nebengeordnet zugänglich«12 sind. Zu den Grundlagen kulturwissenschaftlicher Praxis gehört es, »[i]nnerhalb dieses Korpus […], sozusagen per Suchbefehl, Stellen [zu markieren], die untereinander äquivalent sind.«13 Als Ergebnis liegt eine »intertextuelle Äquivalenzstruktur«14 vor, oder: ein kulturelles Paradigma. Um mit diesem Theorieangebot zu arbeiten, muss für das hier formulierte Interessengebiet – der Verbindung des Textelements ›Polizei‹ mit dem Textelement ›Weiblichkeit‹ – notwendigerweise, zumindest virtuell, von zwei diskreten Suchbefehlen ausgegangen werden. Der erste Suchbefehl würde alle Stellen zur ›Polizei‹ und der zweite alle Stellen zur ›Weiblichkeit‹ markieren. Je nachdem, in welchem Umfang sich die Recherche bewegen soll (und kann), sind die Suchbefehle in ein bald größeres, bald kleineres Teilarchiv zu entsenden – beispielsweise in alle Beiträge zum Neuen deutschen Kriminalroman der BRD, in den DDR-Krimi, intermedial in den Fernseh- und Buchkrimi oder – soll es überschaubar bleiben – in die drei Schuhmann-Krimis von Lydia Tews. Nach Abschluss dieser Tätigkeit würden zwei Sammlungen von untereinander äquivalenten Fundstellen vorliegen, die das Etikett eines ›polizeilichen‹ und eines ›Weiblichkeits‹-Paradigmas erhalten. Allein, angesichts einer Fülle von Textstellen, die vielfach wohl nicht die geringste thematische oder diskursive Gemeinsamkeit teilen würden, wäre damit wenig gewonnen. Interessant werden dürften erst diejenigen »Okkurrenzen«15, in denen Elemente beider Paradigmen intratextuell, d. h. in einem syntagmatischen Bezug auftreten, in anderen Worten: sobald diese Elemente als »kookkurrent«16 begriffen werden. Am Beispiel von Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau!17 lassen sich zwei Möglichkeiten aufzeigen, wie solche Syntagmen oder Kookkurrenzen zu denken sind. Die erste Möglichkeit ist ein isolierter Satz wie der eben genannte Buchtitel: Das mit dem Wertadjektiv »schlecht« erweiterte maskuline Prädikatsnomen »Bulle« aus dem Paradigma ›Polizei‹ – es handelt sich um dessen erste Okkurrenz – erscheint darin in unmittelbarer syntaktischer Nähe zur ebenfalls ersten Okkurrenz des Paradigmas ›Weiblichkeit‹: der ironisch-veraltenden Anrede »gnädige Frau«, mutmaßlich formuliert von einem Mann. Bereits aus dieser 12 Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Francke 2005, S. 196. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 252. 17 Zitate aus Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! werden im Folgenden unter der Sigle B und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen; ferner gilt für Leichen brauchen kein Make-up die Sigle L, für Wer nicht träumt, ist tot die Sigle W.

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frühen paratextuellen Kookkurrenz können, noch bevor der Haupttext beginnt, erste Schlüsse zu Themen, Problemen und Anliegen des Romans gezogen werden – hier insbesondere zu der (in den 1980er Jahren noch mehr als heute gegebenen) ›Männerdomäne Polizei‹. Die zweite Möglichkeit übersteigt das Syntagma des Einzelsatzes und fasst ganze Textabschnitte als syntagmatische Einheiten zusammen. Auch dazu ein Beispiel – im gleichen Roman, im gleichen Tenor: In Kapitel zwei wird aus der Perspektive eines Mannes eine Frau auf »etwa achtunddreißig Jahre« geschätzt und deren Kleidung, eine »beigefarbene, sportliche Bluse«, beschrieben (B, 8). Während zunächst unklar ist, in welchem Kontext die Begegnung stattfindet, wird sukzessive, in einem metonymischen Verfahren, die Institution Polizei, genauer gesagt die Situation einer Vernehmung auf der Polizeiwache entworfen, worin jenem namenlosen weiblichen Körper die Rolle der Vernehmenden zukommt: der »massige Schreibtisch« lässt zunächst eine Art Büro erahnen, die »Fragen« und »Personalien«, die »sie« (fest-)stellt, deuten auf eine behördliche Angelegenheit hin, »Verdachtsmomente« bestätigen schließlich die polizeiliche Untersuchung (B, 9). Wenig später wird die Anonyma als eine gewisse »Elfriede Schuhmann« zu erkennen gegeben. Ihr Dienstgrad als »Hauptkommissarin«, ihre Funktion als »Leiterin der Mordkommission aus Stuttgart« sowie der Status des »Verhör[s]«, dem sich der wahrnehmende, dabei unverzüglich über Physis und Sprache der Frau reflektierende »Hauptverdächtige«18 unterziehen muss (B, 9), werden nachträglich offengelegt. Dass zwischen den gesammelten Kookkurrenzen ein »Vergleichszusammenhang«19 existiert – dass sich also im vorliegenden Fall alle Fundstellen des syntagmatischen Zusammenhangs ›Polizei und Weiblichkeit‹ genauso äquivalent zueinander verhalten wie die Fundstellen zu ›Polizei‹ und ›Weiblichkeit‹ –, lässt für Moritz Baßler nur den Schluss zu, dass »jede Kookkurrenz […] auch zugleich Okkurrenz eines Paradigmas [ist].«20 Für kulturwissenschaftlich Forschende ist es mithin von besonderem Reiz, »paradigmatische Syntagmen«21 dieser Art zu identifizieren und rekonstruieren, bewahren sie doch in nuce Wissen und Informationen über die kulturellen Dispositionen eines Textes.

18 »Die helle Stimme der Frau war bei diesem Satz noch um einige Töne höher geworden und paßte nun überhaupt nicht mehr zu der geschraubten Ausdrucksweise. Groß empfand, daß Sprache und Stimme der Frau in starkem Kontrast zueinander standen. In gleichem Kontrast standen auch die zierliche, schlanke, beinahe kindliche Figur der Frau und ihre berufliche Tätigkeit.« (B, 9; Hervorhebung – L.M.) Der männlich fokalisierte Blick auf und in Wahrnehmungskonkurrenz zur weiblichen Ermittlerin wird im letzten Abschnitt behandelt. 19 Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 173. 20 Ebd., S. 252. 21 Ebd.

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Als Frau bei der Kripo: Genderbasierte Autoritäts- und Kompetenzfragen Als exemplarisch für einen emanzipierten Blick auf den »von Männern beherrschten Polizeiapparat«22 bemüht die deutsche Sekundärliteratur gern die Bella-Block-Serie von Doris Gercke, die 1988 mit Weinschröter, du mußt hängen startete.23 Indessen werden schon bei Tews, deren letzter Schuhmann-Band ein Jahr zuvor erschien, verschiedene Polizeidefekte aus weiblicher Sicht problematisiert: aggressive Misogynie vonseiten männlicher Kollegen und Vorgesetzter, Autoritäts- und Kompetenzkämpfe, endloses Sich-durchsetzen- und Sichbeweisen-Müssen als Kommissarin. Der folgende Abschnitt versammelt Textstellen zu dieser allgemein polizeikritischen Facette des Paradigmas. Leichen brauchen kein Make-up referiert zunächst Elfriede Schuhmanns Ansichten über die problematischen inneren Verhältnisse der Polizei. Nachdem das brutale Vorgehen eines Kollegen im Rahmen einer Razzia sie zu einer öffentlichen Rüge veranlasst hatte, denkt sie umgehend an die Folgen ihres Verhaltens. Vom aktuellen Fall gerät sie dabei schnell in eine Kritik am polizeilichen Esprit de Corps, durch den unter anderem die Verdunkelung eigener Straftaten begünstigt wird: Das war etwas, was mit Hochverrat auf eine Stufe zu stellen war. Fehlverhalten gab es bei der Polizei nicht. Da hielten sie alle zusammen, wie Pech und Schwefel. Was alles unter den Teppich gekehrt wurde … […]. Die Methoden, mit denen die Polizei arbeitete, waren sicherlich hart an der Grenze dessen, weswegen eine Polizei überhaupt da war. Nämlich zum Schutz der Bevölkerung vor Gewalt. (L, 109)

Zu diesen für die zeitgenössische Polizei gewiss nicht unrealistischen Einschätzungen gehört weiterhin, dass eine Mordermittlerin, noch dazu in leitender Funktion, behördenintern als höchst apartes Wesen gehandelt wird. Um sich mit eigenen Augen von der Existenz dieses Kuriosums zu überzeugen, benutzen einige neugierige Kollegen sogar Vorwände: Manche kamen auch sicher nur, um sich die Kommissarin anzusehen, die man in Stuttgart beschäftigte. Nicht, daß ihre Kollegen etwas gegen Frauen gehabt hätte, nein, so war es nicht. Sie waren durchaus dafür, daß Frauen bei der Polizei beschäftigt waren. Am besten jedoch seien sie aufgehoben, so meinten sie, wenn sie in der hübschen blauen Uniform durch die Straßen wanderten und Strafzettel hinter die Windschutzscheiben der Parksünder klemmten. (L, 98–99) 22 Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015, S. 92. 23 Vgl. ebd.; Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum; Achtermeier, Dominik: Polizei. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 243–248, hier S. 246–247.

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Von den männlichen Herabwürdigungen, die Frauen keine polizeiliche Karriere abseits des Politessentums zugestehen, nimmt Schuhmann indes keinen Schaden: Sie »kümmerte sich wenig um solche Meinungen«, selbst wenn sie auf ihre empfindliche Physis anspielen, die nur »einmal auf einen richtig harten Burschen« treffen müsse (L, 99).24 In Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! werden die genderbasierten Befindlichkeiten und Vorurteile innerhalb des »hierarchisch organisiert[en] und frauenverachtend[en]«25 Männerbundes Polizei am Beispiel eines Kompetenzgerangels zwischen Elfriede Schuhmann und Kommissar Birkner aufgezeigt. Der Fund einer männlichen Leiche hat die Stuttgarter Ermittlerin ins fiktive schwäbische Klarenberg26 geholt, wo sie, wie oben erwähnt, zu Beginn des zweiten Kapitels den Verdächtigen Hans-Peter Groß auf der Polizeidienststelle vernimmt. Ebenfalls im Vernehmungszimmer befindet sich der lokale Polizeichef Hans Birkner. Sobald die Kommissarin beim Verlesen eines Protokolls über die Auffindesituation des Opfers pausiert, reißt Birkner das Wort an sich: »Der Groß war halt wieder mal betrunken […]. Erst vor zwei Jahren haben wir dir deinen Führerschein abgenommen. Jetzt hat er ihn wieder und …« (B, 10). Diese Störung durch einen subalternen Beamten wird von seiner Vorgesetzten unverzüglich gerügt: »Mit einem Ruck wandte sich Hauptkommissarin Schuhmann um. Ihre Kinderstimme bekam plötzlich einen schneidenden Ton: ›Kommissar Birkner, ich leite hier die Ermittlungen!‹«, woraufhin dieser körperliche Zeichen der Unterordnung (»senkte den Blick«), aber auch der Wut (»biß die Zähne zusammen«) erkennen lässt (B, 10). Als der in seiner Autorität als Mann infrage gestellte Kommissar die Vernehmung ein weiteres Mal unterbricht, wird er von der leitenden Ermittlerin mit den Worten »Kommissar Birkner! Ich verbitte mir jede weitere Einmischung!« (B, 11) endgültig zum Schweigen gebracht. Die Entscheidung im Autoritätsstreit Schuhmann-Birkner fällt in der zweiten Hälfte des Romans. Während Birkner, der unterdessen am Stammtisch der örtlichen Honoratioren mit allerlei verbalen Entgleisungen gegen die Kommissarin aufwarten durfte (»Schnepfe«, »dürre[ ] Ziege«, »nur aus Haut und Knochen«, »Niete«; B, 67), eine fragwürdige Polizeiaktion in einer Klarenberger Kommune abrollen lässt, tritt Schuhmann, aus Ermittlungsgründen ebenfalls vor 24 Dass ihre kühle Gleichmut ambivalent zu bewerten ist und sie keineswegs zur unverwundbaren Draufgängerin macht, zeigt Schumanns kurzzeitige Geiselnahme in Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau!, die nur durch männliche Hilfe beendet werden kann und die Kommissarin »klein und zerbrechlich« zurücklässt (vgl. B, 116–118). 25 Pailer, Gaby: ›Weibliche‹ Körper im ›männlichen‹ Raum, S. 568. 26 Tantow-Jung, die von »Ährenfurth« (einem Schauplatz mehrerer Romane von Michael Molsner) spricht, aber Klarenberg meint, vermutet dahinter die Stadt Schwäbisch-Gmünd, wo Lydia Tews eine Zeit lang bei einer alternativen Stadtzeitung gearbeitet hat (vgl. TantowJung, Karin: »Wachhund und Narr«, S. 50). In Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! interessiert sich Schuhmann ebenfalls für die kleinstädtische Alternativkultur.

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Ort, dem Initiator souverän entgegen und verordnet, den Einsatz unverzüglich zu stoppen. Birkner reagiert »[f]assungslos«, »[e]rst ungläubig, dann immer wütender« auf seine Kollegin starrend (B, 106). Seine Frage, was sie am Einsatzort zu suchen habe, quittiert die Kommissarin lediglich mit ihrer Weisungsbefugnis – als Leiterin der Ermittlungen müsse sie sich zu nichts einlassen – und wiederholt ihre Forderung, diesmal in harscherem Tonfall: »Los, packen Sie ihren Haufen zusammen und verschwinden Sie« (B, 106). Als Birkner diese Aufforderung ignoriert, gelingt es Schuhmann, ihre dienstliche Autorität in einem ›Duell der strengen Blicke‹ durchzusetzen: »[Sie] stand schweigend vor ihm und starrte ihm unverwandt in die Augen. Lange hielt Birkner diesem Blick nicht stand. Um sich vor seinen Männern nicht vollständig zu blamieren, rief er sie nun zum Rückzug« (B, 106).27 Den dienstinternen Teil dieses Konflikts um weibliche Autorität und Kompetenz vermag Elfriede Schuhmann – das wird aus den Beispielen ersichtlich – mithilfe ihrer professionell-gelassenen Haltung zu lösen. Aber auch im Kontakt mit dem polizeilichen Publikum, bei auswärtigen Befragungen von Zeugen und Verdächtigen, sieht sie sich regelmäßig maskulin geprägten Vorstellungen und -urteilen von Polizeiarbeit ausgeliefert. Nicht mehr als ein Stichwort dazu ist dem dritten Roman Wer nicht träumt, ist tot zu entnehmen, worin ein Herr Kilian, Zeuge des handlungsauslösenden Mordes, provokant nachfragt, ob denn bei Schuhmann »[o]hne männliche Unterstützung« nichts laufe (W, 36). Zu einer ähnlichen Begegnung kommt es in Leichen brauchen kein Make-up: Während Schuhmann und ihr Partner Berger einen älteren Kaufmann befragen, nimmt der lediglich den männlichen Teil des Teams wahr: »Der Mann sprach nur mit [Berger] und hielt Elfriede Schuhmann wohl für seine Sekretärin, denn er hatte sie bisher nur mit einem Blick gestreift« (L, 35). Noch deutlicher äußert sich die frauenverachtende Haltung des Befragten, als die Kommissarin es wagt, selbst eine Frage an ihn zu richten: »Verwundert drehte er sich um und schaute etwas verdutzt die Kommissarin an, als wäre es ihm unverständlich, daß eine Sekretärin sich in dieses Männergespräch mischen durfte. Dann drehte er sich zu Berger und schaute ihn fragend an. Vielleicht wollte er sich erkundigen, ob er überhaupt antworten solle.« (L, 37)28 27 Die Schilderung des von Birkner geleiteten Polizeieinsatzes – einer exklusiv männlichen Operation – (B, 104–106) ist überdies satirisch angelegt: Vom unüberlegten Vorgehen eines Kollegen irritiert, gerät der einen Countdown für die mutmaßlichen ›Terroristen‹ zählende Kommissar durcheinander und beginnt, ziellos durch die Nacht zu schießen. Als noch dazu mehrere Schmerzensschreie aus einem Gebüsch ertönen, schlägt das gesamte koordinierte Vorgehen in Chaos um. Verantwortlich für das ängstlich-tölpelhafte Verhalten der Beamten sind letztlich die aufgeschreckten Tiere des Hofes – eine Schar beißwütiger Gänse, ein Hund und ein Ziegenbock. 28 Derartige Szenen des Befremdens gegenüber weiblicher Kriminalpolizei gehören seit Richard Heys Ein Mord am Lietzensee (1973) zum Repertoire deutscher Kriminalromane. Bei Hey ist

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Die Romane thematisieren also nicht allein das patriarchalische Polizeisystem, getragen von Misogynie, Korpsgeist und paternalistischen Strukturen, sondern lassen auch andere Vertreter der zeitgenössischen patriarchalischen Gesellschaft zu Wort kommen. Dort, wo einer Frau grundsätzlich das Recht zur Ausübung eines als genuin männlich imaginierten Berufsbildes abgesprochen wird, befindet sich eine Figur wie Hauptkommissarin Schuhmann im stetigen Kampf – ungeachtet (oder gerade wegen) ihres Dienstranges und der Unbeirrbarkeit ihrer Überzeugungen.

Interne Belastungsproben: Das Team Schuhmann/Berger Von den männlichen Beurteilungen und Ausschlüssen, die Elfriede Schuhmann im Außendienst widerfahren, kehrt der folgende Abschnitt zurück in die polizeiinterne Kommunikation, in die Mikrosphäre des Ermittlungsteams mit Kommissar Helmut Berger. Als fester Kollege Schuhmanns tritt Berger in Kapitel fünf von Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! erstmals in Erscheinung. Die Art ihrer mittlerweile zweijährigen Teamarbeit wird an dieser Stelle knapp mithilfe von oppositären Geschlechterstereotypen umrissen: Berger ist ein »scharfer Beobachter«, »zäh, geduldig und unnachgiebig«, verrichtet zuverlässig »perfekte Routinearbeit«, besitzt aber nur selten »[p]sychologisches Einfühlungsvermögen«; Schuhmann dagegen »verließ sich gern auf ihre Intuition und beurteilte Menschen nach ihrem ersten Eindruck. […] Im Umgang mit Menschen hatte sie ein feines Gespür entwickelt« (B, 24). Weil ihre unterschiedlichen Ermittlungsstile – männliche Fleißarbeit auf der einen, weibliche Intuition auf der anderen Seite – sich offenbar vorteilhaft ergänzen, wird beiden ein leidliches Auskommen attestiert.29 Obgleich es über Tews’ Polizeiteam auch heißt, dass Persönliches und Privates im Dienstverhältnis üblicherweise keine Rolle spielen, eröffnet Berger im gleichen Kapitel eine Serie von unprofessionell-intimen Kommentaren und Zues eine ältere Frau, die während einer Befragung Katharina Ledermachers Kollegen bittet, nicht ständig von seiner »jungen Dame« unterbrochen zu werden, und die den Umstand, dass sie es mit seiner Vorgesetzten zu tun hat, gleichsam als Gipfel menschlicher Verworfenheit ansieht (Hey, Richard: Ein Mord am Lietzensee. München: Piper 1989, S. 110, vgl. außerdem S. 10). Noch in Heys letztem Kriminalroman, einem Standalone mit Oberkommissarin Marianne Buchmüller, der auf seinem Drehbuch zu der Tatort-Folge Der Mann auf dem Hochsitz (1978) basiert, äußert sich dieselbe Irritation über die weibliche Leitung einer Mordermittlung: »›Mach Sache‹, sagte der alte Mann«, als er erfährt, dass in Buchmüller »der Kommissar« vor ihm steht (Hey, Richard: Feuer unter den Füßen. München: Piper 1992, S. 16). 29 Eine vergleich-, um nicht zu sagen austauschbare Charakterisierung der Teamarbeit bietet das dritte Kapitel von Leichen brauchen kein Make-up (vgl. L, 21); im letzten Roman fehlen diese Informationen.

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schreibungen, später auch Handlungen, die seine – wohlgemerkt fünf Jahre ältere – Vorgesetzte in ihrer Rolle als Frau betreffen und sie auf ein Objekt sexuellen Begehrens reduzieren. Zwar beginnen Bergers Bemerkungen vermeintlich harmlos mit einem grinsenden und augenzwinkernden Hinweis auf Schuhmanns »weiblichen Charme« (B, 25), der im Umgang mit dem unkooperativen Verdächtigen Groß als Ultima Ratio dienen soll. Doch schon kurz danach wird Schuhmanns Partner offensiver: Als sie seine Idee ablehnt, vor einer Befragung noch schnell etwas zu essen, bewertet Berger ihren Körperbau als »viel zu mager« und empfiehlt ihr salopp »einiges mehr auf die Rippen«, damit sie vor männlichen Verdächtigen »eine gute Figur« mache (B, 39).30 Im Unterschied zu Schuhmanns energischer Reaktion auf Kommissar Birkners verbale Grenzüberschreitungen wird der Maskulinismus ihres Teamkollegen in Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! nicht sanktioniert, sondern im Rahmen der internen Fokalisierung lediglich als ein zu ignorierendes »Geplänkel« (B, 39) aufgefasst. Einhergehend mit Bergers zunehmend dreisteren Übergriffen endet diese Duldsamkeit gleichwohl im Verlauf der Trilogie.31 Wird in Leichen brauchen kein Make-up ein überwiegend neutrales, bald freundschaftliches Verhältnis des Ermittlungsduos geschildert, offenbart Berger seine sexuellen Motive gegenüber Schuhmann in Wer nicht träumt, ist tot zweimal besonders unverhohlen. Im ersten Fall, als beide eine anstehende Ermittlung im Prostituiertenmilieu diskutieren, entgleitet der bisher sachliche Dialog nach einem zweideutigen Satz Schuhmanns erst ins Scherzhaft-Frivole, dann ins offen Sexuelle: »Tu das. Und anschließend kannst du dich, möglichst unerkannt, unter die Prostituierten mischen.« »Haben wir für ein solches Unternehmen ein besonderes Spesenkonto?« fragte er grinsend. »Willst du etwa persönliche Kontakte aufnehmen?« […] »Wäre doch mal was anderes.« Er setzte sich vor sie auf den Schreibtisch. »Abwechslung schadet nie. Wie gehst du denn mit deinem sexuellen Stau um?« Er fuhr ihr durch das Haar und umkreiste mit dem Zeigefinger ihr Ohr. »Pfoten weg«, ging sie hoch, »fick dich aus, wo du willst, aber laß mich in Frieden.« (W, 42)

30 Neben der chauvinistischen Urteils- und Verfügungsmacht schwingt während dieses Dialogs in Bergers Verweisen auf »üppige Muttis« italienischer Herkunft und »Spaghetti, Ravioli, Tortellini« (L, 25), die man am besten verzehre, um sich auf die bevorstehende Befragung eines Italieners vorzubereiten, eine rassistische Komponente seiner Figur mit. 31 Dass sich diese Übergriffe auf Schuhmanns Intimsphäre ebenso in ihrer Abwesenheit ereignen können, zeigt ein Gespräch zwischen Berger und dem Verdächtigen Groß im ersten Roman: Der Polizist unterstellt ihm »ein Faible für unsere kleine Elfriede« und fügt hinzu, dass »Besuche machen« ihre »starke Seite« sei, sie manchmal »sogar länger« bleibe (B, 115).

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Mit Bergers zudringlicher Frage korrespondiert hier erstmals eine auf körperliche Nähe abzielende Positur sowie eine Berührung am Kopf. Dass sein scheinbar kollegiales »Geplänkel« für die Kommissarin jetzt ein Maß erreicht hat, dem Widerstand zu leisten ist, belegen ihre emotionale Geste sowie ihr Gebrauch des Imperativs und vulgärer Lexik. Am Beispiel von Kommissar Birkner war zu erfahren, dass es Männer bei Tews nicht bei einem Versuch bewenden lassen, gewaltsam über die weibliche Protagonistin zu verfügen. Das gilt ebenfalls für Helmut Berger. Im Fortgang von Wer nicht träumt, ist tot sucht er seine Kollegin in einem aus privaten Gründen von ihr angemieteten Hotelzimmer auf und geht nach wenigen Worten in die Offensive: »Berger hatte sich zu ihr aufs Bett gesetzt, sah sie plötzlich an, […] rückte ein bißchen näher an sie heran und sagte: ›Weißt du eigentlich, daß ich furchtbar gerne mal mit dir …‹ ›Komm mir nicht mit so ’ner Tour‹, winkte sie ab.« (W, 129) Ein weiteres Mal muss sich die Kommissarin also im Dienst einer sexuellen Offerte ihres Kollegen erwehren, der im ersten weiblichen »Nein«, womöglich auch in diesem zweiten, keinen Hinderungsgrund sieht. Ebenso wie die in Abschnitt drei behandelten Vorfälle bedeuten Bergers verbale und körperliche Zudringlichkeiten für Elfriede Schuhmann weitere, ständige Belastungsproben ihrer Emanzipation als Frau und Polizistin – einer Gleichstellung, die anders als bei ihren Krimi-Kolleginnen Block oder Ledermacher nicht als weitgehend abgeschlossen, sondern in statu nascendi und als konstant gefährdet dargestellt wird.32

Fokalisierte Hegemonialität: Elfriede Schuhmann aus männlicher Sicht Ein weiterer Unterschied zu den frühen Frauenkrimis von Hey und anderen liegt in der Fokalisierung. Während die Ledermacher-Romane fixiert intern fokalisiert sind, die Handlung also von Anfang an durch das Bewusstsein der weiblichen Protagonistin erlebt und reflektiert wird, ist die Fokalisierung bei Tews anfangs generisch variabel und stabilisiert sich erst verspätet in Elfriede Schuhmanns Perspektive. Die folgende Tabelle visualisiert, in welchem Romankapitel sich dieser modale Übergang jeweils vollzieht:

32 Vgl. Tantow-Jung, Karin: »Wachhund und Narr«, S. 250–251. Als weitere Station dieser »unvollkommene[n] Emanzipiertheit« identifiziert Tantow-Jung Schuhmanns »selbstquälerische Ablöseprozesse aus der Ehe« (ebd., S. 250), die sich von Beginn der Serie bis Wer nicht träumt, ist tot erstrecken.

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Kap./ Sie sind ein schlechter Roman Bulle, gnädige Frau! 1 Groß auf eigener Dichterlesung

Leichen brauchen kein Make-up Autofahrt eines unbekannten Mannes

Wer nicht träumt, ist tot

2 3

Groß wird verhört Lokaljournalist Weinberg

Schuhmann zu Hause

Schuhmann zu Hause

4 5

Fortsetzung des Verhörs Schuhmann im Hotel

Kilian in der Mordnacht

Tab. 1: Fokalisierungen der Schuhmann-Romane (Kap. 1–5)

Am längsten ›männlich erzählt‹ bleibt Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau!, da die ersten beiden und das vierte Kapitel auf die Figur Hans-Peter Groß und das dritte auf den Journalisten Richard Weinberg fokalisiert sind. Aber auch die Folgeromane beginnen mit einem maskulinen Bewusstsein: Leichen brauchen kein Make-up aus Sicht eines zunächst unbekannten Autofahrers, dessen Gedanken sich unter anderem als zotige Stammtischfantasien über »Titten«, »Ärsche« und das gelegentliche »Aufreißen« (L, 6) mitteilen, und Wer nicht träumt, ist tot, etwas weniger vulgär, mit Beobachtungen vom nächtlichen Streifzug des Herrn Kilian. Indem Tews den weiblichen Modus im Erzählkontinuum all ihrer Romane einem männlichen nachordnet, konzediert sie einerseits die »patriarchalen kulturellen Prämissen«33 des Genres, akzentuiert aber zugleich die Schwierigkeit, sich als krimischreibende Frau davon zu befreien.34 Im Debütroman liegt der besondere Fall vor, dass sogar die Haupt- und Identifikationsfigur Elfriede Schuhmann nicht durch ihren eigenen, sondern durch einen anderen, einen maskulinen Blick eingeführt wird. Die Verhörszene, das zweite Kapitel, wird konstant aus Sicht des Beschuldigten Hans-Peter Groß erzählt: Er schätzt das Alter der ihm gegenübersitzenden Leiterin des Verhörs auf Ende Dreißig, er »lässt ihre Worte auf sich wirken« (B, 9) und stellt Mutmaßungen über ihre Stimmfärbung an. Sodann versieht er sein weibliches Gegenüber in Gedanken mit persönlichen und geschlechtsbezogenen Urteilen: Ihr Haar sei »[u]m drei Zentimeter mindestens zu kurz, dachte Groß. Sie wirkt wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist« (B, 10). Dass Kommissar Birkner die Rede seiner Kollegin harsch unterbricht, veranlasst Groß zu Mitleid mit der »kleine[n] Hauptkommissarin« (B, 11). Unmittelbar danach folgen die Lesenden seinem Blick, der sich »[l]angsam« (B, 11) vertikal aufwärts, von den Händen über die Brüste zum Kopf bewegt. 33 Tielinen, Kirsimarja: Ein Blick von außen. Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Untersuchungen zum Kriminalroman. Berlin: Weidler 2004, S. 41–68, hier S. 44. 34 Vgl. Tews, Lydia: Frauen als Krimi-Autorinnen, S. 102.

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Diese sexualisierten Betrachtungen des Frauenkörpers bleiben kein Einzelfall; sie wiederholen sich bald darauf im vierten Kapitel, ebenfalls auf Groß fokalisiert35, aber auch später, als Schuhmanns Erzählperspektive längst stabilisiert erscheint: Im Verlauf der Handlung bahnen sich tatsächlich romantische Gefühle zwischen Schuhmann und dem Verdächtigen an, der sie während eines Spaziergangs »von der Seite« betrachtet und dabei »überlegt[ ]«, dass sie »erst beim näheren Hinsehen« hübsch werde (B, 83). Dezidiert zugespitzt auf Groß’ männliche Machtposition, mithin zugleich auf Schuhmanns passiv-unterlegenen Status als Sexualobjekt, präsentiert sich zuletzt eine Begegnung in dessen Wohnung im letzten Drittel des Romans: Obwohl seine private Einladung angenommen wurde, glaubt Groß nicht an ein »kleine[s] Abenteuer«, an kein »lauschiges Schäferstündchen zu zweit«, bevor die Kommissarin nicht ihre »inneren Barrieren« abbauen könne (B, 144). Nach erneutem »kritischem Blick« auf Schuhmanns Figur »von allen Seiten« (B, 145) gelingt es ihm schließlich, ihre Widerstände zu brechen. Die darauffolgende Kussszene enthüllt denn auch keinerlei weibliche Gedanken oder Gefühle, dafür umso mehr männliche: Kurz vor dem Kuss »dachte er im selben Augenblick« über Schuhmanns potenziellen Rückzug nach, Selbstzweifel »drängten sich […] ins Bewusstsein« und inmitten »seine[r] Überlegungen« spürt er, wie sie ihn küsst (B, 147). Derlei Momente instabiler Fokalisierungen, die einem dominanten weiblichen Erzählmodus eine maskuline, Weiblichkeit als Objekt betrachtende und taxierende Wahrnehmung entgegenhalten, sind bei anderen Männerfiguren der Tews-Krimis ebenfalls nachweisbar, z. B. bei Kommissar Birkner oder Herrn Kilian; die temporäre Blick- und Deutungsmacht des Hans-Peter Groß in Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau! ist ihr augenfälligstes Indiz. Durch sie lässt sich belegen, dass im Paradigma ›Polizei und Weiblichkeit‹ bei Lydia Tews nicht allein die histoire, das aus dem Leben und Beruf einer Polizistin Erzählte, sondern auch der im ›Frauenkrimi‹ habitualisierte weibliche discours dem Hegemonialanspruch eines männlichen Pendants gegenübersteht.

35 Hier »betrachtete er den mageren Oberkörper der Kommissarin hinter dem riesigen Schreibtisch« (B, 17).

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Polizei und Weiblichkeit

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Melanie Foik (Münster)

Ein weißer Mercedes, Agatha Christie und ein bisschen Rechtsgeschichte. Die Kriminalromane der Juristin und Schriftstellerin Zofia Kaczorowska

Die in der Volksrepublik Polen in den 1950er bis 80er Jahren entstandenen Kriminalromane sozialistischer Prägung – in der Forschung meist unter dem Begriff ›powies´c´ milicyjna‹ (dt. ›Milizroman‹) subsumiert – wurden trotz erheblicher Publikumserfolge von der zeitgenössischen Literaturkritik belächelt und galten bis in die jüngste Zeit einer differenzierten Betrachtung nicht würdig. Zwar werden auch weiterhin – nicht zuletzt von juristischer Seite1 – die seinerzeit vor allem von Stanisław Baran´czak prominent artikulierten Vorbehalte gegen den Milizroman und seine ›geringe literarische Qualität‹ reproduziert. Dennoch avanciert diese spezifische Untergattung des Kriminal- bzw. Detektivromans neuerdings durchaus mit einer gewissen Dynamik zum Gegenstand geschichts-, literatur- und rechtswissenschaftlicher Überlegungen.2 Berechtigterweise werden in bisherigen Darstellungen primär die im kollektiven Gedächtnis besonders präsenten Autoren – so Jerzy Edigey, Andrzej Piwowarczyk, Zygmunt Zeydler-Zborowski – und Autorinnen wie Joanna Chmielewska, Barbara Gordon (eigentlich Larysa Mitzner), Helena Sekuła und Anna Kłodzin´ska behandelt. Der vorliegende Beitrag nimmt nun die Romane von Zofia Kaczorowska, einer ausgebildeten Juristin und heute kaum mehr bekannten

1 Vgl. Girdwoyn´, Piotr: Kryminał jako sposób pokazywania rzeczywistos´ci prawnokarnej PRL. In: Kuisz, Jarosław/Wa˛sowicz, Marek (red.): Prawo, literatura i film w Polsce Ludowej. Warszawa: Wyd. Naukowe Scholar 2021, S. 33–62, hier S. 33; Łe˛towska, Ewa: O prawie w literaturze kryminalno-sensacyjnej PRL. In: Kuisz, Jarosław/Wa˛sowicz, Marek (red.): Prawo, literatura i film w Polsce Ludowej. Warszawa: Wyd. Naukowe Scholar 2021, S. 99–119, hier S. 100–101, 118– 119. 2 Vgl. Skotarczak, Dorota: Otwierac´, milicja! O powies´ci kryminalnej w PRL. Szczecin/Warszawa: IPN 2019; Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalromane bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113; Pilarczyk, Piotr M.: [Recenzja] Dorota Skotarczak, Otwierac´, milicja! O powies´ci kryminalnej w PRL. In: »Krakowskie Studia z Historii Pan´stwa i Prawa« 14.2 (2021), S. 276–279.

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Krimiautorin in den Blick. Zofia Kaczorowska (1925–1995)3 schrieb neben ihrer beruflichen Tätigkeit als Rechtsberaterin (pl. radca prawny)4 mindestens elf Kriminalromane, die in den Jahren 1979 bis 1990 im sozialistischen Polen veröffentlicht wurden. Interessanterweise erschienen ihre Krimis nahezu paritätisch sowohl in wichtigen Literaturverlagen (Czytelnik und Iskry) als auch in juristischen Verlagen (Wydawnictwo Prawnicze und Jurysta), worin sich ihre zeitgenössische Wahrnehmung als schriftstellernde Juristin spiegelt. Von den neun in der Reihe »Smok« des Wydawnictwo Prawnicze (dt. Juristischer Verlag) verzeichneten Bänden stammen allein fünf von Zofia Kaczorowska.5 Krimiautor:innen waren in der Volksrepublik Polen angehalten, die Miliz (die polnische Volkspolizei) in positivem Licht und ihre Arbeitsabläufe möglichst realitätsnah darzustellen, da ein Großteil der Bevölkerung sein Wissen über polizeiliche Ermittlungsarbeit über diese Art von Unterhaltungsliteratur bezog. Die Behörden sahen sich hier gar selbst in der Pflicht und ließen fachfremden Schriftsteller:innen Schulung und Beratung (und natürlich auch reichlich Kontrolle und Zensur) zukommen.6 Zur Feder greifende Personen aus den eigenen Reihen wie Helena Sekuła und Władysław Krupka, aber auch Juristinnen und Juristen galten als besonders willkommene Zugänge im Krimi-Metier, da man sie nicht erst ›einzunorden‹ brauchte. Kaczorowska war freilich nicht die einzige Rechtskundige auf diesem Gebiet. Der bekannteste Miliz-Romancier mit juristischem Hintergrund dürfte Jerzy Edigey gewesen sein, der 1982 in einem Interview mit der Zeitung »Trybuna Ludu« erklärte: [Autor kryminałów – M.F.] powinien znac´ dobrze prawo cywilne i karne, z˙eby nie dochodziło do takich sytuacji, jak opisana w pewnym polskim kryminale, gdzie porucznik wzywa do siebie prokuratora. Jest to niemoz˙liwe, gdyz˙ to włas´nie prokurator jest władza˛.7 3 Über Zofia Kaczorowska ist bislang wenig bekannt. Die Lebensdaten sind entnommen aus der Gedenkanzeige zum 17. und 2. Todestag für Zofia Kaczorowska und Władysław Kaczorowski. In: »Gazeta Wyborcza« vom 31. Dezember 2012. URL: https://nekrologi.wyborcza.pl/0,11,,19 5498,Zofia–Kaczorowska-W%C5%82adys%C5%82aw-Kaczorowski-wspomnienie.html / letzter Zugriff am 2. Februar 2023. 4 Anders als in Deutschland besteht in Polen eine Zweiteilung des Anwaltsberufs in Rechtsanwalt (pl. adwokat) und Rechtsberater (pl. radca prawny). In der Volksrepublik Polen waren Rechtsberater ausschließlich in Zivilsachen tätig. Sie waren meist in staatlichen Unternehmen oder Genossenschaften angestellt, erbrachten dort juristische Dienstleistungen und vertraten ihre Dienststellen vor Gericht. 5 Vgl. Skotarczak, Dorota: Otwierac´, milicja!, S. 157. Die Reihe »Smok« exisitierte seit 1987 und wurde 1990 im Zuge des Systemwechsels eingestellt. 6 Vgl. Skotarczak, Dorota: Otwierac´, milicja!, S. 15. 7 Alle folgenden ins Deutsche übersetzten Textpassagen – M.F. Dt.: »[Der Krimiautor – M.F.] sollte sich gut im Zivil- und Strafrecht auskennen, damit nicht solche Situationen entstehen, wie sie in einem bestimmten polnischen Krimi beschrieben ist, in der ein Oberleutnant den Staatsanwalt herbeizitiert. Das ist nicht möglich, da der Staatsanwalt der Vorgesetzte ist.«

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Bei den Romanen Zofia Kaczorowskas handelt es sich – abgesehen von ihrem letzten, schon kurz nach der Wende von 1989/90 erschienenen Roman Podzwonne dla blondynki8 (1990; dt. Totengeläut für eine Blondine) – nur bedingt um Kriminalromane nach dem Muster der klassischen Detektivgeschichte, da ihnen meist eine starke, zentrale Ermittlerfigur und deren Zweikampf mit einer nahezu ebenbürtigen Täterfigur fehlt. Tatsächlich lassen sich die Texte überwiegend eher den Milizromanen zuordnen, wobei einige der im Folgenden exemplarisch betrachteten Romane die Miliz nur am Rande auftreten lassen und andere sogar ganz ohne sie auskommen. Auffällig ist wiederum – und dies könnte die Romane Kaczorowskas als ›Frauenkrimis‹ qualifizieren –, dass in allen von ihr literarisch entwickelten Kriminalfällen weibliche Hauptfiguren maßgeblich involviert sind: als Opfer, Tatverdächtige, Mörderinnen und private Ermittlerinnen, deren Lebens- und Erfahrungswelt die Geschichten ganz wesentlich prägen. Kaczorowskas Romane gehören unbestritten zur leicht konsumierbaren Unterhaltungsliteratur ohne allzu große poetische Ansprüche. In ihrer Adressierung eines weiblichen Lesepublikums stellen sie jedoch – so die These des vorliegenden Beitrags – zeitgebundene ›Frauenkrimis‹ dar, die sich unmissverständlich von den in der Volksrepublik Polen entstandenen Milizromanen männlicher Autoren unterscheiden. Neben dem Schema des ›sozialistischen‹ Kriminalromans finden sich unter den Texten Kaczorowskas zudem auch Experimente mit anderen Formen kriminalistischen Erzählens, die im Folgenden ebenfalls beleuchtet werden sollen. Nicht zuletzt stellt sich gerade im Rahmen der Recht-und-Literatur-Forschung auch die Frage, inwiefern der juristische Hintergrund der Autorin in ihre literarischen Texte hineinspielte.

Zwischen ›Milizroman‹ und ›Frauenliteratur‹ Die meisten Romane von Zofia Kaczorowska enthalten zahlreiche Merkmale des ›Milizromans‹ und werden daher durchaus nicht zu Unrecht diesem Genre zugeordnet. So ermittelt in fast allen ihrer Texte zumindest im Hintergrund ein (Interview der »Trybuna Ludu« mit Jerzy Edigey-Korycki vom 12. Juni 1982. In: Edigey, Jerzy: Ławeczka oraz wywiady i wspomnienia. Warszawa: Wielki Sen 2012, S. 71–76, hier S. 74). Zu den Milizromanen von Jerzy Edigey siehe: Walc, Krystyna: Stare kryminały. O powies´ciach Jerzego Edigeya. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 2: Na tropie z´ródeł. Kraków: Wydawnictwo EMG 2015, S. 403–424. Zur Person Jerzy Edigeys und dessen Milizromane im Kontext von Recht und Literatur vgl. auch: Foik, Melanie: Ermittelnde Milizionäre, ein schriftstellernder Anwalt und die Verflechtung von Politik, Recht und Literatur: Zum ›Milizroman‹ im sozialistischen Polen. In: Blog »Recht und Literatur«. Dezember 2021. URL: https://sfb1385.hypotheses.org/131 / letzter Zugriff am 9. Januar 2023. 8 Kaczorowska, Zofia: Podzwonne dla blondynek. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1990.

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Kollektiv von Milizbeschäftigten, die durchweg positiv und sympathisch, mitunter gar als Helden dargestellt werden. Die geschilderten Kriminalfälle resultieren – und auch dies ist typisch für die ›Milizliteratur‹ jener Zeit – meist aus ›westlich‹, immer jedoch ›kapitalistisch‹ inspirierten Straftaten und Tätermilieus, die sich vornehmlich um Drogenschmuggel und Kunstraub sowie sich daran anschließende Tötungsdelikte drehen. Ebenfalls gattungsspezifisch verfügen einige der Täter:innen über eine Wehrmachts- oder SS-Vergangenheit, die es um jeden Preis zu verheimlichen gilt. Die regelhaft auftauchenden Figuren aus dem westlichen Ausland – so verlangt es das Klischee – fahren teure Wagen, tragen luxuriöse Kleidung und auffälligen Schmuck. Die meisten von ihnen sind kriminell und dabei besonders skrupellos. Bei den ermittelnden Milizmitarbeitenden wiederum handelt es sich um kluge und furchtlose, zugleich jedoch blasse Männerfiguren, die die weiblichen Hauptcharaktere beschützen. Frauen innerhalb der Miliz erwähnt Kaczorowska hingegen nur beiläufig – etwa als Verlobte eines Ermittlers in Gos´c´ z Singapuru (1989; dt. Der Gast aus Singapur). Dies mag insofern verwundern, als der bereits erwähnte Jerzy Edigey Anfang der 1980er Jahre in dieser Hinsicht schon einen Vorstoß gewagt hatte, indem er in seinem Milizroman Alfabetyczny morderca (1981; in der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1986 Mord nach Alphabet) die Konfrontation eines chauvinistischen Dienststellenleiters mit einer ihm zugewiesenen, intellektuell jedoch überlegenen Kriminologin durchdekliniert.9 Insgesamt spielen der Arbeitsalltag, die Methoden und Techniken der Ermittlungsbehörden – anders als im ›sozialistischen‹ Krimi üblich – in Kaczorowskas Texten eine untergeordnete Rolle. Nicht die offizielle Aufklärungsarbeit und die dafür zuständigen ›Helden‹ stehen im Mittelpunkt der Geschichten, sondern die weiblichen Protagonistinnen. Diese entsprechen dabei nicht dem im ›Milizroman‹ verbreiteten Stereotyp der »in die Kriminalintrige verwickelten Geliebten oder Prostituierten« (pl. »kochanka˛, albo prostytutka˛, uwikłana˛ włas´nie w kryminalna˛ rozgrywke˛«), die lediglich »eine Quelle des Vergnügens, eine Informantin oder eine hilfsbedürftige Person« (pl. »z´ródłem przyjemnos´ci, dostarczycielka˛ informacji lub kims´ wymagaja˛cym opieki«) abgeben konnte.10 Vielmehr handelt es sich bei den von Kaczorowska gezeichneten Frauenfiguren um durchschnittliche Bürgerinnen der Volksrepublik Polen, die entweder mit beiden Beinen im Leben stehen oder aber vom gesellschaftlich für sie vorgesehenen Weg abgekommen sind (meist aber durchaus wieder dorthin zu-

9 Edigey, Jerzy: Alfabetyczny morderca. Warszawa: Iskry 1981 [dt. Übersetzung: Edigey, Jerzy: Mord nach Alphabet. Übers. von K. Kelm. Ostberlin: Das Neue Berlin 1986]. 10 Wale˛ciuk-Dejneka, Beata: Kobiety na tropie zbrodni: autorki i bohaterki (Joanna Szymczyk Ewa i złoty kot, Katarzyna Gacek i Agnieszka Szczepan´ska Moc i cesarzowa). In: »Prace Literaturoznawcze« 5 (2017), S. 159–168, hier S. 162.

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rückfinden können) und die in ihrem Entstehungszeitraum über ein erhebliches Identifikationspotenzial verfügt haben dürften. Anhand der Lebens- und Erfahrungswelt dieser Figuren handelt Kaczorowska typische Probleme und Fragen ab, mit denen sich ein Großteil der polnischen Frauen in den 1980er Jahren konfrontiert sah – und die von männlichen (Krimi-) Autoren in der Regel nicht thematisiert wurden. Die Adressierung eines weiblichen Lesepublikums ist dabei augenfällig und wird bezeichnenderweise bis in die Gegenwart als charakteristisch bewertet, wie ein Netzkommentar von »Patryk« zum Roman Gos´c´ z Singapuru illustriert: »To dla mnie przecie˛tna ksia˛z˙ka, ze wzgle˛du na to z˙e jest napisana bardziej dla z˙en´skich czytelników.«11 In enger Verschränkung mit den – im Übrigen meist recht einfach gestrickten – Mordfällen werden die persönlichen Lebensthemen der Protagonistinnen entfaltet: Es geht um ihre berufliche Entwicklung als Krankenschwester, Rechtsanwältin oder Gebrauchsgraphikerin, um die Wohnungsnot unverheirateter Frauen, die Doppelbelastung alleinerziehender Mütter, den improvisierten Alltag angesichts des allgegenwärtigen Mangels. Dieser äußert sich vor allem in der Sehnsucht von Kaczorowskas Figuren nach ›westlichem‹ Wohlstand und Reisen ins ›kapitalistische‹ Ausland sowie dem entsprechenden Drang, einen vermögenden Westeuropäer (möglichst mit polnischen Wurzeln und daher der polnischen Sprache mächtig) zu heiraten. Doch gerade die Erfüllung dieses Traums endet in der Regel im – von Kaczorowska mit moralischer Emphase inszenierten – Fiasko. In diesem Oszillieren zwischen ›Milizroman‹ und ›Frauenkrimi‹ gilt es somit stets zwei Rätsel zu lösen: Zum einen konstruiert Kaczorowska die Spannungsbögen ihrer Romane über das klassische whodunit, zum anderen jedoch ganz wesentlich über die Frage, für welchen Lebenspartner sich die Protagonistin entscheiden wird und ob es sich dabei um eine – wie auch immer zu definierende – gute oder gar richtige Entscheidung handelt. Beide Plots, die inhaltlich miteinander verschränkt sind, entfalten sich über den parallelen Aufbau eines Kreises von ›Verdächtigen‹ – potentieller Mörder und potentieller Ehemänner –, sowie den darauf bezogenen Einsatz durchaus origineller red herrings und unerwarteter Wendungen. Ein einschlägiges Beispiel für eine solche hybride Konstruktion ist der Roman Szmaragd dla Agaty (dt. Ein Smaragd für Agata), der 1983 in der Reihe »Ewa wzywa 07« (dt. »Ewa ruft 07«) erschienen ist.12 Obwohl das Ziel der Serie darin bestand, dem Lesepublikum die Arbeit der ermittelnden Miliz näher zu brin11 Dt.: »Das ist für mich ein durchschnittliches Buch, da es eher für weibliche Leser geschrieben ist« (Kommentar von »Patryk« vom 13. November 2021 auf dem Rezensions- und Meinungsportal lubimyczytac´.pl. URL: https://lubimyczytac.pl/ksiazka/177240/gosc-z-singapuru / letzter Zugriff am 5. Januar 2023). 12 Kaczorowska, Zofia: Szmaragd dla Agaty. Warszawa: Iskry 1983.

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gen13, liegt der Fokus des Romans auf der persönlichen Geschichte der titelgebenden Agata, einer jungen Frau aus Sopot. Interessanterweise beginnt der Roman mit einem (scheinbaren) Tötungsdelikt, in das die Miliz überhaupt nicht involviert ist: Der stark alkoholisierte Täter stirbt offenbar bei dem Versuch, Agata zu vergewaltigen. Die damals noch junge Schülerin, die einen Mord an dem deutschsprachigen Touristen begangen zu haben glaubt, vertuscht den Vorfall gemeinsam mit ihrem Jugendfreund Jacek über Jahre hin. Erst aufgrund späterer Straftaten im Umfeld von Agata lässt Kaczorowska die Miliz (wenn auch nur punktuell und inkonsistent) in Erscheinung treten. Anstatt nach Beendigung der Schule zu studieren, wie der für die ›sozialistische‹ Frauenemanzipation einstehende Jacek es ihr nahelegt, wartet Agata lieber auf ihren Traumprinzen und setzt in der Begegnung mit westeuropäischen Touristen ganz auf ihre jugendliche Schönheit. Bestärkt wird sie darin von ihrer ›reaktionären‹ Großmutter, die sich auf die Zwischenkriegszeit rückbesinnt, in der »Ehefrauen nicht arbeiteten« (pl. »z˙ony nie pracowały«), da »die Männer sie achteten« (pl. »me˛z˙czyz´ni je szanowali«).14 Dem Duktus des Romans entsprechend klärt die Erzählinstanz über die schädliche Persistenz solcher ›bourgeoiser‹ und ›rückständiger‹ Vorstellungen von Partnerschaft und Ehe auf: [Babka – M.F.] wierzyła, z˙e wnuczka przy swej niepospolitej urodzie znajdzie ustabilizowanego, zamoz˙nego człowieka, który zapewni jej beztroska˛ egzystencje˛. Pogla˛d ten, oparty na przedwojenne kanony małz˙en´stwa, z biegiem czasu przerodził sie˛ w chorobliwa˛ niemal obsesje˛, przejawiaja˛ca sie˛ w pierwszym rze˛dzie w negatywnym stosunku do młodych, brodatych adoratorów Agaty, których babka uwaz˙ała za obiboków i wszelkiego rodzaju wyzyskiwaczy, biora˛cych sobie z˙ony po to, aby je eksploatowac´ i cia˛gna˛c´ profity z ich pracy.15

Den Empfehlungen der Großmutter und der eigenen Abneigung gegen ein Studium folgend heiratet Agata einen Österreicher polnischer Herkunft, der – das Detail verweist exemplarisch auf den Humor von Kaczorowskas Romanen – zwar nicht auf einem Schimmel angeritten, dafür jedoch in seinem weißen Mercedes angebraust kommt. Es folgt, was folgen muss: Agata langweilt sich bald

13 Dazu kritisch: Jastrze˛bski, Jerzy: »Ewa wzywa 07« – 07 nie odpowiada. In: »Odra« 4 (1971), S. 41–49. 14 Kaczorowska, Zofia: Szmaragd dla Agaty, S. 6. 15 Dt.: »[Die Großmutter – M.F.] glaubte, dass ihre Enkelin mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit einen gefestigten, wohlhabenden Mann finden könne, der ihr ein sorgloses Leben ermöglichen würde. Diese auf dem Vorkriegskanon der Ehe beruhende Ansicht verwandelte sich im Laufe der Zeit in eine fast krankhafte Besessenheit, die sich vor allem in einer negativen Haltung gegenüber Agatas jungen, bärtigen Verehrern äußerte, in denen die Großmutter nur Faulenzer und Schmarotzer sah, die sich Ehefrauen einzig in der Absicht nahmen, sie auszubeuten und aus ihrer Arbeit Profit zu schlagen« (ebd., S. 5).

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schon in ihrem goldenen Käfig in einem Ort namens »Marzejny«16, ihr Ehemann entpuppt sich als Kunsträuber und Mörder, ihre Ehe als Vorwand für seine kriminellen Machenschaften. Gleich mehrere Dienststellen der Miliz entwirren ein Geflecht aus ›kapitalistisch‹ inspirierten Straftaten inklusive mehrerer Mordfälle. Doch wird die soziale Ordnung schließlich nicht nur durch die Ergreifung der Täter wiederhergestellt. Viel wichtiger erscheint der Umstand, dass die Protagonistin eine »geistige Erneuerung« (pl. »renesans duchowy«)17 erfährt, inzwischen einer geregelten Arbeit nachgeht, endlich zu studieren beabsichtigt und den materiellen Dingen entsagt. Nun mag man sich über die Darstellung solcher Frauenfiguren und über Kaczorowskas erbaulichen Moralgestus (Motto: »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach«) mokieren. Allerdings sollte man, worauf die Historikerin Dorota Skotarczak hinweist, den gesellschaftlich-ökonomischen Hintergrund jener Zeit nicht außer Acht lassen: Jest pocza˛tek lat osiemdziesia˛tych, w kraju sytuacja ekonomiczna pogarsza sie˛. Jest to czas – pamie˛tamy – kiedy istotnie wiele dziewcza˛t swej z˙yciowej szansy upatrywało w wyjs´ciu za ma˛z˙ za kogos´ zza granicy, kogos´ z Zachodu. Sytuacja taka musi budzic´ mieszane uczucia i oceny. Moz˙na pote˛piac´ dziewczyny za cynizm, ale moz˙na tez˙ starac´ sie˛ zrozumiec´, pamie˛taja˛c o beznadziejnos´ci z˙ycia bez perspektyw w PRL.18

Vor diesem Hintergrund ist auch der Roman Gos´c´ z Singapuru zu lesen, der allerdings erst 1989, also bereits in der untergehenden Volksrepublik, im Verlag »Jurysta« erschienen ist. Er erzählt die Geschichte dreier Freundinnen in den Vierzigern, die auf ganz unterschiedliche (Ab-)Wege geraten sind: Maja, das Mordopfer, lebte in Saus und Braus; ihr Luxus, so zeigt der Gang der Geschichte, beruhte auf kriminellen Geschäften. Die Ich-Erzählerin Sława wie auch die dritte im Bunde, Renata, führen hingegen ein bescheidenes Leben und sind auf Partnersuche. Weil Sława der Miliz nicht allzu viel zutraut, ermittelt sie mit Renatas Hilfe, die als eine Art Watson fungiert, im Fall ihrer toten Freundin auf eigene Faust und bringt sich so in recht abenteuerliche, durchaus aber humorvoll er-

16 Bei »Marzejny« handelt es sich wohl um ein Wortspiel mit »Sejny«, einem Ort in Suwalszczyzna im Nordosten Polens. Während »sen« im Polnischen den Traum im Schlaf bezeichnet, meint »marzenie« den Wunschtraum. 17 Kaczorowska, Zofia: Szmaragd dla Agaty, S. 41. 18 Dt.: »Es ist der Beginn der Achtzigerjahre, die wirtschaftliche Situation im Land verschlechtert sich. Das ist eine Zeit – wir erinnern uns – in der wirklich sehr viele junge Frauen ihre Lebenschance in einer Heirat mit jemandem aus dem Ausland, jemandem aus dem Westen sahen. Eine solche Situation weckt zwangsläufig gemischte Gefühle und Wertungen. Man kann die Mädchen für ihren Zynismus verurteilen, aber man kann auch versuchen sie zu verstehen, indem man sich die Hoffnungslosigkeit eines Lebens ohne Perspektiven in der Volksrepublik Polen in Erinnerung ruft« (Skotarczak, Dorota: Otwierac´, milicja!, S. 168).

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zählte Situationen. Die Miliz ermittelt parallel dazu, jedoch meist undercover, und ist Sława und Renata stets einen Schritt voraus. Über weite Strecken wirkt der Text fast wie ein gewöhnlicher Milizroman, zumal nicht nur mutige Milizermittler auftreten, die die privat ermittelnde IchErzählerin vor der eigenen Courage zu schützen versuchen, sondern auch ausländische Drogenkriminelle, die aufgrund der Rechtslage – hier schlägt wieder Kaczorowskas beruflicher Hintergrund durch – eine besondere Herausforderung darstellen: – […] Przepisy stoja˛ na straz˙y nietykalnos´ci osobistej obywateli pan´stw obcych, jez˙eli nie zostanie stwierdzone oczywiste naruszanie przez nich obowia˛zuja˛cego w Polsce prawa, lub jez˙eli nie zostana˛ złapani na gora˛cym uczynku łamania porza˛dku prawnego. – Całe to wasze prawo jest w takim razie absolutnie bezduszne. O mały włos, a mielibys´cie dwa naste˛pne trupy, Renaty i mój […]. – Jednak naszym obowia˛zkiem jest przestrzeganie nienaruszalnych zasad prawa, które znalazło sie˛ pod ostrzałem pani s´miałej krytyki.19

Trotz der für einen Milizroman originellen Parallelermittlungen – die beiden Freundinnen auf der einen, die Miliz auf der anderen Seite – wirkt der Roman thematisch über weite Strecken recht schematisch: Die ermordete Maja hatte sich aufgrund ihres übersteigerten Bedürfnisses nach materiellem Luxus in die Fänge eines international agierenden Drogenrings begeben und ist, wie es lange den Anschein hat, eines seiner Opfer geworden. Kaczorowska belässt es aber auch in Gos´c´ z Singapuru nicht beim einfachen Milizroman, sondern bringt einen überraschenden twist in die Geschichte: Die Ermittlungen zum Drogenring – jedenfalls hinsichtlich des Mordes an Maja – folgten durchweg einer falschen Fährte, denn als Täterin entlarvt sich die unscheinbare Hilfsermittlerin Renata, die Maja aus Eifersucht ermordet hat und in einer thrillerähnlichen Szene zuletzt auch Sława zu töten versucht. Neben der Kriminalgeschichte geht es auch in diesem ›Frauenkrimi‹ um das persönliche Leben der Hauptfigur und Ich-Erzählerin: Als junge Frau hatte Sława einen älteren Mann geheiratet, der »Besitzer einer Zweizimmerwohnung in der Antoni-Odyniec-Straße in Warschau war« (pl. »był włas´cicielem dwupokojowego mieszkania na ulicy Antoniego Odyn´ca w Warszawie«) – für sie damals »das Tor zum Paradies« (pl. »wrota do raju«).20 Nach dem Tod ihres Ehemannes 19 Dt.: »– […] Die Vorschriften schützen die persönliche Unverletzlichkeit von Bürgern fremder Staaten, sofern nicht ein offensichtlicher Verstoß gegen in Polen geltendes Recht festgestellt wird oder sie bei einem Rechtsbruch auf frischer Tat ertappt werden. / Euer ganzes Recht ist dann aber völlig lebensfern. Um ein Haar hättet Ihr zwei weitere Leichen gehabt, die von Renate und meine […]. / – Und doch ist es unsere Pflicht, die unantastbaren Grundsätze des Rechts zu wahren, die unter Beschuss Ihrer kühnen Kritik geraten sind« (Kaczorowska, Zofia: Gos´c´ z Singapuru. Warszawa: Jurysta 1989, S. 70–71). 20 Ebd., S. 13.

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musste sie eine Berufstätigkeit als Graphikerin für die Produkte von Cepelia21 und die Umschläge von Kriminalromanen (aus denen sie übrigens ihre ›kriminalistischen‹ Kenntnisse bezieht) aufnehmen, für die sie zwar keine große Leidenschaft entwickelte, die ihr jedoch zu einer gewissen Emanzipation verhalf. Parallel zu ihren Ermittlungen im Mordfall Maja begegnet sie nun verschiedenen Männern, die als potentielle Lebenspartner infragekommen. Es sind: ein Bekannter, der zwischenzeitlich zum Kreis ihrer Verdächtigen gehörte, sich dann aber als Milizermittler entpuppt; der Ehemann der Ermordeten, mit dem sie in ihrer Studienzeit schon einmal ein Paar abgeben hat, der aber gegenwärtig ein unstetes und allzu materiell orientiertes Leben im Ausland führt; zuletzt ein älterer, solider Pole, für den sie sich (ganz im Sinne von Kaczorowskas wiederkehrender Botschaft) am Ende auch tatsächlich entscheidet.

Zehn kleine Enkelein, oder: ein humorvoll-schauriger Agatha-Christie-Pastiche Ein in Form und Thema abweichender Text stellt der im Wydawnictwo Prawnicze (Juristischer Verlag) erschienene Roman Szalona noc w Paryz˙u (1988; dt. Eine verrückte Nacht in Paris) dar. Ausnahmsweise handelt es sich bei der Erzählinstanz durchgehend um einen männlichen Ich-Erzähler, der in Begleitung seiner Sekretärin, die sich unerwartet als Cousine zu erkennen gibt, eine Reise nach Paris antritt. Offenbar – so deuten es die nach Polen gesandten Telegramme an – ist ein gemeinsamer Verwandter verstorben, dessen Erbe es nun aufzuteilen gilt, doch weiß niemand Genaueres. Angekommen in Paris spielt sich der Roman zum wesentlichen Teil im Haus des vermeintlich Verstorbenen ab, der den Anwesenden ein gemeinsames Nachtmahl auferlegt und eine medial vermittelte Ansprache für den nächsten Morgen ankündigt. Dazwischen allerdings erwartet die in vielerlei Hinsicht disparate Gruppe eine makabre Gruselnacht. Was nun folgt, ist unschwer als ein Agatha-Christie-Pastiche zu erkennen: Wie in Christies Kriminalroman And Then There Were None aus dem Jahr 193922,

21 Cepelia (Centrala Przemysłu Ludowego i Artystycznego) war von 1949 bis 1990 ein das ganze Land umspannendes Netz von Geschäften, in denen Volkskunst und Volkshandwerk (und nicht selten auch Kitschware) verkauft wurden. In organisatorischer und struktureller Hinsicht könnte man Cepelia mit der DDR-Handelsorganisation (HO) vergleichen, allerdings auf Nippes, Holzkunst u. dgl. spezialisiert. 22 Agata Christies Roman ist in Polen erstmals 1960 unter dem damals auch in anderen Sprachen noch üblichen Titel Dziesie˛ciu murzynków (dt. Zehn kleine Negerlein) im Verlag »Iskry« erschienen: Christie, Agata: Dziesie˛ciu murzynków. Übers. von R. Chrza˛stowski. Warszawa: Iskry 1960. Gegegenwärtig erscheinen polnische Übersetzungen unter dem Titel I nie było juz˙ nikogo (dt. Und dann gab es keinen mehr).

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kommen die Gäste eines physisch nicht anwesenden Gastgebers einer nach dem anderen ums Leben. Zunächst sehen die Todesfälle wie skurrile Unfälle aus, doch wird bald klar: Es handelt sich um eine Mordserie, und der Täter oder die Täterin ist unter den Gästen selbst zu suchen. Bezeichnenderweise richten die ›ermittelnden‹ männlichen Figuren – von denen jeder ein potentieller Mörder und ein potentielles Opfer sein könnte – ihren Verdacht nur auf Personen ihres Geschlechts, da sie die weiblichen Verwandten für weder physisch noch intellektuell fähig halten, die außergewöhnlichen Morde zu begehen. Als Täterinnen erweisen sich schließlich jedoch zwei der anwesenden Frauen, die auch noch unabhängig voneinander und aus verschiedenem Anlass getötet haben. Wie das Ende nahelegt – es verbleiben zwei Überlebende: die beiden aus Polen angereisten Familienmitglieder – dürfte sich Kaczorowska an der Bühnenfassung von And Then There Were None orientiert haben. Überraschen mag jedoch, dass sie ausgerechnet das juristisch relevante Hauptmotiv der Vorlage, nämlich den auf Selbstjustiz beruhenden ›Prozess‹ gegen die geladenen Gäste ausklammert. Dennoch lassen einige Details ihren beruflichen Hintergrund durchscheinen: So entwirft sie die Anwaltsfigur des »Mecenas Loyal«, der den Gästen die Botschaft des abwesenden Gastgebers übermittelt, am gemeinsamen Essen aber nicht teilnehmen kann, da er angeblich die ganze Nacht über die Verteidigung eines über 70-jährigen Frauenmörders vorbereiten muss.23 Darüber hinaus lässt sie ihr Personal mit dem Verweis auf den »vermutlich nicht mehr geltenden Code civil« (im Polnischen: Kodeks Napoleona)24 scherzen oder erklärt mittels Figurenrede den Unterschied zwischen Straftat und Notwehr: Letztere sei, so klingt es wie aus einem juristischen Nachschlagewerk, »eine gerechtfertigte Handlung, die durch die Vorschriften im Strafgesetzbuch vollkommen gedeckt« werde (pl. »usprawiedlone działanie, znajduja˛ce całkowicie rozgrzeszenie w przepisach kodeksu karnego«).25 Gegen Ende des Romans sinniert der Ich-Erzähler in ähnlichem Duktus: […] i nagle przeszyła mnie gwałtowna mys´l, z˙e po odlocie Ewy ja zostane˛ jedynym podejrzanym, znajduja˛cym sie˛ w zasie˛gu karza˛cej re˛ki sprawiedliwos´ci, niezalez˙nie od tego, gdzie bym przebywał. Moja wiedza prawnicza nie pozwoliła mi utwierdzic´ sie˛ w przekonaniu, z˙e jako niebezpieczny morderca, obcia˛z˙ony tyloma zbrodniami, nie zostane˛ wydany przez polskie organy sprawiedliwos´ci władzom francuskim i osa˛dzony przed paryskim sa˛dem karnym.26 23 24 25 26

Kaczorowska, Zofia: Szalona noc w Paryz˙u. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1988, S. 34. Ebd., S. 12. Ebd., S. 144. Dt.: »[…] und plötzlich durchfuhr mich der heftige Gedanke, dass ich nach Ewas Abflug als einziger Verdächtiger in der Reichweite der strafenden Hand der Justiz sein würde, wo auch immer ich mich aufhalten würde. Mein juristisches Wissen erlaubte es mir nicht zu glauben, dass ich als gefährlicher Mörder, der mit so vielen Verbrechen belastet war, nicht von der

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Wie in der Bühnenfassung von And Then There Were None finden in Kaczorowskas Krimi übrigens keine polizeilichen Ermittlungen statt, womit sich die Autorin mit diesem Text gewissermaßen vom Milizroman emanzipiert. Ohnehin spielt nur die Rahmenhandlung in Polen; den Großteil des Romans verlegt Kaczorowska nach Frankreich, so dass sich die Frage nach Milizermittlungen gar nicht erst stellt. Genau in dem Moment, als ein Polizist im Haus erwartet wird, beginnt die Geschichte sich zudem in einen phantastisch-absurden Schluss aufzulösen: Der alte Herr hat sich für die nächsten hundert Jahre ins All abgesetzt, um langfristig seinem Tod zu entgehen, und bietet den überlebenden Verwandten an, ihm als Pflegepersonal dorthin zu folgen. Offenbar hatte er regelrecht darauf spekuliert, dass die Gäste sich untereinander töten und nur die ›Stärksten‹ ihm auf seiner Reise ins All folgen würden. Mit dem morgendlichen Erwachen des Ich-Erzählers innerhalb der Rahmenerzählung – die ganze Kriminalgeschichte war bloß ein böser Traum – entscheidet sich Kaczorowska schließlich für ein nahezu alternativloses, zugleich aber in vielerlei Hinsicht unbefriedigendes Ende ihres ansonsten durchaus ambitionierten Schauerromans.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig… Abschließend soll noch ein weiterer Text von Zofia Kaczorowska Erwähnung finden, der innerhalb ihres Gesamtwerks sowohl thematisch als auch erzähltechnisch heraussticht, nämlich der ebenfalls vom Wydawnictwo Prawnicze herausgegebene Roman Strzał na Mokotowskiej (1988; dt. Schuss auf der Mokotowska-Straße).27 Anders als die anderen Romane, die weitgehend in der späten Volksrepublik, also in Kaczorowskas Gegenwart spielen, ist dieser Roman durch zwei Zeitsprünge dreigeteilt: Der erste Teil thematisiert einen Kriminalfall und den dazugehörigen Strafprozess in den 1930er Jahren, wobei die Geschichte – wie noch zu sehen sein wird – weitgehend auf einem realen Fall beruht. Der zweite und umfangreichste Teil wiederum spielt in den 1960er Jahren und besteht aus einer fiktiven Geschichte über späte Nachforschungen zu dem inzwischen mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Fall. Ein weiterer Zeitsprung führt schließlich in die 1980er Jahre, wobei dieser Teil nur wenige Seiten umfasst. In diesem Roman erscheinen für den hier skizzierten Kontext zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: Kaczorowska zeigt zum einen ihr rechtshistorisches Interesse, indem sie sich im Text einem Gerichtsprozess der Zwischenkriegszeit polnischen Justiz an die französischen Behörden ausgeliefert und vor ein Pariser Strafgericht gestellt werden würde« (ebd., S. 152–153). 27 Kaczorowska, Zofia: Strzał na Mokotowskiej. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1988.

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zuwendet. Zum anderen stellt sie ihre Geschlechtersensibilität hinsichtlich der Justiz unter Beweis: Sie wählt als Grundlage für ihre literarische Bearbeitung einen Fall aus, in dem das Geschlecht der Angeklagten, nicht zuletzt hinsichtlich der öffentlichen Vorverurteilung, eine maßgebliche Rolle spielte. Kaczorowska stellt dem Roman die Notiz voran, dass einige der verarbeiteten Motive aus Gerichtsprozessen der Zwischenkriegszeit stammen, jedoch »[k]eine der Figuren authentisch« sei (pl. »[z˙]adna z postaci […] nie jest autentyczna«), weshalb »etwaige Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten nur auf einem Zufall« beruhen könnten (pl. »ewentualne zbiez˙nos´ci i podobien´stwa moga˛ byc´ przypadkowe«).28 Als Ausgangsmaterial für ihre Geschichte diente ihr der Fall Julia Kucharska, die 1938 ihren Bruder Zbigniew Gierszewski aus Geldgier ermordet hatte, sowie der im Frühjahr 1939 folgende Indizienprozess, über den Marek Sołtysik schreibt: W poniedziałek 17 kwietnia 1939, w szes´c´ i pół miesia˛ca po natknie˛ciu sie˛ na zwłoki architekta, rozpocza˛ł sie˛ proces poszlakowy o zamordowanie Gierszewskiego. Sa˛d Okre˛gowy w Warszawie. W sali kolumnowej dawnego Pałacu Paca, moga˛cej pomies´cic´ dwies´cie osób, znalazło sie˛ trzystu widzów. W wie˛kszos´ci kobiety, którym sie˛ z´le nie powodzi, ludzie teatru, rewii oraz – dzis´ powiedzielibys´my – celebryci.29

Damit stellte sich die Situation im Gericht diametral gegensätzlich zu der von der Bevölkerung weitgehend abgeschotteten Justiz der Volksrepublik Polen dar: Gerichtsprozesse wurden im Polen der Zwischenkriegszeit nicht selten als gesellschaftliche Ereignisse angesehen, die der Unterhaltung und der Befriedigung von Sensationslust eines größeren Publikums dienten. Es galten so gut wie keine Zugangsbeschränkungen zum Gerichtssaal, so dass nahezu jede/r Interessierte an den Verhandlungen teilnehmen konnte. Dabei übte die Öffentlichkeit mitunter großen Druck auf das Gericht aus, indem sie zu einem verfrühten Urteil drängte oder die Entscheidung der Richter anzweifelte. Eine besondere Faszination lösten Prozesse gegen weibliche Angeklagte aus, da den Frauen in der damaligen Gesellschaft gewöhnlich Eigenschaften wie Sanftmut und Feingefühl

28 Ebd., S. 3. 29 Dt.: »Am Montag, dem 17. April 1939, sechseinhalb Monate nachdem die Leiche des Architekten gefunden wurde, begann der Indizienprozess zum Mord an Gierszewski. Das Bezirksgericht in Warschau. Im Säulensaal des früheren Pac-Palastes, der Platz für zweihundert Personen bot, waren dreihundert Zuschauer anwesend. Überwiegend wohlsituierte Frauen, Leute aus dem Theatermilieu und – wie wir heute sagen würden – celebrities« (Sołtysik, Marek: S´mierc´ odsłoniła brudy (cz. 1). Mecenasostwo na ławie oskarz˙onych. In: »Palestra« 12 (2016), S. 122–128, hier S. 125. Vgl. zum Fall Julia Kucharska auch den zweiten Teil: Sołtysik, Marek: S´mierc´ odsłoniła brudy (cz. 2). Bezkres niepewnos´ci u kresu pewnos´ci. In: »Palestra« 1–2 (2017), S. 225–232.

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zugesprochen wurden und von Frauen verübte schwere Straftaten daher besonders irritierten.30 Der Prozess gegen Julia Kucharska erregte seinerzeit großes Aufsehen, und zwar nicht nur weil hier eine Brudermörderin, sondern auch noch die Ehefrau eines prominenten Rechtsanwalts auf der Anklagebank saß. Zofia Kaczorowska verarbeitet zahlreiche – wenn auch verfremdete – Details in ihrem Roman: So wird aus der Angeklagten Julia Kucharska die Protagonistin Adela Kornicka, und bei der titelgebenden »ulica Mokotowska« (Mokotower Straße) handelte es sich ursprünglich um die »ulica Lwowska« (Lemberger Straße). Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto stärker erscheint sie fiktionalisiert. Insbesondere im Urteil weicht Kaczorowska entscheidend von der realen Vorlage ab: Sie inszeniert ein (im wahren Prozess nicht erfolgtes) Todesurteil gegen Adela Kucharska und lässt die Romanfigur dessen Vollstreckung nur dadurch entkommen, dass Kucharska in der Haft schwanger wird; der Mörderin gelingt später die Flucht inmitten der Kriegswirren. Interessant erscheint bei der literarischen Darstellung des Gerichtsverfahrens, dass sie nicht nur mit Blick auf den Stoff, sondern auch in der Form von der zeitgenössischen Pitavalliteratur inspiriert ist. Nachdem die auf François Gayot de Pitaval (1673–1743) zurückgehende Tradition der literarischen Rechtsfallsammlung in Polen zunächst kaum produktiv rezipiert worden war31, entwickelte sich seit Mitte der 1950er Jahre im sozialistischen Polen eine regelrechte Mode für diese Art von true crime-Erzählbänden. Besondere Verbreitung fanden der Pitaval warszawski32 (Erstausgabe 1955; dt. Der Warschauer Pitaval) von Stanisław Szenic und der Pitaval krakowski33 (Erstausgabe 1962; dt. Der Krakauer Pitaval) des Autorentrios Stanisław Salmonowicz, Janusz Szwaja und Stanisław 30 Vgl. Płon´ska, Emilia: Głos´ne procesy kobiet w II Rzeczypospolitej – perspektywa kryminologiczna. In: »Miscellanea Historico-Iuridica« XVIII.2 (2019), S. 141–163, hier S. 142. 31 Zur Rezeption der Pitaval-Tradition in Polen: Milewski, Stanisław: Zacze˛ło sie˛ od Pitavala. In: »Palestra« 7–8 (2011), S. 203–213; Foik, Melanie: Pitaval (Polen). In: Gutmann, Thomas/ Ortland, Eberhard/Stierstorfer, Klaus (Hg.): Enzyklopädie Recht und Literatur. September 2022. URL: https://lawandliterature.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=31&catid=11 / letzter Zugriff am 11. Januar 2023; Foik, Melanie/Löhr, Kathrin: Pitaval’s Journeys. On the European Tradition of Literary Legal Case Collections. In: Kramp-Seidel, Nicola/Zander, Laura: Europe in Law and Literature. Transdisciplinary Voices in Conversation. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2023, S. 211–225. Vgl. zur klassischen Pitavalgeschichte und zur Unschärfe des Begriffs auch: Speth, Sebastian: Pitavalgeschichte. In: Gutmann, Thomas/ Ortland, Eberhard/Stierstorfer, Klaus (Hg.): Enzyklopädie Recht und Literatur. Oktober 2022. URL: https://lawandliterature.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=38&catid=11 / letzter Zugriff am 9. Februar 2023. 32 Szenic, Stanisław: Pitaval warszawski. Warszawa: Czytelnik 1955; Szenic, Stanisław: Pitaval warszawski. 2 Bde. Warszawa: Czytelnik 1957/58. 33 Salmonowicz, Stanisław/Szwaja, Janusz/Waltos´, Stanisław: Pitaval krakowski. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1962.

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Waltos´. Beide Sammlungen beinhalten historische Prozesse, beruhen weitgehend auf Gerichtsakten sowie medial vermittelten Berichten und zitieren ausführlich Zeugenaussagen, vor allem aber die Reden der Anwälte. Diese Verfahren ahmt Kaczorowska in den Ausführungen über den fiktionalisierten Gerichtsprozess nach und hebt – ähnlich wie Stanisław Szenic im Pitaval warszawski – das Theaterhafte des Gerichts der Zweiten Republik hervor. Solche Rückgriffe auf Stoff und Form der Pitavale der 1950er und 60er Jahre stellen, nebenbei bemerkt, kein singuläres Phänomen dar: Auch in der polnischen Gegenwartsliteratur, so in Drwal (2014, dt. Der Holzfäller) und Zbrodniarz i dziewczyna (2014, dt. Der Verbrecher und das Mädchen) von Michał Witkowski, lassen sich intertextuelle Bezüge dieser Art finden.34 Neben dem konkreten Fall thematisiert Kaczorowska auch weitere rechtsgeschichtliche Phänomene. Zu den wiederkehrenden Themen gehört der Polnische Ehrenkodex (der sog. Boziewicz-Kodex), den die Autorin als ein außerhalb staatlichen Rechts fungierendes Regelwerk der ›bourgeoisen‹ Zwischenkriegsgesellschaft kritisiert, weil es einige der Figuren in schwere Bedrängnis oder gar in den Suizid treibt. Allerdings nimmt Kaczorowska auch das Hauptmotiv ihrer ›Frauenkrimis‹ – die Wahl eines Lebenspartners – in diesem Roman wieder auf: Obwohl zwei halbwegs solide Juristen um die junge Ada buhlen, entscheidet sie sich für einen unsteten Bonvivant, der ihr erst das Leben zur Hölle macht, um sie dann zum Mord an ihrem Bruder anzustiften. Der literarische Prozess gegen die Protagonistin Adela Kornicka, über die im Roman ein schließlich doch nicht vollstrecktes Todesurteil verhängt wird, stellt allerdings nur den ersten Teil des Krimis dar. Ein Zeitsprung in die 1960er Jahre erzählt die fiktive Geschichte des späten Versuchs, den Fall ›wirklich‹ aufzuklären und Adela Kornicka posthum zu rehabilitieren. Ihre in Paris lebende Tochter engagiert dafür einen familiär ebenfalls in den alten Fall verstrickten Verehrer aus Warschau als Privatdetektiv, dem sie für den Erfolgsfall ewige Liebe und Dankbarkeit verspricht. Während der Ermittlungen – in der Nationalbibliothek, im Archiv Alter Akten und bei alten Prozessbeobachter:innen – kommt es auch in dieser Fortsetzung zu Todesfällen, die wiederum die volkspolnische Miliz auf den Plan rufen. Und so schließt sich auch am Ende von Strzał na Mokotowskiej der thematische Kreis von Zofia Kaczorowskas ›Frauenkrimis‹: Es geht um (unerfüllte) Liebe, gewissenlose Frauen, Warschau und Paris – und die irgendwie bloß am Rande ermittelnde Miliz.

34 Roszczynialska, Magdalena: Wzorzec pitavalu w kryminale współczesnym. Na przykładzie powies´ci »Drwal« oraz »Zbrodniarz i dziewczyna« Michała Witkowskiego. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 2: Na tropie z´ródeł. Kraków: Wydawnictwo EMG 2015, S. 99–112.

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Literatur Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalromane bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113. Christie, Agata: Dziesie˛ciu Murzynków. Übers. von R. Chrza˛stowski. Warszawa: Iskry 1960. Edigey, Jerzy: Alfabetyczny morderca. Warszawa: Iskry 1981 [dt. Übersetzung: Edigey, Jerzy: Mord nach Alphabet. Übers. von K. Kelm. Ostberlin: Das Neue Berlin 1986]. Foik, Melanie/Löhr, Kathrin: Pitaval’s Journeys. On the European Tradition of Literary Legal Case Collections. In: Kramp-Seidel, Nicola/Zander, Laura (eds.): Europe in Law and Literature. Transdisciplinary Voices in Conversation. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2023, S. 211–225. Girdwoyn´, Piotr: Kryminał jako sposób pokazywania rzeczywistos´ci prawnokarnej PRL. In: Kuisz, Jarosław/Wa˛sowicz, Marek (red.): Prawo, literatura i film w Polsce Ludowej. Warszawa: Wyd. Naukowe Scholar 2021, S. 33–62. Interview der »Trybuna Ludu« mit Jerzy Edigey-Korycki vom 12. Juni 1982. In: Edigey, Jerzy: Ławeczka oraz wywiady i wspomnienia. Warszawa: Wielki Sen 2012, S. 71–76. Jastrze˛bski, Jerzy: »Ewa wzywa 07« – 07 nie odpowiada. In: »Odra« 4 (1971), S. 41–49. Kaczorowska, Zofia: Gos´c´ z Singapuru. Warszawa: Jurysta 1989. Kaczorowska, Zofia: Podzwonne dla blondynek. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1990. Kaczorowska, Zofia: Strzał na Mokotowskiej. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1988. Kaczorowska, Zofia: Szalona noc w Paryz˙u. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1988. Kaczorowska, Zofia: Szmaragd dla Agaty. Warszawa: Iskry 1983. Łe˛towska, Ewa: O prawie w literaturze kryminalno-sensacyjnej PRL. In: Kuisz, Jarosław/ Wa˛sowicz, Marek (red.): Prawo, literatura i film w Polsce Ludowej. Warszawa: Wyd. Naukowe Scholar 2021, S. 99–119. Milewski, Stanisław: Zacze˛ło sie˛ od Pitavala. In: »Palestra« 7–8 (2011), S. 203–213. Pilarczyk, Piotr M.: [Recenzja]: Dorota Skotarczak, Otwierac´, milicja! O powies´ci kryminalnej w PRL. In: »Krakowskie Studia z Historii Pan´stwa i Prawa« 14.2 (2021), S. 276– 279. Płon´ska, Emilia: Głos´ne procesy kobiet w II Rzeczypospolitej – perspektywa kryminologiczna. In: »Miscellanea Historico-Iuridica« XVIII.2 (2019), S. 141–163. Roszczynialska, Magdalena: Wzorzec pitavalu w kryminale współczesnym. Na przykładzie powies´ci »Drwal« oraz »Zbrodniarz i dziewczyna« Michała Witkowskiego. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 2: Na tropie z´ródeł. Kraków: Wydawnictwo EMG 2015, S. 99–112. Salmonowicz, Stanisław/Szwaja, Janusz/Waltos´, Stanisław: Pitaval krakowski. Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze 1962. Skotarczak, Dorota: Otwierac´, milicja! O powies´ci kryminalnej w PRL. Szczecin/Warszawa: IPN 2019. Sołtysik, Marek: S´mierc´ odsłoniła brudy (cz. 1). Mecenasostwo na ławie oskarz˙onych. In: »Palestra« 12 (2016), S. 122–128. Sołtysik, Marek: S´mierc´ odsłoniła brudy (cz. 2). Bezkres niepewnos´ci u kresu pewnos´ci. In: »Palestra« 1–2 (2017), S. 225–232.

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Szenic, Stanisław: Pitaval warszawski. 2 Bde. Warszawa: Czytelnik 1957/58. Szenic, Stanisław: Pitaval warszawski. Warszawa: Czytelnik 1955. Walc, Krystyna: Stare kryminały. O powies´ciach Jerzego Edigeya. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 2: Na tropie z´ródeł. Kraków: Wydawnictwo EMG 2015, S. 403–424. Wale˛ciuk-Dejneka, Beata: Kobiety na tropie zbrodni: autorki i bohaterki (Joanna Szymczyk Ewa i złoty kot, Katarzyna Gacek i Agnieszka Szczepan´ska Moc i cesarzowa). In: »Prace Literaturoznawcze« 5 (2017), S. 159–168.

Internetquellen Foik, Melanie: Ermittelnde Milizionäre, ein schriftstellernder Anwalt und die Verflechtung von Politik, Recht und Literatur: Zum ›Milizroman‹ im sozialistischen Polen. In: Blog »Recht und Literatur«. Dezember 2021. URL: https://sfb1385.hypotheses.org/131 / letzter Zugriff am 9. Januar 2023. Foik, Melanie: Pitaval (Polen). In: Gutmann, Thomas/Ortland, Eberhard/Stierstorfer, Klaus (Hg.): Enzyklopädie Recht und Literatur. September 2022. URL: https://lawandli terature.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=31&catid=11 / letzter Zugriff am 11. Januar 2023. Speth, Sebastian: Pitavalgeschichte. In: Gutmann, Thomas/Ortland, Eberhard/Stierstorfer, Klaus (Hg.): Enzyklopädie Recht und Literatur. Oktober 2022. URL: https://lawandlitera ture.eu/index.php/de/inhalt?view=article&id=38&catid=11 / letzter Zugriff am 9. Februar 2023. Gedenkanzeige zum 17. und 2. Todestag für Zofia Kaczorowska und Władysław Kaczorowski. In: »Gazeta Wyborcza« vom 31. Dezember 2012. URL: https://nekrologi.wy borcza.pl/0,11,,195498,Zofia–Kaczorowska-W%C5%82adys%C5%82aw-Kaczorowskiwspomnienie.html / letzter Zugriff am 2. Februar 2023. [Kommentar von »Patryk« vom 13. November 2021]. URL: https://lubimyczytac.pl/ksiazka /177240/gosc-z-singapuru / letzter Zugriff am 5. Januar 2023.

Michael Düring (Kiel)

Der Krimi als Soziogramm. Zur Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge in den Romanen um Anna Hwierut

Der Krimi als Soziogramm Die Popularität des Krimis – und der Begriff umfasst hier das ganze Spektrum dieser Genreliteratur1 – hat verschiedene, in der Forschung vielfach thematisierte Ursachen.2 Aus positivistischer Sicht dient der Krimi als Auseinandersetzung mit der klassischen Triade von »race, moment, milieu«, die Menschen hervorbringt, die Gewalt als Ausweg aus persönlichen Notlagen sehen.3 In psychoanalytischer Hinsicht – erinnert sei hier an Sigmund Freuds klassische Studie zu Dostojewski und die Vatertötung (1927/1928)4 – illustriert der Krimi Gewalt als Resultat verdrängter Neurosen, die im Sinne einer Psychoanalyse des Autors respektive der Rezipierenden zugleich als Sublimierungsprozesse gelesen werden können; 1 Walter, Klaus-Peter: Vorwort. In: Walter, Klaus-Peter (Hg.): Reclams Krimi-Lexikon. Stuttgart: Reclam 2002, S. 7–9. Auch wenn diese Worte Klaus-Peter Walters bereits 20 Jahre alt sind, so haben sie dennoch nichts von ihrer Aktualität verloren, wie exemplarisch ein Beitrag von Mirosław Ryszkiewicz zeigt, der in drei Kapiteln seiner Monografie zum polnischen Kriminalroman nach 1989 sowohl die Rhetorik, die Position des Krimis zwischen Bodensatz und Höhenkamm als auch den postmodernen Kriminalroman thematisiert. Vgl. dazu Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka polskiej powies´ci kryminalnej po roku 1989. Preliminaria. Lublin: Wydawnictwo Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej 2021, S. 9–51; vgl. zu dieser Debatte auch Colombi, Matteo: Der ost- und ostmitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2014, S. 11–27. 2 Vgl. aus einer Vielzahl von Titeln exemplarisch etwa Vogt, Jochen: Schema und Variation. Dreizehn Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn-Verlag 2022; Borrmann, Norbert: Das Lexikon des Verbrechens: Täter, Motive, Hintergründe. Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf, 2005 (stark erweiterte und aktualisierte Neuauflage); Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2009; Herbert, Rosemary: The Oxford Companion to Crime and Mystery Writing. Oxford: Oxford University Press 1999. 3 Das philosophische Theoriemodell des Positivismus und die Geburt des Krimis fallen ja nicht zufällig zusammen – zu verweisen ist hier etwa auf die Werke Edgar A. Poes. 4 Siehe in: Freud, Sigmund: Dostojewski und die Vatertötung (1927). In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931. Hg. von Anna Freud u. a.. Frankfurt (Main): S. Fischer 1976, S. 397–418.

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Leser:innen erkennen sich in den handelnden Figuren wieder, der Autor projiziert eigene Neurosen in sie hinein. Strukturalisten wiederum können in Krimis generalisierbare gesellschaftliche Funktionsmechanismen erkennen5, während poststrukturalistische Ansätze etwa der Genderforschung ganz ausdrücklich auf die Rollen von Frauen als Täterinnen, Opfer oder Ermittelnde eingehen können.6 All diesen Ansätzen ist nun wenig überraschend gemein, dass sie stets auf die Analyse gesellschaftlicher, in den Krimis thematisierter Zusammenhänge gerichtet sind, die an bestimmten Stellen gestört werden – eben durch Verbrechen, vor allem durch Gewaltverbrechen. Eine derartige Analyse kann sich nun auf eine allen Krimis inhärente Struktur verlassen, die auf gleichbleibende, seit etwa 170 Jahren in scheinbar unendlichen Variationen durchgespielte Elemente zurückgreift7 und die den Leser:innen ein Versprechen gibt: dass am Ende der erzählten ›Geschichte‹ der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Damit dies gelingen kann – und wir alle wissen, dass Gerechtigkeit und Recht gerade etwa in Krimis der schwarzen Serie8 oft auch nicht zusammengehören, weil die Grenzen zwischen Gut und Böse vielfach verwischen –, müssen Menschen auf bestimmte Art und Weise interagieren. Stellt sich nun aber heraus, dass Interaktionen zwischen Menschen verschiedener sozialer Herkunft, politischer Einstellungen, religiöser Prägungen, verschiedener Nationalitäten oder auch unterschiedlichen Geschlechts oder Alters nicht mehr funktionieren, dann können, so zumindest die ›graue Theorie‹, Soziogramme helfen, dynamische, aber fehlgeleitete gesellschaftliche Prozesse zunächst einmal zu konstatieren, dann zu analysieren und ggf. Steuerungsprozesse zu etablieren, die, ganz im Sinne pädagogischer Ansätze sowie soziologischer Gesellschaftstheorien, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen und – wir befassen uns ja mit Krimis – der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen können (›Recht und Gerechtigkeit‹). Folgen wir makro- (Marxismus, Strukturalismus, Kritische Theorie, Systemtheorie etc.), mikro- (Konfliktsoziologie, Pragmatismus etc.), meso-Ansätzen 5 Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik des postmodernen Kriminalromans. Würzburg: Königshausen und Neumann 1999. 6 Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Tübingen: Staufenberg 2001. 7 Vgl. exemplarisch Vogt, Jochen: Schema und Variation; vgl. Schklovskij, Viktor: Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. Stuttgart: UTB 1971, S. 76–94; vgl. Van Dine, S.S.: Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: W. Fink 1971, S. 143–146. 8 Vgl. Blair, Walter: Dashiell Hammett. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: W. Fink 1971, S. 147–163; vgl. ebenfalls Chandler, Raymond: Mord ist keine Kunst. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: W. Fink 1971, S. 164–184.

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(Soziologie der Institutionen oder sozialen Gruppen) oder auch mikrosoziologischen Ansätzen, dann besteht jede Gesellschaft aus – nicht mehr, aber auch nicht weniger – heterogenen Zusammenstellungen von Individuen, die bei ›schlechter‹ Gruppierung entsprechend dysfunktional (oder gar nicht), nach Reorganisation derartiger Zusammenstellungen aber durchaus funktional interagieren können. Kurz gesagt (und ich bin mir der Gemeinplätzigkeit dieser Aussage bewusst): Gerechtigkeit gibt es in einer funktionierenden Gesellschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit als in einer dysfunktionalen.9

Vorgeschichte des polnischen Krimis im 20. Jahrhundert und gesellschaftliche Soziogramme Wir können also grundsätzlich davon ausgehen, dass es seit Beginn der Geschichte des literarischen Krimis als Massenprodukt, also seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts10, in ihm stets nicht nur darum ging, Verbrechen zu inszenieren, um sodann verschiedene Wege ihrer Aufklärung offenzulegen – auf die sich im Übrigen ja auch die Rezipierenden mit zunehmendem Enthusiasmus begaben –, sondern auch die gesellschaftlichen Umstände zu fokussieren, in denen die Ursachen von Verbrechen liegen können. Dies gilt für die frühe französischsprachige11 ebenso wie für die frühe englischsprachige Kriminalliteratur12, dann aber auch für die polnische des 20. Jahrhunderts, die in der Zwischenkriegszeit wurzelt, in der zunächst Übersetzungen westeuropäischer Muster in Zeitschriften-Fortsetzungen, aber auch in Krimiheften publiziert wurden.13 Diese waren

9 Vgl. zu diesem Themenkomplex, zu dem die Forschung sich in den letzten Jahrzehnten extrem ausdifferenziert hat, die noch immer exemplarische Studie von: Moreno, J.L.: Die Grundlagen der Soziometrie: Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrych 1996, S. 23–28, 95–121, 251–277; vgl. auch das Vorwort von Dollase, Rainer: Wege zur Überwindung der Asozialität des Menschen. In: Moreno, J.L.: Die Grundlagen der Soziometrie: Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrych 1996, S. XI–XXIX. 10 Vgl. dazu Suerbaum, Ulrich: Krimi: Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 30– 46. 11 Vgl. dazu Roudaut, Jean: Gaston Leroux im Umriß. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: W. Fink 1971, S. 98–115. 12 Suerbaum, Ulrich: Krimi, S. 50–72. 13 Die Geschichte des polnischen Krimis beginnt demnach, anders etwa als in Mitteleuropa, nicht schon im 19. Jahrhundert, sondern erst unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg mit dem Druck von Heftromanen. Diese Hefte enthielten zumeist Übersetzungen, Travestien, aber auch Plagiate populärer westeuropäischer Werke, gewöhnlich aus dem deutschen oder englischen Raum, die man für die eigene Kommunikationssituation adaptierte. So unterscheiden sich die Fortsetzungshefte, die unter dem Titel Die geheimen Abenteuer des Sherlock Holmes, des berühmten Detektivs (1907–1909) erschienen, doch grundlegend von den Werken Conan Doyles. Neben Conan Doyle werden durch Übersetzungen in Polen aber auch Gaston

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billig, vor allem für einen Massenmarkt gemacht, stellten somit aber »fremde« gesellschaftliche Zusammenhänge dar. Gleichwohl darf die Wirkung dieser Übersetzungen nicht unterschätzt werden, eröffneten sie doch polnischen Autoren wie Adam Nasielski (1911–2009)14, Antoni Marczyn´ski (1899–1968)15 und Marek Roman´ski (1906–1974)16 Publikationsmöglichkeiten. Mit diesen Autoren beginnt die Herausbildung und Ausdifferenzierung eines in der polnischen Gesellschaft angesiedelten Kriminalromans mit entsprechenden Protagonisten. So stammt der erste literarische polnische Detektiv, der größere Popularität erlangte, aus den Romanen Nasielskis. Sein Name: Bernard Z˙bik, erstmals tritt er in dem Roman Alibi. Wielka gra Bernarda Z˙bika (1933; dt. Alibi. Das große Spiel des Bernard Z˙bik) auf und ermittelte in der Zwischenkriegszeit in Warschau, Leser:innen werden so mit spezifisch polnischen Soziogrammen konfrontiert.17 Krieg, unmittelbare Nachkriegszeit und die Jahre des dogmatischen Sozrealismus von 1949–1956 waren der weiteren Entwicklung des polnischen Krimis nicht eben förderlich18, erst nach dem »Polnischen Oktober« des Jahres 1956

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Leroux, Edgar Wallace, ein wenig später dann Gilbert K. Chesterton und Agatha Christie populär. Siehe auch den Beitrag von Nikolas Buck in diesem Band. Die Romane Nasielskis waren in der Volksrepublik Polen vergessen – seit 2013 aber werden die Bände der Reihe mit Bernard Z˙bik neu aufgelegt (in der Serie »Kryminały przedwojennej Warszawy«, dt. »Krimis aus dem vorrevolutionären Warschau«). Antoni Marczyn´ski entwickelte in seinen Werken, in denen die Schemata des Kriminalromans häufig mit denen des Abenteuer- und Liebesromans verknüpft werden, die psychologisch ausdifferenzierte Figur des Warschauer Detektivs Rafael Królik (vgl. dazu Ulubienic seniorit, 1934; dt. Liebling der Senioritas). Marczyn´skis Œuvre, darunter auch zahlreiche Texte wissenschaftlicher Phantastik, verschwand, er war bereits 1938 in die USA emigriert, in den 1950er Jahren aus den polnischen Bibliotheken. Marek Roman´ski emigrierte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Argentinien, wo er als Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Auch in Roman´skis Mord na Placu Trzech Krzyz˙y (1930; dt. Mord auf dem Drei-Kreuze-Platz) rückt Warschau als Handlungsort in den Fokus. Wie die Werke Nasielskis und Marczyn´skis wurden auch die Roman´skis in der Volksrepublik Polen verdrängt, aus den Bibliotheken entfernt und unterlagen der Zensur. Seit 2015 gibt es allerdings Neuauflagen, so dass der zeitgenössische polnische Krimiboom zugleich zu einer Renaissance des verdrängten Krimis der 1930er Jahre führt. Zunächst aber erwachten in den Jahren 1945–1948 alle Formen der Vorkriegsliteratur für kurze Zeit wieder zum Leben. So gab es erneut Fortsetzungsromane in Groschenheften, es erschienen Werke neuer polnischer Autoren, die sich freilich oft hinter englisch klingenden Pseudonymen verbargen, um ihre Marktchancen zu erhöhen: Der später in Deutschland populäre Andrzej Szczypiorski etwa verfasste nach dem Krieg unter dem Pseudonym Maurice S. Andrews Krimis und siedelte die Handlung der Romane zumeist in Westeuropa an. In den Jahren des dogmatisch ausgelegten Sozialistischen Realismus verändert sich die Situation für den Krimi dann jedoch grundlegend. Die These von der von Verbrechen freien resp. befreiten sozialistischen Gesellschaft sowie die Auffassung vom bourgeoisen Inhalt der Kriminalromane führten zum fast vollständigen Absterben dieser Literaturform, u. a. auch, weil die Werke des oben erwähnten »Dreigestirns« aus den Bibliotheken und somit aus dem kulturellen Gedächtnis entfernt wurden.

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verändert sich dessen Spielraum grundlegend: Wie etwa drei Jahrzehnte zuvor werden erneut westeuropäische Texte in Polen übersetzt, vor allem die Werke Agatha Christies und George Simenons19, später dann aber auch aus der schwarzen Serie aus den USA.20 Parallel dazu, und auch in dieser Hinsicht wiederholen sich damit die Tendenzen einiger Jahrzehnte zuvor, entwickelt sich aber auch in der Volksrepublik Polen erneut eine genuin polnische Krimiszene.21 Ein erstes Beispiel dafür ist der im Jahr 1956 veröffentlichte Roman Królewna (dt. Die Prinzessin) des später als Verfasser der Detektivreihe um Kapitän Gleb populär gewordenen Andrzej Piwowarczyk (1919–1994).22 Zum vielleicht wirkmächtigsten Buch dieser Zeit wurde freilich der »Höhenkamm«-Warschau-Roman Zły (1957; dt. Der Böse) von Leopold Tyrmand23, weil in ihm nicht nur Schemata des Krimis und der gothic novel verschmelzen, sondern auch das Leben im Warschauer Untergrund der Nachkriegszeit minutiös beschrieben wird. In diesem Roman entfaltet sich vor den Augen der Leser:innen das bislang wohl detaillierteste Soziogramm der polnischen Nachkriegsgesellschaft – mit Warschau als Hauptstadt des Verbrechens.24 Die weitere Entwicklung des Krimis in der Volksrepublik verläuft sodann zweigleisig. Auf dem einen Gleis entwickelt sich der sogenannte Milizroman25, in dem Angehörige der Miliz vielfach Verbrechen aufzuklären haben, die in der Vergangenheit begangen wurden, etwa während des Zweiten Weltkriegs26, die 19 So konnte der erste Maigret-Roman (Le Revolver de Maigret; dt. Maigrets Revolver) 1959 in polnischer Sprache veröffentlicht werden, die Werke Agatha Christies waren noch 1951 aus polnischen Bibliotheken entfernt worden. 20 Dashiell Hammetts The Maltese Falcon (dt. Der Malteserfalke) erschien 1963 in Übersetzung in Warschau. 21 Brylla, Wolfgang: Verbrechen im Dienst des Sozialismus – Polnische Kriminalromane bis 1989. In: Frieß, Nina/Huber, Angela (Hg.): Investigation – Rekonstruktion – Narration. Geschichten und Geschichte im Krimi der Slavia. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2019, S. 95–113. 22 Es ist sicher kein Zufall, dass Piwowarczyk seine Karriere als Krimiautor im Jahr 1956 beginnt. 23 Vgl. Karpowicz, Agnieszka/Kubkowski, Piotr/Pessel, Włodzimierz Karol/Piotrowski, Igor: »Ceglane ciało, gore˛cy oddech«. Warszawa Leopolda Tyrmanda: Warszawa: Lampa i Iskra Boz˙a 2015, S. 4–14. 24 Dass damit auch die These vom grundsätzlichen Fehlen des Verbrechens in der sozialistischen Gesellschaft negiert wird, kann im vorliegenden Beitrag nicht weiter ausgeführt werden. 25 Vgl. Skotarczak, Dorota: Otwierac´, Milicja! O powies´ci kryminalnej w PRL. Szczecin/Warszawa: IPN 2019. 26 Dies entspricht der ideologischen Ausrichtung der Zeit, Verbrechen nicht im eigenen gesellschaftlichen System zu verorten. Ungeachtet dessen war der Milizroman von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre hinein beliebt, er erschien in der Heftreihe »Ewa wzywa 07« (dt. »Eva ruft 07«) und wurde verfilmt – worauf auch Izabela Szolc in ihrem ersten Roman um Anna Hwierut verweist: »[…] w kon´cu wszyscy z ›nowych‹ w równym stopniu wychowywali sie˛ na serialu 07 zgłos´ sie˛, co na przygodach Jamesa Bonda« (Cz, 50; »[…] schließlich waren alle ›Neuen‹ gleichermaßen mit der Serie 07, bitte melden und den Abenteuern von James Bond groß geworden« [SM, 50]; vgl. zu den Übersetzungen der hier besprochenen Romane

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aber noch Auswirkungen auf die (Erzähl-)Gegenwart der Romane haben. Auf dem anderen Gleis entwickeln sich Kriminalromane, deren Handlungen häufig in Westeuropa angesiedelt sind und sich daher auch entsprechender Namen und Realia bedienen. Der vielleicht bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der unter dem Pseudonym Joe Alex schreibende Maciej Słomczyn´ski (1920–1998), u. a. auch Übersetzer von Jonathan Swifts Gullivers Reisen, John Miltons Paradise Lost sowie einzelner Dramen Shakespeares in das Polnische, der seinem sehr individualistisch agierenden Helden, einem Schriftsteller, der die Funktion eines Detektivs hat und Verbrechen schneller aufklärt als die offiziellen Ermittler, im Übrigen sein eigenes Pseudonym verleiht.27 Auf dieses zweite Gleis gehört aber wohl auch das Schaffen Joanna Chmielewskas (d.i. Irena Barbara Kuhn, 1932– 2013), deren Romane in Warschau, wo sie lebte, aber auch im westlichen Ausland angesiedelt sind.28 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang also die in Krimis stattfindende Auseinandersetzung mit verschiedenen ideologischen Systemen, wobei dem eigenen ein in soziogrammatischer Hinsicht funktionieFußnote 36). Allerdings waren die Texte vereinzelt doch sehr didaktisierend angelegt, auf eingängige Art und Weise wurde die Miliz positiv überhöht. Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung waren Zygmunt Zeydler-Zborowski (1911–2000), der, wie übrigens auch der in der DDR populäre Jerzy Edigey (1912–1983), unter verschiedenen Pseudonymen für die Reihe »Ewa wzywa 07« schrieb. Zur Kriminalliteratur in der DDR vgl. Germer, Dorothea: Von Genossen und Gangstern: Zum Gesellschaftsbild in der Kriminalliteratur der DDR und Ostdeutschlands von 1974 bis 1998. Essen: Blaue Eule 1998; vgl. zum aktualisierten Miliz-Roman Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka, S. 153–170. 27 Die Werke Alex’ stützen sich auf das klassische, linear-regressive Detektivromanschema, dem ein interessantes Rätsel zugrunde liegt, welches in einer Art Duell zwischen Verbrecher und Detektiv gelöst werden muss. 28 Zumeist treffen wir in diesen Romanen auf eine autodiegetische Erzählerin, die zugleich auch Hobby-Detektivin ist und den Namen Joanna trägt. In Chmielewskas Romanen gibt es ebenso viel Humor wie groteske Übertreibungen und puren Nonsense, so dass sich die Autorin mit ihren Texten vom Mainstream anderer Krimiautor:innen entfernt (etwa in Krokodyl z kraju Karoliny, 1969; dt. Krokodile aus Carolinas Land; Wszystko czerwone, 1974; Alles Rot oder in Romans wszechczasów, 1975; dt. Romanze Allerzeiten). Die Untersuchungsorgane, seien sie fremd oder im eigenen Land agierend, werden hier nicht glorifiziert, gelangen meist aber zur endgültigen Klärung des Verbrechens – und nicht die Erzählerin. Die Werke Chmielewskas, in Polen wie in Russland sehr beliebt und in Millionenauflagen verkauft, wurden aber auch in den 1990er Jahren sowie zu Beginn des dritten Jahrtausends noch gern gelesen – bis zu ihrem Tod erschien seit 1990 in jedem Jahr mindestens ein neuer Roman. Ein Beispiel für einen auch in Deutschland rezipierten Roman ist Pech (2002), in deutscher Übersetzung als MordsStimmung im Jahre 2005 erschienen (zum Genre des humoristischen Krimis vgl. Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka, S. 131–152). Eine der jüngeren Autorinnen der polnischen Krimiszene scheint dieses Konzept Chmielewskas fortzusetzen: Joanna Jodełka (*1973), deren Heldin ebenfalls eine Schriftstellerin mit Namen Joanna ist (etwa in Kryminalistka (2015; dt. Die Kriminalistin) oder in Wariatka (2016; dt. Die Verrückte). Darüber hinaus gibt es natürlich auch in den Reihen der etablierten »Höhenkamm«-Schriftsteller Vertreter des Krimis – so gehört Tadeusz Konwickis Roman Nic albo nic (1971) ebenso in diese Kategorie (dt. Angst hat große Augen, 1973) wie Andrzej Stasiuks Roman Dziewie˛´c (1999; dt. Neun, 2002).

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rendes Zusammenleben attestiert wird, dem ›fremden‹ ein dysfunktionales, das Verbrechen provoziert und das eigene System bedroht. Diese Zweigleisigkeit endet mit den politischen Veränderungen des Jahres 1989, die Literaturszene in Polen – aber nicht nur dort, und das wurde bereits vielfach untersucht29 – verändert sich radikal. Es kommt zu einem sprunghaften Anstieg der Zahl von Übersetzungen westeuropäischer wie nordamerikanischer Unterhaltungsliteratur – der Krimis ja oft zu Unrecht zugerechnet werden. Dazu gehören die James Bond-Romane Ian Flemings zu Beginn der 1990er Jahre ebenso wie etwa Romane von Frederick Forsythe aus dem Bereich der political fiction, verbunden mit dem einstweiligen Verdrängen der Kriminalliteratur polnischer Herkunft, die sich nach 1995, also mit dem Ende der sogenannten »Nachholphase« nach dem Ende des Ostblocks, zum dritten Mal im 20. Jahrhundert (neu) erfindet. Prominente Beispiele dafür sind die auch in Deutschland durchaus populären Breslau-Krimis Marek Krajewskis30, Andrzej Stasiuks Roman Dziewie˛´c (1999, dt. Neun)31, aber auch Zygmunt Miłoszewskis und Mariusz Czubajs32 Krimis des 21. Jahrhunderts, letztgenannte nehmen zumeist die Hauptstadt Polens in den Blick, in der Industriebrachen, Bahnhöfe, Ruinen oder Hinterhöfe fokussiert werden, um ein spezifisches Gesellschaftsbild der späten 29 Vgl. exemplarisch Krajewski, Marek: Popular Culture in Poland. In: Trojanowska, Tamara/ Niz˙yn´ska, Joanna/ Czaplin´ski, Przemysław (eds.): Being Poland: A New History of Polish Literature and Culture since 1918. Toronto and Buffalo: University of Toronto Press 2019, S. 739–761; vgl. Czaplin´ski, Przemysław: Poruszona mapa: wyobraz´nia geograficzno-kulturowa polskiej literatury prełomu XX i XXI wieku. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2016, S. 365–376. 30 Vgl. dazu exemplarisch Smora˛g-Goldberg, Małgorzata: Die Kriminalromane von Marek Krajewski: von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2014, S. 175–191; vgl. auch Kretzschmar, Dirk: Retrokryminał – Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2014, S. 193–217; vgl. weiterhin Brylla, Wolfgang D.: Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard-Mock-Roman »Festung Breslau«. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2014, S. 219–229; vgl. zu weiteren Retro-Krimis auch Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka, S. 55–70. 31 Vgl. Kliems, Alfrun: Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung. Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau. In: Dózsai, Mónika/Kliems, Alfrun/Poláková, Darina (Hg.): Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2014, S. 239– 256; vgl. auch Pokrywka, Rafał: Andrzej Stasiuk w literackim krajobrazie Niemiec. In: RabizoBirek, Magdaleny, Zatorska, Matylda/Niezgoda, Damian (Hg.): Miejsca, ludzie, opowies´ci. O twórczos´ci Andrzeja Stasiuka. Rzeszów: Wydawnictwo Uniwersytetu Rzeszowskiego 2018, S. 259–273. 32 Vgl. Czubaj, Mariusz: Kryminał albo ´smierc´. In: Literatura popularna – powies´c´ kryminalna. Warszawa: Wydawnictwo Szkoły Wyz˙szej Psychologii Społecznej 2012, S. 5.

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1990er Jahre, das sich durch ein Jahrzehnt ungebremsten Kapitalismus grundlegend verändert hat, ebenso zu entwerfen wie Soziogramme der dann bereits »durchkapitalisierten« polnischen Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Izabela Szolc (*1978) und ihre Kommissarin Anna Hwierut Genau diese Zeit nimmt nun auch eine der jüngeren Krimiautorinnen33 der polnischen Szene in den Blick, ich spreche von der 1978 geborenen Izabela Szolc, in deren Büchern um die Ermittlerin Anna Hwierut sich einerseits eine Facette des zeitgenössischen Thrillers entfaltet, insofern neben der Jagd nach Gewalttätern zunehmend das Privatleben der Ermittlerin fokussiert, andererseits aber zugleich ein Soziogramm der polnischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts entworfen wird, das vielleicht deutlicher als wissenschaftliche/soziologische Abhandlungen (Fehl-)Entwicklungen gesellschaftlichen Zusammenlebens markiert. Die 1978 in Łódz˙ geborene Autorin Izabela Szolc gehört zu einer ganzen Reihe polnischer Krimiautorinnen, die es vor etwas mehr als einem Jahrzehnt in Polen zu einer gewissen Popularität gebracht haben.34 Kennern der Szene ist sie vermutlich eher als Verfasserin phantastischer Erzählungen sowie von Werken der Science-Fiction ein Begriff.35 Ihre beiden Warschau-Krimis um die junge Kom33 Ist der ›Frauenkrimi‹ ein Krimi von Frauen für Frauen oder nur ein Krimi, der von Frauen geschrieben ist? Benötigt der ›Frauenkrimi‹ eine Kriminalistin als Protagonistin oder dürfen auch Männer Fälle lösen? Ansatzweise finden sich diese Fragen beantwortet in Keitel, Evelyne: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998; die Studie von Postma, Heiko/Wagner, Rainer (Hg.): Galerie der Detektive. Hannover: Revonnah 1999, zeigt, dass seit Beginn der Geschichte des Krimis Grenzüberschreitungen möglich sind. 34 Vgl. die folgende Kurzbiographie auf URL: https://ksiazki.wp.pl/izabela-szolc-61501869222 81089c?ticaid=1dece / letzter Zugriff am 18. November 2022: »Izabela Szolc pochodzi z Łodzi, jednak od kilku lat mieszka w Warszawie. Wie˛kszos´c´ swojego czasu pos´wie˛ca na pisanie i czytanie. Kiedy była mała, marzyła o dalekich podróz˙ach, dzisiaj jednak najwaz˙niejszy jest ma˛z˙. Uwielbia psy i koty, w przyszłos´ci chciałaby załoz˙yc´ azyl dla zwierza˛t. Jest wegetarianka˛. Jes´li nie pochłania sałaty i nie pisze, siedzi w wannie czytaja˛c gazety i pala˛c papierosy. Wówczas rodza˛sie˛ jej literackie pomysły. Ma słabos´c´ do kosmetyków i ubran´« (»Izabela Szolc stammt aus Łódz´, lebt aber seit einigen Jahren in Warschau. Den Großteil ihrer Zeit widmet sie dem Schreiben und Lesen. Als sie jung war, träumte sie davon, weit weg zu reisen, aber heute ist ihr Mann das Wichtigste. Sie liebt Hunde und Katzen und würde in Zukunft gerne ein Tierasyl einrichten. Sie ist Vegetarierin. Wenn sie nicht gerade Salat verschlingt und schreibt, sitzt sie in der Badewanne, liest Zeitungen und raucht Zigaretten. Dabei entstehen ihre literarischen Ideen. Sie hat eine Schwäche für Kosmetik und Kleidung«; Übers. – M.D.). Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass Ryszkiewicz in seiner Monografie Szolc nicht erwähnt. 35 U. a. wurde ihre Erzählung Watykan (1997; dt. Vatikan) von Wolfgang Jeschke im Band Reptilienliebe (2001) veröffentlicht, zahlreiche ihrer Erzählungen erschienen in den Zeitschriften »Feniks«, »Nowy talisman«, »Nowa Fantastyka« und weiteren.

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missarin Anna Hwierut (Cichy zabójca, 2008; dt. Ein stiller Mörder, 2012 sowie Martwy punkt, 2010; dt. So dunkel die Nacht, 2013)36, die mit familiären Sorgen und unerfüllter Sexualität kämpft, haben sie darüber hinaus aber auch dem Krimi-Publikum bekannt werden lassen. In einem Interview aus dem Jahre 2008 hat Szolc Auskunft darüber gegeben, warum sie sich dem Genre des Krimis zuwandte: Kryminał zbliz˙a nas do odpowiedzi na dwa sakramentalne pytanie: dlaczego ludzie tworza˛? Dlaczego ludzie niszcza˛? W kaz˙dym z nas siedzi i kreator i wandal. Ten dualizm był do czegos´ potrzebny ewolucji, skoro stworzyła nasz gatunek. Oczywis´cie nigdy nie dotrzemy do samej istoty prawdy, ale dobrze chociaz˙ miec´ wraz˙enie, z˙e cos´ sie˛ robi, aby zbliz˙yc´ sie˛ do niej na odległos´c´ stadionu.37

Izabela Szolc geht also ganz offenbar dem ihrer Auffassung nach jedem Menschen innewohnenden Dualismus von Schöpfung und Zerstörung nach und erschafft damit nach dem Vorbild des »nordischen Krimis« à la Henning Mankell38 gesellschaftliche Soziogramme, in denen sie ihre Heldin Anna Hwierut als »befreite Frau« agieren lässt, die Verantwortung für ihr Handeln übernimmt und ihre Weiblichkeit nicht verliert, obwohl sie einem doch eher männlichen Beruf nachgeht. Szolc vergleicht ihre Heldin Hwierut in diesem Zusammenhang mit Nastja Kamenskaja aus den Krimis der russischen Autorin Aleksandra Marinina: »[…] obie panie komisarz sa˛ wyzwolonymi kobietami. Same o sobie stanowia˛, nie boja˛ sie˛ odpowiedzialnos´ci za własne czyny, a jednoczes´nie, mimo wykonywania me˛skiego zawodu, nie zatraciły swojej kobiecos´ci. I lubia˛ z˙ycie.«39 An 36 Zitiert nach den folgenden Originalausgaben: Szolc, Izabela: Cichy zabójca. Warszawa: Wydawnictwo Nowy S´wiat 2008 (im Fließtext unter der Sigle Cz mit Seitenangaben); Szolc, Izabela: Martwy punkt. Warszawa: Wydawnictwo Nowy S´wiat 2010 (im Fließtext unter der Sigle Mp mit Seitenangaben). Die deutschen Übersetzungen: Szolc, Izabela: Ein stiller Mörder. Münster: Prospero 2012 (Sigle SM); Szolc, Izabela: So dunkel die Nacht. Münster: Prospero 2013 (Sigle DN). Ein dritter Roman war geplant, ist – soweit bekannt – aber (noch) nicht erschienen. 37 [Jolanta S´wietlikowskas Interview mit Izabela Szolc]: Intryguje mnie ´swiat: wywiad. URL: https://web.archive.org/web/20160131095458/http://zbrodniawbibliotece.pl/pogawedki/446,i ntrygujemnieswiat / letzter Zugriff am 18. November 2022 (»Das Verbrechen bringt uns der Antwort auf zwei grundlegende Fragen näher: Warum erschaffen Menschen etwas? Warum zerstören Menschen? In jedem von uns steckt sowohl ein Schöpfer als auch ein Vandale. Diese Dualität wurde von der Evolution für irgendetwas gebraucht, denn sie hat unsere Spezies geschaffen. Natürlich werden wir nie zum Kern der Wahrheit vordringen, aber es ist zumindest gut, den Eindruck zu haben, dass etwas getan wird, um sich ihr aus der Ferne zu nähern«; (Übers. – M.D.). 38 Vgl. Walter, Klaus-Peter: Vorwort, S. 8, 289–295. 39 [Jolanta S´wietlikowskas Interview mit Izabela Szolc]: Intryguje mnie ´swiat (»[…] beide Kommissarinnen sind befreite Frauen. Sie entscheiden selbst, sie haben keine Angst, für ihr eigenes Handeln Verantwortung zu übernehmen, und gleichzeitig haben sie, obwohl sie in einem Männerberuf tätig sind, ihre Weiblichkeit nicht verloren. Und sie genießen das Leben«; Übers. – M.D.). Aleksandra Marinina findet im zweiten Roman, Martwy punkt, Erwähnung,

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dieses Zitat anknüpfend lassen sich anhand der bislang vorliegenden Romane Cichy zabójca sowie Martwy punkt verschiedene Soziogramme entwerfen. Geht man diesbezüglich deduktiv vor, so bildet die polnische Gesellschaft in ihrer hauptstädtischen, Warschauer Prägung, das erste, das Makrosoziogramm, das gewissermaßen die Rahmung für spezifische »Mikro«-Soziogramme bildet. Neben dem des Verbrechens können dies die Soziogramme der ermittelnden Beamten des Kommissariats ebenso sein wie religiöse Strukturen – hier im Falle der Oberin und des Klosters, zu dem Anna Hwierut eine spezifische Beziehung hat –, oder, und darauf soll hier der Fokus liegen, das Privatleben der Ermittlerin, in dem verschiedene Individuen ein dysfunktionales Mikrosoziogramm entstehen lassen, das als Spiegel des Makrosoziogramms der polnischen Gesellschaft der ersten Hälfte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts funktioniert. Das erste dieser Mikrosoziogramme entfaltet sich im Dreieck Anna – Kuba – Vater. Auf vielen Seiten des nicht sonderlich umfangreichen Romans Cichy zabójca – er hat nur 198 Seiten – wird ausführlich über die dysfunktionale Beziehung Annas zu ihrem pubertierenden Sohn Jakub (Kuba) berichtet, den sie allein aufgezogen hat, nachdem sie sich unmittelbar nach dessen Geburt vom Vater des Kindes getrennt hat: »– Pani Pracuje? – Tak – odpowiedziała Anna […] – Moz˙e powinnam porozmawiac´ z ojcem Kuby? – Nie utrzymujemy ze soba˛ kontaktów« (Cz, 9).40 Die (Schul-)Probleme, die Anna mit ihrem Sohn hat, verweisen aber nicht nur auf diese schwierige Mutter-Kind-Beziehung, sondern zugleich auf eine Gesellschaft, in der grundlegende Funktionsmechanismen nicht mehr greifen – der Schulalltag Kubas etwa ist geprägt von Gewalt, für die Kuba mitverantwortlich ist, sowie durch Drogen, die an der Schule gehandelt werden (vgl. Cz, 7–10). An der Figur der Kommissarin wird also exemplarisch – aber auch wenig überraschend – verdeutlicht, dass Berufliches und Familiäres nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Ganz im Sinne einer soziologisch-psychologischen Fundierung der Protagonistin wird zudem darauf verwiesen, dass Anna Hwierut selbst aus einer traumatisierten (Klein-)Familie stammt: ihre Mutter stirbt an Krebs, als sie 14 Jahre alt ist, ihr Vater wird daraufhin zum Alkoholiker, Anna selbst beginnt mit 14 Jahren »Kette« zu rauchen: »Chciałaby miec´ czternas´cie lat i popalac´ w szkolnym kiblu. Nie, nie czternas´cie. Dwanas´cie – dwa lata póz´niej paliła w szpitalnej toalecie, razem z przez˙arta˛przez

als Annas Vorgesetzter, Pietrzak, sich mit einem Buch der russischen Krimiautorin in sein Dienstzimmer zurückzieht (vgl. Mp, 43) und die Kriminalassistentin Kasia ihm, dem »männlichen Chauvinistenschwein« – »me˛ska szowinistyczna s´winia« (Mp, 114) – die Lektüre Marininas empfiehlt. 40 »›Sie sind berufstätig?‹ ›Ja‹, entgegnete Anna […]. ›Vielleicht sollte ich mal mit Kubas Vater sprechen?‹ ›Wir haben keinen Kontakt zueinander‹« (SM, 9).

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raka matka˛« (Cz, 12).41 Dass sie ungeachtet dieser Dysfunktionalitäten den Beruf einer Kommissarin ausübt, ›verdankt‹ sie ihrem Vater, der zu Volksrepublikzeiten bei der Miliz war: »– Zabiłes´ kogos´ na słuz˙bie? – zapytała, kiedy re˛ce były puste. – Nie. Ale to były inne czasy« (Mp, 1842; vgl. dazu exemplarisch zudem Mp, 17–20, 81–82). Deutlich wird auf diese Weise, dass Anna Hwierut zwar einerseits einige private Lasten mit sich herumschleppt, dass diese ihr aber auch bei der Lösung ihres Falles helfen, verfügt sie doch über für eine 32-jährige Frau beträchtliche Lebenserfahrung. Aus Anna Hwieruts persönlichem (Familien)Hintergrund lässt sich aber auch der Schluss ziehen, dass in der beschriebenen polnischen Gesellschaft der Zeit – und im Krimi gilt ja der Authentizitätsanspruch – insgesamt zahlreiche soziale Mechanismen nicht (mehr) funktionieren; zur erodierenden Schullandschaft und zunehmender Gewalt etwa kommt auch der Zerfall des Generationenzusammenhalts, wie er im Verhältnis Annas zu ihrem Vater, des Enkels zu seinen Großeltern väterlicherseits sowie im Verhältnis der Schwiegertochter zu ihren Schwiegereltern angedeutet wird: – Wiesz jakie sa˛ dzieci w tym wieku. Kuba koniecznie chciał pojechac´ do dziadka. – Tu tez˙ ma dziadka. Ostatnia sylaba poszybowała wyz˙ej do góry. – Obiecał, z˙e przyjedzie. – Nie wiem, co ci obiecał. Mys´le˛, z˙e Kuba nie czuje sie˛ najlepiej… – Rozmawiałys´my o tym. Kiedy był u nas ostatnio, nawet nie chciał ogla˛dac´ zdje˛c´ ojca! – I vice versa – za ostro, ale stało sie˛. – Krystyno, ja… – Daj spokój. Wiem, co tam sie˛ u was dzieje. Wy, policjanci w ogóle nie panujecie nad soba˛. I co to za praca dla kobiety? Masz dla Kuby czas? Serce? Bo z˙e masz bron´, to wiem na pewno… – trzask słuchawki (Cz, 78–79).43

Ein weiteres Mikrosoziogramm wird sodann hinsichtlich eines für einen Krimi nicht unbedingt üblichen, in den letzten Jahren allerdings zunehmend fokussierten Themas entfaltet, insofern Szolc sich vereinzelt ausdrücklich mit Körper 41 »Sie wünschte sich, wieder vierzehn zu sein und im Schülerklo zu rauchen. Nein, nicht vierzehn. Zwölf – zwei Jahre später hatte sie zusammen mit ihrer vom Krebs zerfressenen Mutter in der Krankenhaustoilette geraucht« (SM, 12). 42 »›Hast du im Dienst jemals jemanden getötet?‹, fragte sie, als ihre Hände wieder leer waren. ›Nein, aber das waren andere Zeiten‹« (DN, 18). 43 »›Du weißt doch, wie Kinder in seinem Alter sind. Kuba wollte unbedingt zu seinem Großvater fahren.‹ ›Hier hat er auch einen Großvater.‹ Die letzten Silben kamen eindeutig mit erhöhter Stimmlage. ›Er hat versprochen, dass er kommt.‹ ›Ich weiß nicht, was er Dir versprochen hat. Ich denke, dass Kuba sich nicht sehr wohl fühlt…‹ ›Wir haben darüber gesprochen. Als er das letzte Mal bei uns war, wollte er nicht einmal Fotos von seinem Vater ansehen!‹ ›Und umgekehrt.‹ Zu heftig, aber es war bereits geschehen. ›Krystyna, ich …‹ ›Ach, hör schon auf. Ich weiß doch, was bei euch los ist. Ihr Polizisten kennt doch überhaupt keine Selbstbeherrschung. Was ist denn das für eine Arbeit für eine Frau? Hast du etwa Zeit für Kuba? Ein Herz für ihn? Dass du eine Waffe hast, weiß ich bestimmt …‹ Der Hörer wurde hingeknallt« (SM, 79).

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und Sex(ualität) der Protagonistin befasst. Aufgrund der gescheiterten Beziehung zum Vater ihres Sohnes Kuba ist die Anna Hwierut der Diegese zunächst ein »nicht mehr berührter« Körper: »Kiedy ostatnio spała z facetem? Bóg raczy wiedziec´« (Cz, 33).44 Sie sublimiert dieses Fehlen menschlicher Nähe durch »schnellen«, aggressiven Sex, entweder mit ihrem Kollegen Wojtek Szelig (vgl. Cz, 76; 121–122), den sie aber nicht an sich binden kann respektive will und den sie später an die Pathologin Luiza verliert (vgl. Mp, 144), mit einer bewusst ausgesuchten Clubbekanntschaft – »Znalazła klub, na którego nie było stac´ z˙adnego gliniarza. Jej tez˙ nie. Mały problem, bo od razu znalazł sie˛ pote˛z˙ny czerniawy facet, który zamówił dwa drinki« (Mp, 80)45 – sowie durch Masturbation: »Walne˛ła sie˛ na łóz˙ko, az˙ zaje˛czał materac. A póz˙niej jej dłon´ powe˛drowała w dół, za gumke˛ od piz˙amy. Anna próbowała sobie wyobrazic´, z˙e te palce nalez˙a˛ do kogos´ innego niz˙ ona sama« (vgl. Cz, 56).46 Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit mündet dieses Fehlen körperlicher Nähe im zweiten Band der Reihe in regelmäßigen Besuchen bei einer Psychotherapeutin, die Anna bei der Bewältigung ihrer als »Neurosen« resp. Traumata klassifizierten »Störung« unterstützt: » – … Jest pani takim typem – cia˛gne˛ła psychiatra – z zaburzeniami konfliktowos´ci. Zamyka sie˛ pani w sobie zamiast konfrontowac´. Unika nieprzyjemnos´ci. – Przeciez˙ tu jestem – warkne˛ła Anna. To spotkanie przypominało jej deliberowanie o uwarunkowaniach wiktymologicznych« (Mp, 78–79).47 Diese Fokussierung auf das Privatleben, auf die psychische Verfasstheit der Protagonistin Anna Hwierut erscheint aber nur auf den ersten Blick unüblich, denn Izabela Szolc greift hier ein in der Krimilandschaft nicht nur seit den Romanen Henning Mankells48 vielfach exerziertes Strukturmuster des Thrillers/Krimis auf, die Ergänzung der Diegese, die sich der ›trivialen‹ Suche nach Urhebern von Verbrechen widmet, um das komplexe (Innen-)Leben der Ermittelnden, die nicht mehr als jenseits der Dysfunktionalitäten einer Gesellschaft stehende, heilsbringende Idealfiguren konzipiert sind, sondern als Projektionsfiguren eben jener Dysfunktionalitäten, die eigentlich selbst der Rettung bedürfen. Der Körperdiskurs 44 »Wann hatte sie eigentlich zuletzt mit einem Mann geschlafen?« (SM, 33); vgl. ähnlich auch Cz, 56, 76, 121–122; vgl. zu diesem Thema auch Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka, S. 243–260. 45 »Sie fand einen Nachtklub, den sich kein Bulle von seinem Gehalt leisten konnte. Sie auch nicht. Kein Problem, auf Anhieb fand sich ein großer, rotgesichtiger Kerl, der zwei Drinks bestellte« (DN, 83). 46 »Sie warf sich aufs Bett, dass die Matratze quietschte. Später wanderte ihre Hand hinunter, hinter das Gummi ihrer Pyjamahose. Anna versuchte sich vorzustellen, dass die Finger zu jemand anderem gehörten als zu ihr selbst.« (SM, 56); vgl. auch Mp, 133. 47 »›Du bist so ein Typ‹, fuhr die Psychiaterin fort, ›mit Störungen im Konfliktbereich. Du igelst dich ein, statt zu konfrontieren. Vermeidest Unannehmlichkeiten.‹ ›Aber ich bin doch hier‹, knurrte Anna. Dieses Treffen kam ihr vor wie eine Podiumsdiskussion über die Prädestination zum Opfer« (DN, 81); vgl. auch Mp, 122–123, 138–139. 48 Vgl. dazu Walter, Klaus-Peter: Vorwort, S. 8.

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in den Anna-Hwierut-Krimis fügt sich also einerseits in den Trend der ›Vermenschlichung‹ der Ermittelnden, er kann andererseits aber auch als ausdrücklicher Reflex Szolc’ auf den in zahllosen Krimis fehlenden Körperdiskurs in Bezug auf die Ermittelnden gelesen werden. Wenn in diesem Zusammenhang überdies auf die sexuellen Traumata und die daraus resultierenden Neurosen von Frauen angespielt wird, die wiederum ausstrahlen in eine Gesellschaft, in der Frauen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale extraponieren, um attraktiv zu wirken49, dann wird deutlich gemacht, in welchem Maße Männer Frauen (immer noch) auf ihren Objektstatus reduzieren und ihnen Gewalt zufügen. Wenn diesbezüglich en passant überdies darauf verwiesen wird, dass das Verbot von Abtreibungen zu Säuglingsmorden führt (vgl. Cz, 34), wird das Bild einer Gesellschaft entworfen, in der das Zusammenspiel verschiedener Mikrosoziogramme vor allem durch Dysfunktionalitäten bestimmt ist. Bei der Lektüre der Romane Szolc’ drängt sich somit der Eindruck auf, dass deren Fokus nicht vorrangig auf der Ermittlung des Verbrechens und der Überführung des Täters liegt, sondern vielmehr auf der Ausleuchtung der um das Verbrechen herum angeordneten Mikrosoziogramme, hier in Bezug auf die Position der berufstätigen Frau in einer ehemaligen Männerdomäne und in Bezug auf eine sehr spezifische, noch immer chauvinistische Rollenbilder transportierende Gesellschaft wie die polnische. In diesem Zusammenhang sind nun auch die in den Romanen um Anna Hwierut thematisierten Geschlechterverhältnisse ausdrücklich exemplarisch zu verstehen. Als zentral ist zunächst die gescheiterte Beziehung Annas zum Vater ihres Sohnes Kuba zu sehen, der sich kurz nach dessen Geburt aus dem Staub macht, weil Anna mit ihm schlafen will – »Pare˛ dni póz´niej znikna˛ł z jej z˙ycia« (Mp, 121).50 »Der junge Ehemann« (vgl. Mp, 121) bleibt im Übrigen ohne Namen, ein deutlicher Hinweis auf den sehr gründlichen Verdrängungsprozess, den Anna Hwierut in Bezug auf ihn in Gang gesetzt hat. Kubas Geburt resultiert zudem aus der Unerfahrenheit einer 19-Jährigen, die nach ihrer ersten sexuellen Erfahrung schwanger wird, weil sie ihren Zyklus nicht im Blick hatte (vgl. Mp, 121). Beziehungsprobleme gibt es aber ebenfalls, oben wurde bereits darauf verwiesen, zwischen Anna und ihrem Vater (vgl. Cz, 113–114; Mp, 81–82), die Großeltern ihres Sohnes väterlicherseits versucht sie gleichfalls aktiv aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen (vgl. Cz, 78–79; Mp, 81–82). Doch Anna ist auch nicht dazu in der Lage, zu der Pathologin Luiza oder zu der Kriminalassistentin Kasia Kozilewska, die in Martwy punkt als Protagonistin 49 In den beiden Romanen gibt es vielfach Anspielungen auf die Brüste der handelnden Frauen; vgl. etwa Cz, 33: »Załoz˙yła stanik sportowy (miała duz˙e piersi, co w tej robocie akurat nie pomagało)«; vgl. auch Mp, 154–155. 50 »Ein paar Tage später verschwand er aus ihrem Leben« (DN, 131).

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eingeführt wird, eine kollegial-professionelle Beziehung zu entwickeln, sieht sie diese doch als Konkurrentinnen – beide etwa in Bezug auf Männer, Kasia zudem in Bezug auf Karrierewege innerhalb der Kriminalpolizei. Annas Kollege Wojtek Szelig schließlich mag vielleicht als Polizist Intuition haben (vgl. Cz, 156), als Sexualpartner fügt er sich jedoch in das Klischee vom Mann, der seine Verhältnisse zu Frauen ebenso schnell beendet, wie er sie begonnen hat, insofern er nach seinem Verhältnis mit Anna eines zur Pathologin Luiza aufbaut (vgl. Mp, 90) und zugleich die Kriminalassistentin Kasia in den Blick nimmt – was vielleicht auch an ihrem durch ihre Kleidung betonten »beträchtlichen Busen« (vgl. exemplarisch Mp, 62) liegt. Die Erzählinstanz wirft in Izabela Szolc’ zweitem Roman mehrfach durchaus männlich fokussierende Blicke auf die Protagonistinnen Kasia und Anna, deren Anatomie ja bereits im ersten Roman eine Rolle spielt (vgl. Cz, 33), vielleicht, um auch auf dieser Ebene eines Mikrosoziogramms eine gewisse Dysfunktionalität in den Blickpunkt zu rücken.

Ausblick Gehen wir davon aus, dass die polnische Gesellschaft der Entstehungszeit der Romane, also etwa die Jahre 2007–2010, den Hintergrund für die fiktionale ›Wirklichkeit‹ des Romans darstellt, dann wird anhand der drei hier näher beleuchteten Mikrosoziogramme unschwer erkennbar, dass deren Nichtfunktionieren reziprok zum Makrosoziogramm steht – einerseits führt das Makrosoziogramm zu Dysfunktionalitäten in Mikrosoziogrammen, andererseits aber führen diese zu ebensolchen im ›großen Ganzen‹. Dazwischen nun eine simple Kausalität herzustellen, würde der Komplexität der Krimis um die Kommissarin Anna Hwierut allerdings nicht gerecht, denn Izabela Szolc konstruiert Kriminalfälle mit zahlreichen red herrings, also mit Verdächtigen, die alle glaubhafte Motive haben, die beschriebenen Verbrechen begangen zu haben, mit unerwarteten Volten, die Spannung evozieren und, vor allem, in einer präzisen, lakonischen, sich immer auch Substandard bedienenden Sprache, die an Texte Dorota Masłowskas ebenso erinnert wie an ›männliche‹ Texte à la Mankell oder Stasiuk. Auch wenn die dargestellten Verbrechen sich in ihrer naturalistischen Grausamkeit an einen Thrillertrend anhängen, der für zartbesaitete Gemüter nicht immer leicht zu goutieren ist, entstehen auf diese Weise gesellschaftsanalytische Krimis jenseits bloßer Effekthascherei – mit einer glaubwürdigen Protagonistin, deren Zerrissenheit in einer und Entfremdung von einer nicht mehr durchschaubaren Gesellschaft durch die dysfunktionalen Verflechtungen von Individuen in Mikrosoziogrammen plausibilisiert werden, die jede für sich einen eigenen ›Staat‹ darstellen.

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Adam Mazurkiewicz (Łódz´)

Zu Dimensionen des Spiels mit dem Feminismus in der sog. Krakauer Krimireihe von Maryla Szymiczkowa

Bei dem Autorennamen Maryla Szymiczkowa, der auf den Buchumschlägen einer ganz bestimmten Krimireihe immer wieder auftaucht, die in Krakau an der Schwelle zum 20. Jahrhundert spielt, handelt es sich um ein Konstrukt, das zum Zwecke der Romanfiktion entwickelt wurde. Die fake-Schriftstellerin Szymiczkowa erhielt sogar eine eigene Biografie inklusive familiärer Beziehungen und kultureller Vorlieben wie dem Aufsuchen der berühmten Krakauer Cafés, wo die lokale Kunstszene, Literatur- und Wissenschaftsprominenz verkehrt.1 Hinter diesem Pseudonym verstecken sich Jacek Dehnel und Piotr Tarczyn´ski, die aus ihrer Urheberschaft nie einen Hehl gemacht haben.2 Außer der Kreation einer »Quasi-Autorin«3 luden sie die Leserschaft zu einem weiteren, vielfältigeren Spiel 1 Siehe Szymiczkowa Maryla [eigentlich Dehnel, Jacek/Tarczyn´ski, Piotr]: Tajemnica Domu Helclów. Kraków: Znak 2015. Cover, S. 4. Die beiden in der Notiz erwähnten Cafés – Café Noworolski (umgangssprachlich Noworol, seit 1912) und Nowa Prowincja (seit 2004) – scheinen ebenfalls ein typischer Krakauer modus vivendi zu sein. Siehe Boz˙ek, Małgorzata: Nowa Prowincja. Tu zegary odmierzaja˛ krakowski czas. URL: https://news.krakow.pl/nowa -prowincja-tu-zegary-odmierzaja-krakowski-czas / letzter Zugriff am 27. Dezember 2021. 2 Zur rhetorischen Dimension siehe Ryszkiewicz, Mirosław: Retoryka polskiej powies´ci kryminalnej po roku 1989. Preliminaria. Lublin: Wyd. UMCS 2021, S. 204. Wojciech Szot greift das Spiel mit der Identität auf: Szot, Wojciech: [Rezension] Złoty Róg (2020). Buch der Woche – Krimiserie um Professor Szczupaczyn´ska. URL: https://www.empik.com/empikultura/ksiazka -tygodnia-seria-kryminalow-o-profesorowej-szczupaczynskiej-recenzja,115995,a?fbclid=IwA R0cggIsIQbnL6p1lMawqOCbS_IucZKCa_Jv6enlRILblhZNi7j3zEESCvw / letzter Zugriff am 8. Juli 2022. 3 Man kann sich fragen, inwieweit die von Szymiczkowa gewählten Lösungen mit denen in Kwiat ´smierci. Powies´´c kryminalna ze stosunków krakowskich w dwóch tomach (1903; dt. Die Blume des Todes. Ein zweibändiger Kriminalroman über die Krakauer Verhältnisse) von Gabriela Zapolska übereinstimmen, der durch die Bemühungen von Anna Janicka und Paulina Kowalczyk im Jahr 2015 wieder in Erinnerung gerufen wurde, in dem auch Tajemnica Domu Helclów veröffentlicht wurde. Zapolskas bedient sich konventioneller Lösungen, die für die Kriminalliteratur dieser Zeit typisch sind. Der Protagonist ist ein Mann, der mit Hilfe einer Gruppe von informellen Helfern das Rätsel um den Tod einer Frau löst. Das Krakau der damaligen Zeit, das dem Roman von Zapolska entnommen ist, wird von Männern dominiert, während Frauen – wie die Stadt selbst – den Hintergrund der Handlung bilden und die Rolle der »unterdrückten Unschuld« spielen. Die Besonderheit der Gattungsmerkmale und die

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ein, in dem den Paratexten der fiktiven Autorin Szymiczkowa eine wichtige Funktion zukommt. Der erste Band der Krimireihe unter dem Titel Tajemnica Domu Helclów (2015; dt. Das Geheimnis des Helcl-Hauses) endet mit einer neutralen »Danksagung«, in der, unter Missachtung des Pseudonyms, eine kollektive Autorenschaft heraufbeschworen wird: »Autorzy serdecznie dzie˛kuja˛« (dt. »Die Autoren bedanken sich herzlich«).4 In den weiteren Krimi-Bänden verwendet man dahingegen durchgehend die ›weibliche‹ Formulierung »Von der Autorin«. Solche bewussten Formulierungen fokussieren eindeutig das kulturelle Geschlecht (gender) und verweisen auf die Tatsache, dass Maryla Szymiczkowa ein literarisches Projekt ist. Gleichzeitig sind sie – in einer nicht-künstlerischen Dimension – als Signal und eine Art Deklaration der beiden männlichen Autoren zu deuten, die seit 2003 in einer 2018 legalisierten Partnerschaft leben. Man kann das Problem der weiblichen Autorschaft, das hier angerissen wird, jedoch auch aus einer anderen Sicht betrachten, die Aldona Kobus vorschlug, und in der die Autorschaft als patriarchalische Praxis dekonstruiert wird. Für Kobus sei die Autorin-Figur ein Paradoxon, das sich durch die Negation ihrer Weiblichkeit (als Element der Identität), der Möglichkeit der literarischen Produktion (als Element des künstlerischen Ausdrucks) und der Autorschaft selbst (als Element der kulturellen Selbstidentifikation) definieren lässt: »›Autorka‹ istniec´ nie moz˙e; moz˙na byc´ albo autorem, albo kobieta˛.«5 Maryla Szymiczkowa – als kulturelles Konstrukt begriffen – geht über die von Kobus angesprochene Dichotomie hinaus. Mehr noch: Erst in der hier skizzierten Perspektive der ›unmöglichen Autorin‹ gewinnt die von Dehnel und Tarczyn´ski gewählte literarische Gattung an Bedeutung: Elaine Showalter erklärt die Beliebtheit des Krimis/Abenteuers bei der Generation von Schriftstellerinnen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurden, mit deren transgressivem Charakter. In den Romanen von Mary Elizabeth Braddon, Ellen Wood oder Florence Verdeutlichung der Tradition, in die Zapolskas Kwiat ´smierci eingeschrieben ist, machen es unmöglich, diesen Roman aus der Perspektive eines »anthropologischen Zeugnisses« zu lesen (ein Begriff von Czubaj, Mariusz: Etnolog w Mies´cie Grzechu. Powies´c´ kryminalna jako ´swiadectwo antropologiczne. Gdan´sk: Oficynka 2010). Zu Zapolska und der Kriminalliteraturtradition siehe: Janicka, Anna: Gabriela Zapolska w kre˛gu narracji sensacyjno-kryminalnej. In: Gabriela, Zapolska: Kwiat ´smierci. Powies´c´ kryminalna ze stosunków krakowskich w dwóch tomach. Bearb. von A. Janicka und P. Kowalczyk. Białystok: Prymat 2015, S. 11–30, hier S. 24– 26. Wenn man Zapolskas Roman mehr oder weniger als Bezugspunkt ex negativo für Szymiczkowa betrachtet, ist es nicht ohne Bedeutung, dass Kwiat ´smierci ursprünglich mit einem männlichen Schriftstellerpseudonym unterzeichnet war (Walery Tornicki). Die Urheberschaft wurde jedoch bald entlarvt, was in einer satirischen Szarada obrazkowa (dt. Bildscharade) in der Krakauer Zeitschrift »Liberum Veto« 12 (1903), 1. Juli, S. 20 mündete. 4 Szymiczkowa, Maryla: Tajemnica Domu Helclów, S. 285. 5 Kobus, Aldona: Autorstwo. Urynkowienie literatury i fantazmat podmiotu autorskiego. Torun´: Wyd. UMK 2021, S. 126. Diese und folgende Übersetzungen ins Deutsche von A.M.: »Die ›Autorin‹ kann es nicht geben; man kann entweder ein Autor oder eine Frau sein.«

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Marryat komme die manifestierte Unzufriedenheit der Frauen mit der patriarchalischen Realität zum Vorschein.6 Vor diesem Hintergrund mag Hélène Cixous recht haben, die in S´miech Meduzy (dt. Das Lachen der Medusa) die wichtige Frage nicht nach dem Wer (im Sinne von ›wer schreibt?‹), sondern nach dem Was und Wie (im Sinne von ›was und wie wird es geschrieben?‹) aufwirft. Nimmt man Maryla Szymiczkowa als die Autorin wahr, lassen sich ihre Krakauer Kriminalromane mit der Protagonistin Zofia Szczupaczyn´ska als Poetik-Manifest des weiblichen Schreibens verstehen. Die gattungsentsprechende Konventionalität der Romane von Dehnel/Tarczyn´ski wäre somit als Versuch der Dekonstruktion von detektivischen Schemata zu werten, was zu guter Letzt zu einer Retro-Kritik führt: Tekst kobiecy nie moz˙e, nie moz˙e byc´ niczym innym niz˙ aktem wywrotowym: jes´li sie˛ go pisze, to tylko wylewaja˛c sie˛, jak wulkan, spod starej nieruchomej skamieliny, znosza˛cej me˛skie ataki: i nie inaczej, gdyz˙ inaczej nie ma miejsca dla niej, jes´li ona nie jest nim? A jes´li ona to ona-ona: to po to, by wszystko zmies´c´, rozbic´ na kawałki podstawy obecnych instytucji, wysadzic´ w powietrze prawo, a od »prawdy« skre˛cac´ sie˛ ze s´miechu.7

Szymiczkowas kulturelles Spiel betrifft die Dekonstruktion von Phänomenen, die sich nicht nur an der Scharnierstelle zwischen Verbrechen und Strafe, sondern auch zwischen der terminologischen Unbestimmtheit von ›weiblichen‹ und ›feministischen‹ Kriminalromanen verankern lassen (denn nicht alle ›weiblichen‹ Krimis sind automatisch ›feministische‹ Krimis). Zofia Szczupaczyn´ska verkörpert die Weiblichkeit, weil sie – ganz klischeehaft – wie eine Frau (re)agiert. Bei ihr spielt nicht die Logik, sondern die weibliche Intuition während der »Romanuntersuchung«8 eine herausragende Rolle. Dieselbe intuitive Vorgehens6 Siehe Showalter, Elaine: A Literature of Their Own. British Women Novelists from Bronte to Lessing. Princeton: Princeton University Press 1977, S. 160; Kłosin´ska, Krystyna: Kobieta autorka. In: »Teksty Drugie« 3–4 (1995), S. 87–112. 7 Cixous, Helene: S´miech Meduzy. Übers. von A. Nasiłowska. In: »Teksty Drugie« 4–6 (1993), S. 147–166, hier S. 160. Dt.: »Der Text einer Frau kann nichts anderes sein als ein Akt der Subversion: wenn er geschrieben wird, dann nur, indem er wie ein Vulkan unter dem alten, unbeweglichen Fossil hervorbricht, das die männlichen Angriffe aushält: und nicht anders, sonst gibt es für sie, wenn sie ein Er ist, keinen Platz. Und wenn sie eine Sie ist, dann um alles wegzufegen, die Fundamente der gegenwärtigen Institutionen zu zertrümmern, das Gesetz zu sprengen und die ›Wahrheit‹ lachend zu verdrehen.« 8 Repräsentativ für das hier skizzierte Stereotyp scheinen die Worte von Valeria Marrene von den Malletskis zu sein, die das soziale Bewusstsein der Epoche widerspiegeln: »Kiedy […] mówimy: me˛ski umysł […], rozumiemy pod ta˛ nazwa˛ siłe˛, logike˛, s´cisłos´c´ wywodu, które to przymioty spotykamy nierównie cze˛´sciej w me˛z˙czyznach niz˙ kobietach, u których znowu przewaz˙nie rozwinie˛ta˛ jest subtelnos´c´ i uczucie« (Malletski, Marrene v. den: Przesa˛dy w wychowania: studium pedagogiczne. Wilno 1881, S. 35). Dt.: »Wenn wir […] sagen: der männliche Verstand […], verstehen wir darunter Kraft, Logik, Exaktheit der Argumentation, welche Eigenschaften wir ungleich häufiger bei Männern als bei Frauen finden, bei denen wiederum Feinheit und Gefühl am meisten entwickelt sind.« Es ist jedoch eine andere Frage, inwieweit

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weise wird allerdings gleichzeitig, wie in einem klassischen Detektivroman, ergänzt durch akribische Ermittlungen. Szczupaczyn´skas ›Erleuchtungsmoment‹ ist immer die Folge einer kognitiven Anstrengung: W jednej chwili poczuła to, o czym czytała tylko w powies´ciach o błyskotliwych s´ledczych, którym nagle wyjas´nia sie˛ cały niemal obraz powia˛zan´ i zalez˙nos´ci. Fakty zacze˛ły sie˛ zaze˛biac´ jak koła mechanizmie, wszystko nagle miało sens, a jes´li nawet nie było wiadome, to zdradzało, gdzie szukac´.9

Das oben zitierte Fragment aus Szymiczkowas Krimidebüt macht deutlich, wie beide Autoren mit den Konventionen des ›weiblichen‹ (bzw. des Frauenkrimis) und ›feministischen‹ Krimis umgehen. Im ›weiblichen‹ Krimi wird der »Detektiv im Rock« eingeführt, im ›feministischen‹ Krimi verwandelt sich der »Detektiv im Rock« in eine Detektivin. Auf diese Weise wird eine bis dahin unsichtbare Diskursordnung innerhalb des vorherrschenden Diskurses aufgedeckt. Von Relevanz in diesem Zusammenhang ist der Rückgriff Szymiczkowas auf das narrative Modell des historischen Kriminalromans, mit dem die (geschichtliche) Handlungswelt in ihrer »Geschichte« (her-story)10 dargestellt wird. Die vom kulturellen Gedächtnis verdrängte Problematik des Frau-Seins bzw. der Weiblichkeit in der Belle Époque rahmt diesen Kontext ein. Mit anderen Worten: den Frauen (symbolisch vertreten durch Szczupaczyn´ska) wird eine Stimme verliehen. Charakteristisch für die ganze Krimireihe ist die Tatsache, dass den (romanhaften) Feminokratie-Strukturen nicht das geltende Gesetz/Recht zugrunde liegt, sondern ein informelles machtausübendes Frauen-Netzwerk: eine solche Charakterbildung von Szczupaczyn´ska als eine für das englischsprachige Schreiben von Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts charakteristische Tendenz interpretiert werden kann. Unter Berufung auf die Forschungen von Katherine Skarris weist Maria Berkan-Jabłon´ska darauf hin, dass der Erfolg weiblicher Detektive auf einer Kombination von (männlicher) Professionalität und weiblicher sozialer Sensibilität, Fähigkeiten und Kenntnissen beruht (siehe: Berkan-Jabłon´ska, Maria: Kobiecy detektyw w dziewie˛tnastowiecznych powies´ciach detektywistycznych i we współczesnych kryminałach retro autorstwa kobiet. Kilka uwag do tradycji kryminalnego pisania. In: Bartos, Ewa/Niesporek, Katarzyna (red.): Literatura popularna. Bd. 3: Kryminał. Katowice: Wyd. Uniwersytetu S´la˛skiego 2019, S. 219–236, hier S. 227). 9 Szymiczkowa, Maryla: Tajemnica Domu Helclów, S. 253. Dt.: »In einem Augenblick spürte sie, wovon sie bisher nur in Romanen über geniale Ermittler gelesen hatte, denen plötzlich fast das ganze Bild der Zusammenhänge und Abhängigkeiten erklärt wird. Fakten begannen ineinander zu greifen wie die Räder eines Mechanismus, alles machte plötzlich Sinn, und selbst wenn man es nicht wusste, zeigte es, wo man suchen musste.« 10 Die Einführung der weiblichen Perspektive als dominante Perspektive in der Wahrnehmung der dargestellten Welt wird von Kritikern – auch von Laien – hervorgehoben. Auf einer Literaturliebhaber-Website liest man: »Zamiast intryguja˛cej zagadki dostałam przydługie, nieco nudne opisy tego, jak s´wiat postrzegaja˛ bohaterki niniejszej lektury« (dt.: »Statt eines spannenden Krimis bekam ich eine langatmige, etwas langweilige Beschreibung, wie die Welt von den Heldinnen in der vorliegenden Lektüre wahrgenommen wird«). URL: https://lubimy czytac.pl/ksiazka/256834/tajemnica-domu-helclow / letzter Zugriff am 30. Oktober 2021.

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Wsze˛dzie rza˛dzili urze˛dnicy i kaz˙dy z nich miał jaka˛s´ z˙one˛, matke˛ albo córke˛, która z kolei miała przyjaciółke˛, kuzynke˛, ciotke˛, słowem: od kaz˙dej z nich wychodziła cienka niteczka, dowia˛zana do kolejnej osoby. I tak, po nitce do kłe˛bka, bliz˙ej lub dalej, dało sie˛ znalez´c´ moz˙liwos´c´ jakiejs´ protekcji.11

Der so konstruierte Mechanismus der »Frauenmacht« trägt außerdem humorvolle (oder ironische) Züge. Der temporäre Handlungsraum der Romane Szymiczkowas scheint aus der her-story-Perspektive von primärer Bedeutung zu sein.12 Das sogenannte viktorianische Zeitalter mit seinen Unterdrückungs- und Begrenzungsapparaten mit Blick auf die soziale Rolle und das gesellschaftliche Leben der Frau – bei Szymiczkowa sind es Frauen aus dem Bürgertum – erreichte in der erzählten Zeit der Kriminalromane seinen Höhepunkt.13 Gleichzeitig aber 11 Szymiczkowa, Maryla: Tajemnica Domu Helclów, S. 138. Dt.: »Überall herrschten Beamte, und jeder von ihnen hatte eine Frau, eine Mutter oder eine Tochter, die wiederum einen Freund, einen Cousin, eine Tante hatte, mit einem Wort: von jedem von ihnen ging ein dünner Faden aus, der mit dem nächsten verbunden war. Und so konnte allmählich die Möglichkeit einer Art von Protektion gefunden werden.« Dieser Ausschnitt lässt sich als ironisches Bild der Frauenherrschaft lesen, aber mit Blick auf die gesamte Krimireihe scheint dieser Interpretationsweg falsch. Vielmehr ist das hier skizzierte Bild eines weiblichen ›Schattenkabinetts‹ als Verwirklichung der These Benedict Dybowskis (O kwestii tzw. kobiecej ze stanowiska nauk przyrodniczych. Lwów: Ksie˛garnia Polska 1897, S. 26–27) von der ethischen Überlegenheit der Frauen gegenüber den Männern zu verstehen: während die Eigenschaften der egoistischen Natur hauptsächlich den Charakter der Männlichkeit tragen: »Moz˙emy […] powiedziec´, z˙e przymioty altruistycznej natury nosza˛ na sobie głównie charakter kobiecos´ci, zas´ włas´ciwos´ci egoistycznej natury maja˛przewaz˙nie ceche˛ me˛skos´ci« (dt.: »Wir können […] sagen, dass die Eigenschaften der altruistischen Natur hauptsächlich weiblich, und die der egoistischen Natur männlich sind«). 12 Neben der Zeit ist auch die Schauplatzwahl von Bedeutung. Krakau war an der Wende zum 20. Jahrhundert eine galizische Metropole mit der Ambition, mit der Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie Wien zu konkurrieren. Gleichzeitig war sie aber auch eine Provinzstadt, in der gesellschaftliche Themen, die in Europa heftig diskutiert wurden – wie der Feminismus –, ein lokales Kolorit erhielten. Wie diese Thematik rezipiert wurde, hing von der ›Krakaur Mentalität‹ ab (mit ihrem »Provinzkomplex«). 13 Auch in den annektierten polnischen Gebieten erfreute sich das viktorianische Gesellschaftsmodell gewisser Popularität (siehe Górnicka-Boratyn´ska, Aneta: Stan´my sie˛ soba˛. Cztery projekty emancypacji (1863–1939). Izabelin: Czarna Owca 2001, S. 86–87). Die Anfänge der »Anglomanie« auf dem europäischen Kontinent lassen sich bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Agata Łuksza stellt fest: »W latach siedemdziesia˛tych XIX wieku […] społeczen´stwo polskie tak w Warszawie, jak i Krakowie, spogla˛dało Ku Wielkiej Brytanii z ciekawos´cia˛ rozbudzona˛ do tego stopnia, z˙e publiczne dyskusje o ›prawdziwej‹ angielskiej naturze […] nie nalez˙ały do rzadkos´ci. Te˛ spote˛gowana˛ obecnos´c´ Wielkiej Brytanii – jako obiektu porównan´, przedmiotu refleksji, a cze˛sto wzoru do nas´ladowania dla (przyszłej) Polski – widac´ wyraz´nie« (dt.: »In den 1870er Jahren […] blickte die polnische Gesellschaft sowohl in Warschau als auch in Krakau mit einer derartigen Neugier auf Großbritannien, dass öffentliche Diskussionen über das ›wahre‹ englische Wesen […] keine Seltenheit waren. Diese verstärkte Präsenz Großbritanniens – als Vergleichsobjekt, als Gegenstand der Reflexion und oft als Vorbild für das (künftige) Polen – ist deutlich zu erkennen« (Łuksza, Agata: Transfer kultury a repertuar popularny. Przypadek londyn´skowarszawski. In: »Pamie˛tnik Teatralny« 4 (2018), S. 139–160, hier S. 143).

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fängt man an, den konservativ-männlichen Blick aufzubrechen, indem in der Debatte das emanzipatorische Potenzial des Viktorianismus betont wird.14 Die weiblichen Figuren in der Literatur des Viktorianismus analysierend, kommt Ilona Dobosiewicz zu dem Schluss, dass die Einzelfiguren vom Primat der »Neuen Frau« beeinflusst waren, die schon bei Wilkie Collins auftaucht und von hier aus eine gewisse »Ausstrahlungskraft« auf die Popkultur hatte.15 In Szymiczkowas Kriminalromanen findet man natürlich nicht das gesamte Repertoire an Eigenschaften, die der »Neuen Frau« zugeschrieben werden: Szczupaczyn´ska strebt zum Beispiel nicht nach finanzieller Unabhängigkeit. Ihre Entscheidungen fußen vielmehr auf der Kombination von Konventionen und Konventionsbrüchen. Deswegen erweist es sich als schwer, Szczupaczyn´ska ausschließlich als Figur zu definieren, die gegen die geltende Gesellschaftsnorm verstoßen würde. Die Vergangenheitswirklichkeit wird zwar bei Szymiczkowa widergespiegelt, aber nicht ohne Grund (wenn auch im Widerspruch zu den im imaginarium communis präsenten Vorstellungen) machen die Krimis auf feministische Ideale im sozialen Raum aufmerksam, die sich aus dem Gesamtkonzept der »Neuen Frau« speisen.16 Dass Szymiczkowa bzw. Dehnel/Tarczyn´ski ihr Augenmerk auf den Feminismus richteten, ist kein Zufall, denn Ende des 19. Jahrhunderts (mindestens seit den 1870er Jahren) wurde dieses Thema heftig diskutiert. Damals mussten – wie es Sławomira Walczewska hervorhebt – selbst die Gegner der Frauenemanzipation zugeben, dass die früheren Vorstellungen davon, was/wer eine Frau war, nicht mehr haltbar waren: »Dyskurs emancypacyjny wprowadził pytanie o sens bycia kobieta˛. Nie chodziło juz˙ o odpowiedz´ na pytanie, co przystoi niewies´cie, a co nie. Chodziło o problematyzacje˛ kulturowego wzorca kobiecos´ci«.17 14 Dabei ist es wichtig, zwischen den zwei Ordnungen zu unterscheiden, die damals nebeneinander bestanden: der offiziellen, die durch die Gesetzgebung und die soziale Axiologie legitimiert war, und der informellen, die durch den Pragmatismus der sozialen Interaktion bestimmt wurde. Zur Verstrickung der Frauen in beide Ordnungen siehe: GromkowskaMelosik, Agnieszka: Kobieta epoki wiktorian´skiej. Toz˙samos´c´, ciało, medykalizacja. Kraków: Oficyna Wydawnicza Impuls 2013. 15 Siehe Dobosiewicz, Ilona: Od Anioła domowego ogniska do Nowej Kobiety. Kwestia kobieca w wiktorian´skiej Anglii. In: Laszczak, Wanda/Ambroziak, Daria/Pudełko, Brygida/Wysoczan´ska-Paja˛k, Katarzyna (red.): Mie˛dzy tradycja˛ a nowoczesnos´cia˛. Toz˙samos´c´ kobiety w przestrzeni domu, w historii, kulturze i na drogach emancypacji. Opole: Wyd. Uniwersytetu Opolskiego 2014, S. 407–414, hier S. 413. 16 Diesen Umstand hat Szczupaczyn´ska Sarah Grand zu ›verdanken‹, die den Wandel in der literarischen Gestaltung von Frauenfiguren ideologisch zusammenfasst (siehe: Grand, Sarah: The New Aspect of the Woman Question. In: »The North American Review« 448 (1894), S. 270– 276). 17 Walczewska, Sławomira: Damy, rycerze i feministki. Kobiecy dyskurs emancypacyjny w Polsce. Kraków: eFKa 1999, S. 14–15. Dt.: »Der Emanzipationsdiskurs fragte nach dem Sinn des Frauseins. Es ging nicht mehr darum, die Frage zu beantworten, was sich für eine Frau eignet und was nicht. Es ging darum, das kulturelle Muster der Weiblichkeit zu problematisieren«.

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Über dieses »kulturelle Muster der Weiblichkeit«, über die Gleichstellung von Frauen in puncto Zugang zur Bildung oder zum Arbeitsmarkt, wurde auf verschiedene Art und Weise (Projekte, Manifeste, Kritiken) debattiert.18 Die Gleichberechtigungsfrage an der Schwelle zum 20. Jahrhundert war auch eine Frage nach dem moralischen Wandel der Zeit und der Gesellschaft. Als schriftliche Zeugnisse für solch eine Auseinandersetzung dienen im polnischen Sprachraum bspw. die Überlegungen von Edward Pra˛dzyn´ski (O prawach kobiet, 1875; dt. Über die Rechte der Frau) und die Enzyklika Arcanum divinae Sapientiae (1880; dt. Unergründliche Absichten der göttlichen Weisheit) von Leo XIII. Zu erwähnen sind außerdem Ludwik Krzywicki (Socjalizm i rodzina, 1884; dt. Sozialismus und Familie), Jan Jelien´skis Artikel in der Zeitschrift »Niwa«, Kazimierz Niedzielski (Słówko w sprawie feminizmu, 1904; dt. Ein Wort zum Feminismus) sowie Paulina Kuczalska-Reinschmit (Młodziez˙ z˙en´ska i sprawa kobieca, 1906; dt. Weibliche Jugend und die weibliche Frage) oder Artikel aus der Zeitschrift »Ster. Organ Równouprawnienia Kobiet« (1909; dt. »Steuer. Organ für die Gleichberechtigung der Frau«). Die Übersetzung der Abhandlung Poddan´stwo kobiet (engl. 1869, pl. 1887; dt. Die Hörigkeit der Frau) von John Stuart Mill, einem der größten Moralapostel des Positivismus, darf in diesem Kontext auch nicht übersehen Ein Beispiel dafür sind die Bemerkungen über die Bedeutung der »Frauenfrage« von Stanisław Bronikowski aus dem Jahre 1877: »W najnowszych czasach wyzwolenie, równouprawnienie, czyli tak zwana emancypacja kobiety, z˙ywo poruszyła umysły. […] Emancypacja kobiety jest faktem« (dt.: »In jüngster Zeit hat die Befreiung, die Gleichstellung oder die sogenannte Emanzipation der Frau die Gemüter erregt. […] Die Emanzipation der Frau ist eine Tatsache« (Bronikowski, Stanisław: Emancypacja. Równouprawnienie kobiety. Poznan´: J. Leitgeber 1877, S. 1–2). Bei der Suche nach ideologischen Quellen für die Frauenemanzipation in Polen wird man fündig u. a. bei Narcyza Z˙michowska, Faustyna Morzycka oder Zofia Miele˛cka (vgl. Kosmowska, Irena W: Narcyza Z˙michowska i Entuzjastki. Warszawa: Wydawnictwo Kroniki Rodzinnej 1917, S. 10). Auch Bibianna Moraczewska sympathisierte mit der Bewegung und vermerkte in ihrem Tagebuch eine Artikelserie über die Emanzipation in der Zeitung »Dziennik Domowy« (Dziennik Bibianny Moraczewskiej wydany z oryginału przez wnuczke˛ dr. Dobrzyn´ska˛-Rybicka˛. Poznan´: Franciszek Chocieszyn´ski 1911, S. 18 [Notiz vom Januar 1840]): »Mys´l niewoli kobiet i ich wyswobodzenia od wielu lat we mnie spoczywała, alem nie mys´lała, z˙eby cos´ takiego pisac´. Gdybym była zame˛z˙na˛, byłabym o wiele s´mielsza˛, ale tak, wystawie˛ sie˛ na szyderstwo, z˙e stara panna, co me˛z˙a nie moz˙e dostac´, mys´li o emancypacji« (dt.: »Der Gedanke an die Unfreiheit der Frauen und ihre Emanzipation hatte mich schon seit vielen Jahren beschäftigt, aber ich hatte nicht daran gedacht, etwas in dieser Art zu schreiben. Wäre ich verheiratet, wäre ich viel mutiger, aber ja, ich werde mich dem Spott aussetzen, dass eine alte Jungfer, die keinen Mann findet, an Emanzipation denkt«). Ihre »späten Enkelinnen« – z.B. Paulina Kuczalska-Reinschmit, Cecylia Walewska oder Iza Zielin´ska – meldeten solche Einwände nicht. 18 Siehe Górnicka-Boratyn´ska, Aneta: Wste˛p. In: Chcemy całego z˙ycia. Antologia polskich tekstów feministycznych z lat 1870–1939. Ausgewählt von A. Górnicka-Boratyn´ska. Izabelin: Czarna Owca 2018, S. 17. Gleichzeitig tauchte das Adjektiv »feministisch« laut GórnickaBoratyn´ska in der Publizistik Ende des 19. Jahrhunderts auf und wurde sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Emanzipation verwendet (ebd., S. 19).

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werden. Man lehnte das ›böse Prinzip‹ der Unterwerfung der Frau ab, die den zivilisatorischen Fortschritt behinderte, und ermöglichte somit den FeminismusBefürwortern die sozialen Rollen beider Geschlechter neu zu definieren.19 Die Frauenemanzipation als Thema tritt vor allem in Szymiczkowas Rozdarta zasłona (2016; dt. Zerrissener Vorhang) in Erscheinung. In diesem Roman werden Feminismus- und Frauenfragen sowie Fragen des Zugangs der Frauen zur Bildung (aber auch der ›männlichen‹ Reaktion auf den vonstatten gehenden moralischen Wandel) in verschiedenen Kontexten behandelt. Dies unterstreicht schon die metaphorische Dimension des Romantitels: der zerrissene Vorhang ist weit mehr als nur ein während der Presselektüre von Szczupaczyn´ska aufgesogener Satz. Im weiteren Verlauf der Handlung wird der Vorhang zu einer Metapher für die Ermittlungen und verschiedene Versuche der Ermittlungssabotage; das Zerreißen verbindet sich deshalb mit dem Fortschreiten des Ermittlungsganges. Eine metaphorische Funktion wird dem zerrissenen Vorhang ebenfalls im finalen Akt beigemessen, in dem das Zerreißen des Vorhangs eine Art Entlarvung und Enträtselung der Krakauer society ist; enthüllt werden die Fassade und die Scheinheiligkeit der städtischen Elite (der sog. inteligencja): »[Szczupaczyn´ska] rozgla˛dała sie˛ z obrzydzeniem po socjecie krakowskiej: tu lichwiarz Starzen´ski, tam małostkowy Puzyna«.20 Die hier vorgeschlagene Lesart des Romantitels erscheint umso legitimer, als das sukzessive »Zerreißen des Vorhangs« einen desillusionierenden Blick auf die Realität Krakaus zur Folge hat, die im kollektiven Gedächtnis als »Hauptstütze des Polentums« stereotypisiert und als »geistige Hauptstadt Polens« mythologisiert wurde. Szczupaczyn´skas Streifzug durch die Gassen Krakaus wird für das 19 Siehe Mill, John Stuart: Poddan´stwo kobiet. Übers. von M. Ch. [?]. Kraków: G. Gebethner 1887, S. 174–175. Mills Schlussfolgerung lauten: »Gdy rozwaz˙ymy pozytywna˛ szkode˛ wyrza˛dzona˛ połowie rodu ludzkiego przez odmówienie jej praw […] czujemy, z˙e ze wszystkich nauk potrzebnych ludziom do walki z niedaja˛cymi sie˛ unikna˛c´ przeciwnos´ciami ziemskiej ich doli, najpotrzebniejsza˛ jest ta, z˙eby […] nie powie˛kszac´ cierpien´, które juz˙ sama natura wyrza˛dza. […]. Ograniczaja˛c wolnos´c´ naszych bliz´nich […], wysuszamy pro tanto główne z´ródło szcze˛´scia ludzkiego i pozbawiamy ród nasz nieocenionych dóbr, nadaja˛cych istotna˛ wartos´c´ z˙yciu kaz˙dego człowieka« (dt.: »Wenn wir den positiven Schaden bedenken, der einer Hälfte des Menschengeschlechts durch die Verweigerung seiner Rechte zugefügt wird, […] fühlen wir, dass von allen Lehren, die die Menschen brauchen, um die unvermeidlichen Widrigkeiten ihrer irdischen Lage zu überwinden, die notwendigste diejenige ist, […] die Leiden nicht zu vergrößern, die die Natur schon selbst verursacht. […] Indem wir die Freiheit unserer Mitmenschen einschränken […], lassen wir pro tanto die Hauptquelle des menschlichen Glücks austrocknen und berauben unser Volk der unschätzbaren Güter, die dem Leben eines jeden Menschen einen wesentlichen Wert verleihen«). Hervorhebung im Original. 20 Szymiczkowa, Maryla: Rozdarta zasłona. Kraków: Znak 2016, S. 312. Dt.: »[Szczupaczyn´ska] blickte mit Abscheu auf die Krakauer Gesellschaft: hier der wucherische Starzen´ski, dort die kleinliche Puzyna.« Die im Zitat genannten Personen, die bei der Protagonistin eine solche Abscheu hervorrufen, sind Graf Edward Starzen´ski, Starost von Podgórze, und der Krakauer Bischof Kardinal Jan Puzyna.

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Autorenduo zum Vorwand, die Schattenseiten der Weichselmetropole zu illustrieren. Das Krakau-Bild der Belle Époque besteht aus solchen Puzzleteilen wie: der aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängten, aber weit verbreiteten Prostitution (vor allem von Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten), den Bordellen, dem sexuellen Missbrauch sowie rechtlichen Regelungen gegenüber den Dienstboten.21 Das idyllische Bild der kaiserlichen Provinzhauptstadt (das schon damals verspottet wurde, z. B. auf den Seiten der Lemberger Zeitschrift »Szczutek«22) wird in Szymiczkowas Krimis – hauptsächlich in Rozdarta zasłona – durch die Evokation dessen ergänzt, was aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurde und über das konventionalisierte Bild der bürgerlichen Gesinnung hinausgeht, das im Konzept der sog. dulszczyzna (dt. Scheinheiligkeit) seinen vollen Ausdruck fand. Dehnel und Tarczyn´ski erläutern ihre literarischen Ziele wie folgt: Chcielis´my przenies´c´ mit galicyjski w formie nienaruszonej, tak jak to było u Zapolskiej, u Bałuckiego. Taki Krakówek, mieszczan´stwo, pan´stwo profesorostwo, proszone obiady; nawet jes´li nawet pojawia sie˛ jakas´ zbrodnia, to w towarzystwie. Natomiast w drugiej cze˛s´ci chcielis´my te˛ Galicje˛ odbra˛zowic´. […] Bo Galicja jest widziana przez pryzmat łaskawego Najjas´niejszego Pana, którego muchy obsrały, i tych wolnos´ci politycznych, które były w Krakowie, a których nie było w innych zaborach.23

Bezeichnenderweise wird die Titelmetapher des Vorhangs von den Autoren selbst heraufbeschworen, indem sie auf die »Beschmutzung des Heiligen« (d. h. 21 Es sei daran erinnert, dass die Möglichkeit der körperlichen Bestrafung von Dienstboten in Regulamin dla ludzi słuz˙ebnych (Lwów 1865, Art. 17) vorgesehen war. Mehr dazu in: KucielFrydryszczak, Joanna: Słuz˙a˛ce do wszystkiego. Warszawa: Marginesy 2018, S. 159. 22 Siehe Skorupa, Ewa: Lwowska satyra polityczna na pia˛tkach czasopism humorystyczno-satyrycznych epoki pozytywizmu. Kraków: Universitas 1992, S. 159–169. 23 Dehnel, Jacek/Tarczyn´ski, Piotr: Gdyby pani Dulska rozwia˛zywała zagadki. Opowiadaja˛ Jacek Dehnel i Piotr Tarczyn´ski. Interview von M. Frenkiel. URL: http://ksiazki.onet.pl/gdyby-pani -dulska-rozwiazywala-zagadki-opowiadajajacek-dehnel-i-piotr-tarczynski/8egfc4 / letzter Zugriff am 2. November 2021. Dt.: »Wir wollten den galizischen Mythos in seiner unversehrten Form vermitteln, so wie er schon bei Zapolska und Bałucki zu finden war. Diese Art von Krakauchen [oder auch Klein-Krakau; die Diminutivfirm hat im Polnischen ironischabwertende Untertöne – A.M.], die Bourgeoisie, die Professorenfamilien, die Mittagessen, zu denen man einlädt; selbst wenn es ein Verbrechen gibt, geschieht es in der society. Andererseits wollten wir im zweiten Teil Galizien vom Sockel holen. […] Denn Galizien wird durch das Prisma des gnädigen Herrn gesehen, auf den die Fliegen geschissen haben, und jener politischen Freiheiten, die man in Krakau hatte, die aber in den anderen annektierten Gebieten [nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert – A.M.] fehlten«. Hervorhebung im Original. Das hier zitierte Interview erschien nach der Veröffentlichung von Rozdarta Zasłona, Spuren dieser skizzierten Strategie lassen sich aber auch in weiteren Romanen der Reihe finden: Seans w Domu Egipskim (2018; dt. Séance im Ägyptischen Haus) und Złoty Róg (2020; dt. Goldenes Horn). Im bisher letzten Roman der Reihe werden die Umstände der Entstehung und der Aufführung von Stanisław Wyspian´skis Wesele (1901; dt. Hochzeit) entmythologisiert.

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des Mythos Galizien) zu sprechen kommen: »Jak ktos´ nie chce zagla˛dac´ za rozdarta˛ zasłone˛ i woli wgapiac´ sie˛ w malowana˛ kurtyne˛ Siemiradzkiego, to trudno.«24 Auf diese Weise wird das im imaginarium communis noch lebendige Galicia felix so problematisiert, dass der ›Vorhang‹, der die Hinterbühne dieses Mythos verdeckt, heruntergerissen wird. Die emanzipatorischen Forderungen der Feministinnen kommen in Szymiczkowas Romanen vor allem in Form des Strebens der Frauen nach Selbstverwirklichung in kulturellen und sozialen Räumen zur Geltung, die bisher nur Männern vorbehalten waren. Dabei werden die Leser:innen in keinem der Szczupaczyn´ska-Romane mit Szenen konfrontiert, in denen von solchen Bestrebungen aus einer weiblichen Sicht erzählt worden wäre. Indirekt jedoch lässt sich das den Kriminalromanen implizite Emanzipationsprogramm rekonstruieren, und zwar durch die Wiedergabe der Ansichten und Positionen der Gegenseite, der Feminismus-Gegner. Pars pro toto für diese Gruppierung steht eine halb-satirische Diskussionsszene im Salon eines der Protagonisten: – Od tego zaczyna sie˛ zwyrodnienie niewiasty; kaz˙dy sie˛ przeciez˙ zgodzi, z˙e wie˛cej warta w społeczen´stwie jedna zacna matka, dobra niewiasta niz˙ mierny doktor. – Jes´li w ogóle jest dla niego miejsce – wtra˛cił którys´ z lekarzy. – S´wie˛te słowa. Zamiast rozgla˛dac´ sie˛ za praca˛, niech sie˛ niewiasta obejrzy wkoło, bo rozległe pola lez˙a˛ odłogiem, a nie sie˛ga po kawałek chleba, który trzyma w re˛ku me˛z˙czyzna. – Coraz wie˛cej milionów grosza wychodzi za granice˛ na te ich fraszki i drobiazgi, bez których z˙yc´ nie umieja˛ – perorował ktos´, unosza˛c wysoko kieliszek – na papierowe figurki, wachlarzyki, malowanki i przylepianki! Obcy odejmuja˛ nam od ust chleb, masło, mie˛so i prowadza˛ handel jak z dzikimi ludz´mi, daja˛c w zamian s´wiecidełka dla kobiet. – Ledwie sie˛ dziewczyna troche˛ czytac´ i pisac´ nauczy, juz˙ pretensje – przytakna˛ł mu Ignacy. – A co z tego, z˙e mnoz˙a˛ sie˛ talenta do pisania nowelek, kiedy zdolnych i pracowitych szwaczek i przykrawaczek trzeba szukac´ za granica˛?25 24 Ebd. Piotr Tarczyn´skis Aussage in dt. Übersetzung: »Wenn jemand nicht hinter den zerrissenen Vorhang schauen will und lieber auf den von Siemiradzki gemalten Vorhang starrt, dann ist das sein Bier.« 25 Szymiczkowa, Maryla: Rozdarta zasłona, S. 120. Dt.: »– Hier beginnt die Degeneration der Frau, denn jeder wird zustimmen, dass eine anständige Mutter, eine gute Frau, in der Gesellschaft mehr wert ist als ein mittelmäßiger Arzt. / – Wenn überhaupt noch Platz für ihn ist, warf einer der Ärzte ein. / – Heilige Worte. Anstatt sich nach Arbeit umzusehen, soll sich die Frau umsehen, denn weite Felder liegen brach, und sie greift nach dem Stück Brot, das der Mann in der Hand hält. / – Millionen und Abermillionen von Pfennigen fließen ins Ausland für ihre Schmuckstücke, ohne die sie nicht leben können – sagt jemand und hebt sein Glas hoch – für Papierfiguren, Fächer, Bilder und Aufkleber! Fremde nehmen uns Brot, Butter und Fleisch aus dem Mund und handeln mit uns wie mit Wilden und geben uns dafür Schmuck für Frauen. / – Kaum hat ein Mädchen ein bisschen lesen und schreiben gelernt, und schon gibt es Beschwerden – nickte Ignacy – Was also, wenn es eine Vielzahl von Talenten für das Schreiben

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Die von den Figuren in der fiktiven Stadtwelt geäußerten Argumente entsprechen den Beobachtungen und Forderungen der damaligen Feministinnen, die sich einerseits für Emanzipation, und andererseits für den Erhalt des traditionellen Kulturmodells einsetzten, in dem es zu einer Verknüpfung von Machtposition und wirtschaftlicher Vorherrschaft kam. Valeria Marrene von Malletsky bemerkt dazu Folgendes: Me˛z˙czyzna […] czuje sie˛ obecnym ruchem zagroz˙ony na kaz˙dym polu. Ekonomicznie le˛ka sie˛, iz˙ przybytek tylu ra˛k do pracy spowoduje ogromne obniz˙enie zarobków i podwoi trudnos´c´ jej znalezienia. Kaz˙de zniesienie anormalnych tam powoduje podobne niebezpieczen´stwo, tak jak fala sztucznie wstrzymywana, która zniósłszy zapory, powoduje szkody, dopóki nie wyz˙łobi sobie odpowiedniego łoz˙yska.26

Es ist daher kein Zufall, dass die gegen die »befreiten« Frauen erhobenen Vorwürfe verschiedene Bereiche ihres gesellschaftlichen Lebens betreffen. Gleichzeitig erweisen sie sich als anachronistisch angesichts der Veränderungsdynamik in der Sozialstruktur, die mit der Entstehung der Intelligenzschicht (der inteligencja) einhergeht, die dem verarmten Adel und assimilierten Juden entstammte.27 Die »befreiten« Frauen sind sich auch der früheren männlichen Ängste in Bezug auf die Geschlechtergleichstellung bewusst, die in den Zeitschriften Ende des 19. Jahrhunderts kolportiert wurden, insbesondere in denjenigen, die unter dem Einfluss der katholischen Kirche standen und eine konservative Weltanschauung vertraten (Beispiele aus Krakau »Czas« [dt. »Die Zeit«], »Rola« [dt. »Der Acker«], »Przegla˛d Katolicki« [dt. »Katholische Rundschau«]).28 Gleichzeitig wird die Aufrechterhaltung des status quo aber – auf der von Novellen gibt, während talentierte und fleißige Näherinnen und Schneiderinnen im Ausland gesucht werden müssen?« Die sprechenden Figuren sind ausschließlich Männer. Im kulturellen Code des viktorianischen Zeitalters war das Haus in einen ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Raum unterteilt, beide Wohnsphären ›kommunizierten‹ nicht miteinander. Diese Lösung lehnt sich an die britische Tradition der ›Geschlechtertrennung‹ an, im geteilten Polen trat sie jedoch nur eingeschränkt in Kraft (vgl. Górnicka-Boratyn´ska Aneta: Stan´my sie˛ soba˛, S. 86–87). 26 Marrene von Malletska, Waleria: Kobieta czasów współczesnych. Warszawa: M. Arct 1903, S. 84. Dt.: »Der Mann […] fühlt sich von der aktuellen Bewegung in allen Bereichen bedroht. In wirtschaftlicher Hinsicht befürchtet er, dass der Zustrom so vieler Arbeitskräfte zu einem massiven Rückgang der Löhne und zu einer Verdoppelung der Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche führen wird. Jede Abschaffung von anormalen Dämmen verursacht eine ähnliche Gefahr, wie eine künstlich zurückgehaltene Welle, die, nachdem sie die Dämme gebrochen hat, Schaden verursacht, bis sie sich einen geeigneten Graben aushöhlt.« 27 Siehe Micin´ska, Magdalena: Inteligencja na rozdroz˙ach 1864–1918. Warszawa: Neriton 2008, S. 28–30. 28 In »Rola« [dt. »Der Acker«] entwirft Jan Jelen´ski eine Vision der neuen Barbarei, die in Frankreich Einzug hielt: »Paryz˙anki ›zbudziły sie˛‹ na dobre […].Gdy awanturnice pisza˛ rozprawy konkursowe ›o cnocie‹, inne bohaterki zastrzykuja˛ sobie morfine˛ lub ka˛pia˛ sie˛ w gora˛cej krwi zwierze˛cej, a inne jeszcze strzelaja˛ z rewolwerów do me˛z˙ów i kochanków« (»Die Pariser Frauen sind endgültig ›aufgewacht‹ […]. Während die Abenteurer-Frauen Disser-

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verbalen Ebene – nicht durch die Angst vor unausweichlichen Veränderungen im Geschlechterverhältnis motiviert, sondern durch die sozial (aber auch ökonomisch) schädlichen Folgen der Emanzipation.29 Darüber hinaus werden diese Anschuldigungen durch einen eristischen Trick legitimiert, der Ähnlichkeiten mit Arthur Schopenhauers30 argumentum ad reverentiam aufweist. Es ist die Überzeugung vom Zusammenhang zwischen dem sozialen Schicksal der Frau und ihrer anatomischen Konstitution: – Postac´ me˛z˙czyzny jest wzniesiona i wypre˛z˙nie skupiona – zacza˛ł klarowac´ którys´ z anatomów – kobieca zas´ mniej równomierna, o szerokich biodrach oraz falisto wystaja˛cych wygie˛ciach piersi, brzucha i biódr. O ile postac´ me˛ska zdaje sie˛ szukac´… jak by to uja˛c´… działalnos´ci, poczuciowej działalnos´ci, o tyle kobieca łatwo wste˛puje w stan spokoju i zdaje sie˛ znajdowac´ zadowolenie w postawie nieco skierowanej ku przodowi – wygia˛ł sie˛ w tym momencie, wypychaja˛c wa˛tła˛ klatke˛ piersiowa˛ – niejako w połoz˙eniu poddania…31 tationen ›über die Tugend‹ verfassen, spritzen sich andere Heldinnen Morphium oder baden in heißem Tierblut, und wieder andere erschießen ihre Ehemänner und Liebhaber mit Revolvern« (Kamienny [eigentlich Jelen´ski, Jan]: Na posterunku. In: »Rola« 18 (1885) S. 212). Auch in rechtsorientierten Publikationen finden sich mitunter Bilder von den tragischen Folgen der Frauenemanzipation wie bei Pater Karol Niedziałkowski: »Opowiadano mi o pewnej damie z naszych stron, która była profesorem uniwersytetu na Zachodzie; gdy umarła, córka jej 15-letnia nie umiała jeszcze czytac´, a potem otwarła dom nierza˛du, syn zas´ został skoczkiem cyrkowym« (dt.: »Man erzählte mir von einer Dame aus unserer Gegend, die Professorin an einer Universität im Westen war; als sie starb, konnte ihre 15-jährige Tochter noch nicht lesen, und dann machte sie ein Haus der Unzucht auf, während ihr Sohn Zirkusspringer wurde« (Niedziałkowski, Karol: Nie te˛dy droga, Szanowne Panie! (studium o emancypacji kobiet). Warszawa: Teodor Paprocki i S-ka 1897, S. 63–64). Zur Haltung konservativer Kreise gegenüber emanzipatorischen Tendenzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Stachura-Lupa, Renata: O emancypacji ze stanowiska konserwatywnego. In: »Bibliotekarz Podlaski« 28 (2014), S. 107–120. 29 Bedeutend ist in diesem Zusammenhang die Verbalisierung der Angst eines Arztes vor dem Verlust seines Einkommens; er betrachtet sogar die Möglichkeit der Ausbildung und Ausübung seines Berufes durch eine Frau aufgrund der Tradition als einen Angriff auf seine eigenen Privilegien. Diese Befürchtungen entsprechen dem Standpunkt von Ludwik Rydygier, der in einer der vielen Fachzeitschriften geäußert wurde (Rydygier, Ludwik: W sprawie dopuszczenia kobiet do studiów lekarskich. In: »Przegla˛d Lekarski. Organ Towarzystw Lekarskich Krakowskiego i Galicyjskiego« 9 (1895), 2. März, S. 133). Der Autor schließt seine Überlegungen mit einem Appell ab: »Precz […] z Polski z dziwola˛giem kobiety-lekarza!« (dt.: »Fort […] aus Polen mit der Kuriosität ›Frau als Ärztin!‹«). 30 Siehe Se˛kowski, Piotr: Perswazja a argumentacja. Czy skutecznos´c´ argumentu idzie w parze z logiczna˛ poprawnos´cia˛? In: Burska, Katarzyna/Cies´la, Bartłomiej (red.): Kreatywnos´´c je˛zykowa w komunikowaniu (sie˛). Łódz´: Wyd. Uniwersytetu Łódzkiego 2014, S. 175–184, hier S. 180–181. 31 Szymiczkowa, Maryla: Rozdarta zasłona, S. 121. Dt.: ›Die männliche Figur ist aufrecht und schwungvoll konzentriert‹, begann ein Anatomie-Professor zu erklären, ›während die weibliche Figur weniger gleichmäßig ist, mit breiten Hüften und wellenförmig vorspringenden Kurven von Brüsten, Bauch und Hüften. Während die männliche Figur nach… wie soll man sagen… Aktivität, nach Gefühlsaktivität zu streben scheint, begibt sich die weibliche

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Die hier angedeuteten anatomischen Unterschiede werden für den Akademiker zum Ausgangspunkt, in einem von ihm repräsentierten Fachdiskurs katastrophale Visionen über die Koinzidenz zwischen weiblicher Bildung und Bevölkerungsrückgang zu spinnen. Mit einer der reductio ad absurdum unterworfenen Bildsprache diskreditiert Szymiczkowa damit die angeführten Argumente, die aus dem Blickwinkel des heutigen Betrachters als inhaltlos und wertlos erscheinen: Znaczenie ma poła˛czenie płciowos´ci z układem nerwowym – wyjas´nił anatom – a konkretnie: powia˛zanie pomie˛dzy móz˙dz˙kiem a gruczołami zarodkowymi! Kiedy u dziewczynek naszych jednostronnie nate˛z˙amy mózg, gdy w ten sposób wszystka˛ krew kierujemy do tylko jednego bieguna, jak to niestety bywa cia˛gle w obecnym wychowaniu szkolnym, wtenczas musza˛ zanikac´ czynnos´ci systemu sympatycznego, naste˛puje osłabienie działalnos´ci z˙oła˛dka – odgia˛ł jeden palec – kiszek – drugi – wa˛troby – trzeci – s´ledziony – czwarty – a zarazem tez˙ zwyrodnienie gruczołów zarodkowych, kon´cza˛ce sie˛, drogi panie kolego, bez-płod-nos´-cia˛!32

Figur bereitwillig in einen Zustand der Ruhe und scheint Befriedigung in einer etwas nach vorne gebeugten Haltung zu finden – er streckte seine zerbrechliche Brust heraus – in einer Position der Unterwerfung, sozusagen…‹ 32 Ebd., S. 121. Dt.: ›– Es geht um die Verbindung zwischen der Sexualität und dem Nervensystem – erklärt der Anatom – und zwar um die Verbindung zwischen dem Kleinhirn und den embryonalen Drüsen! Wenn das Gehirn eines Mädchens einseitig angeregt wird, wenn das ganze Blut nur auf einen Pol gerichtet ist, wie es leider in der heutigen Schulerziehung immer noch der Fall ist, muss der Sympathikus versagen, die Tätigkeit des Magens‹, er beugte einen Finger, ›des Darms – der zweite – der Leber – der dritte – der Milz – der vierte – muss beeinträchtigt werden, und gleichzeitig degenerieren die Keimdrüsen, was, lieber Kollege, in Ste-ri-li-tät endet!‹ Das hier angeführte Argument gewinnt seine Bedeutung vor allem im Kontext der damaligen Äußerungen über die Wertlosigkeit des weiblichen Schreibens. Als Beispiel für die vernichtende Kritik an schreibenden Frauen können die Worte von Adam Popławski gelten (Wiat. (eigentlich Popławski, Adam): Sztandar ze spódnicy. In: »Prawda. Tygodnik Polityczny, Literacki i Społeczny« 35 (1885), 29. August, S. 414–416): »Całe gromady ›wykształconych‹ pan´ i panienek, wyrobiwszy sobie styl na wypracowaniach pensjonarskich, na dzienniczkach lub wierszykach w albumie, pos´wie˛caja˛ swój czas (kobieta zawsze pos´wie˛ca sie˛) wzbogaceniu pis´miennictwa polskiego mnóstwem nowel, nowelek i obrazków. […] Tyle tam mys´li, ile zmies´cic´ sie˛ moz˙e w małej, ufryzowanej główce; serce słabo bije pod ciasnym gorsetem, a wszystko to wypowiedziane seplenia˛cym szczebiotem, cedzonymi przez zasznurowane wargi półsłówkami. […] Cała ta wyja˛tkowa ne˛dza literacka, to wesoło i obdarzone dobra˛ pamie˛cia˛ papuz˙ki, które cudze mys´li, cudze zdania, cudze obrazy przedrzez´niaja˛c je w swym ptasim s´wiergocie« (dt.: »Ganze Heerscharen von ›gebildeten‹ Damen und Herren, die ihren Stil in Internatsaufsätzen, Tagebüchern oder Gedichten in einem Album verfeinert haben, widmen ihre Zeit (eine Frau widmet sich immer) der Bereicherung der polnischen Schrift mit einer Vielzahl von Novellen, Novellchen und Bildern. […] So viele Gedanken dort, so viel wie in einen kleinen, haarigen Kopf passen; das Herz schlägt schwach unter dem engen Korsett, und all das wird in einem wimmernden Flüstern, in Halbwörtern, durch zusammengepresste Lippen ausgesprochen. […] All dieses außergewöhnliche literarische Elend ist ein lustiger und gut erinnerbarer Sittich, der in seinem vogelähnlichen Gezwitscher fremde Gedanken, fremde Sätze, fremde Bilder nachahmt«).

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So untergräbt die Emanzipationsbewegung die bestehende Gesellschaftsordnung und stellt eine Handlung contra natura dar. Einer der Diskussionsteilnehmer erklärt: – Niektórzy tegoczes´ni pracuja˛ cia˛gle nad tym, aby zatrzec´ naturalne róz˙nice mie˛dzy płciami i zaprowadzic´ ich bezwzgle˛dne zrównanie! Czy moz˙na sobie wyobrazic´ wie˛ksza˛ niedorzecznos´c´? Przeciez˙ nawet w ciele widac´ zupełnie inne przeznaczone nam zadania!33

Was in den hier zitierten Passagen auffällt, ist die fehlende Bezugnahme auf den Aspekt der ›politischen Gleichheit‹, die, nach June Hannam, als Thema in der westeuropäischen (ursprünglich französischen) Debatte des späten 19. Jahrhunderts auftaucht.34 Diese Verschiebung des zentralen Schwerpunkts ist höchstwahrscheinlich als Folge der ›sozialen Zensureinrichtungen‹ zu verstehen: sowohl von der Hauptfigur als auch ihrer Umgebung. Die Frauenfiguren aus der Krakauer Krimireihe vertreten eine Lebenshaltung, die Iza Zielin´ska als bürgerliche Philanthropie bezeichnet: »Nie spieszy [ona] nigdy z pomoca˛ tam, gdzie nie widzi własnego interesu lub zaspokojenia swej próz˙nos´ci.«35 Dieses »Eigeninteresse« (pl. »własny interes«) war mehr oder weniger konstitutiv für die Herausbildung der sozialen Hierarchie in der Krakauer Gesellschaft.36 Somit treten auch Fragen nach der politischen Freiheit, die die emanzipierten Frauen um die Jahrhundertwende beschäftigten37, in Szymiczkowas Romanen in den 33 Szymiczkowa, Maryla: Rozdarta zasłona, S. 120–121. Dt.: »Einige Menschen unserer Zeit arbeiten ständig daran, die natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beseitigen und ihre absolute Gleichstellung zu erreichen! Kann man sich eine größere Absurdität vorstellen? Schließlich können wir schon am eigenen Leib sehen, welche ganz anderen Aufgaben für uns vorgesehen sind!« Diese Worte lassen sich als ein Echo verstehen auf die Ratschläge von Hofmanowa-Tan´ska, Klementyna: Wybór dzieł Klementyny z Tan´skich Hofmanowej. Wydanie jubileuszowe. Bd. V: Pamia˛tki po dobrej matce. Bearb. von P. Chmielowski. Kraków: Czytelnia Polska 1898, S. 19. 34 Siehe Hannam, June: Feminizm. Übers. von A. Kaflin´ska. Poznan´: Zysk i S-ka 2010, S. 18–19. Historisch gesehen war Hubertine Auclert (1848–1914), eine Verfechterin des Frauenwahlrechts, die erste, die sich als Feministin bezeichnete. 35 Zielin´ska, Iza: Ze sprawy kobiecych we Francji. In: »Prawda. Tygodnik Polityczny, Społeczny i Literacki« 3 (1903), S. 30. Dt.: »Sie eilt nie zu Hilfe, wo sie nicht ihr eigenes Interesse oder die Befriedigung ihrer Eitelkeit sieht.« 36 Die Ursache für das Fehlen von Postulaten zur Beteiligung von Frauen am politischen Leben und der Feminismusbewegung liegt auch in der geopolitischen Situation des geteilten Polens sowie in der Sozialrolle der polnischen Frau als Mutter, die für die Aufrechterhaltung der nationalen Traditionen verantwortlich ist. Diesem Mythos mussten die Suffragetten entgegentreten (und ihn überwinden), um das familiäre und gesellschaftliche Machtgleichgewicht zu verändern (siehe Pekaniec, Anna: Obecne, niewidoczne? Starsze kobiety w autobiografiach. In: Sugiera, Małgorzata (red.): Dramat i dramatyzacje w XVIII i XIX wieku. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2014, S. 271–292, hier S. 273). 37 Sikorska-Kowalska, Marta: Warunki rozwoju polskiego feminizmu na przełomie XIX i XX wieku. In: »Fabrica Societatis« 2 (2019), S. 143–159. Das Verhältnis »Emanzipationsbewegung vs. Unabhängigkeitsfragen« wird von Magdalena S´roda (Wszystkich prac! Całego z˙ycia! In: S´roda, Magdalena: Chcemy całego z˙ycia. Antologia polskich tekstów feministycznych z lat

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Hintergrund. Was sich in der Realität des Krakauer Bürgertums viel wichtiger als diese Fragen erweist, ist der Kampf um das ›Regiment der Seelen‹. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen Szczupaczyn´skas, Kontrolle über eines der philanthropischen Komitees zu übernehmen. Wie ernst sie diese Rivalität nimmt, zeigt sich an den Beschimpfungen, mit denen Szczupaczyn´ska ihre besser qualifizierte Konkurrentin im »philanthropischen Rennen« überzog: »Nienasycona! Messalina [sic!] dobroczynnos´ci, Jezabel ruchu spółdzielczego.«38 Wohl auch deshalb erregt die Gründung eines Frauengymnasiums bei einem der Protagonisten Unmut; es handelt sich um eine gegen die gesellschaftliche Ordnung gerichtete Initiative, an der sich hochangesehene Mitglieder der Krakauer inteligencja beteiligen: Inaugurowano włas´nie pierwsze w Krakowie gimnazjum z˙en´skie, załoz˙one staraniem obojga Bujwidów, Napoleona Cybulskiego, dziekana Wydziału Lekarskiego, i je˛zykoznawcy Bronisława Trzaskowskiego, który miał w nowej szkole dyrektorowac´. Gdybyz˙ jeszcze zrobiły to jakies´ szalone emancypantki, jacys´ wieczni studenci […] Ale az˙ trzech profesorów Uniwersytetu, ludzi dostojnych, piastuja˛cych stanowiska, maja˛cych własny dorobek?39

Charakteristisch für diese engstirnige Mentalität ist die Position Szczupaczyn´skas, die keine Gegnerin der Emanzipation ist, und gleichzeitig sich als eine vorbildliche Krakauer Bürgerin betrachtet. Szczupaczyn´ska vereint die Rolle der Ehefrau und der »befreiten« Frau. Ihre Haltung zum Feminismus lässt sich als

1870–1939. Warszawa: Czarna Owca, S. 8–19, hier S. 11) noch deutlicher formuliert: »Specyfika˛ polskich ruchów emancypacyjnych jest ich narodowy charakter. […] ›Najpierw niepodległos´c´‹, ›najpierwsza ojczyzna‹ – hasła te towarzyszyły wszystkim niemal ruchom, debatom i inicjatywom. Walka o prawa kobiet miała słuz˙yc´ wzmocnieniu potencjału narodowego« (dt.: »Die Besonderheit der polnischen Emanzipationsbewegungen ist ihr nationaler Charakter. […] ›Unabhängigkeit zuerst‹, ›Heimat zuerst‹ – diese Slogans begleiteten fast alle Bewegungen, Debatten und Initiativen. Der Kampf für die Rechte der Frauen sollte das nationale Potenzial stärken«). 38 Szymiczkowa, Maryla: Tajemnica Domu Helclów, S. 20. Dt.: »Unersättliche! Messalina [sic!] der Wohltätigkeit, Isebel der Genossenschaftsbewegung.« Mit Messalina und Isebel, die zum Paradebeispiel für ›schlechtes‹ Verhalten wurden, wird Szczupaczyn´skas Auffassung von der ›unmoralischen‹ Frauenbewegung bekräftigt. 39 Szymiczkowa, Maryla: Rozdarta zasłona, S. 163. Dt.: »Soeben wurde das erste Frauengymnasium in Krakau eingeweiht, das dank der Bemühungen der beiden Bujwidas, Napoleon Cybulski, Dekan der Medizinischen Fakultät, und des Linguisten Bronisław Trzaskowski, der die neue Schule leiten sollte, gegründet wurde. Wenn es doch nur ein paar verrückte Suffragetten, ein paar ewige Studenten gewesen wären […]. Aber gleich drei Universitätsprofessoren, würdige Personen, die ein Amt bekleiden und eigene Leistungen vorweisen können.«

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›fluid‹ einstufen, zumal sie von persönlichen Ressentiments und Ambitionen geprägt ist. *** Die Kombination von detektivischer Handlung und kritischem (manchmal sogar abrechnendem) Blick auf die Probleme der Zeit, in der die erzählte Geschichte spielt, macht es unmöglich, sie auf eine naive (und oberflächliche) Weise zu lesen, zumal sie sich sowohl von konventionellen Lösungsangeboten distanziert als auch das Dunkle und Idyllische der Vergangenheit betont. In der Retro-Kultur kristallisiert sich infolge dessen ein Phänomen, das Patrycja Włodek als »retrokritisch« bezeichnet. Dehnels/Tarczyn´skis Erzählstrategie führt zur Relegation einer einseitigen Perspektive auf die Vergangenheit, die bei vielen Autor:innen des Retro-Krimis (und im weiteren Sinne des historischen Krimis) dominiert. Den Geschichtsbildern mit ihren dunklen Seiten der Vergangenheit und der Konzentration auf die Aufdeckung kulturell verdrängter Aspekte des soziopolitischen Lebens resp. ihrer »Verklärung«40 setzt das critical retro eine selbstbewusste Betrachtungsweise des Vergangenen entgegen, in der sich postmoderne Ironie mit Nostalgie verbinden. Für die Gegenwartsleser:innen emblematisch wichtige Themenkomplexe werden somit in eine bestimme historische Realität zurück verschoben. Der Stilisierung zu einer bestimmten Epoche (im Falle Szymiczkowas: Belle Époque) liegt also nicht nur – und nicht in erster Linie – eine fetischistische Dimension zugrunde. Denn es geht vielmehr um die Selbstreflexion über die Möglichkeiten (aber auch die Grenzen) der Nachbildung solcher Wirklichkeit in den Augen der jeweiligen Leser:innen, die in den Prozess einer mentalen Immersion eintauchen können.41 40 Die erste der hier genannten Strategien, die in Marek Krajewskis S´mierc´ w Breslau (1999; dt. Tod in Breslau) ihren Ausgang nahm, ist in der Retro-Krimi-Strömung vorherrschend. Beispiele dafür sind der Menschenhandel durch die Organisation Cwi Migdal in Marcin Wron´skis Kino Venus (2011) oder die Darstellung der antisemitischen Grundstimmung 1882 im Lutcza, die in Adam We˛głowskis Przypadek Ritterów (2012; dt. Der Fall Ritter) veranschaulicht wird. Der zweite Trend im Bereich der Retro-Krimis wird durch eine Romanreihe (2007–2015) von Konrad T. Lewandowski repräsentiert, die in der Zwischenkriegszeit spielt. Sie ist der Perspektive eines nostalgischen Blicks auf die Zeit untergeordnet und drückt sich in Ausgestaltung konventioneller Figuren aus. 41 Jolanta Jasielec (Tajemnice XIX wiecznego Krakowa. Rozwaz˙ania nad kryminałami osadzonymi w czasach Galicji w konteks´cie komunikacji literackiej. In: We˛cławiak, Alicja (red.): Współczesne wymiary komunikacji. Mie˛dzy teoria˛ i praktyka˛. Poznan´: Europejskie Stowarzyszenie Kulturoznawcze 2018, S. 275–300, hier S. 294) kommt in ihrer Analyse zur Kommunikativität des Retro-Krimis, der im historischen Galizien spielt, zu einem Schluss, der weder überzeugt noch wissenschaftlich haltbar ist: »Kod uz˙ywany przez pisarzy w kryminałach retro w wie˛kszos´ci przypadków moz˙e nastre˛czac´ trudnos´ci młodziez˙y, dlatego komunikacja ta ma niewielkie szanse powodzenia« (dt.: »Der Code, den die Autoren der

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Die selbstreflexive Dimension der »Retro-Kritik« zeichnet sich nach Włodek durch das prothetische Gedächtnis aus: Pamie˛c´ protetyczna ma po prostu nakłaniac´ do empatii z innymi grupami, do uwzgle˛dniania cudzego punktu widzenia poprzez odwołania do przez˙yc´ i traum o charakterze grupowym, odkrywanych w ramach konstruowania kontrpamie˛ci kontestuja˛cej ba˛dz´ poszerzaja˛cej narracje˛ dominuja˛ca˛.42

Das critical retro ist demzufolge nicht als eine sensationelle »Momentaufnahme der Vergangenheit« aufzufassen, die in der außenliterarischen Wirklichkeit funktionslos bleibt. Auch die Krakau-Krimis von Szymiczkowa/Dehnel und Tarczyn´ski lassen sich aus der retro-kritischen Sicht lesen, die auf Abstand zur Geschichte geht und auf die Nichtoffensichtlichkeit des dominanten gesellschaftlichen Diskurses pocht. Die figurative Fassadenwelt bzw. die Wertefassade wird durch die (dargestellte) Geschichte entmystifiziert, die akzeptierten Verhaltensnormen schließen mit den eigenen Entscheidungsnormen einen (axiologischen) ›Kompromiss‹. Vor diesem Hintergrund entpuppen sich Szymiczkowas Kriminalromane einerseits als ein Gegen-den-Strom-Schwimmen mit Blick auf die Subgattung des immer noch erfolgreichen Retro-Krimis, dessen Möglichkeitsrepertoire scheinbar ausgeschöpft ist, andererseits als (Neu)Schaffung bzw. Neukonstruktion einer alten historischen, im kulturellen Gedächtnis verankerten Vergangenheit. Nicht das Vergangene rückt in den Fokus, sondern der Mehrwert des Vergangenen oder der Vergangenheit(en).43 Darüber hinaus gewinnt in solcher Perspektivänderung auch die Kategorie des Spiels an Bedeutung. Durch das camp-Kriterium als kultureller Bezugspunkt wird bei Szymiczkowa ein bestimmtes Transgressionslevel erreicht. Die moderne

Retro-Krimis verwenden, dürfte vor allem Jugendlichen Schwierigkeiten bereiten, und daher hat diese Kommunikation wenig Aussicht auf Erfolg«). 42 Włodek, Patrycja: Kres niewinnos´ci. Obraz i upamie˛tnienie ery Eisenhowera w amerykan´skich filmach i serialach – pomie˛dzy reprezentacja˛, nostalgia˛ a krytycznym retro. Kraków: Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Pedagogicznego im. Komisji Edukacji Narodowej 2018, S. 227. Das prothetische Gedächtnis dient lediglich dazu, Empathie mit anderen Gruppen zu wecken, die Sichtweise eines anderen durch Verweise auf Erfahrungen und Traumata gruppenbezogener Art zu berücksichtigen, die im Rahmen der Konstruktion einer Gegenerinnerung entdeckt werden, die die vorherrschende Erzählung anfechtet oder erweitert. Das von Włodek diskutierte Verfahren erlaubt es, das Erinnerungspotenzial in einer kritischen Haltung gegenüber einer neu definierten Vergangenheit zu sehen. Vgl. Szczekała, Barbara: Nie tylko nostalgia. Fenomen retro krytycznego. In: Major, Małgorzata/Włodek, Patrycja (red.): Pomie˛dzy retro a retromania˛. Gdan´sk: Katedra 2018, S. 255–280. 43 Siehe Ross, Andrew: Uses of Camp. In: Bergman, David (ed.): Camp Grounds. Style and Homosexuality, Amherst: University of Massachusetts Press 1993, S. 54–77, hier 67 (»Camp, in this respect is more than just a remembrance of things past, it is the re-creation of surplus value from forgotten forms of labor«).

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camp-Ästhetik versucht im Pool von vielen, oft widersprüchlichen Strömungen44 und unabhängig von den zur Anwendung gekommenen Darstellungsstrategien45, die einzelnen Kategorien zu verwischen und somit die bestehenden Grenzen zu hinterfragen.46 Das camp-Spiel mit seiner ostentativ zur Schau gestellten, sich in übertriebenen Details ausdrückenden Künstlichkeit, führt zur Verrätselung (und Verschachtelung) der Hyperrealität der dargestellten Welt. Es scheint unmöglich zu sein, das camp aufgrund seiner Übertreibungskunst als Referenzsignal für die Visualisierung des (stereotypisierten) späten 19. Jahrhunderts zu betrachten – selbst wenn man solche Modifizierungsversuche wie die TV- oder Streamingproduktionen Belle Epoque (eine Staffel, 2017) oder Charité (drei Staffeln, 2017– 2021) oder das Steampunk-Paradigma mit berücksichtigt (Janusz Wyrzykowskis, Tobiasz Pia˛tkowskis und Krzysztof Janicz’ Comic Warszawski pacjent [dt. Warschauer Patient], 2007). Bezeichnenderweise geht das in den Krakauer Krimis Szymiczkowas betriebene Spiel mit der Identität über die künstlerische Gestaltung der dargestellten Welt hinaus. Dies hängt mit der Dualität der Autorenschaft von Szymiczkowa/Dehnel und Tarczyn´ski zusammen und – resultierend aus der bereits erwähnten, nicht-künstlerischen Erfahrung der Leser:innen – dem Wissen um die geschlechtliche Verstrickung beider Autoren.

44 Die Koexistenz verschiedener Ordnungen stellt die bipolare Aufteilung der Kategorien in Frage, die aus der aristotelischen (aber auch euklidischen) Tradition stammt und – wie Chris Jenks hervorhebt – durch die Implikationen vermittelt wird, die sich aus den naturalistischen Erkenntnissen des Darwinismus ergeben (siehe: Jenks, Chris: Transgression. London/New York: Routledge 2003, S. 13 (»In opposition to the well-established Aristotelian canon of binary logic, Darwin, writing in the nineteenth century, gave thesis to the possibility that the distinction between A and not-A is not an absolute categorical differentiation but an evolution of difference«). 45 Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Dehnels vom Dandyismus inspiriertem Panästhetizismus und Michał Witkowskis Provokationen, die er selbst als »Übertreibung«, d. h. eine extraverbal artikulierte Selbstdeklaration des Geschlechts, definiert (Witkowski, Michał: Lubiewo bez cenzury. Warszawa: S´wiat Ksia˛z˙ki 2012, S. 264): »Przegie˛cie – zespół zachowan´ – moz˙e to byc´ mimika, gesty, intonacja, chód – po którym moz˙na rozpoznac´, z˙e ktos´ jest homoseksualista˛, cze˛sto idzie w parze ze zniewies´cieniem. ›Przegia˛c´ sie˛‹ znaczy tyle, co celowo zaakcentowac´ te cechy« (dt.: »Übertreibung – eine Reihe von Verhaltensweisen – es kann Mimik, Gestik, Intonation, Gangart sein – an denen man erkennt, dass jemand homosexuell ist, geht oft mit Effemination Hand in Hand. ›Übertreiben‹ bedeutet so viel wie die bewusste Hervorhebung dieser Merkmale«). 46 Siehe Jervis, John: Transgressing the Modern: Explorations in the Western Experience of Otherness. Oxford, Massachusetts: Wiley-Blackwell 1999, S. 4: »Transgressions […] the mixing of categories and the questioning of the boundaries that separate categories«). Unter Bezugnahme auf die mathematisch-philosophische Verschiebung in der Interpretation der Realität kann das klassische Modell, das auf der Achtung des aristotelischen Prinzips des Widerspruchs beruht, durch eine unscharfe Logik ersetzt werden, die Werte außerhalb der Dichotomie zulässt (siehe Łukasiewicz, Jan: O zasadzie sprzecznos´ci u Arystotelesa. Kraków: Akademia Umieje˛tnos´ci 1910).

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So stößt die Krakauer Krimireihe, ohne ihren literarischen Charakter zu verlieren, gleichzeitig eine Gesellschaftsdiagnose und Analyse der Mechanismen an, die für die Rekonstruktion gesellschaftlicher Vergangenheitsbilder im historischen Kriminalroman verantwortlich zeichnen, um – wie vom kritischen Retro gefordert – die Kehrseite der monokausalen Vergangenheitsbetrachtung offenzulegen.

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Adam Mazurkiewicz

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Zu Dimensionen des Spiels mit dem Feminismus in der sog. Krakauer Krimireihe

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Melanie Wigbers (Heidelberg) / Bettina Wild (Mainz)

»Neugierig wie eine Katze war sie«. Deutschsprachige historische Kriminalromane mit Frauen als Ermittlerfiguren

Frauen, die in vergangenen Zeiten rätselhaften Verbrechen auf der Spur sind, die sich um ihre Aufdeckung bemühen, unschuldige Verdächtige zu schützen versuchen und schließlich die Rätsel lösen können, sind kriminalliterarisch keine neue Erfindung. Im Jahr 1819 erschien E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi, in der dieses Experiment bereits erprobt wird. In einem bereits für Hoffmann historischen Setting macht die Künstlerin Magdaleine von Scuderi es sich zur Aufgabe, eine mysteriöse Mordserie aufzuklären, was ihr durch ihr Umfeld erschwert wird. Die Stadt Paris unter Ludwig dem XIV. ist geprägt durch Aberglauben, und das Rechtssystem verbreitet mit Drohungen und Folter Angst und Schrecken. Niemand möchte ins Räderwerk dieser Justiz geraten; Menschen, die etwas wissen und aussagen könnten, schweigen aus Angst. Das Fräulein von Scuderi behält die Nerven. Fest daran glaubend, dass es für die Verbrechen eine andere als die offensichtlich scheinende Erklärung geben muss und dass es sich lohnt, sie zu finden, gelingt es ihr, andere Figuren zum Reden zu bringen. Mit den so gewonnenen Informationen geht sie taktisch und strategisch um und bewahrt damit einen Unschuldigen vor Folter und Tod.1 Betrachtet man die unterhaltende Kriminalliteratur der Gegenwart, so wird deutlich, dass eine Grundidee E.T.A. Hoffmanns sich offenbar als ergiebig erwiesen hat und bis in die modernen Krimis hinein weiterlebt. Ein geschichtliches Setting wird entwickelt und eine Frauenfigur als Protagonistin aufgebaut, die trotz der Bedrohung für sich selbst – denn auf ein Vertrauen erweckendes Rechtssystem kann sie sich nicht verlassen – ein Verbrechen aufklärt. Historische Kriminalromane mit weiblichen Ermittlerfiguren bilden eine Subform des Krimi-Genres, die schon wegen ihrer Beliebtheit eine genauere Betrachtung lohnt.

1 Vgl. z. B. Alewyn, Richard: Ursprung des Detektivromans. In: Alewyn, Richard (Hg.): Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1982, S. 341–360, hier S. 351–353; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 33, 39.

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Diese Subform zu untersuchen, ihre Machart als kriminalliterarische Texte und insbesondere die Gestaltung ihrer weiblichen Hauptfigur zu analysieren, ist das Anliegen dieses Beitrags. Dafür werden aus dem Spektrum aktueller Kriminalliteratur mit historischer Verortung exemplarisch die jeweils ersten Bände einer Dialogie und zweier Serien in den Blick genommen: Ulrike Schweikerts Die Tochter des Salzsieders (2000), Andrea Schachts Der dunkle Spiegel (2003) und Astrid Fritz’ Das Aschenkreuz (2013).2 Alle Romane lassen sich als MittelalterKrimis bezeichnen.3 Dies begünstigt zum einen die Vergleichbarkeit der drei Texte, zum anderen lässt sich die These aufstellen, dass das Mittelalter eine besonders attraktive historische Phase als Background für einen Kriminalroman bildet; steht doch die Justiz dieser Zeit zum Bemühen um eine rationale Verbrechensaufklärung in einem deutlichen Kontrast.

Ulrike Schweikert: Die Tochter des Salzsieders Zum Setting »Anstelle eines Vorworts« (TS, 7) findet sich in dem Roman ein ca. zwei Buchseiten langer Abschnitt, der die nachfolgende Krimihandlung räumlich und historisch verankert. Informiert wird in einer Art Sachtext über Schwäbisch Hall, die Entwicklung der Salzsiederei und die Gesellschaft der Stadt bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, wo die Geschichte spielt. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Tochter einer wohlhabenden Salzsiederfamilie, welche die detektivische Instanz abgibt. Die innerfamiliären Beziehungen werden genau beleuchtet und am Ende stellt ein Mitglied der Familie die Täterin dar. Der gesamte Roman ist somit stark eingebunden in das Milieu der Salzsieder und die damit verbundenen Strukturen und Arbeitsprozesse im historischen Schwäbisch Hall. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Darstellung ist der historisch belegte zunehmende Verlust des Adels an Einfluss und der Kampf Adliger und Bürgerlicher um Vormachtstellungen.

2 Verwendete Ausgaben: Schweikert, Ulrike: Die Tochter des Salzsieders. München: Knaur 2000. Im Fließtext unter der Sigle TS mit Seitenangaben; Schacht, Andrea: Der dunkle Spiegel. München: Blanvalet 2020. Im Fließtext unter der Sigle DS mit Seitenangaben. Fritz, Astrid: Das Aschenkreuz. Reinbek: rororo 2013. Im Fließtext unter der Sigle AK mit Seitenangaben. 3 Historisch auf einer Epochengrenze liegt der am Anfang des 16. Jahrhunderts verortete Kriminalroman Ulrike Schweikerts, da dieser Zeitraum üblicherweise als Übergang zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit gesehen wird. Laut Homepage der Autorin thematisiert der Roman das »mittelalterliche Leben einer deutschen Stadt« (URL: https://ulrike-schwei kert.de/die-tochter-des-salzsieders / letzter Zugriff am 19. Januar 2023).

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Die im Roman präsentierten öffentlichen Orte innerhalb der Stadt sind wiederholt Räumlichkeiten der Strafverfolgung und -vollstreckung. So wird der Bruder der Hauptfigur Anne Katharina wegen Trunkenheit und einer Rauferei im Gerberturm interniert, Anne Katharina selbst landet gegen Ende des Romans im Sulferturm. Am Marktplatz in der Nähe der St.-Michaels-Kirche befindet sich der Pranger, der schon im zweiten Kapitel als Ort der Strafe und Demütigung eingeführt wird. Obwohl Schwäbisch Hall zur dargestellten Zeit nicht mit einer Großstadt nach heutigem Maßstab vergleichbar ist, teilt der Roman sein Setting betreffend einige Charakteristika mit dem (vor allem amerikanischen) Großstadtkrimi.4 Wie in diesem sind Verbrechen und Gefahr keine Ausnahme-Erscheinungen, sondern allgegenwärtig. Gewalt auf den Straßen und die Möglichkeit, überfallen zu werden, scheinen für die Figuren bekannt und selbstverständlich; ebenso die Bedrohung für Leib und Leben, die von der Justiz ausgeht. In dieser Umgebung erscheint die weibliche Hauptfigur permanent als physisch gefährdet, ebenfalls ein Merkmal, das typisch für die amerikanischen Großstadtdetektive der hardboiled school ist.5 Anne Katharina wird davor gewarnt, allein unterwegs zu sein, und tatsächlich wird sie während ihrer Recherchen in der Stadt bedroht und tätlich angegangen. Auch die Familie der Hauptfigur ist kein Sicherheit spendender Hafen in diesem räumlichen und historischen Setting, vielmehr fungiert sie ebenfalls als Ort der Bedrohung und beherbergt, wie sich am Ende herausstellt, die Mörderin.

Der Krimi-Plot In Die Tochter des Salzsieders kommt es nicht zu einem einzelnen Verbrechen, sondern es geschieht eine ganze Serie an Morden und weiteren Straftaten. Auslösend für die späteren Morde ist die Vertauschung zweier Säuglinge, eines Jungen und eines Mädchens, und die Ermordung des Mädchens, wobei entscheidend ist, dass die Täterin einen Sohn, nicht eine Tochter haben möchte. Davon verspricht sie sich Ruhe vor ihrem Mann, der auf einen Sohn wartet und sie, wenn ein solcher geboren wird, vielleicht nicht weiter rücksichtslos sexuell angehen wird. Die Ermordung des Mädchens wird täterinnenseitig mit dem elenden Leben begründet, das dieses anderenfalls vor sich gehabt hätte. Nicht nur das Ausgangsverbrechen, sondern auch die nachfolgenden Morde stehen im Zusammenhang mit der Stellung der Frau in der historischen Zeit; der 4 Zu dessen Merkmalen vgl. z. B. Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam jun. 1984, S. 127–131. 5 Vgl. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 99.

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Mörderin Ursula geht es um ihren eigenen Schutz, um das Entkommen aus ihrer Ehe und um die Realisierung einer neuen Liebesbeziehung.6 Dem klassischen Rätselkrimi entsprechend wird die Täterin von Anfang an in den Figurenkreis aufgenommen, gleichzeitig aber als weitgehend unverdächtig präsentiert, wenn auch bei der Lektüre Hinweise auf ihre Schuld zu finden sind. Die Aufklärung erfolgt durch Anne Katharina als Schwägerin der Täterin; obgleich das Verbrechen sich großräumig über die Stadt erstreckt, führt die Spur somit am Ende zurück in den engen Rahmen der Familie.7 Wie für viele klassische, aber auch moderne Kriminalromane üblich, löst sich das Verbrechen im Rahmen einer Aufklärungsszene. In dieser legt die Täterin ein umfassendes Geständnis ab und bedroht zugleich das Leben der detektivischen Instanz, die in dieser Situation mit ihr allein ist. Die Wende erfolgt durch das Hinzukommen zweier Helferfiguren, die Anne Katharina retten und dabei die Mörderin töten. Abzugrenzen von den Verbrechen, die auch von den Figuren der Handlung als solche eingestuft werden, sind Straftaten, die im historischen Setting als legal oder unwesentlich gelten. Dazu gehören tatsächliche oder versuchte Vergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen, insbesondere im häuslichen Kontext, und schwere Körperverletzungen, die im Rahmen der Strafverfolgung an Verdächtigen verübt werden. Diese Handlungen, die aus heutiger Sicht Verbrechen darstellen, dienen im Roman einerseits als Lokal- und Geschichtskolorit zur Zeichnung des historischen Umfeldes, andererseits erfüllen sie bestimmte Funktionen für den Krimi-Plot. Sie erhöhen die Bedrohung für die detektivische Instanz und erschweren ihr, auch durch die Ängste anderer Figuren davor, offen zu sprechen, die Aufklärungsarbeit.

Die Ermittlerfigur Die Salzsiedertochter Anne Katharina ist in diesem Kriminalroman die um die Aufklärung der rätselhaften Ereignisse und Todesfälle bemühte Instanz und nimmt somit die Rolle einer Detektivfigur ein. Sie ist sozial situiert in einer angesehenen Familie, was ihr partiell Schutz bietet und ihre Ermittlungen 6 Mordmotive, die aus einer schwierigen sozialen Situation der Täterinnen als Frauen resultieren, sind auch in nicht historischen Frauenkrimis zu finden, so z. B. in Doris Gerckes Weinschröter, du musst hängen. Vgl. dazu Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 173– 184. 7 Die Darstellung von Familie als Ort eines aufzuklärenden Verbrechens ist unter den drei untersuchten Texten besonders charakteristisch für den Roman Schweikerts. In den nachfolgend untersuchten Romanen der beiden anderen Autorinnen spielen Familienstrukturen eher eine Rolle als Hintergrund der Detektivfiguren und serienbildendes Moment, das über die Bände der Reihen hinweg weiterentwickelt wird.

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überhaupt ermöglicht. So ist es ihr Status, der ihr Zugang zu anderen Figuren erlaubt oder erleichtert, und er schützt sie, als sie selbst ins Räderwerk der Justiz gerät. Auf der anderen Seite ist Anne Katharina durch ihre Familie akut bedroht. So geht von ihrer Schwägerin eine lange nicht erkannte Gefahr für sie aus; zudem wird Anne Katharina durch ihre Brüder bestimmt und unterdrückt, und ihr soll eine ungeliebte Heirat aufgezwungen werden. Anne Katharina bringt als wichtige Eigenschaft für ihre Detektivinnenrolle eine Wissbegierde mit, die sich auch unter widrigen Umständen durchsetzt, und eine Abneigung dagegen, sich mit naheliegenden Lösungen oder Erklärungen zufriedenzugeben. So weigert sich Anne Katharina, an die Schuld der Amme Marie am Tode einer Hebamme zu glauben, und distanziert sich von Bemühungen anderer Figuren, ein Verbrechen schnell beiseitezulegen, statt es tatsächlich aufzuklären: […] doch tief in ihrem Innern wußte Anne Katharina, daß die Lösung des Rätsels nicht so einfach zu finden sei. […] Die einfachste Lösung war, Marie als Mörderin zu verurteilen. […] Doch was war mit dem Unbekannten? Der nächtlichen Drohung? Dem Haß zwischen zwei Brüdern und den toten Kindern? Hing das nicht irgendwie zusammen? Es mußte eine Erklärung für all diese Rätsel geben und das Mädchen war fest entschlossen, diese zu entdecken. (TS, 162–163)

Im Rahmen der Recherche ist es neben dem Bemühen, ihr nahestehende Figuren zu schützen, vor allem die »Neugier«, die Anne Katharina weitertreibt und die ihr als Merkmal explizit zugeschrieben wird (z. B. TS, 163, 189, 416). Ihre Bemühungen, die Verbrechen mit rationalen Mitteln aufzuklären, treten in Kontrast zum Aberglauben, Hexenglauben und der Furcht vor Dämonen, die andere Figuren der Handlung teils tatsächlich hegen, teils für die Durchsetzung ihrer Interessen lediglich vorgeben. Andererseits wird die Detektivfigur doch soweit als beeinflusst von ihrem historischen Setting markiert, als ihr selbst derartige Denkweisen nicht vollkommen fremd sind. So glaubt Anne Katharina nach eigenen Angaben grundsätzlich an Hexen (TS, 292) und fürchtet die Einwirkung von Dämonen, die von Menschen Besitz ergreifen können (TS, 162). Die wenigen Hinweise auf diese Verankerung der ermittelnden Frau in zeitgenössischen Denkmustern bleiben jedoch knapp und wirken in der Darstellung teilweise aufgesetzt. Das gilt etwa, wenn Anne Katharina in einem Dialog erklärt, sicher gebe es Hexen, aus ihrer Sicht sei die gerade beschuldigte Person jedoch keine; obgleich die Frage, ob es prinzipiell Hexen gibt, in diesem Gespräch gar nicht zur Debatte stand (vgl. TS, 292).

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Die Ermittlerfigur und die Leser:innen Wie im Krimi-Genre üblich, ist es auch in diesem Roman die Detektivfigur, die erzählerisch im Mittelpunkt steht, die Leser:innen durch den Text führt und sich als Identifikationsfigur anbietet. Typische Strategien, die einer Intensivierung dieser Bindung dienen, finden auch in Schweikerts Roman Anwendung. Dazu gehört die Gefährdung dieser Figur durch ihr Umfeld, ihre Ausstattung mit positiven Charakterzügen und die moralische Legitimation ihrer Aufklärungsbemühungen. Im vorliegenden Text wird deutlich, dass das mittelalterliche Setting geeignet ist, diese Momente zu verstärken. Anne Katharina ist nicht nur gefährdet durch eine aktive Serienmörderin und andere Figuren im Kontext des Verbrechens. Sie ist auch konfrontiert mit der Justiz der Stadt und der Irrationalität der Gesellschaft, durch die ihr eine Markierung als Hexe oder als vom Teufel besessen und in der Konsequenz Folter und Hinrichtung drohen können. Diese existenzielle Gefährdung wertet die ermittelnde Figur auf, lässt sie besonders couragiert, zielstrebig und wissbegierig erscheinen und erleichtert den Leser:innen die Bindung an sie. Hinzu kommt, dass die Detektivin durch ihre Recherche, ihr rationales Denken und risikobereites Handeln aus der ihr gesellschaftlich zugeschriebenen Rolle als Frau ausbricht. So sagt der Anne Katharina sehr verbundene Großvater ihr, sie habe »einen viel zu scharfen Verstand für eine Frau« (TS, 196); andere Figuren warnen sie davor, sich allein in gefährlichen Bereichen der Stadt oder überhaupt allein auf der Straße aufzuhalten. Dass die recherchierende Frau sich gegen diese Zuschreibungen behauptet und durchsetzt, verschafft eine Befriedigung im Lese-Erlebnis, vermutlich gerade bei einem weiblichen Publikum, und macht die Ermittlerin zu einer attraktiven Bindungsfigur.

Andrea Schacht: Der dunkle Spiegel Zum Setting In einem als Vorwort gekennzeichneten Textabschnitt von ca. 1,5 Buchseiten wird die nachfolgende Krimihandlung sowohl räumlich als auch historisch eingeordnet. Schauplatz ist die Stadt Köln im 14. Jahrhundert, für die im ersten Abschnitt Interesse geweckt und für die den Leser:innen Sympathie von der Erzählinstanz geradezu abgefordert wird. Köln ist eine wunderbare Stadt, das vorab. Köln war auch im angeblich so finsteren Mittelalter eine wunderbare Stadt, in der natürlich große Geschichte gemacht wurde,

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aber in der vor allem die kleinen Leute durch ihren fröhlichen Pragmatismus Geschichte gemacht haben. (DS, 13)

Das Vorwort nennt den Leser:innen einerseits einige Lokalitäten, historische Aspekte und gesellschaftliche Teilbereiche, die in dem Roman eine Rolle spielen werden. Besonders in den Vordergrund rücken die Kölner Beginen, die als aktiv am wirtschaftlichen und sozialen Leben beteiligt und frei von den Repressionen der Kirche im Konvent lebend vorgestellt werden; gleichzeitig wird ihr besonderer Status in der spezifischen Stadt hervorgehoben. Verwiesen wird zudem auf den historischen Konflikt zwischen dem Erzbischof und der Stadt Köln. Die andere Funktion des Vorworts besteht darin, die Leser:innen bereits auf den Erzählduktus einzustimmen und ein Verhältnis zwischen der Erzählinstanz und dem Setting zu markieren, das sich deutlich von dem in Ulrike Schweikerts Roman unterscheidet. Andrea Schachts Erzählinstanz hält ironische Distanz zum Geschehen und zum mittelalterlichen Ort und es wird offen präsentiert, dass die Autorin mit Fiktion und realer historischer Kulisse ›spielen‹ wird: Natürlich sind alle handelnden Personen frei erfunden, und ich hoffe, nicht allzu heftig auf die Zehen derjenigen getreten zu haben, die noch heute die Namen der alten Geschlechter tragen, indem ich ihnen einige eigenwillige Vorfahren andichtete. (DS, 14)

Der Krimi-Plot Auch in der Plotkonstruktion ist ein Unterschied des Romans Andrea Schachts zu dem zuvor untersuchten Krimi von Ulrike Schweikert erkennbar. In Schachts Text bildet nur ein einzelnes Verbrechen den Anlass der Aufklärungshandlung: der Mord an dem jungen Mann Jean de Champol, dem zugezogenen Auszubildenden eines Kölner Weinhändlers.8 Umgebracht wurde dieser vom Bruder der Weinhändlersgattin, wobei die Frau um das Verbrechen wusste und es deckte. Motiv war die homosexuelle Beziehung des Weinhändlers zu Jean und die Kränkung der Weinhändlersgattin über die Erfahrung, dem Mann, den sie liebte, nur als Alibi zu dienen. Dass lediglich ein Verbrechen aufzuklären ist, macht den Plot nicht nur überschaubarer als im Roman Schweikerts, sondern die gezeichnete Welt wirkt auch weniger bedrohlich. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass auch Grausamkeiten durch Folter, physische Strafen oder Misshandlung von Frauen, vor allem die szenische Darstellung von Aktionen dieser Art, längst keine so große Rolle spielen wie in Die Tochter des Salzsieders. 8 Hinzu kommen im Vorfeld eine Erpressung des späteren Mordopfers durch eine weitere Figur und, daraus resultierend, ein unlauterer Weinhandel als weniger schwere Taten, die gleichwohl das Interesse der detektivischen Instanz auf sich ziehen.

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Wesentlich verantwortlich für den Mord ist auch in Schachts Roman eine Frau, die mit ihrem Leben und ihrer Ehe in hohem Maße unzufrieden ist. Aus ihrer Situation kann sie sich nicht mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln befreien; der von ihr begünstigte Mord an dem Geliebten ihres Mannes dient ihr als Aggressionsableitung und Selbstschutz. Auch in diesem Roman erfolgt eine Aufklärungsszene und ebenso wie in dem Kriminalroman Schweikerts ist diese gekoppelt an eine Situation der tödlichen Bedrohung der Detektivin durch die Täterseite. Wie bei Schweikert wird auch in diesem Text die recherchierende Frau, Almut, aus der Gefahr von Dritten gerettet. Bei den Rettern handelt es sich um die taubstumme Trine und Pater Ivo, die beide mit Almut schon in der vorangegangenen Handlung eng verbunden sind und als ihre Helferfiguren agieren. Auch in Der dunkle Spiegel kommt einer der Täter, der Bruder der Weinhändlersfrau, am Ende zu Tode, wobei in diesem Fall die Todesumstände nicht näher geklärt werden. Die beiden anderen Figuren, die von einer Strafe bedroht sind, der Weinhändler (wegen seiner homosexuellen Handlungen) und seine Gattin (wegen der Verwicklung in den Mordfall) verlassen dagegen lediglich die Stadt. Diesen Ausgang verdanken sie der Fürsprache Almuts, die der Ansicht ist, die beiden hätten bereits genug gelitten, und die für sie stark macht, dass Liebe im Spiel war, die sie als hohen Wert ansieht und die zugleich zu dem vorangegangenen Leiden überhaupt geführt habe: Frau Dietke liebt ihren Mann und wird nicht wiedergeliebt. Sie leidet unter der unerwiderten Liebe. Rudger hat seine Gesundheit verloren und leidet unter seinen Gebrechen. Doch er liebt seine Schwester und wollte das Unrecht beenden, das ihr zugefügt wurde. De Lipa schließlich liebte Jean und wurde von ihm wiedergeliebt. Beide haben unter ihrer verbotenen Liebe gelitten. Ich weiß nicht, wie die Strafen der Hölle aussehen, aber sie mögen dem Leid gleichen, das in diesem Haus herrscht. (DS, 338–339)

Das Herbeiführen und Verteidigen einer Nicht-Bestrafung erinnert an die Pater Brown-Erzählungen G.K. Chestertons9, obgleich der Roman ansonsten, obwohl im Beginenmilieu angesiedelt, wenig Ähnlichkeit mit diesen Detektivgeschichten um einen Geistlichen hat.

Die Ermittlerfigur Anders als in Ulrike Schweikerts Roman lebt die recherchierende Frau in diesem Text nicht bei ihrer Familie. Almut ist Mitglied eines Beginenkonvents, was ihr in der Ermittlungsarbeit partiell Begrenzungen auferlegt. Überwiegend aber be9 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 1992, S. 96.

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günstigt diese Situierung ihre Aufklärungsarbeit, da keine Familie sie einschränkt oder bedroht und sie zugleich vom Status der Beginen im mittelalterlichen Köln profitiert und durch ihn unter einem gewissen Schutz steht. Dies bemerkt z. B. der Gegenspieler Almuts, der das Beginenkonvent insgesamt mit Misstrauen betrachtet und gern in Misskredit bringen würde: Doch es gab beinahe hundertsiebzig Beginenhäuser in der Stadt und nicht alle konnte er im Blick behalten. Außerdem waren die Bewohnerinnen zum großen Teil Witwen oder Töchter einflussreicher Bürger, mit denen sich anzulegen ihm nicht immer geraten schien. (DS, 88–89.)

Die Meisterin der Beginen billigt zudem fast durchgehend Almuts Recherchen, wodurch diese eine wichtige Rückendeckung hat. Wie Anne Katharina in Schweikerts Roman wird auch Almut im Krimi Andrea Schachts mit dem Merkmal der Neugier versehen, wobei diese Eigenschaft bei der letztgenannten stärker hervorgehoben wird. Immer wieder bezeichnen die Erzählinstanz oder andere Figuren Almut ausdrücklich als besonders neugierig, und das kluge Fragen wird als eine ihrer spezifischen Qualitäten in den Vordergrund gerückt. »Neugierig wie eine Katze war sie […]« (DS, 114) heißt es schon über Almut als Kind; und später über einen ihrer Antriebe während der Ermittlungsarbeit: Neugier war es, unbezähmbare, drängende Neugier und auch ein Hauch von Abenteuerlust, die Almut dazu trieben, Magdas Anweisung, sich nicht mehr um den Mord zu kümmern, zu missachten und eine höchst unsittliche Maßnahme zu ergreifen. (DS, 214)

Wie Anne Katharina wird auch Almut im Text gleichsam halbherzig mit einem gewissen Glauben an übernatürliche Vorgänge ausgestattet, während zugleich ihre rationale Ausrichtung stark hervorgehoben wird und als dominantes Merkmal erscheint.

Die Ermittlerfigur und die Leser:innen Almut hebt sich von ihrem in mittelalterlichen Denkstrukturen verhafteten Umfeld insgesamt stärker ab, als es bei Anne Katharina in Schweikerts Roman der Fall ist. Almuts Sichtweise ist moderner, sie befindet sich in einer relativ autonomen Situation, in der sie weitgehend frei denken und handeln kann. Im Vergleich zu Anne Katharina wirkt Almut fast wie eine moderne Frau, die in ein mittelalterliches Setting gestellt wird, ohne dass dieser Umstand sie aus der Fassung bringen würde. Auf dieser Ebene ist das Identifikationsangebot an die Leser:innen des Romans intensiver und direkter.

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Im Vergleich mit Anne Katharina erscheint Almut, objektiv betrachtet, weniger gefährdet. Sie steht unter dem Schutz des Beginenkonvents, sie hat auch über dieses hinaus vertraute und kompetente Helferfiguren (ihre Halbschwester Aziza, Pater Ivo) und Schacht zeichnet die mittelalterliche Szenerie insgesamt weniger grausam und bedrohlich als Schweikert. Im Kontrast dazu wird die Gefährdung der recherchierenden Frau im Text aber häufiger angesprochen und explizit hervorgehoben, als es in Ulrike Schweikerts Roman der Fall ist. Dies geschieht fast durchgehend aus der Perspektive der Hauptfigur selbst, die von der Gefahr spricht, selbst für die Mörderin gehalten zu werden, und die mit diesem Motiv zumindest am Anfang auch ihre Ermittlungsarbeit begründet. Dabei wird das Gefühl von Angst von ihr wiederholt zum Thema gemacht.10 So äußert sie gegenüber Pater Ivo, der sie bei der Ermittlung unterstützt, in Bezug auf den ungeklärten Todesfall: »›[…] Mich plagt nur die furchtbare Angst, man könnte es mir oder meinen Schwestern anhängen. Denn es liegt sehr nahe, dass Gift dabei eine Rolle gespielt hat.‹« (DS, 124) Die Angst hält Almut jedoch ebenso wie Anne Katharina nicht von ihrer Aufklärungsarbeit ab. Außer im Gebet und gegenüber vertrauten Bezugspersonen lässt Almut sich diese auch nicht anmerken. Dies macht z. B. die Szene deutlich, in der Almut die Information erhält, dass der Inquisitor ihretwegen das Konvent aufgesucht hat. »Der Johannes Deubelbeiß war da und wollte dich wegen der Sache befragen.« »Das kann er gerne. Aber warum spielt Elsa dann verrückt?« […] Obwohl sie sich nichts hatte anmerken lassen, bereitete ihr die Nachricht, dass der Inquisitor sie befragen wollte, große Sorgen. (DS, 130–131)

In Almut finden die Leser:innen eine Figur, die durchsetzungsstärker und souveräner erscheint als Anne Katharina, die zugleich aber stärker als diese ihre Gefährdung betont. Die Identifikation wird damit vermehrt angeboten und ist gleichsam niedrigschwelliger als bei der dem Lesepublikum fremder bleibenden und zugleich auf der Textebene real stärker bedrohten Ermittlerin Schweikerts.

10 Laut Peter Wenzel ist es wichtig für die »Erweckung von Anteilnahme« (bei Wenzel im Zusammenhang mit Spannung), dass das Lesepublikum dazu veranlasst wird, »sich mit der bedrohten oder in einen Konflikt involvierten Figur zu identifizieren. Dies setzt in der Regel voraus, daß die Spannungssituation unter Verwendung eines von starken Emotionen geprägten Vokabulars aus der Perspektive dieser Figur geschildert wird […]« (Wenzel, Peter: Spannung in der Literatur: Grundformen, Ebenen, Phasen. In: Borgmeier, Raimund/Wenzel, Peter (Hg.): Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Trier: WVT 2001, S. 22–35, hier S. 31.

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Astrid Fritz: Das Aschenkreuz Zum Setting Astrid Fritz’ Roman spielt in Freiburg im 15. Jahrhundert. Im Vergleich mit den beiden zuvor untersuchten Texten tritt die Stadt weniger in den Vordergrund. So wird im Prolog nicht die Stadt vorgestellt, und es geht auch nicht um ein spezifisches Milieu oder eine Familie innerhalb dieser. Der Prolog widmet sich vielmehr schon dem Fall an sich und signalisiert damit, dass dieser im Fokus stehen wird, weniger die Räumlichkeiten und Strukturen der mittelalterlichen Umgebung. Wie im Roman Andrea Schachts wird auch in diesem Text die recherchierende Frau in einem Beginenkonvent situiert. Dessen Vorstellung erfolgt im ersten Kapitel, wobei sein Charakter als Heimat der Ermittlerfigur und seine Funktionen für diese im Fokus stehen: Serafina hingegen gefiel ihr neues Leben hier in Freiburg, das sie erfüllte und ihr ungeahnte Freiheiten eröffnete. Als Laienschwestern ohne Klausur konnten sie sich frei in der Stadt bewegen, was auch notwendig war für ihre wichtigsten Aufgaben […]. (AK, 9)

Eine Rolle für die räumliche Verankerung der Handlung spielen in Astrid Fritz’ Roman vor allem das Freiburger Münster und die Kapelle Sankt Peter und Paul, da sich das Verbrechen im kirchlichen Kontext ereignet; aus diesem stammen sowohl der Täter als auch die Ermittlerin und eines der beiden Mordopfer. Im Münster entdeckt Serafina ein Bild, das sie auf die richtige Lösung für das kriminalliterarische Rätsel bringt; bei der Kapelle Sankt Peter und Paul schließlich erfolgt die Aufklärung des Falls und es kommt zur Konfrontation Serafinas mit dem Täter. Das für die Überführung notwendige Beweismaterial bietet eine Holzkiste in einer Hütte an der Kapelle, in der alle Utensilien verwahrt werden, die für ein sogenanntes Blutwunder, in Wirklichkeit einen Betrug mit hohem finanziellen Gewinn, gebraucht wurden: Nur leider hatten zwei Männer der erfolgreichen Fortdauer dieses Wunders im Wege gestanden. Bruder Rochus, als Küster der Kapelle, war entweder eingeweiht gewesen und hatte irgendwann, als ihn Gewissensbisse plagten, gedroht, alles zu verraten. Oder er war, ebenso unwissend wie der junge Hannes, zufällig auf diese Kiste hier gestoßen. (AK, 255)

Wer den Betrug verraten wollte, der wurde von dem ihn maßgeblich initiierenden Pater Blasius ermordet, am Ende wird beinahe auch Serafina selbst sein Opfer.

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Der Krimi-Plot In Astrid Fritz’ Roman ereignen sich zwei Morde, die zueinander in Beziehung stehen. Beide erfolgen, um die Aufdeckung eines Betrugs zu verhindern. Hinzu kommt am Ende die Mordankündigung gegenüber der Detektivfigur Serafina. Das Aschenkreuz ist der einzige der drei untersuchten Texte, in dem die Rolle der Frau in der skizzierten historischen Situation keine Rolle als Motiv für die Verbrechen spielt. Der Grund für die Morde ist im kirchlichen Umfeld zu finden und nur begrenzt spezifisch für das Mittelalter. Die Inszenierung eines Blutwunders und die Bereitschaft von Teilen der Bevölkerung, daran zu glauben, könnte auch in einer späteren Zeit angesiedelt sein, wenngleich sie zur mit dem Mittelalter assoziierten Irrationalität vielleicht besonders gut passt. Eine Analogie zu den beiden zuvor besprochenen Romanen ist die Gestaltung einer Überführungsszene und ihre Verbindung mit einer lebensgefährlichen Situation der weiblichen Detektivfigur. Und auch in diesem zuletzt analysierten Text wird die Ermittlerin von dritter Seite gerettet: Der Stadtarzt Achaz übernimmt diese Rolle, der, ähnlich dem Pater Ivo in Der dunkle Spiegel, eine Helferfigur der Detektivin ist und zugleich in einem sich anbahnenden Liebesverhältnis zu ihr steht. Allerdings agiert auch Serafina selbst aktiv als Retterin, da sie in dem entstehenden Zweikampf zwischen Achaz und dem Täter Blasius den Letzteren angreift: »Nein!« Blitzschnell warf Serafina, die noch immer auf dem Boden lag, sich herum und schleuderte ihre Füße mit aller Wucht gegen Blasius Schienbein. Wie ein gefällter Baum ging der Mönch zu Boden […]. (AK, 265)

Auch in Astrid Fritz’ Roman kommt der Täter ums Leben, allerdings geschieht dies in Das Aschenkreuz in Form der Todesstrafe: »›Er kommt vor das Blutgericht‹, antwortete Achaz. ›Selbst mit Gottes Gnade wird ihm der Tod nicht erspart bleiben.‹« (AK, 269) Die Grausamkeit des Rechtswesens, der Strafverfolgung und -vollstreckung wird in Das Aschenkreuz insgesamt weniger ausführlich und szenisch dargestellt als in Ulrike Schweikerts Roman, sie spielt aber eine größere Rolle als bei Andrea Schacht.

Die Ermittlerfigur Auch Astrid Fritz’ recherchierende Figur Serafina ist eine Begine. Stärker noch als bei Andrea Schacht wird die Freiheit betont, die mit diesem Status einhergeht. Konkret äußert sich diese in räumlicher Freiheit, die Serafina durch ihre Aufgaben im Konvent genießt.

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Eine Besonderheit der Ermittlerin bei Astrid Fritz ist ihre heikle Vergangenheit. Sie stammt aus dem Prostituiertenmilieu und hat in Notwehr einen gewalttätigen Freier, den Bediensteten eines Bischoffs, erschlagen, der eine ihrer jungen Kolleginnen misshandelte.11 Der Arzt Achaz deckte sie und gab den Hergang als Unfall aus. Als auch dieser in Freiburg auftaucht, ist eine Person, die um diese Vergangenheit weiß, ständig in Serafinas Nähe. Im Vergleich zu Andrea Schachts Ermittlerin Almut, die ebenfalls einem Beginenkonvent angehört, ist Serafinas Status damit deutlich unsicherer und sie selbst eine verletzbarere und gefährdetere Figur. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Wissbegierde und Zielstrebigkeit Serafinas wirksam als Kontrast entwickeln. Sie recherchiert trotz eigener Bedrohung sowohl durch Strafverfolgung, Folter und Tod als auch durch die Aufdeckung ihrer Vergangenheit. Insbesondere meidet sie den Stadtarzt Achaz nicht, obgleich dieser ihr mit seinem Wissen existenziell gefährlich werden kann, sondern nutzt ihn im Rahmen des Krimi-Plots als Helferfigur. Das Motiv Serafinas für die Aufklärungsarbeit ist neben Neugier und dem Versuch, sich selbst vor Verdächtigung zu schützen, vor allem das Bemühen um den Schutz eines Dritten: des fälschlich verdächtigten kleinwüchsigen Barnabas. Auf diesem Weg wird der Figur Serafina eine besondere moralische Integrität zugeschrieben.12 Wie auch die Detektivfiguren der beiden anderen Romane hebt sie sich zudem durch ihre Rationalität positiv von ihrem Umfeld ab, die sie dem Aberglauben und unlogischen Theorien anderer entgegenstellt: »Was hat uns dieser verfluchte Erzbösewicht bloß angetan?«, hörte sie hinter sich eine Weiberstimme lauthals lamentieren. »Wegen seiner Schandtat ist gestern Abend das böse Wetter über uns gekommen. Mein ganzes Gemüse hat es zerschlagen.« »Dann müsste der Junge sich ja vor dem Gewittersturm erhängt haben, am helllichten Tag und vor aller Augen« , gab Serafina der Frau trocken zu verstehen. »Und das glaubst du wohl selbst nicht.« (AK, 20; Hervorhebung im Original)

11 Die Thematisierung und szenische Darstellung von Sexualität, oftmals changierend zwischen Erotik und Gewalt, findet sich in allen hier untersuchten Romanen. Diesen Aspekt in seinen Funktionen und leseattraktiven Anteilen genauer und möglicherweise auch bezogen auf weitere historische Frauenromane zu betrachten, wäre zweifellos lohnend. 12 Die Aufwertung der Detektivin durch einen schützenden und respektvollen Umgang mit einer behinderten Figur im Text findet sich auch in der Reihe Andrea Schachts, insbesondere in der Figur der taubstummen Trine, die auch in weiteren Bänden eine wichtige Rolle spielt.

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Die Ermittlerfigur und die Leser:innen Das schon aus den beiden anderen Romanen bekannte Prinzip, eine Detektivin als Identifikationsfigur zu entwickeln, die sich von ihrem Umfeld durch Neugier, Rationalität und Durchsetzungsfähigkeit abgrenzt, findet sich auch im Text Astrid Fritz’. Hinzu kommt bei ihr besonders deutlich ein altruistisches Motiv der Verbrechensaufklärung, wenn es darum geht, andere Personen zu schützen, ihre Integrität wiederherzustellen oder sie vor der Qual mittelalterlicher Vorstellungen zu schützen. So erwidert Serafina dem Arzt Achaz, der ihr auf die Frage, ob er an die Hölle glaube, antwortet, er sei »eher ein Mann der Wissenschaft« (AK, 95), dies sei für die Familie des angenommenen Selbstmörders anders: »Dann seid Ihr gut dran. Die Eltern und Schwestern von Hannes jedenfalls sehen den Jungen auf immer zu Höllenqualen verdammt. Das allein rechtfertigt schon jede Bemühung, den Mord nachzuweisen. Selbst wenn der Mörder nie seine gerechte Strafe erfährt.« (AK, 95)

Serafina distanziert sich damit von den Denkmustern ihrer Zeit und rückt in die Nähe der Leser:innen, gleichzeitig verhält sie sich mitfühlend gegenüber Figuren im Text, die diese Distanzierung nicht leisten können. Wie auch die detektivischen Hauptfiguren in den Romanen der beiden anderen Autorinnen bildet sie damit nicht nur eine Identifikationsfigur, sondern auch eine Brücke zwischen der Gegenwart des Lesepublikums und der für den Roman konstruierten mittelalterlichen Welt.

Resümee Die Betrachtung der drei ausgewählten Kriminalromane mit mittelalterlichem Setting und weiblichen Ermittlerfiguren zeigt sowohl individuelle Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf. Deutlich wird das Prinzip, in eine Welt, die eine historische Fremdheit bietet und in anderer Weise bedrohlicher ist als ein Gegenwartssetting, eine Detektivin zu setzen, die in dieser Welt einerseits beheimatet ist, andererseits zu ihr auf Distanz geht. Dass sie damit zugleich unter ›erschwerten Umständen‹ aus ihrer weiblichen Rolle ausbricht und sich gegen geschlechtsspezifische Beschränkungen wehrt, bietet ein zusätzliches Lustmoment, vermutlich vor allem für ein weibliches Lesepublikum. Darüber hinaus geht die Anziehungskraft der drei Krimis – wie die Faszination des Mittelalterromans überhaupt – sicher zum Teil davon aus, dass das Mittelalter als eine vergangene und vor allem fremde Welt wahrgenommen wird, die andererseits Teil der eigenen Kultur ist. So können die Leser:innen das exotische Leseaben-

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teuer genießen, begegnen aber zugleich einer, wenngleich partiell fiktionalisierten und auf die Story zugeschnittenen, Präsentation eines Abschnitts deutscher Geschichte. Damit ist auch ein geschichtlich interessiertes, auf historische Informationen konzentriertes Lesen möglich. Einige Motive und Muster fallen in den drei untersuchten Texten als wiederkehrend auf. Alle drei Romane sind lokal verankert in einer konkreten Stadt, deren Darstellung und Ausstattung mit spezifischen Wiedererkennungsmomenten auch der historischen Beglaubigung dient. In allen werden die recherchierenden Frauen innerhalb ihres Umfelds mit einem Status versehen, der ihnen die Aufklärungsarbeit überhaupt erst ermöglicht. In zwei Fällen ist dies ein Beginenkonvent, in einem eine angesehene Familie.13 Alle weiblichen Detektivfiguren werden unter anderem mit Hinweis auf ihr Geschlecht von ihren Ermittlungen abzuhalten versucht; alle wehren sich dagegen und brechen damit aus der ihnen zugeschriebenen Rolle gleichsam doppelt aus: Sie verletzen die Normen der mittelalterlichen Umgebung (etwa wenn sie Rationalität gegen Aberglauben stellen oder sich gegen die Folter aussprechen) und diejenigen, die für sie speziell als Frauen angesetzt sind. In unterschiedlichem Ausmaß sind die drei recherchierenden Frauen ihrem historischen Setting verhaftet, teilen partiell seine angestammten Denkweisen und fügen sich in die sozialen Muster ein. Gleichzeitig aber grenzen sie sich ab gegen dieses Setting und vertreten in dieser Kombination gleichsam die Leser:innen mit ihren eben nicht mittelaltertypischen Denkweisen und Normvorstellungen. Die Texte teilen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem amerikanischen Großstadt-Kriminalroman mit seiner Verbrechensvielfalt, unmittelbaren Gefährdung der Detektivfigur und Allgegenwart körperlicher Gewalt und Bedrohung; sie scheinen diesem damit deutlich enger verwandt als dem englischen Rätselkrimi. Schließen lässt sich eben deshalb vielleicht am besten mit einer variierten Fassung der bekannten Aussage, die Raymond Chandler einmal über Detektivfiguren der amerikanischen hardboiled school formuliert hat: But down these middle age streets a woman must go who is not herself (limited to) middle age, who is neither tarnished nor too afraid. The detective in this kind of story must be such a woman.14 13 Interessant wäre ohne Zweifel eine genauere Untersuchung der Darstellung der Beginen in den Romanen Schachts und Fritz’, die insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen historischer Dokumentation und feministisch geprägter leseattraktiver Fiktionalisierung in den Blick nimmt. Dies erforderte jedoch eine eigene Arbeit, die auch geschichtswissenschaftliche Expertise einbeziehen müsste. 14 »But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective in this kind of story must be such a man« (Chandler, Raymond: The Simple Art of Murder. New York: Vintage 1988, S. 18).

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Literatur Alewyn, Richard: Ursprung des Detektivromans. In: Alewyn, Richard: (Hg.): Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1982, S. 341–360. Chandler, Raymond: The Simple Art of Murder. New York: Vintage 1988. Fritz, Astrid: Das Aschenkreuz. Reinbek: rororo 2013. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 1992. Schacht, Andrea: Der dunkle Spiegel. München: Blanvalet 2020. Schweikert, Ulrike: Die Tochter des Salzsieders. München: Knaur 2000. Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam jun. 1984. Wenzel, Peter: Spannung in der Literatur: Grundformen, Ebenen, Phasen. In: Borgmeier, Raimund/Wenzel, Peter (Hg.): Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Trier: WVT 2001, S. 22–35. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.

Internetquelle Homepage der Autorin Ulrike Schweikert. URL: https://ulrike-schweikert.de/die-tochterdes-salzsieders / letzter Zugriff am 19. Januar 2023.

Gender-Diskurse

Sandra Beck (Mannheim)

Feminismus, Serienmord, Paranoia. Konfigurationen sexueller Gewalt und die Frage nach dem ›Frauen-Krimi‹

Aus der Morgue Heinrich Heines Rede von der Literaturgeschichte als der »große[n] Morgue«, »wo jeder seine Todten aufsucht, die er liebt oder womit er verwandt ist«1, fasst die Vorstellung von der diachronen Konnektivität literarischer Texte in das Bild identitätsstiftender memorialer Erkundungsgänge durchs Leichenschauhaus. Der Ort literarischer Gedächtnisbildung ist bei Heine nicht das Pantheon als topographisches Sinnbild einer kodifizierten und mit dem Imperativ des Angedenken beschrifteten Vorauswahl der ›großen Dichter und Denker‹, sondern der selbstbestimmt zu durchstreifende, anonyme Raum der Morgue, der die temporale Ordnung literaturhistorischer Sukzession zunächst als ungegliedertes Nebeneinander vorstellt. Es ist allererst der suchende und auf Identifikation geeichte Blick des Nachgeborenen auf die Toten – gespannt auf die Möglichkeit emotionaler Anteilnahme und die Erkenntnis familiärer Genealogien –, der affektiv und kognitiv Bedeutung zuspricht, Bezüge herstellt, kurz: eine Ordnung konstituiert.2 Für die Genregeschichte kriminalliterarischen Erzählens ist diese Metapher von der Literaturgeschichte als Leichenschauhaus gerade in ihrer figurativen Begrifflichkeit besonders intrikat, schließlich produziert die populäre SchemaLiteratur seit dem Golden Age nicht nur tote Körper in Serie, sondern fällt narrativ programmatisch »mit der Leiche ins Haus«.3 Entsprechend pointiert S.S. 1 Heine, Heinrich: Die romantische Schule [1836]. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Winfuhr. Bd. 8/1. Hamburg: Hoffmann und Campe 1979, S. 121–249, hier S. 135. 2 Entsprechend fährt Heine fort: »Wenn ich da unter so vielen unbedeutenden Leichen den Lessing oder den Herder sehe mit ihren erhabenen Menschengesichtern, dann pocht mir das Herz. Wie dürfte ich vorübergehen, ohne Euch flüchtig die blassen Lippen zu küssen!« (ebd., S. 135–136). 3 Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans [1960/1965]. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 38–51, hier S. 45. Ein Blick in die Genregeschichte zeigt jedoch, dass dieses Bonmot eine spezifische Variante

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van Dine bereits 1928 in seinen genreregulierenden Twenty Rules for Writing Detective Stories: »There simply must be a corpse in a detective novel, and the deader the corpse the better.«4 In einer der populärsten und lange Zeit standardisierten Herkunftserzählungen detektivischen Erzählens führen denn auch die Erkundungsgänge im Leichenschauhaus des Genres zu Edgar Allan Poe. Seine exemplarische Erzählung heftet die »peculiar analytic ability«5 des »reasoning backwards«6 an den Namen der Totenhalle: The Murders in the Rue Morgue (1841). Setzt man – wie vielfach geschehen – diese tale of ratiocination als genrekonstituierenden ›Urtypus‹, den Poe in The Mystery of Marie Rôget (1842) und The Purloined Letter (1844) ausschreibt und variiert, so findet detektivisches Erzählen seine archetypische Ausprägung offenbar genau in jenem Autor, den Elisabeth Bronfen zum Ausgangspunkt ihrer grundlegenden Studie Over Her Dead Body (1994) wählt, weil er programmatisch den Tod der schönen Frau als das poetischste Thema der Literatur fasst: When it most closely allies itself to Beauty, the death, then, of a beautiful woman is, unquestionably the most poetical topic in the world – and equally is it beyond doubt that the lips best suited for such topics are those of a bereaved lover.7

Mit der Festlegung Poes als Begründer des Genres ist nicht nur die vermeintlich erste analytisch erzählte Ermittlung mit prototypisch exzentrischer Detektivfigur zum Ursprung erhoben. Vielmehr wird so an den Beginn des Genres eine geschlechtsspezifische Täter-Opfer-Konstellation zwischen sprachlosen, hingeschlachteten Frauen und einem – in diesem Fall rational nicht ansprechbaren – Täter gesetzt. Seine Tat-Botschaft ist es, die die Ermittlerfigur aus Spuren und Zeugenaussagen durch die »ingenuity« (M, 530) ihrer semiotische Lektüren rekonstruiert. Anders formuliert: Mit der Erhebung der tales of ratiocination zu genrestiftenden Erzählungen wird nicht nur retrospektiv ein spezifisches Erzählmuster zum Modell eines distinkten Genres formiert, sondern in der Ur-

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kriminalliterarischen Erzählens zum Standard erhebt. Vgl. Osterwalder, Sonja: »Guess again«. Aufklärung in den hard-boiled Romanen. In: Peck, Clemens/Seldmeier, Florian (Hg.): Kriminalliteratur und Wissensgeschichte. Genres – Medien – Techniken. Bielefeld: transcript 2015, S. 161–172, hier S. 162–163. Van Dine, S.S.: S.S. Van Dine Sets Down Twenty Rules for Detective Stories. In: »The American Magazine« (1928), S. 129–131, hier S. 129. Poe, Edgar Allan: The Murders in the Rue Morgue [1842]. In: Collected Works of Edgar Allan Poe. Tales and Sketches 1831–1842. Hg. von Thomas Ollive Mabbott. Cambridge (Mass.)/ London (England): The Belknap Press of Harvard University Press 1978, S. 521–574, hier S. 533. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle M nachgewiesen. Conan Doyle, Arthur: A Study in Scarlet [1887]. Hg. mit einer Einleitung von Owen Dudley Edwards. Oxford/New York: Oxford University Press 1993, S. 123. Poe, Edgar Allan: The Philosophy of Composition [1846]. In: »Graham’s Magazine« XXVIII/4 (1846), S. 163–167, online verfügbar unter https://www.eapoe.org/works/essays/philcomp. htm / letzter Zugriff am 12. Dezember 2022.

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sprungserzählung parallel bloßgelegt, welche weitreichenden kulturellen Skripte und Narrative in diese Genreformierung eingelassen sind, die dann auch die weitere Entwicklung in Genregeschichte und Genrepoetik prägen: [I]n that the detective story traces the uncovering of hidden facts about an event of death, hidden truths about characters’ motivations in relation to death, what it in fact must solve is death itself. The dead woman who remains and in so doing engenders narratives, functions as a body at which death is once again coupled to the other central enigma of Western cultural representation – femininity. The solution of her death is a form of documenting both of these unknowns. The dead woman, embodying a secret, harbours a truth others want and since the dead body is feminine, with death and femininity metonymies of each other, the condensation of the two allows one and the same gesture to uncover a stable, determinate answer for this double enigma.8

In dieser Ursprungskonstellation lässt sich das Krimi-Genre in seiner Erzähllogik als populärer Seitenarm des Ophelia-Komplexes fassen, in dem konstitutives Element der Formel ›Die schöne Frau muss sterben‹9 nicht der die Tote besingende Dichter, sondern die das Rätsel ihres Todes aufklärende Detektivfigur ist. Im Gegenschnitt zu dieser mit Poes The Murders in the Rue Morgue als Genre und kulturelles Skript inthronisierten Tradition kriminalliterarischen Erzählens, in der idealtypisch gesprochen totes weibliches ›Fleisch‹ und ingeniöser männlicher ›Verstand‹ als Nukleus der Genrekonfiguration gesetzt werden10, lassen sich kriminalliteraturgeschichtlich überhaupt erst jene Entwicklungen begreifen, die in den deutschsprachigen Debatten auf das vergleichsweise kurzlebige und mit essentialistischen Implikationen operierende Label ›Frauen-Krimi‹ verkürzt zu werden drohen. Mit diesem Begriff wird jener historische Einschnitt in die Topographie des kriminalliterarischen Feldes gefasst, der in den 1980er und 1990er Jahren mit klarem genretheoretischen, identitätspolitischen und marktökonomischen Auftrag in den Bereichen Produktion, Distribution und Rezeption beobachtet werden kann11 und gezielt den männlichen Genrekanon kriminalliterarischer Fiktionen mit abgründigen Effekten des Komischen und Grotesken überzieht12. Produktiver ist es aber, ›Frauen-Krimi‹ als Eintrag auf der 8 Bronfen, Elisabeth: Over Her Dead Body. Death, Femininity, and the Aesthetic. Manchester: Manchester University Press 1992, S. 293. 9 Burdorf, Dieter: Murder Ballads. Über ein neu zu entdeckendes Genre der deutschen Lyrik. In: Ammon, Frieder v./Petersdorff, Dirk v. (Hg.): Lyrik / Lyrics. Songtexte als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Göttingen: Wallstein 2019, S. 193–222, hier S. 193. 10 Vgl. für eine ausführliche Analyse dieser Tradition Close, Glen S.: Female Corpses in Crime Fiction. A Transatlantic Perspective. Cham: Springer 2018. 11 Vgl. Haug, Frigga/Laudan, Else: Kriminalromane als politisches Projekt. Aufstieg der AriadneReihe und die Mühen der Ebene. In: »Das Argument« 50 (2008), S. 545–561. 12 Vgl. Pailer, Gaby: Female Empowerment. Women’s Crime Fiction in German. In: Kniesche, Thomas W. (ed.): Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 105–122, hier S. 108–109.

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ersten Seite einer gendersensiblen Genregeschichtsschreibung zu verstehen und ausgehend von diesem Impuls die viel weitreichendere, die engen Grenzen des ausgerufenen Subgenres programmatisch überschreitende innovative Revitalisierung des gesamten Genres zu diskutieren, die eine als feministisch zu verstehende Arbeit an der generischen Konfiguration des analytischen Erzählmodells und am kulturellem Skript von Weiblichkeit, Gewalt und Tod umfasst. Während die Forschung in der Auseinandersetzung mit einer Literarisierung feministischer Diskurse im kriminalliterarischen (Sub-)Genre nicht zuletzt die folgenreiche Neubesetzung der Ermittlerposition und die damit verbundene Aushebelung des male gaze resp. die feministische Eroberung des detektivischen Blickes analysiert hat13, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen nicht auf eine Feminisierung der Detektionsarbeit14, sondern auf die Möglichkeiten einer anderen Konfiguration von Geschlecht und Gewalt im Genre. Bestimmten zeitgenössische Kritiker:innen das Innovative und Distinkte des ›Frauen-Krimis‹ im Schulterschluss mit den feministischen Diskursen der Zeit auch und gerade im Kontrast zur Verteilung von agency in der Ophelia-Tradition15, verfolgen die Lektüren dieses Beitrages exemplarisch, wie sich kriminalliterarische Fiktionen der Gegenwart an den Kontexten von Weiblichkeit und Tod, Gewalt und Rache im und wider das Genre abarbeiten. Diskutiert werden (kriminal)ästhetisch und ethisch widerständige Texte, die dezidiert gegen die body politics eines Genremodells opponieren, in dem das zerfetzte, gequälte, tote Fleisch der weiblichen Opfer dem überlegenen männlichen Intellekt nur zum Schauplatz für das immer gleiche artifizielle Spiel wird. An der Schnittstelle von Fiktionalität und Faktualität verhandeln diese Texte mithin die Sehnsucht, dass es diesmal anders endet.

13 Vgl. Tielinen, Kirsimarja: Ein Blick von außen. Ermittlungen im deutschsprachigen Frauenkriminalroman. In: Franceschini, Bruno/Würmann, Carsten (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre. Berlin: Weidler 2004, S. 41–68. 14 Vgl. zu der damit verbundenen Aufmerksamkeit für kriminalliteraturwürdig gewordene ›Frauenthemen‹ etwa Wilke, Sabine: Wilde Weiber und dominante Damen. Der Frauenkrimi als postfeministischer Verhandlungsort von Weiblichkeitsmythen. In: »Literatur für Leser« 3 (1995), S. 151–163. 15 »Ob Detektivin oder Kommissarin – die Fahnderinnen der neuen deutschen Krimi-Autorinnen haben eines […] gemein: Sie sind gestandene, intelligente Frauen. Keine dummen, gestylten Anhängsel erfolgreicher Männer oder nur Mordobjekt à la ›schöne Leiche im Teich‹« (Wagner, Susanne: Deutsche Krimi-Autorinnen machen Chandler & Co. Konkurrenz: Frau mordet mit Eisbein. In: »Express« vom 14. Juli 1989. Zit. nach Barfoot, Nicola: Frauenkrimi/polar féminin. Generic Expectations and the Reception of Recent French and German Crime Novels by Women. Frankfurt (Main): P. Lang 2007, S. 81.

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Auch eine Genregeschichte Poes Dupin-Erzählung The Murders in the Rue Morgue, in der Werkausgabe als »great literary monument« vorgestellt, »the first story deliberately written as [a detective story] to attain worldwide popularity« (M, 521), fügt sich nahtlos in ein Gesamtwerk der »bleeding, raped, decapitated, dead, and resurrected women, brutalized, buried, cemented in cellars« und nunmehr eben »stuffed up chimneys«.16 Die Erzählung der Aufklärungsgeschichte beginnt mit der Lektüre eines Zeitungsartikels in der Gazette des Tribunaux von jenen »extraordinary murders« (M, 537), denen Madame L’Espanaye und ihre Tochter in ihrer privaten Wohnung – »found locked, with the key inside« (M, 537) – zum Opfer fielen. Als Urheber des Gemetzels wird am Ende ein aus Borneo stammender Orang-Utan identifiziert. Die Erzählung vom Ausbruch grauenerregender Gewalt ist dabei von Anfang an für die interessierte Öffentlichkeit zum sensationellen Fall formiert, denn der Zeitungsartikel vollzieht in seiner textuellen Konfiguration nach, wie sich eine aufgestörte Öffentlichkeit – »aroused from sleep by a succession of terrific shrieks« (M, 537) – gewaltsam Zutritt zum Innenraum der Privatwohnung verschafft und so jenes »spectacle« akustisch bezeugt und in Augenschein nimmt, »which struck every one present no less with horror than with astonishment.« (M, 537) Der faszinierte Blick der eingedrungenen Öffentlichkeit, so weiß der Zeitungsartikel zu berichten, fällt auf eine Szenerie nackter Gewalt und erspäht mit einiger Mühe die versehrten weiblichen Körper als zerquetschtes, zerschmettertes, aufklappbares Fleisch: Of Madame L’Espanaye no traces were here seen; but an unusual quantity of soot being observed in the fire-place, a search was made in the chimney, and (horrible to relate!) the corpse of the daughter, head downward, was dragged therefrom; […] Upon examining it [the body], many excoriations were perceived, no doubt occasioned by the violence with which it had been thrust up and disengaged. Upon the face were many severe scratches, and, upon the throat, dark bruises, and deep indentations of finger nails, as if the deceased had been throttled to death. After a thorough investigation of every portion of the house, […] the party made its way into a small paved yard in the rear of the building, where lay the corpse of the old lady, with her throat so entirely cut that, upon an attempt to raise her, the head fell off. The body, as well as the head, was fearfully mutilated – the former so much so as scarcely to retain any semblance of humanity. To his horrible mystery, there is not as yet, we believe, the slightest clew. (M, 538)

16 Jordan, Cynthia S.: Poe’s Re-Vision: The Recovery of the Second Story. In: »American Literature« 59/1 (1987), S. 1–19, hier S. 10.

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Der erste zitierte Zeitungsartikel schließt mit der äußeren Leichenschau am Tatort in der Rue Morgue und verzeichnet akribisch die Spuren der Gewalt, die sich im toten Fleisch der verstümmelten Körper eingeprägt haben. Demgegenüber präsentiert der zweite Bericht zunächst eine raffende Zusammenfassung der Aussagen jener unterschiedlichen Ohrenzeugen, die sich am Ort des akustischen Spektakels und des evidenten Grauens versammelt hatten, schließt jedoch im ärztlichen Blick auf die Leichen mit einer ersten semiotischen Lektüre der Körperzeichen (M, 538–544). Damit wird eine für die detektivische Ermittlungsarbeit konstitutive Übersetzung des Körpers vom individuellen Leib des Opfers mit einer Geschichte zum materiell zurückbleibenden und auszulesenden Spurenträger vorbereitet, der nurmehr als Speichermedium der Tat inspiziert wird. Die Arbeit am Rätsel, das die somatischen Überreste spektakulärer Gewalt den Betrachtern stellen, suspendiert trauerndes Angedenken und affektives Entsetzen, das in der Erzählung zweifach buchstäblich eingeklammert wird17, zugunsten semiotischer Schließungsbemühungen im Zeichen des »amusement« (M, 546). Der Text verhandelt diese Ersetzung des Somatischen durch das Semiotische unverkennbar in der entworfenen Tatkonfiguration und der ihr zugrunde gelegten Geschlechterordnung: eingedrückte Kehlen, halb durchgebissene Zungen und durchschnittene Hälse der weiblichen Opfer auf der einen Seite, den animalischen noise18 hervorbringenden ›Täter‹, dessen Gemetzel floskelhaft mit »mon dieu« kommentiert wird, sowie die vergleichsweise geschwätzige und belesene Paarung von Detektiv und sidekick19 auf der anderen Seite. Cynthia Jordan hat angesichts dieser Konstellation die These formuliert, die Ermittlungstätigkeit Dupins sei darauf zugeschnitten, die Sprachlosigkeit der ermordeten Frauen zu heilen, schließlich produziere seine Detektion ja gerade jene »second story« des Verbrechens, »that provides a text for female experience«.20 Wie bereits Joseph Church überzeugend dargelegt hat, verkennt diese Argumentation allerdings, dass am Ende der Ermittlungstätigkeit mitnichten eine weibliche Perspektive rekonstruiert wird oder eine Rekalibrierung der Empathielenkung und Identifikationsangebote zu beobachten ist. Vielmehr gilt: 17 Sowohl im ersten Zeitungsartikel (M 538) als auch in Dupins Monolog, der seine analytischen Schlüsse resümiert, sind empathische und affektive Impulse im Angesicht der verstümmelten Körper in Klammern gesetzt: »On the hearth were thick tresses […] of grey human hair. These had been torn out by the roots. […] Their roots (a hideous sight!) were clotted with fragments of the flesh of the scalp – sure token of the prodigious power which had been exerted in uprooting perhaps half a million of hairs at a time.« (M 557) 18 Vgl. hierzu Niebisch, Arndt: Noise – Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert. In: Gansel, Carsten/Ächtler, Norman (Hg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 83–96. 19 Vgl. jüngst Andrew, Lucy/Saunders, Samuel (eds.): The Detective’s Companion in Crime Fiction. A Study in Sidekicks. Cham: Springer 2021. 20 Jordan, Cynthia S.: Poe’s Re-Vision, S. 5.

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»all the men obtain deliverance, the women unrequited annihilation«.21 Denn Poes Erzählung von Dupins Ermittlungstätigkeit »endeavors above all to prove the ratiocinative genius of the detective in exonerating other male characters of guilt for the violence.«22 Bemerkenswerterweise vollzieht sich dabei die Einsetzung der ›wahren‹ Geschichte des Verbrechens als narrative Passung zwischen Dupins vorgängigen semiotischen Zeichenlektüren und analytischen Schlussfolgerungen (M, 547–560) sowie dem in Erzählerrede übersetzen Geständnis jenes Matrosen, der diese »ferocious« (M 565) Bestie von Borneo nach Paris gebracht hatte. In einem Raum, der als closed room (M, 563) spiegelbildlich zum Tatort angelegt ist23, und in einer Konstellation, »[which] in some ways parallel[s] the actions of the ape in the display of physical power over its victim(s)«24, ist es die Autorität der Stimme Dupins, die im Zeichen der Geständnismotivierung die Unschuld des Matrosen von vornherein festsetzt: »I perfectly well know that you are innocent of the atrocities in the Rue Morgue. […] You have done nothing which you could have avoided – nothing, certainly, which renders you culpable. […] You have nothing to conceal. You have no reason for concealment. On the other hand, you are bound by every principle of honor to confess all you know. An innocent man is now imprisoned, charged with that crime of which you can point out the perpetrator.« (M, 563–564)

In der nun folgenden Erzählung der Geschichte des Verbrechens, die akustisches und optisches Spektakel in der voyeuristischen Perspektive der Ohren- und Augenzeugenschaft zusammenführt, wird bezeichnenderweise eine der getilgten Stimmen der ermordeten Frauen an einem neuralgischen Punkt der Verbrechenserzählung im Zeichen der Wahrscheinlichkeit restituiert. Denn es sind nach diesem Geständnis des Matrosen, das sich die Erzählung in personaler Erzählsituation zu eigen macht, »[t]he screams and struggles of the old lady [that] had the effect of changing the probably pacific purposes of the Ourang-Outang into those of wrath. With one determined sweep of its muscular arm it nearly severed her head from her body« (M, 566–567). Es gibt nun meines Wissens im Genre wenige Orang-Utans, die sich mit dem Rasiermesser in der Hand ohne weitere (strafrechtliche) Konsequenzen mit blinder Gewalt durch den urbanen Raum morden. Sieht man jedoch von dieser konkreten und von der Poe-Philologie unterschiedlich ausgelegten Bildwahl auf der Darstellungsebene ab, so lässt sich die nahe am Text verfolgte Konfiguration 21 Church, Joseph: »To Make Venus Vanish«. Misogyny as Motive in Poe’s »Murders in the Rue Morgue«. In: »American Transcendentalism Quarterly« 20/2 (2006), S. 407–418, hier S. 417. 22 Close, Glen S.: Female Corpses, S. 39. 23 Vgl. zur Äquivalenz zwischen dem locked room mystery des Verbrechens und dem closed room polizeilicher Befragung Brooks, Peter: Troubling Confessions. Speaking Guilt in Law & Literature. Chicago/London: University of Chicago Press 2001, S. 14–15. 24 Messent, Peter: The Crime Fiction Handbook. Chichester: Wiley-Blackwell 2013, S. 112.

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von ›Körper‹ und ›Kopf‹, von Fleischresten und Stimmgewalt als öffentlichem Spektakel doch als leitend für die weitere Entwicklung der Genregeschichte und Gattungspoetik begreifen. Denn über die Jahrhunderte detektivischen Erzählens konstant geblieben ist die geschlechtsspezifische Konfiguration einer »wound culture« – d. h. nach Mark Seltzer »the public fascination with torn and open bodies and torn and opened persons, a collective gathering around shock, trauma, and the wound«25 –, die die zu aufklappbaren Körpern reduzierten weiblichen Opfer mit der sprachgewaltigen Figur des Detektivs kontrastiert, der aus den zurückgelassenen Fleischfetzen die Stimmen der Täter und ihre Geschichten als verdrehte Mimikry männlicher Alltagshandlungen herausliest.

Variationen Dieses genrekonstitutive Zusammenspiel aus »somatic« und »semiotic closure«26, das sich als Narrativ der Verstörung und Restitution einer patriarchalen kulturellen Ordnung samt ihrer homosozialen Strukturen verstehen lässt, wird in vielfachen Variationen über den toten, zum Schweigen gebrachten weiblichen Körper verhandelt. Obgleich in die kriminalliterarischen Darstellungen von Tod, Weiblichkeit und Körper je unterschiedliche Bedeutungsebenen eingezogen sind, lassen sich doch in der erzählerischen Ausgestaltung dieser multimedialen Bilderbogen über die Genregeschichte hinweg wiederkehrende Konfigurationen erkennen27, die sich bis in die Gegenwartsliteratur fortschreiben. Im jeweils neuen epistemologischen Gewand beziehen diese Texte narratives Kapital aus misshandelten weiblichen Körpern und den sich auf ihrer versehrten Oberfläche abzeichnenden verdrehten männlichen Psychen, wie in Michael Connellys Late Show (2017): Ballard stellte fest, dass der Oberkörper an den Seiten fast vollständig von violetten Blutergüssen überzogen war. […] Ballard beugte sich von links über das Bett, um die violetten Blutergüsse aus der Nähe zu betrachten. Schon nach Kurzem machte sie zwei nebeneinanderliegende Ringe von einem dunkleren Violett aus, die sich von ihrer 25 Seltzer, Mark: Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture. New York/London: Routledge 1998, S. 1. 26 Bronfen, Elisabeth: Over Her Dead Body, S. 291–292. 27 Zu genregeschichtlichen Auseinandersetzungen vgl. Close, Glen S.: Female Corpses sowie mit Schwerpunkt auf der geschlechtsspezifischen Erzähllogik des hard boiled-Genres Breu, Christopher: Hard-Boiled Masculinities. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2005 sowie Walton, Priscilla L./Jones, Manina: Detective Agency. Women Rewriting the HardBoiled Tradition. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1999. Neuere Arbeiten entwickeln insbesondere intersektionale Lektüren, auch für kanonische Autor:innen. Vgl. Bernthal, J.C.: Queering Agatha Christie. Revisiting the Golden Age of Detective Fiction. Cham: Springer 2016.

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weniger stark verfärbten Umgebung abhoben. Sie war überzeugt, dass sie die zwei O des Worts GOOD waren.28

Der für die körperpolitische Inszenierung des Krimi-Genres allgemein konstitutiven Lektüre von Fleisch gewordenen Tatspuren, aus denen sich das Bild eines Täters herausschälen lässt, diese Einsetzung des toten (weiblichen) Körpers als »cipher« und »signal for a battle […] between murderer and sleuth«29, begegnet man so auch im zweiten Band von Volker Kutschers Gereon-Rath-Reihe in bezeichnender Variation. Der stumme Tod (2009) übersetzt die gravierende medienästhetische Zäsur einer Umstellung vom Stumm- auf den Tonfilm in einen passenden Serienmörder-Plot: In geschlossenen Kinos werden – kunstvoll drapiert, sorgfältig geschminkt, wie »für Dreharbeiten zurechtgemacht«30 – mehrere Leichen von Schauspielerinnen gefunden, denen, wie die Autopsie ergibt, »prae mortem« (ST, 287) die Stimmbänder entfernt wurden; die Ermittler:innen verstehen dies als interpretationsbedürftige Zeichen einer intentionalen Inszenierung, als uneigentliche Rede des Täters: »Das Ganze ist Theater«, sagte Rath […]. »Eine Inszenierung. Da möchte uns jemand etwas erzählen – uns oder vielmehr der Öffentlichkeit.« »Und was?«, fragte Gennat. »Was will er uns erzählen?« Rath zuckte die Achseln. »Genau das müssen wir herausfinden. Wenn wir das verstehen, könnte es uns auch zu dem Täter führen.« (ST, 407–408)

Flankiert von den Referenzen auf das faktuale politische »Spektakel« (ST, 20) um die Beerdigung Horst Wessels und auf jene historische »Mordserie« um den sog. Vampir von Düsseldorf, die »der spektakulärste Kriminalfall Preußens seit Jahren« (ST, 17) war, sowie der fiktionalen Ergänzung von Raths Erleben einer ihm selbst unverständlichen Verschränkung von Sexualität, Wut und Gewalt in der Silvesternacht des neuen Jahres 1930, in der sich »eine unnennbare Aggression […] Bahn brach […] und er sich austobte, als habe er hundert Jahre keine Frau mehr gehabt« (ST, 16), entwickelt der Roman eine Verbrechensgeschichte um die Abgründe eines in diese historische Kulisse und ihre epistemologische Ordnung eingepassten Serienmörders.31 28 Connelly, Michael: Late Show. Renée Ballard. Ihr erster Fall. Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb. Zürich: Kampa 2019, S. 133. 29 Edwards, Martin: Victim. In: Herbert, Rosemary (ed.): The Oxford Companion to Crime and Mystery Writing. Oxford: Oxford University Press 1999, S. 478–479, hier S. 478. 30 Kutscher, Volker: Der stumme Tod. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, S. 270. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle ST nachgewiesen. 31 Diese Passung ist genrekonstitutives Kennzeichen des historischen Kriminalromans, der in seinen kriminalliterarischen Bilderbogen anschlussfähig ist an die jeweils zeitgenössischen Vorstellungen von der Vergangenheit. Das Erzählen von einem Serienmörder schreibt mithin ein mediales Dispositiv aus, das weit mehr ist als nur eine Kulisse: »Das Spektakuläre des Lustmords, seine kulturelle Popularität sowie seine epistemologische Relevanz für ein kri-

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Angerührt mit dem stereotypen Komplex der versagenden, vatermordenden und wahnsinnigen Mutter, der als madwoman in the attic32 als erster Frau die Stimme entzogen wird (ST, 220–223), und individualisiert mit der Leidensgeschichte einer Diabeteserkrankung, entwirft der Text eine psychopathologische Motivkonfiguration, die ästhetisches Votum und mörderische Schöpfung verschaltet und so dem Täter zurechnet:33 Die aus der Leidensbiographie von körperlicher Askese, stetigem »Hunger« (ST, 67) und Abschottung von der Welt abgeleitete Obsession mit dem Stummfilm löst ein Morden aus, das die Auslöschung der mütterlichen Stimme iteriert und zur Sicherstellung der weiteren Befriedigung des auf die Theatralität der stummen Körper geeichten Blickes Schauspielerinnen entführt, verstümmelt, realiter ihrer Stimme beraubt, um die Schönheit der stummen Körper »im Todeskampf« (ST, 535) medial zu konservieren und so »in die Unsterblichkeit« (ST, 359) zu führen. Das filmästhetische Votum, »der Sprechfilm [bedeute] den Tod der Filmkunst« (ST, 141), entbindet einen mörderischen Zwang, die begehrten Bilder von »stummen engelgleichen Wesen« selbst zu erschaffen, die verachteten, »falsche[n] Stimme[n]« (ST, 359) selbst zu tilgen. Da der Mörder Suizid begeht, bevor die ›wahre‹ Geschichte des Verbrechens in Ermittlerperspektive ausgedeutet und fixiert werden kann, bleibt es den Leser:innen überlassen, dieses Bildarrangement der Tat von Sprachlosigkeit, Weiblichkeit und Tod zu interpretieren und die als Fallgeschichte entwickelte physische und psychische Biographie des Täters in ihren Ursachen wie in ihren historischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Implikationen zu interpretieren: als extreme Ermächtigungsfantasie des männlichen Blickes, die es

minologisches Wissen bildet um die Jahrhundertwende einen engen Diskurszusammenhang aus und sind als dessen konstitutive Elemente in einem produktiven Sinn maßgeblich aufeinander bezogen« (Höcker, Arne: Epistemologie des Extremen. Lustmord in Kriminologie und Literatur um 1900. München: W. Fink 2012, S. 9). Zur kulturellen Ikone des Lustmörders vgl. Lindner, Martin: Der Mythos »Lustmord«. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Linder, Joachim/Ort, ClausMichael (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen: Max Niemeyer 1999, S. 273–305 sowie immer noch grundlegend Siebenpfeiffer, Hania: »Böse Lust«. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2005. 32 Gilbert, Sandra/Gubar, Susan: The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination. New Haven/London: Yale University Press 1979. 33 Mit narrativen Mitteln und Darstellungsverfahren wird somit das spektakuläre Grauen der Morde mit Interpretationsangeboten und Deutungsperspektiven eingehegt. Die juristische Frage der Zurechnungsfähigkeit stellt sich nicht, da sich der Täter einer Verhandlung durch Suizid entzieht. Damit werden die Taten erzählerisch reproduziert und narrativ eingeholt, jedoch nicht von den Instanzen objektiver Vernunft rational aufgeklärt. Der Text erfasst so das Wesentliche einer lustmörderischen Signatur im Schnittfeld von Kriminologie und Literatur, die sich in diesem Fall deskriptiv fassen lässt als medienästhetisch vermittelter Genuss am Sterben schöner Frauen. Vgl. Höcker, Arne: Epistemologie des Extremen, S. 13–14.

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dem in seiner Wehrlosigkeit fetischisierten weiblichen Körper verwehrt, die Stimme zu erheben. Während Der stumme Tod die Verbrechensgeschichte von der seriellen Auslöschung lebendiger und expressiver Körper in einer historischen Periode dämonischer Lustmorde verankert und parallel in seinen bildgebenden Erzählverfahren an eine medientechnologische Zäsur zurückbindet, die in der Projektion des Täters die zum Fetisch erhobene ›reine‹ Schönheit des weiblichen Körpers im Kunstobjekt mortifiziert, verhandelt Tom Franklins Roman Crooked Letter, Crooked Letter (2010) über zwei tote Frauen – als Pflichtlektüre für das Abitur im Fach Englisch im Lehrplan in Baden-Württemberg verankert – eine komplexe, von Rassismus geprägte homosoziale Beziehung zwischen den zwei Halbbrüdern Larry Ott und Silas Jones. Das Verschwinden Tina Rutherfords in der erzählten Gegenwart ist dabei der Auslöser, um auf den 25 Jahre zurückliegenden Fall um die spurlos verschwundene Cindy Walker zurückzublenden. Die einzige Aufgabenstellung, die die Materialien des Landesbildungsservers BadenWürttemberg im Blick auf diese beiden Frauen vorsehen, ist die folgende: Das missglückte Date mit Cindy Walker und das anschließende Verschwinden des Mädchens wird für Larry zur Katastrophe. […] In einem zweiten Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler dann untersuchen, wie sich das geplante Date auf Larry und sein direktes Umfeld auswirkt und was ein erfolgreiches Date an Larrys Leben womöglich hätte ändern können.34

Nach diesem Date verschwindet Cindy; das soll aber Schüler:innen offenbar nicht weiter interessieren, denn maßgeblich für die Bewertung des Erfolgs ist anscheinend nicht ihr sichtbares Weiterleben. Diese Anleitung, Empathie und Interesse exklusiv auf Larry zu konzentrieren, ist jedoch nur zu angemessen für die Interpretation einer kriminalliterarischen Fiktion, die die beiden Frauen als Leerstellen funktionalisiert, um über ihre unsichtbaren Körper und getilgten Stimmen eine Geschichte von Ausgrenzung und falscher Verdächtigung zu entwickeln. Im Zentrum der Narration steht die Rekonstruktion der leidvollen Biographie eines zu Unrecht verdächtigten und aus der Gemeinschaft verstoßenen Mannes. Die Lösung des Taträtsels ist kongruent mit seiner Erlösung. Diese wenigen, aber paradigmatischen Beispiele zeigen, dass sich im Genre kriminalliterarischen Erzählens eine geschlechtsspezifische Dichotomisierung von ›Körper‹ und ›Kopf‹ beobachten lässt: »While the murderer and, subsequently, the detective in some sense write their stories on the victim’s body, the

34 Unterrichtsmaterialien zu Crooked Letter, Crooked Letter. URL: https://www.schule-bw.de /faecher-und-schularten/sprachen-und-literatur/englisch/unterrichtsmaterialien-nach-kom petenzen/interkulturelle-kommunikative-kompetenz/crookedletter/dating / letzter Zugriff am 26. November 2022.

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victim, often conventionally female, seldom gets the chance to tell her story.«35 Eine feministische Arbeit am Genre hintertreibt diese gendercodierte Erzähllogik der Verteilung von Wissen, Stimme und Körper nicht nur im synchronen Schnitt der marktstrategisch und zur Re-Formierung des Feldes als ›Frauen-Krimis‹ platzierten Fiktionen, sondern ist in ihren body politics von Aufklärungs- und Verbrechensgeschichte der Hoffnung auf Neues verpflichtet – wider die ethisch bedenkliche Perpetuierung der immer gleichen generischen Erzählungen und kulturellen Narrative vom poetischsten Thema der Welt.

Langeweile, Grauen und die Wirklichkeit Nach Dekaden der Genregeschichte, in denen zum Amüsement der Leser:innen die weiblichen Körper als Objekte devianten Begehrens ausgeweidet und im nach Wissen und Wahrheit spähenden detektivischen Blick inspiziert wurden, machen sich in Forschung und Kritik Überdruss, ja nachgerade Übersättigungsekel bemerkbar. Begreift man Kriminalliteratur als Genre, das »thrives on the unexpected«36, so fordert die Wiederholung dieser immer gleichen kulturellen Narrative nicht nur gendersensible Genrelektüren der Forschung heraus, sondern birgt auch den kritischen Befund von konzeptioneller Ödnis und intellektueller Langeweile, der die populäre Attraktivität des generischen Erzählmodells als solches bedroht. Bereits eine Invertierung der genrestereotyp tradierten Geschlechterverhältnisse, etwa in der bildgewaltigen Ästhetik der female avengers und bad girls, erweist sich denn auch gerade im Segment des ausgerufenen ›Frauen-Krimis‹ als beliebter Überraschungseffekt und bietet gleichsam »neue Märchen für die neue Frau von heute«.37 Unterhaltung und Entlastung, die Promising Young Woman (2020, Regie: Emerald Fennell) in ihren ästhetisch überstilisierten Rachefeldzügen bieten mögen, sind nur von kurzer Dauer. Zu präsent ist die alltägliche Realität misogyner Gewalt, wie sie Maggie Nelsons The Red Parts. Autobiography of a Trial (2007) exemplarisch reflektiert – ein Text, der um die Entführung und Ermordung von Nelsons Tante Jane Mixer im Jahr 1969 und die Auseinandersetzung mit dem erst 35 Jahre später beginnenden Strafprozess kreist. Im Mittelpunkt stehen die literarische Verarbeitung der Lebensgeschichte der Toten, bevor sie

35 Binder, Sabine: Women and Crime in Post-Transitional South African Crime Fiction. A Study of Female Victims, Perpetrators and Detectives. Leiden/Boston: Brill Rodopi 2021, S. 22. 36 Plain, Gill: Twentieth-Century Crime Fiction. Gender, Sexuality and the Body. Edinburgh: Edinburgh University Press 2010, S. 11. 37 Düringer, Katarina: Beim nächsten Buch wird alles anders. Die neue deutsche Frauen-Unterhaltungsliteratur. Königstein/Ts: Ulrike Helmer 2001, S. 7.

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zum Opfer wurde38, und der Schmerz der Angehörigen, ihre traumatischen Versehrungen in einer Grenzerfahrung, »where the present collapses into the past without warning, where we cannot escape the fates we fear the most, where heavy rains come and wash bodies up and out of their graves, where grief lasts forever and its force never fades«.39 Im Unterschied zur genrekonstitutiven Körperpolitik im Genre wird die Tote nicht als Verkörperung eines Rätsels funktionalisiert, sondern initiiert eine von »bewilderment« und »potent rage – a rollicking protest« geleitete Selbstbefragung »before being swallowed up, be it by anxiety, grief, amnesia, or horror«.40 In diese unmittelbar im Anschluss an die Verhandlung verschriftlichte Auseinandersetzung mit den traumatischen Wunden in der Familiengeschichte eingelassen ist eine filmgeschichtliche Erkundung der Archive medialisierter sexueller Gewalt. Denn in scharfen Kontrast zu dem Rückblick auf den Besuch einer Vorführung von Taxi Driver (1976, Regie: Martin Scorsese) gesetzt ist die Erinnerung an einen Kinobesuch Nelsons mit ihrer Mutter, der Schwester von Jane, bei dem die beiden zufällig Freeway (1996, Regie: Matthew Bright) sehen. Während das Kinoerlebnis des Klassikers geprägt ist von einem überwiegend männlichen Publikum, das dem Skript der Filmvorlage entlang sexuelle Gewaltfantasien brüllt – »[s]itting alone in a sea of young men hollering, Did you ever see what a .44 can do to a woman’s pussy?« –, weist die Erinnerung an das B-Movie in eine kategorial andere Richtung: In its opening scenes a wayward teen played by Reese Witherspoon steals a car and runs away from her truly screwed-up family. Her car then breaks down on a California freeway, and a seemingly well-meaning yuppie, played by Kiefer Sutherland, pulls over to help. […] She then realizes that he is the so-called ›I-5 Killer‹, and he intends to make her his next victim. By this point in the movie – just about ten minutes in – I could see that we were going to have to pack up. But as we started to gather our things, the movie took another turn. […] What I remember is the moment in the small dark theater, right before Witherspoon pulls out her gun, right before we stood up to leave, when my mother leaned over and whispered to me, Let’s give it one more minute – maybe something different is about to happen.41

Die Hoffnung, dass diesmal etwas anderes passiert, dass es diesmal anders ausgeht, ist offensichtlich auf Wirklichkeit und Fiktion bezogen. Bedenkt man den »feedback loop between ›true‹ and fictional crime narratives«42 und ruft sich 38 Vgl. Rubenhold, Hallie: The Five. The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper. London: Doubleday 2019. 39 Nelson, Maggie: The Red Parts. Autobiography of a Trial. London: Vintage 2017, S. 122. 40 Ebd., S. 10 und XVII. 41 Ebd., S. 61 und 62–63. Hervorhebung im Original. 42 Rzepka, Charles J.: Introduction: What Is Crime Fiction? In: Rzepka, Charles J./Horsley, Lee (eds.): A Companion to Crime Fiction. Malden: Wiley-Blackwell 2010, S. 1–9, hier S. 1.

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sodann die aktuellen Statistiken zu Femiziden ins Gedächtnis, wird unmittelbar einsichtig, dass auch ein intersektionales Re-Writing der body politics kriminalliterarischen Erzählens auf weibliche Opfer bezogen bleiben wird, will das Genre nicht sein gesellschaftskritisches Funktionspotential einer reflexiven Aufklärung über die Gegenwart verlieren. Vielmehr sehen sich Autor:innen mit der Herausforderung konfrontiert »to be writing against real violence in a genre that is invested in and depends on violence like no other«.43 Die Auseinandersetzung mit den in ihrer Wiederholung ermüdenden Erzählungen des Genres, in denen Frauen zum Schweigen gebracht werden, um die monströsen Psychen der Täter und die exzentrische Brillanz der Detektive umso unterhaltsamer zum Plaudern zu bringen, ist mithin als kritische Arbeit an den kulturellen Skripten der Gegenwart und der in die Erzählformeln eingelassenen Repräsentationspolitik des Genres zu verstehen, das aber auch das Potential hat, die systemische misogyne und rassistische Gewalt unserer Wirklichkeit bloßzulegen.44 Es ist die auch mit Rachephantasien aufgeladene (vergebliche) Sehnsucht, dass die »Angst […] die Seiten wechseln [sollte]«45 – zumindest im Freiraum der Fiktion. Entsprechend vielfältig sind die Ansätze eines Re-Writing der eingespielten body politics kriminalliterarischen Erzählens, die von einer grotesken Überzeichnung abgegoltener Erzählmodelle über die Feminisierung der erzählten Welt bis hin zu radikalen Experimenten mit den generischen Erzählverfahren reichen. Gemeinsam ist allen diesen Variationen, von einem neuen Verhältnis der Geschlechter zur Gewalt zu erzählen und somit in ihren Experimentalanordnungen jener Repräsentationspolitik der in der ersten Geschichte des Verbrechens und in der zweiten Geschichte der Aufklärung erzwungenen weiblichen Sprachlosigkeit zu opponieren. Es ist damit auch der Widerstand gegen klassische Texte, deren misogyne Parolen man im Angesicht einer Frau mit Waffe besser nicht wiederholt.

Klassiker, Mimikry und Paranoia Bezugspunkt des Re-Writing ist ein Genre, das – wie die skizzierte Traditionslinie seit Edgar Allan Poe zeigt – in der körperpolitischen Geschlechtskonfiguration seines analytischen Erzählmodells nachgerade idealtypisch eine feministische Deutung von Gender und Geschlecht verbürgt. Denn die erzählten Verbrechen können als symptomatische Taten einer patriarchalen Gewaltordnung gelesen 43 Binder, Sabine: Women and Crime, S. 2. Hervorhebung im Original. 44 Bereits The Murders in the Rue Morgue, nachdrücklich aber The Mystery of Marie Rôget sind bekanntlich auf reale Fälle bezogen. 45 Mathieu, Nicolas: Rose Royal. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Berlin: Hanser 2020, S. 19.

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werden, serieller Lustmord erweist sich als »an eminently logical step in the procession of patriarchal roles, values, needs, and rule of force. It enacts a primary principle of male supremacy and can be recognized as one of the latest expressions in a tradition of what Mary Daly first named as gynocide.«46 Aus dieser Perspektive scheint es folgerichtig, dass der Frauen-Krimi gleichsam den ›neuen deutschen Kriminalroman‹ fortschreibt und in dezidiert gesellschaftskritischer Perspektive die bis dato unbedachte Funktionsstelle ›Geschlecht‹ in das Zentrum rückt, mithin das Gewaltpotential der aktuellen patriarchalen Ordnung im Medium der Fiktion Fall um Fall entbirgt. Entsprechend verzichten auch diese Texte nicht auf die Repräsentation sexueller und misogyner Gewalt; sie stören aber die automatisierten Erzählabläufe um den Genuss an der weiblichen Leiche – etwa, indem sie die genretypische Schule der Empathie47 gegen den Strich bürsten und Ermöglichungszusammenhänge weiblicher Solidarität im Patriarchat erkunden wie Ingrid Nolls Die Apothekerin (1994)48 oder von weiblicher Rache und der Gewalt des Zurückschlagens erzählen wie Edith Kneifls Zwischen zwei Nächten (1991)49 oder die Lustmörderin als eine aus Männerhirnen seit der Antike wieder und wieder erschaffene Weiblichkeitsimagination reflektieren, die bezeichnenderweise die journalistische Recherche nach der »wirklich gewalttätige[n] Frau« in der patriarchalen Ordnung überschreibt, wie Thea Dorns Die Hirnkönigin (1999): »›Diese ganze Salome taugt doch nur als verschärfter Männerporno. […] Die Lustmörderin ist genauso eine Männerphantasie wie der Lustmörder.‹«50 Gerade diese in Figurenrede eingelassene Reflexion verdeutlicht, dass eine schlichte Invertierung des Poe’schen Modells von hingemetzelten Frauen und geschwätzigen Männern in der Täter- und Detektivrolle die geschlechtscodierte Konfiguration von aufklappbarem Fleisch und sprachgewaltiger Monstrosität 46 Caputi, Jane: The Age of Sex and Crime. London: The Women’s Press 1998, S. 3. Hervorhebung im Original. Zit. nach Birke, Dorothee/Butter, Stella: »Shattering the blood-spattered glass ceiling«. (De-)Stabilisierungen der patriarchalischen Geschlechterordnung durch die Figur der Serienkillerin in Literatur und Film. In: Bach, Susanne (Hg.): Gewalt, Geschlecht, Fiktion. Gewaltdiskurse und Gender-Problematik in zeitgenössischen englischsprachigen Romanen, Dramen und Filmen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2010, S. 81–100, hier S. 83. 47 Vgl. hierzu Beck, Sandra: Die zwei Seiten von Law & Order. Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern. In: 54books, 7. Juni 2020. URL: https://www.54books.de/die-zwei-seiten-von-law-or der-ueber-die-kulturelle-diskrepanz-von-bildern / letzter Zugriff am 25. November 2022. 48 »Aber jetzt spüre ich zum ersten Mal im Leben Mitleid mit einer fremden Frau, ein Gefühl, das ich immer nur Männern vorbehalten hatte« (Noll, Ingrid: Die Apothekerin. Zürich: Diogenes 1994, S. 33). 49 Vgl. für eine weiterführende Analyse Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction. Politics, Justice and Desire. Jefferson NC: McFarland 2014, S. 59–73. 50 Dorn, Thea: Die Hirnkönigin. Hamburg: Rotbuch 1999, S. 23 und 154. Vgl. im Detail Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: transcript 2011, insbesondere S. 185–215.

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resp. Vernunft die Arbeit am Genrenarrativ und an den kulturellen Skripten der Gegenwart letztlich auf die Ersetzung der einen Weiblichkeitsimagination durch die andere reduzieren würde. Entsprechend verbinden die im Folgenden exemplarisch diskutierten Romane von Pieke Biermann, Maria Gronau und UtaMaria Heim in ihrer Auseinandersetzung mit Geschlecht und Gewalt im Genre den Bildertausch imaginierter Weiblichkeit – vom fragilen Opfer zur femme fatale – mit dynamischen Konstellationen von reflexiven Störungen, Pluralisierungen der Verbrechensgeschichten und grundlegenden epistemologischen Fragen nach der Erkennbarkeit von Welt, der Lesbarkeit von Verbrechenstexturen. *** In der Forschung ist Pieke Biermann als eine der wirkmächtigsten, vielfach ausgezeichneten und bekanntesten »Mordsfrauen«51 kanonisiert.52 Ihr zweiter Krimi, Violetta (1990), lässt die Toten zweier Verbrechensgeschichten in geschlechtsspezifischen Reihen auftreten: Denn erweitert um eingewobene Subplots ermittelt »der Erste Kriminalhauptkommissar«53 Karin Lietze mit ihrem Team zum einen im Fall eines Serienmörders, der Frauen an »Nazidaten« (V, 33) vergewaltigt, erwürgt und auf der Stirn den Anfangsbuchstaben ihres Herkunftslandes in Sütterlinschrift einbrennt: »der Tod ist ein Hauswart aus Deutschland« (V, 219). Während diese Mordserie die genrebekannte Beschriftung weiblichen Fleisches perpetuiert, um in den affektiven Reaktionen von Verzweiflung und Ekel mit dem Leiden der Gequälten und Getöteten zu konfrontieren (V, 22–23), mit dieser Brandmarkung der Opfer aber vornehmlich die rassistische Geschwätzigkeit des Täters und seine Deutungsgewalt über ihre toten Körper zeigt, sind zum anderen die Tode mehrerer Männer aufzuklären, die durch »fachmännisch platzierte Handkantenschläge gegen die Halsschlagader getötet worden waren« (V, 58). Die paratextuelle Gestaltung des Covers greift einen dieser Todesmomente auf, überführt aber die Repräsentation der »Es gibt keine – wie soll man das überhaupt nennen? Lustmörderin!« (V, 60) und die

51 Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen. Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich: Chronos 2009. 52 Vgl. Abt, Stefanie: Soziale Enquête im aktuellen Kriminalroman am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2004; Stewart, Faye: German Feminist Queer Crime Fiction, S. 42–55 und Barfoot, Nicola: Frauenkrimi, S. 117–142. 53 Biermann, Pieke: Violetta. Berlin: Rotbuch 1992, S. 18. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle V nachgewiesen.

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Unlesbarkeit ihrer »Handkantenschrift« (V, 58) in eine komisch-groteske Vorstellung, die nicht recht gefasst werden kann.54 Wie die Forschung bereits gezeigt hat, spielt der Roman in dieser komplexen Anlage und Verschränkung von Verbrechensgeschichten unterschiedliche (phantasmagorische) Besetzungsverhältnisse von Tod, Weiblichkeit und Gewalt durch, wobei die Figuren in den ihnen beigeordneten Handlungssträngen auch als Verkörperungen spezifischer Positionen im feministischen Diskurs der Zeit gelesen werden können. Um diese Lesbarkeit herzustellen, lässt der Roman etwa die Mitglieder der »Direktion III – Delikte am Menschen und organisierte Kriminalität« (V, 18; Hervorhebungen im Original) die Aktionen des Kommandos JoAnne Little wiederholt kontrovers diskutieren. Konkret geht es um eine »KiezMiliz«, die – benannt »nach einer schwarzen Frau […], die ihren Vergewaltiger getötet hatte« (V, 106) – dem Staat und seinen Institutionen das »Monopol der legitimen Verteidigung«55 abspricht. Gleichzeitig verlangt der Roman aufmerksame und kritische Leser:innen, die die weibliche, lustmörderische Seriengewalt der bloßen Hände in ihrem ambivalenten Konnex zum »Gesetz des Auges« (V, 9) zu deuten wissen. Dies gilt ebenso für die im »Vorspiel« szenisch vorgeführte Eruption einer Gewalt, die sich selbst als feministische definiert, in ihrer unsolidarischen, andere soziale Diskriminierungskategorien wie race nicht wahrnehmenden Brutalität aber als Effekt eines »bastardized popularized feminism« erscheine, wie Nicola Barfoot pointiert: »This emphasis on the gap between what the women see and what they fail to see makes it clear that this is no glorification of female toughness but an attack on ideologically motivated blindness.«56 Diese eindeutige Bewertung lässt sich als Effekt der experimentellen Beobachtungsanordnung des Romans verstehen, der im Freiraum der Fiktion mögliche Reaktionsweisen auf patriarchale Wirklichkeit und Ausprägungen einer kulturellen Ordnung männlicher Macht als diese signifizierende Gewalttaten durchspielt und idealtypisch entlang zeitgenössischer Diskurse formiert. So korreliert Violetta die Alltäglichkeit sexueller Gewalttaten gegen Frauen – »Männergewalt ist ein verdammtes Problem, und wir kriegen es verdammt nicht in Griff!« (V, 97) – mit der Verbrechensgeschichte von den Gewaltexzessen eines rassistischen Serienmörders. Während sich diese textuelle Konfiguration als affirmative literarische Ausschreibung feministischer Diskurse der 1980er und 1990er Jahre lesen lässt, in denen der »Serienmord als extreme Ausprägung 54 »[H]er violence has a comic-book simplicity and surreality. The illustration on the novel’s cover picks up on this, depicting a cartoon-style couple: the blue-skinned man, in the act of tweaking the pink-skinned woman’s bare nipple, looks astonished; she is grinning as she performs the fatal karate chop« (Barfoot, Nicola: Frauenkrimi, S. 124–125). 55 Dorlin, Elsa: Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 105. 56 Barfoot, Nicola: Frauenkrimi, S. 123–124.

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männlicher Gewalt gegenüber Frauen in patriarchalen Gesellschaften interpretiert werden konnte«57, hintertreibt der Roman über die Figur der weiblichen MitTäterin die Eindeutigkeit dieser Ordnung von Geschlecht und Gewalt im Spektakel der rassistisch gewalttätigen Familie.58 Die andere Reihe geschlechtsspezifisch geordneter Gewalttaten, die Täterinnen präsentiert – die präventive Selbstverteidigung des Kommandos JoAnne Little, deren Mitglieder in Figurenrede als »hirnverbrannte Faustrechtlerinnen« (V, 20), »Racheengel[ ]« (V, 59) oder »Terroristinnen« (V, 98) bezeichnet werden, sowie die Lustmorde Violettas in Serie –, bleibt dabei programmatisch unlesbar: Eine Frau, die Männer umbringt, einfach so. Um sie zu fotografieren. Nachdem sie mit ihnen gevö –! So was hat die Welt noch nicht gesehen. Männer, ja. Aber eine Frau? […] Aber psychopathisch? War sie womöglich eine perfekt getarnte Rächerin? Eine Undercover-Feministin? Er hätte jetzt gern Beate fragen können. (V, 216)

Die Wirkmächtigkeit von Biermanns Roman resultiert so auch aus der Komplexität, in der im Genremodell Verhältnisse von Geschlecht und Gewalt entworfen werden. Denn mit der gesellschaftspolitischen Bestandsaufnahme eines faktischen strukturellen Problems, konkret: die Allgegenwart misogyner Gewalt und »die nahezu komplette Unfähigkeit der Polizei und der Justiz, Frauen […] zu schützen oder wenigstens die Täter zu finden« (V, 65), kontrastieren die ungreifbar und unlesbar gehaltenen weiblichen Täterinnen, die letztlich als phantasmagorische Figuren gezeichnet sind. Im als-ob-Spielraum der Fiktion kann so beobachtet werden, welche Konsequenzen im Verhältnis von Geschlecht und Gewalt eine Umsetzung radikaler feministischer Diskurspositionen nach sich zieht. *** Maria Gronaus Weiberwirtschaft (1996) wiederholt strukturell das am Beispiel von Violetta diskutierte Zusammenspiel einer Beobachtung und experimentellen Einsetzung außerliterarischer Diskurspositionen im Freiraum der Fiktion und entwickelt entsprechend in der Anlage der Verbrechens- und Aufklärungsgeschichten eine vergleichbare Konfiguration von Geschlecht und Gewalt. Denn in Weiberwirtschaft jagt Lena Wertebach einen Serienkiller. Diese Morde der Erzählgegenwart finden ihren Ursprung in den 1980er Jahren, als die Täter:innen im Auftrag des BND in Chile gearbeitet haben; dort beginnt jene Serie von Entführungen, sadistischen Folterungen und Ermordungen von Frauen, die bis 57 Birke, Dorothee/Butter, Stella: »Shattering the blood-spattered glass ceiling«, S. 83. 58 Denn die letzte ermordete Prostituierte, die das Brandzeichen ihrer Nationalität in Sütterlin auf der Stirn trägt, Krzysztyna Ke˛dz˙erska, wurde aus Eifersucht von der Ehefrau des Serienmörders getötet.

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nach Berlin führt. So wird in der Erzählgegenwart das Skelett einer Frau entdeckt und damit der »Wahnsinn, der in [der] Seele [des Täters] eingekapselt war, wieder aufgerührt«59, denn unmittelbar darauf werden Ulrike Schell – eine feministische Aktivistin aus dem »FrauenHaus« – und Susanna Krings – die Lebensgefährtin von Lena Wertebach – »entführt, aufs grausamste [ge]foltert und ermordet« – so bereits die Aufmerksamkeit heischende Ankündigung des Klappentextes. Die Aufklärungsgeschichte, die medientechnologisch mit der Zeit gegangen ist und nunmehr neben Ferngesprächen und Faxen auch kostspielige Verbindungen ins Internet verlangt, schließt mit dem Geständnis »einer ehemaligen BND-Agentin, die sich einem Serienmörder an den Hals geworfen hatte« (WW, 231), jener Frau, die zusammen mit einem »Abteilungsleiter des Bundesnachrichtendienstes« (WW, 214) jahrelang die sadistischen Neigungen ihres partners in crime teilte, aus Angst vor Entdeckung dann aber den Täter und sein jüngstes Opfer tötete – und ihre eigene Tochter, die sie ihm auslieferte: »›Ich habe sogar versucht, weitere Taten zu verhindern‹, erklärte Doktor Murmann. ›Mit Felicitas. Wir haben sie nicht gut behandelt, im Gegenteil. Aber ich dachte, ihm würde es genügen. Und sie war damals erst sieben.‹« (WW, 255) Diese plot-Zusammenfassung liest sich wie ein hypertrophes Potpourri kriminalliterarischer Versatzstücke aus dem Archiv der Genretradition. Neben den Anleihen an eine makrogeschichtliche Genealogie totalitärer Gewalt, wie sie im suspense der cold war-Thriller bearbeitet und hier als Ermöglichungszusammenhang für sadistische misogyne Gewalt eingesetzt wird, sowie Versatzstücken aus US-amerikanischen Serienmörderfiktionen im Silence of the Lambs-Vibe und den sexualpathologischen Abgründen des welfare state aus dem nordic noir60 zitiert der Roman auf der Darstellungs- und Handlungsebene nun eben auch Topoi des ›Frauen-Krimis‹ im Allgemeinen. Die für das Subgenre idealtypische Konstellationen einer Detektion (in) patriarchaler Ordnung mit einer Geschichte und die sie signifizierenden Verbrechen, geleitet von einer toughen und eigensinnigen Ermittlerin im allgemein genderinklusiven Figurentableau, über das Kernanliegen feministischer Politik von sex bis care work literarisch verhandelt werden, sind spätestens Ende der 1990er Jahre wiedererkennbare und damit zitierfähige Elemente kriminalliterarischen Erzählens, die dann parodistisch verzerrt, ironisch invertiert oder affirmativ fortgeschrieben werden können. In der – durchaus genrekonformen – Geste radikaler Überbietung entwickelt Weiberwirtschaft das Profil eines psychopathologischen Serienmörders, der – wie immer – mit den »Taten etwas mitteilen« (WW, 113) möchte, »[d]enn diese 59 Gronau, Maria: Weiberwirtschaft. Frankfurt (Main): S. Fischer 1998, S. 113. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle WW nachgewiesen. 60 Vgl. Robbins, Bruce: The Detective Is Suspended. Nordic Noir and the Welfare State. In: Nilsson, Louise/Damrosch, David/D’haen, Theo (eds.): Crime Fiction as World Literature. New York u. a.: Bloomsbury 2017, S. 47–57.

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Morde sind sein Text« (WW, 68), mit ihnen schreibt er »seine Biografie« (WW, 113). Ungeachtet dieser Zeichenhaftigkeit der Taten unterstützt der Täter die von den Ermittler:innen geforderten semiotischen Entzifferungsprozesse durch Tonbandaufnahmen, die die Schmerzensschreie seiner weiblichen Opfer aufzeichnen (WW, 50) und sich persönlich an Lena Wertebach wenden: Die Dramaturgie seiner barbarischen Hörspiele hatte der Absender nicht verändert, und so begann es mit einem Schrei, der mir das Blut gefrieren ließ; lange würde ich diese Torturen nicht mehr aushalten, Susa gewiß noch weniger. Nachdem der Schrei verstummt war, meldete sich der Mann zu Wort. »Lenchen, Lenchen«, sagte er und lachte. »Soll ich dir erzählen, was ich mit deiner Freundin alles anstelle? Willst du es wissen? Lieber nicht? […] Du bist klug, Lenchen, aber nicht klug genug. Woher ich das weiß? Ich bin immer in deiner Nähe. Ich sitze in deinem Kopf.« (WW, 156)

Der Text evoziert in dieser medialen Konstellation, in der die Aufzeichnung der Schmerzensschreie die sadistisch kalibrierte Qual eines langsamen Sterbens beglaubigt, vornehmlich aber als Material funktionalisiert ist, um die Stimme des Täters zu authentifizieren und seiner Botschaft Geltung zu verleihen, die bekannte Semantisierung gequälten Fleisches, das von der monströsen Seele besprochen wird und nur in dieser Hinsicht relevant ist: als somatischer Objektträger des Taträtsels. Affektiver Kern dieser vom Täter geschaffenen Spielanordnung ist denn auch die Zumutung, für die Ermittlungsarbeit nicht eine mitfühlende, sondern eine detektivische Ohrenzeugenschaft zu aktivieren, die sich auf die (behauptete) ästhetische Gemachtheit dieser Inszenierung konzentriert und die unintelligiblen Schmerzensschreie eines medial unsichtbar gehaltenen weiblichen Körpers ausblendet, um nach weiteren Indizien fahnden zu können. Im Angesicht von Susannas Leiche kollabiert diese Distanzierung vom erlebten Schmerz endgültig, die Übermacht des Schmerzes tilgt die eigene Stimme und wirft Wertebach auf die Position des Opfers zurück:61 »Ich schrie. […] Ich schrie, um nicht sterben zu müssen, aber ich würde gar nicht sterben, denn ich war tot.« (WW, 191–192)

61 Jones betont in diesem Kontext, »that the descriptions of Susa’s torment are filtered through the emotions of the first person narrator« und schlussfolgert: »This technique strips away any possibility of voyeuristic pleasure by restoring the identity of the victim. It is no longer a question of some anonymous female victim dragged into fictional existence for jaded thrillseekers, but someone with whom the first person narrator is deeply in love« (Jones, Christopher: ›Bestialisch dahingeschlachtet‹. Extreme Violence in German Crime Fiction. In: Chambers, Helen (ed.): Violence, Culture and Identity. Essays on German and Austrian Literature, Politics and Society. Oxford: P. Lang 2006, S. 401–415, hier S. 413).

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Adressiert ist die über den gequälten Körper kommunizierte Botschaft des Schmerzes an eine lesbische Ermittlerin, konzipiert als mother sleuth62, die radikalen Feminismus und die linksautonome Szene der Frauenhäuser lakonisch verspottet (WW, 65), von der eigenen Lebensgefährtin für den Staatsschutz bespitzelt wird (WW, 100), feministische Prinzipien und Idealbilder von Männlichkeit im Umgang mit ihrem Sohn aus Liebe aussetzt (WW, 58, 80) und auch sonst in ihrer geschlechtspolitischen Positionierung im bissigen Widerspruch zu essentialistischer feministischer Theoriebildung der 1980er Jahre – Standpunkt, Betroffenheit, solidarischer Parteilichkeit – und ihrer Wirklichkeitsinterpretation gezeichnet ist: »Du bist keine richtige Frau«, meinte Gesine entschieden. »Bist völlig aufgesogen von deiner Männerwelt. Weibliche Solidarität bedeutet dir nicht das geringste.« »Mach mal halblang, Gesine«, verlangte ich, selbst auf das äußerste erregt. […] »Ich habe mit Menschen zu tun, die ermordet worden sind, und da mache ich keinen Unterschied, ob es sich um Männlein oder Weiblein handelt. Wißt ihr, warum? Der Tod kennt den Unterschied nicht.« (WW, 38–39)

Gronaus Weiberwirtschaft ist bei aller Treue zu klassischen Themen, Figurenund Tatkonstellationen des Frauen-Krimis als reflexive Kontrafaktur zu Biermanns Violetta lesbar – in der grundsätzlichen experimentellen Beobachtungsanordnung feministischer Diskurse über ihre konkrete Ausgestaltung in den Handlungssträngen bis hin zum Verdacht rechtsradikaler Anhänger im eigenen Team (WW, 40) –, mit dem bezeichnenden Unterschied, dass nicht mehr die Lustmörderin als zusammengeklebtes Phantasma auf dem Papier erscheint, sondern die Ermittlerin, und zwar als Phantasma des Frauen-Krimis, ersonnen von »entfesselten Schwestern« (WW, 43). Gleichsam äquivalent zur Eingangsszene in Violetta, in der vulgärfeministische Slogans im Zitat offenkundig die gesehene, konkrete Realität verfehlen, steht auch Weiberwirtschaft im Zeichen einer Störung und hintertreibt im beobachteten Verhältnis zwischen ideologischem Anspruch und erzählter Wirklichkeit eine eindeutige politische Lesbarkeit der kriminalliterarischen Fiktion. Exemplarisch greifbar wird dies in der komischen autodiegetischen Aussprache über die gescheiterte Erziehung des eigenen Sohnes entlang feministischer Vorgaben: [W]as mich viel mehr wurmte, war die Einsicht, daß ich mich umsonst abgestrampelt hatte, meinen Jungen nicht so zu erziehen, wie Jungen gemeinhin erzogen wurden: Ich hatte mir als Erziehungsprodukt etwas anderes vorgestellt, ohne genau sagen zu können, was eigentlich, jedenfalls keinen Macho. Und nun mußte ich feststellen, daß Jim sogar Fußball spielte. (WW, 10) 62 Vgl. hierzu Stewart, Faye: Mother Sleuth and the Queer Kid: Decoding Sexual Identities in Maria Gronau’s Detective Novels. In: Martz, Linda/Higgie, Anita (eds.): Questions of Identity in Detective Fiction. Newcastle, UK: Cambridge Scholars Pub. 2007, S. 19–36.

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Die überraschende Pointe erzielt als argumentativer Sprung auch deswegen komische Effekte, weil so metatextuell syllogistische Kurzschlüsse feministischer Argumentation der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Aus dieser Perspektive initiiert bereits der erste Satz des Romans in der Vorstellung von Lena Wertebach ein ironisches Spiel wider den Frauen-Krimi: »Ich bin eine Frau. An jedem Montag, wenn wir unsere Dienstberatungen zum Wochenbeginn abhielten, betete ich diesen Satz wie einen Rosenkranz, um mich gegen den Ansturm der Männer zu wappnen.« (WW, 5) Diese Selbstbeschreibung entpuppt sich zusehends als Selbstbeschwörung, als willentliche Aufrechterhaltung von Differenz und wird von der Selbstbestimmung wider »[d]ie Weiber aus dem FrauenHaus« flankiert: »Ich war Staat, war die Macht« (WW, 79; Hervorhebung im Original). Die unmittelbar folgende Selbstbestimmung rückt diese Positionierung dann diskursiv unter den Kampfbegriff der political correctness:63 »Ich war der Chef. Die Chefin, um es political correct zu sagen. Oder politically correct; mit den englischen Adverbien hatte ich schon immer meine Schwierigkeiten gehabt, aber für die interessierten sich ohnehin bloß die Lehrer.« (WW, 86) Auch an diesem Punkt lässt sich als intertextuelles Echo Biermanns Violetta vernehmen, konkret die Einführung von Karin Lietze als »der EKHK Lietze (Vorname: Karin)« (V, 18) – allerdings mit der signifikanten Variation, dass es nunmehr nicht mehr auf den beruflichen Status innerhalb einer männerbündischen Institution ankommt, sondern auf Macht allein. Es ist bezeichnenderweise die mangelnde political correctness, d. h. die Durchkreuzung und Bloßstellung feministischer Standardpositionen und Erzählverfahren sowie das ironische Spiel mit Erwartungen der Leser:innen, die zeitgenössische Rezensionen des Romans positiv vermerken: »keine gewöhnliche Emanzen-Schnulze«, »keine feministische Streitschrift«, »kein gewollt feministischer Krimi«.64 Es wird ein Text goutiert, der in der generischen Maske des Frauen-Krimis den (unterstellten) radikalen politischen Positionen des FrauenKrimis und seinen Verwerfungen von ›Normalität‹ zu Leibe rückt und dafür wesentlich die zentrale Ermittlerin und autodiegetischen Erzählerin funktionalisiert. Hierzu werden Fragmente einer feministischen Wirklichkeitsdeutung und Versatzstücke einer hypostasierten Frauen-Krimi-Tradition aufgerufen, verschoben – und so lange invertiert und ineinander gefaltet, bis nur noch ein Schrei übrigbleibt, der nichts signifiziert als erlittene Qual. In dieser Perspektive ist Susanna mithin narrativ nicht nur als letzte Leiche funktionalisiert. Vielmehr wird mit ihrem toten Körper metonymisch eine politische Position zu Grabe 63 Vgl. einführend mit Blick auf die Diskurse der 1990er Jahre Möller, Simon: Einst ›Emanze‹ – heute ›politisch korrekt‹. Mediale Modernisierungsstrategien misogyner Rede. In: Geier, Andrea/Kocher, Ursula (Hg.): Wider die Frau. Zu Geschichte und Funktion misogyner Rede. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 183–205. 64 Vgl. Barfoot, Nicola: Frauenkrimi, S. 177–181.

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getragen, die Wirklichkeit ausschließlich im Zeichen des Geschlechterkampfes wahrnimmt. So heißt es auf den letzten Seiten des Romans: Susa existierte zwar noch, aber nur als Erinnerung, die verblassen würde. Ihr Leben, ihre Nähe, ihr Körper und ihre ganze verrückte Ideologie, das war Vergangenheit. Weil Susanna keine Zukunft mehr hatte, kam es mir plötzlich ungeheuerlich vor, daß meine Zukunft in den Bahnen der Gegenwart verlaufen würde. (WW, 259–260)

Die persönliche Betroffenheit der Ermittlerin erscheint in dieser Lesart als Vehikel der Affektsteigerung, um vom herbeizitierten Schreckgespenst orthodoxer feministischer Positionen Abschied zu nehmen. In der seriellen Reihung der Morde wird aus der politischen Akteurin totes Fleisch. Die faktische Qual des gemarterten Körpers wird in dieser semiotischen Auslegung der Ermittlerin ein letztes Mal zum Verschwinden gebracht. Dass dieser Text, der wieder mal von gefolterten, vergewaltigten und ermordeten Frauen erzählt und ihnen nur medial konservierte Todesschreie lässt, auch noch den ›Pakt‹ zwischen Autorin und Leserin im Sinne eines Genreverständnisses des Frauen-Krimis als Texten ›für und von und über Frauen‹ verletzt, ist dabei das letzte Mosaikstück der hier vorgelegten Lektüre. Denn Maria Gronau ist offenbar ein Pseudonym, hinter dem sich Franz Goyke verbirgt.65 *** Uta-Maria Heims Toskanisches Blut (2019) bettet in gewohnt ästhetisch avancierter Schreibweise die Auseinandersetzung mit Geschlecht und Gewalt in einen hochkomplexen und vielfach aufgeladenen Krimi-Plot, der großzügig den Bildbestand des kriminalliterarischen Archives – insbesondere des SpionageThrillers und der Mafia-Fiktionen – zitiert. Es wimmelt von Geheimdiensten, potentiellen Mitarbeitern und möglichen verdeckten Operationen, angeführt von der »gefürchtetste[n] chinesische[n] Geheimorganisation«, dem »›Dritte[n] Büro‹«66, eventuell in Kooperation mit dem Mossad (TB, 56), der CIA, dem Vatikanischen Geheimdienst Pro Deo Due (TB, 166) oder einem »katholische[n] Geheimbund, der Teil der toskanischen Mafia war« (TB, 223), und mitten drin »in all [diesen] komischen Geschichten« (TB, 200) Klara Kerner, die vor dem Ruhestand »ihr Leben in einer leitenden Position beim Landesamt für Verfassungsschutz verbracht« (TB, 15) hatte. Aufgeladen mit dem Anspruch des historischen Kriminalromans, über geschichtliche Zusammenhänge aufzuklären – in diesem Fall über die Geschichte des Linksterrorismus in Italien – und im Figureninventar erweitert um die dysfunktionalen Familien mit ihren dunklen 65 Vgl. ebd., S. 192. 66 Heim, Uta-Maria: Toskanisches Blut. Meßkirch: Gmeiner 2019, S. 30. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle TB nachgewiesen.

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Geheimnissen des idealtypischen Regio-Krimis perpetuiert der Roman unausgesetzt eine Prämisse sowohl paranoider Wahrnehmung von Wirklichkeit als auch kriminalliterarischen Erzählens: den konstanten Verdacht, dass hinter der evidenten Oberfläche eine »tiefe, verdeckte, bedrohliche, inoffizielle, aber sehr viel realere Realität«67 zu finden ist und »alles mit allem zu tun [hat]« (TB, 163). Dem Genre ist nach Luc Boltanski allgemein ein gleichsam paranoider Grundzug zu eigen, da Kriminalliteratur die vordergründig eindeutige Vorstellung von der Welt als Scheinrealität entlarvt. Gleichzeitig stellt die narrative Grundstruktur mit ihrem Schlusspunkt einer definitiven Verbrechensgeschichte sicher, dass die Ermittlung nicht unendlich in den Wahn fortgesetzt wird und sich spiralförmig in sich selbst versenkt. Dafür bürgt die Figur des Ermittlers, der zwar »wie ein Paranoiker [handelt] – mit dem Unterschied, dass er geistig gesund ist«68 und deswegen in der erzählten Welt am Ende Recht behält. Demgegenüber zeichnet sich die sogenannte metaphysical detective story gerade dadurch aus, dass sie eine Auflösung des Rätsels verweigert. Entsprechend definieren Patricia Merivale und Susan Elizabeth Sweeney diese Variante kriminalliterarischen Erzählens als parodistische oder subversive Aktualisierung konventioneller Verfahren der Detektivgeschichte »with the intention or at least the effect of asking questions about mysteries of being and knowing«.69 Toskanisches Blut aktualisiert die Verschränkung des Genremodells mit grundlegenden ästhetischen, epistemologischen und metaphysischen Fragestellungen nicht nur in den vorangestellten Motti – wobei das erste bezeichnenderweise in der gebrochenen Referenzformel des »zitiert nach« auf Paul Auster70 verweist –, sondern schürt wieder und wieder Kippmomente zwischen detektivischen und paranoiden Lektüren gemäß der Kult-Maxime: »Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not out to get you.« Exemplarisch verdeutlichen lässt sich diese Strategie des Textes, paranoide Lektüren in ihrer Entfaltungslogik zu verfolgen und genregemäß ebenso auf Rezeptionsseite anzustiften in einem vermeintlichen Seitenstrang der Erzählung, der sich auf häusliche Gewalt und Femizide konzentriert.

67 Boltanski, Luc: Rätsel und Komplott. Kriminalliteratur, Paranoia und moderne Gesellschaft. Aus dem Französischen von Christine Pries. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 15. 68 Ebd., S. 46. 69 Merivale, Patricia/Sweeney, Susan Elizabeth: The Game’s Afoot: On the Trail of the Metaphysical Detective Story. In: Merivale, Patricia/Sweeney, Susan Elizabeth (eds.): Detecting Texts. The Metaphysical Detective Story from Poe to Postmodernism. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1999, S. 1–24, hier S. 2. 70 Die Forschung hat den Begriff der metaphysical detective story in der Auseinandersetzung mit den Romanen namhafter (post-)moderner Autoren wie Don DeLillo, William Faulkner, Mario Vargas Llosa, Georges Perec und Thomas Pynchon, insbesondere aber Paul Auster entwickelt. Vgl. ebd.

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Der Roman beginnt mit einer beunruhigenden Beobachtung von Gewalt. Denn als Giulia Franca mitten in ihren Vorbereitungen für das Weihnachtsfest, das die Mitglieder ihrer Familie nach Jahren der Funkstille in Florenz versammeln wird – die beiden Söhne samt Partner:innen, ihren Ex-Ehemann mit neuer Frau und den beiden Kindern sowie ihre Mutter Klara Kerner –, unbedacht aus ihrem Küchenfenster blickt, sieht sie, wie ein Mann eine Frau schlägt: Da sah sie im gegenüberliegenden Fenster hinter dem Kreuzgang, keine 20 Meter entfernt, wie eine Frau geschlagen wurde. Sie bekam im Stehen von einem Mann eine Ohrfeige. Giulia wohnte erst ein paar Tage in dem Haus, sie kannte niemanden. Auch dieses Paar nicht. Denn es musste ein Paar sein. (TB, 12)

Die in der Ausgangskonstellation von Küche, Kirche und Kinder verortete zufällige Wahrnehmung dieser gewalttätigen Handlung, die »das nahtlose Gewebe der Realität«71 verletzt, wird direkt mit einem Deutungshorizont für das beobachtete Ereignis versehen. So wird unmittelbar an die Beschreibung der Tat eine aus dem Ereignis selbst nicht deduzierbare Gewissheit angeschlossen, die die Kontingenz der Gewalt in den heteronormativen Deutungshorizont häuslicher Gewalt überführt: »Denn es musste ein Paar sein.« Die Passage führt exemplarisch vor, wie Störungen der vorausgesetzten Normalität durch Aktivierung eingespielter und bekannter Narrative, die aus der Biographie des eigenen Lebens entnommen sind, bearbeitet und als sinnhaft prozessiert werden. Der Roman arbeitet dieser Passung von Ereignis und Struktur insofern strategisch zu, als der mit einem unbegründeten argumentativen Sprung einsetzende Interpretationsprozess die Erinnerung Giulias an ihre gescheiterte Ehe auslöst und somit den frame ›Ehepaar‹ fortschreibt, während das Ereignis selbst wieder und wieder besprochen wird. Fraglich wird dabei der Realitätsstatus der beobachteten Handlung und ihre juristische Einordnung – »War das wirklich schon ein tätlicher Angriff gewesen, den sie beobachtet hatte, war das bereits Körperverletzung, oder übertrieb sie maßlos und redete sich das nur ein? Vielleicht gehörte das zum Spiel der beiden, und es hatte mit häuslicher Gewalt nichts zu tun« (TB, 39) – ebenso wie die daraus resultierende Handlungsverpflichtung für die Augenzeugin. Denn Giulias Beobachtung wird in einer hitzigen, auf Italienisch geführten Debatte unter den Familienmitgliedern nicht nur mit einem Fachbegriff versehen, sondern in ihren gesamtgesellschaftlichen Implikationen diskutiert – wie Simone für seine Großmutter Klara übersetzt: »Giulia hat von dem tätlichen Übergriff erzählt, den sie gestern Abend in der Wohnung vis-à-vis beobachtet hat, und sie reden über Femizid. Das ist, wenn eine Frau, nur weil sie eine Frau ist, umgebracht wird, wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. […] Es gibt eine breite Bewegung gegen Femizid in Florenz. […] Mein Vater 71 Boltanski, Luc: Rätsel und Komplott, S. 24.

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findet das falsch. Er sagt, wenn Frauen aus Liebe getötet werden, dann ist es eine Privatsache«. (TB, 29)

Diese auf der Handlungsebene erzählte, resümierende Übersetzung der Diskussion ins Deutsche reflektiert gleichzeitig einen weiteren Schritt im (detektivischen) Sinnstiftungsprozess: Die zunächst entlang der eigenen biographischen Erfahrungen gedeutete empirische Beobachtung wird nun als Einzelfall in seiner Aussagekraft je nach vorgenommener Kontextaktivierung widersprüchlich erörtert, wobei nicht mehr subjektive Erinnerung und partikulares Wissen in der Wahrnehmung eines Ausschnittes von Wirklichkeit im Zentrum stehen, sondern die im Rahmen der kulturellen Ordnung aktivierten Fall-Deutungen in ihren widerstreitenden Lesarten. Vorgeführt wird mithin eine von den zeitgenössischen Diskursen angeleitete Übersetzungsleistung der kleinen Erzählung eines Falles in ein gesamtgesellschaftliches Narrativ, das weiter ausgefaltet wird entlang der konfligierenden Deutungsprämissen ›strukturelles Problem einer patriarchalen Ordnung‹ vs. ›privates Tabuthema‹. Angesprochen ist damit die gesellschaftspolitische Ebene der Interpretationspraxis – und der Roman übersetzt diese Diskursivierung sexueller Gewalt parallel in die erzählte Realität, indem ein weiterer Handlungsstrang die feministische Protestgruppe Femen vorstellt, deren »Provokationen bewusst geschmacklos« verfahren, »aber den Verzicht auf Gewalt hatten sie sich ganz groß auf ihre Fahnen geschrieben« (TB, 40; Hervorhebungen im Original). Prompt iteriert die Beschreibung einer erneut von Giulia beobachteten weiteren gewalttätigen Auseinandersetzung nicht nur das Standardbild häuslicher Gewalt als männlichen Gewaltausbruch am heimischen Herd, sondern zitiert die ikonisch gewordene körperpolitische Geste weiblichen Protests: In der hell erleuchteten Küche gegenüber stritt sich das etwas beleibte Paar. Beide gingen aufeinander zu, sie schrien und gestikulierten, ohne dass sie handgreiflich wurden. Aber ihre Gesichter waren wutverzerrt. Plötzlich zog die Frau den Pulli hoch und zeigte dem Mann ihre nackte Brust. […] Die Frau hatte den Raum verlassen. Oder sie lag blutend am Boden. Vielleicht hatte der Mann sie niedergeschlagen. (TB, 84–85)

Es ist die Ausschnitthaftigkeit und die Rahmung des Blickwinkels, die die Unentscheidbarkeit zwischen den vorstellbaren Alternativen produziert und die Fort-Erzählung ins Stocken bringt. Die wirksamste Strategie, um das verletzte Gewebe der Realität zu heilen, besteht darin, die Fenster-zum-Hof-Position aufzugeben, die Körper in Augenschein zu nehmen und direkt mit den Nachbarn zu sprechen. Präsentiert wird in zitierter Rede sodann eine Erklärung, die die beobachtete Handlung von Gewalt im Privatraum zum beruflichen Spiel umdeutet: »Die Nachbarn hießen Alessandro und Viola. Sie waren frisch verheiratet, arbeiteten beide als Deeskalationstrainer und nutzten ihre Küche für Rollenspiele.« (TB, 86) Diese ausgesagte Verschiebung der Gewalt von faktischer Tat

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zum spielerischen als-ob hält jedoch einer Überprüfung nicht stand, denn »[d]ie Homepage, von der sie geredet hatten, gab es nicht« (TB, 121). Stattdessen hegt Giulia nun den Verdacht, »dass sie als verdeckte Ermittler arbeiteten« (TB, 129). Als die beiden ermordet werden, ist Giulias Kater der einzige Zeuge. Eine an sie adressierte E-Mail legt postum ihre back story dar: Sie seien – ebenso wie Giulias verschwundener Freund Roberto – Mitglieder einer Guerillapartei, die eine klare Strategie der Gewalteskalation verfolgt (TB, 204). Wenig später stellt sich heraus, dass Namen und Plot-Linien dieser Geschichte Dominique Manottis Thriller L’évasion (2013) entnommen sind (TB, 276–277) und dem wahnsinnig gewordenen Roberto als intertextuelle Folie dienten, um sich selbst als »Robin Hood der Toskana« (TB, 307) zu imaginieren. In Wahrheit waren die beiden Toten »keine verdeckten Ermittler [und] natürlich auch keine Terroristen«, aber eben auch kein Ehepaar, sondern »einfach nur« (TB, 308) die Kinder von Robertos verschwundenem und vermutlich ermordetem Geschäftspartner Carlo. Verfolgt man dergestalt das kleine Ereignis einer zufällig wahrgenommenen Ohrfeige in seinen vielfältigen Verstrebungen innerhalb des Romans, so lässt sich folglich ein konstanter Verschiebungsprozess beobachten, mit dem nicht nur der Realitätsausschnitt in immer neuen Lesarten und Interpretationspraxen aufgehoben wird, sondern auch der Text selbst seine Subgenremarkierung immer wieder wechselt: vom realistisch erzählten Frauen-Krimi und domestic noir72, der gleichsam literarisch Nachhilfe über die gesellschaftliche Realität von sexueller Gewalt und Femiziden erteilt, über die Umdeutung der faktischen Tat zur experimentellen Beobachtungskonstellation im Rollenspiel und die von der Genreliteratur unterfütterten Geschichten von linksterroristischer, feministischer und mafiöser Gewalt bis hin zu Erkundungen der psychopathologischen Täterseele in spe. Darin zeigt sich die Verfahrensweise eines Textes, der die genretypisch an die Ermittlerfigur geheftete detektivische Praxis der Spurenlektüre und -deutung von der »Personifikation der ratio«73 entbindet und den Spaß an der Enträtselung auf den Genuss verschiebt, Prozesse der epistemologischen Sinnstiftung zu beobachten, etwa im Blick auf die skizzierten (paranoiden) Lektüren und Lektüreverfahren einer Ohrfeige. Dabei legt der Roman in ästhetischer Verfremdung auch bloß, dass die Aufmerksamkeit für die lange Zeit unhinterfragte Kopplung von Weiblichkeit und Tod, die kriminalliterarische Gier nach der schönen weiblichen Leiche nicht mehr genredistinkte Merkmale eines ›FrauenKrimis‹, sondern ästhetische und ethische Reflexionen der Geschlechterverhältnisse fester Bestandteil des Genre-Repertoires geworden sind. In Toskani72 Vgl. Joyce, Laura/Sutton, Henry (eds.): Domestic Noir. The New Face of 21st Century Crime Fiction. Cham: Palgrave Macmillan 2018. 73 Kracauer, Siegfried: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat [1922/1925]. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1979, S. 51.

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sches Blut wird so die Fehllektüre der Ohrfeige als Ereignis häuslicher Gewalt eingebettet in den Kontext politischer Aktionen einer lokalen Femen-Gruppe, die so weit eskalieren, der Kopie des David von Michelangelo »Schwanz und Eier« (TB, 114) abzuschneiden und sich den Marmorbrocken dann in die Tasche zu stecken – ein treffendes Bild für die Arbeit am Genre im Schnittfeld von Realität und Fiktion. Denn obwohl das kriminalistische Abenteuer am Ende auf die Formel: »Wir haben alle ziemlich gesponnen. Aber so haben wir wenigstens etwas erlebt« (TB, 302) gebracht wird, kontrastiert dieser Selbstberauschung an der Kunst doch der in seiner Faktualität unwidersprochene Fall Angelina: »Das ist die 19-Jährige, die an Heiligabend von ihrem Freund mit einem Messer abgestochen wurde, weil sie ihn nicht heiraten wollte, in einem Dorf in Apulien. Der Familie und dem ganzen Dorf war bekannt, dass er gewalttätig ist, dass sie in Gefahr schwebt, aber keiner hat sich eingemischt, niemand hat ihr geholfen. Schon wieder ein Femizid.« (TB, 81; Hervorhebungen im Original)

Dass nun ihrerseits die Strategie der Gewalteskalation der Femen-Bewegung fast wörtlich die Strategie der intertextuell herbeizitierten, mutmaßlich linksterroristischen Guerillapartei wiederholt, ist freilich wieder nur die erste Lesespur in einer anderen Geschichte und ihrer – möglicherweise paranoiden – Interpretation.

Das Gewicht der Marmorbrocken Der frühe ›Frauen-Krimi‹ stand nicht zuletzt im Zeichen einer Neubesetzung der Figurenpositionen und der versuchten Aushebelung der Frau als ›dem Anderen‹. Beobachten lassen sich prononcierte Aneignungen des male gaze und seiner epistemologischen Definitionsmacht, die reflexive, nicht nur figurentopologische Verstörung und »Verkehrung der geschlechtlich kodierten Täter/OpferKonstellation«74 sowie die Empathie der Narration mit Opfern jeden Geschlechts, so dass sich diese Texte als gesellschaftspolitische Strukturanalyse der Gewaltexzesse mit kriminalliterarischen Mitteln positionieren. Im Rückblick lässt sich ein Textkorpus erkennen, das eine von feministischer Theoriebildung angeleitete Auseinandersetzung mit den body politics des Genres unternimmt, den weiblichen Körper aus seiner genrespezifischen Funktionalisierung entbindet und so die standardisierte Wiederholung der altbekannten Weiblichkeitsimaginationen von der femme fatale bis zur femme fragile jäh arretiert. Eine der radikalsten Verstörungen dieser Geschlechterkonfiguration im Genre-Modell ist Helen Zahavis Dirty Weekend (1991): »Dies ist die Geschichte von Bella, die eines 74 Birke, Dorothee/Butter, Stella: »Shattering the blood-spattered glass ceiling«, S. 84.

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Morgens beim Erwachen merkte, daß sie es satt hatte.«75 Elsa Dorlin liest diesen Roman im prononcierten Gegenschnitt zu jener Repräsentationspolitik misogyner Gewalt, die in der Ausstellung misshandelter und versehrter weiblicher Körper ihrer These nach nicht das Leiden der Opfer, sondern die Macht der Täter mitfühlen lässt, als radikale Verhandlung der »kognitive[n] Möglichkeit der Empathie«: Diese Fabel von der Revanche der Ohnmächtigen, Wehrlosen und Zerbrechlichen ist kein Roman des Ressentiments, sondern eine fiktionale Illustration der Historizität der Machtverhältnisse (die Beute bleibt nicht immer Beute), die auf einer Phänomenologie der Gewalt beruht. […] Bella […] produziert im herrschenden Muster Chaos. Anders gesagt, behandelt sie ihre Unterdrücker/Aggressoren brutal, damit sie sehen und fühlen, damit sie am eigenen Fleisch erleben, dass sie mit einer anderen, fremden, ignorierten, zum Verschwinden gebrachten und per Definition obszönen Sichtweise Bekanntschaft machen.76

Die Gegenwartsliteratur hat diese Verkehrungen des Genremodells und Verstörungen kultureller Skripte konstant fortgeschrieben und weiterentwickelt, die Fiktionen um Geschlecht und Gewalt pluralisiert und insbesondere diverser gestaltet. Passend zu der Vielfalt an Schreibweisen, Traditionslinien, thematischen und figurativen Konstellationen im Spannungsfeld von cosy und domestic noir bis true crime, für deren Variationskraft in der Gegenwartsliteratur so unterschiedliche Texte wie Regina Nösslers Die Putzhilfe (2019), Sophie Sumburanes Tote Winkel (2022) und Sybille Ruges Davenport 160 x 90 (2022) einstehen, ist ein Paradigmenwechsel in der Forschung notwendig. Im Anschluss an die aktuellen Forschungsziele und intersektionalen Forschungsprämissen der gender studies gilt es, den mit der Ausrufung des Subgenres markierten Einschnitt in das kriminalliterarische Feld einerseits zu historisieren und für das Genregedächtnis als innovative Vertextung des standardisierten Erzählmodells mit seinen Autorinnen zu bewahren – als »counter-history of crime fiction«77, deren Texte die im Genre perpetuierte »rule of fear« und »the law of misogyny«78 zur Kenntlichkeit entstellen, verzeichnen und verlachen. Andererseits ist in der Zukunft nicht eine geschlechtertrennende Genre-Geschichtsschreibung und Forschung zu verfolgen79, wie sie Silvia Bovenschen 75 Zahavi, Helen: Schmutziges Wochenende [1991]. Aus dem Englischen von Mechthild Sandberg-Ciletti. München: Goldmann 1991, S. 5. 76 Dorlin, Elsa: Selbstverteidigung, S. 218, 219. Hervorhebungen im Original. 77 Worthington, Heather: Key Concepts in Crime Fiction. London: Palgrave Macmillan 2011, S. 109. 78 Cameron, Deborah/Frazer, Elizabeth: The Lust to Kill. A Feminist Investigation of Sexual Murder. Cambridge: Polity Press, Blackwell 1987, S. 166. 79 Zu diesen Ansätzen vor allem in der angelsächsischen Forschung, eine »Krimigenealogie als female bonding« zu entwerfen, vgl. pointiert Frizzoni, Brigitte: Verhandlungen mit Mordsfrauen, S. 34–38.

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bereits Ende der 1970er Jahre problematisiert hat.80 Der Blick ist vielmehr zu richten auf das »Netz vielfältiger Beziehungen zwischen den Geschlechtern«81, mit dem auch die Fortschreibung, reflexive Durchkreuzung und ironische Invertierung der seit den 1980er Jahren in feministischen Geweben entwickelten Tropen und Erzählmodelle zu diskutieren ist. Der verfolgte Dreischritt von Klassiker – Mimikry – Paranoia ist im Sinne Heinrich Heines allenfalls ein erster Erkundungsgang durchs Leichenschauhaus. In diesem Kontext hat gerade die deutschsprachige Forschung einiges aufzuarbeiten in der detaillierten Auseinandersetzung mit jenen Texten, die schon seit langem mit dem Marmor-Hoden in Kopie davongelaufen sind.

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80 Vgl. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1979. 81 Schabert, Ina: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Körner 1997, S. 10–11.

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Laura Schütz (München)

Der Dildo als Waffe. Maskerade und Lustmord in Thea Dorns frühen Krimis

Es ist ein ziemliches Gemetzel in Thea Dorns frühen Krimis: Während in ihrem Debütroman Berliner Aufklärung (1994) lediglich zwei Angehörige der philosophischen Fakultät und ein Hund ermordet werden, sind es in dem Kurzkrimi Ultima Ratio (1998) bereits fünf Studierende samt einer Professorin und in Die Hirnkönigin (1999) gibt es gleich neun Leichen.1 In Berliner Aufklärung wird ein Philosophie-Professor in 54 Teile zerlegt und in Gefrierbeutel verpackt auf die Postfächer seiner Kolleg:innen verteilt. In Die Hirnkönigin zersägt Nike Schröder vier ihrer Mordopfer und anschließend auch ihrem verstorbenen Vater die Schädelknochen, um deren Gehirne zu entnehmen und in Einmachgläsern zu verwahren. Die in Krimiplots häufig auftretende Paarung aus männlichem Täter und weiblichem wehrlosen Opfer wird unterminiert. Der Fokus liegt auf männlichen Opfern, deren Leichen zudem zerstückelt werden, wobei sie jeglichen Subjektstatus verlieren. Die zahlenmäßig deutlich selteneren weiblichen Opfer erscheinen eher als Kollateralschaden, etwa weil sie um das Mordgeschehen wissen. Anders als bei den männlichen Opfern ist keine Leidenschaft im Spiel; ihre Leichen bleiben – von der Mordursache abgesehen – unversehrt. Welche Traditionen der Krimigattung weiterhin subvertiert werden, soll in einem ersten Punkt untersucht werden. Anschließend soll der für alle drei Krimis zentrale und zunehmend brüchiger erscheinende Gegensatz zwischen Körper und Geist reflektiert werden. Auch die Geschlechterdichotomie erscheint fluide; mit Praktiken der Maskerade wird Geschlechtlichkeit in den Krimis zu etwas performativ Erzeugten, wie ich in einem dritten Punkt zeigen werde. Von zentraler Bedeutung für die Aneignung männlicher Attribute ist der Dildo, der in Thea Dorns kritischer Lesart des Phallogozentrismus dem ›Natürlichen‹ stets überlegen scheint. Abschließend wird anhand zweier Stellen aus Berliner Aufklärung und Die Hirnkönigin dargestellt, wie durch die Maskerade und Ge1 Der Suizid von Frau Konrad und der Tod von Nikes uraltem Vater werden eingerechnet, jedoch nicht die Leichen, die zufällig in der Pathologie untersucht werden, als die Protagonistin dort Untersuchungen zu den Morden anstellt.

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schlechtertravestie das Lustmord-Motiv anders besetzt wird und gleichzeitig Schlüsselszenen der europäischen Kulturgeschichte überschrieben werden.

Genealogische Abbrüche In feministischer Kriminalliteratur wird die zentrale ermittelnde Instanz, anders als im traditionellen Krimi, häufig von Frauen besetzt. Auch die »Grenze zwischen der Hoch- und Unterhaltungsliteratur sowie zwischen männlich und weiblich codierten Genres«2 wird durch den anhaltenden Verweis auf die Antike, die Philosophie und Kulturgeschichte bewusst unterminiert. Bei Thea Dorn sind die Ermittlerinnen zudem nicht dafür ausgebildet, vielmehr im wahrsten Sinne selbst-ständige Frauen. Ihnen stehen Polizisten gegenüber, die in ihrer Einfältigkeit unfähig sind, die Verbrechen aufzuklären. Dabei wird die Genealogie nicht nur hinsichtlich der etablierten Gattung unterbrochen, sondern auch bezüglich der Protagonistinnen. Anja Abakowitz aus Berliner Aufklärung und Kyra Berg aus Die Hirnkönigin sind nicht zufällig verwaist, auch hier gibt es keine Genealogien (mehr). Abakowitz und Berg werden als queere Charaktere gezeichnet. Beide erweisen sich zudem als bindungsunfähig und spüren die Zuneigung erst in dem Moment, als sie mit den Leichen der sie umgebenden Personen konfrontiert sind. In beiden Romanen werden auch nekrophile erotische Szenen geschildert.3 Die Familie zeichnet sich in allen drei Werken als Hort der Gewalt, des Wahnsinns und des Verbrechens aus. So heißt es auch in der Kolumne Sicheln und Würgen. Frau Dorn entdeckt die Familie als Hort des Verbrechens: Der Begriff »Familientragödie« ist ein Pleonasmus. Familie ist Tragödie. Seitdem uns das Abendland Familiengeschichten überliefert, sind es Geschichten von Mord und Todschlag: Kronos entmannt seinen Vater mit einer steinernen Sichel, befreit seine Geschwister aus dem Tartarus, in den der Vater diese geworfen hatte, und heiratet seine Schwester Rhea, um jedes Kind zu verschlingen, das diese zur Welt bringt. […] Die Familie ist keine Kurklinik. Sie ist ein Irrenhaus. Das manchmal zum Schlachthaus wird.4

2 Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: transcript 2011, S. 213. 3 In Berliner Aufklärung gibt Abakowitz der Leiche ihrer ermordeten ehemaligen Professorin einen Zungenkuss. In Die Hirnkönigin führt sich Kyra Berg den Finger ihres enthaupteten Redaktionskollegen ein; Nike Schröders sexuelles Erwachen findet gar erst bei der Zerteilung der Leichen statt. 4 Dorn, Thea: Sicheln und Würgen. Frau Dorn entdeckt die Familie als Hort des Verbrechens. In: Dorn, Thea: Ultima Ratio. München: Goldmann 2004, S. 133–136, hier S. 134–135.

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Dabei geht es jedoch um mehr als abbrechende Genealogien, die hier durchaus auch als Kritik an einem patriarchal strukturierten Gesellschaftssystem zu verstehen sind, oder die Umkodierung bestehender Krimikonventionen. Im Zentrum steht die Auflösung etablierter Dichotomien, wie der zwischen den Geschlechtern oder der zwischen Körper und Geist.

Die Körper-Geist-Dichotomie In allen drei frühen Krimis wird deutlich, dass die Beschäftigung mit dem rein Geistigen unter Ausblendung von Körperlichkeit unmöglich ist. Die Universität wird zu einer (Irren-)Anstalt – ohne dass jedoch für deren Insassen eine Aussicht auf Heilung bestünde. In Berliner Aufklärung belagern verrückt gewordene Langzeitstudenten als Clochards den Campus der philosophischen Fakultät und sind somit gewissermaßen übrig gebliebene Körper ohne Geist. Der philosophische Austausch wird zur Farce; da selbst theoretische Aussagen stets mit der Körperlichkeit und den unmittelbaren Bedürfnissen der Sprechenden verquickt werden. Das von Thea Dorn geschilderte akademische Milieu erinnert stark an das Urteil des namenlos bleibenden Ich-Erzählers in Jörg Uwe Sauers Roman Uniklinik (1999): »Krank, so dachte ich, hier ist alles und jeder krank, und zwar unheilbar krank. Das Kranksein gehörte an dieser Institution zum guten Ton, ist diesem sogenannten Denkort a priori inhärent.«5 In Ultima Ratio plant die junge Philosophie-Professorin Penelope Kura6 einen bewaffneten Amoklauf während eines Gastvortrags, bei dem das gesamte Institut versammelt ist. Ähnlich wie Nike aus Die Hirnkönigin erscheint sie als philosophisch versierter Todesengel im Kampf gegen »die Irrationalen und die Willensschwachen«.7 Allein der Gedanke an die Auslöschung verursacht bei der Moralphilosophin eine körperliche Erregung und den »Aufruhr der Körpersäfte«.8 Der schlussendlich vorzeitig scheiternde Amoklauf bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Auslöschung und Erlösung (so auch das Thema des Gastvortrags an der philosophischen Fakultät), wobei sich der akademische Austausch an Universitäten in jedem Fall als unrettbar erweist. Der Austausch zwischen Philosophinnen und Philosophen findet rein körperlich und nicht auf geistiger Ebene statt. So wechselt eine Assistentin im Laufe des Kurzkrimis dreimal den philosophischen Bett-Partner. Die »fatale Kopf-Körper-Entkopp-

5 Sauer, Jörg Uwe: Uniklinik. Roman. Reinbek: Rowohlt 2001 [1999], S. 7. 6 Fast alle Figuren in Thea Dorns frühen Krimis haben sprechende Namen, die auf die antike und europäische Kulturgeschichte verweisen. 7 Dorn, Thea: Ultima Ratio, S. 57. 8 Ebd., S. 8.

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lung«9 wird zum Leitmotiv. Die Mitglieder der philosophischen Fakultät erweisen sich für Penelope Kura als »hybride Brontosaurier […], deren Hirne immer weiter anschwollen, während sie unterhalb des Kehlkopfes immer weniger zu sagen hatten«.10 Mit diesem grotesken Körperbild wird Entwicklung zum Atavismus. Während Kuras Vernichtungsphantasie zwar Elemente eines Lustmords aufweist, kommt ein anderer geplanter Lustmord ihrem Vorhaben in die Quere. Professor Warburg11 möchte die sexuell umtriebige Assistentin, in die er unglücklich verliebt ist, ermorden, erschießt dann aber Kura und kommt so ihrem Amoklauf zuvor. In dem Kurzkrimi zeigt sich also bereits die geschlechterdifferente Ausprägung des Lustmord-Motivs, die Thea Dorn an anderer Stelle konkretisiert: »Zwei Geschlechter. Zwei Welten. Frauen, scheint’s, töten ihre Männer, um sie für immer loszuwerden. Männer, scheint’s, töten ihre Frauen, um sie für immer zu behalten.«12 Neben der Körper-Geist-Dichotomie werden auch der Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit und der Antagonismus zwischen den Geschlechtern permanent infrage gestellt. In den Romanen wird dabei auf die Praxis der Maskerade verwiesen, die erstmal 1929 von Joan Riviere beschrieben wurde.

Maskerade Rivieres 1929 im »International Journal of Psychoanalysis« erschienener Aufsatz Weiblichkeit als Maskerade gilt als Grundlagentext, wenngleich andere Texte der Psychoanalytikerin heute weitgehend vergessen sind. Aufgrund eines Falls aus ihrer psychoanalytischen Praxis kommt Riviere zu der Erkenntnis, dass Weiblichkeit und Maskerade eine Einheit bilden: Weiblichkeit war daher etwas, das sie vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete […]. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenzen zwischen echter Weiblichkeit und

9 Ebd., S. 26. 10 Ebd., S. 58. 11 Auch hier ist der Name Warburg wohl nicht zufällig gewählt und verweist vage – ohne jedoch als Schlüsselfigur intendiert zu sein – auf den Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866– 1929), der u. a. das Nachleben der Antike in der abendländischen Kultur untersuchte. Aby Warburg litt an einer schweren psychischen Erkrankung, die einen mehrjährigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nötig machte. 12 Dorn, Thea: Ultima Ratio, S. 78–79.

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der »Maskerade« ziehe. Ich behaupte gar nicht, daß es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe.13

Das Innovative ihres Ansatzes liegt in der Verknüpfung von Weiblichkeit und Maskerade. Das Weibliche ist somit die Maskerade; die Trennung zwischen Natur und Gemachtheit wird aufgelöst. Rivieres Begriff der Maskerade wurde von verschiedener Seite wieder in den psychoanalytischen Diskurs aufgenommen, meist ohne auf sie zu verweisen. So versteht Jacques Lacan in seinem Vortrag Die Bedeutung des Phallus (1958) die weibliche Position des ›Phallus sein‹ als Maskerade. Lacan schreibt: »So paradox diese Formulierung auch erscheinen mag, wir behaupten, daß die Frau, um Phallus zu sein, Signifikant des Begehrens des Andern, einen wesentlichen Teil der Weiblichkeit, namentlich all ihre Attribute in die Maskerade zurückbannt.«14 Auch Luce Irigaray sieht in Das Geschlecht das nicht eins ist (frz. 1977, dt. 1979) die Maskerade als Grundmuster des Weiblichen an: Was ich unter Maskerade verstehe? U. a. das, was Freud die »Weiblichkeit« nennt. Das besteht zum Beispiel darin, zu glauben, daß man eine Frau – und noch dazu, eine normale Frau – werden muß, während der Mann von vornherein Mann ist. Er braucht lediglich sein Mann-Sein zu vollziehen, während die Frau gezwungen ist, eine normale Frau zu werden, das heißt in die Maskerade der Weiblichkeit einzutreten. – Der weibliche Ödipuskomplex ist im Endeffekt das Eintreten der Frau in ein Wertesystem, das nicht das ihre ist, und in dem sie nur »erscheinen« und zirkulieren kann, wenn sie in den Bedürfnissen-Wünschen-Phantasmen der anderen – Männer – eingewickelt ist.15

In Thea Dorns Krimis wird diese Form der Maskerade ganz offensichtlich inszeniert: In Berliner Aufklärung reichen die Maskeraden von Anja Abakowitz je nach Bedarf von der Business-Frau im feinen Kostüm bis hin zum ›Ledermann‹ in einer Schwulenbar. Die Hirnkönigin, Nike Schröder, ist nicht nur das (Erziehungs-)Produkt ihres Vaters, sondern kann – haarlos wie sie ist – durch Perücken und Kleidung verschiedene Formen männlichen Begehrens imitieren, ohne jedoch selbst Subjektstatus zu erlangen. Die Maskerade wird dabei nicht nur auf der Figurenebene inszeniert, sondern auch die Überschrift »Speculum de l’autre femme«16 verweist direkt auf das bekannteste Werk der französischen Psycho-

13 Riviere, Joan: Weiblichkeit als Maskerade. In: Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt (Main): S. Fischer 1994, S. 34–47, hier S. 38–39. 14 Lacan, Jacques: Die Bedeutung des Phallus. In: Lacan, Jacques: Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Übers. von Chantal Creusot, Wolfgang Fietkau, Norbert Haas, Hans-Jörg Rheinberger und Samuel M. Weber. Berlin: Quadriga 1986, S. 119–132, hier S. 130. 15 Irigaray, Luce: Das Geschlecht das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979, S. 139–140 [1977 im Original; Unterstreichungen im Text]. 16 Dorn, Thea: Berliner Aufklärung. Rotbuch Krimi. Berlin: Rotbuch 1994, S. 98.

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analytikerin Luce Irigaray und somit auch auf die Theoretikerinnen, die das Maskerade-Motiv analysiert haben. Ein zentraler Kritikpunkt17 an der Riviere’schen Analyse ist sicherlich, dass der phallogozentrische Standpunkt ebenso beibehalten wird wie die prinzipielle Annahme der heterosexuellen Verfasstheit der Geschlechter. Judith Butler formuliert in Gender Trouble/Das Unbehagen der Geschlechter (1990/91) die der Maskerade inhärenten Widersprüche in einer Fülle an Fragen: Ist die Maskerade die Folge eines weiblichen Begehrens, das maskiert werden mußte und damit in einen Mangel verwandelt wurde, der nun irgendwie zum Vorschein kommen muß? Oder folgt sie gerade daraus, daß dieser Mangel verleugnet wird, um den Anschein zu erzeugen, der Phallus zu sein? Wird die Weiblichkeit durch die Maskerade als Widerspiegelung des Phallus konstruiert, um die bisexuellen Möglichkeiten zu verschleiern, die andernfalls die »bruchlose« Konstruktion einer heterosexuellen Weiblichkeit stören könnten? […] Dient die Maskerade in erster Linie dazu, eine vorgegebene Weiblichkeit zu verbergen oder zu verdrängen, ist sie also ein weibliches Begehren, das eine dem männlichen Subjekt nicht untergeordnete Andersheit begründen könnte und das notwendige Scheitern der Männlichkeit offenbaren würde?18

Die Maskerade ist also zugleich Subversion und Bestätigung der Heteronormativität. In diesem unauflösbaren Widerspruch bewegen sich auch die weiblichen Figuren bei Thea Dorn. Die Aneignung männlicher Attribute geschieht hier nicht nur im übertragenen Sinne, sondern materialisiert sich zudem in den mehrfach erwähnten Dildos. Das Künstliche ist dabei dem vermeintlich Natürlichen vordergründig sogar überlegen und ermöglicht Handlungsmacht. So äußert sich die Protagonistin Anja Abakowitz in Berliner Aufklärung: Es amüsierte sie immer wieder von neuem, wie leicht dieser kleine Schwellkörper, aus dem Männer ihr vermeintliches Selbstbewußtsein bezogen, sich als ihre Schwachstelle enttarnte. Als Frau mit jederzeit zuverlässiger, ab- oder anschnallbarer Lederprothese war man entschieden besser dran.19

Die weibliche Maskerade erweist sich zudem als zuverlässiger; während Anja keine Probleme hat, in einer Männern vorbehaltenen Schwulenbar als ›Ledermann‹ durchzugehen, tut sich ihr Mitbewohner Ulf, ein »höchstens zwanzig-

17 Ein weiterer Kritikpunkt an Riviere ist das unreflektierte Verhältnis von Psychoanalyse und Rassismus. Vgl. hierzu Apter, Emily: Demaskierung der Maskerade: Fetischismus und Weiblichkeit von den Brüdern Goncourt bis Joan Riviere. In: Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt (Main): S. Fischer 1994, S. 177–216, hier S. 202. Dieser Aspekt ist für die Analyse der frühen Dorn-Krimis jedoch untergeordnet, da die Konstruktion von race, anders als die Performativität von Weiblichkeit, kaum verhandelt wird. 18 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003, S. 80–81. 19 Dorn, Thea: Berliner Aufklärung, S. 137.

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jährige[s] Kerlchen«, deutlich schwerer, »wie ein echter Schwuler auszusehen«.20 Die Geschlechtertravestie von Anja wird sowohl durch vermeintlich natürliche Merkmale, wie eine tiefe Stimme und Körpergröße, als auch Elementen der Verkleidung ermöglicht. Auch im Umgang mit dem Dildo ist sie deutlich versierter: »Wenigstens war es diesmal kein Dildo, den Ulf zum Anwärmen in den Backofen gelegt und dann vergessen hatte.«21 Der Dualismus aus natürlichem Phallus und dem Dildo als Waffe wird besonders deutlich in einer Folter- und Verhörszene auf der Toilette der Schwulenbar, die hier gewissermaßen als Schlüsselstelle fungiert.

Maskerade und Lustmord – Analyse zweier Schlüsselszenen Diese Textstelle wird auch von Faye Stewart als Schlüsselszene analysiert22, wobei mich weniger die Topographien und Eigenheiten einer »men only gay bar« interessieren, als die in der dortigen Damen-Toilette (»die vermutlich noch nie eine Dame gesehen hatte«) stattfindende Verhörsituation zwischen der als »Ledermann mit Glatze und hellem Schnäuzer«23 verkleideten Anja und dem Täter Peer. Mit einem Filetiermesser zwingt Anja Peer auf die Klobrille zu steigen, seine Hände befestigt sie mit Handschellen an einem Fensterkreuz. Es entsteht eine Parallelsituation zwischen sadomasochistischem Spiel und Verhör. Das Filetiermesser wird zum Ersatzphallus, es zerschneidet den Pullover und hinterlässt einen blutenden Schnitt über dem Bauchnabel: Die scharfe Klinge rutschte langsam in seine Jeans, und nachdem sie auch diese zerschnitten hatte, schob sie sie in seine Unterhose. Peers Unterleib zitterte schwach, als der kalte Stahl sich an seinen Leisten entlangtastete.24

Mit einem Ledergürtel wird er zusätzlich gegeißelt: Sein Körper zuckte immer noch im Takt der Hiebe, obwohl der Gürtel gleich einem toten Reptil auf dem feuchten Kachelboden lag. Erst als zwei lederbehandschuhte Hände zwischen seine Beine griffen und eine dünne Lederschlaufe mit kleinen Nadelspitzen über seinen Schwanz stülpten, hielt er abrupt still.25

Das tote Reptil verweist erneut auf eine phallische Funktion des Gürtels: 20 Ebd., S. 26. 21 Ebd. 22 Vgl. Stewart, Faye: Girls in the Gay Bar: Performing and Policing Identity in Crime Fiction. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (eds.): Tatort Germany. The Curious Case of German-Language Crime Fiction. Rochester, NY: Camden House 2014, S. 200–222. 23 Dorn, Thea: Berliner Aufklärung, S. 147. 24 Ebd., S. 149. 25 Ebd., S. 150.

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Er brüllte vor Schmerz auf, als er von der Kloschüssel abrutschte, sich die Kette der Handschellen mit einem Ruck spannte, und sein ganzes Gewicht an den gestreckten Armen hing. […] Die Wut brachte Peer in Erregung. Die feinen Nadelspitzen begannen, sich in sein Fleisch zu bohren. […] Mit großer Ruhe bewegte sich die schwarze Hand, die das Lederband hielt, nach hinten. Und während der rote Kranz unter der Lederschlaufe rasch hervorblühte, und die ersten dunklen Tropfen herabfielen, schoß es aus Peer kraftvoll weiß hervor.26

Obwohl Peer in dieser sadomasochistischen Folter- und Verhörszene ein Geständnis ablegt, gibt es für ihn keine Erlösung. Die Folterszene auf der Toilette wird zu einem profanierten Ecce Homo-Motiv. Der von seinen Wunden Gezeichnete wurde an das Fensterkreuz der Toilette genagelt. Der stachelige Ring erweist sich als nach unten verrutschter Dornenkranz. Mit dieser profanen Überschreibung werden Urbilder der abendländischen Kultur überschrieben. Auch hier zeigt sich der natürliche Phallus dem Dildo unterlegen, wobei es gleichzeitig kein ›Außerhalb der Kultur‹ gibt. Während Berliner Aufklärung mit dieser Folterszene mit offenem Ausgang endet, geht Die Hirnkönigin Nike Schröder noch weiter, indem die Folterungen in Lustmorde übergehen. Dabei muss auch das Lustmord-Motiv aus dem männlichen Narrativ übernommen werden, wie Irina Gradinari in ihren Studien zum weiblichen Lustmord im Kriminalroman deutlich macht: »Die Frau kann nur dann Lustmörderin oder lustmörderisches Opfer werden, […] wenn sie sich das männliche Begehren/die männlichen Narrative über die ›typisch weibliche‹ Strategie der Maskerade aneignet«.27 Wie Gradinari ausführt, ist die Lustmörderin Nike im wahrsten Sinne eine Männerphantasie, da sie Produkt ihres Vaters ist, »der aus ihr wie der Bildhauer Pygmalion eine ›perfekte Frau‹ erschafft, was ihm gerade durch die völlige Isolation seiner Tochter vom Weiblichen gelingt.«28 Die rein geistige Ausbildung besteht dann in der Aneignung antiker Kanonwerke, die als männlicher Bildungskanon laut Gradinari wenig »Identifikationspotential für Frauen«29 bieten. Die Opfer sind allesamt Reinkarnationen des Vaters; wie er arbeiten sie in bildungsbürgerlichen Berufen. Um sich ihren Opfern zu nähern, 26 Ebd., S. 151–152. 27 Gradinari, Irina: Maskerade des Begehrens. Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 111– 133, hier S. 114. 28 Ebd., S. 121. In ihrer Monographie spezifiziert Gradinari den väterlichen Schöpfungsakt im Kontext der Kulturgeschichte: »Seine grausame Tochter – sie wird ›Frankensteins Tochter‹ genannt – ist in Analogie zum Roman Frankenstein (1818) von Mary Shelley ein männliches beziehungsweise väterliches ›Kunstwerk‹, das literarische und künstlerische Traditionen männlicher Schöpfungsfantasien wie den Zeus-Athene- und den Pygmalion-Mythos buchstäblich umsetzt« (Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: transcript 2011, S. 200). 29 Gradinari, Irina: Maskerade des Begehrens, S. 121.

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benutzt Nike das Prinzip der Maskerade. Unter all den Perücken und Hüllen erscheint sie als »perfekte Projektionsfläche männlicher Fantasien«30, wie ich anhand einer Schlüsselstelle aus Die Hirnkönigin deutlich mache, in der der Lustmord ausgeführt wird. Hier ist das Opfer ausgerechnet ein Bildhauer, den Nike nachts an den Pergamon-Altar lockt. Diese Schlüsselstelle verweist dabei jedoch nicht nur auf das Pygmalion-Motiv, sondern auch auf die von Silvia Bovenschen in ihrer berühmten Studie Die imaginierte Weiblichkeit aufgemachte Dialektik aus Schattenexistenz (der schreibenden, Kultur gestaltenden Frauen) und Bilderreichtum (der von Männern geschaffenen Frauenfiguren).31 Zunächst mischt sich Nike, »weiß wie der Marmor«32, unter das Fries des Pergamon-Altars, wobei sie gesichtslos bleibt; man kann ihr Gesicht weder wiedererkennen noch beschreiben. Die »Göttin« lässt für den Bildhauer zunehmend die sie umhüllenden »Schleier«33 fallen: Alles, was sie noch anhatte, war ein dünnes weißen Unterkleidchen. Ein Nichts. Und auch dieses Nichts fasste sie noch am Saum, schob es nach oben, und – und – und im selben Moment, in dem ihn das unbedeckte Weiß ihres Venushügels blendete, sah er den Dolch an ihrem Oberschenkel. […] Drei Stufen über ihm fasste sie sich ans Strumpfband und zog das Messer heraus, ließ das Messer blitzen im Feuerschein, er schrie, ob vor Angst oder Lust war in der letzten Stunde egal.34

Der neben dem Venushügel platzierte Dolch wird zum Dildo. Das Entsetzen über den Ersatz-Phallus, der Nike zur Handelnden macht, zeigt sich durch das Stottern im Textfluss. Das Fließende ihrer Maskerade überträgt sich nun auf den Bildhauer. Bereitwillig lässt er sich mit Handschellen an Armen und Füßen fesseln: Reizend war sie. […] Er fühlte sich wie ein Gigant. Wie einer der Giganten ringsum an den Wänden. Auch ihm war plötzlich ein Schlangenbein gewachsen, ein Schlangenbein, das mächtig aus der Hose züngelte. […] Er stieß einen unterdrückten Schrei aus. Sie hatte ihn in den Schwanz gezwickt. Nein. Gestochen hatte sie ihn. Mitten in den Schwanz gestochen. [ …] Etwas geschah mit ihm, als ob er sich auflöste. Als ob er zerfloss. […] Immer weiter floß er aus. Sie drückte auf seinen Unterleib. Drückte auf seinen Unterleib, als wolle sie die letzten Tropfen mit Gewalt aus ihm herauspressen. […] In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nicht so hilflos gefühlt. […] Er hielt den Atem an und

30 Ebd., S. 123. 31 Vgl. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003 [1979], S. 17–61. 32 Dorn, Thea: Die Hirnkönigin. Roman. München: Goldmann 2001 [1999], S. 163. 33 Ebd., S. 164. 34 Ebd., S. 164–165.

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lauschte in sich hinein. Etwas Neues geschah mit ihm. Wieder war es ein Fließen, aber diesmal ging es in die umgekehrte Richtung, etwas wurde in ihn hineingepresst. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. […] Seine zu Tode verängstigten Sinne sagten: Benzin. […] Die Fackel hatte nur kurz gebrannt. Zu schnell waren die Flammen an dem benzingetränkten Docht emporgeklettert, und im selben Moment, in dem sie sich über ihn gebeugt und das Messer an seine Kehle gesetzt hatte, war er explodiert. […] Unten brannte er immer noch. Oben blutete er. Es war wunderbar. Das Wunderbarste, was sie je gesehen hatte. […] Die Götter waren stolz auf sie, sie hatte die Tat vollbracht. […] Dann hob sie das Messer, setzte es an und schnitt immer im Kreis herum zwischen den Wirbeln hindurch den Kopf von den schmauchenden Resten. Und lachte, als der Kopf die Stufen hinunterrollte, auf denen ihre nackten Füße getanzt hatten.35

Durch die Maskerade wird somit eine Männerphantasie erzeugt. Durch den Ersatz-Phallus des Dolches gewinnt Nike Handlungsmacht; für Irina Gradinari ist sie gar »eine phallische Frau, […] eine Umkehrung der Freud’schen Vorstellung von Weiblichkeit als einem ›kastrierten‹ Mann.«36 Auch hier erweist sich der Dildo als Waffe dem ›Natürlichen‹ als überlegen. Der Phallus wird sogar zur Zündschnur, wobei der Feuertod im römischen Reich eine verbreitete Form der Todesstrafe war. Später wurde der brutale Tod auf dem Scheiterhaufen häufig unter dem Vorwand der Hexenverbrennung praktiziert und betraf somit wiederum weibliche Opfer. Zusätzlich wird mit dieser Szene ganz offensichtlich auf die Enthauptung des Holofernes durch Judith und die Legende von Salome angespielt. Laut dem Neuen Testament betörte Salome, die Tochter des Herodias, Herodes und die anderen Anwesenden mit einem Tanz, woraufhin ihr Herodes verspricht, ihre Wünsche zu erfüllen. Die Mutter flüstert ihr das eigene Begehren ein und verlangt den Kopf des Johannes. Mit dem mütterlichen Einfluss weicht die Urszene deutlich von der Dorn-Adaption ab; auch die erotische Komponente ist in der Bibel natürlich noch nicht präsent.37 Es geht mit den mordenden Frauen vielmehr – und das in gewisser Weise auch bei Dorn – um die Erfüllung einer göttlichen Heilsordnung. In der Lustmord-Szene kommt es zudem zur Geschlechtertravestie: Gemeinhin mit dem weiblichen Körper verbundene Attribute, wie das Zerfließen, das Auslaufen und Penetriert-werden, werden auf den Mann übertragen. Und was heißt das dann für die weibliche Position? »Sie hatte die Tat vollbracht« und wird zur Handelnden.

35 Ebd., S. 167–172. 36 Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord, S. 211. 37 Die sexuelle Begierde wurde erst mit der Salome-Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hierbei besonders in der Literatur der Décadence zu einem gängigen Motiv. Als besonders skandalträchtig und wirkmächtig erwies sich das Drama Salome von Oscar Wilde (1891).

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Obwohl sich in den frühen Krimis von Thea Dorn ein utopischer Raum jenseits von Patriarchat und Heteronormativität nicht abzeichnet, werden doch zumindest grundlegende mit dem Gegensatz der Geschlechter assoziierte Dichotomien, wie der zwischen Körper und Geist oder Natur und Künstlichkeit, aktiv und passiv und damit auch der Kanon der abendländischen Kultur, infrage gestellt.

Literatur Apter, Emily: Demaskierung der Maskerade: Fetischismus und Weiblichkeit von den Brüdern Goncourt bis Joan Riviere. In: Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt (Main): S. Fischer 1994, S. 177–216. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003 [1979]. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003. Dorn, Thea: Berliner Aufklärung. Rotbuch Krimi. Berlin: Rotbuch 1994. Dorn, Thea: Die Hirnkönigin. Roman. München: Goldmann 2001. Dorn, Thea: Ultima Ratio. In Dorn, Thea: Ultima Ratio. München: Goldmann 2004, S. 7–59. Dorn, Thea: Sicheln und Würgen. Frau Dorn entdeckt die Familie als Hort des Verbrechens. In: Dorn, Thea: Ultima Ratio. München: Goldmann 2004, S. 133–136. Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: transcript 2011. Gradinari, Irina: Maskerade des Begehrens. Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 111–133. Irigaray, Luce: Das Geschlecht das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979. Lacan, Jacques: Die Bedeutung des Phallus. In: Lacan, Jacques: Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Übers. von Chantal Creusot, Wolfgang Fietkau, Norbert Haas, Hans-Jörg Rheinberger und Samuel M. Weber. Berlin: Quadriga 1986, S. 119–132. Riviere, Joan: Weiblichkeit als Maskerade. In: Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt (Main): S. Fischer 1994, S. 34–47. Sauer, Jörg Uwe: Uniklinik. Roman. Reinbek: Rowohlt 2001. Stewart, Faye: Girls in the Gay Bar: Performing and Policing Identity in Crime Fiction. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (eds.): Tatort Germany. The Curious Case of GermanLanguage Crime Fiction. Rochester, NY: Camden House 2014, S. 200–222.

Arletta Szmorhun (Zielona Góra)

Frauen als (gescheiterte) Mörderinnen in Nullzeit von Juli Zeh und Es ist nichts geschehen von Selma Mahlknecht

Geschlecht, Körper, Verbrechen – Einleitung In der feministisch orientierten Literatur- und Kulturforschung zeichnet sich seit einiger Zeit die Tendenz ab, von gängigen Gender-Schemata Abstand zu nehmen bzw. sie dermaßen zu lockern, dass weibliche Verbrechen nicht nur als Verletzung von Geschlechterrollen, sondern vielmehr als Normverstoß im ethischen und juristischen Sinne diskutiert werden. Die Prämisse, Frauen von ihrer diskursiven Opferrolle zu trennen und sie auch als Täterinnen in den Blick zu nehmen sowie die Inszenierung von weiblichen Verbrechen in Relation zu entsprechenden Entwürfen des Männlichen zu erforschen, ist in wenigstens zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Sie setzt einerseits einen Kontrapunkt zu öffentlichen Diskussionen in den Massenmedien, die nach wie vor durch (implizite) Vorstellungen von ›richtigen‹ Geschlechterverhältnissen und Geschlechtsidentitäten geprägt sind, so dass männliche Gewalt als selbstverständlich erscheint, weibliche Gewalt aber zum Skandalon wird.1 Andererseits lässt sie kulturell tradierte Deutungsmuster, historische Verschiebungen und gesellschaftliche Reaktionen auf Kriminalität sichtbar werden. Dazu gesellt sich der Versuch, geschlechtsspezifischen (Selbst-)Zuschreibungen eine Absage zu erteilen und juristisch-ethischen Kategorien einen genderneutralen Farbton zu verleihen. Es wird in diesem Zusammenhang insbesondere danach gefragt, wie sich Geschlechterkonzepte in den Kriminalgenres ausdrücken, welche Körperkonzepte dort zur Geltung kommen und welche Einsichten die Diskussion um die ›kriminellen Körper‹ für aktuelle Genderdiskurse bietet.2 Dass Frauenfiguren, die durch ihr mörderisches Treiben genderspezifische Spielregeln durchbrechen und gesellschaftliche Konventionen außer Kraft set1 Vgl. Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel: Einleitung. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 11–16, hier S. 14. 2 Vgl. ebd., S. 11.

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zen, ohne dabei in das Schema traumatisierter Opfer-Täterinnen zu fallen, für die feministisch orientierte Literatur eine Herausforderung darstellen, soll im Folgenden am Beispiel der Romane Nullzeit (2012) von Juli Zeh und Es ist nichts geschehen (2010) von Selma Mahlknecht aufgezeigt werden. Obwohl verübte Tötungsdelikte oder gescheiterte Mordaktivitäten in beiden Fällen keine ›Männersache‹ sind, wirkt der Mann als Vater, Ehemann, Onkel oder Bruder stets im Hintergrund, indem er sich an der Frau jahrelang emotional, körperlich oder sexuell vergeht und sie durch seine Brutalität dazu anleitet, in die Serialität des Mordens abzugleiten oder wenigstens einen Versuch zu wagen, den Peiniger aus dem Weg zu räumen. Die weibliche Tötungsdelinquenz wird dementsprechend auf zwischenmenschliche Konflikte zurückgeführt, »die gravierend sind oder als gravierend empfunden werden und mit einer Fremdbestimmung durch den männlichen Partner einhergehen.«3 In den analytischen Mittelpunkt gerät bei einem so konzipierten Ansatz einerseits die kausale Beziehung zwischen der weiblichen Tötungsdelinquenz und der erfahrenen geschlechtsspezifischen sozialen Benachteiligung, die in einem Beziehungskonflikt mit (gescheitertem) tödlichem Ausgang mündet. Andererseits wird auf literarisch inszenierte Mordkonzepte eingegangen, die nicht nur Gewaltstrategien und Motivationslagen umfassen, sondern auch einen besonderen Typus der Mörderin entstehen lassen, so dass Ehegatten-, Kindes- und Brudermörderinnen auf der Krimibühne agieren (können). Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es sich bei den beiden Texten um keine Kriminalromane handelt, denen per definitionem ein strukturelles Traggerüst zugrunde liegt, d. h. ein musterhaftes Erzählkonstrukt, das sich in drei Handlungsphasen einteilen lässt, die gleichzeitig Verbrechens- und Ermittlungsphasen der Geschichte zusammenfügen, bleibt aus.4 Es gibt zwar einen (Serien-)Mord bzw. einen Mordversuch, aber Ermittlerfiguren, die unermüdlich nach den Täterinnen fahnden, um den Fall zu lösen und die Verbrecherinnen zu bestrafen, werden in den Krimiplot nicht integriert. Der Mord(versuch) bildet einen festen Bestandteil der erzählten Welt, ohne jedoch den Kern der Geschichte auszumachen. Er wird eher als Strategie eingesetzt, über die Geschlechterproblematik zu reflektieren, Spielräume für die Gestaltung von Weiblichkeit auszutesten und Ausbruchsmöglichkeiten aus geschlechterabhängigen Konstellationen zu erproben. 3 Harbort, Stephan: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung. In: Lee, Hyunseon/ Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 17–38, hier S. 35. 4 Vgl. Brylla, Wolfgang: (Un-)Lust an Gewalt? Das neue Gesicht des Kriminalromans. In: Z˙ebrowska, Ewa/Olpin´ska-Szkiełko, Magdalena/Latkowska, Magdalena (Hg.): Zwischen Kontinuität und Modernität. Metawissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnisse der germanistischen Forschung in Polen. Warszawa: VPG 2016, S. 266–280, hier S. 266.

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Intimizid(versuch) als Racheakt Die kriminologische Erkenntnis zum weiblichen Intimizid5 lässt seit geraumer Zeit keine Variationen zu: Wenn Frauen töten oder zu töten versuchen, dann am häufigsten den Ehemann, Lebenspartner oder Geliebten, um erfahrene Enttäuschung, Vernachlässigung und/oder Unterdrückung auszugleichen und ihr Selbstbestimmungsrecht sowie ihre soziale Eigenständigkeit wiederzuerlangen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die meisten Täterinnen durch frühe Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie getrieben werden, so dass ihre Untaten in der Intimbeziehung in erster Linie darauf abzielen, sich gegen männliche Dominanz oder Gewalt zu verteidigen, um sich selbst oder ihre eigenen Kinder zu schützen. Aus dem Band der Vernunft und/oder der Liebe, das ursprünglich die Täterin und ihr männliches Opfer verbindet, wird eine Demarkationslinie, die das Opfer immer wieder missachtet und aus diesem Grund getötet wird, meistens im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer aktuell erlittenen Erniedrigung der Täterin.6 Die Frage nach den Motiven von mordenden Frauen führt also auf das vormoderne Konzept der Rache zurück, das auch in fiktiven Welten ein wesentliches Narrativ bleibt. In dieses Schema schreibt sich auch der Roman Nullzeit von Juli Zeh ein, in dem die Autorin ein Mord-Motiv zum Inhalt macht und es als einen Racheakt inszeniert. Der gescheiterte Jurist Sven versucht nach einer misslungenen Examensprüfung, auf der spanischen Insel Lanzarote seinen Lebensunterhalt als Tauchlehrer zu verdienen. Der attraktiven Schauspielerin Jola Pahlen und ihrem Lebensgefährten Theodor Hast soll er innerhalb von zwei Wochen das Tauchen als Vorbereitung auf ein Casting beibringen und das Paar für eine beträchtliche Summe rund um die Uhr begleiten. Der lukrative Auftrag verwandelt sich nach und nach in eine verhängnisvolle Dreieckbeziehung, an der die Existenz von Sven zu zerbrechen droht. Die Beziehung zwischen Jola und dem Schriftsteller Theo entpuppt sich nämlich als ein von Hassliebe geprägtes Verhältnis, das in psychischen, physischen und sexuellen Gewalthandlungen seinen Ausdruck findet. Die Spirale aus Lügen, Angst und Gewalt, die auf Lanzarote alle drei in einen Strudel reißt, soll durch eine Tauchexpedition gestoppt werden, die als Feier von Svens 40. Geburtstag gedacht ist. Das gemeinsame Tauchen zu dem von Sven entdeckten Wrack betrachtet Jola als günstige Gelegenheit, den verhassten Theo ein für alle Mal loszuwerden, ohne als Täterin in Verdacht zu geraten. Der Mordversuch wird von ihr so arrangiert, dass nicht sie, sondern ihr Liebhaber Sven als Eifersuchtstäter dastehen soll. Während er dem Wrack entgegen sinkt, 5 Der Begriff ist auf den deutschen Psychiater zyprischer Herkunft Andreas Marneros zurückzuführen, der den Intimizid als Tötung des Intimpartners definiert. 6 Vgl. Harbort, Stephan: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung, S. 20.

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wird der wie oft stark alkoholisierte Theo von Jola mit einer großen Wasserpumpenzange über den Kopf geschlagen und ins Wasser geworfen. Die in seine Taschen gestopften Bleigewichte, die zu Svens Reserveausrüstung gehören, sollen nicht nur Theos Abtauchen beschleunigen, sondern vielmehr den in Jola verliebten Sven als Täter überführen lassen. Jolas Plan geht aber nicht auf, denn Sven taucht früher als geplant auf und kann Theo rechtzeitig das Leben retten. In einem Gedankenmonolog folgt er dem von Jola entworfenen Mordszenario, in dem sie die Rolle einer verzweifelten Frau übernimmt und ihr ganzes schauspielerisches Können dafür einsetzt, sich überzeugend zwischen zwei einander hassenden Rivalen zu positionieren, die vor keinen Mitteln zurückscheuen, um die Konkurrenz auszuschalten: Wäre Theo wie geplant ertrunken, hätte sie [Jola – A.Sz.] vermutlich gewartet, bis ich an Bord der Aberdeen gekommen wäre, um dann auch mich mit der Wasserpumpenzange niederzuschlagen. Sie hätte mir den Taucheranzug ausgezogen, vielleicht noch ein paar leichte Kampfspuren arrangiert und dann per Funk die Polizei verständigt. Hilfe, mein Lebensgefährte wurde umgebracht! Der Mörder liegt neben mir! 29 Nord, 14 West, kommen Sie schnell! Man hätte mich gleich auf See verhaftet und zum Verhör auf die Polizeistation gebracht. Jola wäre als Zeugin mitgefahren. Ich völlig außer mir, sie gut vorbereitet. Ihre Aussage wohlüberlegt und überzeugender als meine. Zwei Rivalen, die an Bord eines Schiffs in Streit gerieten, nachdem sie in den letzten Tagen gelernt hatten, einander bis aufs Blut zu hassen. Dazwischen eine Frau, die vom einen misshandelt wurde, während sie versuchte, mit dem anderen ein neues Leben anzufangen. Die zu schwach war, um die Katastrophe zu verhindern. Jola hätte mich nicht beschuldigt, sondern unter Tränen verteidigt. Bestürzung und Sorge in perfektem Gleichgewicht.7

Nicht zuletzt von Berufs wegen betrachtet Jola die spanische Insel Lanzarote als eine Bühne, auf der ein Theaterstück inszeniert und zwei Wochen lang gespielt werden soll. Als attraktive Schauspielerin ist sie es gewohnt, eine (Schein-)Normalität aufzubauen und Attribute ins Spiel kommen lassen, die das männliche ›Publikum‹ ansprechen. Sexuelle Anziehungs- und Verführungskraft gehören dabei zur Grundausrüstung ihres Verhaltensregulativs, das bewusst und kontextbezogen zum Einsatz kommt, um männliche ›Darsteller‹ in die ihnen zugedachten Rollen hineinzuzwängen und gewünschte Reaktionen hervorzurufen. So muss Theo, der nicht zuletzt wegen seiner verminderten Potenz unter einem Selbstwert-Defizit leidet, zusehen, wie seine junge und schöne Lebensgefährtin einen gutaussehenden und körperlich agilen Mann verführt und von ihm begehrt wird. Sven wird dagegen vom Gedanken geplagt, die Zweisamkeit mit Jola nur bedingt genießen zu können und sie mit Theo teilen zu müssen. Der Plan, Theo und Sven gegeneinander auszuspielen und letztendlich beide Männer loszuwerden, entwickelt sich – wenigstens in der Anfangsphase – reibungslos, weil 7 Zeh, Juli: Nullzeit. Frankfurt (Main): btb 2012, S. 244–245.

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Theo und Sven sich mit den ihnen zugedachten Rollen nahezu einwandfrei identifizieren. Einen Wendepunkt in Jolas ›Inselkrimi‹ markiert die gemeinsame Tauchexpedition, bei der Sven unbewusst gegen die Spielregeln verstößt und neue »Techniken der Eindrucksmanipulation«8 notwendig macht. Angesichts der unerwarteten Situationsentwicklung ist sie gezwungen, blitzschnell Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, die von ihr erstellte Situationsdefinition sicherzustellen, was ihr auch – abgesehen von Svens ›Ernüchterung‹ – ohne weiteres gelingt. Sein Sinneswandel wird nicht zuletzt durch Jolas Tagebuch begünstigt, das in seine Hände gerät und ihn retrospektiv mit seiner ›Rollenbiographie‹ konfrontiert. Die Motivation der Gewaltereignisse auf der Insel Lanzarote wird implizit dargestellt und der Konkretisierungsprozess durch widersprüchliche Textsignale irritiert, so dass die Interpretation verunsichert, die Mehrdeutigkeit dagegen gesteigert wird. Die Schwierigkeit, der Motivlage auf den Grund zu gehen, ist vor allem auf den narrativen Erzählmodus zurückzuführen, der zwei einander widersprechende Perspektiven mit einbezieht: Die Geschichte wird zunächst aus der Perspektive des Tauchlehrers Sven geschildert, dann durch Auszüge aus dem Tagebuch der Schauspielerin Jola ergänzt. Beide Erzählperspektiven weichen jedoch voneinander ab, so dass die Motivation der geplanten Mordaktivitäten durch eine konstitutive Zweideutigkeit geprägt ist.9 In Jolas Bericht zeichnet sich unmissverständlich die Tendenz ab, die brutale Männlichkeit für das weibliche Mordpotenzial verantwortlich zu machen. Das autoritäre Vater-Tochter-Verhältnis wird durch die Beziehung mit einem viel älteren Mann abgelöst, der Jolas Erwartung bzw. Hoffnung nicht gerecht werden kann, emotionale Defizite durch das Erleben der eigenen Bedeutsamkeit und der Anerkennung zu kompensieren. Die Beziehung mit Theo wird von ihr als Zufluchtsort zweckentfremdet, um sich selbst definieren und auch sozial absichern zu können. Als Schauspielerin verzeichnet sie zwar große Erfolge, so dass ihre beruflichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten als Voraussetzung für Selbstachtung und Selbstbestimmung gelten könnten. Sie erweisen sich aber keineswegs als Garanten einer selbstinitiierten und selbstbestimmen Existenz. Die emotionale Abhängigkeit von ihrem Lebensgefährten Theo wirkt sich auf Jolas innere Ressourcen dermaßen destruktiv aus, das sie in einer Beziehung verharrt, die im Grunde genommen von beiden Seiten als störend empfunden wird. Da Theo ihrem Vater weder an Gewalttätigkeit noch an Verachtung nachsteht, landet die so begründete Zweckgemeinschaft im Laufe der Zeit in einer Sackgasse, weil der Partner, der aus 8 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper 1983, S. 189. 9 Vgl. Szmorhun, Arletta: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2016, S. 121.

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Vernunftgründen ausgewählt worden ist, der eigenen Lebensausrichtung im Wege steht und immer wieder das Gefühl der Ausweglosigkeit vermittelt. Bewältigungs- und Kontrollmechanismen, die das Moralgefühl und Wertvorstellungen eine gewisse Zeit lang geltend machen, scheitern spätestens auf Lanzarote, als Jola die Gelegenheit ergreift, sich für die jahrelange Zurückweisung und Erniedrigung zu rächen. Der Verweis auf vorausgegangene männliche Gewaltakte soll dabei ihre Opferrolle bekräftigen und sie sowohl gegen interne als auch gegen externe Vorwürfe immunisieren. Ihre Perspektive wird jedoch durch Svens Überlegungen relativiert, in denen er einerseits zugibt, dass sie »die Hölle auf Erden durchgemacht«10 hat, andererseits aber ihre Aktivitäten als instrumentell entblößt. Die von ihm aufgezählten tatbezogenen Attribute wie »Komplexität«, »Raffinesse«, »Kälte«, »Bösartigkeit« oder die »Überzeugung, dass das Leben wie ein Kriminalroman funktioniert«11, berauben das Opfer-Profil seiner Exklusivität und sorgen dafür, dass die Mitleidsmasche nicht mehr greift bzw. an Intensität verliert. Das Motiv Rache wird auch in Selma Mahlknechts Es ist nichts geschehen zur Triebkraft und zum Verhaltensregulativ im Spannungsverhältnis der Geschlechter. Die weibliche Figur – die Großmutter genannt – setzt ähnlich wie Jola vorerst eine indirekte Gewaltstrategie ein, um sich an ihrem Mann Ludwig für die erlittene Zurückweisung zu rächen. Sie quält ihn aber nicht durch eine demonstrative Verführung fremder gut aussehender Männer, sondern durch eine konsequente Verweigerung von Liebe, Zuwendung und Zuneigung gegenüber ihrer gemeinsamen Tochter Ruth, die er abgöttisch liebt, weil sie weiß, dass er daran zugrunde geht. Ihre Abneigung gegen das Kind, die bewusst gesteigert und in verschiedenen Variationen durchgespielt wird, leitet ein ›Projekt‹ ein, das darauf abzielt, Ludwigs psychische Ressourcen gezielt zu überstrapazieren, um in einem günstigen Moment so zuzuschlagen, dass er auch physisch außer Gefecht gesetzt wird. Ähnlich wie Zehs Protagonistin Jola entwickelt sie ein Mordszenario, in dem die Rolle des Täters nicht ihr, sondern einer Drittperson – ihrem geistig behinderten Bruder – zugeschrieben wird, aber mit dem Unterschied, dass die Rechnung in diesem Fall aufgeht: »Du bist an allem schuld!«, rief er und packte mich an den Schultern. »Du hast ihre Kinder gestohlen! Du hast ihr Leben zerstört! Du hast sie gehasst!« Er drängte mich gegen die Tür, ich schrie auf. Da ergriff ihn Rudolfs Pratze von hinten. Wie eine Puppe zog er Ludwig von mir fort, stieß ihn die Treppe hinunter. Wir hörten seinen Körper über die Stufen poltern, dann keinen Laut mehr.12

10 Zeh, Juli: Nullzeit, S. 246. 11 Ebd., S. 245. 12 Mahlknecht, Selma: Es ist nichts geschehen. Bozen: Raetia Verlag 2010, S. 193.

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Nach der Beerdigung von Ruth provoziert die Großmutter den psychisch angeschlagenen Ludwig, indem sie sich weigert – wohl wissend, dass er dabei die Selbstbeherrschung verlieren wird –, dem neugeborenen Kind von Ruth den Vornamen zu geben, den sie vor ihrem Tod ausgewählt hat. Mit der Formulierung der gegen sie gerichteten Vorwürfe, das Leben der Tochter bewusst zunichte gemacht und sie nicht nur der Mutterliebe, sondern auch ihrer eigenen Kinder beraubt zu haben, gibt der Mann zu erkennen, dass er den destruktiven Plan seiner Frau durchschaut hat. Seine Verzweiflung, die im Laufe des Streits in Wut umschlägt und sich nicht nur in Worten, sondern auch in seiner Körperhaltung manifestiert, gilt als Signal, aufzuschreien, um einen körperlichen Übergriff seinerseits vorzutäuschen. Sie weiß nämlich, dass ihr Bruder Rudolf aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht imstande ist, harmlose Alltagssituationen von real gefährlichen Entwicklungen zu unterscheiden und in Stresssituationen zu aggressiven Impulsdurchbrüchen oder Übersprungshandlungen neigt. Der Schrei seiner Schwester und Ludwigs Körperhaltung werden von Rudolf als Bedrohung gedeutet und versetzen ihn in eine Art Trance, aus der er erst durch die Beseitigung der Gefahr aufwacht. Die narrative Rechtfertigung der Rachegefühle und der daraus resultierenden Untat erfolgt – ähnlich wie bei Juli Zeh – unter Berufung auf das traurige Schicksal der weiblichen Figur. Der Sozialisation in gewalttätigen Familienstrukturen folgt die Instrumentalisierung und emotionale Ablehnung durch den Ehemann, dessen Haltung sie letztendlich zur Mörderin werden lässt. Die Frau verbringt ihre Kindheit in einer ›Männerwirtschaft‹ – mit einem gewalttätigen Vater und seinen Brüdern, von denen sie regelrecht misshandelt und missbraucht wird. Dazu gesellen sich männliche Geschwister, unter denen der eine enorm aggressiv und der andere geistig behindert ist. Der aufkeimende Hass auf die Männerwelt wird zeitweilig durch den zwanzig Jahre älteren Bauingenieur Ludwig Bergmann gedämpft, der die Protagonistin auf ihr Flehen hin heiratet und bereit ist, auch ihren behinderten Bruder Rudolf mit in die Stadt zu nehmen. In ihrer städtischen Existenz wird der Hass gegen Männer jedoch erneut aktiviert, weil sie von ihrem Ehemann zur ›Gebärmaschine‹ degradiert und nach der Erfüllung ihrer Pflicht nicht mehr als Ehefrau wahrgenommen wird. Die erneute Erfahrung der Erniedrigung, Instrumentalisierung und Zurückweisung durch den Ehemann veranlassen sie dazu, einen Vernichtungsplan auszuhecken, den sie konsequent und ohne jegliche Skrupel realisiert. Die Brutalität ihrer Vorgehensweise wird jedoch – im Gegensatz zu der von Zehs Protagonistin Jola Pahlen – dadurch gesteigert, dass in die Tötungsmaschinerie nicht nur der verhasste Mann, sondern auch andere Familienmitglieder hineingezogen werden, so dass sich der Racheakt (un-)kontrolliert zu einem Serienmord entwickelt. In beiden Fällen markiert aber der Mord(versuch) emotional hoch besetzte Konflikte, die spielerisch und nahezu genussvoll ausgetragen werden. Den Protagonistinnen

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geht es nämlich bei ihrer Rache nicht nur darum, den Peiniger zu eliminieren, sondern ihn vorerst in den Zustand einer emotionalen Verunsicherung zu versetzen, so dass er geistig und physisch vernichtet wird bzw. werden soll. Ihre verbrecherischen Aktivitäten haben darüber hinaus einen emanzipatorischen Charakter, weil beide Frauen sich davon erhoffen, das Selbstbestimmungsrecht und ihre Eigenständigkeit zu erlangen. Um dies zu erreichen, gehen sie wortwörtlich über Leichen. Während es aber der Großmutter gelingt, unter Missachtung von Moral und Gesetz aus ihrer gesellschaftlichen Rolle auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, fällt Jola nach dem gescheiterten Mordversuch in das alte Muster zurück und begnügt sich – nun als Ehefrau von Theo – mit ihrer Rolle in geschlechterabhängigen Konstellationen.

Kindesmord als Eifersuchtsakt Die Tötung der eigenen Nachkommen durch die Mutter, den Vater oder beide Elternteile ist kein Phänomen der Gegenwart. In manchen Kulturen galt (und gilt immer noch) die Kindestötung weder ethisch noch juristisch als verwerflich. Die Neugeborenentötung wurde vielmehr als probates Mittel zur Regulierung des Bevölkerungswachstums eingesetzt und vor allem an weiblichen Säuglingen vollzogen, weil sie weniger zur Sicherung des Überlebens der Familie beitragen konnten als männliche Nachkommen und aus diesem Grund eine unterprivilegierte Stellung in der familiären Wertehierarchie genossen. Bis zum 19. Jahrhundert war es auch in einigen deutschen Regionen durchaus üblich, Babys »himmeln zu lassen«, wenn finanzielle Mittel nicht ausreichten, um noch ein Kind durchzufüttern.13 Das Persönlichkeitsprofil der Täterin, das Selma Mahlknecht in ihrem Roman Es ist nichts geschehen entwirft, weicht jedoch von dieser kulturell und/oder materiell bedingten Deliktvariante weitgehend ab. Das Töten des Kindes wird hier als komplexes und vielschichtiges Phänomen thematisiert, so dass es angebracht ist, den Begriff Kindesmord zu verwenden, zumal es sich beim Opfer um ein heranwachsendes Kind handelt, das von Kindesbeinen an auf das Ermordet-Werden ›getrimmt‹ wird. Mahlknecht setzt eine unreife weibliche Figur ins Zentrum, die durch Lebensumstände und Familienverhältnisse zum Einzelgängertum verdammt wird und sich nach und nach in eine Lage hineinmanövriert, die es unmöglich macht, gewaltlose Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Von der Heirat mit Ludwig erhofft sie sich, dem gewaltvollen Familienumfeld und der kräftezehrenden Arbeit auf dem Bauernhof zu entkommen und sich in der Stadt ein neues Leben aufzubauen, was ihr auch teilweise gelingt. Bald muss sie jedoch erfahren, dass 13 Vgl. Harbort, Stephan: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung, S. 23.

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die Gewalt nicht nur auf Momente der körperlichen Misshandlung reduziert wird, sondern auch in kleinen Gesten und alltäglichen Ritualen lauert, ohne dabei weniger destruktiv zu wirken. Von ihrem Ehemann wird sie ausschließlich an ihren fruchtbaren Tagen wahrgenommen, und zwar bis zu dem Moment, in dem die von ihm angestrebte Schwangerschaft diagnostiziert und mit dem einzigen Kuss auf die Stirn belohnt wird. Erst nach der Geburt der gemeinsamen Tochter wird der Protagonistin klar, welche Funktion sie in dieser Beziehung zugedacht bekommen hat: »Mir dämmerte, wozu er mich gebraucht hatte. Nicht als Freundin oder Gefährtin, nicht einmal als Haushaltshilfe war ich wertvoll für ihn, sondern als Mutter seines Kindes. Das war meine Aufgabe, mehr nicht.«14 Nach der Erfüllung ihrer Pflicht wird sie von ihrem Mann abgestellt und muss mit Verdruss beobachten, dass die Sensibilität, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die sie in den Schwangerschaftsmonaten genießen durfte, von nun an auf ihre Tochter Ruth übertragen werden und sie selbst in den Zustand der Isolation zurückfällt. Die in ihr aufkeimende Eifersucht hindert sie daran, die eigene Tochter zum unverzichtbaren Teil des eigenen Daseins werden zu lassen und auf ihre Bedürfnisse situationsgerecht zu reagieren. Ihr Verhältnis zum Kind schlägt gerade ins Gegenteil: Sie betrachtet Ruth als Störobjekt, das ›entsorgt‹ werden muss, weil es ihre Erwartungswelt irritiert und neue Enttäuschungen mit sich bringt. Im Kind sieht die weibliche Figur die Ursache der ehelichen Disharmonie, die jeden Versuch, der Mutter-Tochter-Dynamik eine positive Dimension zu verleihen, im Keim ersticken lässt. Mit der Instrumentalisierung und Zurückweisung in der Ehe werden Gewalterfahrungen im Elternhaus wachgerufen und dermaßen verfestigt, dass die Grenzen des Moralischen verschwimmen und alle Kontrollmechanismen versagen. Ihren Hass richtet sie vor allem gegen Ruth, weil sie weiß, dass emotionale Ablehnung einerseits das Kind beeinträchtigt und andererseits von ihm abprallt und auf ihren Mann Ludwig zurückschlägt. Der Hass und die Gewaltbereitschaft, die er zu motivieren vermag, werden in ihre Persönlichkeitsstruktur dermaßen integriert, dass die Fähigkeit, über sich selbst zu erschrecken, außer Kraft gesetzt wird. Sie ist nicht nur stolz auf ihren Hass gegen Kind und Mann, sondern sie lässt auch keine Gelegenheit aus, sich immer wieder zu bestätigen, wie hassenswert ihre Hassobjekte sind. Der Hass, den die Großmutter fühlt und kultiviert, erscheint ihr als Wert, der ihrem Leben einen Sinn verleiht, so dass sie es auch als Erlösung empfindet, ihre Hassobjekte mit ihrem Hass zu verfolgen.15 Ruth wird in diesem Hassritual einerseits als Disharmoniequelle bestraft und 14 Mahlknecht, Selma: Es ist nichts geschehen, S. 81. 15 Vgl. Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł: Vorwort. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 2. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 9–13, hier S. 12.

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andererseits als Instrument eingesetzt, den Mann an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Getrieben von Hass, Eifersucht und Wunsch nach Rache weist sie ihre Tochter zurück und weidet sich an den Folgen, die ihre Zurückweisung nach sich zieht. Sie lässt ihre Tochter emotional verhungern und greift nicht ein, als sie bemerkt, dass sich zwischen Ruth und ihrem behinderten Onkel Rudolph ein inzestuöses Verhältnis entwickelt, das in der Schwangerschaft mündet. Nach der Geburt ihrer Enkelin, die zugleich ihre Nichte ist, schlüpft sie gezielt in die Rolle der Mutter des neu geborenen Kindes und sorgt dafür, dass ihre minderjährige Tochter dem emotionalen Druck nicht standhält und immer wieder aus dem Elternhaus flieht, um dem mütterlichen Psychoterror zu entkommen.16 Ihre Grausamkeit, die bedingt durch das männliche Verhalten auf das Dreieckverhältnis von Mutter, Vater und Tochter ausgedehnt wird und bei ihr Mordlust erweckt, kulminiert in der Schlussszene des Romans, als sie ihre Tochter mit einem Kissen erstickt: In diesem Augenblick bewegte sich Ruth, sie war sehr schwach und erschöpft, kaum konnte sie den Kopf nach mir wenden. Ich hob ein Kissen vom Boden auf, ging zu ihr hin. Unsere Blicke begegneten einander, und mir war, als ob sie mir ihr Einverständnis erteilte. Es war ganz leicht, kaum fühlte ich ihren Widerstand, während ich das Kissen auf ihr Gesicht presste, nach wenigen Sekunden war alles vorbei. Dann legte ich das Kissen sorgsam unter Ruths Kopf, überprüfte noch einmal, dass sie sich nicht mehr regte. Dann schrie ich nach Ludwig.17

Die Großmutter überlässt nichts dem Zufall. Sie geht taktisch vor, ohne sich dabei von irgendwelchen Bedenken verunsichern zu lassen. Es ist in ihre Strategie eingeschrieben, den Leidensweg von Ruth auszukosten und den richtigen Moment abzuwarten, um den Störfaktor zu beseitigen und dabei den Anschein zu erwecken, dass Ruth ihr Leben ohne Fremdeinwirkung ausgehaucht hat. Der Mord an Ruth, die geschwächt nach ihrer erneuten Geburt mit einem Kissen erstickt wird, stellt nicht nur eine Art Krönung jahrelanger Abneigung und Gefühlskälte dar, sondern setzt vielmehr eine Tötungsserie in Gang, die zum Ziel hat, die Vergangenheit auszulöschen und ein neues Leben – dem eigenen Szenario gemäß – zu gestalten. In der Tötung von Ruth zeichnen sich zwei Mordkategorien ab – Mord aus Eifersucht und Kindesmord –, die nicht unvorbereitet oder spontan sind, sondern geplant und von der Triebhaftigkeit der Täterin gelenkt werden. Der Mord erfolgt aus niederen Beweggründen, so dass er weder reflektiert wird noch innere Konflikte erzeugt. Es fällt dabei auf, dass der Mord nicht nur sichtbar ist und zwar in dem Sinne, dass die Vorgehensweise der Täterin, ihre Terrorpraxis und Schadenfreude, die sie dabei empfindet, explizit 16 Vgl. Szmorhun, Arletta: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts, S. 155. 17 Mahlknecht, Selma: Es ist nichts geschehen, S. 191.

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dargestellt werden, sondern vielmehr neue Lebensperspektiven eröffnet und somit einen ersehnten Neuanfang bedeutet. Mit Ruths Tötung, die letztendlich mit dem Mord an ihrem Mann Ludwig und ihrem Bruder Rudolph bekräftigt wird, geht für die Großmutter eine Welt zugrunde, die sie an eine qualvolle Zeit zurückdenken lässt. Nach der ›Entsorgung‹ derjenigen, die diese Welt mitgestaltet und beeinträchtigt haben, führt sie – als ob nichts geschehen wäre – ein unbehelligtes Frauendasein in Gesellschaft ihrer beiden Enkelinnen Sandy und Bess.

Brudermord als Befreiungsakt Mit ihrer Protagonistin entwirft Selma Mahlknecht einen Typ von Serienmörderin, die vom Altruismus auf Gewalt umsattelt, der diejenigen Familienmitglieder zum Opfer fallen, die ihre städtische Existenz bedrohen. Sie liebt, hasst, tötet und ›entsorgt‹, ohne dabei Grenzen zu ziehen oder zu erhalten. Sie tötet aus der Not heraus, weil sie glaubt, in ihrem Leben zu kurz gekommen und von ihren Nächsten ausgenutzt worden zu sein. Das Abgleiten in die Serialität des Mordens scheint in ihrem Fall die Folge nicht nur einer Erwartungsenttäuschung zu sein, sondern vielmehr einer dadurch bedingten und fortschreitenden Werteverschiebung sowie eines schleichenden Realitätsverlustes. Sie gelangt an einen Punkt, an dem sie von einem Gefühl besessen wird, mit allen abrechnen zu müssen, die sie daran hindern, vorwärts zu kommen und neue Lebensinhalte zu entdecken. Jeder neue Tatentschluss wird einerseits durch die Tendenz begünstigt, eigene Bedürfnisse über die der anderen Familienmitglieder zu stellen und diejenigen zu bestrafen, die sie daran hindern, diese Bedürfnisse zu stillen. Andererseits ist ihr Morddrang durch ein fortschreitendes Maß an Tötungsgewöhnung bedingt, der schließlich auch ihr behinderter Bruder Rudolf zum Opfer fällt: Die Großmutter füllte Wasser in die Wanne. Dampf begann aufzusteigen. Sie knöpfte Rudolfs Hemd auf, öffnete seine Hose. Er ließ es willenlos geschehen. »Das wird ein feines Bad«, sagte sie zu ihm und drehte den Wasserhahn zu. Mit großer Mühe hob sie Rudolf hoch, ließ zuerst ein Bein, dann das andere in die Wanne gleiten. […] Sie legte ihn vorsichtig zurück. […] An seinem Kinn hing eine Schaumflocke. »Ich bin jetzt lange genug für dich da gewesen«, flüsterte die Großmutter. »Es ist Zeit.« Sie küsste ihn sanft auf die Stirn, nahm seine Schultern und schob ihn unter Wasser. Er zuckte kaum, stieß nur kraftlos den Fuß an den Wannenrand. Einige Blasen stiegen auf, verloren sich. Nur wenig Wasser war über den Rand geschwappt. Die Großmutter richtete sich auf, zog den Rock über die Knie. Dann ging sie in den Flur und griff zum Telefon.18

18 Ebd., S. 194.

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Die Großmutter hat sich an das Töten im Familienkreis dermaßen gewöhnt und Gefallen daran gefunden, dass es keinerlei Rechtefertigung (mehr) bedarf, um weitere Tötungsdelikte zu begehen, und Gefühle wie Reue oder Scham verkümmern bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Opfer werden jeweils in einer anderen Tatsituation erfasst und entmachtet, ohne die Gefahr vorauszuahnen. Während aber Ruth und Ludwig mit Gefühlskälte ›entsorgt‹ werden, scheint die Großmutter im Fall von Rudolf das Bedürfnis zu verspüren, ihn über die Motivlage aufzuklären und Abschied von ihm zu nehmen. So erfährt der Bruder, bevor er in der Badewanne ertränkt wird, dass die schwesterliche Opferbereitschaft gerade ihre Grenzen erreicht hat und der Zeitpunkt gekommen ist, zu gehen. Jahrelang ist sie in ihrer Rolle als Schwester, Pflegerin und Beschützerin aufgegangen, ohne dabei über ihre eigenen Bedürfnisse und ihren Gefühlshaushalt zu reflektieren. Im Elternhaus hat sie sich jedes Mal für ihn eingesetzt, wenn er nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seinem älteren Bruder schikaniert und gefoltert wurde, und in ihrem neuen Haus hat er einen Ort gefunden, an dem er sich besonders sicher und geborgen glaubte. Die emotionale Bindung zwischen den Geschwistern, die in der Mordszene durch einen sanften Kuss auf die Stirn und die zärtliche Flüsterstimme der Schwester ausgedrückt wird, scheint jedoch nicht stark genug zu sein, um Rudolf in ihr ›neues‹ Leben zu integrieren. Die Großmutter sieht in ihrem Bruder einen Störfaktor, der ihr im Wege steht, ein persönliches Freiheitsgefühl zu entwickeln und ein neues Leben auszukosten, in dem sie nur ihren beiden Enkelinnen einen Platz eingeräumt hat. Der Mord an Rudolf stellt somit eine Art Befreiungsschlag dar, der es erst recht möglich macht, mit ihrer Vergangenheit endgültig abzuschließen und ein neues Kapitel zu eröffnen, in dem sie nun in die Rolle einer vorbildlichen Großmutter schlüpft und zwar nach dem titelgebenden Motto – Es ist nichts geschehen.

Weibliche Opfer-Täterschaft – Fazit Die literarische Inszenierung weiblicher Tötungsverbrechen in der Textwelt von Juli Zeh und Selma Mahlknecht ist weder in ein einheitliches (Gender-)Konzept integrierbar noch in ihrer Vielfalt eindimensional reduzierbar. Einerseits werden geschlechterspezifische Konventionen und Normen in Frage gestellt, indem weibliche Tötungsdelikte ›normalisiert‹ und Geschlechterrollen damit entdifferenziert werden. Andererseits zeichnet sich in beiden Texten die Tendenz ab, an gängigen Gender-Schemata festzuhalten, indem weibliche Tötungsdelinquenz jeweils als (un-)mittelbare Folge männlicher Gewalt dargestellt wird, so dass die fiktionale Frauenkriminalität zwangsläufig eine gendergerechte Dynamik entwickelt. Der Versuch, kriminelle Handlungsmacht von Frauen zu ›normalisieren‹ und an eingefahrenen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und Ge-

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schlechtsidentitäten zu rütteln, scheitert in beiden Fällen an männlichen Figuren – Vätern, Onkeln, Brüdern und/oder Ehemännern –, die gewaltaffin im Hintergrund agieren und das Opfer-Täterin-Muster hervorrufen. Man ist mithin geneigt, frei nach Simone de Beauvoir zu argumentieren und die literarische Repräsentation von kriminellen Frauen mit einem Satz zu quittieren: Verbrecherinnen werden nicht als Verbrecherinnen geboren, sondern dazu gemacht.19 Weibliche Tötungsverbrechen erscheinen in beiden Texten als vielschichtiges und vielgesichtiges Phänomen, das nicht nur individuelle Besonderheiten und spezifische Tatsituationen ins Spiel kommen lässt, sondern auch sozial-politische Umstände mit einbezieht und auf den Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht einen besonderen Akzent legt. Weibliche Tötungskriminalität wird also einerseits auf innerpsychische Dynamiken zurückgeführt und als individuelles Versagen definiert. Aus dieser Perspektive heraus wird die Frauenkriminalität als Versuch verstanden, mit eigener Hilflosigkeit, Schwäche, Bitterkeit, Enttäuschung, Wut und/oder Trauma zurechtzukommen und emotionale Defizite auszugleichen. Andererseits wird kriminelle Handlungsmacht von Frauen in sozial-politische Strukturen eingebunden, denen eine »geschlechtliche Gewaltkultur«20 eigen ist. So werden Zehs und Mahlknechts Protagonistinnen in deformierte soziale Bezüge hineingezwängt und ihre kriminellen Taten als (un-)mittelbare Folge weiblicher Benachteiligung, Unterdrückung und Ausbeutung in einer Sozialgemeinschaft thematisiert, die das Frausein als Abhängigkeitsverhältnis und Verletzungsoffenheit konstruiert. Als (gescheiterte) Mörderinnen zeichnen sie sich dabei durch Ambivalenzen aus, die sie an der Grenze zwischen Opfer- und Täterposition oszillieren lassen: Auf der einen Seite werden sie mit den tradierten biografisch-geprägten Erklärungsmustern versehen und dadurch als Opfer in Szene gesetzt. Auf der anderen Seite versuchen die Autorinnen, mit den tradierten Vorstellungen von passiven weiblichen Opfern zu brechen, indem sie ihre Protagonistinnen die männlich konnotierte Gewaltsphäre für sich beanspruchen lassen. Doch je mehr sich die Frauen von der Opferzur Täterposition bewegen, desto weniger überzeugen sie in der geschlechtsneutralen Rolle. Verhandelt werden nämlich nicht nur ›typisch weibliche‹ Mordarten wie Kindesmord, sondern auch die Weiblichkeitszuschreibungen selbst, die diese Vorstellungen vom ›typisch weiblichen‹ Verbrechen – wie etwa

19 Vgl. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1968, S. 265. 20 Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive. In: Dackweiler, Regina-Maria/Schäfer, Reinhild (Hg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektive auf Geschlecht und Gewalt. Frankfurt (Main): Campus Verlag 2002, S. 81–106, hier S. 87.

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Passivität, List oder Verstellungskunst – generieren.21 Ihre Positionierung im Täterdiskurs wird darüber hinaus durch eine ästhetisch-narrative Begründung begleitet, die die beiden Protagonistinnen daran hindert, den Opfer-Täter-Binarismus zu unterwandern und die geschlechtsbezogene Identität abzulegen.

Literatur Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1968. Brylla, Wolfgang: (Un-)Lust an Gewalt? Das neue Gesicht des Kriminalromans. In: Z˙ebrowska, Ewa/Olpin´ska-Szkiełko, Magdalena/Latkowska, Magdalena (Hg.): Zwischen Kontinuität und Modernität. Metawissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnisse der germanistischen Forschung in Polen. Warszawa: VPG 2016, S. 266–280. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/ Zürich: Piper 1983. Gradinari, Irina: Maskerade des Begehrens: Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 111–133. Harbort, Stephan: Mörderinnen – von der Gatten- bis zur Serientötung. In: Lee, Hyunseon/ Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 17–38. Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel: Einleitung. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 11–16. Mahlknecht, Selma: Es ist nichts geschehen. Bozen: Raetia Verlag 2010. Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive. In: Dackweiler, Regina-Maria/ Schäfer, Reinhild (Hg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektive auf Geschlecht und Gewalt. Frankfurt (Main): Campus Verlag 2002, S. 81–106. Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł: Vorwort. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 2. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 9–13. Szmorhun, Arletta: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza UZ 2016. Zeh, Juli: Nullzeit. Frankfurt (Main): btb 2012.

21 Vgl. Gradinari, Irina: Maskerade des Begehrens: Lust- und Sexualmörderinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Lee, Hyunseon/Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Mörderinnen. Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen. Bielefeld: transcript 2013, S. 111–133, hier S. 113–114.

Fiona Wachberger (Tübingen)

Mörderinnen: Motiv und Geschlechtervorstellungen in der Kriminalliteratur. Ein deutsch-polnischer Vergleich am Beispiel von Olga Tokarczuks Der Gesang der Fledermäuse (2009) und Stephan Ludwigs Zahltag (2020)

Mörderfantasien Im Folgenden zeige ich erstens, dass Frauen in der Kriminalliteratur häufig töten, um die Schwächeren und Verletzlicheren der Gesellschaft zu schützen – eine Fiktion, welche die Vorstellung reproduziert, dass Frauen aus altruistischen Motiven handeln; zweitens, dass eine Mörderin, die von diesem Muster abweicht, das Potential hat, neue Räume aufzuzeigen, Frauen zu denken und zu fantasieren. In ihrer Arbeit The Subject of Murder. Gender, Exceptionality, and the Modern Killer1 entwickelt Lisa Downing die Theorie, dass im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Romantik und später mitbeeinflusst durch die Psychologie, Sexologie und Kriminologie der Jahrhundertwende die Vorstellung von dem modernen Mörder entsteht. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Literatur für diese Entwicklung. Sie prägt die Fantasie der noch jungen Kriminologie, die um 1900 ihren Höhepunkt erreicht. Cesare Lombroso, Gründungsvater der positivistischen Kriminologie, entwickelt zu dieser Zeit mit seiner Theorie des »geborenen Verbrechers«2 das Bild eines durch die Genetik determinierten Verbrechers. Interessant ist, dass sich Lombroso zur Untermauerung seiner Thesen wiederholt auf fiktive Kriminalerzählungen bezieht und deren narrativen Strategien übernimmt.3 Der Literaturwissenschaftler Jörg Schönert zeigt in seiner Forschungsarbeit Erzählte Kriminalität auf, wie die Kriminologen der Jahrhundertwende (Ellis, Wulffen, Liszt und Lombroso) in ihrem Bestreben, verbrecherisches Verhalten zu erklären, aufgrund mangelnder Belege nach dem 1 Downing, Lisa: The Subject of Murder. Gender, Exceptionality, and the Modern Killer. Chicago/ London: The University of Chicago Press 2013. 2 Lombroso, Cesare: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Bd. 2. Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei Richter 1887–1890, S. 253. 3 Andriopoulos, Stefan: Die Zirkulation von Figuren und Begriffen in kriminologischen, juristischen und literarischen Darstellungen von »Unfall« und »Verbrechen«. In: »Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur« 2 (1996), S. 113–142, hier S. 118–119.

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»empirische[n] Reichtum der literarischen Darstellungen von Kriminalität« greifen.4 Die Kriminalerzählung wird so zu einer empirischen Bestätigung und Grundlage der Kriminologie und es entsteht eine Zirkulation zwischen Literatur und Wissenschaft, da auch literarische Texte (Zola, Döblin und Musil) durch das kriminologisch umrissene Bild der Natur des Straftäters geprägt werden. Dieses Phänomen der Wechselwirkung wiederholt sich Mitte des 20. Jahrhunderts in den ersten Forschungsarbeiten zum Serienmörder.5 Als eine der wichtigsten Quellen dient auch dort die Kriminalliteratur. Als besonders wirkungsreich erweisen sich die Fiktionen des französischen Schriftstellers und Philosophen Marquis de Sade aus dem 18. Jahrhundert. In seinem literarischen Werk zeichnet er den Mörder als ein unabhängiges, eigenmächtig handelndes und souveränes Subjekt, das sich durch seine Nähe zum Künstler und Genie auszeichnet. Mörder stellt er als gänzlich außergewöhnliche Individuen dar – und prägt damit eine exzeptionalistische Vorstellung von dem Mörder, die tief in die kulturelle Imagination eindringen wird. Bei Sade ist der Mensch, der tötet, ein für sich alleine und über der Moral stehendes Wesen, das nur der destruktiven Kraft der Natur zu gehorchen hat.6 Merkmal des transzendentalen kriminellen Subjekts ist die Fähigkeit, das perfekte Verbrechen zu begehen, eine Tat, die nicht durch niedrige Motive wie Gier, Neid und Hass bestimmt wird. Der Acte gratuit7 ist ein motivloses und im Sinne der Philosophie des 19. Jahrhunderts rein ästhetisches Verbrechen.8 Sades Idee vom Mörder inspiriert bis heute reale Verbrecher in ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstinszenierung, wie beispielsweise das SerienmörderPärchen Ian Brady und Myra Hindley. Die beiden wurden in den 1970er Jahren als Moor-Mörder bekannt, nachdem sie gemeinsam fünf Kinder getötet hatten. Ganz im Geiste von Sade beschreibt Brady in seinem 2001 veröffentlichten Buch The Gates of Janus den Serienmörder folgendermaßen: »Serial killers are so glamorised […] as to tempt others to […] revere them as the prophets of risk and

4 Schönert, Jörg: Bilder vom ›Verbrechermensch‹ in den rechtskulturellen Diskursen um 1900. Zum Erzählen über Kriminalität und zum Status kriminologischen Wissens. In: Schönert, Jörg/ Imm, Konstantin/Linder, Joachim (Hg.): Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 497–527, hier S. 505. 5 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 20. 6 Vgl. ebd., S. 3–6, 10–15 und 107–116. 7 Der Begriff ist geprägt durch den französischen Schriftsteller André Gide, der in seinem Roman Les Caves du Vatican (1914) seinen Protagonisten Lafcadio einen ihm unbekannten Mann grundlos aus dem Fenster des fahrenden Zuges werfen lässt. 8 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 12.

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individual action, in a society overwhelmed and bogged down by the dull courtiers and ass-kissers of celebrity culture.«9 Wichtig ist jedoch zu erkennen, dass unsere Kultur den exzeptionellen Platz des Mörders einem männlichen Subjekt vorbehält: »[we] might notice which category of person (male) may »legitimately« occupy the role of killer, and which category of person (female) is more generally relegated the role of victim in our culture.«10 Die Rolle, die ein ums andere Mal der Frau zukommt, ist die des hilflosen und entstellten Opfers. Darstellungen und Erzählungen von Gewalt gegen und an Frauen in Kunst und Literatur sind unzählig.

Opferfantasien oder Frauen in der Kriminalliteratur In der Kriminalliteratur kommen Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert am häufigsten in der Rolle des Opfers vor.11 Edgar Allan Poe erklärt 1846 die Leiche einer schönen Frau zum poetischsten Gegenstand der Welt.12 Ausgehend von Poes Aussage und mit Bezug auf Simone de Beauvoir schreibt Elisabeth Bronfen 1987, dass aus einer patriarchalen Perspektive Frauen in kulturellen Erzeugnissen immer als das Andere gedacht und in Extremen imaginiert werden, als »das extrem Gute, Reine, Hilflose oder das extrem Gefährliche, Chaotische, Verführerische«.13 Vereinzelt treten aber auch gefährliche und gewalttätige Frauen in der Literatur auf. Bereits im 18. Jahrhundert wird in den sogenannten Pitaval-Sammlungen von Strafrechtsfällen, die anfangs als juristische Fachlektüre, später aber auch für ein breiteres Publikum verfasst wurden, mit viel Leidenschaft über Giftund Kindsmörderinnen berichtet. Die Frau als mordende Giftmischerin bleibt auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein populäres Sujet. So schreibt beispielsweise Alfred Döblin 1924, inspiriert durch ein wahres Ereignis, die Geschichte zweier Ehefrauen, die aus Verzweiflung und Zuneigung zueinander einen ihrer Gatten töten.14 Den gleichen Mord verarbeitet Robert Musil in seiner Erzählung Das verbrecherische Liebespaar. Die Geschichte zweier unglücklicher 9 Brady, Ian: The Gates of Janus: Serial Killing and Its Analysis by the the Moors Murderer. Los Angeles: Feral House 2001, S. 37. 10 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 1–2. 11 Klewe, Sabine: Gender und Genre: Geschlechtervariation und Gattungsinnovation in den Kriminalromanen von Val McDermid. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2015, S. 57. 12 Das Zitat stammt aus einem Essay mit dem Titel The Philosophy of Composition, das Poe 1846 verfasste. 13 Bronfen, Elisabeth: Die schöne Leiche: Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne. In: Berger, Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln: Böhlau 1987, S. 87–117, hier S. 91. 14 Döblin, Alfred: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1971.

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Ehen (1923).15 Neben den Pitaval-Geschichten und vereinzelten literarischen Erzeugnissen wie die von Döblin und Musil gibt es um 1900 nur wenige Mörderinnen in der Erzählliteratur. Die unheilvolle Frauenfigur, die in dieser Zeit literarisch dominiert, ist die Femme fatale. Sie begegnet uns beispielsweise in Emile Zolas Thérèse Raquin (1867), in Oscar Wildes Salomé (1896) oder in Thomas Manns Erzählung Der kleine Herr Friedemann (1897). Es wäre aber falsch, die Femme fatale als Mörderin zu verstehen. Zwar droht sie durch ihre dämonische Schönheit und Anziehung dem Mann zum Verhängnis zu werden, ist jedoch nur selten aktive Täterin. Erst in den amerikanischen hardboiledKriminalromanen wird sie als Mörderin dargestellt, u. a. bei Raymond Chandler in Der große Schlaf (1939) und Das hohe Fenster (1942). Bei Chandler, wie bei den anderen hardboiled-Autoren seiner Zeit, wird die Mörderin fast ausschließlich in Verbindung mit ihrer Schönheit und Sexualität gedacht. Die wirklich furchteinflößenden Mörderinnen bleiben die Figuren aus der griechischen Mythologie, wie beispielsweise Medea und die Erinnyen oder die Stiefmütter und die Hexen der Märchen. Mit dem Feminismus der zweiten und dritten Welle verändern sich ab den 1970er Jahren die Vorstellungen von Weiblichkeit, und mit ihnen nimmt die Darstellung weiblicher Gewalt zu. Immer häufiger verbirgt sich hinter der geheimnisvollen Rolle des Mörders tatsächlich eine Frau.16 Im Gegensatz zur Filmwissenschaft sind die Forschungsarbeiten in der Literatur- und Kulturwissenschaft zu Frauen, die töten, noch ziemlich dürftig.17 Dieser Beitrag setzt hier an und versucht, diesen noch unbefriedigenden Diskurs einen Schritt weiter zu bringen.

Ein polnischer und ein deutscher Kriminalroman Untersuchungsgenstand sind zwei erst kürzlich erschienene Kriminalromane: Stephan Ludwigs Zahltag (2020)18 und Olga Tokarczuks Der Gesang der Fledermäuse (2009).19 Der Vergleich zwischen diesen beiden Geschichten ist ein un15 Musil, Robert: Das verbrecherische Liebespaar. Die Geschichte zweier unglücklichen Ehen. Bd. 7. Reinbek: Rowohlt 1923, S. 669–671. 16 Miller, Alyson/Atherton, Cassandra/Hetherington, Paul: Agents of Chaos: The Monstrous Feminine in Killing Eve. In: »Feminist Media Studies« (2021), S. 1–17, hier S. 1. 17 Ausgehend von dem Wunsch, diesem Mangel abzuhelfen, haben Émeline Jouve, Aurélie Guillain und Laurence Talairach 2016 den zweisprachigen Sammelband Unspeakable Acts: Murder by Women herausgegeben. Brüssel: P.I.E. Peter Lang. 18 Ludwig, Stephan: Zahltag. Frankfurt (Main): S. Fischer 2020. Alle folgenden Zitate mit Seitenangaben im Fließtext unter der Sigle SL. 19 Tokarczuk, Olga: Der Gesang der Fledermäuse. Zürich: Kampa Pocket 2021. Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Prowadz´ swój pług przez kos´ci umarłych im Verlag

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gewöhnlicher. Erstere ist das, was man als Blockbuster-Kriminalroman bezeichnen kann, oder als Kiosk- und Flughafenkrimi, weil diese Art von Kriminalliteratur immer dort erhältlich ist. Zahltag erzählt den zehnten Fall des erfolgreichen Ermittler-Duos Zorn und Schröder. Letztere ist ein Arthouse-Kriminalroman20, verfasst von der polnischen Nobelpreisträgerin für Literatur. Der Vergleich ist aber auch ein vielversprechender, denn wie ich zu zeigen hoffe, können diese zwei Krimis bereits einiges über die Konstruktion von fiktiven Mörderinnen und ihre Mordmotive verraten. Im Mittelpunkt des Vergleichs soll die Vorstellung von der Mörderin stehen. Wie wird die Frau als Mörderin in der Fiktion der Gegenwart gezeichnet? Und welche Unterschiede zur Darstellung männlicher Mörder lassen sich feststellen? Ganz im Sinne der Annahme von Cristelle Maurys und David Roches – »the discourses surrounding women who kill are frequently used as a measurement of normative behavior to apply to women as a whole«21 – versteht dieser Beitrag die Protagonistinnen der beiden Kriminalromane als einen Maßstab oder zumindest als einen Indikator dafür, wie über Frauen im größeren gesellschaftlichen Kontext gedacht wird. Oder, um mit Lisa Downing zu sprechen, wie die Kultur die Frau fantasiert.22 Was können Frauen, die töten, über Geschlechtervorstellungen verraten, und wie verhalten sie sich zu diesen – verstärken, unterlaufen oder verletzen sie sie? Um das zu beantworten, muss danach gefragt werden, weshalb Frauen in der Kriminalliteratur zu Täterinnen werden. Im Folgenden sollen deshalb die Mordmotive von Ludwigs und Tokarczuks Mörderinnen genauer untersucht werden.

Töten für die Anderen Stephan Ludwigs Mörderin ist eine junge Frau namens Hannah. Sie verfügt über eine Gabe, die sie zur perfekten Killerin macht: Sie hat kein Schmerzempfinden und keine Angst: Sie ist … dazwischen. Weder tot noch lebendig. Das erklärt diese Leere, diese Abwesenheit jeglicher Gefühle. Als wäre ihr Inneres mit weißen Fliesen gekachelt, ein kühler, keimfreier Raum. Wer keinen Schmerz kennt, der kennt auch keine Angst. Und wer Wydawnictwo Literackie. Die deutsche Erstausgabe erschien 2011 im Verlag Schöffling & Co. und 2019 im Kampa Verlag. Alle folgenden Zitate mit Seitenangaben im Fließtext unter der Sigle OT. 20 Die treffende Bezeichnung verdanke ich Thomas Wörtche. 21 Smith, Angela/Nally, Claire: Series Editors’ Forward. In: Maury, Cristelle/Roche, David (eds.): Women who Kill. Gender and Sexuality in Film and Series of Post-Feminist Era. London: Bloomsbury Publishing 2021, S. ix–x, hier S. ix. 22 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 100.

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keine Angst hat, fürchtet sich nicht vor dem Tod. Deshalb wird Hannah kein Problem damit haben, jemanden zu töten. Schließlich, überlegt sie, tue ich etwas Gutes. Zum Wohl der Gemeinschaft. (SL, 253; Hervorhebungen im Original)

Ohne Eltern und Familie wächst Hannah in einem Waisenhaus auf. Sie hat keine Freunde und wird von den anderen Kindern gemieden, bis sie von Natan entdeckt wird. Natan ist ein älterer, sehr wohlhabender Herr, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Personen zu beseitigen, die für die Gesellschaft eine Gefahr darstellen. Er erkennt Hannahs Gabe, nimmt sie bei sich auf und lehrt sie das Töten. So wird sie zu einer geschickten Mörderin, die über die Jahre so viele Menschen umbringt, dass sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wie viele es waren: »›Ich habe zwölf Menschen ermordet.‹ Sie runzelt die Stirn. ›Oder waren’s elf ?‹« (SL, 339) In Natans Auftrag tötet Hannah Menschen, die anderen Leid antun, Männer und Frauen, die kleine Kinder misshandeln und Frauen terrorisieren, wie beispielsweise Ferdinand Stolz: [Er] hatte seine Frau gequält. Pia Stolz hatte keinen Ausweg gesehen, ihr Tod war eine Flucht gewesen, und dass ihr Mann jetzt ebenfalls tot war, konnte man durchaus als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten. Ja, sein Tod war … gerecht. (SL, 160; Hervorhebung im Original)

Die Opfer dieser Geschichte sind gleichzeitig die Täter. Hannah will sie töten »um [damit] andere zu schützen« (SL, 251), sie handelt präventiv: Es ging nicht um Strafe für das, was diese Menschen getan hatten. Nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. Darum, zu verhindern, was sie noch alles tun würden. Mit jedem Leben, das wir genommen haben, wurden viele, sehr viele gerettet. Eine einfache Rechnung. (SL, 291; Hervorhebung im Original)

Mit ihren Morden kümmert sie sich um die Vulnerablen der Gesellschaft – sie mordet für das Wohl der anderen. Am Ende der Geschichte opfert sie sich selbst, um damit das Leben einer anderen Frau zu retten. Frieda Borcks Leben, die als Staatsanwältin in Hannahs Augen mehr für die Gerechtigkeit tun kann als sie selbst, wird vom Erzähler wie folgt beschrieben: Es ist kein Opfer. Sondern ein sachlicher Tausch. Jemand, der sterben will, ersetzt einen anderen. Hannah hat oft genug getötet, um andere zu schützen. Jetzt stirbt sie, um dasselbe zu tun. Die Staatsanwältin wird mehr erreichen als Hannah. Viel mehr. (SL, 364)

Stephan Ludwig kreiert eine starke, entschlossene und beinahe unverwundbare Mörderin; er reduziert die Figur damit aber auch stark, so dass Hannah fast nicht mehr menschlich, sondern künstlich wirkt. Denn Hannah hat nicht nur keine Angst und keine Schmerzen, »[s]ie selbst gibt keine Gerüche ab. Ihr Körper riecht

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nicht« (SL, 79) und wenn sie sich bewegt, geschieht das »fließend, grazil, schwebend. Irgendwie … lautlos« (SL, 92; Hervorhebung im Original). Der Bestseller-Krimiautor ist mit dieser Darstellung einer selbstlosen und aufopfernden Mörderin nicht alleine. Tatsächlich werden Frauen, die töten, in der Kriminalliteratur häufig auf diese Art erzählt. Beispielsweise Henning Mankells Yvonne Anders in Die fünfte Frau (1996)23 oder Håkan Nessers Protagonistin Jelena Wagens in Die Frau mit dem Muttermal (1996).24 Wie Hannah sind auch sie sehr bescheiden, planen ihre Morde akribisch und fehlerfrei – und opfern sich nach der Erfüllung ihres Auftrags am Ende des Romans für einen anderen Menschen. Selbstaufopferung und Verfügbarkeit gehörten in der Vergangenheit zu den edelsten Diensten einer Frau.25 Hannah bzw. ihre Art zu töten und ihre Mordwaffe erinnern aber noch an eine andere Mörderin, und zwar an Haruki Murakamis Aomame in 1Q84 (2009)26. Wie Hannah tötet Aomame ihre Opfer mit einem gezielten Nadelstich in den Nacken. Eine Kunst, die nur sehr wenige beherrschen: Es ist kaum vorstellbar, den richtigen Punkt zu treffen, die Stelle liegt zwischen zwei Nackenwirbeln, und die Nadel muss ziemlich tief eindringen, um das Rückenmark zu erreichen. Das Opfer ist sofort tot. (SL, 184)

Zum Vergleich die entsprechende Textstelle bei Murakami: »Nur Aomame konnte das. Niemand sonst war imstande, diesen versteckten Punkt mit der Hand zu ertasten. Sie schon. Ihre Fingerspitzen besaßen diese besondere intuitive Gabe.«27 Es ist eine stille, fast elegante Tötungsart: ohne Blut und Dreck und vor allem unauffällig. Es ist schwierig, überhaupt zu erkennen, dass es sich dabei um Mord handelt, denn die Nadeleinstiche sind klein und mit bloßem Auge kaum sichtbar. Wer Kriminalromane liest, ist mit der Annahme vertraut, dass der Mörder mit seinen Morden etwas zu sagen hat. Hannahs und Aomames Taten sprechen keine Sprache. Die ganze Figur von Hannah spricht nicht: »Hannah redete kaum, und wenn sie es tat, geschah es leise, fast widerwillig.« (SL, 93) Neben der Mordwaffe gibt es zwei weitere Ähnlichkeiten zwischen Hannah und Aomame, die diesen Eindruck verstärken. Erstens töten beide im Auftrag, sie bestimmen nicht selbst darüber, wen sie töten, sondern verlassen sich in der Wahl ihrer Opfer auf das Wissen einer anderen Person. Zweitens kommt bei beiden Figuren immer wieder ihr genügsames Essverhalten zur Sprache, z. B. als ein Kollege Hannah ein Knäckebrot stiehlt: »Hannah versteift sich, ihre täglichen

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Mankell, Henning: Die fünfte Frau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000. Nesser, Håkan: Die Frau mit dem Muttermal. München: Random House 1998. Downing, Lisa: Selfish Women. New York: Routledge 2019, S. 153. Murakami, Haruki: 1Q84. Köln: DuMont Buchverlag 2010. Vgl. ebd., S. 70.

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Mahlzeiten sind auf die Kalorie genau geplant, doch jetzt kann sie ihm die Bitte nicht mehr verweigern.« (SL, 76) In 1Q84 wird beschrieben, dass Aomame nur sehr wenig Nahrung braucht und genau weiß, wie viel sie essen muss. Auch das ist Ausdruck von Bescheidenheit, Kontrolliertheit und dem Wunsch, möglichst wenig Raum einzunehmen. Susan Bordo schreibt in Unbearable Weight, dass Essen in der westlichen Kultur oft mit Mutterliebe gleichgesetzt wird und weiblicher Appetit mit Monstrosität. Die Darstellung des weiblichen Appetits kann ein Akt der Übertretung sein, der korrigiert werden muss, um die heterosexuelle Ordnung sicherzustellen und den widerspenstigen weiblichen Körper zu konditionieren.28

Fürsorgliche Mörderinnen Wenn Frauen in der Kriminalliteratur morden, dann geht es dabei oft um Gerechtigkeit: Motives are, no doubt logically, almost always gendered: men kill because they’re men, women don’t because they’re women, but when they do, they do it as women. The values traditionally associated with male and female, and masculinity and femininity, are often preserved and even essentialized, but they can also be called into question as cultural constructs.29

Frauen töten, um diejenigen zu schützen, die sich selbst nicht wehren können, und sie rächen die Verbrechen, die im Verborgenen bleiben. Ihr kriminelles Handeln hat etwas Fürsorgliches und Edles an sich. Auch im Film und Fernsehen wird weibliche Gewalt nach wie vor durch zwei Hauptmerkmale gerechtfertigt: Mutterschaft und Viktimisierung.30 Hannah tötet ihre Opfer aus dem, was Lizzie Seal als »natürliche Motive«31 bezeichnet; Motive also, die mit Geschlechtervorstellungen, -normen und -erwartungen übereinstimmen, und Verhaltensweisen, die für Frauen als instinktiv gelten, wie das Beschützen von Kindern und der Familie. Lisa Downing formuliert in diesem Zusammenhang äußerst treffend folgende Beobachtung: When Virginia Woolf argued in 1929 for women’s need for »a room of one’s own,« it was as a reaction against the relentless imperative of being-with and being-for that charac28 Bordo, Susan: Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley: University of California Press 1993, S. 122. 29 Maury, Cristelle/Roche, David: Introduction. In: Maury, Cristelle/Roche, David (eds.): Women who Kill. Gender and Sexuality in Film and Series of Post-Feminist Era. London: Bloomsbury Publishing 2021, S. 1–33, hier S. 12. 30 Ebd. 31 Seal, Lizzie: Women, Murder and Femininity. Gender Representation of Women Who Kill. Hampshire: Palgrave MacMillan 2010, S. 33, 41.

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terized the lives of those socially allotted the roles of daughter-wife-mother – and never that of individual.32

Was Downing den »unerbittlichen Imperativ des Mit- und Für-Seins« nennt33, ist die gesellschaftliche Erwartung, dass Frauen in erster Linie für andere da zu sein haben und nicht für sich selbst.34 Stephan Ludwigs Fantasie einer Mörderin hält diese Vorstellung aufrecht, mehr noch, Zahltag reproduziert diese fixe Idee: Um die Schwächeren der Gemeinschaft vor weiteren Verbrechen zu schützen, nimmt Hannah es auf sich, selber zur Täterin zu werden. Ludwig zeigt damit eine Frau, die selbst noch während sie tötet dem »unerbittlichen Imperativ des Mit- und Für-Seins« nachkommt. Die Art und Weise, wie sie mordet – fast unsichtbar, stumm und ohne selbst dabei viel Raum einzunehmen – verstärkt diesen Eindruck. Folglich steht Ludwigs Mörderin35 in einem klaren Kontrast zu der Vorstellung des männlichen Mörders, der nur in seinem eigenen Interesse agiert und der wie das Genie und der Künstler als über dem Gesetz und der Moral stehendes Individuum verherrlicht und fetischisiert wird.36

Alt und gefährlich Olga Tokarczuks Protagonistin Janina Duszejko hat es satt, in einer Welt zu leben, die von Männern bestimmt wird. Als Frau – und insbesondere als alte Frau – hört ihr niemand zu und man nimmt sie nicht ernst: Wenn man etwas in die Jahre gekommen ist, muss man damit rechnen, dass die Menschen ungeduldig mit einem umgehen. Ich wäre früher nicht auf die Idee gekommen, bestimmte Gesten so zu deuten. Ein etwas zu rasches Kopfnicken, dem Blick ausweichen, ständig wie ein Papagei »ja, ja« sagen, verstohlen nach der Uhr schielen, sich an der Nase reiben – heute verstehe ich gut, dass dieses ganze Getue nur eines heißen soll, nämlich »Lass mich doch endlich in Ruhe, du lästige Alte«. (OT, 26)

Ständig wird Duszejko aufgefordert, nach Hause zurückzukehren und sich weiter keine Gedanken zu machen: »Es ist alles in Ordnung, fahren sie nach Hause« (OT, 77) und »[r]egen Sie sich nicht auf. Wir sind im Recht« (OT, 79). Dabei ist sie oft die Einzige in der Geschichte, die wirklich etwas weiß und logisch argumentiert.

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Downing, Lisa: Selfish Women, S. 45. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 7. Das Gleiche gilt für Hannahs kriminalliterarische Schwestern Aomame und die Mörderinnen bei Mankell und Nesser. 36 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 1.

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Miranda Fricker beschreibt dieses Phänomen als »epistemische Ungerechtigkeit«.37 Eine Person wird aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Geschlecht oder Alter nicht als Wissende wahrgenommen. »Aussage-Ungerechtigkeit« ist eine Form dieser »epistemischen Ungerechtigkeit« und führt dazu, dass beispielweise eine alte Frau in ihrer Eigenschaft als Wissende nicht ernst genommen wird und als nicht zuhörenswürdig gilt. Über die Jahre hinweg wird Duszejko immer mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen, verliert zuerst ihre Arbeit als Brückenbauingenieurin und dann als Lehrerin. Mit ihren Freunden bildet sie eine Gruppe von Menschen, auf welche die Gesellschaft keine Rücksicht nimmt: »Ich verstand, dass wir alle zu den Personen gehören, die von der Welt als nutzlos angesehen werden. […] Wenn es uns nicht gäbe, wäre eigentlich gar nichts anders. Es würde niemandem auffallen.« (OT, 279) Als Duszejko dahinterkommt, dass die Männer aus dem Dorf, nämlich der Polizist, der Wildjäger, der Fuchsfarmer, der Vorsteher und der Pfarrer, ihre zwei Hündinnen umgebracht haben, beschließt sie, einen nach dem anderen zu ermorden. Was am Anfang noch ein Wunsch nach Rache ist, wird bald zum festen Entschluss, das ganze Patriarchat ihres Dorfes auszulöschen. Mord erscheint ihr dafür als die perfekte Lösung: »Ja, plötzlich wurde mir die Güte und Gerechtigkeit des Todes klar. Er ist wie ein Desinfektionsmittel, wie ein Staubsauger.« (OT, 13)

Eine ungewöhnliche Mörderin Duszejkos Verbrechen sind als ein Auflehnen zu verstehen, ein Aufbegehren gegen eine Ordnung, in der sie weder Platz noch Wert hat. Ihre Opfer stehen für ein korruptes System, das marode ist und krankt. Tokarczuk beschreibt die Männer als fettleibige und entstellte Gestalten, vor denen sich Duszejko ekelt: Er [der Polizist] stand entschlossen hinter seinem Schreibtisch auf, und ich sah seinen mächtigen Bauch, den der Ledergürtel seiner Uniform gar nicht umfassen konnte. Aus Scham versteckte sich dieser Bauch irgendwo dort unten, in den unbequemen, vergessenen genitalen Regionen. (OT, 39)

Mit ihren Morden gelingt es Duszejko, den Menschen im Dorf von dem Leid der Tiere zu erzählen. Denn sie lässt die Leute glauben, dass die Tiere die Mörder sind, die sich nun für das rächen, was die Menschen ihnen angetan haben. Dazu legt sie falsche Spuren, Rehfährten um die Leiche des Kommissars, Büschel von Fuchshaar um den aufgehängten Fuchsfarmer, Käfer auf und in den Mund des 37 Fricker, Miranda: Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford: Oxford University Press 2009.

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vergifteten Vorstehers. Damit man die Spuren auch richtig deutet, schreibt sie Briefe an die Behörden: Die Anordnung der Planeten sagt uns deutlich, dass die Täter dieses grausamen Mordes die Pelztiere waren, höchstwahrscheinlich also die Füchse, entweder die wilden oder die aus dem Gehege freigekommenen (oder beide Gruppen in Absprache miteinander), die das Opfer in eine der Fallen getrieben haben, wie sie dort seit Jahren von Menschen gestellt werden. Das Opfer geriet in eine der besonders grausamen »Galgen-Fallen« und hing einige Zeit in der Luft. (OT, 235)

Tokarczuk erzählt die Geschichte so, dass nicht von Anfang an klar ist, wer die Männer umbringt, und sie macht Duszejko zur Ermittlerin, die dann den von ihr selbst gelegten Spuren nachgeht. Damit vereint Duszejko die beiden wichtigsten Rollen des Kriminalromans: Sie ist Ermittlerin und Mörderin zugleich, was ungewöhnlich ist, denn nicht nur die Rolle des Mörders war lange den Männern vorbehalten, sondern auch diejenige des Ermittlers. Die Figur des Ermittelnden assoziiert man in der Krimi-Tradition mit Intellekt, Ratio und der Fähigkeit zur logischen Deduktion38 – allesamt Charakteristika, die Frauen viel zu lange abgesprochen wurden.39 Auch in den Tötungsszenen bricht Tokarczuks Mörderin mit alten Geschlechtervorstellungen, genauer gesagt mit der Vorstellung, dass Frauen sanft und leise töten. Duszejko schlägt ihren Opfern mit einer eisgefüllten Plastiktüte den Kopf ein. Eine laute, blutige und äußerst brutale Art zu töten: Ohne irgendetwas zu denken, stellte ich mich hinter ihn, die Plastiktüte mit dem steinharten Eisklotz in der Hand, wie beim Hammerwerfen. […] Habe ich euch nicht erzählt, dass der Sport, in dem ich es zu einer Medaille gebracht hatte, das Hammerwerfen war? Ich war polnische Vizemeisterin im Jahr 1971. Mein Körper nahm also die wohlbekannte Position ganz automatisch ein und kumulierte seine ganze Kraft. […] Ich holte aus und schlug zu. Ich hörte nur ein Knacksen. Der Kommissar schwankte, Blut strömte über sein Gesicht. (OT, 289–290)

38 Müller-Adams, Elisa: Gender und Genre. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 77–83, hier S. 78. 39 Mit diesem Thema hat sich u. a. die Philosophin Annemarie Pieper ausführlich befasst. Sie schreibt: »Das Bestürzende an der jahrtausendealten Diffamierung des weiblichen Denkvermögens scheint mir darin zu bestehen, dass weniger der gewöhnliche Mann von der Straße, der Repräsentant des common senses also, den Frauen das Mitspracherecht auf intellektueller Ebene absprach, sondern dass die Philosophen es waren, ausgerechnet diejenigen also, die es aufgrund ihres geschulten rationalen Urteilsvermögen und aus der Distanz des sachgerechten, kritischen Beobachters eigentlich besser hätten wissen müssen« (Pieper, Annemarie: Gibt es eine feministische Ethik? München: W. Fink 1998, S. 7).

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Von der Notwendigkeit gewalttätiger Frauen in der Literatur Margaret Atwood schreibt in ihrem Essay Übeltäterinnen mit befleckten Händen: Von der Schwierigkeit, über böse Frauen zu schreiben40 von der Notwendigkeit von bösen Frauen in der Literatur. Gemäß Atwood benötigen wir böse Frauen, um die bestehende Ordnung zu stören.41 Das Gleiche gilt für fiktive Mörderinnen; sie bieten die Möglichkeit, kulturelle Skripte und Erwartungen aufzudecken, zu hinterfragen und zurückzuweisen. Frauen, die gewaltsam Leben nehmen, statt zu geben und zu pflegen, verletzen kulturelle Normen von Weiblichkeit wie Pflege, Fürsorge, Sanftmütigkeit, Sicherheit, Gewaltlosigkeit und Passivität:42 Aber ist es nicht – wie soll ich sagen – irgendwie unfeministisch, wenn man heutzutage darüber schreibt, dass eine Frau böse ist? Ist böse zu sein nicht ein Männermonopol? Will man uns nicht genau das – ungeachtet der Wirklichkeit – heutzutage glauben machen? Wenn böse Frauen in der Literatur auftauchen, was haben sie dort zu suchen, sind sie zulässig, und wozu brauchen wir sie überhaupt? Ja, wir brauchen etwas wie sie, nämlich etwas, das die starre Ordnung stört.43

Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie nicht töten, um sich für ein Unrecht zu rächen oder um andere zu beschützen. An Stephan Ludwigs Mörderin ist in diesem Sinne wenig Beunruhigendes, tötet sie doch aus edlen Motiven. Ihr gewaltsamer Verstoß gegen kulturelle Normen von Weiblichkeit lässt sich dadurch legitimieren, dass sie es aus guten Gründen tut. Die Frauenbewegung hat die Literatur u. a. dahingehend verändert, dass Dinge möglich wurden, die im präfeministischen System als unmöglich galten. Dafür wurde anderes schwieriger oder tabuisierter: »Einige Autorinnen tendierten dazu, Moral nach Geschlecht aufzuspalten – sprich: Frauen waren von Natur aus gut und Männer schlecht.«44 Nachdem Frauen in Kunst und Literatur jahrhundertelang dämonisiert worden waren, war man nun geneigt, alle Formen von bösen Frauenfiguren entschlossen zurückzuweisen. Weibliche Verstöße und Fehlverhalten wurden auf das patriarchalische System zurückgeführt, und Männer waren daran schuld, wenn Frauen gegen das Gesetz verstießen und zu Verbrecherinnen wurden.45 Ist Bösesein also nach wie vor ein »Männermonopol«?46

40 Atwood, Margaret: Aus Neugier und Leidenschaft: Gesammelte Essays. Berlin: Piper 2005, S. 204–224. 41 Vgl. ebd., S. 205. 42 Downing, Lisa: The Subject of Murder, S. 16. 43 Atwood, Margaret: Aus Neugier und Leidenschaft, S. 205. 44 Ebd., S. 214. 45 Vgl. ebd., S. 214–217. 46 Vgl. ebd., S. 205.

Mörderinnen: Motiv und Geschlechtervorstellungen in der Kriminalliteratur

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Olga Tokarczuks zeichnet ein ganz anderes Bild einer Mörderin. Zwar stimmt Duszejkos Mordmotiv zu einem Teil mit Geschlechtervorstellungen und -erwartungen überein, insofern sie das den Tieren angetane Leid rächt. Die Rache im Namen der Tiere ist aber nur ein Teil ihres Tatmotivs und nicht alleiniger Anstoß für ihr Handeln. Der andere Part ist das, was ich zuvor als Satthaben und Aufbegehren bezeichnet habe: Der unbedingte Wunsch, selbst darüber zu bestimmen, was richtig und falsch ist. Dazu kommt, dass Duszejko über etwas verfügt, das man am besten mit female agency beschreiben kann: das Vermögen und die Fähigkeit einer weiblichen Figur, Handlungen zu vollziehen und Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben und die Ereignisse in der Geschichte beeinflussen.47 Während Hannah darum bemüht ist, möglichst unauffällig zu sein und ihre Spuren zu verwischen, erfindet Duszejko neue. Tokarczuks Protagonistin ist ein gutes Beispiel dafür, wie Frauen in der Literatur sichtbar und hörbar werden, und das in einem Genre, in dem sich die Rolle der Frau lange auf den Platz der stummen Leiche beschränkte. Figuren wie Hannah hingegen bleiben in ihrer bescheidenen und reduzierten Präsenz unsichtbar und reproduzieren in gewisser Weise das Bild der unsichtbaren Frau. Der Gesang der Fledermäuse ist die Geschichte einer alten Frau, die mit ihrer Unbeirrbarkeit, Selbstbestimmtheit und Brutalität eine Art von weiblicher Stärke verkörpert, die Frauen in der (westlichen) Kultur zu häufig vorenthalten wird.48 In diesem Sinne bieten fiktive Mörderinnen eine Möglichkeit, Geschlechtervorstellungen zu hinterfragen und die Rolle der Frau neu zu denken.

Literatur Andriopoulos, Stefan: Die Zirkulation von Figuren und Begriffen in kriminologischen, juristischen und literarischen Darstellungen von »Unfall« und »Verbrechen«. In: »Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur« 2 (1996), S. 113–142. Atwood, Margaret: Aus Neugier und Leidenschaft: Gesammelte Essays. Berlin: Piper 2005. Bordo, Susan: Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley: University of California Press 1993. Brady, Ian: The Gates of Janus: Serial Killing and Its Analysis by the Moors Murderer. Los Angeles: Feral House 2001.

47 Van Leerdam, Joanne: What is Female Agency in Literature? URL: https://wordynerdbird. com/2021/07/25/what-is-female-agency-in-literature / letzter Zugriff am 16. Januar 2023. 48 Temple, Emily: 10 Female Killers in Fiction: The Transgressive Pleasure of the Literary Murderess. URL: https://lithub.com/10-female-killers-in-fiction / letzter Zugriff am 29. Januar 2023. Vgl. hierzu den Text Wehrlos von Elsa Dorlin in: Dorlin, Elsa: Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Berlin: Suhrkamp 2022, S. 199–207.

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Fiona Wachberger

Bronfen, Elisabeth: Die schöne Leiche: Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne. In: Berger, Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln: Böhlau 1987, S. 87–117. Dorlin, Elsa: Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Berlin: Suhrkamp 2022. Downing, Lisa: The Subject of Murder. Gender, Exceptionality, and the Modern Killer. Chicago: The University of Chicago Press 2013. Downing, Lisa: Selfish Women. New York: Routledge 2019. Fricker, Miranda: Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford: Oxford University Press 2009. Klewe, Sabine: Gender und Genre: Geschlechtervariation und Gattungsinnovation in den Kriminalromanen von Val McDermid. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2015. Lombroso, Cesare: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Bd. 2. Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei Richter 1887–1890. Ludwig, Stephan: Zahltag. Frankfurt (Main): S. Fischer 2020. Mankell, Henning: Die fünfte Frau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000. Maury, Cristelle/Roche, David: Introduction. In: Maury, Cristelle/Roche, David (eds.): Women who Kill. Gender and Sexuality in Film and Series of Post-Feminist Era. London: Bloomsbury Publishing 2021, S. 1–33. Miller, Alyson/Atherton, Cassandra/Hetherington, Paul: Agents of Chaos: The Monstrous Feminine in Killing Eve. In: »Feminist Media Studies« (2021), S. 1–17. Müller-Adams, Elisa: Gender und Genre. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 77–83. Murakami, Haruki: 1Q84. Köln: DuMont Buchverlag 2010. Nesser, Håkan: Die Frau mit dem Muttermal. München: Random House 2007. Pieper, Annemarie: Gibt es eine feministische Ethik? München: W. Fink 1998. Schönert, Jörg: Bilder vom ›Verbrechermensch‹ in den rechtskulturellen Diskursen um 1900. Zum Erzählen über Kriminalität und zum Status kriminologischen Wissens. In: Schönert, Jörg/Imm, Konstantin/Linder, Joachim (Hg.): Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 497–527. Seal, Lizzie: Women, Murder and Femininity. Gender Representation of Women Who Kill. Hampshire: Palgrave MacMillan 2010. Smith, Angela/Nally, Claire: Series Editors’ Forward. In: Maury, Cristelle/Roche, David (eds.): Women who Kill. Gender and Sexuality in Film and Series of Post-Feminist Era. London: Bloomsbury Publishing 2021, S. ix–x. Tokarczuk, Olga: Der Gesang der Fledermäuse. Zürich: Kampa Pocket 2021.

Internetquellen Temple, Emily: 10 Female Killers in Fiction: The Transgressive Pleasure of the Literary Murderess. URL: https://lithub.com/10-female-killers-in-fiction / letzter Zugriff am 29. Januar 2023.

Mörderinnen: Motiv und Geschlechtervorstellungen in der Kriminalliteratur

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Van Leerdam, Joanne: What is Female Agency in Literature? URL: https://wordynerdbird. com/2021/07/25/what-is-female-agency-in-literature / letzter Zugriff am 16. Januar 2023.

Paweł Zimniak (Zielona Góra)

›Frauenkrimis‹ in der Regie krimineller Systeme Herta Müllers

Systemische Menschenfeindlichkeit Bei der Formulierung ›Frauenkrimis‹ geht es selbstverständlich nicht um eine bestimmte Textsorte, d. h. um von Frauen geschriebene und handelnde Kriminalromane als Genre1, sondern um eine von geschlossenen Systemen produzierte Menschenfeindlichkeit, von der Herta Müllers Frauen-Geschichten wesentlich mitgeprägt werden. Zur Grundlage der folgenden Untersuchung werden dabei Herta Müllers Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986), Barfüßiger Februar (1987), Herztier (2007), Atemschaukel (2009) und Niederungen (2010). Geschlossene menschenfeindliche Systeme stellen immer spezifische atmosphärische Räume dar, in die einzelne Akteure nicht nur ›eingelassen‹ werden, sondern diese räumliche Gestimmtheit durch ihr (un-)williges Involviertsein wesentlich ›mitproduzieren‹. Solche Systeme bedeuten nicht einfach nur einen Handlungsrahmen, innerhalb dessen sich das Leben – auch von Müllers Figuren – lediglich abspielt, denn sie werden vielmehr auf eine bestimmte Art und Weise erzählt und gedeutet, zumal sie sich sowohl im fiktionalen als auch im nichtfiktionalen Bereich auf die emotionale Verfassung der Beteiligten aus- und oft lebenslang nachwirken: Menschen funktionieren bzw. leben nicht in einem sozialen Vakuum. Der kollektive gesellschaftlich-politische Rahmen, innerhalb dessen sich unser persönliches Leben ›abspielt‹, kann insoweit unzufriedenstellend sein, als Ärger, Empörung, Zorn, Wut und Hass eben dann besonders von übergeordneten ›politischen Körpern‹ und ihren Repräsentanten erzeugt werden, wenn ihre Aktivitäten – mehr oder weniger gezielt – zur Spaltung von Gemeinschaften und Gesellschaften beitragen. Autokratisch organisierte Herrschaftssysteme entwickeln ihr Dominanzverhalten und lassen sich von Hass all

1 Vgl. Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015. Auch: Brylla, Wolfgang/Schmidt, Maike (Hg.): Der Regionalkrimi. Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022.

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Paweł Zimniak

denjenigen gegenüber (an)treiben, die der Durchsetzung ihrer Interessen im Wege stehen.2

Die systemisch Geknebelten und Geknechteten wissen sehr wohl, dass ein friedlich und menschenfreundlich erscheinendes Gesicht der Welt ein Wunschdenken und somit eine Fiktion ist. In die Lebensstruktur einzelner Akteure wird somit die Möglichkeit persönlicher Katastrophen einprogrammiert, denn es sind eben aggressiv agierende Machtstrukturen3, die ›kleinen Leuten‹ oder ›einfachen Menschen‹ heftig zusetzen, und dies umso mehr, wenn die Betroffenen aus der Reihe tanzen, sich nicht fügen wollen und ihre eigene Vorstellung von einer lebenswerten Lebenswelt zu leben versuchen. Die organisierende Kraft eines geschlossenen menschenfeindlichen Systems – wie abwegig das auch klingen mag – besteht schließlich u. a. darin, dass sich nicht nur Freund-Feind-Verhältnisse (heraus-)bilden, sondern auch der Einzelne sich in seiner Individualität und Kollektivität organisieren und ständig neu organisieren muss, auch wenn es ihm unter Umständen schwer fällt, die systemisch erwartete Passivität abzulegen. Dadurch werden oft schwer überschaubare Gemengelagen von sich überkreuzenden individuellen und systemisch produzierten (Fehl-)Entscheidungen und (Fehl-)Entwicklungen generiert, die eine Steigerung systemischer Menschenfeindlichkeit nach sich ziehen. Beim Herausstellen von Interaktionen und Kommunikationen zwischen Mensch und System wird der analytische Fokus dieses Beitrags hauptsächlich auf die Betroffenheit weiblicher Figuren, ihre Standortgebundenheit und Perspektivität als Systembetroffene fallen. Da geschlossene menschenfeindliche Systeme verschiedene Bedrohungs- und Verlustsituationen erzeugen, erweist sich bei der Hinterfragung systemischer Machtentwicklung und Gewaltanwendung die kognitiv-emotive Erzählstruktur als besonders relevant, mithin die Semantik von Missachtung, Benachteiligung und Ausnutzung weiblicher Figuren im Spannungsverhältnis zwischen individueller Entscheidungsfreiheit und systemischem Zwang.

2 Zimniak, Paweł: Hass als affektiv-relationale Grenzüberschreitung. In: Szmorhun, Arletta/ Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 1. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 15–31, hier S. 21. 3 Vgl. Szmorhun, Arletta: Dispositive des Genus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 11–30 (Ausführungen zur strukturellen Gewalt).

›Frauenkrimis‹ in der Regie krimineller Systeme Herta Müllers

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Herta Müllers weibliche Leidensgemeinschaft Subjektive ›psychische Realitäten‹ von Herta Müllers weiblichen Figuren werden situativ konzeptualisiert und vermittelt. Sie kommen in Konfrontation mit dem geschlossenen System und seinen mehr oder weniger mächtigen Repräsentanten zustande. In Herztier ist es eine aus armen Verhältnissen stammende Russischstudentin im vierten Studienjahr namens Lola, die von ihrem Turnlehrer vergewaltigt wird und sich anschließend erhängt. Nach ihrem Tod kommt es zu einem systemisch inszenierten Overkill: »Nachdem das Klatschen in der großen Aula durch die Hand des Rektors abgebrochen war, ging der Turnlehrer ans Rednerpult. Er trug ein weißes Hemd. Es wurde abgestimmt, um Lola aus der Partei auszuschließen und aus der Hochschule zu exmatrikulieren.«4 Rote Ohren, langgestreckte Hälse und halbgeöffnete Münder votieren bedenkenlos für eine Posthum-Bestrafung: »Jemand stand hinter dem Rednerpult und sagte: Sie hat uns alle getäuscht, sie verdient es nicht, Studentin unseres Landes und Mitglied unserer Partei zu sein. Alle klatschten.«5 Der Täter kommt ungeschoren davon, denn in der universitären Öffentlichkeit scheint es nur ein Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu geben, das auf Lolas Entehrung und Stigmatisierung hinausläuft. Das Vernichtungswerk des Systems wird perfektioniert, indem ein Bild von Lola – aus der Partei ausgeschlossen und von der Hochschule exmatrikuliert – zur Verfestigung der Stigmatisierung in den Schaukasten gehängt wird: Fünf Mädchen standen neben dem Eingang des Studentenheims. Im Glaskasten hing Lolas Bild, das gleiche, das im Parteibuch war. Unter dem Bild hing ein Blatt. Jemand las laut vor: Diese Studentin hat Selbstmord begangen. Wir verabscheuen ihre Tat und verachten sie. Es ist eine Schande für das ganze Land.6

Der Selbstmord als Verzweiflungsakt und Befreiungsschlag wird zum Ausgangspunkt für weitere Schikanen, wenn die Tote der Öffentlichkeit in einem Glaskasten preisgegeben, verabscheut und verachtet wird. Mit dem Suizid soll sie Schuld auf sich geladen und Schande über das ganze Land gebracht haben. Mit dieser Bürde wird die junge Frau nun tot sein müssen. Das totalitäre System gewinnt die Oberhand. Eine Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses wird endgültig vollzogen. Im individuellen Gedächtnis von Katharina Windisch in Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt ist es die körperlich-sinnliche Erfahrung des kriminellen Systems eines russischen Arbeitslagers, die über Jahrzehnte hinweg ihre Wahrheitspräsenz bewahrt. In der Geschichte über die Grassuppe – die Gras4 Müller, Herta: Herztier. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2021, S. 35. 5 Ebd., S. 32. 6 Ebd., S. 30.

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suppe wächst an dem Ort des Menschenschindens »unter den Schuhn«7 – heißt es: Windischs Frau war fünf Jahre lang in Rußland gewesen. Sie hatte in einer Baracke mit Eisenbetten geschlafen. In den Bettkanten knisterten die Läuse. Sie war kahl geschoren. Ihr Gesicht war grau. Ihre Kopfhaut war rot zerfressen. […] Jeden Morgen blieben Männer und Frauen auf den Bänken sitzen. Sie saßen mit offenen Augen. Sie ließen alle an sich vorbei. Sie waren erfroren. Sie saßen im Jenseits. Das Bergwerk war schwarz. Die Schaufel war kalt. Die Kohle war schwer.8

Arbeiten bis zum Umfallen, Eiseskälte und stiller, allgegenwärtiger Tod gelten als Rahmenbedingungen der Lagerexistenz. Die körperbezogene Erinnerung betrifft auch das ständige Hungergefühl, das eine zusätzliche Herausforderung darstellt: »Ihr Magen war ein Igel. Katharina pflückte jeden Tag ein Büschel Gras. Die Grassuppe war warm und gut. Der Igel zog für ein paar Stunden seine Stacheln ein.«9 Und es ist auch der heiße Hunger, der die Frau zum Verkauf ihres Wintermantels für zehn Scheiben Brot zwingt, als der Schnee zum ersten Mal geschmolzen ist. In den darauffolgenden Wintern geht der Überlebenskampf in Form von Tauschgeschäften – heiße Kartoffeln, nasses Brot mit Zucker oder eine Schüssel Maismehl bekommen den Wert einer fetten Beute – und lebensrettenden Besuchen in männlichen Eisenbetten eines Koches, eines Arztes und eines Totengräbers weiter. Der Tod des Vorgängers ist dabei immer eine unverzichtbare Bedingung für eine neue Beziehung. In der Lagerwirklichkeit wird Katharinas Körper einer systemischen Konditionierung unterworfen und verkommt zur Ware, durch deren Einsatz eine Kombination von existenziellen Beschränkungen und kleinen Freiheitsräumen entsteht und die eigenen Überlebenschancen gesteigert werden. Dem Hunger wird auch sein ihm gebührender Anteil an der körperlichsinnlichen Erfahrung des kriminellen Systems eines sowjetrussischen Straflagers in Atemschaukel gegeben: »Die schlimmste Falle des Hungerengels ist die Falle der Standhaftigkeit: Hunger haben und Brot haben, es aber nicht essen. Härter sein gegen sich selbst als tiefgefrorene Erde. Der Hungerengel sagt jeden Morgen: Denk an den Abend.«10 Hunger und Brot müssen sich unter den Umständen der Ausbeutung von Menschenleben die Waage halten, und es ist eine richtige Überlebenskunst, das zugewiesene Brot zu rationieren, es in Selbstüberwindung häppchenweise auf den ganzen Tag zu verteilen und nicht der Versuchung zu erliegen, alles auf einmal zu verschlingen. Dabei scheint die eigene Brotration 7 Müller, Herta: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2009, S. 90. 8 Ebd., S. 89. 9 Ebd. 10 Müller, Herta: Atemschaukel. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2021, S. 120.

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immer kleiner als das Deputat der anderen zu sein. Katharina Seidel, eine geistig behinderte Frau aus einem Dorf im Banat, die als Rumäniendeutsche ins russische Straflager verschleppt und von ihren Leidensgenossen die Planton-Kati genannt wird, entwickelt instinktiv ihren eigenen Überlebenskampf: Sie überlebte das Lager, ohne zu hausieren. Bei den Küchenabfällen hinter der Kantine war sie nie zu sehen. Sie aß, was auf dem Lagerhof und Fabrikgelände zu finden war. Blüten, Blätter und Samen im Unkraut. Und allerlei Getier, Würmer und Raupen, Maden und Käfer, Schnecken und Spinnen. Und im Schneehof des Lagers den gefrorenen Kot der Wachhunde. Man wunderte sich, wie die Wachhunde ihr vertrauten, als sei dieser torkelige Mensch mit der Ohrenmütze einer von ihnen.11

Die ›schwachsinnige‹ Planton-Kati ist für keine Arbeit zu gebrauchen, versteht nicht, was eine Norm, ein Befehl oder eine Strafe sei.12 Beim Appell setzt sie sich mitten in der Reihe immer auf ihre Wattemütze in den Schnee. Das auffordernde Geschrei aus dem Munde eines sowjetrussischen Kommandanten »Faschistin, aufstehen!« wird weitgehend ignoriert, und auch der Grobheit eines Schergen aus den eigenen Reihen der Deportierten leistet die Planton-Kati auf ihre eigene Art und Weise Widerstand: »Tur Prikulitsch riss sie am Zopf hoch, wenn er losließ, setzte sie sich wieder. Er trat ihr ins Kreuz, bis sie gekrümmt liegenblieb, ihren Zopf in die Hand drückte und die Faust in den Mund.«13 Und wenn sie seine Schuhe zu polieren versucht, wird ihr immer auf die Hand getreten.14 Der Zopf bildet dabei eine wichtige Referenz, denn er gibt der Planton-Kati Halt, ein flüchtiges Sicherheitsgefühl, wenn er nicht nur beim Schlafen, sondern auch beim Zusammenschlagen in der Hand gehalten wird. Als der Zopf zur Strafe wegen Einschlafens beim Wachehalten abgeschnitten wird, wird er immer noch in der Hand gehalten und erst dann endgültig aufgegeben, nachdem er verbrannt worden ist. Der Kopf der Planton-Kati wird immer und immer wieder kahlgeschoren, so dass mehr Läusebisse als Haare zu sehen sind. Aufgrund der Vergeblichkeit seines Tuns kommt der Frauenschinder Prikulitsch endlich zur Einsicht, »dass man jeden verelendeten Menschen drillen, aber Schwachsinn nicht gefügig machen kann.«15 Die Planton-Kati nimmt seinem Gewaltherrschen den Sinn, indem ihr ›Schwachsinn‹ unbeugsam bleibt und sie die entwürdigenden Zustände mit Würde erträgt, wofür sie von anderen Schicksals- und Leidensgenossen beneidet und bewundert wird: »All die Jahre behielt sie die Natürlichkeit eines im Lager heimischen Haustiers. Sie hatte überhaupt nichts

11 12 13 14 15

Ebd., S. 104–105. Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 103.

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Fremdes. Wir mochten sie.«16 Auch sie wird vom »Hungerengel« heimgesucht, aber ihr Verhalten setzt einen Maßstab der Menschlichkeit: »An ihr [der PlantonKati – P.Z.] können wir gutmachen, was wir einander antun. Solang sie zwischen uns lebt, gilt für uns, dass wir zu allerhand, aber nicht zu allem fähig sind.«17 In die Modellierung von systemischer Macht und Gewalt ist auch die Tochter von Katharina Windisch in Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt eingebettet. Auf der Ebene der rumäniendeutschen Existenz der Familie erbricht Windisch die Suppe in die Suppe, als er in der Geschichte über den Saugfleck erfährt, dass sich Amalie für die Ausreisegenehmigung in den Westen verkauft hat.18 Es verbindet sich zugleich mit dem Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit dem Milizmann als Täter gegenüber. Amalie wird als ›Beutegut‹ auch von anderen Entscheidungs- und ›Würdenträgern‹ instrumentalisiert und missbraucht. In der Geschichte über das silberne Kreuz vergehen sich zwei Täter an dem jungen weiblichen Körper: »Der Milizmann küßt Amalies Schulter. Das silberne Kreuz fällt vor seinen Mund. Der Pfarrer streichelt Amalies Schenkel. ›Zieh das Unterkleid aus‹, sagt er. Amalie sieht den Altar durch die offene Tür.«19 Es sind räumlich-dingliche Nuancen, die beide Frauen- und Leidensgeschichten miteinander verbinden. Amalies rotes Kleid leuchtet am Ende eines Eisenbetts und am Hals ihrer Mutter hängt kein silbernes, sondern ein goldenes Kreuz, wenn die Windischs aus dem Westen ihre alte Heimat besuchen kommen.20 Träger des Systems und systemische Handlanger, also all diejenigen, die sich ausschließlich von der systemischen Loyalität und einem Profitdenken leiten lassen, finden auch in Niederungen ihre figuralen Vertreter. Die arbeitssuchende Inge, die früher als Übersetzerin in einem Betrieb gearbeitet hat, ist eine verzweifelte Einzelkämpferin, deren Handlungsmöglichkeiten begrenzt bleiben. In Konfrontation mit einem palavernden Inspektor läuft die Frau mit dem Kopf gegen die Wand und muss die systemische Intoleranz für Differenzen am eigenen Leibe erfahren, wenn ihr die Aussicht auf eine Anstellung verwehrt wird: Also, wie gesagt: Da demnach dennoch das Maschinenbauministerium, weil Sie, nachdem, seit der Betrieb, während dieser Zeit eine Stelle, sondern, oder Ihnen angehört, und das Maschinenbauministerium leider währenddessen, also das Unterrichtsministerium deshalb durch den Betrieb, während das Inspektorat in dieser Zeit eine Stelle, oder Ihnen, und das Maschinenbauministerium deshalb durch den Betrieb seither, demnach auf keinen Fall zuständig ist.21

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Ebd., S. 105. Ebd., S. 122. Vgl. Müller, Herta: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, S. 86. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 109. Müller, Herta: Niederungen. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2020, S. 164.

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Der Unwille des Inspektors, Klartext zu reden, sich endgültig festzulegen und der Arbeitssuchenden eine klare Beschäftigungsperspektive anzubieten, zeichnet auf der Seite der Bittstellerin für das Gefühl des Befremdens und Unbehagens als Zustand innerer Unruhe verantwortlich. In der systemisch organisierten Unüberschaubarkeit der Situation wird sie nämlich kafkaesk mit einer Art Nebelkerze aus Wortfetzen konfrontiert, als würde man unendlich und vergeblich auf einen Einlass ins Gesetz warten, auf eine Menschlichkeitsgeste, die ausbleibt. Das kommunikative Verwirrspiel scheint eine gute Lösung zu sein, die Bewerberin als Unruhestifterin abzuspeisen und sich vom Leib zu halten. Inge ist völlig entmutigt und verwirrt, wenn es heißt, dass sie den Geruch fauler Rosen im Mund spüre.22 In der Wohnung angekommen, fasst sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage mit der Feststellung zusammen, dass das Bett wieder wie ein Sarg aussehe.23 Denkt man an den präsentierten Gefühlshaushalt und die entwickelten Affekte, sind es eben menschenfeindliche Systeme, die zerstörerische Kräfte bzw. kriminelle Energien freisetzen, bei den Systembetroffenen Zustände höchster innerer Aufgewühltheit hervorrufen und hochgradig destruktiv wirken. Sie machen einfach krank: Die Mütter von Edgar, Kurt und Georg waren Schneiderinnen. Sie lebten mit Steifleinwand, Futter, Scheren, Zwirn, Nadeln, Knöpfen und Bügeleisen. Wenn Edgar, Kurt und Georg von den Krankheiten ihrer Mütter erzählten, kam es mir vor, als hätten Schneiderinnen vom Bügeldampf etwas Aufgeweichtes an sich. Sie waren von innen krank: Edgars Mutter hatte es an der Galle, Kurts Mutter am Magen und Georgs Mutter an der Milz. Nur meine Mutter war Bäuerin und hatte vom Feld etwas Verhärtetes an sich. Sie war von außen krank, sie hatte es im Kreuz.24

Der Mensch versucht sozial-räumliche Gegebenheiten nicht nur nach seinen Bedürfnissen, Wünschen und Möglichkeiten zu verändern, sondern er fügt sich in sie auch apathisch ein. Die Mütter der studierenden Hauptfiguren sind als hart arbeitende Frauen stolz auf ihre Kinder und über ihre Scheren, Bügeleisen, Nadeln und Knöpfe hinweg kommunizieren sie mit ihnen nach bestem Wissen und Gewissen. Der Inhalt mütterlicher Briefe – in dieser Hinsicht kann eine Verbindungslinie zwischen allen Frauen gezogen werden – dreht sich um ihre Krankheiten: Wenn wir statt über unsere heimgekehrten SS-Väter über unsere Mütter sprachen, staunten wir, daß diese Mütter, obwohl sie sich im Leben nie gesehen hatten, uns die gleichen Briefe mit ihren Krankheiten nachschickten. Mit den Zügen, in die wir nicht mehr einstiegen, schickten sie uns den Schmerz ihrer Galle, ihres Magens, ihrer Milz, ihres Kreuzes nach. Diese aus dem Körper herausgehobenen Krankheiten der Mütter 22 Vgl. ebd., S. 164. 23 Vgl. ebd., S. 166. 24 Müller, Herta: Herztier, S. 53.

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lagen in den Briefen, wie die gestohlenen Kleinigkeiten geschlachteter Tiere im Fach des Kühlschranks.25

Die Frauen sind nicht nur von innen krank, sondern sie werden auch von außen krank gemacht, finden jedoch kein probates Mittel, um diesem Gefühl einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Die Schneiderinnen und Bäuerinnen fokussieren sich restlos auf ihre harte Arbeit als alltägliche und selbstverständliche Pflichterfüllung, denn sie können nicht anders, aber in diesem Fall werden ja keine starken, veränderungsgläubigen und wandlungsfähigen Charaktere erwartet, die voller Elan gegen die Tretmühle des Alltags und systemische Versklavung aufbegehren und zu einem Befreiungsschlag ausholen würden. Das Einzige, worüber sich die Mütter beklagen, sind ihre Krankheiten. Mit der systemisch aufgezwungenen Eintönigkeit und Stumpfsinnigkeit ihrer Existenz haben sie sich auf der Ebene höherer Mangelerfahrungen und Unsicherheiten längst abgefunden, auch wenn dieser Umstand nicht offen zugegeben wird. Warum es so ist, zeigt sich wie im Brennglas auf einer Polizeistation. Die Mutter der Icherzählerin wird im Kontext eines Ausreiseantrags zum Dorfpolizisten bestellt, der sie für zehn lange Stunden in sein Büro einsperrt, von der Außenwelt isoliert und auf diese Weise quält bzw. foltert: Sie setzte sich ans Fenster. Sie traute sich nicht, das Fenster zu öffnen. Wenn jemand vorbeiging, klopfte sie an die Scheibe. Keiner auf der Straße hob den Kopf. Man weiß ja, daß man da nicht hinschauen darf, sagte die Mutter. Ich hätte auch nicht hingeschaut, weil man sowieso nicht helfen kann.26

Die hassgesteuerte systemische Bedrohung von Menschenleben erntet ihre Früchte. Die Eingesperrte kennt die Willkür und Einschüchterungsmethoden des Systems bestens und ist sich auch der Gefahren bewusst, denen Menschen in Konfrontation mit systemischen Machtspielen ausgesetzt werden. Ihr stark ausgeprägtes Realitätsbewusstsein lässt sie aber nicht verzweifeln, obwohl der Versuch, die Außenwelt mit dem Öffnen des Fensters oder einem Klopfen an die Fensterscheibe auf ihre Situation aufmerksam zu machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, denn es wäre kein erfolgversprechendes Unterfangen, sondern ein sinnloses Agieren. Kein Passant würde sich nämlich trauen, hinaufzublicken, geschweige denn durch eine gezielte Aktion zu helfen. Die Betroffene – so ihr Gedankengang – würde sich genauso verhalten, weil man gegen die Übermacht des Systems eigentlich wenig ausrichten könne. Dieses Bekenntnis gilt nur scheinbar als Eingestehen der eigenen Schwäche und Machtlosigkeit. Müde von dem Herumsitzen, durch die Machtdemonstration des Dorfpolizisten doch nicht ›weichgekocht‹, beginnt die Frau aus Langeweile – sie 25 Ebd., S. 54. 26 Ebd., S. 199.

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ist an die Notwendigkeit harter alltäglicher Arbeit gewöhnt – mit einem zufällig gefundenen Lappen Staub zu wischen. Die Meisterung der prekären Lage gelingt auch insoweit, als das Gefühl des Ausgeliefertseins durch eine Art Dankbarkeit konterkariert wird, weil der Dorfpolizist der Bäuerin beim Niederschreiben eines Ausreiseantrags hilft und ihn anschließend zum Passamt schickt.27 Das entfesselte systemische Destruktionspotenzial wird nicht nur geahnt, sondern es ist in dem Sinne raumfüllend und allgegenwärtig, als es praktisch jeden unerwartet treffen und seine Existenzgrundlage zerstören kann. Mit der Instabilität der Verhältnisse wird zugleich eine Unkontrollierbarkeit von eigenen Lebensentwürfen vor Augen geführt. Das kommunistische Herrschaftssystem – auch wenn es subkutan mit einer Scheinwelt und der Selbsttäuschung gleichgesetzt wird – greift zerstörerisch in die Belange der Involvierten ein und diktiert Szenarien, mit denen individuelles und gemeinschaftliches Leben vergiftet und vernichtet wird. Die Darstellung der menschenfeindlichen Außenwelt wird dabei von ›psychischen Realitäten‹ der Figuren flankiert. Sie leben zwar mit dem Bewusstsein der Notwendigkeit einer zwanghaften Opferbringung und fügen sich einerseits unter Anerkennung höherer Gewalt in ihr ›Schicksal‹ ein. Andererseits versuchen sie ihre Existenz im Rahmen systemischer Zwänge zu meistern, weil sie sich doch nicht ganz verzweifelt und machtlos geben. Die Frau des ständig nach Schnaps stinkenden, lallenden und gewalttätigen Pelzmanns ist der Verzweiflung nahe, weil sie die Deutschstunden für ihre Kinder nicht mehr bezahlen kann: »Die Frau schluchzte, ich spürte ihr Herztier aus dem Bauch in meine Hand springen. Es sprang hin und her, wie ich sie streichelte, nur schneller.«28 Es ist die überwältigende Präsenz systembedingter Armut, die Frauen auf den Leib rückt und ihre Existenz vergiftet, auch wenn sie dagegen im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten aufbegehren. Der Pelzmann rastet im betrunkenen Zustand aus, möchte in seiner alkoholgeleiteten Wut und Ohnmacht die eigene Wohnung anzünden und lässt seinen Hass an seiner Frau aus.29 Sie versucht die Verschlechterung der Lebensverhältnisse und das Abrutschen in die Arbeitslosigkeit hingegen anders aufzufangen, wenn sie im Gespräch mit der Icherzählerin andere Zahlungsmittel anbietet, damit die Verschärfung der Lebenslage weniger spürbar wird: »In der Fabrik geht es nicht gut, sagte sie, wir haben kein Geld mehr für Stunden. Sie lehnte den Besen an die Wand, nahm das Päckchen und hielt es mir hin. Ein Kissen aus Nerz und Handschuhe aus echtem Lamm, flüsterte sie.«30 Unfreiheit, Armut und Angst lassen nur bedingt ein menschenwürdiges Leben zu. Einer totalen kollektiven Versklavung, Geistlosigkeit und Verkümmerung des 27 28 29 30

Vgl. ebd., S. 200. Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 198.

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Innenlebens wird jedoch durch verschiedene Befreiungsschläge vorgebeugt, zu denen nicht unbedingt nur ein Rückzug in die Privatheit oder die Flucht aus den verhassten Strukturen gehören.31 Repräsentantinnen des weiblichen Figurenensembles versuchen der allgemeinen Abstumpfung und Gleichgültigkeit – diese psychischen Qualitäten scheinen immerhin ›raumgreifend‹ zu sein und einen Dauerzustand darzustellen – durch individuelle Formen der Systemunterwanderung zu entfliehen, indem sie beispielsweise touristische Schlupflöcher (aus-) nutzen und sich als mehr oder weniger erfolgreiche Händlerinnen in Ungarn versuchen. Der Reiseleiter muss dabei nicht auf der Straße handeln, denn er hat seine Plätze und kann relativ schnell gutes Geld machen. Weibliche Touristinnen schlagen sich – so gut sie können – selbst durch und machen ihre Gewinne in kleineren, nicht selten risikoreichen Schritten: Wenn man sich auskennt, braucht man die ersten zwei Tage, um zu verkaufen und einen Tag, um einzukaufen. Die Schneiderin hatte zwei Koffer voll Tetrahosen. Sie sind nicht schwer, sagte Tereza, man schleppt sich nicht bucklig. Man wird sie los, aber ganz billig. […] Wenigstens einen Koffer mit Kristallservicen muß man haben, Glas ist teurer.32

Es werden individuelle Zugangsarten zur Mangelwirtschaft und Bewältigungsformen der Armut entwickelt. Das Geschäft läuft in Friseursalons am besten und die »Frauen unter den Trockenhauben haben immer etwas Kleingeld übrig […]«33, aber man muss ständig vor der Polizei auf der Hut sein. Die Erfahrungsund Erlebenswelt weiblicher Figuren wird durch ihre Eingebundenheit in ein spezifisches sozial-kommunikatives Netzwerk mit dem ganzen Komplex der Erkenntnisse verbunden. Es lohnt sich beispielsweise, Gold einzukaufen, denn das Edelmetall lässt sich nicht nur gut verstecken und ist relativ einfach transportierbar, sondern es federt auch längerfristig existenzielle Unzulänglichkeiten ab und garantiert somit ein verbessertes materielles Sicherheitsgefühl bei der Konfrontation mit systemischen Zwängen und verschiedenen Beschädigungsformen menschlicher Existenz. Beim Schmuggel der kostbaren Ware wird im Vorfeld ein entsprechendes Beziehungsnetz aufgebaut, und dazu gehört auch das Anbandeln mit einem Zöllner.34 Eine namenlose Schneiderin, die den ganzen Tag lang handelt, um mit Schmuggelwaren ihr Einkommen etwas aufzubessern und der eigenen Existenz eine andere Farbe zu verleihen, kommentiert ihre gelegentlichen intimen Kontakte mit einem Zöllner kurz und entlastend: »Man fühlt

31 Vgl. Zimniak, Paweł: Herta Müllers geschundene Menschen. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 2. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 91–108, hier S. 101–104. 32 Müller, Herta: Herztier, S. 147. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 149.

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sich armselig und will wissen, ob man noch etwas wert ist.«35 Dem Rechtfertigungszwang wohnt etwas Erniedrigendes inne, auch wenn diese Beziehungsform als eine Art Aufwertung des eigenen Menschseins hingestellt wird. Das destruktive Potenzial menschenverachtender Systeme schließt auch Korruptionsmechanismen ein. In diesem Fall geht es ebenso wenig um die Demobilisierung von Emotionen und Leidenschaften, sondern um ihre Anheizung. In Herztier ist es Tereza, die zu viel flucht und nicht zuletzt aus diesem Grund angeblich nicht geeignet ist, in die Partei einzutreten.36 Für die Außenwelt ist die Frau eine Erscheinung, eine Art Exotin und Blickfängerin: Sie hatte Kleider aus Griechenland und Frankreich. Pullover aus England und Jeans aus Amerika. Sie hatte Puder, Lippenstifte und Wimperntusche aus Frankreich, Schmuck aus der Türkei. Und hauchdünne Strumpfhosen aus Deutschland. Die Frauen aus den Büros mochten Tereza nicht. […] Sie dachten: Alles, was Tereza trägt, ist eine Flucht wert. Sie wurden neidisch und traurig.37

Tereza wird genauso bewundert wie gehasst. Ihr Luxus passt weder zum Gefühl von Angst und Verunsicherung, das den meisten ins Gesicht geschrieben steht, noch zur allgemein verbreiteten Kultur der Armut: »Die Leute in der Fabrik aßen gelblichen Speck und hartes Brot.«38 Die Icherzählerin als ihre Freundin und anfängliche Bewunderin entlarvt nicht nur Terezas Scheinwelt, sondern auch den Phantomschmerz rumänischer Landsleute: Ich war das Land, aber sie [Tereza – P.Z.] war nicht die Welt. Sie war nur das, was man in diesem Land glaubte, es sei die Welt, wenn man fliehen wollte. Ich dachte damals noch, man könne in einer Welt ohne Wächter anders gehen als in diesem Land. Wo man anders denken und schreiben kann, dachte ich mir, kann man auch anders gehen.39

Tereza entpuppt sich zum Schluss als eine Agentin. Bei ihrem Besuch in Deutschland lässt sie beim Schlüsseldienst einen Zusatzschlüssel für die Wohnung der Icherzählerin anfertigen und in ihrem Koffer wird ein Zettel mit der Telefonnummer der rumänischen Botschaft gefunden.40 Es fällt der Icherzählerin schwer, über den Verrat und Vertrauensverlust hinwegzukommen. Sie scheint daran wortwörtlich zu zerbrechen, auch wenn sie zwischen Hass und Liebe hinund hergerissen ist und angesichts der Todesnachricht versucht, den eigenen Gefühlen eine andere Dimension zu verleihen: »Terezas Tod tat mir sehr weh, als hätte ich zwei Köpfe, die zusammenspringen. In dem einen lag die gemähte Liebe,

35 36 37 38 39 40

Ebd. Vgl. ebd., S. 116. Ebd., S. 118. Ebd. Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 160–161.

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im anderen der Haß. Ich wollte, daß die Liebe nachwächst.«41 Der Wunsch, die Liebe aufgrund der erlebten Verbundenheit mit Tereza ›nachwachsen‹ zu lassen, ist eine nachvollziehbare Erwartungshaltung, wohingegen die Hassliebe auch das negative, sich aus bitterer Enttäuschung speisende Gefühl des Hasses durchschlagen und überhand gewinnen lassen kann. Mit dem Ausspionieren der Freundin wird nämlich in die gleiche Kerbe geschlagen, in die schon der Hauptmann Pjele mit voller Wucht gehauen hat. Von Pjele erhält die Icherzählerin Morddrohungen in Form von Telefonanrufen und Briefen und wird somit permanent in Angst gehalten.42 In der Figur des Hauptmanns Pjele laufen kriminelle Praktiken des Systems zusammen. Als getreuer Diener des Systems verfolgt er das Ziel, seine Landsleute restlos zu kontrollieren, systemaushöhlende und -gefährdende Verhaltensweisen zu ahnden und mit aller Härte des Gesetzes zu eliminieren. Pjele macht seine Arbeit sehr gewissenhaft und lässt nie Gnade vor Recht ergehen. Menschlichkeit ist für ihn ein Fremdwort. Systemerhaltende Maßnahmen bestehen u. a. darin, fügsame Bürger, richtige Sklaventypen, die keine Selbstachtung kennen, systemisch ›heranzuzüchten‹ und aufmüpfige, nonkonforme Bürger zu korrumpieren, zu züchtigen und durch Erniedrigung zu zermürben, auf dass sie schwach werden und keinen Störfaktor mehr darstellen. In diesem Sinne versucht Pjele die Icherzählerin vor ihrer Ausreise nach Deutschland in nicht enden wollenden Verhören zu erniedrigen, einzuschüchtern und weichzukochen: Du lebst von Privatstunden, Volksverhetzung und vom Herumhuren. Alles gegen das Gesetz. […] Sein Gesicht war nicht gehässig. Ich wußte, daß ich aufpaßen mußte, weil die Härte immer von hinten kam, wenn sein Gesicht so ruhig war. […] Mit geht es so, wie Sie es haben wollen. Dafür arbeiten Sie doch.43

Der Menschenschinder Pjele ist eine Obsession, die in die Zwangsvorstellung mündet, dass er irgendwann seine gerechte Strafe erhält. Auf der letzten Seite von Herztier wird deshalb der Wunsch geäußert, Pjele solle einen Sack mit all seinen Toten sein Leben lang mit sich herumschleppen, und wenn er sich nach der Arbeit zu seinem Enkel an den Tisch setzt, möge der Gestank der begangenen Verbrechen so intensiv sein, dass sich das Kind vor den Fingern ekelt, die ihm den Kuchen vorsetzen.44

41 42 43 44

Ebd., S. 250. Vgl. ebd., S. 157. Ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 252.

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Beschädigte Frauenexistenzen in Herta Müllers kriminellen Räumen totalitärer Systeme – Fazit Literarische und individualisierte Repräsentationsformen geschlossener Systeme machen historische menschenfeindliche Wirklichkeiten (nach)erlebbar und können somit als komplementär zur Unmittelbarkeit der Erfahrung gelten. Es sind im Fall von Herta Müller die »sinnlichen Erinnerungen«45, die über lange Zeitintervalle konserviert werden und sich der Betroffenen wie Reinhart Kosellecks »glühende Lava«46 bemächtigen. Totalitäre Systeme setzen nämlich genug kriminelle Energie frei, um zerstörerisch zu wirken und sich in Psyche und Soma einzubrennen. Bei Herta Müllers räumlicher Inszenierungspraktik sticht eine komplizierte Mischung aus einer Identifikations- und Distanzierungsstrategie ins Auge, d. h. die entworfenen Figuren können sich einerseits ihrem Lebensraum nicht entziehen und sie finden sich mindestens teilweise mit den kriminell anmutenden Rahmenbedingungen ihrer Existenz ab. Andererseits ist es ihnen klar, dass sie in einem Raum handeln, in dem die Menschenwürde völlig auf der Strecke bleibt. Bedenkt man die von Jürgen Habermas in Anlehnung an Poppers objektive Erkenntnis vorgeschlagene Klassifizierung von Welten oder Universen, ist es eben nicht nur die Welt der physikalischen Gegenstände und Zustände in ihrer Materialität, sondern auch die Welt der Verhaltensdispositionen und Bewusstseinszustände sowie Interaktionen und Kommunikationen, die für die Entstehung oder Kreierung von spezifischen relationalen und atmosphärischen Räumen verantwortlich zeichnen.47 Herta Müllers weibliche Figuren lassen sich nicht nur auf systemisch beobachtbare Objekte reduzieren, die mit kriminellen Praktiken des Systems in Schach gehalten und domestiziert werden, reduzieren, sondern sie geben sich auch als »äußerungsfähige Subjekte«48 zu erkennen, die in einer internen Beziehung zu ihrer sozialen (Um-)Welt stehen und fähig sind, ihre subjektiven Erlebnisse, Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte sowie Kognitionen wie Meinungen und Absichten mitzuteilen und sich notfalls der kriminellen Organisation ihres Lebensraums zu widersetzen. Bestimmte Erfahrungs- und Erlebnisverarbeitungsformen der einzelnen Figuren aus Herta Müllers weiblichem Figurenensemble betreffen ihre Innenwelt als Gedanken- und Gefühlswelt, mithin auch ihre Einstellung zum gesellschaftlich-politischen Kontext ihrer 45 Vgl. Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 103– 122, hier S. 108–109. 46 Ebd., S. 109. 47 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2014, S. 115. 48 Ebd., S. 137–138.

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Existenz, und sie hängen mit Körperspuren zusammen, die durch die Involviertheit in totalitäre Systeme bedingt und hinterlassen werden. Dabei gelten Frauen selten als aktive Trägerinnen von Doktrin und Unterstützerinnen oder Nutznießerinnen des Systems, und auch Tereza aus Herztier, die im geheimdienstlichen Auftrag ideologisch-politischer Krimineller ihre Freundin ausspioniert und von dieser Tätigkeit profitiert, ist eher Opfer als Täter. Herta Müllers weibliche Figuren sind zugleich richtige soziale Akteurinnen, die in Konfrontation mit kriminellen Praktiken systemischer Unterdrücker und Ausbeuter nicht klein beigeben, indem sie das Bewusstsein entwickeln, nicht in der Tiefe ihrer Bedeutungslosigkeit verharren oder in einem schwarzen Loch stecken zu müssen, aus dem man nicht herauskriechen kann, auch wenn man sich ununterbrochen anstrengt. Sie gehen die Gegebenheiten im Rahmen der jeweils bestehenden Möglichkeiten mit dem Ziel an, sie zu ihren Gunsten zu verändern, auch wenn dabei oft hohe Verluste in Kauf genommen werden müssen. Als Einzelkämpferinnen lassen sie also nicht nur (Willens-)Schwäche und (Entscheidungs-)Ohnmacht walten. Sie setzen sich auch unter verlustreichem Einsatz der eigenen Körperlichkeit durch, indem sie Mangelerfahrungen und defizitäre materielle Zustände, Bedrohungssituationen und Verlusterfahrungen zu meistern versuchen. Dabei kommt pragmatisch immer eine Wertrationalität ins Spiel, die sich beim Denken, Fühlen und Handeln innerhalb krimineller Systeme zwangsläufig etwas anders als bei einer freiheitlich bestimmten Wertorientierung gestaltet. Im Modus individueller Krisenbewältigung handelnd, wird andererseits die Erfahrung gemacht, dass die Frauen sich von ihrem Handlungs- und Wahrnehmungsraum als Raum der Absenz von Vertrautheit immer mehr entfremden, dass der Ausbruch aus der menschenfeindlichen Umarmung des Systems und die Lockerung systemischer Unfreiheit nur bedingt – wenn überhaupt – und nicht ohne Verluste gelingen kann. Herta Müllers Frauengeschichten sind also zugleich auch Leidensgeschichten, Geschichten einer Schicksalsgemeinschaft, die durch die Ungnade der frühen Geburt in die Menschenwürde nivellierenden Mühlen der Geschichte geraten ist.

Literatur Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 103–122. Brylla, Wolfgang/Schmidt, Maike (Hg.): Der Regionalkrimi. Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2014.

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Müller, Herta: Barfüssiger Februar. Berlin: Rotbuch Verlag 1987. Müller, Herta: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Eine Erzählung. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2009. Müller, Herta: Niederungen. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2020. Müller, Herta: Herztier. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2021. Müller, Herta: Atemschaukel. Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch 2021. Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015. Szmorhun, Arletta: Dispositive des Genus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001. Zimniak, Paweł: Hass als affektiv-relationale Grenzüberschreitung. In: Szmorhun, Arletta/ Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 1. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 15–31. Zimniak, Paweł: Herta Müllers geschundene Menschen. In: Szmorhun, Arletta/Zimniak, Paweł (Hg.): Menschen als Hassobjekte. Interdisziplinäre Verhandlungen eines destruktiven Phänomens. Teil 2. Göttingen: Brill|V&R unipress 2022, S. 91–108.